Der Traum vom Totalen Kino: Wie Literatur Filmgeschichte schrieb 9783839447567

Literature told the story of cinema even before film was invented. These myths continue to permeate and shape media hist

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German Pages 450 Year 2019

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
I. Einleitendes: Das Narrativ des Totalen Kinos
II. Theoretische Perspektiven und Stand der Forschung
III. Lektüren: Literarische Visionen der Kinematographie
1. Proto-Cinéma
1.1 Präfiguration des Kinos: Auguste de Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future (1886)
1.2 Echos der Stille: Jules Vernes Le Château des Carpathes (1892)
1.3 Résumé: der Apparat des Totalen Kinos
2. Stumm-Film-Kunst
2.1 Achtung, Kamera frisst: Luigi Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916/25)
2.2 Krieg der Bilder: Salomo Friedlaenders / Mynonas Graue Magie (1922)
2.3 Résumé: das (auto)reflexive Potenzial des Totalen Kinos
3. Wiederkehr der Phantasmagorie
3.1 Der totalkinematographische Staats‑Apparat: Aldous Huxleys Brave New World (1932)
3.2 Fatale Metalepse: Adolfo Bioy Casares’ La invención de Morel (1940)
3.3 Résumé: am Abgrund des Totalen Kinos
IV. Schluss: Höhlenausgänge oder Höhleneingänge – Vom Totalen Kino zur Virtuellen Realität
Quellenverzeichnis
Dank
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Der Traum vom Totalen Kino: Wie Literatur Filmgeschichte schrieb
 9783839447567

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Karin Janker

DER TRAUM VOM TOTALEN KINO Wie Literatur Filmgeschichte schrieb

Mediale Produktionen und gestalterische Diskurse bilden ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv: Medien nehmen nicht nur wahr, sondern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) – insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der diesen voran gehenden Entwürfe, mithin vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe MEDIEN- UND GESTALTUNGSÄSTHETIK versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und prognostizierende Essays.

EDITORIAL 

Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Ruf.

(Dr. phil.), geb. 1986 in Regensburg, ist Redakteurin im Ressort Meinung der Süddeutschen Zeitung. Sie promovierte an der Ludwig-­ Maximilians-Universität München bei Barbara Vinken und war Mitglied im Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft. Zuvor absolvierte sie den Masterstudiengang »Aisthesis – Historische Kunst- und Literaturdiskurse« im Rahmen des Bayerischen Elitenetzwerks und studierte Diplom-Journalistik, Politikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Romanistik an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie schreibt, lehrt und forscht zu Literatur, Film und Politik sowie deren Schnittmengen. KARIN JANKER

Karin Janker

DER TRAUM VOM TOTALEN KINO Wie Literatur Filmgeschichte schrieb

Medien- und Gestaltungsästhetik 7 Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Film-Stills: Arrivée d’un train à la Ciotat, Institut Lumière Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel Designkonzeption & Umschlagabbildung: Andreas Sieß Gestaltung und Satz: Kiron Patka Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN Print: 978-3-8376-4756-3 ISBN PDF: 978-3-8394-4756-7 https://doi.org/10.14361/9783839447567 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung – 9 I

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS  –  13

II

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN UND STAND DER FORSCHUNG  –  39

III

LEKTÜREN: LITERARISCHE VISIONEN DER KINEMATOGRAPHIE – 67

1

PROTO-CINÉMA – 69

1.1

Präfiguration des Kinos: Auguste de Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future (1886) – 71

1.1.1 Alicia: die Frau hinter den Spiegeln  –  76 1.1.2 Evelyn: die abwesende Frau  –  90 1.1.3 Halady: Totales Kino – 100

1.2

Echos der Stille: Jules Vernes Le Château des Carpathes (1892) – 117

1.2.1 Fern-Hören: „Voglio morire“  –  123 1.2.2 Fern-Sehen: Téle-Skopophilie – 136 1.2.3 Das Schloss: im Inneren des Apparats  –  147

1.3

Résumé: der Apparat des Totalen Kinos  –  163

2

STUMM-FILM-KUNST – 169

2.1

Achtung, Kamera frisst: Luigi Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916/25) – 171

2.1.1 Re(pro)duktion: ein Schatten des Lebens  –  176 2.1.2 (Un)erfüllte Metonymie: der kinematographische Blick  –  190 2.1.3 Unter der Oberfläche: Kino als Medium des Umorismo – 205

2.2

Krieg der Bilder: Salomo Friedlaenders / Mynonas Graue Magie (1922) – 219

2.2.1 Virtualisierung des Raumes: die Filmstadt Berlin  –  227 2.2.2 Die zerfetzte Schärpe: die Textur des Filmischen  –  242 2.2.3 Das Fest der grauen Magie: der entgrenzte Film  –  254

2.3

Résumé: das (auto)reflexive Potenzial des Totalen Kinos – 269

3

WIEDERKEHR DER PHANTASMAGORIE  –  275

3.1

Der totalkinematographische Staats‑Apparat: Aldous Huxleys Brave New World (1932) – 277

3.1.1 Feelies: jenseits des Visuellen  –  285 3.1.2 Retorte: die Reproduktion der Masse  –  296 3.1.3 Soma: jenseits der Wirklichkeit  –  309

3.2

Fatale Metalepse: Adolfo Bioy Casares’ La invención de Morel (1940) – 323

3.2.1 (Un)totes Inkarnat: Haut im Spiegel  –  330 3.2.2 Madeleine: der Duft der Zeit  –  344 3.2.3 Fort-Da-Spiel: gespenstische Dialektik des Kinos  –  362

3.3

Résumé: am Abgrund des Totalen Kinos  –  377

IV

SCHLUSS: HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE – VOM TOTALEN KINO ZUR VIRTUELLEN REALITÄT – 385

Quellenverzeichnis – 399 Dank – 447

Vorbemerkung Der vorliegende Band wurde im Herbst 2017 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Im Folgenden werden deutsche, französische, italienische, englische und spanische Texte in der Regel im Original zitiert. Die deutsche Übersetzung zusätzlich zum Originaltext anzugeben, erschien bei längeren Zitatpassagen aus dem Spanischen und Italienischen aus Gründen der Lesefreundlichkeit angemessen; diese findet sich an entsprechender Stelle jeweils direkt in den Fußnoten. Die verwendeten Siglen werden im Literaturverzeichnis nachgewiesen und zusätzlich, bei ihrer erstmaligen Verwendung, in einer Fußnote im Text eingeführt.

Quelle: Institut Lumière

I

Einleitendes: Das Narrativ des Totalen Kinos

Der Traum vom Totalen Kino

Cinema began in wonder, the wonder that reality can be transcribed with such immediacy.1

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— Susan Sontag

There will be no distinction, post-Singularity, between human and machine or between physical and virtual reality.2 — Ray Kurzweil

Am Ursprung wie im Fluchtpunkt des Kinos liegt ein Wunder: Während die Zeugen des ersten Wunders in Panik davonstoben, werden die Zeugen des zweiten nicht einmal mehr merken, dass sie es mit einem Wunder zu tun haben. Soweit zumindest die Prophezeiung, die im Narrativ des Totalen Kinos liegt und die Ray Kurzweil3 formuliert: Eines Tages wird das Kino nicht nur in der Lage sein, die Wirklichkeit lebensecht abzubilden; Film und Wirklichkeit werden ununterscheidbar sein. Ohne es explizit anzusprechen und vermutlich auch ohne es zu wissen, greift der Google-Technologe im oben vorangestellten Zitat jene Utopie auf, die sechzig Jahre zuvor bereits der Filmtheoretiker André Bazin in seinem Essay Le Mythe du Cinéma total in Worte gefasst hat.4 Bazin schreibt über die Wegbereiter und Erfinder der Kinematographie: „Leur

1 

Sontag, Susan: The Decay of Cinema. In: New York Times Magazine, 25. Februar 1996, https://www.nytimes.com/books/00/03/12/specials/sontag-cinema.html. 2  Kurzweil, Ray: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology. London: Viking Penguin 2005, S. 9. 3  Ray Kurzweil leitet beim Weltkonzern Google die technische Entwicklung und bezeichnet sich darüber hinaus als Zukunftsforscher. Seine Schriften kreisen um Themen wie Technische Singularität und Transhumanismus. Zu den wichtigsten zählen The Age of Intelligent Machines (1990), The Singularity Is Near (2005) und How to Create a Mind (2012). Kurzweil ist keine unumstrittene Figur; seinen Gedankengebäuden wird immer wieder eine Nähe zu quasireligiöser Esoterik sowie Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen. Dies tut jedoch der hier vertretenen Annahme keinen Abbruch, dass Kurzweils Schriften in engem Zusammenhang mit dem Narrativ des Totalen Kinos stehen. 4  In der deutschen Übersetzung ist Bazins Titel etwas missverständlich mit „Der Mythos vom totalen Film“ übersetzt (Vgl. den Band Bazin, André: Was ist Film? (hg.v. Robert Fischer). Berlin: Alexander-Verlag 2004, S. 43–49), was eine Verkürzung darstellt, denn ‚cinéma‘ schließt im Gegensatz zu ‚Film‘ „sowohl ‚Kinematographie‘ als auch das Dis­positiv ‚Kino‘“ ein; siehe dazu Schweinitz, Jörg: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität. Ein Mediengründungsmythos zwischen Kino und Computerspiel. In: Neitzel, Britta / Nohr, Rolf N. (Hg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation,

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS

imagination identifie l’idée cinématographique à une représentation totale et intégrale de la réalité, elle envisage d’emblée la restitution d’une illusion parfaite du monde extérieur avec le son, la couleur et le relief.“5 Allerdings ist auch Bazins Mythos nur ein Teil eines übergeordneten wirkmächtigen Narrativs: Der Traum vom Totalen Kino ist deutlich älter und wurzelt in der Literatur.6 Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Narrativ zu untersuchen und geht dabei der Frage nach, wie literarische Werke das Kino in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg präfigurieren beziehungsweise imaginieren.7 Dabei legt sie den Fokus auf jene Vorstellung einer Totalkinematographie,8 die nicht nur in zahlreichen fiktionalen Werken eine Rolle spielt, sondern durch die gesamte Kinogeschichte hindurch Einfluss auf das Verständnis von Film als einem die Wirklichkeit mimetisch reproduzierenden Medium hatte und hat. Jörg Schweinitz zufolge gehört diese wie Bazins Mythos „zum ständigen diskursiven Programm, das medientechnische Entwicklungen begleitet.“9 Allerdings übersieht die Filmwissenschaft bislang weitgehend die InterferenImmersion, Interaktion. Marburg: Schüren 2006, S. 136–153, hier S. 141. Im Folgenden wird deshalb Bazins Titel im Deutschen als „Mythos vom totalen Kino“ zitiert. 5  Bazin, André: Le Mythe du Cinéma total. In: Ders.: Qu’est-ce que le cinéma? Paris: Éditions du Cerf 1958, S. 21–26, hier S. 24. Der Aufsatz erschien zuerst 1946 in der Zeitschrift Critique. 6  Den Begriff des Narrativs beziehe ich aus der Erzähltheorie Albrecht Koschorkes, auf die im folgenden Kapitel noch einmal eingegangen wird. Vgl. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt: Fischer 2017. Das Narrativ des Totalen Kinos ist als übergeordnet gegenüber Bazins Mythe du Cinéma total zu betrachten; Bazins Text ist gewissermaßen ein theoretisches Pendant zu hier verhandelten literarischen Texten. 7  Die Begrenzung des hier untersuchten historischen Zeitraums ergibt sich aus der Kinogeschichte: Er setzt kurz vor der Erfindung des Kinematographen ein und erstreckt sich bis zum Zweiten Weltkrieg, der für die historische Entwicklung des Kinos eine bedeutende Zäsur darstellt. So beginnt nach dem Krieg der Siegeszug des Fernsehens, das dem Kino zunehmend Konkurrenz macht und ein neues Dispositiv aufruft. 8  Der Terminus ‚Totalkinematographie‘ bezeichnet ebenso wie sein Synonym ‚Totales Kino‘ die Vorstellung, dass das Kino eines Tages in der Lage sein könnte, eine Reproduktion der Welt hervorzubringen, die von dem, was alltagsweltlich als Realität erfahren wird, nicht mehr zu unterscheiden ist. Wie das Verhältnis zwischen Film und Realität theoretisch gefasst und beschrieben werden kann, erläutert das folgende Kapitel ausführlicher. 9  Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 144 (Herv. i. O.). Schweinitz wendet an dieser Stelle allerdings zurecht ein, dass der Mythos – anders als in Bazins teleologischem Modell – „nicht als die primäre, die letztlich treibende Kraft, die hinter der Medienentwicklung selbst steht, zu interpretieren“ sei, sondern etwa auch ökonomische Faktoren bedacht werden müssten (ebd., S. 144).

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Der Traum vom Totalen Kino

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zen zwischen der medientechnischen Entwicklung, dem Diskurs der Filmtheorie und literarischen Imaginationen des Kinos und hat daher kaum im Blick, dass Literatur das Denken über und die Vorstellung von Kino wesentlich geprägt hat und nach wie vor prägt.10 In der vorliegenden Studie dagegen treten Film und Literatur im Narrativ des Totalen Kinos in einen Dialog, der auch angenommene Vorgängigkeit hinterfragt.11 Wie eng dieses Narrativ bis heute mit den Anfängen der Kinematographie verbunden ist, zeigt sich an einer nach wie vor wirkmächtigen Anekdote, die zum Ursprungsmythos des realistisch-illusionistischen Bewegtbildes wurde:12 Am 28. Dezember 1895 sollen sich einige Dutzend Neugierige in einem Gewölbe des Grand Café in Paris eingefunden haben, um der Premiere des Cinémato10 

So fällt auf, dass Filmwissenschaftler häufig metaphorisch auf die Ontologie des Filmbildes oder das Verhältnis zwischen Film und Realität Bezug nehmen, oft allerdings ohne den rhetorischen Gehalt dieser Metaphorik zu reflektieren. Elsaesser und Hagener gliedern ihre Einführung in die Filmtheorie etwa in Kapitel wie „Fenster und Rahmen“, „Tür und Leinwand“, „Spiegel und Gesicht“, vgl. Elsaesser, Thomas / Hagener, Malte: Filmtheorie. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2007. Historische Beispiele finden sich bei Bazin, der Metaphern wie Lichtschrift, Fingerabdruck oder auch Mumie gebraucht, siehe dazu Smith, Douglas: „A world that accords with our desires“? Realism, Desire, and ­Death in André Bazin’s Film Criticism. In: Studies in French Cinema 2 (2004), S. 93–102. Hediger weist ebenfalls darauf hin, „dass Bazin den inhärenten Realismus des Mediums […] dem Bereich des Unerklärlichen zurechnet“ und dafür Metaphern verwendet, siehe: Hediger, Vinzenz: Das Wunder des Realismus. Transsubstantiation als medientheoretsiche Kategorie bei André Bazin. In: Montage AV, 18,1 (2009), S. 75–107, hier S. 80. Ähnlich metaphorisch ist das Sprechen über Film bei Edgar Morin, siehe dazu Dreher, Philip: Morin und der Film als Spiegel. Eine theoriegeschichtliche Verortung der Filmtheorie von Edgar Morin. Stuttgart: Ibidem-Verlag 2014; aber auch in zeitgenössischer Filmtheorie, wie ich auf dem Kongress „The Real of Reality“ im November 2016 am ZKM in Karlsruhe beobachten durfte, vgl. im zugehörigen Tagungsband: Janker, Karin: Emerging Imaginations. The Relation of Film and Reality from a Literary Perspective. In: Reeh, Christine  / ​ Schmidt, Stefan W. /​ Weibel, Peter (Hg.): The Real of Reality. Contributions to a new ontology of film. Amsterdam: Brill/Rodopi (i. E.). 11  Bereits Kittler zählt jene Jahrhunderte, in denen Bilder „als literaturproduzierte Vorstellung im sogenannten inneren Leserauge“ auftraten, zur Geschichte der optischen Medien, weil „sie von den modernen Technologien träumten und mechanische Apparaturen entwickelten, deren Verwissenschaftlichung im 19. Jahrhundert dann Photographie und Film ermöglichten“. Weiter schreibt er: „Denn der Film ist nicht vom Himmel gefallen, sondern nur im Zusammenhang mit den Phantasien und Politiken zu begreifen, auf die seine Erfindung geantwortet hat.“ Siehe Kittler, Friedrich A.: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve 2002, S. 11. 12  Siehe hierzu auch den Artikel Janker, Karin: Fake News vom Mars. In: ­Süddeutsche Zeitung (17./18.11.2018), https://www.sueddeutsche.de/​kultur/​historie-​fake-​news-​vom-​ mars-1.4212275.

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS

graphe beizuwohnen. Unter den etwa einminütigen Filmen, die die Gebrüder Auguste und Louis Lumière an jenem Tag präsentierten, war demnach einer, der bei den Zuschauern besonderen Eindruck hinterließ: Bei der Vorführung von L’Arrivée d’un Train en Gare de La Ciotat soll das Publikum in Panik geraten sein, einige Zuschauer seien gar von ihren Sitzen aufgesprungen, hätten sich versteckt oder fluchtartig den Saal verlassen. So täuschend echt, so realistisch soll die Filmszene gewesen sein, dass man den einfahrenden Zug für real hielt und um sein Leben fürchtete.13 In Georges Sadouls Standardwerk der Kinogeschichte klingt die Episode so: „Dans L’Arrivée d’un Train, la locomotive arrivait du fond de l’écran, fonçait sur les spectateurs et les faisait sursauter : ils craignaient d’être écrasés.“14 Sadoul sieht den Erfolg der Lumières und damit auch den des Kinos in der Wirksamkeit dieses Täuschungsmanövers begründet: […] le cinématographe Lumière était une machine à refaire la vie. Ce n’étaient plus des marionnettes qui s’agitaient sur l’écran, mais des personnages grandeur nature, dont on distinguait mieux qu’au théâtre les expressions et la mimique. […] C’est la nature même prise sur le fait, s’écriaient avec un étonnement admiratif les premiers critiques. Le réalisme de l’œuvre de Louis Lumière détermina son succès.15

Die Legende von der Panik bei der Filmpremiere streift somit die Frage nach dem ontologischen Status des Filmbildes: Indem Kino das Leben nicht nur abbildet, sondern noch einmal erschafft („refaire“), stattet es die virtuelle Kopie mit einer Illusion von Realpräsenz aus,16 die Bildern und Kunstwerken bis

13  ‚Realität‘ sowie das Adjektiv ‚real‘ werden in dieser Studie im Sinne ihrer alltagsweltlichen Bedeutung gebraucht. Wenn nichts anderes vermerkt ist, wie zum Beispiel beim spezielleren Gebrauch im Bezug auf einen bestimmten Text, gilt die pragmatische Definition, die der Philosoph George Edward Moore in Baldwins Dictionary gibt: „Real (Lat. realis, from res, thing): Ger. real; Fr. réel; Ital. reale. Universally employed to denote that a thing is both (a) […] existent and (b) true […]. Reality is thus properly opposed both (a) to things in the conception of which existence is included but which do not truly exist, (b) to subjects of non-existential propositions, and (c) to what is neither true nor false.“, siehe: Moore, Georde Edward: Real. In: Baldwin, James Mark (Hg.): Dictionary of Philosophy and Psychology. Vol II. New York: Macmillan 1902, S. 420 (Herv. i. O.). 14  Sadoul, Georges: Histoire du cinéma mondial des origines a nos jours. Paris: Flammarion 1981, S. 20. 15  Ebd., S. 22 (Herv. i. O.). 16  Zum Begriff der „Realpräsenz“, den ich nicht in seiner ursprünglich theologischen Bedeutung verwende, sondern dem Filmwissenschaftler Vizenz Hediger folgend, siehe Kapitel II.

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Der Traum vom Totalen Kino

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dahin unerreichbar war. Das Filmbild bewegt und belebt nicht nur sich selbst, sondern auch die Zuschauer – und zwar im Wortsinne; der Filmzug wird damit zu einem Beispiel für jenen Begriff von Virtualität, den Peirce so definiert: „A virtual X […] is something, not an X, which has the efficiency (virtus) of an X.“17 Die Anekdote von der Panikreaktion ist zum Gemeinplatz der Filmgeschichte geworden. So berichtet auch Paul Virilio, „chacun ayant en effet la sensation de risquer d’être personellement écrasé ou blessé par le véhicule“.18 Und der Journalist Hellmuth Karasek wundert sich noch anlässlich des hundertsten Geburtstags des Kinos, dass es dem Film der Lumières trotz seiner eklatanten technischen Mängel – wozu er das Flimmern, das Schwarz-Weiß und das laute Klappern der Projektoren zählt – dennoch gelungen sei, „die Phantasie des Publikums mit Realität zu besetzen“ und jene Panik auszulösen.19 Jahrzehntelang immer wieder reproduziert, hält sich die Legende bis heute.20 Als zentrales Mythologem scheint sie zu beweisen, was Edgar Morin als Kern des Totalen Kinos ausmacht: Dass schon die ersten Filmemacher es darauf abgesehen hatten, ihrem Publikum einen Eindruck von Realität vorzugaukeln; und dass dieser Traum nach wie vor das Ziel ist, auf das das Kino zusteuert: „Effectivement, le cinématographe Lumière, si limité soit-il, est déjà microcosme du cinéma total qui est en un sens la résurrection intégrale de l’univers des doubles.“21 Allerdings: Dieser Gründungsmythos ist Fiktion, die Geschichte von der Panik im Zuschauerraum entspricht nicht den historischen Fakten. Weder wurde L’Arrivée d’un Train bei der Premiere des Cinématographe 1895 überhaupt

17 

Peirce, Charles S.: Virtual. In: Baldwin, James Mark (Hg.): Dictionary of Philosophy and Psychology. Vol. II. New York: Macmillan 1902, S. 763. 18  Virilio, Paul: Guerre et Cinéma I. Logistique de la Perception. Paris: Éditions de l’Étoile 1984, S. 52. 19  Karasek, Hellmuth: Lokomotive der Gefühle. In: Der Spiegel, 52 (1994), http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-13687466.html. 20  Ein prominentes Beispiel dafür ist der 3-D-Film Hugo (Martin Scorsese, 2011), eine Hommage an Georges Méliès, die zugleich auf die Legende vom Zugfilm referiert. Zunächst lesen die beiden Protagonisten in einem Buch über die Zuschauerpanik, wobei ihre Lektüre in Form einer Filmszene eingeschoben wird, einem Film im Film, in dem die Zuschauer von L’Arrivée d’un Train von ihren Sesseln aufspringen. Hier scheint implizit auf, dass es sich um eine tradierte Legende handelt, die nicht notwendig historischen Fakten entspricht. Später im Film rast in einer ironischen Aktualisierung der Legende tatsächlich ein Zug in einen Bahnhof, die Bremsen versagen und die Lokomotive durchschlägt die hintere Bahnhofsmauer. 21  Morin, Edgar: Le Cinéma ou L’Homme imaginaire. Essai d’anthropologie. Paris: Éditions Gonthier 1965, S. 41, Herv. KJ.

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS

gezeigt (er wurde dem Publikum erst im Januar 1896 vorgeführt), noch existieren irgendwelche zeitgenössischen Berichte über oder Anhaltspunkte für eine solche Panikreaktion. Der Medienwissenschaftler Martin Loiperdinger hat die Legende inzwischen als werbewirksame Erfindung der Gebrüder Lumière enttarnt, mit der die Unternehmer ihren Cinématographe beim Publikum anpreisen wollten.22 Allein, obwohl sie fiktional ist, fungiert die Anekdote nichtsdestotrotz „als der Gründungsmythos des Mediums“.23 Oder vielmehr: Gerade weil sie fiktional und als Phantasma so wirkmächtig ist.24 Für die Legende vom Zugfilm gilt, was Lachmann über literarische Werke schreibt, die Medien einsetzen, um das Phantastische heraufzubeschwören: Literarische Imagination bemächtigt sich des Mediums durch dessen verbale Herstellung und ekphrastische Repräsentation und macht sich zugleich auch sein (magisches) Faszinosum zunutze, indem sie es in phantastische (utopische) Verhältnisse transponiert und ihm Potenzen zuschreibt, über die es (noch) nicht verfügt.25

Darin ist die historische Anekdote jenen Werken ähnlich, die im Fokus der vorliegenden Studie stehen: Diese widmet sich Romanen, die auf unterschiedliche Arten das Kino als „Totalmedium“26 imaginieren und seine Rezeptions-

22 

Vgl. Loiperdinger, Martin: Lumières Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums. In: Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger (Hg.): KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. KINtop 5: Aufführungsgeschichten. Frankfurt: Stroemfeld 1996, S. 36–70. 23  Ebd., S. 40. 24  So enthält die vorliegende Studie auch eine Antwort auf eine Frage, die Loiperdinger nicht klären kann: Wie konnte aus einer erfundenen Reklame-Erzählung der Lumière ein so wirkmächtiger Gründungsmythos werden? Die Antwort darauf liegt im Narrativ des Totalen Kinos selbst: Die Reklame der Lumières bedient dieses Narrativ, das schon länger existiert als der Cinématographe. Indem der PR-Gag auf diesen fruchtbaren Boden fiel, konnte aus ihm jene Urban Legend werden, die sich nun schon über 120 Jahre lang im kollektiven Gedächtnis hält. So erweist sich die Anekdote als Beleg für die Wirksamkeit des Narrativs, das Gegenstand dieser Arbeit ist. 25  Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 320. An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass die Genrebezeichnung, ob es sich bei den untersuchten Texten um phantastische Literatur handelt oder nicht, im Zuge der Herangehensweise dieser Studie vernachlässigbar erscheint. Treffender und praktikabler ist dagegen Lachmanns Beschreibung für eine „nicht durchgängig phantastische, jedoch (stets) mit Phantasmen arbeitende Literatur“, siehe ebd., S. 83. 26  Den Begriff, der im Folgenden zu den wiederkehrenden Synonymen für Totales Kino und Totalkinematographie gehört, beziehe ich aus Karin Peters Analyse zu Bioy Casares’ La invención de Morel. Bei Peters nimmt der Begriff allerdings keinen zentralen Platz

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Der Traum vom Totalen Kino

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ästhetik narrativ ausloten. Auch sie erzählen „von einem Zuviel der filmischen Illusion […], das die Reproduktion ebenso real erscheinen lässt wie das Ding“.27 Sei es, weil sie wie Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916) aus der Perspektive eines Kameramannes und damit gewissermaßen durch die Linse der Kamera selbst erzählt sind, oder weil sie, wie Huxleys Brave New World (1932), ein totalkinematographisches Dispositiv in den Zusammenhang einer gesellschaftlichen Anti-Utopie28 stellen – in allen literarischen Werken dieser Studie gerät die Grenze zwischen physischer und virtueller Realität ins Wanken, ins Fließen oder sie beginnt zu flirren.29 Ähnlich wie die Zugfilm-Anekdote erzählen die Romane von einer starken Affizierung des oder der Rezipienten, die auf einer Transgression oder einem Diffundieren dieser „ästhetischen Grenze“ beruht.30

ein, sondern wird nur am Rande erwähnt, da sich ihre Analyse auf andere Aspekte konzentriert. Siehe Peters, Karin: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert. München: Fink 2013, S. 306. 27  Hediger, Vinzenz: Wirklichkeitsübertragung. Filmische Illusion als medienhistorische Zäsur bei André Bazin und Albert Michotte. In: Koch, Gertrud /​ Voss, Christiane: …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 205–230, hier S. 227. 28  Wieso der Begriff der Anti-Utopie für Huxleys Roman angemessener erscheint als der Begriff der Dystopie, wird später noch dargelegt. 29  An manchen Stellen dieser Studie mag es naheliegend erscheinen, den Begriff des Totalen Kinos durch den gebräuchlicheren Begriff der Virtuellen Realität zu ersetzen; zumal die Totalkinematographie tatsächlich ein virtus im Sinne von Peirces Definition besitzt. Von einer synonymen Verwendung beider Begriffe wird allerdings bewusst abgesehen, zum einen weil Virtuelle Realität zu einem regelrechten Modewort der aktuellen Kultur- und Literaturwissenschaft und im Zuge dessen zu einem unscharfen Begriff geworden ist; zum anderen erscheint der Begriff der Totalkinematographie, die gewissermaßen einen Spezialfall Virtueller Realität darstellt, treffender für die hier untersuchten Phänomene, da Virtuelle Realität auch zur Beschreibung von bspw. Augmented Reality, interaktiven Computerspielen, immersiven Digital Media oder für 360-Grad-Videotechnik verwendet wird. Siehe exemplarisch als neuere Forschungsarbeiten hierzu: Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion. Cambridge: MIT Press 2003; Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt: Suhrkamp 2005; Schachtner, Christina: Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets. Bielefeld: transcript 2016; Holischka, Tobias: CyberPlaces. Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort. Bielefeld: transcript 2016. 30  Den Begriff der „Grenze“ bzw. „ästhetischen Grenze“ verwende ich in Bezug auf die 1932 veröffentlichte kunsttheoretische Studie von Michalski, Ernst: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte. Berlin: Gebr. Mann Verlag 1996, dort zur Begriffsbestimmung v. a. S. 10f. Michalski kommt hier auf die „illusionistischen Tendenzen“ von Deckenmalerei und Relief zu sprechen. Er bezieht seine Überlegungen unter anderem auf Simmels Studie zum Bilderrahmen, siehe: Simmel, Georg: Der

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS

Dabei schreiben die ausgewählten Texte das Narrativ des Totalen Kinos nicht nur fort, sondern bringen es erst hervor, indem sie die Totalkinematographie präfigurieren, narrativ ergründen und hinterfragen. Sie zeigen außerdem, dass der Traum vom Totalen Kino deutlich älter ist als der Begriff, den Bazin dafür geprägt hat, und sogar älter als der Filmzug der Gebrüder Lumière.31 Er speist sich aus Illusions- und Mimesisdiskursen, die seit der Antike um Abbilder der Welt kreisen und die in der literarischen Auseinandersetzung mit der Totalkinematographie wieder in den Blick geraten.32 Literarische Werke Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch. In: Ders: Gesamtausgabe Band VII, Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Band I. Frankfurt: Suhrkamp 1995, S. 101–108. Den Hinweis auf Michalski verdanke ich der Studie von Matei Chihaia: Der Golem-Effekt. Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos. Bielefeld: transcript 2011, v. a. S. 65–69. Chihaia erläutert über „die Herleitung der ‚ästhetischen Grenze‘ aus den klassischen Künsten […] die Partialität des kognitiven Fiktionsdiskurses und das daraus entstehende Defizit, welches gerade gegenüber der Fülle phantastischer Filme und Erzählungen zum Thema der Immersion hervorsticht“ (ebd., S. 69). 31  Bazins Essay Le Mythe du Cinéma total ist zwar der prominenteste, aber nicht der erste Text, der vom Totalen Kino spricht. Bereits im Jahr 1944, also zwei Jahre bevor Bazin seinen Text veröffentlicht, publiziert René Barjavel eine Schrift mit dem Titel Cinéma total und zeigt darin die Evolution auf, die das Kino in Richtung perfekter Abbildung der Realität durchmache, siehe Barjavel, René: Cinéma total. Essai sur les formes futures du Cinéma. Paris: Éditions Denoël 1944. Barjavel verteidigt in dem Text Farb- und Tonfilm ähnlich wie später Bazin mit dem Argument, dass sie der teleologischen Entwicklung des Kinos entsprächen: „L’auteur de films ne peut plus, aujourd’hui, faire un film muet. Il ne pourra plus, demain, faire un film gris, après-demain un film plat.“ (Ebd., S. 9). Der erste Autor, der das Kino als „représentation totale d’âme et de corpse“ bezeichnete, war Christian Godin zufolge Ricciotto Canudo in L’Usine aux images (1927), vgl. dazu Christian Godin: La Totalité. Band IV. La totalité réalisée. Les arts et la littérature. Seyssel: Éditions Champ Vallon 1997, S. 520. 32  Hierin folge ich Susanne Knaller: „Mimesis, wie sie im 18. Jahrhundert entworfen wird, bildet die für moderne, tradierte Illusionspoetiken prägende Programmatik. Sie kann als ein die Moderne konstituierendes Modell gelten, mit dem die Künste auf Eigenständigkeit drängen, während sie sich mit dem Totalitätsmodell Natur messen.“ Siehe dazu: Knaller, Susanne: Die Realität der Kunst. Programme und Theorien zu Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700. Paderborn: Fink 2015, S. 13. Da die Literatur zu Mimesis-Konzepten seit Platon und Aristoteles überbordend ist, sei an dieser Stelle selektiv auf jenes Mimesis-Verständnis im Zusammenhang mit Film hingewiesen, das für diese Studie einschlägig ist. Formuliert wird dieses besonders anschaulich in Kittlers Vorlesungen, in denen die Vorbildfunktion der Camera obscura in Sachen filmischer Mimesis betont wird. Das Kino versucht demnach seit seiner Erfindung der Präzision der Camera obscura (in Bewegung, Farbtreue, Panorama) nahezukommen, sie, sofern möglich, sogar zu übertreffen. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 56ff. Damit will das Kino gewissermaßen zurück zu seinen Anfängen. Allerdings hatte die Camera obscura auch einen entscheidenden Nachteil: Sie zeigt zwar die Welt, wie sie tatsächlich ist, wenn auch auf dem Kopf stehend;

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träumten schon vor der Erfindung des Kinematographen von bewegten Abbildern: So hat es schon der Rezipient in Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future von 1886 mit einer photographisch reproduzierten, lebensähnlichen Filmprojektion zu tun. Der Roman steht an der Schwelle zwischen Mimesis-Konzepten der realistischen Kunst und Fragestellungen, die mit der kinematographischen Reproduzierbarkeit der Bilder zusammenhängen. Insofern ist er ein Schlüsselwerk für das Narrativ des Totalen Kinos – zumal auch Bazin in Le Mythe du Cinéma total auf L’Ève future Bezug nimmt.33 Obwohl in Bazins Essay die literarischen Wurzeln seiner Theoriebildung zumindest implizit aufscheinen, blieb bislang weitgehend unbeachtet, wie stark literarische Werke die Vorstellung einer Totalkinematographie nicht nur reproduziert, sondern überhaupt erst entwickelt haben. Ein weiteres zentrales Beispiel hierfür ist Jules Vernes Roman Château des Carpathes (1892), der bislang so gut wie nie im Zusammenhang mit dem Kino gelesen worden ist.34 Sechs Jahre jünger als L’Ève future, aber ebenfalls noch vor der Erfindung des Cinématographe geschrieben, erzählt der Roman von einer Tonfilm-Projek­ tion, die ihren Rezipienten täuscht und ihn glauben lässt, er stehe seiner lebendigen Geliebten gegenüber. Die starke Affizierung, die über die Liebe zu einer Bildfrau verhandelt wird, verbindet die beiden proto-kinematographischen Romane aus Frankreich mit Bioy Casares’ fast fünfzig Jahre später verfasstem Roman La invención de Morel (1940). Auch hier verliebt sich der Pro­ tagonist in ein Bewegtbild, das er für eine reale Frau hält. Nicht nur wegen der vergleichbaren affektiven Wirkung von Liebe und Panik ähnelt die Situation der Rezipienten in diesen drei Romanen jener in der

es besteht aber noch immer „die Notwendigkeit manueller Nachzeichnung der entstandenen Bilder“ (ebd., S. 79). Der Anspruch an den Film ist also, Realität mimetisch perfekt wie die Camera obscura, abzubilden und sie zugleich speicherbar und somit immer wieder reproduzierbar zu machen. Insofern erscheint der mimetische Anspruch an das Kino also verschränkt mit anderen Potenzialen des Mediums Film. — Die Überkreuzung mit der Literatur ergibt sich, wenn man „die kanonische Festlegung der Dichtkunst auf Mimesis bei Platon und Aristoteles“ bedenkt. Damit stellt Mimesis einen wesentlichen gemeinsamen Nenner und Bezugspunkt für beide Künste dar, siehe dazu Benthien, Claudia /​ Weingart, Brigitte: Einleitung. In: Benthien, Claudia /​ Weingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 1–28, hier S. 16. 33  Vgl. Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. Bazin zitiert allerdings nur eine kurze Stelle aus dem Roman und macht diesen für seine These zum Totalen Kino nicht fruchtbar. 34  Einzelne Studien, die diesen Zusammenhang zumindest andeuten, führt das Kapitel 1.2 an.

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Zugfilm-Legende: Jedes Mal wird der überwältigende Affekt durch eine Erfahrung ausgelöst, in der das künstliche Abbild die Grenze zum „Realraum“ zu überschreiten scheint.35 Das Filmbild übt auf die Rezipienten eine Wirkung aus, die den Apparat durchsichtig macht und damit das Medium als Distanzierungs- und Reflexionsebene verschwinden lässt.36 Die Rezipienten reagieren, als hätten sie es mit der Wirklichkeit zu tun statt mit einer Reproduk­ tion; insofern ist ihre Reaktion auf das Bild als ikonoklastisch zu bezeichnen: Sie verschleiert seine „Bildlichkeit“.37 Der Betrachter blickt, statt ein Bild zu sehen, durch ein transparent gewordenes Medium hindurch scheinbar unmittelbar auf die Wirklichkeit.38 An dieser Stelle weist das Narrativ des Totalen Kinos eine enge Beziehung zum Pygmalionmythos auf: Ovid erzählt von dem Bildhauer, der sich in seine Statue verliebt und diese so lange betrachtet und liebkost, bis sie sich in eine reale Frau verwandelt: Pygmalion staunt und / faßt in der Tiefe der Brust die Glut für das Bild eines Leibes. / Oftmals berührt er sein Werk mit der Hand und versucht, ob es Fleisch, ob / Elfenbein sei, und versichert auch dann, kein Elfenbein sei es, / gibt ihm Küsse, vermeint sie erwidert, spricht an und umfängt es, / glaubt, seine Finger drückten dem Fleisch ihres Leibes sich ein und / fürchtet, es mache der Druck das berührte Glied sich verfärben.39

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Den Begriff des „Realraums“ entnehme ich wie den der „ästhetischen Grenze“ aus Michalski: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, S. 10. Ich spreche in dieser Studie häufiger von „Rezipienten“ als von „Zuschauern“, um zu betonen, dass es sich beim Totalen Kino meistens um multisensuelle Reproduktionen handelt, die bspw. auch tastbar sind. 36  Wie im folgenden Kapitel noch ausgeführt wird, liegt im Begriff des Mediums eine autoreflexive Ebene, weshalb dieser Begriff in der vorliegenden Studie verwendet wird, wenn von einem Apparat die Rede ist, dessen Medialität thematisiert oder implizit reflektiert wird. Mit Martin Mann verstehe ich unter „Autoreflexivität“ in Abgrenzung zum Transparenzparadigma eine grundlegende Qualität jedes Mediums; Mann unterscheidet den Begriff von der Selbstreflexivität, die ein Bewusstsein, ein Selbst impliziere. Siehe Mann, Martin: Das Erscheinen des Mediums. Autoreflexivität zwischen Phänomen und Funktionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, v. a. S. 13ff. 37  Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. In: Ders. (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink 2001, S. 11–38, hier S. 35. 38  Rautzenberg und Wolfsteiner definieren ein transparentes Medium wie folgt: „Transparenz bezeichnet in der Medientheorie diejenige Qualität von Medien, die dem Beobachter als Eindruck von Unmittelbarkeit begegnet.“ Siehe Rautzenberg, Markus / ​ Wolfsteiner, Andreas: Einführung. In: Dies. (Hg.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität. München: Fink 2010, S. 11. 39  Vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen (hg. u. übersetzt v. Erich Rösch). München: Ernst Heimeran Verlag 1961, S. 371ff.

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Der eigentliche Pygmalion-Effekt, wie ihn Victor Stoichita überzeugend untersucht und dargestellt hat, findet nicht erst in der Belebung der Galatea durch die Göttin Venus statt, sondern bereits vorher, nämlich im Text „als (dichterische) Umwandlung, die Knochen zu Fleisch macht, Weißes rot färbt und Hartes weich werden lässt“.40 Die Metamorphose vom Kunstwerk zum Leben realisiert sich, als Pygmalion die Bildfrau wie eine reale Frau behandelt, sie streichelt, bekleidet und beschenkt. Damit repräsentiert Pygmalion das Paradigma realistischer Kunst: „[T]he artist whose sculpture not only was like flesh but became flesh.“41 Diese Verwandlung entspricht aisthetisch42 einem Kippen von Idolatrie, der Bewunderung des Kunstwerks, in Ikonoklasmus, der Negierung der Bildlichkeit der Statue, ihrer Ersetzung durch Realität. Sobald Pygmalion vom Künstler zum Betrachter und zum Liebenden wird,43 entzieht sich das Bild seiner Gewalt und belebt sich. Der Liebende ist kein Künstler mehr, der Blick auf das Werk ist ihm von der realen Frau verstellt. Der Gedanke, dass das Abbild erst dann perfekt ist, wenn es sich gegen den Schöpfer auflehnen, sich seiner Kontrolle entziehen kann, bildet ein sowohl theologisches wie auch ästhetisches Paradox.44 Die darin enthaltende

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Stoichita, Victor I.: Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock. München: Fink 2011, S. 211. Stoichita gelingt die Analyse dieses dichterischen Effekts auf brillante Weise, indem er die autoreflexive Ebene des Mythos betont, die auch für die vorliegende Studie zentral ist. Demnach geschieht im Pygmalionmythos die Belebung des Bildes „allein durch die Kraft des Wortes und nur durch das Wort“. Siehe ebd., S. 13. Siehe zu einer originellen, weil verkehrenden Lesart des Mythos, die der vorliegenden Arbeit ebenfalls wichtige Impulse gab: Vinken, Barbara: Pygmalion à rebours. Fetischismus in Zolas Œuvre. In: Mayer, Mathias / ​Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg: Rombach 1997, S. 593–622. 41  Elsner, Jas: Roman Eyes. Visuality & Subjectivity in Art & Text. Princeton: Princeton University Press 2007, S. 113 (Herv. KJ). 42  Böhme plädiert für eine Erweiterung des Begriffs der Ästhetik hin zu einer Aisthetik als Wahrnehmungslehre; diese Erweiterung erscheint auch für Teile dieser Studie produktiv. Siehe Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink 2001. 43  Auch Elsner sieht diese Metamorphose als das zentrale Thema des Mythos an, vgl. Elsner: Roman Eyes, S. 113ff. Nach Boehms einleuchtender Argumentation ist Pygmalion als Ikonoklast zu bezeichnen, denn „ars adeo latet arte sua“,sein Können verbirgt ihm die Kunst. Ovid: Metamorphosen, S. 370f. Damit widerspricht Boehms Interpretation zwar zunächst der gängigen Lesart des Pygmalionmythos – aber nur scheinbar, denn in Wirklichkeit denkt sie den Mythos zu Ende und behält im Blick, dass nach der überschwänglichen Idolatrie der Ikonoklasmus folgt. Vgl. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35. 44  Da bei literarischen Präfigurationen des Totalen Kinos häufig Menschenabbildungen im Vordergrund stehen, zeigt sich, dass der Diskurs vom Totalen Kino auch von west-

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implizite Warnung vor einer allzu realistischen Kunst verbindet den Pygmalionmythos mit dem Narrativ des Totalen Kinos, schließlich wurde der frühe Film mitunter „als eine technische Realisierung des pygmalionischen Mythos der Belebung des Toten angesehen“.45 Beide Mythen erzählen vom Einzug einer „indifférence ontologique“,46 wie Bernard Stiegler die „Ununterscheidbarkeit des Realen und dessen, was bloß vorhanden, aber nicht real ist“,47 bezeichnet. Aus dieser Ununterscheidbarkeit erwächst das Phantasma im Zen­ trum des Narrativs vom Totalen Kino und des Kinos überhaupt. So beschreibt Akira Lippit „a fundamental cinematic desire to eliminate the last vestige of the apparatus from the field of representation, the film screen“.48 Der Traum vom Totalen Kino zielt damit eigentlich auf eine Selbstauslöschungsphantasie: „The drive to complete cinema, to perfect its mimetic capacities, suggested the eventual elimination of cinema as such.“49 Hierin liegt die paradoxale Bedeutung des ‚Totalen‘, mit dem Bazin das Kino attribuiert: Das Totale Kino ist ein ikonoklastisches Versprechen, das, sollte es sich tatsächlich erfüllen, die Auto-Negation des Kinos zeitigt und das Narrativ in die ihm innewohnende Aporie führt.50 Die folgenden Lektüren

lichen Schöpfungsmythen geprägt ist. Das bringt das Narrativ in die Nähe von literarischen Motiven wie dem Maschinenmenschen. Einige der untersuchten Texte, wie zum Beispiel L’Ève future, werden bislang vor allem unter diesem Bezugspunkt rezipiert, was allerdings die zentralen kinematographischen Aspekte außer Acht lässt. Ebenfalls hingewiesen sei auf die aufscheinende Verwandtschaft des verhandelten Narrativs zum Prometheus-Stoff, wenngleich diese hier nicht ausführlich gewürdigt werden kann. 45  Siegert, Bernhard: Die Leiche in der Wachsfigur. Exzesse der Mimesis in Kunst, Wissenschaft und Medien. In: Geimer, Peter (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 116–135, hier S. 132. 46  Stiegler, Bernard: La Technique et le temps III. Le temps du cinéma et la question du mal-être. Paris: Editions Galilée 2000, S. 24. 47  Hediger, Vinzenz: Vom Überhandnehmen der Fiktion. Über die ontologische Unterbestimmtheit filmischer Darstellung. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane (Hg.): „Es ist, als ob“. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft. München: Fink 2009, S. 163–183, hier S. 166. 48  Lippit, Akira Mizuta: Three Phantasies of Cinema – Reproduction, Mimesis, Annihilation. In: Paragraph, 22 (1999), S. 213–227, hier S. 213f. 49  Ebd., S. 213. 50  Zum Begriff der Totalität, der in seiner breiten philosophischen Bedeutung hier nicht umfänglich behandelt werden kann, siehe insbesondere das umfassende Werk zur Totalité des Philosophen Christian Godin, vor allem den Band IV, der sich der Literatur und anderen Künsten, unter anderem dem Kino, widmet. Godin schreibt dort: „Il y a plusieurs façons pour une manifestation esthétique d’être débordée vers l’horizon de la Totalité : le mélange ou l’adjonction de genres étrangers (c’était, on l’a vu, le signe de l’œuvre

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werden auch auf diesen Aspekt eingehen, der sich insbesondere in den Kapiteln zu Mynonas Roman Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World kristallisiert; aber auch in La invención de Morel weist die kinematographische Projektion in diesem Sinne totale Züge auf. Wobei das Totale nicht nur die „représentation totale et intégrale de la réalité“ beschreibt,51 sondern auch die Unhintergehbarkeit dieser „Illusion der Realität“.52 So schreibt Christian Godin mit Bezug auf den Zugfilm: On dit que l’impression de réalité que fit sur les spectateurs L’Arivée du train en gare de La Ciotat fut si forte que certains parmi ceux-ci s’enfuirent de la salle en poussant des cris. Nul ne s’avisa que cette image silencieuse, sans couleur ni relief, ne pouvait avoir avec la réalité qu’un rapport mental — tous furent au contraire persuadés de son caractère global, c’est-à-dire réaliste. L’illusion de réalité […] est une illusion de totalité.53

Die Totalität ist der Illusion des Kinos inhärent; dies treiben auch die Lektüren der hier zu untersuchenden Romane ans Licht. Dabei konterkariert die Vorstellung eines Totalmediums jenes Bewusstsein der Illusion, das Juri Lotman in sinngemäßer Übereinstimmung mit Christian Metz beschreibt, wonach der Zuschauer auf einen Film „emotional […] wie auf ein wirkliches Er-

d’art totale proprement dite), l’utilisation de nouvelles technologies qui apportent à l’œuvre tout un nouveau pan de réalité, la confusion de l’Art et de la Vie dans un spectacle total, et enfin l’insertion de l’œuvre dans la Terre, voire dans l’Univers (confusion de l’Art et de la Nature).“ Siehe Godin: La Totalité, Band IV, S. 549f. 51  Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 24. 52  Lotman, Jurij M.: Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films. Frankfurt: Syndikat 1977, S. 21. Die Unhintergehbarkeit der Illusion von Realität beschreibt in diesem Zusammenhang den Umstand, dass man beispielsweise beim Sehen des Zugfilms nicht nicht einen fahrenden Zug sehen kann, auch dann nicht, wenn man sich wie der normale Kinozuschauer sehr wohl darüber im Klaren ist, dass man einzelne Phasenbilder sieht. Insofern verstehe ich den Begriff der ästhetischen Illusion hier zunächst mit Koch nicht als „Phänomen der Täuschung, sondern des Erscheinens“ und somit als eine „gewusste Illusion“. Siehe dazu: Koch, Gertrud: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 9. Besonders schön auf den Punkt gebracht wurde diese Feststellung von Sol Worth in seinem Essay Pictures Can’t Say Ain’t In: Ders.: Studying Visual Communication. Philadelphia: University of Philadelphia Press 1981, S. 162–184. Wie die folgenden Lektüren zeigen werden, bleibt es allerdings nicht bei einer singulären Bedeutung des Begriffs der Illusion: Die literarischen Texte schreiben ihm Dichotomien und Ambivalenzen ein, sodass der Begriff der filmischen Illusion im Feld zwischen „Illudierung und Massenbetrug“ oszilliert (siehe dazu ebenfalls Koch: Die Wiederkehr der Illusion, S. 16f.). 53  Godin: La Totalité, Band IV, S. 528.

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eignis [reagiert], obwohl ihm die Irrealität des Gesehenen bewußt ist“.54 Für die Rezipienten des totalkinematographischen Spektakels, von denen die vorliegenden Texte erzählen, gilt diese Aussage indes nur bedingt: Ihnen kommt dieses Bewusstsein entweder abhanden (Huxley, Mynona, Pirandello) oder sie besaßen es nie (Verne) oder aber sie befinden sich in einem wechselhaften Zustand zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus, in dem der Blick auf das Medium zu flackern beginnt (Villiers, Bioy). Insofern bilden die Texte auch eine Bandbreite möglicher Rezeptionshaltungen ab, die wesentlich für das Narrativ des Totalen Kinos sind. Gemeinsam ist den Romanen, dass das Kino von den jeweiligen Protagonisten eher als Spektakel, denn als Medium wahrgenommen wird; es stellt sich gemäß Guy Debords Beschreibung als „une énorme positivité indiscutable et inaccessible“ dar.55 So thematisiert das Narrativ des Totalen Kinos auch den Einbruch des Spektaklistischen in die moderne Welt, in der Realität zunehmend als kontingent wahrgenommen wird: „Dans le monde réellement renversé, le vrai est un moment du faux.“56 Verdrängt wird dabei die Medialität des Mediums, und damit jene Rezeptionshaltung, die ein Bewusstsein für die Illusion und die Bildlichkeit des Gesehenen impliziert, wie es Morin beschreibt: Une sortie d’usine, un train entrant en gare, choses déjà cent fois vues, usées et dévaluées, attirèrent les premières foules. C’est-a-dire que ce qui attira les premières foules, ce ne fut pas une sortie d’usine, un train entrant en gare (il aurait d’aller à la gare ou à l’usine) mais une image du train, une image de sortie d’usine. Ce n’était pas pour le réel mais pour l’image du réel que l’on se pressait aux portes du Salon Indien.57

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Lotman: Probleme der Kinoästhetik, S. 21 (Herv., KJ). Siehe dazu auch Metz, Christian: Essais sur la signification au cinéma. Tome I. Paris: Klincksieck 1968, v. a. S. 13–24. 55  Debord, Guy: La Société du Spectacle. Paris: Gallimard 1992, S. 7. Dabei scheint die inaccessibilité in einem Widerspruch zum immersiven Potenzial der totalkinematographischen Simulation zu stehen; allerdings erweist sich gerade darin das Kino als Heterotopie, dass das Dispositiv sich der Erkenntnis des Rezipienten entzieht und ihn gleichzeitig fesselt. 56  Ebd., S. 6 (Herv. i. O.). Der Begriff des „Spektaklistischen“ ist der deutschen Übersetzung des Textes entnommen, vgl. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels (übers. v. Jean-Jacques Raspaud). Berlin: Édition Tiamat 1996, S. 18. 57  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 16 (Herv. KJ).

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Den Rezipienten der Totalkinematographie wird dagegen die Illusion der Realität zum unmittelbaren Verhängnis; sie erkennen nicht, dass es sich um „l’image du réel“ handelt, sondern halten „l’image“ für „le réel“.58 Der „Orientierungsverlust“,59 der mit der gelingenden Illusion und der daraus resultierenden Ununterscheidbarkeit zwischen Film und Leben einhergeht, gehört ebenso wie die übermäßig starke Affizierung zum Narrativ des Totalen Kinos. Wobei diese beiden narrativen Stränge in zeitgenössischen Vorbehalten gegenüber dem aufkommenden Film wurzeln, die insbesondere unter Schriftstellern und Literaten gepflegt wurden.60 So schreibt etwa Thomas Mann noch 1928 über den Film: „Er ist nicht Kunst, er ist Leben und Wirklichkeit“.61 Mit diesem Argument wird nicht nur dem Film der Kunstcharakter abgesprochen, sondern zugleich auch die Vorstellung des Kinos als illusionistischem Totalmedium bedient. Bazin zufolge träumte das Kino schon immer von der „complète illusion de la vie“.62 Und tatsächlich verkündete der Erfinder des Filmprojektors Charles Jenkins 1898, im Kino verwirkliche sich der uralte Traum „to give life to inanimate things“.63 Residuen dieser besonderen Beziehung zwischen Film und Leben lassen sich noch bei Roland Barthes aufspüren, der in seiner Ontologie der Photographie als entscheidenden Unterschied zwischen Photo und Film bei Letzterem die Fähigkeit zur Wiedergabe von Lebendigem erkennt:64 Film liefere „une il-

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Auch Kittler betrachtet dies als Effekt der Illusion, wenn er betont, dass in dem Moment, in dem die Zuschauer „vor Lebensangst aus dem Pariser Café gelaufen sein sollen“, das Kino zum Illusionsmedium wurde. Siehe Kittler: Optische Medien, S. 227. 59  Zum Orientierungsverlust zwischen Immersion und Infiltration ist vor allem die Studie Der Golem-Effekt von Matei Chihaia einschlägig und liefert Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie. 60  Teilweise knüpfen diese Vorbehalte an die Tradition des paragone, des Wettstreits zwischen Bild- und Wortkünsten, an; wobei dieser reiche Diskurs, der in zahlreichen Studien vor allem zur Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts bereits ausführlich dargestellt und untersucht wurde, im Folgenden aus naheliegenden Gründen der notwendigen thematischen Beschränkung nicht in seiner Fülle aufgerollt werden kann und die historische Dimension des paragone daher eher implizit eine Rolle spielen wird. 61  Mann, Thomas: Über den Film. In: Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. München: dtv 1978, S. 164–166, hier S. 164. 62  Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. 63  Jenkins, Charles Francis: Animated Pictures. An Exposition of the historical development of Chronophotography. Washington 1898, S. 1, https://archive.org/details/ animatedpicture00jenkgoog. 64  Vgl. Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard 1980, S. 139.

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lusion“,65 er behaupte nicht nur wie die Photographie „Ça a été“,66 sondern sei vielmehr „tout simplement « normal », comme la vie“.67 Der Film weist eine buchstäbliche Lebensnähe auf, die zu einer unheimlichen Angst vor dem lebendig scheinenden Toten führt. Während die Photographie noch vom Gespenst der Malerei heimgesucht wurde,68 wird der Film nun vom Gespenst des Lebens heimgesucht. Le premier homme qui a vu la première photo (si l’on excepte Niepce, qui l’avait faite) a dû croire que c’était une peinture: même cadre, même perspective. La Photographie a été, est encore tourmentée par le fantôme de la Peinture.69

Analog dazu müsste über das Kino entsprechend gesagt werden: Der erste Mensch, der den ersten Film sah, muss geglaubt haben, das Gesehene sei lebendig.70 Und tatsächlich schreibt der Filmtheoretiker Hermann Häfker 1908: Von nun an könne der Mensch „Lebendig-Malen“.71 Das Kino stellt eine moderne Galatea lebendig vor Augen: Die „Motivgeschichte vom belebten Bild“ erfährt eine „medial-technische Fortsetzung“ im

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Ebd., S. 181. Ebd., S. 176. 67  Ebd., S. 140. 68  Barthes benutzt das Wort „spectre“ in La chambre claire (ebd., S. 140); wenn auch seiner Ansicht nach der Film kein Gespenst mehr sei, so zeigen die folgenden Lektüren, dass dem Filmischen eben doch noch etwas Gespenstisches und mitunter Unheimliches anhaftet. Die von Barthes forcierte Trennung zwischen einer gespenstischen Photographie und einem nicht-mehr-gespenstischen, weil dem „monde réel“ ähnlicheren, Film (vgl. ebd., S. 140), wird somit von den literarischen Werken dieser Studie durchkreuzt. 69  Barthes: La chambre claire, S. 54f. 70  Dies gilt insbesondere im von Barthes aufgemachten Kontrast zur Photographie, die in ihrer Starrheit häufig mit dem Tod assoziiert wurde. Untersuchungen zur Verwandtschaft zwischen Photographie und Tod gibt es zahlreiche, siehe insbesondere Thausing, Moritz: Kupferstich und Fotografie. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie. München 1980, S. 133–142; sowie Gunning, Tom: Re-Animation. Lebende Bilder oder ein einbalsamiertes Bild vom Tod? In: Geimer, Peter (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 182–204. Maria Tortajada betont ebenfalls den ontologischen und ästhetischen Unterschied zwischen moving pictures und „the still image“, siehe dazu Tortajada, Maria: Marey and the Synthesis of Movement. In: ­Albera, François / Tortajada, Maria: Cine-Dispositives. Essays in Epistemology Across Media. Amsterdam: University Press 2015, S. 93–113, hier S. 93. 71  Häfker, Hermann: Die Schönheit der natürlichen Bewegung. In: Diederichs, Helmut H. (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 91–101, hier S. 91. 66 

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Motiv vom lebensechten Film.72 Dass diese Fortsetzung nicht ohne Konflikte zwischen der Literatur und ihrem neuen Konkurrenzmedium vonstatten geht, wird zu bedenken sein, wenn es um die Einordnung des Narrativs vom Totalen Kino in den Zusammenhang der Filmtheorie und -geschichte geht. Schließlich drohte die Literatur ihre „mediale Vorherrschaft“ bei der Anima­ tion des Bildes zu verlieren, weil „die Animationen und Menschenschöpfungen des Kinos […] plastischer, anschaulicher, medial eingängiger“ waren.73 Dadurch herausgefordert stellen literarische Werke Erkundungsgänge ins Filmische an, von denen das vorliegende Textkorpus einige abbildet. Bedenkt man dieses Konkurrenzverhältnis zwischen den Medien, zeigt sich indes auch, dass literarische Werke, in denen das Kino als Motiv aufgegriffen und imaginiert wird, nicht nur von diesem, sondern immer auch von den eigenen Potenzialen und Unsicherheiten erzählen. Dabei kann das andere Medium sowohl als Verlängerung der eigenen Möglichkeiten als auch als antagonistischer Bezugsrahmen zur Abgrenzung interpretiert werden; beide Spielarten finden sich in den Texten dieses Untersuchungskorpus.74 Der Gedanke, dass Literatur, wenn sie über das Kino spricht, immer auch über sich selbst spricht, wird deshalb als Reflexionsebene in den folgenden Lektüren eine zentrale Rolle spielen. Dass sich diese auf das Genre des Romans konzentrieren, liegt darin begründet, dass der Roman vom Siegeszug des Kinos besonders betroffen war, wie Pierre Maillot darlegt: […] le cinéma a remplacé non pas la littérature dans son entier, mais ce genre littéraire dont la fonction principale était de raconter le réel: le roman. Et il est piquant de constater que la grande crise du roman moderne

72  Haupt, Sabine: Schöpfung, Magie, Kunst und Technik: Zur Herstellung menschlicher Simulacren in und mittels Literatur. In: Stoichita, Victor I. (Hg.): Das Double. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2006, S. 165–194, hier S. 175. Siehe dazu außerdem: Koch, Gertrud: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur. In: Mayer, Mathias / ​Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg: Rombach 1997, S. 423–441. 73  Haupt: Schöpfung, Magie, Kunst und Technik, S. 177. 74  Mit Kittler ließe sich gerade aus der engen Verwandtschaft zwischen Film und Literatur die besondere Qualität dieses Konkurrenzverhältnisses ableiten: Da Literatur immer schon ein optisches Medium war, reflektiert sie in ihrem Schreiben über das Kino nicht nur das andere, sondern vielmehr das andere eigene Programm. So ließen sich auch die starken Einsätze von literarischen Texten, aber auch von Schriftstellern für oder gegen den Film erklären. Vgl. Kittler: Optische Medien, v. a. S. 10ff.

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS qui s’est exprimée dans les années 50 avec le Nouveau roman, mais qui datait en fait des années 30 déjà, est contemporaine de l’avènement du cinéma parlant.75

Maillots These wird im Verlauf dieser Studie in einem Detail zu korrigieren sein: Der Roman betrachtet sich bereits früher vom Aufkommen des Kinos bedroht, als Maillot vermutet, und reagiert schon vor seiner eigentlichen Krise mit Abwehrreflexen gegen den Film, zu denen das Narrativ des Totalen Kinos zu zählen sein wird.76 Dieses Narrativ ist allerdings keineswegs homogen, es ist noch nicht einmal durchgängig filmfeindlich,77 sondern weist Nuancen und Differenzierungen auf, die in den Close Readings der einzelnen Texte zu Tage treten werden. Die Herangehensweise, sich den sechs Romanen in einzelnen Lektüren zu nähern und dabei auf die spezifische Qualität des jeweiligen Textes einzugehen, erweist sich als sinnvoll und fruchtbar, weil nur so rhetorische Details und gegenläufige Textebenen, wie sie etwa in Pirandellos Quaderni virulent werden, oder Bezüge zu Topoi der Kunstgeschichte, wie Bioy sie in seinen Text integriert, adäquat untersucht werden können. Um dennoch Interferenzen zwischen den einzelnen Betrachtungen der Texte darstellen und insbesondere die größeren Linien des Narrativs des Totalen Kinos herausarbeiten zu können, werden insgesamt drei kurze Zwischenrésumés eingeschoben, die die Arbeit untergliedern. Im Zuge dieser Herangehensweise, die stark auf die Primärtexte konzentriert arbeitet, wird außerdem auf eine monolithische theoretische Einführung verzichtet. Stattdessen werden im folgenden Kapitel sowohl der Stand der Forschung als auch die leitenden theoretischen Perspektiven dieser Studie kurz vorgestellt und dabei zentrale Begriffe eingeführt. Alle ande-

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Maillot, Pierre: L’écriture cinématographique. Paris: Méridiens Klincksieck 1994, S. 14. Man kann diese Herausforderung indes auch positiv formulieren, wie es Gavriel Moses tut: „Never before had human perception been affected in such an all-encompassing way by one art form“, weshalb „the novel as a genre was stimulated to create space for it.“ Siehe Moses, Gavriel: The Nickel Was for the Movies. Film in the Novel from Pirandello to Puig. Berkeley: University of California Press 1995, S. XIX. 76  Kittler spricht von „Verteidigungslinien gegen anrückende Medienverbundsysteme“, siehe Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, S. 255. 77  So zeigen gerade die Analysen von Mynonas Graue Magie oder auch Pirandellos Quaderni, dass hinter der oberflächlichen Filmskepsis den Texten auch eine Ebene eingeschrieben ist, die Film als Instrument zum Nachdenken über den Status von Realität und Kreatürlichkeit produktiv macht und ihn somit nicht bloß denunziert.

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ren theoretischen Begriffe finden ihre Einführung und Anwendung im jeweiligen Lektüre-Kapitel, was der Lesbarkeit dieser Studie zugute kommen soll. Nach der kurzen Einführung widmen sich die Lektüren in chronologischer Reihe sechs Romanen; angefangen mit Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future und Vernes Le Château des Carpathes geht es über Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore und Mynonas Graue Magie zu Huxleys Brave New World und Bioys La invención de Morel. Somit wird von den Einzelstudien der Zeitraum von 1886 bis 1940 abgedeckt, in dem sich das Narrativ des Totalen Kinos im Wesentlichen herausgebildet hat, ehe es 1946 von Bazin für die Filmtheorie erfasst und produktiv gemacht wurde.78 Gleichzeitig bildet die komparatistische Anlage der Studie ab, dass das Narrativ über die Beschränkung auf einzelne Nationalliteraturen hinaus Relevanz besitzt. Schließlich ist auch das Kino seit seinen Anfängen ein globales Projekt.79 Über die Grenzen der National­ literaturen hinweg zeigen sich Referenzen und gemeinsame Bezüge zwischen den ausgewählten Texten, die diese nicht nur als zentrale Untersuchungsgegenstände für eine Studie zum Totalen Kino besonders wertvoll machen, sondern außerdem die inneren Zusammenhänge dieses Narrativs aufzeigen. Dabei wurden die sechs Romane so ausgewählt, dass sie exemplarisch für unterschiedliche Spielarten des Narrativs vom Totalen Kino sowie für unterschiedliche Epochen der Filmgeschichte stehen. Schließlich hat die breit angelegte Anfangsrecherche für diese Studie ergeben, dass sich gerade technische Innovationen auch in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Kino niedergeschlagen haben; die ausgewählten Einzelstudien tragen diesem Ergebnis Rechnung, indem sie jeweils neuralgische historische Zeitpunkte in den Blick

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Selbstverständlich hätte es aus diesem Zeitraum noch andere literarische Texte gegeben, die sich mit dem Kino auseinandersetzen. Allerdings sollten im Rahmen dieser Studie nicht etwa sämtliche für den literarischen Diskurs über das Kino einschlägigen Texte und Rezeptionsverläufe berücksichtigt werden, sondern nur jene, die für das hier im Zentrum stehende Narrativ des Totalen Kinos von unmittelbarem Belang sind. Hinweise auf einige Texte des Untersuchungskorpus finden sich etwa bei Morin, vgl. Ders.: Le Cinéma ou L’Homme imaginaire, S. 38–40. 79  So kursierten in vielen Ländern Versionen des legendären Zugfilms, in denen der Zug jeweils in einen anderen Bahnhof einfährt. Die Konzessionen für ihren Cinématographe und die abzuspielenden Filme vertrieben die Lumières international, wobei ihre strengen Regulatorien dafür sorgten, dass „die Lumière-Programme weltweit einander sehr ähnlich waren.“ Siehe dazu: Garncarz, Joseph: Über die Entstehung der Kinos in Deutschland 1896–1914. In: Kessler, Frank / ​Lenk, Sabine / ​Loiperdinger, Martin (Hg.): Kinematographen-Programme. KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Frankfurt: Stroemfeld 2002, S. 144–158, hier S. 145.

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS

nehmen. So schrieben Villiers und Verne ihre Romane, kurz bevor das Kino in Frankreich erfunden wurde,80 während die Romane von Pirandello und Mynona in der Epoche des Stummfilms verfasst wurden, jeweils in dem Zeitraum, als in Italien beziehungsweise Deutschland die nationale Filmindustrie gerade ihren Höhepunkt erlebte.81 Huxleys Roman dagegen entstand in einer Zeit, in der die britische Filmindustrie die Bedrohung aus Übersee zu spüren begann und darüber hinaus die umstrittene Innovation des Tonfilms Einzug hielt.82 Bioy schließlich nimmt in seinem Roman subkutan auf das Aufkommen des Farbfilms Bezug, indem er auf den kunsthistorischen Topos des Inkarnats zurückkommt und dieser für ein Nachdenken über das Kino produktiv wird.83 Während mit den Romanen aus Frankreich, Italien, Deutschland und Großbritannien die europäischen Zentren der Filmindustrie abgebildet sind, ermöglicht La invención de Morel außerdem den Blick aus der wohlinformierten argentinischen Peripherie auf die ästhetischen Diskurse in Europa.84

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Interessant erscheint im Zusammenhang mit der Erfindung des Kinematographen, dem bekanntlich Apparate wie Lebensrad, Zoetrop, Phenakistiskop, Praxinoskop und Kinetoskop vorausgingen, eine Beobachtung von Jonathan Crary, der in seiner Kulturgeschichte des Sehens zu dem Schluss kommt, diese Apparate seien deshalb so rasch veraltet, weil „sie nicht mehr ‚phantasmagorisch‘ genug waren“ und „ihre Funktionsweise und die Form ihrer Abhängigkeit offen zur Schau“ stellten. Siehe Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst 1996, S. 136. 81  So schreibt etwa Frank Nulf, dass „during the years 1910–1919 the Italian film was at the zenith of its popularity and influence“, vgl. Nulf, Frank: Luigi Pirandello and the Cinema. In: Film Quarterly, Vol. 24, No. 2 (1970–1971), S. 40–48, hier S. 42. Den Höhepunkt der deutschen Filmproduktion in der Zeit der Weimarer Republik beleuchtet Faulstich, Werner: Filmgeschichte. Paderborn: Fink 2005, hier v. a. S. 68ff. 82  Huxley war einer jener Schriftsteller, die sich in Essays scharf gegen den Tonfilm aussprachen, siehe dazu Kapitel 3.1. Damit nimmt er eine interessante Gegenposition zu Bazin ein, der den Tonfilm verteidigt und das Kino wiederholt gegen eine geforderte Reinheitsästhetik in Schutz nimmt, vgl. Bazin, André: Pour un cinéma impur. In: Ders.: Qu’est-ce que le cinéma? Band II. Paris: Éditions du Cerf 1959, S. 7–32. 83  Mit Bazin ließen sich die technischen Innovationen vom Schwarz-Weiß-Film über den Ton- und Farbfilm bis hin zu neueren Entwicklungen wie 3-D-Film und Augmented Reality als Belege für die Wirkmacht des Narrativs des Totalen Kinos lesen; sie weisen demnach die Richtung zu einer zunehmend mimetischeren Reproduktion der Realität. Vgl. Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 24. 84  Dieser Blick erscheint interessanter und innovativer als der bereits weitgehend erforschte Blick auf Hollywood, den etwa Gavriel Moses in seiner Studie unter anderem anhand von Nathanael Wests The Day of the Locust (1939) und Fitzgeralds letztem Roman The Last Tycoon (1940) untersucht.

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Über alle diese Romane hinweg zeigt sich, dass die literarischen Werke dem Kino einen Realitätseffekt zuschreiben, den selbst hervorzubringen dieses – zumindest zum jeweiligen historischen Zeitpunkt – gar nicht in der Lage ist. Das Potenzial dieser Zuschreibung ist ein Zweifaches: Einerseits formen die literarischen Werke damit ähnlich wie die fiktionale Anekdote über den Zugfilm das Kino-Dispositiv präfigurativ mit. Andererseits reflektiert die Literatur dabei auch ihre eigenen Möglichkeiten und ihr Verhältnis zu Realismus und Mimesis. Das Überspringen vom Film in die Realität fungiert mit Lachmann gesprochen als „Fiktionshäresie“85 und erlaubt es der Literatur, in ihrer Narration des Bewegtbildes „den Phantomcharakter des Realismus“ hervorzutreiben, indem sie diesen „im Phantom überhöht“.86 Das Totale Kino ist also auch der Traum, den die moderne Literatur träumt, wenn sie die Reste des Mimesis-Diskurses und der Realismus-Debatte des zurückliegenden 19. Jahrhunderts reflektiert, und damit ein Reflexionsraum, um über die „Verschleifung von Realität und Fiktion […], wie sie die Erkenntnistheorie seit jeher beunruhigt hat“ nachzudenken.87 Indem die Literatur das Totale Kino erst hervorbringt, versichert sie sich nicht nur des fremden, sondern vor allem ihres eigenen Potenzials. Der Traum von der Totalkinematographie impliziert zwei Lesarten, die im Verlauf dieser Studie immer wieder gegeneinander geschnitten werden sollen: Er imaginiert nicht nur die Vervollkommnung der Mimesis im Bewegtbild, das als Bild nicht mehr zu erkennen ist; er bleibt gleichzeitig hinter den Möglichkeiten des Kinos zurück, indem er es auf einen Abbildungsprozess analog zur Funktionsweise des Phonographen reduziert: Film als bloße Kopie der Realität – ohne Tricks und Effekte, ohne Schnitt und Montage, also weitgehend ohne künstlerische Einflussnahme. Zwar hatte Edison tatsächlich noch die Absicht „ein Gerät zu entwickeln, das für das Auge das tun sollte, was der Phonograph für das Ohr tut“,88 doch spätestens mit Méliès’ Zaubertrickkino spaltete sich die Gründungsgeschichte des Kinos:89 85 

Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 97. Ebd., S. 332. 87  Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane: Einleitung. In: Dies. (Hg.): „Es ist, als ob“. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft. München: Fink 2009, S. 7–11, hier S. 7. 88  Kittler, Friedrich A.: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 252. 89  Wenn auch der zweite Gründungsmythos, der gewissermaßen als Pendant zu L’Arrivée d’un Train fungiert, im Zuge dieser Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt, so sei er 86 

EINLEITENDES: DAS NARRATIV DES TOTALEN KINOS The ‘founding myth’ of cinema, to use Bazin’s term, is divided at the root: both a dream of total representation (the ‘perfect testimonial’ of displaying past events as if they were occurring in the present), and one of total fiction (the ‘perfect artwork’ of displaying an artificial construct — virtual reality, artificial intelligence — as if it were natural, thereby eliminating the truth-fiction distinction).90

Vor diesem Hintergrund liegt das Ziel dieser Untersuchung nicht darin, ein glattes Narrativ zu (re)produzieren, vielmehr soll das Narrativ des Totalen Kinos gegen den Strich gebürstet werden, um so literarische Einsatzpunkte und diskursive Stränge offenzulegen. So gilt es zu bedenken, dass die Zuschreibung eines „Transparenzparadigmas“91 an das Konkurrenzmedium mitunter auch dazu dient, dem Film seinen ästhetischen Wert und die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Medialität abzusprechen. Indem diese Studie solche Frik­ tionen und Untiefen im Hinblick auf das Narrativ des Totalen Kinos offenlegt, versucht sie einen Beitrag zu leisten, der sowohl für die Literaturwissenschaft

dennoch an dieser Stelle kurz wiedergegeben und erläutert – schließlich zeigen sich die Spezifika des Narrativs des Totalen Kinos vor dem Hintergrund dieser Negativfolie besonders deutlich: Die Ikone für die phantastische Traditionslinie der Kinematographie ist Georges Méliès’ 1902 veröffentlichter Film Le Voyage dans la Lune. Weder lebensecht noch realistisch war diese Reise zum Mond eindeutig Fiktion, eine mit den Mitteln des Mediums erzählte Geschichte, die als solche die autoreflexive Opazität des Mediums Film ausstellte. Méliès erkannte und nutzte die Möglichkeit, im Film mit Effekten wie Doppelbelichtung, Stop-Trick und Bühnentricks zu arbeiten und so die Kunst des illusionistischen Zaubertricks im neuen Medium zu vervollkommnen. Im Gegensatz zur Legende vom Zugfilm ging es ihm nicht darum, dass die Zuschauer seine Filme mit der Realität verwechselten. Als Gegenpol zum vorrangig dokumentarischen Film der Gebrüder Lumière inszenierte Méliès in seinem Trick-Kino magische, phantastische oder übernatürliche – jedenfalls klar fiktionale – Inhalte. Sein Zaubertrickfilm basiert auf technischen Effekten, während die Wirkung der Lumière’schen Filme auf eine quasi-magische Übertragung der Realpräsenz auf das Filmbild setzt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das eigentliche ‚Wunder‘ der Kinogeschichte nicht Méliès’ Reise zum Mond war, sondern der Realismus, wie ihn die Lumières und später Bazin forcierten. Siehe dazu insbesondere den Aufsatz von Kammer, Stephan: Poetik des Zauber(n)s. Technik, Magie, ‚Medien‘ und der Status der Literatur um 1900. In: Sprache und Literatur, 109 (2012), S. 21–35. Indem zahlreiche literarische Werke diese zweite Traditionslinie des Kinos ausklammern, betreiben sie ein möglicherweise bewusstes Missverstehen des Kinos als reine Reproduktion der Realität und übersehen autoreflexive Aspekte des Mediums Film zugunsten eines angeblichen Strebens nach Totalkinematographie. 90  Guiney, Martin: ‚Total Cinema‘, Literature, and Testimonial in the Early Films of Alain Resnais. In: Adaptation, Vol. 5, No. 2 (2010). S. 137–151, hier S. 144. 91  Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 26.

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als auch für die Filmwissenschaft wertvoll ist, weil sie nicht nur das Verhältnis zwischen den beiden Künsten in den Blick nimmt, sondern sowohl Aspekte der Autoreflexivität des literarischen Textes als auch grundlegende Beobachtungen dazu, wie Literatur über Film spricht, ans Tageslicht befördert und damit einen zentralen Aspekt in der Genese des kinematographischen Dis­ positivs aus einer Metaebene heraus beobachtbar macht. Im Blick auf diesen metapoetischen Gehalt, der literarischen Werken über das Kino eingeschrieben ist und der unbedingt zentral für das zu untersuchende Narrativ ist, liegt somit auch ein zusätzliches Erkenntnisinteresse einer literaturwissenschaftlich perspektivierten Studie zum Kino-Diskurs. Auf den folgenden Seiten soll versucht werden, Ambivalenzen offenzulegen, narrative Stränge aufzufransen und zu zeigen, dass das Narrativ des Totalen Kinos nicht einheitlich ist, sondern in unterschiedliche Topoi und Strukturen zerfällt, die wiederum mit anderen Mythen und Diskursen interagieren. Auf diese Weise nähert sich die vorliegende Studie den Wurzeln des Kino-Diskurses über den Umweg seines utopischen Fluchtpunktes, analog zu Bazins Beschreibung: „Tous les perfectionnements que s’adjoint le cinéma ne peuvent donc paradoxalement que le rapprocher de ses origines. Le cinéma n’est pas encore inventé!“92 Bedenkt man die jüngsten Entwicklungen in der Unterhaltungsindustrie wie in den Humanwissenschaften, die gerade unterschiedliche Formen Virtueller Realität für sich entdecken,93 so wird anschaulich, dass der Traum des Totalen Kinos von den Anfängen der Kinematographie bis in jene Zukunft reicht, die Googles Vordenker Kurzweil als „Singularität“94 bezeichnet. Dem Ausblick auf diese (Anti‑)Utopie wird sich das Schlusskapitel widmen, wo die Fäden des untersuchten Narrativs kurz zusammengeführt und reflektiert werden sollen. Ehe die einzelnen Lektüren im Fokus stehen, werden nun noch die methodologischen und theoretischen Ausgangspunkte und Begriffe geklärt. Das folgende Kapitel stellt diese kurz vor.

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Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. Schon vorher schreibt Barjavel ganz ähnlich: „Le cinéma subit depuis sa naissance une évolution constante“, diese führe es zu „son état parfait. Cinéma total.“ Siehe Barjavel, René: Cinéma total. Essai sur les formes futures du Cinéma. Paris: Éditions Denoël 1944, S. 9. 93  Ein kurzer Ausblick darauf folgt am Schluss dieser Arbeit, wo nicht nur auf VR-Technologien wie das von Facebook vertriebene Head-Mounted-Display Oculus Rift Bezug genommen wird, sondern auch auf neue Anwendungsbereiche Virtueller Realität etwa in Psychologie und Neurowissenschaften. 94  Vgl. Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 9.

Quelle: Institut Lumière

II

Theoretische Perspektiven und Stand der Forschung

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Das Narrativ des Totalen Kinos ist nicht nur ein zentraler Strang im Kino-Diskurs, es hinterfragt zugleich auch die Potenziale und Defizite des Mediums Film und zielt auf zentrale Aspekte kinematographischer Ästhetik. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung dieses Narrativs schreibt damit gewissermaßen auch eine Meta-Filmtheorie, eine Filmtheorie aus Sicht der Literatur. Dabei ist stets im Blick zu behalten, dass die scheinbare Kontinuität in der Entwicklung des Kino-Dispositivs von L’Arrivée d’un train bis zu VR-Technologien des 21. Jahrhunderts eine im Nachhinein konstruierte ist.1 Bazins Essay Le Mythe du Cinéma total liefert für diese Studie deshalb zwar wichtige Impulse, wird aber in der Analyse des Narrativs nur als Hintergrundfolie eine Rolle spielen, da sein teleologisches Modell keineswegs affirmiert, sondern stattdessen ein Beitrag zu einem kritischen Verständnis dieses Narrativs geleistet werden soll.2 Bazin beschwört den Mythos vom

1  So weist Jörg Schweinitz in seiner Kritik an Bazins teleologischem Modell völlig zurecht darauf hin, dass historisch betrachtet ökonomische Interessen, die Wünsche des Publikums und andere Faktoren eine stärkere Rolle bei der medientechnischen Entwicklung gespielt haben als „die Komplettierung einer vollkommenen Nachbildung von Wirklichkeit“. Als Beispiel führt er das 3-D-Kino an, das technisch längst entwickelt war, sich aber erst viel später durchgesetzt hat. Siehe: Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 143. 2  Dabei gilt Bazin als nach wie vor zentraler, wenn auch umstrittener Denker über Film: Noël Carroll, einer seiner größten Kritiker, gesteht ihm etwa zu, dass „no figure is as important in the history of film theory as André Bazin. His influences on contemporary theory, though diverse, are unmistakable.“ Siehe Carroll, Noël: Philosophical problems of classical film theory. New Jersey: Princeton University Press 1988, S. 94. Gleichzeitig kritisiert Carroll Bazins Perspektive auf Film als theologisch verklärt und einseitig auf filmischen Realismus fixiert. Auf der Seite derer, die sich in Bazins Tradition sehen, steht dagegen Stanley Cavell, der den Mythos vom Totalen Kino definiert als „the idea of and wish for the world re-created in its own image“, siehe Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the ontology of film. New York: The Viking Press 1971, S. 39. Auch die deutschsprachige Filmtheorie betrachtet Bazin als wichtigen, wenn auch bislang unterschätzten Theoretiker und widmete ihm eine 200 Seiten starke Ausgabe der Zeitschrift Montage AV, die unter anderem Aufsätze von Thomas Elsaesser, Vinzenz Hediger und David Bordwell enthält, siehe Montage AV, 18,1 (2009). Im Editorial schreibt Guido Kirsten, eine Zeitlang sei Bazin „in der französischen Filmkultur zum roten Tuch geworden: Die Polemiken um die ideologische Wirkung des Kinos, die dem ihm vermeintlich immanenten ‚Realitätseindruck‘ zugeschrieben wurden, sowie die Durchsetzung der Filmsemiologie als Leitparadigma der Filmwissenschaft führten dazu, dass seine Schriften jetzt allenfalls noch als zu überwindende Negativfolie gelesen wurden.“ (Ebd., S. 5) Und weiter: „Die Heftigkeit der Ablehnung, die ihm in poststrukturalistischen Zeiten stets sicher war, verhält sich durchaus proportional zu seiner instituts- wie diskurspolitischen Unverzichtbarkeit und Unvermeidlichkeit.“ (S. 6) Siehe Kirsten, Guido: Editorial: Warum Bazin. In:

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN UND STAND DER FORSCHUNG

Totalen Kino statt ihn diskursiv zu erfassen; zu wenig hat er dafür die literarischen Wurzeln und die Verästelungen des Narrativs, in das sich sein Essay einschreibt, im Blick.3 Dabei ist die Vielstimmigkeit ein wesentliches Merkmal von Narrativen: So uneinheitlich ein Erzähltext bei feinerer analytischer Auflösung sein mag – ein Gefüge von Sedimentschichten, die auf die verschiedenen Entstehungsphasen hindeuten, und ein Gewirr von nicht unbedingt harmonisierenden Stimmen – , seine kulturelle Wirksamkeit muss dadurch nicht beeinträchtigt werden. Im Gegenteil scheint ein bestimmter Grad an Polyphonie und Vieldeutigkeit das Stimmvolumen einer Erzählung gerade zu erweitern, ihre Suggestivkraft zu erhöhen.4

Entsprechend scheut die vorliegende Studie nicht davor zurück, Viel- und Unstimmigkeiten innerhalb des Narrativs und auch innerhalb einzelner Erzähltexte zu Tage treten zu lassen; diese werden keineswegs harmonisiert oder zum Schweigen gebracht, sondern sollen vielmehr erst zum Klingen gebracht werden. Da es zum Narrativ des Totalen Kinos in der Literatur bislang keine einschlägigen Forschungsarbeiten gibt, betritt die vorliegende Studie Neuland: ein Feld, das zwischen mehreren Disziplinen angesiedelt ist und breite Schnittflächen mit dem Forschungsbereich der Visuellen Kultur besitzt.5 Entsprechend dispers stellt sich die theoretische und methodologische Ausgangs-

Montage AV, 18,1 (2009), S. 4–10. Die vorliegende Studie will Bazin weder denunzieren noch verteidigen, sondern vielmehr zeigen, wo die Wurzeln des Narrativs des Totalen Kinos liegen, für das Bazin einen zentralen Beitrag geliefert hat. 3  Bazin war bereits „im Narrativ“, reflektiert dies aber kaum. Dieser Gedanke knüpft an Koschorkes Erzähltheorie an: „Wenn eine Maxime unter Kunsthistorikern heißt: ‚Der Betrachter ist im Bild‘, so könnte man im vorliegenden Fall analog formulieren: ‚Der Erzähler ist im Narrativ‘.“ Siehe Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 264. Mit dem Zitat bezieht Koschorke sich auf den Band von Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln: DuMont 1985. Koschorke hinterfragt die Selbstdiagnosen der Moderne und folgert, die Moderne müsse „sich ihrer phantasmatischen Verfasstheit nach so erzählen, und wer in modernen westlichen Gesellschaften lebt, hat einen Anteil an dem entsprechenden Narrativ“ (ebd., S. 264). Hieran lässt sich eine Reflexion darüber anschließen, dass (Literatur-)Wissenschaft ihrerseits ebenfalls Narrative hervorbringt, wodurch der vorliegenden Arbeit selbst eine autoreflexive Komponente eingeschrieben ist, vgl. dazu Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 329. 4  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 21. 5  Benthien und Weingart kommen für den gesamten Forschungsbereich der Visuellen Kultur zu einem ähnlichen Befund: Dieser zeichne sich „durch starke Interdisziplinarität“ aus. Siehe Benthien, Claudia / ​Weingart, Brigitte: Einleitung. In: Benthien, Claudia / ​

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basis dieser Arbeit dar, die im Folgenden dargelegt werden soll; zusammengehalten werden diese theoretischen Perspektiven durch den gemeinsamen Fluchtpunkt, die literarischen Präfigurationen des Totalen Kinos.6 Die Fragestellungen, die die Lektüren leiten, zielen auf eine Lücke in der Forschung, indem sich ihr Fokus auf eine Schnittstelle zwischen Filmtheorie, Filmgeschichte, Bild­theorie und Literaturwissenschaft richtet. Bislang bricht die literaturwissenschaftliche Erforschung von Pygmalionmythos und belebtem Bild meist an dem historischen Zeitpunkt ab, als die Bilder laufen lernten.7 So bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Literatur reagierte, als eine abbildende Kunst zu Tage trat, die zur höchsten Mimesis, jener von lebendiger Bewegung, imstande war.8 Das Reflexionspotenzial, das entsteht, wenn zwei MeWeingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 1–28, hier S. 7. 6  Den Begriff der Präfiguration beziehe ich von Blumenberg: „Das Phänomen der Präfiguration setzt voraus, daß die mythische Denkform als Disposition zu bestimmten Funktionsweisen noch oder wieder virulent ist“, denn „die Gegebenheit wird potenziell zur Präfiguration durch eben die Eigenschaft, die dem Mythos zugeschrieben werden muß, nämlich durch Bedeutsamkeit“. Siehe Blumenberg, Hans: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 9 und S. 14. So entwirft schon Bazin eine Präfiguration des Totalen Kinos im Mythos, wenn er auch den Terminus selbst nicht benutzt. Blumenberg betont außerdem den optischen Gehalt des Begriffs der Präfiguration, der für die vorliegende Studie ebenfalls wesentlich ist (ebd., S. 9). 7  Die Forschungsarbeiten zum Pygmalionmythos in der Literatur (vor allem zum 19. Jh.) sind vielfältig. Ausgewählte Werke, die eine motivgeschichtliche Ausgangs­basis für diese Arbeit lieferten, sind: Mayer, Mathias / ​Neumann, Gerhard (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Freiburg: Rombach 1997, sowie darin insbesondere die Beiträge von Barbara Vinken: Pygmalion à rebours, sowie von Oskar Bätschmann: Belebung durch Bewunderung; Frane, Susanne: Frauen aus Männerhand. Ein Paradigma in der englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Trier: WVT 2008; Rißler-Pipka, Nanette: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion. Beispiele intermedialer Vernetzung von Literatur, Malerei und Film. München: Wilhelm Fink 2005; Sharrock, Alison R.: Womanufacture. In: The Journal of Roman Studies, 81 (1991), S. 36–49; Hardie, Philip: Ovid’s Poetics of Illusion. Cambridge: Cambridge University Press 2002; Stoichita, Victor I.: Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock. München: Fink 2011; Kruse, Christiane: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums. München: Fink 2003. 8  An dieser Stelle setzt die Forschung zum Automatenmenschen ein, die aber häufig visuelle Aspekte dieser Reproduktionen vernachlässigt, siehe exemplarisch zu diesem Motiv die bereits zitierte lesenswerte Monographie von Mesa Gancedo: Extraños semejan­ tes; außerdem: Lindauer, Tanja: Reconstructing Eve. Automatenmenschen in Literatur und Film. Marburg: Tectum 2008; Tabbert, Thomas: Menschmaschinengötter. Künstliche Menschen in Literatur und Technik. Fallstudien einer Artifizialanthropologie. Hamburg: Artislife 2004; Wittig, Frank: Maschinenmenschen. Zur Geschichte eines literarischen

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dien sich gegenseitig beleuchten und befragen, ist im Hinblick auf Literatur und Film bislang zu großen Teilen vernachlässigt worden. Auf diese Forschungslücke weisen auch Claudia Benthien und Brigitte Weingart in ihrem Handbuch Literatur & Visuelle Kultur hin: Demnach „wurde das Verhältnis von Literatur und Film – der als audiovisuelles Medium seitens der Literatur auch dann häufig vornehmlich mit Visualität assoziiert wird, wenn es nicht um den Stummfilm geht – bislang vergleichsweise weniger intensiv untersucht“.9 Die medienhistorische Perspektive und der Blick auf Bazin dienen zunächst vor allem dazu, das Feld zu öffnen und einen Zugang zum Gegenstand dieser Studie, dem Narrativ des Totalen Kinos, zu legen. In den anschließenden Close Readings treten weitere theoretische Perspektiven hinzu; einerseits Filmtheorie und Filmphilosophie, die sich mit der Ontologie des Filmbildes, aber auch mit Medialität und Dispositiv beschäftigen. Andererseits knüpft diese Studie an Forschungen zur Visualität der Literatur an. Nicht zuletzt Motivs im Kontext von Philosophie, Naturwissenschaft und Technik. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997; Gendolla, Peter: Die lebenden Maschinen. Zur Geschichte der Maschinenmenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Villiers de l’Isle Adam. Marburg: Guttandin & Hoppe 1980. 9  Benthien / Weingart: Einleitung, S. 15. Dabei gibt es natürlich ­Forschungsarbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Literatur und Film beschäftigen (vgl. z. B. Paech, Joachim: Literatur und Film. Stuttgart: Metzler 1997). Grundsätzlich lässt sich die Forschung in diesem Bereich in drei Kategorien unterteilen, die für das hier vorliegende Thema alle wenig brauchbar erscheinen: Zum einen gibt es die Forschung, die sich mit den filmischen Adaptionen literarischer Werke auseinandersetzt (vgl. exemplarisch Murphet, Julian / Rainford, Lydia: Literature and Visual Technologies. Writing After Cinema. New York: Palgrave Macmillan 2003; Poppe, Sandra: Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007). Daneben existieren Anthologien und Sammelbände, die Äußerungen von Schriftstellern über das Kino in Essays und Feuilletons zusammentragen (vgl. Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. München: dtv 1978; Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914. Leipzig: Reclam 1992). Außerdem untersuchen Literaturwissenschaftler das Konzept des ‚Filmischen Schreibens‘, indem sie beispielsweise Zoom- oder Schnitttechniken in literarischen Werken nachzuweisen versuchen (vgl. Tschilschke, Christian: Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde. Tübingen: Gunter Narr 2000; Harris, Stefanie: ‚Kinematografie‘. Filmische Schreibweisen in der Literatur der Weimarer Republik. In: Benthien, Claudia / Weingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 445–461). Die Forschungslücke jenseits dieser drei Ansätze bemerkt auch Massimo Fusillo, vgl. Ders.: Introduction. In: Ercolino, Stefano / ​Fusillo, Massimo / ​Lino, Mirko / ​Zenobi, Luca (Hg.): Imaginary Films in Literature. Leiden: Brill 2015, S. XIII–XV.

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spielt bei der vorliegenden intermedialen Thematik auch die Frage nach dem autoreflexiven Gehalt der Texte eine Rolle; schließlich sprechen literarische Werke, die vom Kino erzählen, immer auch über sich selbst und über das Verhältnis der Medien zueinander.10 Im Folgenden sollen nun in vier kurzen Abschnitten die theoretischen Perspektiven und Begriffe, soweit sie für diese Studie einschlägig sind, umrissen werden. Am Ende folgt eine kurze Erläuterung zur Auswahl des Textkorpus. Zur Frage nach dem ontologischen Status des Films

Die zentrale Problematik, die im Kern des Narrativs vom Totalen Kino liegt, fasst Christian Metz wie folgt zusammen: Parmi tous ces problèmes de la théorie du film, un des plus importants est celui de l’impression de réalité qu’éprouve le spectateur devant le film. Plus que le roman, plus que la pièce de théâtre, plus que le tableau du peintre figuratif, le film nous donne le sentiment d’assister directement à un spectacle quasi réel.11

Aus Metz’ Beobachtung lässt sich eine Frage ableiten, die die hier zu untersuchenden Romane dem Kino stellen: jene nach dem ontologischen Status des Filmbildes und nach seinem epistemologischen Gehalt. Dem Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger zufolge erzeugt das Kino eine „Illusion der Realpräsenz des Dargestellten“ und damit eine „ontologische Ambivalenz der filmischen Darstellung: Das filmische Bild ist ein Zeichen für ein Abwesendes, das sich zugleich als eminent Anwesendes darstellt.“12

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Hansen-Löve unterscheidet „eine metaphorische Auffassung des Verhältnisses der Medien untereinander“, welche „eine vertikale Hierarchie der Seins- und Kunstformen“ voraussetze, von einem metonymischen Verhältnis, das jedem Medium „prinzipiell den gleichen Kultur- und Erkenntniswert zugesteht, nichtsdestoweniger aber die strukturellen und konstitutiven Unterschiede der Erkenntnisart, der Denkstrukturen und der konstruktiven bzw. semiotischen Prozesse […] reflektiert und thematisiert“. Siehe Hansen-Löve, Aage: Intermedialität und Intertextualtität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – am Beispiel der russischen Moderne. In: Mertens, Mathias: Forschungsüberblick „Intermedialität“. Kommentierungen und Bibliographie. Hannover: Revonnah 2000, S. 27–83, hier S. 32. In den folgenden Lektüren werden beide Auffassungen in unterschiedlichen Facetten zum Tragen kommen, da die Romane das Verhältnis zwischen Literatur und Film jeweils unterschiedlich konstruieren und narrativ inszenieren. 11  Metz: Essais sur la signification au cinéma. Tome I, S. 13f. 12  Hediger: Vom Überhandnehmen der Fiktion, S. 182. Den Begriff der „Realpräsenz“ verwende ich nicht beschränkt auf seine ursprünglich theologische Bedeutung, sondern

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Nimmt man dies zum Ausgangspunkt, zeigt sich, dass sich im Narrativ des Totalen Kinos auch eine unheimliche Angst manifestiert, nämlich jene platonische „Angst vor dem Indifferentwerden von Fiktion und Nicht-Fikt­ion […], vor der Verführungskraft des bloßen Scheins, vor der Fiktion als dem Vorhandenen, das nicht real ist und sich trotzdem als Welt geltend macht“.13 Mit anderen Worten: der Angst vor dem virtuellen Bild, die mitunter zu einer Angst vor dem Untoten wird.14 Um diesem lebendig erscheinenden Toten entgegenzutreten, sucht die Filmtheorie seit jeher nach möglichst eindeutigen Antworten auf die Frage, ob Film an sich fiktional ist, weil er etwas lebendig vor Augen stellt, was real nicht vorhanden ist;15 oder ob Film stets nichtfiktional ist, weil seine Indexikalität mit einer Art Wirklichkeitsübertragung einhergeht.16 in der von Hediger eingeführten übertragenen Bedeutung. Siehe zum theologischen Hintergrund des Begriffs etwa Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: Beck 2006, v. a. S. 89ff. Für den Begriff des Realpräsenz, wie er in dieser Studie Anwendung findet, lässt sich Ähnliches konstatieren, wie für den Begriff der Präsenz, wie ihn Susanne Knaller fasst: „Als Effekt ist Präsenz Inszenierung von verschiedenen Wahrnehmungscodes der Unmittelbarkeit (etwa Illusion und Immersion) und damit variabel in Modus- und Modellrelationen“. Siehe Knaller: Die Realität der Kunst, S. 68. 13  Hediger: Vom Überhandnehmen der Fiktion, S. 166. Diese Angst ist eine unheimliche im Sinne Freuds, der als Kern der Ästhetik des Unheimlichen ausmacht, dass darin etwas Heimliches und Vertrautes wiederkehrt; insofern ist das Abbild, das nicht vom Original zu unterscheiden ist, immer schon unheimlich. In seinem Text zum Unheimlichen zitiert Freud bekanntlich Hoffmanns Sandmann – ein Text, der als Intertext in den folgenden Lektüren wiederkehren wird. Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919). In: Ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV. Frankfurt: Fischer 1978, S. 241– 274, hier v. a. S. 250–254. Mit dem Hinweis auf den Doppelgänger als typischem unheimlichen Motiv benennt Freud außerdem einen zentralen Topos des frühen Kino-Diskurses, vgl. ebd., S. 257f. Dazu auch: Kittler: Optische Medien, S. 249. 14  Vgl. zum Begriff des Virtuellen die bereits in der Einleitung zitierte Definition von Peirce. Dort klang außerdem die buchstäbliche Lebensnähe von Film an, die umgekehrt zu einer ontologischen Angst vor dem lebendig scheinenden Toten führt. Vgl. dazu auch den Band von Geimer, Peter (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014. 15  Von einer notwendigen Fiktionalität des Films geht Metz’ poststrukturalistische Filmtheorie aus. Hediger erläutert Metz’ Grundannahme aus Signifiant imaginaire „chaque film est un film de fiction“ damit, dass „jedes Filmbild die Illusion der Realpräsenz des Dargestellten schafft und doch das vermeintlich real Präsente niemals faktisch vorhanden ist – weder im Raum der Wahrnehmung, also dem Kinosaal, noch auf der Leinwand oder auf dem Filmstreifen.“ Siehe Hediger: Vom Überhandnehmen der Fiktion, S. 175f. 16  Bazin spricht von einem „transfert de réalité de la chose sur sa reproduction“, siehe Bazin, André: Ontologie de l’image photographique. In: Ders.: Qu’est-ce que le Cinéma? Tome I: Ontologie et Langage. Paris: Éditions du Cerf 1958, S. 11–19, hier S. 16. Hediger

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Diese Frage bildet nicht nur einen wesentlichen und noch immer schwelenden Streitpunkt in der Filmwissenschaft,17 sie ist auch implizit Gegenstand der hier zu untersuchenden Texte. Mit den Mitteln (phantastischer) Narration bringen sie das Kino mit Tod, Krieg oder einer Schattenwelt in Verbindung, loten also narrativ seine Beziehung zum Untoten aus. Und versuchen doch, ähnlich wie Metz und Bazin, „das Spezifische des (fotografischen) Mediums Film mit einer ontologischen Aussage über Fiktionalität zu bestimmen“.18 Dass Literatur Aussagen über Film trifft, ist somit eine Grundannahme dieser Studie; dass solche Aussagen über das Konkurrenzmedium aber auch ‚befangen‘ und von einer Reflexion der eigenen Medialität durchsetzt sind, eine weitere. Beide Dimensionen gehören zum Narrativ des Totalen Kinos. Dieses überträgt den Diskurs der exzessiven Mimesis, der bisher das Trompe-l’Œil als Fluchtpunkt kannte,19 in die Kinematographie und verlagert „die metonymische Übertretung oder Durchstreichung des Abbildcharakters des Bildes“ auf den Film.20 Wie Bernhard Siegert darlegt, erzeugt jede „exzessive Perfektion der Mimesis“ ein „Durchscheinen des Realen“, das „den modernen Begriff der Repräsentation“ durchstreicht und durch eine unheimliche Realpräsenz ersetzt.21 So gilt für das Filmbild aus Sicht der Literatur Ähnliches wie für das Wachsbildnis, das seine „Wirksamkeit […] durch möglichste Le-

verwendet angesichts dessen den treffenden Begriff der „Transsubstantiation“, vgl. Hediger, Vinzenz: Das Wunder des Realismus. Transsubstantiation als medientheoretische Kategorie bei André Bazin. In: Montage AV, 18,1 (2009), S. 75–107; außerdem Ders.: Wirklichkeitsübertragung. Filmische Illusion als medienhistorische Zäsur bei André Bazin und Albert Michotte. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane: …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 205–230; sowie zur Indexikalität des Filmbildes: Gunning, Tom: Whats the Point of an Index. In: Nordicom Review, 25 (2004), S. 39–50. Schweinitz weist darauf hin, dass es Bazin epistemologisch nicht um eine „Konfusion des Unterschieds zwischen Realität und Fiktion“ gehe, sondern die Wirklichkeit für ihn „die zentrale Referenz“ bilde. Siehe Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 144. 17  Vgl. für einen gut strukturierten Einblick in die Konfliktlinien der Filmtheoriegeschichte: Elsaesser / ​Hagener: Filmtheorie. 18  Hediger: Vom Überhandnehmen der Fiktion, S. 177. Wobei hier auf das grundlegende Verständnis von „Fiktionalität“ hingewiesen sei, das Fiktion in die Nähe von Täuschung und Simulation rücken lässt, denn „Fiktion ist, was nicht real ist und doch vorhanden und deshalb in seinem ontologischen Status problematisch“ (ebd., S. 176). 19  Vgl. Marin, Louis: Représentation et simulacre. In: Ders: De la représentation. Paris: Seuil/Gallimard 1994, S. 309f. 20  Siegert: Die Leiche in der Wachsfigur, S. 125. Auf den metonymischen Charakter des Filmbildes geht insbesondere Kapitel 2.1 ein. 21  Ebd., S. 117 und 124.

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benstreue“22 entfaltet: In „l’accomplissement triomphal de la mimésis“ gibt das Bild vor, die Sache selbst zu sein.23 Das Bewegtbild bringt hier eine entscheidende graduelle Verschiebung, gehörten „Dynamisierung und Vivifizierung“ doch schon immer eng zur Reflexion künstlerischer Mimesis.24 Problematisiert wird die exzessive Mimesis des Filmbildes in den hier zu untersuchenden Romanen jeweils aus der Perspektive eines Betrachters, der zumeist männlich ist und einer reproduzierten Bildfrau gegenübersteht.25 Somit spielt die Untersuchung der spezifischen Rezeptionsästhetik für die Lektüre der Texte eine zentrale Rolle: Wie imaginieren die literarischen Werke die Wirkung des Films auf den Rezipienten und wie wird diese narrativ dargestellt? Wodurch wird jener illusionistische Realitätseindruck beim Rezipienten erzeugt, der das Kino zu einem Totalmedium werden lässt? Wie wird er, wenn überhaupt, gebrochen? Rezeptionsästhetik wird dabei mit Wolfgang Kemp als Dialog der „Werk-Betrachter-Beziehung“ verstanden,26 was die Subjektkonstitution zu einem Sujet des Werkes und das Blickverhältnis zwischen Bildfrau und Betrachter zum Kern der jeweiligen Narration des Romans macht.

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Von Schlosser, Julius: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 21 (Herv. i. O.). Da das Wachsbildnis von der Totenmaske abstammt, ist seine Lebenstreue besonders prekär, weil durch eine gleichzeitige Todesnähe erkauft. Hieraus erwächst eine Analogie zwischen Wachsbild und Filmbild. 23  Marin: Représentation et simulacre, S. 309. Folgt man Marins Ausführungen, zeigen sich deutliche Parallelen zwischen dem Narrativ des Totalen Kinos und dem Trompe-­ l’Œil, wenn auch dieses eher darauf angelegt ist, den Betrachter durch seine Lebensähnlichkeit und scheinbare Dreidimensionalität zu verblüffen („l’étonne“) statt zu täuschen (vgl. ebd., S. 309). 24  Sabine Haupt weist die Wurzeln dieses Zusammenhangs in der klassizistischen Ästhetik nach, siehe Haupt: Schöpfung, Magie, Kunst und Technik, S. 166. 25  Zum männlichen Film-Zuschauer siehe auch Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Nichols, Bill (Hg.): Movies and Methods. Vol II. An Anthology. Berkeley: University of California Press 1985, S. 303–315. Der Begriff der Bildfrau wird in dieser Studie verwendet, um auszudrücken, dass der Betrachter einem Bild gegenübersteht, das weiblich konnotiert ist, eine Frau nicht nur zeigt, sondern in ultimativer Konsequenz der Totalkinematographie womöglich sogar ist. 26  Siehe Kemp, Wolfgang: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. In: Ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln: DuMont 1985, S. 7–27, hier S. 23f. Kemp betont in seiner Einführung, dass die Rezeptionsästhetik aus der Literaturwissenschaft in die Kunstwissenschaft zurückkomme und dort einen Paradigmenwechsel auslöse. Er zitiert deshalb literaturwissenschaftliche Betrachtungen der Werk-Leser-Beziehung als Vorbild und Inspirationsquelle für seine Methode, vgl. ebd., S. 8 und 21.

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Dabei spielt auch eine Rolle, dass sich die literarischen Texte selbst im Modus des Als-ob bewegen, ist doch „das Grundmerkmal der Erzählung als poetischer Gattung […] das Sprechen im Modus des als ob: ‚Irgend etwas erzählen, scheint mir, heißt es so zu erzählen, als ob es geschehen sei‘.“27 Damit sind literarische Narrationen von derselben ontologischen Unsicherheit bedroht, die sie dem Kino unterstellen. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konkurrenzmedium scheint eine solche Nähe allerdings problematisch, unterstreicht sie doch die – durchaus zahlreichen – Ähnlichkeiten zwischen Literatur und Film. Eine Strategie, sich vom filmischen Medium abzugrenzen, besteht für die zu untersuchenden Romane darin, im Zusammenhang der Totalkinematographie die visuelle Seite des Kinos zu betonen und im Gegenzug narrative Strukturen sowie die spezifische Rhetorik des Kinos zu ignorieren. So fällt auf, dass die meisten der in dieser Studie versammelten Romane die Kinematographie als eine Art visuelle Phonographie, eine Lichtschrift fürs Auge imaginieren, also die Möglichkeiten der Montage weitgehend ausblenden. Da hierin ein durchaus bewusstes ‚Missverstehen‘ und mitunter auch eine Denunziation der Filmkunst zu erkennen ist, knüpft das Narrativ des Totalen Kinos sowohl in bestimmten Topoi als auch auf struktureller Ebene an den Idolatrie/Ikonoklasmus-Diskurs28 sowie an Mythen wie jene von Pygmalion, Narziss und Medusa an.29 Literatur verhält sich nicht neutral dem Kino gegenüber, vielmehr wird „dem täuschenden Bild […] das Moment der

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Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 65. Er bezieht sich dabei auf Paul Ricœur, vgl.: Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band III. München: Fink 2007, S. 306. 28  Für diesen Bezugsrahmen sind besonders relevant: Latour, Bruno: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve 2002; Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago: University of Chicago Press 1991; Mondzain, Marie-José: Können Bilder töten? Zürich-Berlin: diaphanes 2006; sowie der bereits zitierte Aufsatz von Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. 29  Insbesondere der Pygmalionmythos stellt einen wichtigen verbindenden Intertext zwischen der Auseinandersetzung der Literatur mit traditionellen Bildkünsten und jener mit der Kinematographie dar, vgl. Koch, Gertrud: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur, S. 433. Im Übrigen ist auch Koch sich der Problematik bewusst, die es bedeutet, Filmtheorie mit der mythischen Erzählung zu verknüpfen; sie kommt aber zu einer konstruktiven Auflösung, der sich auch die vorliegende Studie anschließen möchte: „Natürlich ist es kein unproblematisches Vorgehen, neuere Theorien auf dem Hintergrund mythischer Erzählungen zu deuten. Allerdings bietet ein solcher Darstellungsmodus dafür auch Vorteile, denn im Lichte der mythischen Erzählung werden die Fragen wieder wach, für die der Mythos einmal sich als Antwort entwarf.“ (Ebd., S. 438)

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Täuschung“ eingetragen.30 Tatsächlich wird diese Täuschung mehr heraufbeschworen als beobachtet, wenn man bedenkt, dass das Filmbild zu der Zeit, als die meisten hier versammelten Romane geschrieben wurden, noch kleinformatig, stumm, schwarz-weiß und unscharf war – also weit entfernt davon, dem Totalen Kino nahezukommen. Indem sie das Kino als Medium ihrer eigenen Phantasmen imaginieren, stellen die Texte Film als bloßen Schauwert aus: Das Totale Kino, wie es die Literatur schreibt, ist kein narratives Medium, es fesselt den Betrachter durch die Art und Weise der Darstellung, seinen Realitätseffekt.31 Darin ähnelt es jenem „Cinema of Attractions“, das der Filmwissenschaftler Tom Gunning am Anfang der Kinogeschichte ausmacht.32 Dieses verleiht der Projektion „mehr kinematische als semantische Färbung“.33 Aus Sicht der Literatur ist diese Reduktion des Kinos auf eine Attraktion, die den Zuschauer mit ganz anderem ästhetischen Anspruch unterhält als der Roman, nachvollziehbar, schafft sie doch erhebliche Distanz zwischen sich und ihrem Konkurrenzmedium, indem sie dem Kino nicht nur jeglichen narrativen Anspruch, sondern auch den Charakter eines Kunstwerks abspricht.34

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Vinken, Barbara: Effekte des Realen. Bildmedien und Literatur im Realismus. In: Benthien, Claudia / ​Weingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 393–407, hier S. 397. 31  Dieser Realitätseffekt des Totalen Kinos hat wenig mit Barthes’ effet de réel gemein, schließlich geht es den literarischen Präfigurationen des Totalen Kinos darum, die illusio­ nistische Simulation beglaubigen zu lassen und zwar nicht durch ein sinnlos gewordenes Detail, sondern vielmehr nach dem Vorbild des Pygmalionmythos: als Inszenierung des blutdurchpulsten Inkarnats. Vgl. zur Abgrenzung: Barthes, Roland: L’Effet de réel. In: Communications, 11 (1968), S. 84–89. Siehe zu Bazins Realismus-Verständnis auch Elsaesser / ​Hagener: Filmtheorie zur Einführung, hier v. a. S. 41f. Demnach vertritt Bazin „einen phänomenalen Realismus, der sich aus der Tatsache speist, dass der Film strukturell unserer Wahrnehmung verwandt ist, somit ideal dazu geeignet erscheint, alltägliche Apperzeptionen und Erfahrungen auszudrücken“. 32  Vgl. Gunning, Tom: The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avantgarde. In: Wide Angle 8, 3–4 (1986), S. 63–70. Gunning erinnert in diesem Zusammenhang auch an die Verwandtschaft des frühen Kinos mit den Automaten, die für Show­effekte von Bewegung und Dreidimensionalität genutzt wurden; diese Verwandtschaft sei aus dem Bewusstsein geraten, vgl. Gunning, Tom: Re-Animation. Lebende Bilder oder ein einbalsamiertes Bild vom Tod? In: Geimer, Peter: UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 182–204, hier S. 196. 33  Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 217. 34  Gleichzeitig spielt Bazins Begriff vom Cinéma total auf den Begriff des Gesamtkunstwerks an, franz.: „Œuvre d’art totale“. Schließlich besitzt das imaginierte Totale Kino

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Die Totalität des Kinos betrifft zwar potenziell alle Sinne – das Totale Kino ist nicht nur sicht- und hörbar, sondern auch tast-, riech- und schmeckbar – doch sie geht vom Visuellen aus. Christian Godin betont, dass „la totalisation au cinéma n’affecte pas seulement en effet les différents moyens mis à sa disposition, mais aussi, et d’abord, le contenu même de ses images“.35 Insofern schließt die vorliegende Studie an das Forschungsfeld der Visualität der Literatur an; wobei jener Aspekt literarischer Visualität, der im Fokus dieser Studie liegt, am besten als ‚erzählte visuelle Wahrnehmung‘ zu beschreiben ist. Indem die Texte ein Wahrnehmungsfeld zwischen Betrachter, Betrachtetem und ihrer eigenen Reflexionsinstanz aufspannen, führen sie vor Augen, dass die narrative Literatur sich „als Reflexionsmedium von Visualität“ besonders gut eignet, auch dann wenn es um filmische Wahrnehmung geht.36 Schließlich tendiert Friedmar Apel zufolge „die Darstellung ausgedehnter Seherlebwie das zeitgleich aufkommende Konzept des Gesamtkunstwerks, „die Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“, vgl. Marquard, Odo: Gesamtkunstwerk und Identitätssystem. Überlegungen im Anschluss an Hegels Schellingkritik. In: Szeemann Harald: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Frankfurt: Sauerländer Verlag 1983, S. 40–49, hier S. 40. Seinen utopischen, auf die Zukunft gerichteten Charakter teilt das Totale Kino ebenfalls mit dem Gesamtkunstwerk, vgl. Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Verlag Otto Wigand 1850. Kracauer erkennt die Analogie: „Aus dem Kino ist ein glänzendes, revueartiges Gebilde herausgekrochen: das Gesamtkunstwerk der Effekte. Es entlädt sich vor sämtlichen Sinnen mit sämtlichen Mitteln. […] Jede Empfindung erhält ihren klanglichen Ausdruck, ihren Farbwert im Spektrum. Ein optisches und akustisches Kaleidoskop, zu dem das körperhaft szenische Spiel sich gesellt“. Siehe Kracauer, Siegfried: Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt: Suhrkamp 1963, S. 311–317, hier S. 312 (Herv. i. O.). Insbesondere durch diese Nähe zwischen Kinematographie und Gesamtkunstwerk sahen sich wohl zahlreiche Literaten motiviert, dem Film seinen Status als Kunstwerk abzusprechen, vgl. Kaes: Kino-Debatte. Dabei kommt Anke Finger zu dem Schluss, dass die Unterschiede zwischen dem deutlich breiter gefassten Konzept des Gesamtkunstwerks und dem Kino insgesamt überwiegen, weshalb diese Kontextualisierung hiermit zwar vorgenommen, im weiteren Verlauf der Arbeit aber keine zentrale Rolle spielen wird. Vgl. Finger, Anke: Das Gesamtkunstwerk der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 35  Godin: La Totalité, Band IV, S. 523. 36  Vgl. dazu auch den Aufsatz von Köhnen, Ralph: Literatur als Reflexionsmedium von Visualität. Mediologische Perspektiven auf das Panorama. In: Benthien, Claudia / ​ Weingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 375–392. Ähnlich wie dieser Beitrag hat der gesamte Sammelband das Ziel, „Literatur als Teil der visuellen Kultur in den Blick zu rücken – oder wie man in Anbetracht ihrer

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nisse im Hinblick auf bewegliche Objekte […] in der Regel zur Form der Erzählung“,37 was impliziert, dass Film ein Stimulus für literarisches Erzählen ist. Obwohl diese Studie nicht die These vertritt, dass literarische Werke herausgefordert durch das Kino plötzlich generell ‚visueller‘ oder ‚filmischer‘ geschrieben wurden – dieses Reaktionsschema wirkt allzu eindimensional –, weisen die zu untersuchenden Werke doch eine starke Betonung von Passagen und Aspekten der Visualität auf, wobei grundsätzlich davon auszugehen ist, dass „jedes bestimmt dargestellte Seherlebnis etwas über die jeweilige Form der menschlichen Welterfahrung“ aussagt.38 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich somit auf eine „narrative practice at the intersection between literature, imagery and visual culture. Imaginary films […] confirm, in a brilliant and effective way, that fiction, description, invention and reality are always interrelated.“39 Angesichts der verlockenden Fokussierung auf sogenanntes ‚Filmisches‘ Schreiben sei daran erinnert, dass „cinematic techniques have always been extremely present in literature, even before the birth of cinema“.40 Es kann deshalb in dieser Studie nicht darum gehen, eine bestimmte Erzählerperspektive, wie beispielsweise Barbara Wyllie es tut, als „cinematic“ zu beschreiben.41 Stattdessen steht hinter der Frage, wie literarische Werke das Totale Kino imaginieren, die Annahme, dass es, anders als das Konzept vom ‚Filmischen

tendenziellen Marginalisierung innerhalb der aktuellen Forschungsdiskussion formulieren darf: ins Recht zu setzen“, siehe dazu die Einleitung der Herausgeberinnen, aaO., S. 9. 37  Apel, Friedmar: Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur. München: Hanser 2010, S. 19. 38  Ebd., S. 44. 39  Fusillo, Massimo: Introduction. In: Ercolino, Stefano / ​Fusillo, Massimo / ​Lino, Mirko / ​Zenobi, Luca (Hg.): Imaginary Films in Literature. Leiden: Brill 2015, S. XIII–XV, hier S. XV. 40  Ebd., S. XIII. Vom Konzept des sogenannten ‚Filmischen Schreibens‘ möchte diese Studie bewusst Abstand nehmen, da es nur wenige Anhaltspunkte dafür gibt, woran dieses festzumachen wäre. Tschilschke führt die Schwierigkeiten dieses Ansatzes selbst vor, indem er schreibt: „Diese Hinweise zur systematischen und historischen Erfassung von Bewegung und Visualität in der Literatur sollten beispielhaft vor Augen führen, daß die Darstellung dessen, was den Film als Medium auszeichnet, schon seit jeher Ziel literarischen Ehrgeizes war“. Siehe Tschilschke: Roman und Film, S. 79. Bereits Eisenstein weist darauf hin, dass etwa die Montage ein literarisches Verfahren sei, das der Film von dort übernommen habe, vgl. Eisenstein, Sergei: Dickens, Griffith und wir. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Zürich: Verlag der Arche 1965, S. 60–136. 41  Wyllie, Barbara: Nabokov at the Movies. Film Perspectives in Fiction. Jefferson: McFarland 2003.

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Schreiben‘ suggeriert, nicht nur eine Art filmischen Erzählens gibt; vielmehr entwickelt jeder Text, der vom Kino handelt, seine eigene Imagination der Kinematographie, ihrer Potenziale und ihres Verhältnisses zur Realität und dafür mitunter auch seine eigene Erzählweise: „Invented movies can reveal a great deal about the struggle between the verbal and the visual, allowing us to investigate in greater depth issues concerning poetics and language, as well as the limits of representation.“42 Da es also in der vorliegenden Studie um spezifische Aspekte literarischer Visualität geht, kann sie zumindest punktuell an die inzwischen umfangreiche Forschung in diesem Bereich anschließen, die Verknüpfungen von Literatur-, Bild- und Kulturwissenschaft produktiv macht.43 Der Einbezug filmwissenschaftlicher und medienhistorischer Perspektiven sprengt indes keineswegs den Rahmen, sondern ergänzt das Spektrum der Perspektiven vielmehr an der entscheidenden Stelle: So betonen die Herausgeberinnen des Bandes Bilder, Texte, Bewegungen den „Bewegungsaspekt […] als transmediales Übergangsmoment oder als Aktionspotential, das verschiedenen Bildphänomenen inhärent ist oder diese umgibt“.44 Trotzdem betrachten die Bildwissenschaften, die Aspekte der Bewegtheit von und durch Bilder beziehungsweise ihre agency betonen, das Kino bislang kaum, obwohl dieses tatsächlich Bilder bewegt und mit einer ganz neuen Form von agency ausstattet.45 Die vorliegende Arbeit bringt bildtheoretische Ansätze nun im Bezug auf das Narrativ des Tota-

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Fusillo: Introduction, S. XIV. Die Frage, wie Literatur belebte bzw. lebendig scheinende Bilder imaginiert und schreibt, hat sich als Ausgangspunkt der Recherche für die vorliegende Studie zumindest indirekt aus meiner Masterarbeit aus dem Jahr 2012 entwickelt, deren Titel lautete Medusa-Effekt. Tödliche Frauenbilder in Literatur und Film. 44  So heißt es im nicht unterzeichneten Vorwort des Bandes von Callsen, Berit / ​Hettmann, Sandra / ​Melgar Pernías, Yolanda (Hg.): Bilder, Texte, Bewegungen. Interdisziplinäre Perspektiven auf Visualität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 10. 45  Siehe zu Aspekten der agency des Bildes insbesondere: Mitchell, W.J.T.: What Do Pictures Want? In: Ders.: The Lives and Loves of Images. Chicago: University of Chicago Press 2005; Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Berlin: Suhrkamp 2010; Schwarte, Ludger (Hg.): Bild-Performanz. München: Fink 2011; Marin, Louis: Von den Mächten des Bildes. Zürich: diaphanes 2007; Bryson, Norman / ​Holly, Michael Ann / ​Moxey, Keith (Hg.): Visual Culture. Images and Interpretations. Hanover: University Press of New England 1994; die elegante Verkehrung dieser Fixierung auf ‚belebte‘ Bilder betrieb David Getsy bei seinem Vortrag am 33. Internationalen Kunsthistoriker-Kongress CIHA 2012, den er unter dem Titel „Acts of Stillness: Statues, Performativity, and Control“ hielt. Der Vortrag ist online abrufbar: https://www.academia.edu/6905328/ Acts_of_Stillness_Statues_Performativity_and_Passive_Resistance. 43 

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len Kinos jeweils dort in Stellung, wo dies ausgehend vom jeweiligen Text geboten erscheint, wobei sie in ihren Close Readings Susan Harrows Anspruch eines „reading visually“46 folgt. Insofern beschreibt die Auseinandersetzung mit literarischer Visualität nicht nur ein Forschungsfeld, an das diese Studie anknüpft, sondern auch die Herangehensweise an die Texte, die vom Gegenstand selbst motiviert ist. Zur Frage nach Dispositiv und Apparat

Zur Darstellung gelangt das Totale Kino in den Romanen über Medien, deren Dispositiv-Charakter im Vordergrund steht. Damit gerät neben der Rezeptions- auch die Produktionsseite in den Blick. Die hier zu untersuchenden Texte lagern den Realitätseffekt an mitunter phantastische Apparate aus, die für das Erscheinen der totalkinematographischen Ästhetik verantwortlich gemacht werden, ohne dass ihre Funktionsweise genau erläutert wird. So entwickeln die Romane „eine, die eigene Medialität problematisierende, die Standard-Fiktion und deren Parameter überdehnende oder verkehrende Poetik der Annäherung an das Nichtdarstellbare.“47 Technische Medien erweisen sich aus Sicht des Rezipienten als Apparate „zur strategischen Überrollung seiner Sinne“.48 Wobei das Dispositiv „die Illusion erzeugt, und nicht die mehr oder weniger genaue Nachahmung des Realen“, wie Jean-Louis Baudry konstatiert.49 Paech gelingt es überzeugend nachzuweisen, dass Baudrys und Bazins Theorien in diesem Punkt konver-

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Vgl. Harrow, Susan: Introduction. In: Dies. (Hg.): The Art of the Text. Visuality in Nineteenth- and Twentieth-Century Literary and Other Media. Cardiff: University of Wales Press 2013, S. 1–14, hier S. 4, Herv. i. O. 47  Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 117 und 296. 48  Kittler: Optische Medien, S. 31. 49  Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Pias, Claus / ​Vogl, Joseph / ​Engell, Lorenz et.al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2004, S. 381–404, hier S. 389 (zuerst erschienen in: Communications, 23 (1975). Verstanden wird das Dispositiv in der vorliegenden Studie als „die räumlich-technische Anordnung der Apparate und ihre Auswirkung auf die filmische Wahrnehmung“, der, wie Knut Hickethier betont, „unabhängig von den je konkreten medial vermittelten Inhalten […] ‚ideologische Effekte‘ eigen [sind], die auf Realitätseindruck, Erlebnisqualität und Teilhabe-Suggestion abzielen und so die filmische Wahrnehmung wesentlich bestimmen“, siehe Hickethier, Knut: Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: Montage AV, 4,1 (1995), S. 63–83, hier S. 63.

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gieren, obwohl Baudry Bazins Ansatz zunächst als metaphysisch verurteilt hatte.50 Aus dieser Perspektive gehört der Dispositiv-Begriff eng zum Narrativ des Totalen Kinos, weil er „das (ideologische) Verkennen, das im apparativ vermittelten Wiedererkennen des Realen (im Realitätseindruck) unvermeidlich ist,“ theoretisch zu fassen und topographisch zu beschreiben versucht.51 Baudry definiert den Begriff ausgehend von Platons Höhlengleichnis: Das Dispositiv ist demnach „eine metaphorische Beziehung zwischen Orten, oder […] eine Beziehung zwischen metaphorischen Orten, […] eine Topik, deren Kenntnis […] einen Bezug zur Wahrheit oder zum Trug festlegt, oder auch zur Illusion“.52 Der Überkreuzungspunkt zwischen Baudrys Dispositiv-Begriff und dem Narrativ des Totalen Kinos liegt also im Realitätseindruck, der für beide Diskurse zentral ist: „Platons Gefangener ist das Opfer einer Realitäts-Illusion, d.h. genau dessen, was man im Wachzustand als Halluzination und im Schlaf als Traum bezeichnet; er ist das Opfer des Eindrucks, eines Realitätseindrucks.“53 Zum Dispositiv, das diesen Eindruck hervorbringt, gehören Aspekte, die auch in den folgenden Lektüren wiederkehren werden: die Dunkelheit, in der die Projektionen erscheinen; die Bewegungslosigkeit der Betrachter;54 und

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Vgl. Paech, Joachim: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik. In: Medienwissenschaft, 4 (1997), S. 400–420, hier S. 405. Paech schreibt hier über Baudry und Bazin: „Im Dispositiv der ‚Traumhöhle‘ Kino dagegen sitzen beide offensichtlich einträchtig zusammen, und zu ihnen hat sich inzwischen auch mit kritischer Distanz Christian Metz gesellt (dieses Kino ist von Theoretikern aller Art gut besucht).“ (Ebd., S. 405) 51  Ebd., S. 401. 52  Baudry: Das Dispositiv, S. 382. 53  Ebd., S. 385 (Herv. i. O.). Baudry spezifiziert dies später noch: „Im Traum und in der Halluzination geben sich die Vorstellungen unter Abwesenheit der Wahrnehmung als Realität aus; im Kino werden die Bilder zwar als Realität ausgegeben, aber vermittels der Wahrnehmung. Eben deshalb faßt man das Kino einerseits – auf der Seite der Realisten – als Verdoppelung der Realität auf und analysiert den Realitätseindruck mit Hilfe dieses Schemas; andererseits macht man aus dem Kino ein Äquivalent des Traums – bleibt dann aber dabei stehen, indem man das durch den Realitätseindruck gestellte Problem in der Schwebe läßt.“ (Ebd., S. 402) Aus diesem Zitat wird außerdem ersichtlich, warum diese Studie den Titel Der Traum vom Totalen Kino trägt: Damit soll ebenjener Ambivalenz in der Vorstellung von Kino Rechnung getragen werden, die sich auch in den zu untersuchenden Romanen wiederfindet. Das Verhältnis zwischen Traum, Kino und belebtem Bild reflektiert außerdem Jean Cocteaus surrealistischer Film Le Sang d’un Poète (1930), in dem ein Künstler von einer mittels Filmtrick belebten Statue bis in seine Träume hinein verfolgt wird. 54  In dieser Stillstellung des Rezipienten kreuzt die Dispositivtheorie den Medusa­ mythos, der später in den Lektüren auch eine Rolle spielen wird. Vgl. Ovid: Metamor­ phosen, S. 157.

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schließlich die Unmöglichkeit der „Realitätsprüfung“.55 Paech betont als ein weiteres Element „das Verschwinden aller Momente (Strukturen) von ‚Differenz‘ zwischen Repräsentation und Rezeption. Dazu gehören die Verbannung aller Spuren von (technisch-apparativer) Arbeit aus der Repräsentation“.56 Dieses Transparentwerden des Mediums wird in der vorliegenden Studie immer wieder gegengeschnitten mit der Tatsache, dass das Kino hier selbst Teil einer literarischen Repräsentation ist. Insofern spielen Transparenz und Opazität beider Medien in den Lektüren eine zentrale Rolle.57 Der Dispositiv-Begriff ist für die Textanalysen auch deshalb relevant, weil der literarische Text selbst ein Dispositiv ist,58 das in diesem Fall das KinoDis­positiv in Abgrenzung zu sich selbst hervorbringt: „[T]he dispositive remains to be constructed as a notion, as an epistemic schema de-centered from its reality as an object“.59 Die Romane entwerfen das, was Albera und Tortajada als „key notions“ des Dispositivs bezeichnen,60 und haben dabei nicht nur die ideologischen Effekte des Kino-Dispositivs im Blick, sondern auch seine Schwachstellen. Die Vorstellung, dass im Kino das Medium transparent wird und die virtuelle Realität damit nicht mehr von der physischen unterscheidbar ist, ist eine solche key notion, die sich im Narrativ des Totalen Kinos kristallisiert und auch in der von Baudry begründeten Apparatus-Theorie aufscheint.61 Die folgenden Lektüren erweisen sich damit zu einem gewissen Grad

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Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 386f. Mit Bezug auf Platons Gefangene in der Höhle schreibt Baudry: „Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten“. (Ebd., S. 387, Herv. i. O.) Freud bezeichnet die „Realitätsprüfung“ als „eine Frage der materiellen Realität“, über die sich das Unheimliche auch in literarischen Werken manifestieren kann. Siehe Freud: Das Unheimliche, S. 270 und 273. 56  Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 401. 57  Mit dem Begriff des Mediums rücken unmittelbar „performative und materielle Aspekte in den Vordergrund“, da Medien im Prozess der Signifikation nicht aufgehen. Siehe dazu: Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 25. Hierzu auch: Mersch, Dieter (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens. München 2003. 58  Vgl. Albera, François / ​Tortajada, Maria: The Dispositive Does Not Exist! In: Albera, François / ​Tortajada, Maria: Cine-Dispositives. Essays in Epistemology Across Media. Amsterdam: University Press 2015, S. 21–44, hier S. 25. 59  Ebd., S. 32. 60  Vgl. ebd., S. 34. 61  Wobei an dieser Stelle an den Unterschied zwischen Ununterscheidbarkeit und Ununterschiedenheit erinnert sei: Die untersuchten Texte legen meist nicht die Vermutung nahe, dass die Differenz zwischen physischer und virtueller Realität tatsächlich verschwin-

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als Re-Lektüren von Platons Höhlengleichnis und erhalten dadurch auch eine ideologiekritische Dimension, die insbesondere in den Lektüren von Vernes Château des Carpathes, Mynonas Graue Magie und Huxleys Brave New World zum Tragen kommt.62 Mit der Anordnung der Apparaturen und ihrem räumlichen Verhältnis zum Betrachter gerät die in den Romanen entworfene Topographie in den Blick,63 die mitunter als Metaphorisierung des Dispositivs sowie des bereits angesprochenen Konzepts der ästhetischen Grenze fungiert.64 Allerdings ist das Dispositiv nicht nur im Hinblick auf die literarischen Visionen des Totalen Kinos relevant; vielmehr ist es im Sinne der rhetorischen dispositio auch „der Ort der Theorie, des Metadiskurses oder auch des ‚Modells‘ oder der Wissenschaft“.65 So betreibt die Literatur im Narrativ des Totalen Kinos selbst dispositive Kino-Theorie in dem Sinne, den Paech erläutert: „Die ‚dispositive Theorie des Cinema‘ ist […] ihrerseits Effekt der Probleme des Cinema, den Realitätseindruck herstellen zu können, den als eine persuasive Intention zu behaupten, bereits Ausdruck des konstatierten Mißlingens ist“.66 Durch den Dispositivbegriff geraten die Defizite des Filmbildes ebenso in den Blick wie das Phantasma des Kinos, in dem das belebte zum untoten Bild wird und das Totale Kino zur Phantasmagorie, einer Versammlung mit

det; vielmehr steht aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive die Ununterscheidbarkeit zur Debatte. Auf diesen Unterschied geht auch Dieter Mersch in einem Aufsatz zum Turing-Test ein, in dem er die Unschärfe zwischen den beiden Fragestellungen als „blinden Fleck“ jenes Tests beschreibt, den Alan Turing 1950 entwickelte, um die (Un)Entscheidbarkeit der Frage, ob Maschinen denken können, zu testen. Vgl. Mersch, Dieter: Turing-Test oder das ‚Fleisch‘ der Maschine. In: Engell, Lorenz: Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie. München: Fink 2013, S. 7–27. 62  Vgl. Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band II (übers. v. Friedrich Schleiermacher). Reinbek: Rowohlt 1994, S. 195–537, hier S. 420ff. 63  Vgl. Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 411. Wobei diese Topographie in Paechs Lesart als dynamisch zu begreifen ist. In die vielschichtigen Debatten der Apparatus-Theorie und ihrer Kritik kann an dieser Stelle nicht tiefer eingestiegen werden, da dies sowohl den Rahmen sprengen, als auch am Thema vorbeiführen würde. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass auch Metz, der zu Baudrys Kritikern gehört, auf die topographische Dimension des Dispositivs hinweist, vgl. Metz, Christian: Le signifiant imaginaire. Psychoanalyse et cinéma. Paris 1977, S. 70. 64  Zum Begriff der ästhetischen Grenze siehe die Einleitung sowie die dort zitierten Studien von Michalski: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte; Simmel: Der Bilderrahmen; und Chihaia: Der Golem-Effekt. 65  Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 409. 66  Ebd., S. 410.

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Gespenstern.67 Wenn „the images abandoned the wall and entered, as quasi-animate beings, the same space as the spectators“,68 vollzieht sich die entscheidende Grenzüberschreitung: „[O]ne forgets the image as an image“.69 Bild und Betrachter finden sich im Totalen Kino ebenso wie im phantasmagorischen Dispositiv auf der gleichen diegetischen Ebene wieder, „in a common space and time“.70 Zur Frage nach der Autoreflexivität des Literarischen

Narratologisch lässt sich das Kippen in das, was Elcott als Phantasmagorie bezeichnet, als eine spezifische Form der narrativen Metalepse beschreiben.71 67 

Elcott formuliert eine überzeugende Theorie des phantasmagorischen Dispositivs, vgl. Elcott, Noam M.: The Phantasmagoric Dispositif. An Assembly of Bodies and Images in Real Time and Space. In: Grey Room, 62 (2016), S. 42–71. Als zentrale Forschungsarbeit zur Phantasmagorie siehe: Milner, Max: La Fantasmagorie. Essai sur l’optique fantastique. Paris: Presses Universitaires de France 1982. Außerdem: Elsaesser, Thomas: Between Knowing and Believing. The Cinematic Dispositive after Cinema. In: Albera, François / ​Tortajada, Maria: Cine-Dispositives. Essays in Epistemology Across Media. Amsterdam: University Press 2015, S. 45–72. Koch betont einen gender-Aspekt, der im Zusammenhang mit der Phantasmagorie zum Tragen kommt, da hier der Apparat von der Projektion getrennt wird, ebenso wie „die Zeugung vom Geburtsakt soweit wie möglich getrennt werden [muss], um den männlichen Anteil an der Reproduktion entsprechend zu erhöhen. Die Frauen werden zu unbeseelten Wesen, die selbst vom Manne abstammen, entweder aus Adams Rippe geschnitzt werden oder aus einer Elfenbeinstatue entstehen.“ Siehe Koch, Gertrud: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur, S. 439. 68  Elcott: The Phantasmagoric Dispositif, S. 44. 69  Ebd., S. 45. Elcott zufolge verwirklicht sich hierin auch die „Pygmalion fantasy“. 70  Ebd., S. 55. 71  Der Begriff der Metalepse wird in dieser Studie spezifisch für Bewegungen der Infiltration und Immersion verwendet, die Überschreitungen der ästhetischen Grenze zwischen physischer und virtueller Realität – in beide Richtungen – beschreiben; damit nähert sich diese bewusst eingeschränkte Verwendung des Begriffs derjenigen von Chihaia an, der die Metalepse als „Effekt medialer Unschlüssigkeit“ bezeichnet und sie mit Immersion und Infiltration in Bezug setzt. Siehe Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 126; dort zur narrativen Metalepse außerdem S. 331ff. Siehe zu diesem Verständnis der Metalepse auch: Schaeffer, Jean-Marie: Métalepse et immersion fictionnelle. In: Pier, John / ​Schaef­ fer, Jean-Marie: Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris: Éditions de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales 2005, S. 323–334, sowie in dem gleichen Band auch die Beiträge von Pier, John: Métalepses et hiérarchies narratives, S. 247–261 und Schlickers, Sabine: Inversions, transgressions, paradoxes et bizarreries. La métalepse dans les littératures espagnole et française, S. 151–166; sowie zudem Ryan, Marie-Laure: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: John Hopkins University Press 2001.

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John Pier legt eine Definition dieser rhetorischen Figur vor, die für die vorliegende Studie eine Grundlage bildet: „Metalepsis occurs (a) between the extradiegetic and the intradiegetic levels or (b) between the intradiegetic and one or more hypodiegetic (metadiegetic) levels“.72 Letztere Form (b) beschreibt er außerdem als „punctual short circuits between intradiegetic ‚reality‘ and ‚fiction‘“ und weist darauf hin, dass sie „can take place either bottom-up or topdown“.73 Als verwandte Konzepte führt Pier das Trompe-l’Œil an sowie die Mise en abyme, die allerdings eher eine Reflexion statt einer Transgression der diegetischen Ebenen impliziere.74 Sonja Klimek verzeichnet zwei ganz ähnliche Kriterien für narrative Metalepsen, die in den vorliegenden Texten jeweils erfüllt sind: there must be a sort of ‚mise en abyme‘, a nested structure, for example a novel within a novel, a picture within a film, a play within a television series, or any other representation of a fictive world within an artefact […]. the hierarchical levels of representation and of what is being represented must be mixed up in a paradoxical way.75

Die beiden Ebenen, zwischen denen der Mix-up stattfindet, werden in dieser Studie als Diegese (die eigentliche Handlung, also jene Welt, die innerhalb des Romans als ‚real‘ gilt) und Hypodiegese (die totalkinematographische Simulation innerhalb der diegetischen Realität) bezeichnet.76 Die Bewegungen zwi-

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Pier, John: Metalepsis. In: Hühn, Peter / ​Pier, John / ​Schmid, Wolf / ​Schönert, Jörg (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin: De Gruyter 2009, S. 190–203, hier S. 198. 73 Ebd. 74  Vgl. ebd., S. 199. 75  Klimek, Sonja: Metalepsis in Fantasy Fiction. In: Kukkonen, Karin / ​Klimek, Sonja (Hg.): Metalepsis in popular culture. Berlin: Gruyter 2011, S. 22–40, hier S. 24. In Abwandlung von Klimeks Definition kann man bei der Konstellation aus imaginiertem Film in einem Roman und der entsprechenden Überschreitung der Grenze zwischen diesen diegetischen Ebenen, also etwa wenn eine Romanfigur in den fiktionalen Film hineintritt, von einer intermedialen Metalepse sprechen. Siehe dazu auch: Chihaia, Matei: Aquí, ahora. Die intermediale Metalepse bei Julio Cortázar, Dan Grahem und Michael Snow. In: Felten, Ute / ​Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Intermedialität in Hispanoamerika. Brüche und Zwischenräume. Tübingen: Stauffenburg 2007, S. 103–124. Chihaia beschreibt die intermediale Metalepse als Sonderform der narrativen Metalepse, in der „es nicht bei einer Überschreitung von Erzählebenen bleibt, sondern der Erzähler auch aus dem Rahmen der Sprache in andere Rahmen, etwa die des Films oder der Photographie, hinausstrebt.“ (Ebd., S. 105) 76  Damit weiche ich von Klimeks Bezeichnungen ab, da bei ihr „the ‚extradiegetic level‘ corresponds to the representation of a world that is regarded as ‚real‘ within the novel. From this ‚real world‘ the ‚intradiegetic level‘ emerges, which is regarded as a ‚fictive

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schen diesen Ebenen können als Immersion oder als Infiltration stattfinden; zwei Begriffe, die Chihaia stark macht, wobei er sich auf die Terminologie von Gertrud Koch bezieht, die das Begriffspaar ebenfalls verwendet: „Bezeichnet das eine [i.e. die Immersion, KJ] die Teilnahme des Rezipienten an der künstlichen Welt, so beschreibt das andere [i.e. die Infiltration, KJ] umgekehrt das Vordringen fiktionaler Simulacren in den Horizont unserer Lebenswelt.“77 Das Totale Kino ist der Zustand der überschrittenen Grenze beziehungsweise Entgrenzung, auf den beide Dynamiken zusteuern.78 Wobei Krämer zurecht auf die Gefahren hinweist, die sich ergeben, wenn „angenommen wird, daß die Differenz zwischen Wirklichkeit und Simulation, zwischen Realität und Fiktion verschwindet“, da in diesem Fall der Realitätsbegriff ebenso seinen Sinn verliere wie der Begriff der Simulation.79 Dem Narrativ des Totalen Kinos ist somit eine Aporie inhärent; diese bildet seinen anti-utopischen Kern.80 Die Grenze, die hier virulent wird, definiert nach Michalski das „Verhältnis von Kunst- und Realraum“ und ist durch Metalepsen passierbar: „Die Kunstformation kann in den Realraum übergreifen und umgekehrt kann der Realraum,

world‘ within this reality“, siehe Klimek: Metalepsis in Fantasy Fiction, S. 24. Meine Terminologie reflektiert, dass es außerhalb von Hypodiegese und Diegese noch eine extradiegetische Welt gibt, nämlich die Welt der Leserinnen und Leser des Romans. 77  Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 13. Der erwähnte Aufsatz wurde oben bereits zitiert: Koch: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur. Zu den beiden Dynamiken siehe außerdem Ryan: Narrative as Virtual Reality, v. a. S. 89–171. (Wobei Ryan von Interaktion statt von Infiltration spricht und außerdem eher ein spielerisches Interagieren mit der fiktionalen Welt meint.) 78  Monika Schmitz-Emans spricht sowohl von „Entgrenzung“ als auch von einer „Entdifferenzierung zwischen Wirklichkeit und Bildern“, vgl. Schmitz-Emans, Monika: Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen: Das Kino im Spiegel des Romans bei Thomas Mann, Luigi Pirandello, José Saramago und Yoko Tawada. In: Poppe, Sandra / ​ Seiler, Sascha (Hg.): Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008, S. 185–204, hier S. 191–195. Chihaia spricht dagegen häufig von einer „Durchdringung“, vgl. Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 13. In der vorliegenden Studie wird je nach Struktur meist von Grenz­ überschreitungen oder Entgrenzungen die Rede sein, weil diese Termini die Perspektive des Rezipienten auf die totalkinematographische Repräsentation beschreiben. Bei der Frage, ob die Grenze überschritten wird oder sich die beiden Sphären entgrenzen oder ununterscheidbar werden, handelt es sich um Nuancen innerhalb des Narrativs des Totalen Kinos, die in den einzelnen Lektüren herausgearbeitet werden. 79  Krämer, Sybille: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? In: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt: Suhrkamp 2000, S. 9–25, hier S. 15. 80  Mehr zu dieser Aporie und zum Begriff der Anti-Utopie siehe Kapitel 3.

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gleichsam als ungeformter Rohstoff in den Kunstraum eindringen.“81 Die Immersion des Betrachters, sein Eintauchen in die Filmhandlung, steht ebenso wie die Infiltration des Filmbildes, das Herabsteigen von der Leinwand und Eindringen in den Realraum, in engem Bezug zum Narrativ des Totalen Kinos, das solche Transgressionen forciert.82 Für die vorliegende Studie sind allerdings vor allem die metapoetischen Bezüge, die solche Metalepsen in den Text bringen, von Belang.83 Schließlich besitzt die Immersion als die „durch ein mediales Dispositiv vermittelte raum-zeitliche Teilhabe an einer Welt“84 nach Jean-Marie Schaeffer zentrale Bedeutung für das Gelingen jeder Fiktion: Pour qu’une fiction ‚marche‘, nous devons voir le paysage (peint), assister au hold-up (filmé), (re)vivre la scène de ménage (décrite). Et la façon dont nous décrivons l’échec d’une fiction — ‚Impossible d’entrer dans ce film‘, ‚C’est un récit qui ne prend jamais‘, ‚Ce personnage n’existe pas‘, ou encore, ‚Le portrait est sans la moindre vie‘ — est tout aussi révélatrice de ce rôle central rempli par l’immersion.85

Die zu untersuchenden Romane weisen insofern einen stark autoreflexiven Bezug auf, beschreiben die narrativen Metalepsen von Infiltration und Immersion doch nichts anderes als „ein erzählerisch suggeriertes Eindringen des Erzählers oder Adressaten in die erzählte Welt oder eine Infiltration fiktionaler Figuren in die Welt des Erzählers“.86 Beide Bewegungen stellen media-

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Michalski: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, S. 10. 82  Zur Veranschaulichung dieser metaleptischen Bewegungen sei hier an Woody Allens Film The Purple Rose of Cairo (1985) erinnert, in dem ein Schauspieler von einer Kino­ leinwand in die Realität herabsteigt (Infiltration) und später eine Zuschauerin die Gegenbewegungen vollzieht (Immersion). Der Film weist darin deutlich auf das autoreflexive Potenzial des Mediums hin und zitiert außerdem die Zugfilm-Legende in einer markanten Szene. 83  Vgl. Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 332f. 84  Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 138. 85  Schaeffer, Jean-Marie: Pourquoi la fiction? Paris: Seuil 1999, S. 179. Schaeffer betont, dass die Täuschung des Rezipienten kein Selbstzweck der Fiktion sei, sondern vielmehr über das Mittel der Immersion dafür sorge, dass die Fiktion funktioniere und den Rezipienten einbeziehe bzw. anspreche. 86 Chihaia: Aquí, ahora, S. 103. Chihaia unternimmt eine „Neubestimmung der Metalepse unter dem Aspekt der Intermedialität“, die für seine Studie zum Golem-Effekt zen­ tral ist (vgl. dort S. 115).

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le Effekte eines Mediums aus,87 weshalb für eine Untersuchung des Narrativs des Totalen Kinos die Medienvergessenheit, die viele Protagonisten in den zu untersuchenden Romanen zeigen, keine Option sein kann.88 Der Begriff des Mediums ist auch deshalb produktiv, weil er die Aufmerksamkeit auf zweierlei lenkt: Zum einen verweist er auf die materielle Opazität des Apparats, die beim Sprechen über Kino immer eine Rolle spielt, wobei „das Kino nicht nur als technisches Medium, sondern auch als mediale Form“ zu begreifen ist;89 zum anderen wirft er den Blick zurück auf das autoreflexive Sprechen des literarischen Textes, also auf das Rauschen der Sprache selbst. Mit Martin Mann, der das Transparenzparadigma der Medientheorie in Frage stellt, wird in dieser Studie Autoreflexivität als spezifische Kategorie von Medien und „gerade nicht als bloße Abweichung von ihrem Funktionieren“ betrachtet.90 Mit Bezug auf Walter Benjamin schreibt Mann, das Medium werde erst geschaffen, „indem es sich selbst ausspricht. Autoreflexivität ist also keine nachgeschaltete Eigenschaft oder Fähigkeit, sondern primär Bedingung und Verfahren der Selbstermöglichung.“91 In der vorliegenden Studie richtet sich das Erkenntnisinteresse somit auch auf den autoreflexiven Gehalt literarischer Imaginationen des Totalen Kinos. Insofern steht hinter der Frage ‚Wie erzählen literarische Werke das Kino als totale Reproduktion beziehungsweise Simulation von Realität?‘92 stets auch

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Wobei an dieser Stelle noch einmal in Chihaias Worten betont sei, was schon unterstrichen wurde: „Beide Effekte, Immersion und Infiltration, werden also schon vor der Erfindung des Kinos durch die Brüder Lumières 1895 mit einem Modell der technischen Projektion zur Fiktionshäresie gesteigert.“ (Ebd., S. 118) Chihaia spricht hier über die Romane L’Ève future und Le Château des Carpathes, die beide auch in der vorliegenden Studie behandelt werden. 88  Vgl. Nitsch, Wolfram: Anthropologische und technikzentrierte Medientheorien. In: Liebrand, Claudia / ​Schneider, Irmela (Hg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft. Müster: Lit 2005, S. 81–89. 89  Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 16. 90  Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 26. Die Defintion, die Mann für den Begriff der Autoreflexivität gibt, ist auch für die vorliegende Studie grundlegend: „Das Erscheinen des Erscheinens ist der grundlegende Modus von Autoreflexivität, da diese nicht allein Selbstverweisung bedeutet, sondern ein Sich-selbst-zur-Anschauung-Bringen.“ (Ebd., S. 132) Mann leitet seinen Begriff unter anderem ab aus Jahraus, Oliver: Autoreflexivität. In: Ders. / ​Ort, Nina (Hg.): Theorie – Prozess – Selbstreferenz. Systemtheorie und transdisziplinäre Theoriebildung. Konstanz: UVK 2003, S. 69–106. 91  Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 62 (Herv. i. O.). 92  Žižek unterscheidet die Simulation von der Reproduktion oder Imitation; die Simulation zeichnet sich dadurch aus, dass sie „den Anschein einer nichtexistierenden Realität

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die Frage ‚Was erzählt Literatur damit über sich selbst?‘. In Anlehnung an Koschorke begreife ich die hier versammelten literarischen Texte auch als erzählende Fragmente des Narrativs des Totalen Kinos, wobei gilt: Für die Analyse der Erzählinstanz ist es zunächst wichtig, zwischen der repräsentionalen und der expressiven Dimension des Textes zu unterscheiden. Als Repräsentation macht sich die Erzählung scheinbar durchsichtig zugunsten der Darstellung einer (imaginierten) Welt; als Expression gibt sie Auskunft über die Eigenschaften des Erzählers.93

Während eine Motivgeschichte des Kinos in der Literatur sich allein auf die erste, die repräsentationale Dimension der Texte konzentrieren würde, will die vorliegende Studie auch die expressive Dimension des Narrativs vom Totalen Kino in den Blick nehmen – also jene literarischen Texte untersuchen, die es formen und fortschreiben. Dafür muss sie berücksichtigen, wie die Texte ihre eigene Medialität reflektieren. So stellt diese Untersuchung den Romanen auch die Frage, wie das Totale Kino überhaupt erzählbar wird und in welcher Gestalt und auf welche Weise es der jeweilige Text imaginiert.94 Gerade diese intermedial verschränkte Reflexionsperspektive kann Aspekte ans Tageslicht befördern, die der reinen Selbstreflexion verborgen bleiben: „Die einzelnen Künste interpretieren, entwerfen, ‚erfinden‘ sich wechselseitig“, weshalb

generiert“. Siehe Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien. Wien: Passagen 1999, S. 88. 93  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 87. 94  Nicht außer Acht bleiben darf an dieser Stelle, dass auch Film in der Lage ist, seine eigene Medialität zu reflektieren. Mit Blick auf den Stummfilm der Zwischenkriegszeit bemerkt etwa Kittler: „[D]er Doppelgängertrick verfilmte Verfilmung überhaupt“, siehe Kittler: Optische Medien, S. 249. Es ist also nicht generell so, dass die Literatur hier eine Leistung erbrächte, die dem Film fehlt (wie bspw. Bioys La invención de Morel suggeriert, siehe dazu Kapitel 3.2). Um dem Rechnung zu tragen, wird im Verlauf dieser Studie immer wieder in Fußnoten auf Filme hingewiesen, die das Narrativ des Totalen Kinos reflektieren. Es wird allerdings um Verständnis gebeten, dass die zitierten Filme in diesem Rahmen nicht ausführlich behandelt, sondern lediglich kurz anskizziert werden können. Eine Analyse dieser Filme unter dem Aspekt des Totalen Kinos böte jedoch Gelegenheit zu Folgearbeiten, die das Verständnis dieses wirkmächtigen Narrativs erweitern könnten. Exemplarisch sei zu Beginn sei an den kurzen Film Pygmalion et Galatée (1898) von Georges Méliès erinnert, der zeigt, dass schon der frühe Film seine Verwandtschaft mit dem antiken Bildhauermythos ironisch reflektiert: Mittels Filmtrick gelingt dem Protagonisten hier die Belebung seiner Statue, diese widersetzt sich ihm aber subversiv und ebenfalls mit Hilfe filmischer Tricks, indem abwechselnd ihr Oberkörper und ihr Unterleib verschwinden. Damit wird das Kino zum Medium der Verlebendigung, das sich dem Schöpfer widersetzt.

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN UND STAND DER FORSCHUNG

„das Bildmedium Film seit seinen Anfängen im Licht wechselnder Metaphern und literarischer Modellierungen“ steht.95 Komplementär zu Schmitz-Emans These geht diese Studie nicht nur davon aus, dass Filmtheorie „stimulierend auf die Literatur [wirkt], insofern diese nach Metaphern und Modellen für das Selbst und seinen Weltbezug sucht“96 – es gilt auch der umgekehrte Fall. Zur Auswahl des Textkorpus

Das Narrativ des Totalen Kinos enthält jenen „Zukunftsbezug, über den Gesellschaften sich ein Bild ihrer selbst erzeugen“, was sich auch im Textkorpus niederschlägt, da die folgenden Romane nicht selten dem Genre der Science Fiction zugeordnet werden.97 Ausgehend von den bereits aufgeworfenen Fragestellungen wurden für diese Studie Texte herangezogen, in denen nicht nur ein Totales Kino imaginiert und narrativ ausagiert wird, sondern auch ein Reflektieren über das Verhältnis zwischen filmischer Ästhetik und Realität sowie über das eigene Verhältnis, das der Literatur, zu Film und Realität stattfindet. Die ausgewählten Texte leisten, was Gavriel Moses in seiner Studie zur Repräsentation des Kinos in der Literatur formuliert: […] examine, that is, the implications of an open awareness of the ‚nuts and bolts‘ of a form of representation; expose the ‚formative‘ pressures of the medium of film upon our notions of character and ‚real‘ life; question the motives of the artists engaged in articulating the kinds of lives, stories, and feelings that the medium tends to favor; test the effects of the medium upon individual notions of reality […].98

95 

Schmitz-Emans: Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen, S. 185f. Ebd., S. 185. 97  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 230. Für Koschorke ist dieser Zukunftsbezug „ein besonderes Kennzeichen der Moderne, die gegenüber traditionellen Weltordnungen radikal von Vergangenheits- auf Zukunftsreferenz umgestellt hat“ (ebd., S. 230). So erprobt die Moderne beispielsweise im Genre der Science Fiction die Potenziale technischer Innovationen, weil „die Weltgesellschaft sich nicht mehr in Bezug auf unbekannte Territorien jenseits ihrer Reichweite und Kontrolle, sondern nur noch innerräumlich weiterentwickeln kann“; deshalb seien „Extrapolationen von Zukunft für sie der entscheidende Modus für gesellschaftliche Dynamik, für teleologische oder utopistische Sinnstiftungen und nicht zuletzt für die Externalisierung von Problemen geworden.“ (Ebd., S. 232) Über diese Einordnung hinaus hat das Label der „Science Fiction“ jedoch keine weitere Bedeutung für den theoretischen Rahmen der vorliegenden Studie. 98  Moses: The Nickel Was for the Movies, S. XVII. Moses formuliert zwar ein ähnliches Forschungsinteresse wie die vorliegende Studie, bezieht sich aber nicht auf das Narrativ des Totalen Kinos und die Realpräsenz, die die Literatur dem Kino zuschreibt; insofern 96 

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Der Traum vom Totalen Kino

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Die sechs im Fokus dieser Studie stehenden Romane stammen aus den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte und sind als Schlüsseltexte für das Narrativ des Totalen Kinos zu betrachten, da sie dieses in verschiedenen narrativen Spielarten und vernetzt mit anderen Diskursen und Mythen fortschreiben. Die Texte bilden eine chronologische Reihe, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, eine Genese nachzustellen: Weder ist diese Reihe vollständig, noch verlief die Ausformung des Narrativs des Totalen Kinos als kontinuierlich fortschreitende Entwicklung. Vielmehr sind die Gegenstände der Untersuchung so gewählt, dass sie einerseits Bezüge zueinander offenlegen und andererseits ein möglichst vielfältiges Bild der Totalkinematographie ergeben. Um der These Rechnung zu tragen, dass das Narrativ des Totalen Kinos eine Präfiguration und keine bloß mimetische Repräsentation des Kinos durch die Literatur darstellt, setzen die folgenden Analysen bereits vor der Erfindung des Cinématographe ein und beginnen mit jenem Text, den Bazin in Le Mythe du Cinéma total zitiert: Auguste Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future (1886). Bernhard Dotzler nennt den Roman „exemplarisch“ für nachfolgende Romane wie Jules Vernes Le Château des Carpathes (1892), Salomo Friedlaender/Mynonas Graue Magie (1922) oder Adolfo Bioy Casares’ La invención de Morel (1940) – dass er dabei den Kinobezug all dieser Romane übersieht und stattdessen von „Automatenfiguren“ spricht, mutet indes kurios an.99

ist seine Studie über Kino-Romane sehr viel breiter angelegt und kann gleichzeitig nicht in die Tiefe dringen. Indem Moses sich neben Pirandello auf Romane von Vladimir Nabokov, Manuel Puig, F. Scott Fitzgerald und Nathanael West konzentriert, ist seine Studie außerdem historisch später angesiedelt als die vorliegende und nimmt andere Diskurse in den Blick, wie beispielsweise die Vorstellung von Hollywood als modernem Babylon im sogenannten Hollywood-Roman. 99  Vgl. Dotzler, Bernhard J.: Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur. München: Fink 2006, S. 124. Diese Zusammenschau, die mir erst nach der Konzeption des vorliegenden Korpus bekannt wurde, fasst zwar zahlreiche Werke zusammen, die im Korpus dieser Studie stehen, stellt diese aber unter das Motto des „Automatenmenschen“ statt unter das der Kinematographie. Von Automaten im herkömmlichen Sinne findet man aber in Le Château des Carpathes ebenso wie in Graue Magie oder La invención de Morel keine Spur. Ähnlich stellt auch Sabine Haupt in mehreren Aufsätzen Bezüge zwischen Texten aus dem vorliegenden Korpus her; jedoch nicht zum Narrativ des Totalen Kinos. Siehe etwa Haupt: Schöpfung, Magie, Kunst und Technik: Zur Herstellung menschlicher Simulacren in und mittels Literatur; Dies.: Strahlenmagie. Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zwischen Okkultismus und Sciencefiction. Ein diskursanalytisch-komparatistischer Überblick. In: Baßler, Moritz / ​Gruber, Bettina / ​Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 153–176.

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN UND STAND DER FORSCHUNG

Ähnlich einflussreich war Luigi Pirandellos Kino-Roman Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916/25), über den Moses schreibt, dass „all such film novels, moreover, can be traced back in one way or another to Pirandello’s story of a troubled cameraman“.100 Mit diesen fünf Romanen wäre das Korpus beinahe komplett; wenn es den Blick der Literatur auf das Totale Kino abbilden soll, darf allerdings ein weiteres Werk nicht fehlen: Aldous Huxleys Brave New World (1932), das mit seinen multisensuellen Feelie-Projektionen eine wichtige anti-utopische Referenz für das Streben nach Totalkinematographie geschaffen hat. Gegliedert werden diese sechs Romane in insgesamt drei Kapitel, die jeweils zwei chronologisch und diskurshistorisch in Bezug zueinander stehende Romane in Dialog bringen. Damit stellt diese Studie aus jenen Texten, die für einen komparatistischen Blick auf Literatur über Film und Kino kanonisch geworden sind, ein Korpus zusammen, das vor allem im Hinblick auf das Narrativ des Totalen Kinos einschlägig ist.101 Bemerkenswert ist, dass, wie etwa in der erwähnten Studie von Dotzler, diese Werke mitunter bereits miteinander in Bezug gesetzt wurden, nie jedoch im Zusammenhang mit dem totalkinematographischen Narrativ. So existieren bislang nur solitäre Analysen zur Kino-Ästhetik in den genannten Werken;102 im Fall von Le Château des Carpathes und Brave

100 

Moses: The Nickel Was for the Movies, S. XVIII. Weitere Romane zum Kino aus dem gleichen Zeitraum, die von der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt wurden, weil bei ihnen das Narrativ des Totalen Kinos nicht im Zentrum steht, sind etwa Gomez de la Serna, Ramon: Cinelandia (1923), Dos Passos, John: The 42nd Parallel (1930), Nabokov, Vladimir: Laughter in the Dark (1933), West, Na­ thanael: The Day of the Locust (1939), Fitzgerald, F. Scott: The Last Tycoon (1940). 102  Zu den lesenswertesten Analysen gehören Mikkonen, Kai: The Plot Machine. The French Novel and the Bachelor Machines in the Electric Years (1880–1914). Amsterdam: Rodopi 2001 (zu L’Ève future und Le Château des Carpathes mit Fokus auf Aspekte des Apparats); Syrimis, Michael: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod. Reflections of Cinema in Early Twentieth-Century Italy. Toronto: University of Toronto Press 2012 (zu Pirandellos Quaderni in Verbindung mit D’Annunzio und Marinetti); Werber, Niels: Medien der Immersion. Mynonas ‚Graue Magie‘. Literatur und Medientheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Kray, Ralph / ​Luehrs-Kaiser, Kai (Hg.): Geschlossene Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 47–60; Frost, Laura: Huxley’s Feelies: The Cinema of Sensation in Brave New World. In: Twentieth Century Literature, 4 (2006), S. 443–473; Mesa Gancedo, Daniel: Extraños semejantes. El personaje artificial y el artefacto narrativo en la literatura hispanoamericana. Zaragoza: Prensas Universitarias de Zaragoza 2002. Vincenzo Maggitti schließlich versucht auf 150 Seiten einen Rundumschlag von der Zeit des Proto-Kinos bis in die Postmoderne, siehe Maggitti, Vincenzo: Lo schermo fra le righe. Cinema e letteratura del Novecento. Napoli: Liguori Editore 2007. 101 

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New World sind die kinematographischen Aspekte der Romane noch kaum in den Blick genommen worden.103 Das Thema, das die sechs Romane verbindet, ist eine Reflexion jenes Strebens danach, „auch noch die letzte Differenz zwischen Simulation und Wirklichkeit zu löschen“.104 Dieses soll den Romanen in bildtheoretisch sowie medienhistorisch informierten Textlektüren entlockt werden. Wobei zu bedenken ist, woran Lovorka Gruic und Kiene Brillenburg Wurth erinnern: we had better use the concept of the ‚cinematographic‘ in literary studies not as a fixed or general but a singular concept, that is, always within the framework of a specific text using specific techniques, offering different meanings and concepts of cinema […].105

So werden die literarischen Werke, die hier zur Analyse gestellt sind, wie François Albera es für die Romane von Villiers und Verne formuliert, zu „,extrapolations‘ de théories ou d’hypothèses en vigueur, lesquelles ne trouvent pourtant pas encore d’aboutissements concrets ou d’expériences dans l’espace de l’écriture“.106 Es ist dieses Hypothetische, das dem Traum vom Totalen Kino innewohnt und die folgenden Lektüren durchziehen wird.

103 

Die wenigen Studien, in denen diese Aspekte zumindest am Rande aufscheinen, werden in den jeweiligen Kapiteln aufgeführt und zitiert. 104  Kittler: Optische Medien, S. 288. 105  Gruic, Lovorka / ​Brillenburg Wurth, Kiene: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age. In: Brillenburg Wurth, Kiene: Between Page and Screen. Remaking Literature Through Cinema and Cyberspace. New York: Fordham University Press 2012, S. 184–200, hier S. 191f. 106  Albera, François: Le cinéma projeté. In: Intermédialités, 20 (2012), https://www. erudit.org/fr/revues/im/2012-n20-im0528/1015084ar.

III

Lektüren: Literarische Visionen der Kinematographie

Quelle: Institut Lumière

1 Proto-Cinéma

1.1 Präfiguration des Kinos: Auguste de Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future (1886)

Villiers de l’Isle-Adams Roman L’Ève future, 1886 veröffentlicht,1 wird geradezu prophetischer Gehalt im Hinblick auf den zehn Jahre später beginnenden Siegeszug der Kinematographie zugesprochen. So steht etwa der Filmtheoretiker und Philosoph Edgar Morin staunend vor dem „archétype mythique que le génie de Villiers de l’Isle Adam avait su rêver à partir des inventions d’Édison, avant même la naissance du Kinétographe.“2 Ähnlich fasziniert zitiert Bazin in Mythe du Cinéma total Villiers’ Roman als Vorboten für die scheinbar unvermeidliche Geburt des Kinos. Die Zeit sei reif gewesen für die Lumières, nachdem schon die Literatur von der Kinematographie als einer Reproduktion der Realität in Bewegung geträumt hatte.3 Villiers, 1838 geboren, „belongs to the first generation of writers to be confronted with the new medium for producing images. In fact, L’Ève future is one of the earliest, if not the earliest French text to present photography as the technique of choice of the modern animation of woman“.4 Tatsächlich ist L’Ève future nicht nur der

1 

Grundlage für die vorliegende Studie ist die finale Version von L’Ève future, die ­Villiers 1886 abgeschlossen hat. Dem Projekt gingen mehrere Vorarbeiten voraus, sodass von einem Arbeitsbeginn um 1878 gesprochen werden kann. Siehe zur Genese des Romans die Ausführungen von Jacques Noiray: Le Romancier et la machine. L’image de la machine dans le roman français (1850–1900). Band II: Jules Verne – Villiers de l’Isle-Adam. Paris: Librairie José Corti 1982, hierzu v. a. S. 288–299. 2  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 39. 3  Vgl. Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. 4  Lathers, Marie: The Aesthetics of Artifice. Villiers’s L’Ève future. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1996, S. 85.

Der Traum vom Totalen Kino

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erste Roman, der die animierte Photographie einer Frau imaginiert, sondern zugleich einer der Gründungstexte für das Narrativ des Totalen Kinos. L’Ève future präfiguriert nicht nur die Kinematographie, sondern schreibt ihr das illusionistische Potenzial ein, die Wirklichkeit so mimetisch zu reproduzieren, dass eine Unterscheidung zwischen Original und Kopie für den Rezipienten nicht mehr möglich scheint. In Le Mythe du Cinéma total verweist Bazin an zentraler Stelle auf „cette page de L’Ève Future où Villiers de l’Isle-Adam, deux ans avant qu’Edison entreprenne ses premières recherches sur la photographie animée, lui prête cette fantastique réalisation“.5 Der Roman ist für Bazin nicht nur ein Seismograph und Vorbote für die Erfindung des Kinos, sondern auch eine der Quellen, aus denen er selbst die Inspiration für seine Mythologie des Totalen Kinos schöpft. Der Wunsch, die Realität zu reproduzieren, ist nicht nur Sprungfeder für die Handlung von L’Ève future, laut Bazin treibt derselbe Wunschtraum auch die Entwicklung des Kinos an; demnach wird das Kino aus dem Narrativ des Totalen Kinos geboren, ähnlich wie in L’Ève future der Wunsch, die Frau durch eine Kopie zu ersetzen, der Erschaffung der Androide vorangeht: „[L]es véritables primitifs du cinéma, ceux qui n’ont encore existé que dans l’imagination de quelques dizaines d’hommes du XIXe siècle, sont à l’imitation intégral de la nature“.6 L’Ève future steht an der Schwelle zum Kino-Zeitalter und damit an jenem Umschlagpunkt, an dem die Phantasmen des 19. Jahrhunderts in den Wiedergabetechniken des 20. Jahrhunderts ihre Verwirklichung zu finden scheinen. Der Roman zeigt sich deutlich durch die Technik- und Reproduk­ tionsdiskurse seiner Zeit inspiriert, deren Untiefen er auslotet. So ist es wohl richtig, dass Villiers’ Roman „sans l’invention de la photographie“ überhaupt nicht vorstellbar wäre;7 doch bleibt es nicht dabei: Villiers bringt die Bilder zum Laufen. L’Ève future, geschrieben kurz bevor die ersten Bewegtbilder vor Publikum gezeigt wurden, zeugt bereits von jener Kippbewegung, in der das Phantasma in Präsenz umzuschlagen droht. Der Roman erzählt von einer faustischen Abmachung zweier Männer im zeitgenössischen Amerika: Der Erfinder Edison will für einen Klienten, den von seiner Verlobten enttäuschten Lord Ewald, eine sprechende und sich be-

5 

Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25. 7  Milner: La Fantasmagorie, S. 210. 6 

AUGUSTE DE VILLIERS DE L’ISLE-ADAM | L’ÈVE FUTURE

wegende Puppe kreieren, die nicht nur äußerlich der Verlobten Alicia Clary haargenau gleicht, sondern darüber hinaus den Vorzug hat, nicht eigenmächtig zu denken und vor allem nicht zu widersprechen. Dies sei die perfekte Frau.8 Edison stellt eine lebensechte Kopie Alicias in Aussicht, die vollkommen den Bedürfnissen und dem Begehren des Betrachters entspricht: „Il devient tout à fait impossible de distinguer le modèle de la copie“.9 Ewald, zunächst skeptisch, lässt sich von Edison erst überzeugen, als dieser ihm die Lasterhaftigkeit der lebendigen Frauen vor Augen führt. Den Beweis erbringt der Erfinder mit Hilfe zweier Projektionen von bewegten und singenden Farb­ photographien: Die erste Darbietung zeigt eine schöne Frau, die mit ihrem Gesang und Tanz den Männern zu gefallen weiß. Die zweite Projektion allerdings soll das wahre Wesen dieser und aller Frauen offenbaren: Eine hässliche Hexe lallt nun obszöne Lieder. Nachdem Ewald durch diese kinematographischen Projektionen über das wahre Wesen der Frau aufgeklärt wurde, willigt er schließlich ein, fortan mit der Alicia täuschend ähnlichen Androide Hadaly zusammenzuleben. Als Edison ihm diese präsentiert, zeigt sich, dass die Illusion gelungen ist: Ewald erkennt sie nicht als die Falsche, er hält die Reproduktion für die Realität. Der Roman endet aber nicht mit dieser vermeintlich gelungenen Schöpfungsphantasie, sondern im Ikonoklasmus. Bei der Überfahrt nach England wird die künstliche Frau gleich mehrfach zerstört: Sie verbrennt und geht mitsamt dem Schiff unter. Idolatrie und Ikonoklasmus sind im Roman eng miteinander verschränkt: Einerseits ist die Erschaffung Hadalys als technische, aber nicht minder unheimliche Wiederkehr des Pygmalionmythos inszeniert, andererseits wird diese wundersame Verlebendigung der Bildfrau konterkariert durch eine Skepsis gegenüber dem Positivismus und den jüngsten technischen Innovationen. L’Ève future fungiert als Brücke zwischen den Automaten- und Künstler-Erzählungen des 19. Jahrhunderts, deren wichtigste Referenz E.T.A. Hoffmanns Sandmann darstellt, und dem Narrativ des Totalen Kinos. Schon Bazin erkennt, dass es zwischen beiden Diskursen eine Verbindung gibt:

8 

Zum Thema der Suche nach der „perfekten Frau“ siehe auch Hausmann, Matthias: Die perfekte Frau im perfekten Körper. Villiers de l’Isle-Adam und Adolfo Bioy Casares. In: Komparatistik Online, Ausgabe 2010.1.9, S. 136–158, http://www.komparatistikonline.de/2010-1-9. 9  Villiers de l’Isle-Adam, Auguste: L’Ève future. Paris: Éditions Gallimard 1993, S. 264f. Im Folgenden wird stets aus dieser Ausgabe zitiert, jeweils mit der Abkürzung EF und der Seitenzahl.

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Der Traum vom Totalen Kino Le mythe directeur de l’invention du cinéma est donc l’accomplissement de celui que domine confusément toutes les techniques de reproduction mécanique de la réalité qui virent le jour au XIXe siècle, de la photographie au phonographe. C’est celui du réalisme intégral, d’une recréation du monde à son corps défendant et seulement parce que ses fées étaient techniquement impuissantes à l’en doter en dépit de leurs désirs.10

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Obwohl er an dieser Stelle auch auf L’Ève future zu sprechen kommt, übersieht Bazin einen großen Teil des Potenzials, das der Roman für eine Betrachtung des Mythe du Cinéma total bereithält. So bezieht er sich in seinen Ausführungen ausschließlich auf die kurze Episode aus dem Werk, in der Edison seinem Besucher die zwei kurzen Projektionen bewegter Bilder präsentiert. Hierin sieht Bazin zu Recht eine Präfiguration des kinematographischen Bewegtbildes durch die Literatur. Allerdings lässt er etwas viel Wesentlicheres außer Acht: dass nämlich die Androide, die im Zentrum des Romans steht, auf das Totale Kino voraus weist. Auch sie entsteht als Abbild, wird mittels Phonograph und Photographie zu einer täuschend lebensähnlichen, sprechenden, einer bewegten und bewegenden Bildfrau. Die Metalepse, klar als Infiltra­tion markiert, in der sie von ihrem Sockel in die diegetische Ebene der Romanhandlung tritt, agiert narrativ aus, worauf das Totale Kino zielt: die vollständige, dreidimensionale und duftende Reproduktion der Welt in Bewegung. Lord Ewald bezeugt am Ende die Ununterscheidbarkeit zwischen Reproduktion und Realität. Die folgenden Seiten sollen nun darlegen, inwiefern und auf welche Weise L’Ève future vom Kino erzählt – auch wenn und gerade weil der Kinematograph zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans noch nicht erfunden war; schließlich tritt der phantasmatische Aspekt des Narrativs des Totalen Kinos dadurch nur umso deutlicher zu Tage. Es soll nachvollzogen werden, wie der Filmemacher Edison die reale Frau in einem Dreischritt erst durch eine Photographie, dann durch ein herkömmliches Bewegtbild und schließlich durch das Totale Kino ersetzt. Mit dieser Lesart grenzt sich diese Studie ab von den üblichen Lektüren des Romans, die L’Ève future als Beispiel für den Topos des Maschinenmenschen betrachten und dabei die klaren Bezüge des Romans zum Bewegtbild und zur Photographie außer Acht lassen. So betont etwa Noiray in seiner grundlegenden Studie zu Villiers vor allem die Verwandtschaft zwischen Hadaly und Hoffmanns Olympia und verortet den

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Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25.

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Roman in der zeitgenössischen Mediengeschichte irgendwo zwischen Telefon und Phonograph; die kinematographischen Aspekte, die den Roman sowohl auf der motivischen wie auch auf einer strukturell-ästhetischen Ebene prägen, scheint er aber zu übersehen.11 Für ihn ist die Androide Hadaly zwar „née d’une science infusée par l’imagination visionnaire“,12 aber Kino und Bewegtbild bezieht er dennoch nicht als Bezugspunkte in seine Überlegungen ein. Diese Interpretationslücke soll im Folgenden geschlossen werden, ohne es allerdings bei der Behauptung bewenden lassen zu wollen, Villiers habe in L’Ève future hellseherisch die Erfindung des Kinos vorweggenommen. Vielmehr belegen insbesondere Bazins Ausführungen, wie stark die Epoche, in der das Kino erfunden wurde, von der Faszination einer täuschend lebendigen Reproduktion der Natur im Bewegtbild geprägt war. Das Kino und L’Ève future sind also aus dem gleichen Diskurs hervorgegangen. Auf dieser Basis zeigt sich, dass sich der Topos der pygmalionesken Verlebendigung und das Motiv des Maschinenmenschen fruchtbringend mit der Perspektive auf das Narrativ des Totalen Kinos verknüpfen lassen. Erst diese Lektüre, die medienhistorische und mythologische Bezüge integriert, fördert zu Tage, worin die Bedeutung von L’Ève future als Schlüsseltext für die Konstruktion des Narrativs des Totalen Kinos liegt. Diese herauszuarbeiten ist das Anliegen der folgenden Seiten. Im Zentrum stehen dabei die drei Frauenfiguren in ihrer jeweils spezifischen Abwesenheit: Alicia Clary, Evelyn Habal und schließlich die Androide Hadaly repräsentieren Frauen, die der Vorstellung des männlichen Betrachters entspringen und denen eine gespenstische abwesende Anwesenheit gemeinsam ist. Zunächst liegt der Fokus auf der einzigen lebendigen Frau im Roman, Alicia Clary, die mit Hilfe eines Apparats zur projizierten Photographie wird. Im Zentrum des nächsten Kapitels steht die femme fatale Evelyn Habal, deren Filmaufnahmen Edison als misogynes Argument gegen die lebendige Frau an sich vorführt. Das dritte Kapitel schließlich konzentriert sich auf die Androide Hadaly und nimmt insbesondere deren Komposition als audiovisuelles Kunstwerk und die wiederkehrenden Referenzen auf den Mythos von Pygmalion in den Blick. Villiers’ Roman vollzieht in diesen drei Frauenbildern eine medienhistorische Entwicklung von der Photographie über das Bewegtbild zum dreidimensionalen Totalen Kino nach. In seiner herausragenden

11  12 

Vgl. Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 278–288. Ebd., S. 376.

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Stellung am Beginn der Kinogeschichte zeugt er davon, dass sich das Narrativ des Totalen Kinos nicht nur aus der Faszination für das Bewegtbild und seine technischen Möglichkeiten speist, sondern auch aus ästhetischen Diskursen wie dem Pygmalionmythos oder dem geheimnisvollen Inkarnat der Frau. 1.1.1 Alicia: die Frau hinter den Spiegeln

Villiers’ L’Ève future weist voraus auf das neue Dispositiv des Kinos, indem ein altes zitiert und dekonstruiert wird: Der Roman entwirft eine zunächst recht eindeutig scheinende Konstellation, in der die Frau das Objekt des männlichen Blicks darstellt. Diese Konstellation, die am Ende des 19. Jahrhunderts längst zu einer „cultural convention of reproducing women as images“ geronnen war,13 scheint sich im aufkommenden Zeitalter des Kinos einfach fortzusetzen.14 Allerdings wird dieses Blickverhältnis in L’Ève future durchkreuzt von der tatsächlichen Abwesenheit der Frau: Dem Mann ist das Objekt seiner Skopophilie abhanden gekommen, die reale Frau ist nur abwesend anwesend. Indem die Kinematographie also lediglich eine Leerstelle reproduzieren kann, entlarvt sich in ihr die narzisstische Selbstbespiegelung des männlichen Blicks. Villiers’ Roman umkreist fünf Frauen: Alicia Clary, Evelyn Habal und Hadaly sowie die beiden eher randständigen Figuren Sowana und Mistress Anderson, die als Rückenfiguren zueinander und für eine Ausdehnung des männlichen Schöpfungsgestus auf die Frau als Medium stehen.15 Die einzige nominal lebendige und selbstbestimmte Frau im Roman ist Lord Ewalds

13  Bronfen, Elisabeth: Over her dead body. Death, femininity and the aesthetic. Manchester: Manchester University Press 1992, S. 110. Bronfen führt gewissermaßen die Gegenbewegung vor Augen, den Abtötungsgestus des Monumentalismus im 19. Jh., der die Frau zum (kontrollierbaren) Fetischobjekt macht. L’Ève future zeigt noch deutliche Anleihen dieses Diskurses, wenn auch das Bewegtbild im Kino die Frau aus dieser Stillstellung zu befreien scheint. 14  Siehe zu dieser Blickkonstellation im Hollywood-Kino auch Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema. Zur generellen Thematik der Assoziation von Frauen mit Bildern siehe De Lauretis, Teresa: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington: Indiana University Press 1984. 15  So bezeichnet Edison die Schlafwandlerin Sowana meist als seine Gehilfin; ihr scheinen mediale Fähigkeiten zuzukommen, sie ist für die Übertragung der äußerlichen und charakterlichen Eigenschaften Alicias auf die Androide Hadaly zuständig. So stellt sie für den Erfinder ein weiteres Instrument seiner Schaffenskraft dar, da er die Schlafwandlerin durch seine hypnotischen Fähigkeiten buchstäblich zum Medium gemacht hat.

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Verlobte Alicia Clary. Sie dient als Vorbild für die Androide und wird am Ende durch diese ersetzt werden – ähnlich wie die Schlafwandlerin Sowana die von ihrem Mann verlassene Mistress Anderson ersetzt hat. Schon zu Beginn geht es den beiden männlichen Protagonisten darum, aus der lebendigen Frau Alicia ein Kunstwerk zu machen, ein Objekt für den Blick, das nicht zurückblickt. Denn diese Blicke, so argumentiert Edison, können dem Mann zur Gefahr werden. Eingeführt wird Alicia im Text durch die Berichte ihres englischen Verlobten, der einerseits ihre Schönheit preist, andererseits aber über ihre Eigenheiten klagt. Vor allem stört er sich an ihrem esprit: En elle, nulle trace de cette bêtise presque sainte, qui, par cela même qu’elle est un extrême, est devenue aussi rare que l’intelligence. Une femme déshéritée de toute bêtise, est-elle autre chose qu’un monstre ? Quoi de plus attristant, de plus dissolvant que l’abominable être qu’on nomme une ‚femme d’esprit‘, si ce n’est son vis-à-vis, le beau parleur ? L’esprit, dans le sens mondain, c’est l’ennemi de l’intelligence. Autant, n’est-ce pas, une femme recueillie, croyante, un peu bête et modeste, et qui, avec son merveilleux instinct, comprend le vrai sens d’une parole comme à travers un voile de lumière, autant cette femme est un trésor suprême, est la véritable compagne, autant l’autre est un fléau insociable ! (EF, 90f., Herv. i. O.)

In dieser Schimpftirade offenbart Ewald mehr über sich als über seine Verlobte. Er wünscht sich eine bescheidene, ein wenig dumme Frau als Gefährtin und verteufelt die geistreiche Frau als Plage. Dabei imaginiert er die ideale Frau hinter einem Schleier aus Licht („un voile de lumière“) – eine erste, ikonographisch einleuchtende Präfiguration der Conclusio, die Edison für ihn bereithält: Die ideale Frau ist eine totalkinematographische Projektion. Ihr eigener Blick ist durch den Schleier für den Betrachter verstellt, sie kann betrachtet werden, aber ihr Blick kann dem des Betrachters nicht begegnen.16 Für Alicias äußere Erscheinung hat Ewald dagegen nur Lob übrig, er schwärmt von ihrem Duft, ihren harmonischen Bewegungen, den Linien ihres Körpers, ihrer blassen Haut, dem dichten braunen Haar und ihrem makellosen Gesicht; sie sei „d’une beauté non seulement incontestable mais tout à fait extraordinaire“ (EF, 75). In einer zunächst nur rhetorischen Verkehrung des Pygmalionmythos, die der später tatsächlich stattfindenden vorgreift, ver-

16  Zur „Furcht vor dem Blickpotenzial des Kunstwerks“, siehe Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 236.

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gleicht er Alicia mit einer „Venus victrix humanisée“ (EF, 75).17 Als Statue entspricht Alicia der fetischistischen Obsession des Mannes, der so ihren Blick nicht zu fürchten braucht.18 Der gesamte Roman scheint darauf angelegt, den weiblichen Blick auszulöschen. Bereits zu Beginn zeigt sich dieses Verlangen in Ewalds Beschreibung von Alicias Gesicht: Son visage est de l’ovale le plus séduisant ; sa cruelle bouche s’y épanouit, comme un œillet sanglant ivre de rosée. D’humides lumières se jouent et s’appuient sur ses lèvres lorsque les fossettes rieuses découvrent, en les avisant, ses naïves dents de jeune animal. Et ses sourcils frémissent pour une ombre ! le lobe de ses oreilles charmantes est froid comme une rose d’avril ; le nez, exquis et droit, aux narines transparentes, continue le niveau du front aux sept gracieuses pointes. Les mains sont plutôt païennes qu’aristocratiques : ses pieds ont cette même élégance des marbres grecs. (EF, 76)

Hier lobt er sämtliche Einzelheiten, ihren Mund, ihre Zähne, ihre Ohren, ihre Nase – und überspringt dabei aber ihre Augen: „[S]es sourcils frémissent pour une ombre“ (EF, 76). In Alicias Gesicht klafft eine Leerstelle genau dort, wo normalerweise ihre Augen wären. Von diesen bleibt nur ein Schatten; er macht ihr Gesicht zu einem Totenschädel.19 Indem Ewald die Augen seiner Verlobten durch einen Schatten ersetzt, vermeidet er nicht nur ihren Blick, sondern substituiert ihn durch eine Höhlung, die von ihm beziehungsweise dem Betrachter beliebig gefüllt werden kann. Alicias Augen bilden Leerstellen für das männliche Begehren. Das Füllen dieser Augenhöhlen übernehmen Ewald und Edison wenig später eigenhändig, wenn sie die Auswahl der künstlichen Augen treffen, die der Androide, Alicias Ebenbild, eingesetzt werden. Hier können die Männer selbst über die Farbe der Augen entscheiden, und da diese aus Glas sind, müssen sie auch

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Eine weitere Verkehrung des Pygmalionmythos findet sich in dem bereits zitierten Aufsatz von Vinken, Barbara: Pygmalion à rebours. 18  Vgl. zur Obsession des männlichen Künstlers für sein Werk, die ideale Frau: Sharrock, Alison R.: Womanufacture. In: The Journal of Roman Studies, 81 (1991), S. 36–49, hier v. a. S. 36. 19  Kurz darauf kommt Ewald zwar auf ihre Augen zu sprechen, wobei er vorher eine Atempause braucht, angezeigt durch einen Gedankenstrich („–“, siehe EF, 76). Allerdings lässt er auch hier ihre Augen nicht blicken, sondern beschreibt sie passivisch, ihren Blick verschleiert: „Ce corps est éclairé par deux yeux fiers, aux lueurs noires, qui regardent habituellement à travers leurs cils.“ (EF, 76). Zum verschleierten Blick folgen weitere Ausführungen in Kapitel 1.1.3.

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kein Zurückblicken fürchten. Erst zu diesem Zeitpunkt, als die beiden Männer die Beschaffenheit der „yeux physiques“ (EF, 260) für die Androide diskutieren, ist Ewald gezwungen, sich über Alicias Augen tatsächlich zu äußern; schließlich sollen die Augen der Androide denen der realen Frau nachempfunden werden. Auf die Frage des Erfinders, ob er den Glanz der Augen von der Schönheit eines Blicks unterscheiden könne, antwortet der junge Engländer: Certes ! […] Celle que vous verrez tout à l’heure a des yeux de la plus éclatante beauté, lorsqu’elle regarde, inattentive, au loin, devant elle : — mais, lorsque son regard porte sur quelque chose qu’elle remarque, le regard, hélas ! suffit pour faire oublier les yeux. (EF, 260)

Ewald trennt hier die Erscheinung der Augen, die Objekte für den Blick des Betrachters sind, vom aktiven Blick dieser Augen; er blendet Alicias Augen mit diesem rhetorischen Trick gewissermaßen, sodass ihm ihr Blick nicht gefährlich werden kann. Außerdem setzt er Augen und Blick in einen Gegensatz zueinander. So werden in L’Ève future zunächst das Betrachtete und das Betrachtende separiert, um später in der totalkinematographischen Projektion zusammengeführt zu werden. Auf der Photographie behalten die Augen zwar „l’éclat“, ihnen fehlt aber „la beauté du regard“ (EF, 260). Ihre Augen glänzen, besitzen aber keinen glance.20 Solange die Augen als Objekt dienen, können sie vom Mann gefahrlos betrachtet werden.21 Ewald ähnelt hier Perseus, der in seinen Schild blickt, um nicht auf den Anblick der Medusa verzichten zu müssen und doch ihrem Zurückblicken zu entgehen.22 Der direkte Blick der Frau auf den Mann lässt dagegen die Schönheit der Augen vergessen, weil er versteinert. Ihr Zurückblicken bedroht den Mann, er wird zum Objekt für ihren Blick. W.J.T. Mitchell

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Zum hier aufscheinenden Zusammenhang zwischen Glanz und Blick siehe Freuds Fetischismus-Aufsatz: Freud, Sigmund: Fetischismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band XIV. Frankfurt: Fischer 1991, S. 311–317. 21  Den Topos des gefährlichen Zurückblickens der Augen der künstlichen Frau nimmt der Film Bladerunner auf (Ridley Scott, 1982): Hier ist die Welt mit Replikanten bevölkert, die ausschließlich anhand ihrer Augen als solche identifiziert werden können. In dem Film tritt eine künstliche femme fatale auf, für die das Motto der Replikanten „more human than human“ gilt. Sie ist im Besitz von Photographien, die angeblich ihre Erinnerungen darstellen, aber gefälscht sind. Der Protagonist verliebt sich in sie, obwohl er weiß, dass sein Gegenüber keine reale Frau ist, und ähnelt auch darin der Figur des Ewald in L’Ève future. 22  Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 163.

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erkennt in seiner Theorie des Medusa-Effekts diesen Rollentausch als das Begehren des Bildes, denn dieses ziele darauf, den Betrachter „into an image for the gaze of the picture“ zu verwandeln.23 Eine solche anthropomorphe Aufladung des Bildes zeigt sich schon in L’Ève future. Sie ist als Residuum eines Diskurses zu betrachten, der dem Aufkommen des Bewegtbildes, das zum Zurückblicken tatsächlich fähig scheint, skeptisch gegenübersteht. Allerdings besitzt Villiers’ Roman eine zweite, ironische Ebene, die hinter diese Vorbehalte blicken lässt und zeigt, dass schon die ‚lebendige‘ Alicia vor allem in der Vorstellung des Mannes existierte: Die Figur Alicia betritt die Handlung erst, kurz bevor sie von der Androide ersetzt wird; zuvor enthält der Text keine Spuren von ihr selbst, sondern nur Beschreibungen durch ihren Verlobten. In diesen stellt Alicias Blick kaum eine Bedrohung dar, wird er doch meist durch einen Schleier abgeschirmt: „Edisons Blick ist analytisch; Lord Ewalds Blick ist voyeuristisch, auf der Suche nach schönen Gestalten; Alicias Blick ist ‚verschleiert‘. Die Frau sieht nicht, sondern wird gesehen, und mit der Kunstfrau sieht der Mann in ihr nur noch sich selbst.“24 Der Text betont nicht nur die Ähnlichkeit Alicias mit der Venus victrix, sondern auch mit „cette photographie qui avait rayonné, quatre heures auparavant, dans le cadre réflectif.“ (EF, 271) Dabei besteht die Ähnlichkeit zwischen der Frau und ihrem eigenen photographischen Abbild nicht nur optisch, sondern auch strukturell. So offenbart der Text, dass Ewalds Blick auf seine Verlobte schon immer ein photographischer war – oder vielmehr, da er auch ihre Bewegungen und ihren Gang lobt: ein kinematographischer. Seine Vorsichtsmaßnahmen gegen ihr Zurückblicken erweisen sich entsprechend als buchstäbliche Schattengefechte. Der Wahrnehmung des männlichen Betrachters entsprechend ist Alicias Blick „vague“, sie „regardait habituellement à travers ses cils“ (EF, 261). Ihre Wimpern machen ihren Blick weich – zumindest in Lord Ewalds Wahrnehmung; nur so wird er erträglich für ihn. Da sein Interesse und seine Leidenschaft für Alicia „purement contemplatifs“ sind (EF, 101, Herv. i. O.), betrachtet er sie nicht als Mensch, sondern als Kunstwerk. Sie ist also bereits ein Bild, be-

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Mitchell, W.J.T.: What Do Pictures Want? In: Ders.: The Lives and Loves of Images. Chicago: University of Chicago Press 2005, S. 28–56, hier S. 36. Mitchells Theorie soll hier nicht affirmiert werden, vielmehr soll gezeigt werden, dass sie durch ihre anthropomorphe Aufladung des Bildes in engem Bezug zum Narrativ des Totalen Kinos steht, das sich auch aus Blickmythen wie dem Medusamythos speist. 24  Gendolla: Die lebenden Maschinen, S. 211.

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vor ihr Abbild sie ersetzen wird. Ewalds petrifizierende Rhetorik besitzt eine eindeutig misogyne Tendenz: „Les références nombreuses à l’art et en particulaire à la statuaire renvoient la femme à la chose pétrifiée, la figeant ainsi dans une éternelle contemplation“.25 Ewald hat Alicia zu jener Venusstatue gemacht, der sie so ähnlich sieht – eine Geste, die ihm ihr verabscheuungswürdiges „être moral“ (EF, 101) auf Distanz hält und ihre Seele von ihrem Körper trennt: „[E]ntre le corps et l’âme de Miss Alicia, ce n’était pas une disproportion qui déconcertait et inquiétait mon entendement : c’était un disparate“ (EF, 77f., Herv. i. O.). In einer Verkehrung der pygmalionesken Beseelung findet hier eine Entseelung der Frau statt. Die Sprache belebt nicht wie im „Pygmalion-Effekt“,26 sie tötet. Dabei ist die Seelenlosigkeit der Bilder, auch des Filmbildes, ein zentraler Aspekt der literarischen Präfiguration des Kinos, der später unter anderem von Pirandello in seinen Quaderni di Serafino Gubbio operatore wieder aufgegriffen wird.27 Insofern werden Umdeutungen des Pygmalionmythos wiederkehren, wenn diese Studie weiter ins Narrativ des Totalen Kinos vordringt. Villiers war in seiner Zeit nicht der Einzige, der den misogynen Bildhauer mit dem aufkommenden Medium Film in Verbindung brachte.28 So ließ etwa der französische Mechaniker Jules Demaria seine Filmkamera unter dem Namen „Pygmalion“ patentieren.29 L’Ève future reproduziert antike Bildund Blickmythen indes nicht nur, sondern aktualisiert sie, um die Potenziale von Photographie und heraufdämmerndem Bewegtbild anhand dieser Topoi zu testen. Mit der Fülle an Klischees, die der Roman dafür aufbietet, legt er bereits offen, dass es sich um ein Schaustück handelt: Villiers stellt eine Virtuosität im Beherrschen der ästhetischen Traditionen aus, die seinen Roman zu einer Hypertrophie der Déjà-vus macht. Ziel dieser Geste ist es, eine Position gegenüber dem neuen Medium zu finden und zu behaupten. Dass diese nicht eindeutig ausfällt, bemerkt bereits Matthias Hausmann, der dem

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Grauby, Françoise: Le Corps de l’Artiste. Discours médical et représentations littéraires de l’artiste au XIXe siècle. Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2001, S. 209. 26  Siehe die umfangreiche Studie zum Pygmalion-Effekt von Victor I. Stoichita. 27  Siehe dazu Kapitel 2.1. 28  So hat schon Pygmalion seine Statue geschaffen, um mit ihr die realen Frauen zu ersetzen, die er als lasterhaft und verdorben betrachtet, vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 371. 29  Vgl. Trutat, Eugène: La Photographie animée. Paris: Gauthier-Villars 1899, S. 99, zit. n. Geimer, Peter: Das lebende Lichtbild – ‚Mumie der Veränderung‘. In: Ders. (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 162–181, hier S. 163.

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Roman ein ambivalentes Verhältnis zur Technik bescheinigt, das einerseits durch eine strikte Ablehnung gegen den Positivismus seiner Zeit, andererseits aber auch durch eine tiefe Faszination für technische Innovationen gekennzeichnet sei.30 Für die Ersetzung der Frau durch ihr eigenes Bild spielt – wie für den gesamten Roman – die Photographie inklusive ihrer Weiterentwicklungen in Photoskulptur und Kinematographie eine Schlüsselrolle. Sie ist nicht nur das Scharnier zwischen der realen und der künstlichen Frau, sondern auch das „Scharniermedium zwischen Text und Film“.31 Dass Villiers’ Text den Umweg über die starre Photographie nimmt, ehe er zu seiner Präfiguration des Bewegtbildes gelangt, erscheint auch medienhistorisch konsequent: Da die Bewegung das revolutionär Neue an der Kinematographie wie auch an der belebten Androide ist, muss die Frau erst einmal stillgestellt werden, um den entsprechenden Effekt der Belebung zu erzielen.32 Die Bildwerdung und Stillstellung der realen Frau unterstreicht also die schöpferische Potenz des Künstler-Erfinders.33 Indem der Roman diese Scharnierfunktion der Photographie ausstellt, nimmt er auch Bazins Argumentationslinie vorweg, der ebenfalls von der Ontologie des photographischen Bildes als Grundlage für die kine-

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Vgl. Hausmann: Die perfekte Frau im perfekten Körper, S. 144. Dieser Begriff stammt aus Valerie Kiendls Aufsatz über Cortázars Las babas del diablo und Antonionis Blowup, in dem die Autorin die Bewegung einer intermedialen Imitation nachverfolgt. Kiendl, Valerie: Cortázar – Cóntax – Antonioni. Wie ein Foto den Text bewegt und den Film anhält. In: Callsen, Berit / ​Hettmann, Sandra / ​Melgar Pernías, Yolanda (Hg.): Bilder, Texte, Bewegungen. Interdisziplinäre Perspektiven auf Visualität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 337–349, hier S. 338. 32  Der historischen Überlieferung zufolge zeigten auch die Gebrüder Lumière ihre ersten Filme so: Sie projizierten zunächst ein Standbild auf die Leinwand vor dem Publikum. Erst dann setzte sich der Projektor und mit ihm das Filmbild in Bewegung. Maksim Gor’kij, der zu jener Zeit als Korrespondent in Paris war, beschreibt das Schauspiel so: Es gehe ein Zittern und Vibrieren durch die Leinwand „und das Bild wird lebendig“. Siehe Gor’kij, Maksim: Flüchtige Notizen. Feuilleton, erschienen am 4. Juli 1896 in der Tageszeitung Nizegorodskij Listok. Dt. von Jörg Bochow. In: Kessler, Frank: Kintop 4. Anfänge des dokumentarischen Films. Basel: Stroemfeld 1995, S. 13–16, hier S. 13. Siehe zu dieser Praxis außerdem Gunning, Tom: An Aesthetic of Astonishment. Early Film and the (In) credulous Spectator. In: Williams, Linda (Hg.): Viewing Positions. Ways of Seeing Films. New Brunswick: Rutgers University Press 1995, S. 114–133. 33  Vgl. dazu Gunning: An Aesthetic of Astonishment, S. 129. Dieser Zusammenhang taucht schon in Künstlerromanen des 19. Jahrhunderts immer wieder auf, siehe dazu Rißler-Pipka: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion. 31 

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matographische Ästhetik ausgeht und dieses um Bewegung, Farbe, Ton und Relief ergänzt.34 Alicia tritt zunächst als Geisterphotographie im Roman auf; ihr erstes Erscheinen findet im Rahmen einer Séance statt. Edison trifft hierfür entsprechende Vorbereitungen: Er schließt die Fenster, die Läden ebenfalls und zieht zusätzlich die Vorhänge zu. „Les lourdes franges des rideaux se joignirent“ (EF, 112), der Raum ist also komplett abgedunkelt, sodass auch nicht der kleinste Lichtstreifen von draußen mehr hereinfallen kann. Anschließend sperrt der Erfinder noch die Tür seines Labors ab und entzündet das Alarmzeichen auf dem Dach des Gebäudes, das Besucher fern halten soll (vgl. EF, 112). Auf diese Weise „séparés […] du monde des vivants“ (EF, 112) beginnen die beiden Männer ihre Sitzung. In der Dunkelheit erwarten sie das Erscheinen der Bildfrau. Die Szene umwehen Magie und Mysterium: Zunächst zeichnet Edison „énigmatiquement force tirets et points de la main droite, en remuant les lèvres“ (EF, 112), dann verlangt er eine Photographie von Alicia Clary und es beginnt eine Séance, die nicht nur von einem Gespenst, sondern von einer Vor­ahnung des Totalen Kinos selbst heimgesucht wird. Mit Hilfe von Alicias Photographie lässt Edison erahnen, wozu die Kinematographie in der Lage sein wird: die täuschend echte Reproduktion der Wirklichkeit. Als Edison Alicias Photographie berührt, „il toucha le régulateur d’une batterie voisine. L’étincelle, sollicitée, parut entre la vis-à-vis des pointes d’une double tige de platine“ (EF, 113). Was zunächst wie eine technische Beschreibung klingt, wird alsbald zum Bericht einer spiritistischen Sitzung: L’instant d’après, un bruit sombre se fit entendre sous les pieds des deux hommes. Il roulait comme du fond de la terre, du fond d’un abîme, vers eux : c’était lourd et c’était enchaîné. On eût dit qu’un sépulcre, arraché aux ténèbres par des génies, s’exhumait et montait à la surface terrestre. Edison, gardant toujours la carte photographique à la main — et les yeux fixés sur un point de la muraille, en face de lui, à l’autre bout du laboratoire, — semblait anxieux et attendait. (EF, 113)

Auch Bazin diagnostiziert dem photographischen Bild einen Mumienkomplex, und tatsächlich rollt hier der Donner wie aus einem Grab herauf.35 Schließlich

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Vgl. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma? Paris: Éditions du Cerf 1958. Bazin verfasste 1945 zunächst seinen Aufsatz zur Ontologie de l’image photographique, ein Jahr später darauf aufbauend Le Mythe du Cinéma total. 35  Vgl. Bazin: Ontologie de l’image photographique, S. 11. Später wird Edisons Labor noch einmal mit einem „tombeau“ (EF, 269) verglichen.

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hat Edison sein unterirdisches Laboratorium dort gebaut, wo früher einmal Leichen lagen: „J’ai relégué pieusement dans le second les momies et les os poudreux de nos sachems : ce dernier, j’en ai fait boucher, — sans doute pour jamais, — l’ouverture funéraire.“ (EF, 162) Entsprechend zielt Edisons Schaffen auf eine Wiedergängerin: Hadaly ist nicht bloß eine Maschine, sondern „ranimée“ (EF, 46). Es geht Edison darum, sein Werk zu erwecken, „éveiller“ (EF, 58). Schon zu Beginn hat der Erfinder die Wiederbelebung Toter, von Venus bis Kleopatra, mittels einer „lanterne magique“ zu seiner künstlerischen Vision erklärt (vgl. EF, 65). Seine lebensechten Bilder sind eng mit dem Tod verknüpft, Alicias projizierter Photographie wohnt nicht umsonst etwas Gespenstisches inne. Trotz der magisch-spiritistischen Anmutung seiner Kunst36 richtet sich Edisons Ansinnen auf ein weltliches Ziel: Er will sich Reputation als Erfinder verschaffen und den Traum von einer mimetischen Reproduktion der Wirklichkeit voranbringen. Dabei sieht er sich selbst in der Tradition von Niépce und Daguerre (vgl. EF, 45). Edison ist damit einer der ersten, wenn nicht sogar der erste literarische Filmemacher, der vom Totalen Kino träumt. Als Zwischenschritt dorthin steht die projizierte Photographie der Alicia Clary, die im Rahmen jener gespenstischen Séance erscheint. Während Edison mit der Photographie in der Hand auf eine Stelle der Mauer starrt, wird Ewald Zeuge wie „tout l’éclat des lumières porta brusquement sur l’intérieur de ce lieu“ (EF, 114). Edison legt das photographische Abbild der jungen Frau „dans un récepteur“ (EF, 115), dann tut der Apparat sein Werk: […] puis, réglant de l’ongle un interrupteur, envoya s’enflammer une forte éponge de magnésium à l’autre bout du laboratoire. Un puissant pinceau de lumière éblouissante partit, dirigé par un réflecteur et se répercuta sur un objectif disposé en face de la carte photographique de Miss Alicia Clary. Au-dessous de cette carte, un autre réflecteur multipliait sur elle la réfraction de ses pénétrants rayons. Un carré de verre se teinta, presque instantanément, à son centre, dans l’objectif ; puis le verre sortit de lui-même de sa rainure et entra dans une manière de cellule métallique, trouée de deux jours circulaires. Le rais incandescent traversa le centre impressionné du verre par l’ouverture qui lui faisait face, ressortit, coloré, par l’autre jour qu’entourait le cône évasé d’un projectif, — et, dans un vaste cadre, sur une toile de soie blanche, tendue sur la muraille, apparut alors, en gran-

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Die magischen Aspekte macht insbesondere Stockhammer in seiner Interpretation des Romans stark, siehe Stockhammer, Robert: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur 1880–1945. Berlin: Akademie-Verlag 2000.

AUGUSTE DE VILLIERS DE L’ISLE-ADAM | L’ÈVE FUTURE deur naturelle, la lumineuse et transparente image d’une jeune femme […]. (EF, 115f., Herv. i. O.)

Die Passage scheint ganz auf suspense abzuzielen, wird doch die Spannung auf die visuelle Erscheinung so lange wie möglich hinausgezögert: Die umständliche technische Beschreibung des Ablaufs und der Objektive dient der Verzögerung dessen, was nun tatsächlich zu sehen sein wird.37 Erst ganz am Ende präsentiert der Text das Objekt der Begierde: „l’image d’une jeune femme“. Die vorher eingeschobene Beschreibung erscheint als deutlich unterstrichene Ausstellungsgeste gegenüber dem Bild, das durch den Apparat des Textes hervorgebracht wird. Villiers’ Roman scheint hier von einem Überbietungsgestus gegenüber dem visuellen Medium angetrieben. Allerdings spricht aus dieser Sequenz, die auf spätere Projektionen Edisons vorausdeutet, auch die Impotenz dieser rein photographischen und eben noch nicht kinematographischen Projektion. Insofern ist sie mitnichten der „Gründertext […] der ‚kinematographischen‘ Belebung“, wie Stoichita in seiner Lektüre dieser Passage vermutet.38 Schließlich ist hier zwar zunächst von einem Überschreiten, einer Öffnung und einem Hervortreten („traversa“, „l’ouverture“, „ressortit“, vgl. EF, 115f.) die Rede. Der „rais incandescent“ scheint alles zu durchdringen und durch die Linsen und Objektive sogar noch gebündelt und verstärkt zu werden. Auch der Text bündelt hier seine Potenz in kraftvollen Verben des Durchdringens. Doch am Ende folgt die Enttäuschung angesichts der Harmlosigkeit der hervorgebrachten Erscheinung: Die Projektion erscheint „dans un vaste cadre“ (EF, 116). Sie ist damit klar als bloßes „image“ (EF, 116) gekennzeichnet, für den Betrachter als solches erkennbar, und besitzt keine über das Bild hinausweisende Präsenz. Von einer Wiederbelebung und täuschend echten Reproduktion der Realität, wie Edison sie offenkundig im Sinn hat, ist diese projizierte Photographie noch weit entfernt. Die Penetration durch den Lichtstrahl, die als Teil des bildgebenden Verfahrens dargestellt wird, offenbart ihre Impotenz, indem ihr Produkt als zwar lebensgroßes, aber dennoch in einem Rahmen gefangenes Bild präsentiert wird, ähnlich einem herkömmlichen Gemälde. Georg Simmel schreibt über den Bilderrah-

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Wie übrigens der gesamte Roman zum Teil recht ausführliche retardierende Passagen aufweist, die der Spannungsverzögerung bis zum Erscheinen der belebten Androide Hadaly dienen, wie etwa Edisons umständliche Beschreibungen der Funktionsweise der Automate, auf die auch Hausmann hinweist, siehe Hausmann: Die perfekte Frau im perfekten Körper, S. 153. 38  Stoichita: Der Pygmalion-Effekt, S. 180.

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men, dieser „schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen“.39 Der opake Rahmen konterkariert die Transparenz des Lichtstrahls und stellt die Banalität des Bildes klar vor Augen. So erweist sich in der Ironie des Textes Edisons pompös inszeniertes Spektakel als grandioser Fehlschlag. Tatsächlich war auch für zeitgenössische Leserinnen und Leser eine solche Projektion nichts Außergewöhnliches, da es bereits ab Mitte der 1850er Jahre möglich war, mit einem der Laterna magica ähnlichen Verfahren auch Photographien zu projizieren. Der Text führt dieses Verfahren als einen Schritt in Richtung des Totalen Kinos an und disqualifiziert es gleichzeitig als ungenügend. Weder Infiltration noch Immersion sind angesichts dieses Bildes angezeigt. Edison kann damit nicht zufrieden sein, er hat ein anderes Ansinnen: „Eh bien ! puisque cette femme vous est si chère … Je vais lui ravrir sa propre présence.“ (EF, 124, Herv. i. O.)40 Der Erfinder kündigt an, die lebendige Frau durch eine künstliche ersetzen zu wollen, indem er die künstliche Frau mit jener Realpräsenz ausstattet, die er vorher der echten Frau geraubt hat. Sein Ideal ist eine totalkinematographische Kopie Alicias, die dann tatsächlich zum Zurückblicken fähig ist, weil dies der ultimative Beleg ihrer Lebensechtheit wäre: „Ce que nous voyons ne vaut — ne vit — à nos yeux que par ce qui nous regarde.“41 Allerdings – und darin liegt die heimliche Ironie in Villiers’ Roman – stellt der Text auf einer Ebene, die subkutan unter dieser Handlung liegt, die Frage, ob das zu ersetzende Objekt, Alicia, jemals wirklich anwesend war oder ob ihre Präsenz stets eine gespenstische und damit eine sich dem Vorhaben der beiden Männer subversiv entziehende war. So kommt Alicia, obwohl ihr Name ständig fällt und sogar ein Kapitel nach ihr benannt ist, zunächst nur in den Reden über sie vor und auch dort wie gezeigt nur augenlos oder zur Statue petrifiziert. Alicia besitzt weder eine Stimme noch eine eigene Sprache. Erst im letzten Buch des Romans tritt diese „grande et admirable jeune femme“ (EF, 270) selbst auf und leibhaftig den beiden Männern gegenüber. Unmittelbar vor diesem Auftritt wird Ewald Zeuge eines Spiegeltricks, der in seiner optischen Struktur und topographischen

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Simmel, Georg: Der Bilderrahmen, S. 101. Villiers benutzt in seinem Roman immer wieder Kursivierungen und Kapitälchen, die hier entsprechend wiedergegeben werden. Sollte eine Hervorhebung von mir hinzugefügt worden sein, wird dies an entsprechender Stelle vermerkt. 41  Didi-Huberman, Georges: Ce que nous voyons, ce qui nous regarde. Paris: Éditions de Minuit 1992, S. 9.

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Anlage auf das Dispositiv vorausdeutet, das die echte Frau durch eine künstliche ersetzen wird: Voici Miss Alicia Clary ! dit l’ingénieur en regardant vers l’angle obscur de la longue salle, auprès des tentures de la fenêtre. — Où donc ? demanda Lord Ewald. — Là, dans cette glace ! dit tout bas l’ingénieur en indiquant à Lord Ewald un vaste miroitement pareil à de l’eau morte sous une lueur lunaire. — Je ne vois rien, dit celui-ci. — C’est une glace toute particulière, dit l’électricien. Rien d’étonnant, d’ailleurs, à ce que cette belle personne m’apparaisse en son reflet, puisque je vais le lui prendre. (EF, 270)

Alicia ist bereits vor ihrer „transsubstantiation“ (EF, 108, Herv. i. O.) zum Bild geworden.42 Ihrem leibhaftigen Erscheinen geht ein phantasmagorischer Auftritt voraus. Stoichita bezeichnet diese Szene entsprechend als „Epiphanie der virtuellen Realität“.43 Edisons Ausruf „Voici Miss Alicia Clary!“ kündigt die „belle personne“ an, die in einem „angle obscur“ auftaucht. Alicia erscheint als „reflet“, als Abbild ihrer selbst. Edisons Zauberspiegel verdeutlicht noch einmal, dass Ewald und er diese Frau schon längst in ein Bild verwandelt haben, noch ehe die Androide endgültig Alicias Züge annehmen und sie ersetzen wird. Insofern zeigt dieses „glace toute particulière“ nicht nur die Zukunft als Bild, die Alicia bevorsteht, sondern auch ihre Vergangenheit, in der Ewald sie ebenfalls nur als Bild betrachtet hat. Die Oberfläche dieses todbringenden Wassers, mit der Edison den Spiegel vergleicht, erscheint als Parallelstruktur zur weißen Seide, auf der zuvor eine projizierte Tänzerin eine „danse macabre“ (EF, 199) vollführt hat: Wie die Frau in dem Film wird Alicia durch den Spiegel hindurch voyeuristisch seziert vom männlichen Blick, ohne selbst sehen zu können. In L’Ève future findet sich bereits angelegt, was Laura Mulvey fast neunzig Jahre später konstatiert: Im Kino gelte üblicherweise die Rollenverteilung von „woman as image, man as bearer of the look“.44 So setzt sich also eine Blicktradition fort, die schon vorher Teil des Narrativs war. Gerade die Literatur des 19. Jahrhunderts entwickelt in der direkten oder indirekten Ausein­

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Diesen theologischen Begriff, den Edison hier in Verkehrung der eucharistischen Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut zitiert, schlägt auch Hediger vor, um Bazins Terminus vom „transfert de réalité“ zu umschreiben, vgl. Hediger: Das Wunder des Realismus, S. 82. Insofern fassen sowohl Bazins Filmtheorie als auch Villiers’ Roman die Belebung des Filmbildes als Wunder auf. 43  Stoichita: Der Pygmalion-Effekt, S. 183. Er geht aber nicht weiter auf diese Spiegel­ szene ein. 44  Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema, S. 309.

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andersetzung mit den visuellen Künsten wie Malerei und Photographie eine „fascination with the human form“, die Mulvey im Hollywood-Kino wiederfindet.45 Insofern prägen Reste dieses Zauberspiegels den Kino-Diskurs nach wie vor. Die Faszination des Kinos gründet sogar wesentlich auf der Schaulust am menschlichen Körper: „The cinema offers a number of possible pleasures. One is scopophilia.“46 Allerdings zeigt Villiers’ Roman, dass diese Lust umso größer ist, wenn es sich um eine reale Frau handelt – oder um deren lebensechte Kopie, wobei das Begehren nicht beiderseits des Zauberspiegels gleich verteilt ist: „[P]leasure in looking has been split between active/male and passive/female.“47 Der Text führt nach dieser Epiphanie vor, wie sich die ungleich verteilten Blicke verhalten, wenn sich Betrachter und Objekt gegen Ende des Romans tatsächlich gegenübersitzen. Über der Tischgesellschaft, zu der Ewald und Edison Alicia geladen haben und bei der die Frau dann endlich ihren leibhaftigen Auftritt hat, liegt eine unheimliche Stimmung: „Une impression de solennité secrète jusqu’à l’occulte flottait dans l’entrecroisement des regards“ (EF, 275). Die geisterhafte Atmosphäre entsteht, wenn Blicke sich zu kreuzen drohen. Wobei fraglich ist, ob Alicias Blick den der beiden Männer überhaupt kreuzen kann, denn diese treffen Vorsichtsmaßnahmen, indem sie in ihre professionelle Betrachterrolle schlüpfen, während sie isst: „Edison regardait cette femme en la pénétrant du coup d’œil aigu de l’entomologiste“ (EF, 275). Allerdings trifft auch der fachmännische Blick des Erfinders die Frau nicht unvermittelt, vielmehr wird er durchkreuzt von den Reflexen, die die blitzenden Diamanten an ihren Fingern ausstrahlen (vgl. EF, 275). Indem Spiegelungen zwischengeschaltet werden, läuft der Mann nicht Gefahr, dass sich das Machtverhältnis umkehrt und er von der Medusa versteinert wird. Vielmehr zerlegt sein Auge diese Frau, die da vor ihm sitzt, in einzelne Eigenschaften und Merkmale, die er im Stillen oder zu Ewald gewandt kommentiert (vgl. EF, 275f.). Lord Ewald, der nicht den sezierenden Blick eines „entomologiste“ (EF, 275) besitzt, blickt Alicia hingegen gar nicht an, sondern „semblait uniquement préoccupé des paillettes irisées qui s’allumaient dans l’écume vermeille de sa coupe“ (EF, 277). Sein Blick sucht während des Abendessens Zuflucht in gläsernen und reflektierenden Gegenständen. Als bester Schutz vor dem Zu-

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Ebd., S. 307.

46 Ebd. 47 

Ebd., S. 309.

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rückblicken der Medusa erscheint der narzisstische Blick in den Spiegel.48 Später inspiziert er „les bagues de la jeune femme“ (EF, 278) und „ferma les yeux“ (EF, 283). Erst als Edison sie mit einer hypnotisierenden Geste schlafend macht, fällt die Anspannung von dem jungen Engländer ab und er kann wieder „parler comme si nous étions seuls“, als ob die Männer unter sich wären und nicht die Anwesenheit einer Frau fürchten müssten (EF, 285). Wenig später verschwindet Alicia für immer und wird durch ihre Reproduktion ersetzt. Die mimetische Bildfrau macht die echte Frau zum Desiderat des Textes: The artificial in the nineteenth century was indeed an ambivalent notion, combining as it did the age-old ability of art to imitate nature and the newly discovered, or at least newly imagined, ability of industry and technology to replace nature. And since ‚nature‘ had been aligned with ‚woman‘ at least since the beginning of the Romantic era, the artificial replacement of nature naturally entailed a replacement of woman.49

Die Reflexion darüber, dass die Verwirklichung der Totalkinematographie auf Kosten der Frau geht, kommt am Ende des Romans aus dem Mund der Bildfrau Hadaly selbst: „Celui qui a regardé une Andréide comme tu me regardes a tué la femme en lui“ (EF, 323). Allerdings stellt L’Ève future nur an seiner Oberfläche aus, wie die visuellen Künste in Verbindung mit moderner Technik die reale Frau ersetzen. Darunter offenbart der Roman, dass der literarische Text selbst dem Apparat zuvorgekommen ist und die reale Frau längst zu einer Leerstelle gemacht hat. Die Androide Hadaly wird so zu einem Zeichen, das auf keinen Referenten mehr verweist, da dieser dem Apparat bereits durch den Text entzogen wurde. Die reale Frau als Trägerin des Blicks ist in L’Ève future von vornherein abwesend, ihre Anwesenheit immer nur gespenstisch. Damit bietet sich eine unter die misogyne Oberfläche des Romans dringende Lektüre, die zeigt, wie sich der ikonoklastische Gestus des Textes selbst zerschlägt, weil das vermeintliche Original bereits ein Bild war. Die visuelle Qualität des Romans offenbart eine Leerstelle gerade dort, wo die reale Frau zu sehen sein müsste, und macht die

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Vgl. hierzu auch den kurzen Beitrag von Greenfeld, Anne: The Shield of Perseus and the Reflecting Frame: Mirrors of Absent Women in L’Ève future and Véra. In: Anzalone, John (Hg.): Jeering Dreamers. Villiers de l’Isle-Adam’s L’Ève future at our fin de ­siècle. A collection of essays. Amsterdam: Rodopi 1996, S. 67–76. Greenfeld kommt zu dem Schluss, dass in L’Ève future „women are noticeable absent (…), and are presented almost entirely indirectly“, S. 67. 49  Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 27f. (Herv. i. O.).

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männliche Schöpfungsgeste zur Farce. Hierin liegt die eigentliche Ironie von Villiers’ Roman. Peter Gendollas Interpretation, die von einer „Dekonstruktion“ der Frau spricht,50 greift deshalb zu kurz: Nicht die Frau wird vom Text dekonstruiert, sondern der Apparat, der die Frau zu ersetzen droht. So durchkreuzt der Text das kinematographische Dispositiv, das er selbst hervorbringt. 1.1.2 Evelyn: die abwesende Frau

Wie gezeigt wurde, stellt der Text die Impotenz der projizierten Standbild-Photographie Alicias rhetorisch aus – jedoch nur, um damit den nächsten Schritt auf dem Weg zum perfekten, weil lebensechten Abbild einzuleiten. Diesen Schritt repräsentiert eine andere abwesende Frauenfigur: Evelyn Habal. Eingeführt wird sie als klassische femme fatale, die als „vampire“ und „vipère“ nach dem Leben der Männer trachtet (EF, 193).51 Edison assoziiert Evelyn mit dem Animalischen (vgl. EF, 192) und betrachtet sie als so gefährlich, dass jedem Mann das Recht zukomme, eine solche Frau zu töten (vgl. EF, 192f.). Ihm zufolge ist Evelyn Habal eine „sauteuse d’enfer“ (EF, 192), hat sie doch seinen Freund Anderson durch ihre Verführungskünste ins Unglück gestürzt. Ihr „charme pervers“52 erwächst aus dem Abgrund zwischen Lustobjekt und Vanitasfigur, an dem sie sich bewegt. Anders als Alicia vermag sie den Männern offenbar wirklich gefährlich zu werden. Die Destruktion dieser femme fatale ist deshalb nicht nur legitimer, sondern notwendiger Schritt auf dem Weg zur idealen Frau. Edison betreibt diese mit Hilfe der Kinematographie. So wird Evelyn Habal unfreiwillig zu „the first screen star imagined by writers“.53 In L’Ève future nimmt diese Figur, die niemals in persona auftritt, eine Schlüsselrolle ein, weil sie im Verlauf der Handlung das ausschlaggebende Moment für die Ersetzung der realen durch eine künstliche Frau liefert. Zunächst nämlich scheint Lord Ewald skeptisch, was Edisons Plan angeht, die echte Alicia Clary durch ihr Ebenbild Hadaly zu ersetzen. Der Wendepunkt

50  51 

Vgl. Gendolla: Die lebenden Maschinen, S. 203. Zum Topos der femme fatale siehe: Hilmes, Carola: Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: Metzler 1990; sowie Stauffer, Isabelle: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle. Köln: Böhlau 2008. 52  Milner: La Fantasmagorie, S. 207. 53  Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 104.

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tritt ein, als der Erfinder dem jungen Mann Evelyn Habal präsentiert. Dabei ist es auch hier nicht die reale Frau, die Ewald sieht, sondern wiederum ein Bild von ihr – dieses Mal allerdings keine herkömmliche Photographie mehr, sondern tatsächlich ein kinematographisches Bewegtbild. Diesen ersten Kinofilm der Literaturgeschichte nahm Bazin zum Anlass, L’Ève future in seinem Aufsatz über den Mythos vom Totalen Kino zu zitieren.54 Allerdings geht er dabei über eine reine Illustration seiner Thesen nicht hinaus und auf die Bedeutung dieser Filmszene für den Roman selbst nicht ein. Dies soll nun nachgeholt werden. Das erste Kapitel des vierten Buches von L’Ève future ist mit „Miss Evelyn Habal“ überschrieben, das Buch selbst mit „Le Secret“ (vgl. EF, 177). Dabei sind die beiden Titel in Wirklichkeit synonym: Denn das vierte Buch widmet sich fast ausschließlich dieser Frauenfigur und der Aufdeckung ihres Geheimnisses, dem Geheimnis der Frau an sich. Edison führt seinem jungen Besucher am Beispiel Evelyn Habals vor, worauf die weibliche Verführungskunst gründet, ihr „teinte de lis“, „la grandeur calme et magnifique des yeux“, „l’éclat, le satiné, la nacre du col, la juvénilité de la chair des épaules et des bras frémissants : les lueurs d’albâtre de la belle gorge ondulante“ (EF, 204). Aber statt das Geheimnis der Frau zu lüften, zeigen die Ausführungen des Erfinders vor allem, wie die Frau überhaupt zur femme fatale stilisiert und damit mystifiziert wird: Lilien, Perlmutt, Alabaster und ein Schwanenhals. Die Aufzählung dieser Attribute offenbart die femme fatale als konstruiertes Stereotyp, als (männliche) Imagination und nicht etwa als Beschreibung einer realen Frau. Die entscheidende Szene, in der Evelyn Habal die Hauptrolle spielt, ist eingebettet in eine kurze Binnenerzählung über die Vergangenheit dieser Frau. An ihrem Höhepunkt stehen zwei Filmsequenzen, die Edison selbst von ihr aufgenommen haben will. Zunächst berichtet der Erfinder von seinem Freund Edward Anderson, der dieser femme fatale verfallen sei und seine Familie wegen dieser Frau verlassen habe, die ihn letzten Endes ins Unglück gestürzt habe. Sein Monolog über das verdorbene Wesen Evelyn Habals ist ausufernd, aber den ultimativen Beweis erbringt erst die Projektion eines farbechten Bewegtbildes mit Ton. Sie liefert das Indiz für die Lasterhaftigkeit nicht nur dieser, sondern aller Frauen und krönt damit Edisons Ausführungen. Er startet die Vorführung, indem er an einer Schnur zieht, die von der Decke hängt (vgl. EF, 199). Wie bereits bei der Projektion von Alicias Photo-

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Vgl. Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 25.

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graphie steht am Beginn also die Geste eines Künstlers, der sein Werk präsentiert, oder eines Zauberers, der mit einem effektvollen Handgriff seinen nächsten Trick einleitet. Das Bild erscheint nicht einfach von sich aus, sondern auf Geheiß und als Schöpfung des Mannes. Der nutzt dafür das starke Licht einer „lampe astrale“ (EF, 199) und erzeugt so „l’apparition en sa taille humaine d’une très jolie et assez jeune femme rousse“ (EF, 199). Im Gegensatz zur vorher gezeigten Photographie Alicia Clarys bewegt sich diese Erscheinung und ist, nach einem erneuten kurzen Eingreifen des Erfinders, sogar mit Ton ausgestattet: La vision, chair transparente, miraculeusement photochromée, dansait, en costume pailleté, une sorte de danse mexicaine populaire. Les mouvements s’accusaient avec le fondu de la Vie elle-même, grâce aux procédés de la photographie successive, qui, le long d’un ruban de six coudées, peut saisir dix minutes des mouvements d’un être sur des verres microscopiques, reflétés ensuite par un puissant lampascope. Edison, touchant une cannelure de la guirlande noire du cadre, frappa d’une étincelle le centre de la rose d’or. Soudain, une voix plate et comme empesée, une voix sotte et dure se fit entendre ; la danseuse chantait l’alza et le holè de son fandango. Le tambour de basque se mit à ronfler sous son coude et les castagnettes à cliqueter. Les gestes, les regards, le mouvement labial, le jeu des hanches, le clin des paupières, l’intention du sourire se reproduisaient. (EF, 199f.)

Die Erscheinung, die hier beschrieben wird, ist zunächst visueller Natur. Wie Gendolla bemerkt, führt Edison „seinen Beweis im Wesentlichen als optische Veranstaltung“.55 Er stützt sich auf den „Beweischarakter“ als „eine der wesentlichen Qualitäten der Photographie“, um die frevelhafte Frau zu denunzieren.56 Der Text unterstreicht den realistischen Charakter der Vorführung dadurch, dass es sich um eine Farbphotographie handelt, die einen transparent-fleischlichen Leib vor Augen stellt. Neben der Farbe gehört auch der Ton zu dieser Projektion; Villiers’ Roman imaginiert hier den Tonfilm, lange bevor dieser tatsächlich umsetzbar wurde.57 Für Alain Boillat ist L’Ève future deshalb „profondément marquée par l’imaginaire lié à la technique d’inscription des sons et à leur couplage avec l’image“.58 Vor allem die Reproduktion der

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Gendolla: Die lebenden Maschinen, S. 203. Kiendl: Cortázar – Cóntax – Antonioni, S. 176. 57  Zur Ära des Tonfilms siehe auch das Kapitel zu Huxleys Brave New World. 58  Boillat, Alain: L’Ève future et la série culturelle des „machines parlantes“. Le statut singulier de la voix humaine au sein d’un dispositif audiovisuel. In: L’Ève future et la 56 

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menschlichen Stimme „dans le cas des automates comme au sein du dispositif cinématographique, affirme la présence de l’humain dans la machine“.59 Die Präfiguration des Mediums, die Villiers hier vor Augen stellt, übersteigt die technischen Möglichkeiten seiner Zeit bei weitem; so waren weder die Kinematographie noch die Farbphotographie erfunden beziehungsweise letztere nur über den Umweg der händischen Nachkolorierung erreichbar. Indem die Farbe hier „miraculeusement“ zum Bild selbst gehört, scheint dieses Bewegtbild bereits vom Wunder des Totalen Kinos gezeichnet. Edisons Erfindung reproduziert die Frau lebensecht, aber untot: „Au surplus, tenez, sa mort importe peu : je vais la faire venir, comme si de rien n’était.“ (EF, 198) Allerdings gilt der Eindruck von Realpräsenz im Fall der Evelyn Habal nur eingeschränkt, auch sie ist wie schon die Projektion von Alicias Photographie ein retardierender Zwischenschritt auf dem Weg zur Totalkinematographie. Wie bei der ersten Projektion führt der Text auch dieses Mal wieder die Unzulänglichkeiten und Schwächen des Dispositivs im Bezug auf die Ersetzung der realen Frau durch die künstliche vor. Evelyns Stimme, die der Reproduktion eigentlich mehr Überzeugungskraft verleihen soll, klingt „plate et comme empesée“, „sotte et dure“ (EF, 200), eher wie von einer Maschine als von einem lebenden Menschen. Am entscheidendsten allerdings: Nach wie vor erscheint das Bild „dans un cadre d’ébène“ (EF, 199). Dieser tiefschwarze Rahmen ist nicht zu übersehen, zumal Edisons Eingriff („touchant une cannelure de la guirlande noire du cadre“, EF, 199f.) während der Vorführung ausdrücklich nochmals auf ihn hindeutet. So erscheint auch dieses Bild als scheiternder Versuch, dem Traum vom Totalen Kino näher zu kommen. Wie schon bei Alicia bleibt auch Evelyns Bild als solches markiert durch einen Rahmen und erreicht nicht jene Realpräsenz, die Edison versprochen hatte.60 série culturelle des „machines parlantes“. Le statut singulier de la voix humaine au sein d’un dispositif audiovisuel, 17 (2006), S. 10–34, hier S. 11, http://www.erudit.org/revue/ cine/2006/v17/n1 / ​016321ar.pdf. Zu bemerken ist hierzu auch, dass Edison im Roman als „phonograph’s papa“ (EF, 41) bezeichnet wird; der reale Edison hat 1877 den Phonographen erfunden und patentieren lassen. Er experimentierte mit dem Gerät, setzte es in Automaten, sogenannte talking dolls, die Gedichte und Lieder rezitierten und als zeitgenössische Attraktion galten. Sadoul zufolge war es beinahe, als suche die reproduzierte Stimme schon früh nach einem künstlichen Torso, um ihre ganze Faszination entfalten zu können. Vgl. Sadoul: Histoire du cinéma mondial des origines à nos jours, S. 11. Damit lässt sich die Entwicklung des Phonographen dem Narrativ des Totalen Kinos zuordnen. 59 Boillat: L’Ève future et la série culturelle des „machines parlantes“, S. 11. 60  Vgl. Grauby, Françoise: Le Corps de l’Artiste. Discours médical et représentations littéraires de l’artiste au XIXe siècle. Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2001, S. 213.

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Die „complétude audiovisuelle“61 gelingt dem Erfinder erst mit Hadaly. Anders als bei der gelingenden Täuschung durch die Androide,62 legt im Falle der Evelyn Habal der Text gleich offen, dass es sich um „photographie successive“ handelt, die gerade einmal zehn Minuten der Bewegungswiedergabe ermöglicht. Der Apparat ist hier also keineswegs transparent, sondern tritt im Gegenteil in den Vordergrund, um Edisons Beweisführung zunächst zu stützen. Indem nämlich der Text den Begriff der „photographie successive“ starkmacht und damit auf die Funktionsweise des Projektionsapparats verweist, unterstreicht er die Indexikalität des Abbildes und damit implizit seine Wahrhaftigkeit.63 Edison hat ja die Absicht, das Geheimnis der Frau mit Hilfe des Apparats als einer Art Wahrheitsserum zu lüften, „indem ihr Äußeres und Inneres auseinandergenommen werden“ ebenso wie Bewegung von der Photographie in Einzelbilder zerlegt wird.64 Sein Apparat soll das wahre Wesen der Frau offenlegen. Die Serienphotographie, auf die Villiers hier Bezug nimmt, war am Ende des 19. Jahrhunderts eine Aufsehen erregende Erscheinung, die eng mit einem oft wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse verbunden war. Die Experimente von Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey sorgten in den 1880er Jahren für Furore.65 In ihnen offenbart sich allerdings ein Paradox, das auch Edisons Erfindungen heimsucht und seinen Positivismus als Farce entlarvt: Die Lebensähnlichkeit der Projektion ist nur erreichbar, wenn man sich einer Illusion hingibt; denn die scheinbar bewegten Bilder sind in Wirk-

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Vgl. Boillat: L’Ève future et la série culturelle des „machines parlantes“, S. 25. Siehe dazu das folgende Kapitel. 63  Zur Indexikalität des Filmischen, die vor allem im Bezug auf Bazin und seinen Begriff des transfert de réalité zentral ist, siehe Bazin: Ontologie de l’image photographique, v. a. S. 16 und Gunning: Whats the Point of an Index, S. 39–50. 64  Gendolla: Die lebenden Maschinen, S. 203. 65  1894 erscheint Mareys Schrift Le Mouvement, in der er die Erkenntnisse seiner ab 1882 vor allem photographischen Experimente zur Bewegung von Menschen und Tieren einer breiten Öffentlichkeit vorstellt. Seine „méthode graphique“ ist Zeugnis und Inspiration zugleich für einen Zeitgeist, der von der Aufnahme und Reproduktion von Bewegung (und damit auch Leben) fasziniert ist. Siehe Marey, Étienne-Jules: Le Mouvement. (Préface d’André Miquel, basierend auf der Originalausgabe: Éditions Masson 1894) Nîmes: Éditions Jacqueline Chambon 1994. Bereits 1879 entwickelte Muybridge das Zoopraxiskop zur Projektion chronophotographischer Bilderfolgen, deren berühmteste ein galoppierendes Pferd zeigt. Ebenfalls populär war in jener Zeit das lampascope, ein Projektor im Stil einer Laterna magica, der in vielen französischen Haushalten zur Unterhaltung benutzt wurde. Edison kombiniert diese Techniken in seiner Projektion der Evelyn Habal.

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lichkeit Einzelaufnahmen, die lediglich die Trägheit des Auges ausnutzen.66 Man bekommt das realistische Bild, das „image vivante“ (EF, 201), also nur um den Preis der Illusion und der freiwilligen Selbsttäuschung.67 Die Reproduktion ist bei Villiers somit zwar teilweise noch Ergebnis eines künstlerischen Schöpfungsprozesses – aber eben nicht nur. Ihre Lebensähnlichkeit ist immer schon Effekt eines Apparats und nicht bloß Index. Dass der Erfinder hier eine tanzende Frau in Szene setzt, ist indes kein Zufall, sondern verdeutlicht nur die Diskrepanz zwischen scheinbarer Lebendigkeit und der Eindeutigkeit ihrer Rahmung als Kunstwerk. Dabei spielt der Tanz für das frühe Kino eine herausragende Rolle, war doch die Ästhetik jener Zeit geprägt von einer tiefen Faszination für Bewegung. Tanz repräsentiert den „Mythos einer neuen Weiblichkeit“, der sich in der Faszination für Frauenfiguren wie die Mänaden oder Nymphen ausdrückt.68 Im Tanz wie in der Literatur, im Theater wie im beginnenden Film manifestieren sich zu jener Zeit die Symptome einer Wahrnehmungskrise, die die Legitimation moderner Ästhetik hinterfragt.69 Spätestens um 1900 erscheint die „Vorstellung von der Einheit des Subjekts“ problematisch, Körperbilder erweisen sich als Konstruktionen.70 Die „Entfremdungs-Erscheinungen“,71 die Gabriele Brandstetter zufolge den Tanz des frühen 20. Jahrhunderts prägen, übertragen sich auf die Rezeptionserfahrung der ersten Kinofilme: Das Transitorische, Flüchtige ist dem Tanz als exponierter Spielform der darstellenden Künste grundsätzlich zu eigen […]. Der Tanz verkörpert mithin ein Grundmuster der Ästhetik der Moderne und tritt damit aus seiner Hintergrundposition in der Hierarchie der Künste plötzlich ins

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Geimer weist darauf hin, dass bereits den Zeitgenossen der ersten Filmexperimente bewusst und bekannt war, dass die Bewegungsdarstellung im Film auf dem Nachbildeffekt und der Trägheit des menschlichen Auges basierte und die Bewegung somit selbst eine optische Illusion war, siehe Geimer, Peter: Das lebende Lichtbild – ‚Mumie der Veränderung‘. In: Ders. (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 162–181, hier S. 171f. 67  Dasselbe gilt heute noch fürs Kino. Siehe dazu Koch, Gertrud: Müssen wir glauben, was wir sehen? Zur filmischen Illusionsästhetik. In: Dies. (Hg.): …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 53–70. 68  Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt: Fischer 1995, S. 22. 69  Vgl. ebd., S. 18. 70  Ebd., S. 27. 71  Ebd., S. 32.

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Der Traum vom Totalen Kino Zentrum: Er wird zum Symbol der Moderne und zum Schlüsselmedium aller Künste, die das neue technische Zeitalter als eine durch Bewegung definierte Epoche zu reflektieren suchen.72

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Die Moderne zeichnet sich durch Bewegung aus – dieser Selbstbeobachtung trägt Villiers’ Edison Rechnung, indem er die Photographie in Bewegung versetzt.73 Die Ästhetik des Tanzes ist geprägt von Veränderungen und einem „poetischen Spiel der Gestaltfindung und Gestaltlöschung, [welches] in das Zentrum ästhetischer Produktion und Reflexion“ rückt.74 Das Metamorphotische überträgt sich in L’Ève future auf den Film: Die tanzende Frau verwandelt sich und offenbart in dieser technisch inszenierten Metamorphose scheinbar ihr wahres Wesen. Denn Edisons Vorführung besteht aus zwei zusammengehörenden Projektionen. Während die erste, bereits besprochene, Evelyn Habal als schöne Tänzerin zeigt, folgt in der zweiten das eigentliche Argument des Erfinders gegen die Frauen: Nachdem er erneut an der Schnur zieht, wird eine zweite Leinwand hinter der ersten sichtbar, auf die nun ein anderes Bild fällt, eine Art ‚wahres Spiegelbild‘ der Tänzerin: […] l’apparition d’un petit être exsangue, vaguement féminin, aux membres rabougris, aux joues creuses, à la bouche édentée et presque sans lèvres, au crâne à peu près chauve, aux yeux ternes et vrille, aux paupières flasques, à la personne ridée, toute maigre et sombre. Et la voix avinée chantait un couplet obscène, et tout cela dansait, comme l’image précédente, avec le même tambour de basque et les mêmes castagnettes. (EF, 201)

Wieder singt und tanzt die Erscheinung „comme l’image précédente“ (EF, 201). Edison bestätigt: „[C]’est la même“; und fügt hinzu „c’est la vraie. C’est celle qu’il y avait sous la semblance de l’autre“ (EF, 201, Herv. i. O.). Der Apparat verspricht, hinter die Zeichen zu blicken, auf ihren wahren Gehalt. Als Vanitasfigur offenbart die zweite Frau die Todesdrohung, die dem Medium Film in-

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Ebd., S. 35. Tatsächlich trug eine der ersten Vitascope-Projektionen, die der reale Thomas Alva Edison am 23. April 1896 in der Koster & Bial’s Music Hall in New York präsentierte, den Titel Serpentine Dance. Vgl. Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 103. Wie Lathers ausführt, war im Diskurs des späten 19. Jahrhunderts die Tänzerin gleichbedeutend mit der Prostituierten und damit eine besonders prekäre Frauenrolle in der Gesellschaft. Dass Filmemacher Tänzerinnen früh zu ihren prädestinierten Objekten machten, erscheint auch deshalb folgerichtig, weil Prostituierte schon vorher häufig für Gemälde und Skulpturen Modell standen (vgl. ebd.). 74  Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 38. 73 

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newohnt. Die „danse macabre“ (EF, 199), als Totentanz seit dem Mittelalter ein populäres Motiv bildender Kunst, erfährt hier eine Aktualisierung im audiovisuellen Bewegtbild.75 Diese „sorcière“ (EF, 201), wie Lord Ewald sie angewidert nennt, erscheint keineswegs mehr lebendig oder auch nur lebens­ ähnlich. Klein, blutleer und nur „vaguement féminin“ ist diese Erscheinung vor allem eine Darbietung der phantasmagorischen Potenz des Dispositivs: Wenn der Betrachter die „chair transparente“ (EF, 199) aus der ersten Version durchschaut, erkennt er dahinter keine lebendige Frau, sondern ein Schreckgespenst. So enthüllt Edison nicht das wahre Wesen der Frau, sondern den Tod als das Unheimliche der Kinematographie. Evelyn Habal besitzt wie die Allegorie der „Frau Welt“ eine „entstellte Rückenseite, die scharf den falschen Schein der Welt sinnbilden sollte“.76 Wie diese steht sie in Bezug zum Teufel, sie lockt den Menschen für ihn zur Sünde.77 Damit rekurriert Villiers’ literarische Bewegtbild-Premiere auf eine mittelalterliche Allegorie, deren Wurzeln Wolfgang Stammler bis zur „Weltangst“ im antiken Griechenland zurückverfolgt.78 Ihre Ikonographie überblendet Venus- mit Voluptas-Darstellungen und präfiguriert damit das phantasmatische Potenzial filmischer Ästhetik bei der Generierung neuer Narrative. Für Villiers wird das Bewegtbild zum Mittel der Darstellung für den ewigen „Kampf des Menschen zwischen Diesseits und Jenseits, die Polarität zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden“.79 Vom Totalen Kino ist diese Filmvorführung indes weit entfernt; sie zielt nicht auf eine Reproduktion der Realität, sondern auf die Erkenntnis einer allegorischen, einer latenten Wahrheit. Damit läuft diese Projektion dem Projekt der Totalkinematographie sogar ein Stück weit zuwider, denn im Totalen Kino gilt das Gebot der unmittelbaren Präsenz des Reproduzierten.80 Kein Anspruch auf Mimesis treibt diesen Apparat an, son75  Interessant ist, dass das Motiv des Totentanzes auch für den frühen Film eine Inspirationsquelle darstellte, so drehte Urban Gad 1912 einen Film mit dem Titel Der Toten­tanz und der berühmten Schauspielerin Asta Nielsen in der Hauptrolle, die uns später wieder begegnen wird. Der Film ist nur fragmentarisch erhalten, siehe Brennicke, Ilona / ​Hembus, Joe (Hg.): Klassiker des deutschen Stummfilms 1910–1930. München: Goldmann 1983, S. 225. Siehe dazu auch: Nitsche, Jessica (Hg.): Mit dem Tod tanzen. Tod und Totentanz im Film. Berlin: Neofelis 2015. 76  Stammler, Wolfgang: Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie. Freiburg: Universitätsverlag Freiburg in der Schweiz 1959, S. 46. 77  Vgl. ebd., S. 48f. 78  Ebd., S. 8. 79  Ebd., S. 76. 80  Siehe dazu auch das Kapitel 3.1.3 dieser Studie.

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dern ein aufklärerischer Impetus, hinter den Schein zu blicken. Edison ist sich sicher, „si Anderson l’eût vue de la sorte pour la première fois“ (EF, 202), hätte er nicht wegen dieser Frau seine Familie verlassen. Der Apparat, der die Allegorie erzeugt, hätte ihn davor bewahrt, sein Leben zu verspielen, er hätte ihm aufgezeigt, wer ihn da wirklich zu verführen versucht: der Tod. Dieser Wahrheitsanspruch wird in L’Ève future allerdings gegengeschnitten mit der Illusion, die dem kinematographischen Dispositiv selbst inhärent ist. Ein Illusionsmedium soll hier eine Illusion offenlegen, „l’Illusion est tenace“ (EF, 202). Dabei verteidigt Edison seinen Apparat noch, indem er ihn gegen die Wortverdreherei der Literatur in Stellung bringt: „Ce n’est plus qu’une question de vocabulaire ; la maigreur devient de la gracilité, la laideur du piquante, la malpropreté de la négligence, la duplicité de la finesse, et caetera, et caetera.“ (EF, 202) Filmische Illusion hingegen wirkt anders auf den Rezipienten: Il est intéressant de constater qu’à aucun moment le statut illusoire de la représentation audiovisuelle ne se trouve mis en cause par les personnages qui assistent au spectacle, quand bien même la démonstration vise précisément à révéler l’apparence trompeuse du sujet filmé. L’illusion de la représentation produite par le dispositif est en quelque sorte déplacée sur la nature du représenté, selon un processus qui s’apparente à un phénomène d’immersion du spectateur de cinéma dans la diégèse filmique.81

Die Illusion, die als Bewegungsillusion den Kern der kinematographischen Ästhetik ausmacht, stellt den Realitätseindruck des Films zugleich in Frage. Gertrud Koch beschreibt die „komplexe Verschränkung von Glauben und Sehen“ in der filmischen Illusionsästhetik so: „[…] wir müssen z. B. Bewegung auf der Leinwand sehen, auch wenn wir glauben, dass Film aus Standbildern besteht, die lediglich Phasen einer Bewegung enthalten, aber nicht diese selbst“.82 Demnach ist diese Form der „objektiven Illusion“ für den Film an sich zentral, womit sich das Kino als ein Illusionsmedium erweist, weil seine ganze Ästhetik abhängt von einer optischen Täuschung, „die sich unabhängig vom Willen des Betrachters einstellt“.83 Insofern ist bereits „die ‚aisthetische‘ Dimension des Films […] die illusionskonstituierende“.84 Indem L’Ève future diese Illusion offenlegt, weil der Text die vermeintliche Bewegung der Tänzerin bereits von vornherein als „photographie successive“ (EF, 199) dekonstruiert, 81 Boillat: L’Ève future et la série culturelle des „machines parlantes“, S. 20. 82  Koch: Müssen wir glauben, was wir sehen?, S. 53. 83  84 

Ebd., S. 56. Ebd., S. 57.

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wird deutlich, dass Edisons scheinbar ‚objektive‘ Filme ihrerseits eine Illusion erzeugen. Die Entlarvung der „fine mouche“ (EF, 202), die Teil eines epistemologischen Projekts zu sein scheint, erweist sich in Wirklichkeit als Teil von Edisons misogyner Propaganda, zu deren Verbreitung er das kinematographische Dispositiv nutzt. So spielt auch der Untergrund, auf den die beiden Filme projiziert werden, eine wichtige Rolle. Anders als die lebensgroße Standbild-Photographie von Alicia Clary projiziert Edison die Filme von Evelyn Habal nicht auf glatte, weiße Seide, sondern auf unterschiedliche Bildträger: Der erste Film mit der schönen Tänzerin erscheint auf „une longue lame d’étoffe gommé, incrustée d’une multitude de verres exigus, aux transparences teintées“ (EF, 199). Vor Beginn der zweiten Projektion tauscht Edison diese Leinwand allerdings aus und ersetzt sie durch „une seconde bande héliochromique“ (EF, 201), die nun den Untergrund für die „danse macabre“ (EF, 199) der alten Hexe bildet. Im Sinne von Edisons Argumentation ist die zweite Leinwand transparent wie Sonnenlicht, während die erste Leinwand über und über mit Spiegeln übersät ist. So stehen sich hier reflektierende Spiegelfläche und transparente Lichtfläche gegenüber, was suggeriert, dass die erste Projektion für den Betrachter undurchsichtig, die zweite aber durchsichtig auf die Wahrheit hin ist. Allerdings spiegeln sich in den „verres exigus“ (EF, 199) vor allem die Betrachter selbst: Das Bild der femme fatale offenbart sich als narzisstische Spiegelung der Wünsche der männlichen Betrachter. Schließlich scheint sich Lord Ewald „avec une muette surprise“ sogleich in die Tänzerin zu verlieben und auch Edison betrachtet sie „dans une extase d’amoureux“ (EF, 200). Während sie tanzt und singt, schweigen die Betrachter und stehen still. Wirft die Leinwand also womöglich nur zurück, was die Betrachter zu sehen begehren? Dann verhindert sie erneut den Blick des Mannes auf die Frau: Wie im Fall von Alicia, die von Ewald nie direkt, sondern immer über Spiegel oder reflektierende Oberflächen angeschaut wird, fällt hier der Blick des Mannes auf eine spiegelnde Fläche, die keineswegs das Bild einer Frau reproduziert. Was die Kinematographie hier tatsächlich entlarvt, ist nicht die Künstlichkeit der lebenden Frauen, sondern die Künstlichkeit des Bildes, das der Mann sich von der Frau macht. Das „éblouissement“ (EF, 210), das der Erfinder zu dekonstruieren meint, entpuppt sich als die eigentliche Falle für den Mann: Er wird von seinem eigenen Begehren geblendet. Edison versucht, die „photographie successive“ in den Dienst seiner Mission zu stellen, Ewald über das wahre Wesen der Frau aufzuklären. In Wirklichkeit aber arbeitet der Apparat gegen ihn und fördert seine Ideologie zu Tage, die weder objektiv noch wahr ist. Denn gerade der vermeintliche Vi-

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deobeweis offenbart sich als Konstrukt des Mannes; die vom Erfinder kon­ struierte Bildfrau führt nicht die Lasterhaftigkeit der realen Frau vor, sondern die Misogynie ihres Schöpfers. Ähnlich wie Barthes später in La chambre claire feststellen wird, kommt der Photographie ihre Beweiskraft abhanden, sobald sie laufen lernt, weil sie dann den Charakter einer Illusion annimmt und das Noema des „Ça a été“ verliert.85 Wie schon Alicia ist auch Evelyn nie anwesend, sodass sich der misogyne Gestus des Mannes nicht gegen die Frau richtet, sondern nur gegen das Bild, das er sich von ihr gemacht hat. Er ersetzt nicht die künstliche Frau durch das, was die Frau „en réalité“ (EF, 192, Herv. i. O.) ist, wie er es verspricht; sondern das illusionistische Bild der femme fatale durch ein ebenso illusionistisches Bild der „sorcière“ (EF, 201). Die Kinematographie spielt in dieser Konstellation eine Doppelrolle: Einerseits vervollkommnet sie das Bild der Frau, das der Mann sich zu schaffen trachtet, ermöglicht diesem Bewegung und Lebensähnlichkeit. Andererseits offenbart sie, dass das, was er abzubilden und zu ersetzen gedenkt, seinerseits bereits ein Bild ist. Damit erfüllt auch dieser Projektionsapparat noch nicht die Absicht des Erfinders: Erst in der reflektierenden Oberfläche der künstlichen Bildfrau Hadaly erschafft Edison schließlich eine zuverlässige Wunscherfüllungsmaschine. 1.1.3 Halady: Totales Kino

Die dritte Frau, jene, die in L’Ève future die Hauptrolle spielt, ist die Androide Hadaly. Als das künstliche Wesen, das die reale Frau ersetzen soll, repräsentiert sie allerdings weniger eine Frau als vielmehr die durchgestrichene Weiblichkeit. In den meisten Interpretationen des Romans wird Hadaly unter dem Aspekt des Maschinenmenschen oder Automaten betrachtet.86 Interessanter als diese meist motivgeschichtlichen Betrachtungen erscheinen jedoch Lektüren der Figur, die auf ihren phantasmatischen Gehalt eingehen, wie etwa jene von Deborah Conyngham, der zufolge Hadaly „à la fois la réalisation de

85  86 

Barthes: La chambre claire, S. 176. Eine besonders fundierte Analyse unter diesem Blickwinkel hat Kai Mikkonen vorgenommen: Mikkonen: The Plot Machine. Etwas älter, aber ein einschlägiges Standardwerk ist außerdem die ebenfalls bereits zitierte Studie von Noiray: Le Romancier et la machine. Band II: Jules Verne – Villiers de l’Isle-Adam.

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l’imaginaire et l’incarnation de l’idéal“ ist.87 Auch Milner stellt in seiner Arbeit zur Phantasmagorie in Bezug auf Villiers’ Roman fest, dass „le thème de la réduplication apparaît comme le cœur même de l’œuvre“.88 Außerhalb des Fokus der bisherigen Forschung liegt allerdings die Bedeutung der Androide aus L’Ève future für das Narrativ des Totalen Kinos. Dabei verwirklicht Villiers’ Erfinder in ihr das Ziel einer Reproduktion der lebendigen Frau, die ununterscheidbar ist von ihrem Modell, und damit den Traum der Totalkinematographie. Bernhard Dotzler, der als einer der wenigen das kinematographische Prinzip in der Androide erkennt, schreibt: „Kinematographie realisiert die An­ droide, nur nicht auf eine Leinwand, sondern auf den Körper der Automaten projiziert.“89 Allerdings ist das Bild der Frau hier nicht auf den Maschinenleib projiziert, vielmehr ist dieser selbst Teil einer dreidimensionalen Projektion. Hadaly ist eine „illusion parfaite du monde extérieur avec le son, la couleur et le relief“.90 Zwar liegt dem Verfahren ihrer Herstellung wesentlich die Photographie zugrunde, aber Lathers greift dennoch zu kurz, wenn sie die Androide als „a walking silver plate“ oder „walking photograph“ bezeichnet.91 Diese Beschreibung wird ihr nicht gerecht; Hadaly ist vielmehr die Synthese aus Edisons bisherigen Erfindungen: Phonograph, Telefon, Mikrophon, elektrisches Licht und Projektor werden in ihr zu einem neuen Medienverbund verschaltet und ergeben eine Art synästhetisches Gesamtkunstwerk.92 Hadaly ist eine „machine humaine“ (EF, 147), ein wandelndes Oxymoron. Diese Maschine ist ihrem Anschein nach menschlich, erreicht diese Menschenähnlichkeit aber paradoxerweise aufgrund vollendeter Technik. Als „machine à visions“ (EF, 157) steht zwar weiterhin ihre visuelle Qualität im Vordergrund, aber Hadaly erscheint „vivante comme vous et moi“ (EF, 155), allein weil sie das Leben so täuschend echt nachahmt. In dieser Simulation liegt ihre Verwandtschaft

87 

Conyngham, Deborah: Le silence éloquente. Thèmes et structure de L’Ève future de Villiers de l’Isle-Adam. Paris: Librairie José Corti 1975, S. 13 (Herv. i. O.). 88  Milner: La Fantasmagorie, S. 216. 89  Dotzler: Diskurs und Medium, S. 127. 90  Bazin: Le Mythe du Cinéma total, S. 24. 91  Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 90 und 93. 92  Zum Gesamtkunstwerk-Konzept und seiner Anschlussfähigkeit an das Narrativ des Totalen Kinos siehe den kurzen Exkurs im Kapitel II. Kittler weist darauf hin, dass eine „Verbundschaltung“ mehrerer Medien erst durch die „medientechnische Ausdifferenzierung“ um 1900 möglich wurde: „Nachdem die Speicher für Optik, Akustik, Schrift getrennt, mechanisiert und durchgemessen waren, konnten ihre diversen Datenflüsse auch wieder zusammenfließen.“ Siehe Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 252.

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zum Gründungsmythos des Kinos: So vermochten die Gebrüder Lumière ihren Zugfilm vor allem deshalb mittels der Legende von der Panikreaktion zu vermarkten, weil diese Geschichte von der mimetischen Ähnlichkeit des Filmbildes beglaubigt wurde. Analog dazu wirkt auch die Androide beseelt, allein weil sie so täuschend lebendig erscheint. Die phänomenologische Wahrnehmung wird somit gleich am Beginn des Kino-Diskurses in eine Krise geführt: Sie erscheint unzuverlässig angesichts der neuen technischen Möglichkeiten; dies ist die Kehrseite der Utopie der totalkinematographischen Illusion. Der erste Auftritt der Androide ereignet sich in einer Szene, die oben bereits beleuchtet wurde: die gespenstische Séance, in der Edison die Photographie der Alicia Clary an die Wand projiziert. Das Erscheinen der Projektion fällt zusammen mit dem Erscheinen des Maschinenleibes der Hadaly; später werden die beiden Visionen verschmelzen. Edison ruft die Androide wie einen Geist, während er Alicias Photographie in der Hand hält und seine Augen starr auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Wand richtet. In diesem Moment scheint Edison Teil des Dispositivs zu sein, das das Bild projiziert. Seine Augen ähneln dem Lichtstrahl des Apparats (vgl. EF, 113). Dann erscheint Hadaly in einem Lichtkegel: Là, contre les parois concaves et demi-circulaires, des flots de moire noire, tombant fastueusement d’un cintre de jade jusque sur le marbre blanc du sol, agrafaient leurs larges plis à des phalènes d’or piquées çà et là aux profonds de l’étoffe. Debout en ce dais, une sorte d’Être, dont l’aspect dégageait une impression d’inconnu, apparaissait. La vision semblait avoir un visage de ténèbres : un lacis de perles serrait, à la hauteur de son front, les enroulements d’un tissu de deuil dont l’obscurité lui cachait toute la tête. Une féminine armure, en feuilles d’argent brûlé, d’un blanc radieux et mat, accusait, moulée avec mille nuances parfaites, de sveltes et virginales formes. Les plans du voile s’entrecroisaient sous le col autour du gorgerin de métal ; puis, rejetés sur les épaules, nouaient derrière elles leurs prolongements légers. Ceux-ci tombaient ensuite sur la taille de l’apparition, pareils à une chevelure, et, de là, jusqu’à terre, mêlés à l’ombre de sa présence. (EF, 114, Herv. i. O.)

Das rätselhafte Wesen offenbart sich in einer Epiphanie. In der „vision“ ist ihr Gesicht zwar noch nicht zu sehen, ihr Körper jedoch bereits als „féminine“ markiert. Das Auffälligste, und ebenfalls eindeutig Weibliche, an dieser Erscheinung ist indes ihr Schleier, der das Gesicht in Dunkelheit hüllt und das Haupt verdeckt. Noch ist sie tatsächlich gesichtslos, sie muss das Aussehen Alicias ja erst annehmen. Sie ist inconnu, ein Zeichen, das noch ohne Bedeutung ist, offen für „mille nuances“ (EF, 114). Der Blick des Betrachters droht

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abzugleiten an ihrer glatten metallischen Haut, wären da nicht die Enden ihres Schleiers, die sich kreuzen und so eine Struktur ergeben, in der sich der Blick verfängt. Diese Kräuselung unterbricht die ansonsten spiegelglatte Oberfläche aus Schleier und Rüstung und schreibt der Erscheinung ein Geheimnis ein, das vom Blick nicht zu ergründen ist. Die sich kreuzenden, sich ineinander verflechtenden Enden des Schleiers markieren und verbergen das Geheimnis dieser Androide, ihr Rien, das dem Blick nichts bietet und das schon immer typisch weiblich ist.93 Gerade dieses Nichts ist der Schlüssel zu Edisons Schöpfung: Souffrez que j’estime les riens — les néants — à leur juste valeur. Le Néant ! mais c’est chose si utile que Dieu lui-même ne dédaigna pas d’y recourir pour en tirer le monde : et l’on s’en aperçoit assez tous les jours. Sans le Néant, Dieu déclare, implicitement, qu’il lui eût été presque impossible de créer le Devenir des choses. Nous ne sommes qu’un « n’étant plus » perpétuel. (EF, 141, Herv. i. O.)

In seiner prometheischen Schöpfergeste ist Edison auf das Rien der Frau, dem Modell und Werk seiner Schöpfung, angewiesen.94 Und doch muss er dieses Nichts hinter Schleiern verbergen, da es dem Betrachter sonst als Drohung des „n’étant plus“, des Nicht-mehr-Mann-Seins, gegenübertritt. Das Nichts der Frau impliziert die permanente Kastrationsdrohung, denn „nichts sehen ist gleichwertig mit nichts haben“.95 Und so bieten die dunklen Schleier, die diese Bedrohung notdürftig verbergen, dem Blick des Betrachters nur „Fremdes, Unheimliches, in dem der Blick sich verliert“.96 Damit stehen sie im Gegensatz zur reflektierenden Rüstung der Androide, die den Blick zurückwirft und in der der Betrachter sich selbst spiegeln kann. Die Schleier zu lüften und der Androide ins – von ihm gemachte – Gesicht zu blicken, ist deshalb das dringende Anliegen des Erfinders Edison. Er ersehnt, nach zwei missglückten Versuchen mit Alicias Photographie und Evelyns Bewegtbild, „l’illusion d’une vivante“ (EF, 212). 93 

Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 57. 94  Siehe zum Ausruf „Rien, rien !“ des Malers Frenhofer in Balzacs Le Chef-­d ’œuvre inconnu: Didi-Huberman, Georges: La peinture incarnée. Paris: Les Éditions de Minuit 1985, v. a. S. 124–130. Die Kapitel in Balzacs Werk sind wie in L’Ève future ebenfalls nach den Namen der Frauen, der künstlichen wie der realen, benannt, vgl. Balzac, Honoré de: Le Chef-d’œuvre inconnu. Paris: Gallimard 1994. 95  Irigaray: Speculum, S. 58. 96  Ebd., S. 57.

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Patricia Oster zufolge steht der Schleier „für ein Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit“,97 das im Bezug auf L’Ève future treffend den Status der Frau in diesem Roman beschreibt. Durch seine besondere Struktur schafft der Schleier „ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung“.98 An der Schwelle zum Kino-Zeitalter erzählt er auch von der neuen Fülle der Bilder, da er selbst den Anlass und die Möglichkeit bietet, „Bilder hinter den Schleier zu projizieren“.99 Einerseits wahrt der Schleier also ein Geheimnis, andererseits regt er Bildproduktion und Imagination an. So schafft er mehr Bilder als dieses eine, das er tatsächlich verbirgt. Hinter seiner Oberfläche manifestiert sich das Imaginäre in seiner Vielgestalt.100 Diese Vieldeutigkeit verliert die Androide erst, als sie das Antlitz Alicias annimmt und Edison seinen lang gehegten Plan verwirklicht. Während der Schleier über Hadalys Haupt, den Blick auf „Le Néant“ (EF, 141) verstellt, hat der Schleier, den Alicia trägt, eine andere Funktion: Er verschleiert ihren Blick. Als sie im Louvre ihrem Ebenbild, der Statue der Venus victrix, gegenüberstand, so erzählt Ewald, musste sie erst ihren Schleier heben, um der Statue ins Gesicht zu blicken und dann auszurufen: „TIENS, MOI !“ (EF, 100, Herv. i. O.) Bei Hadalys erstem Auftritt kehrt sich diese Szene um, die Androide erweist sich als nahe, aber verkehrte Verwandte jener Venusstatue aus dem Louvre:101 Nun ist es die Statue, die „sous la nuit de son voile“ die projizierte Photographie Alicias betrachtet und dann ausruft: „Oh ! … si belle !“ (EF, 116) Beide Frauen blicken nicht nur auf ihr Ebenbild, sondern auch in ihre eigene Zukunft: Alicia wird zum Kunstwerk, Hadaly wird zur lebendigen Frau. Es scheint, als teilten sie einen Leib, der in unterschiedlichen Zuständen, einmal als Statue, einmal als Photographie, dann als blutdurchpulster Leib und schließlich als Maschinenkörper, existiert, wobei er letzten Endes stets vor allem Objekt für den männlichen Blick bleibt. Alicia wurde vervielfältigt, es gibt sie in mehreren Reproduktionen, deren Lebensähnlichkeit von 97 

Oster, Patricia: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären. München: Fink 2002, S. 10. 98  Ebd., S. 9. 99 Ebd. 100  Vgl. ebd., S. 17. 101  Vgl. Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 46ff. Hier wird ausgeführt, dass das Verfahren der photosculpture, auf dem Hadalys Herstellung beruht, keineswegs eine Erfindung von Villiers war, sondern tatsächlich 1861 von Willème entwickelt wurde, um Statuen in Massenproduktion herzustellen.

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der steinernen Statue über die Photographie bis zur lebensechten Androide stetig zunimmt. Einen Schleier müssen nur die lebendige Alicia und die noch wesenlose Androide tragen; die anderen Abbilder, klar als Kunstwerke gekennzeichnet, werden dem männlichen Betrachter nicht gefährlich. Als wesenlose, verschleierte Androide ist Hadaly, wie Edison betont, „personne“, „une possibilité“ (EF, 117). Damit verkörpert sie die utopische Phantasie, von der das Narrativ des Totalen Kinos erzählt: das Potenzial, Leben durch den technischen Apparat mimetisch zu reproduzieren. Später allerdings ist Hadaly nicht mehr nur eine „vacuité“ oder ein „vide“102 – wenn sie die Gestalt von Alicia Clary annimmt, verwirklicht sich die Illusion. Das Paradox im Oxymoron des lebendigen Maschinenleibes wird vom Begehren ausgestrichen: Die ideale Frau wird Realität. Dies ist der höchste Triumph der Mimesis.103 Edisons Ziel ist es nicht, ein Werk seiner Imagination zu schaffen, sondern die Wirklichkeit mimetisch wiederzugeben; so ruft er aus: „La réalité, comme vous allez le voir, est suffisamment surprenante“ (EF, 214). Hadalys Drei­dimensionalität ist dabei nur ein weiteres Unterpfand für ihre Lebensnähe: „[L]e mouvement apporte le relief et le relief apporte la vie“, schreibt Christian Metz mit Blick auf das Bewegtbild.104 L’Ève future zeigt so auch, dass „die Erfindung des Films und die Herstellung von Automaten als parallele Wege bei der Suche nach einer realistischen Reproduktion des menschlichen Körpers betrachtet werden“ können.105 Der Filmwissenschaftler Tom Gunning verweist in einem Aufsatz auf „die Beziehung des Films zur Unterhaltungsform von Automaten, mechanischen Apparaten, die dazu entworfen wurden, menschlichen Wesen zu gleichen“.106 Er betont, dass der Automat in seiner Ähnlichkeit zum menschlichen Körper auf eine realistische Reproduktion des Menschen abzielte und dabei „genau jene Elemente des Realismus bereitstellte, die der Photographie fehlten (Bewegung, Dreidimensionalität, Farbe)“.107

102  Noiray belässt es in seiner Interpretation der Hadaly bei dieser Leere. Dabei übersieht er, dass der Text sie mit dem Mythos vom Totalen Kino füllt. Siehe Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 330. 103  Vgl. Marin: Représentation et simulacre, S. 309. 104  Metz, Christian: Essais sur la signification au cinéma. Tome I, S. 17. 105  Gunning: Re-Animation, S. 196. 106  Ebd., S. 195. 107  Ebd. Über Georges Méliès führt sogar eine direkte Linie von den Automaten, die im Théâtre Robert-Houdin gezeigt wurden, zum Film, der sie ebendort ablöste (vgl. ebd., S. 196).

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Auch Villiers’ Roman lässt die Erfindung des Films in direktem Zusammenhang mit der Automate erscheinen. Die Präsentation des farbphotographischen Bewegtbildes geht der Erschaffung der Androide unmittelbar voraus. Im Gegensatz zu Evelyn Habal hält Hadaly kein Rahmen mehr fest, sie verlässt ihre hypodiegetische Ebene, steigt von ihrem Sockel. Allerdings schließt ihre Schöpfung unmittelbar an die vorhergehenden Entwicklungsstufen, die projizierte Photographie und die kinematographische Serienphotographie, an. Hadaly ist das belebt erscheinende Abbild Alicias, die zuvor im Bild stillgestellt wurde. So legt der Roman offen, dass nicht die reale Frau in ihre totalkinematographische Kopie verwandelt wird, sondern dass hier – ganz pygmalionesk – ein Bild belebt wird. Auch deshalb wird der Aspekt der Bewegung im Hinblick auf die Automate vom Text so deutlich betont: Hadalys Lunge besteht aus zwei Phonographen (EF, 215), ihr Gesicht ist „photosculptée directement“ (EF, 249) von Alicias Gesicht. Vor allem entscheidend sind für ihre Belebung allerdings ihre Bewegungen und insbesondere ihr Gang: „[…] ces moyens de locomotion ne diffèrenz des nôtres que dans leus seule apparence à nos yeux. Qu’importe, d’ailleurs ! pourvu que l’Andréide marche“ (EF, 231, Herv. i. O.). Die Bewegung, die schon beim Filmbild der Tänzerin im Fokus stand, macht auch bei der dreidimensionalen Reproduktion den Unterschied zwischen toter Skulptur und lebendiger Kopie.108 Edison zelebriert den Moment ihrer Animation entsprechend: „Le courant se mit à gronder. L’intérieur de l’armure sembla tout à coup un organisme humain“ (EF, 236). Zunächst erscheint Hadaly als Statue, sie wirkt mehr versteinert als lebendig: „Immobile, voilée, silencieuse, on eût dit qu’elle les regardait sous les ténèbres qui cachaient son visage.“ (EF, 242) In diesem Zustand ist den Männern ihr Werk offenbar unheimlich: Es entzieht sich ihnen durch seine Unbestimmtheit, die beiden wissen nicht einmal, ob sie durch ihren Schleier hindurch betrachtet werden oder nicht. Hadaly wirkt wie ein Standbild im Film, das den Rhythmus stört, indem es den Bewegungsfluss

108  Ein Film, der diesen Bewegungsaspekt mit dem Zurückblicken des belebten Bildes verschränkt, ist Chris Markers La Jetée (1962). Dieser Kurzfilm, der fast ausschließlich aus Standbildern montiert ist, reflektiert seine eigene subversive Bewegungslosigkeit eben dadurch, dass in einer einzigen Szene die Protagonistin in Bewegung zu sehen ist: Sie blinzelt frontal in die Kamera und blickt damit dem Zuschauer direkt ins Gesicht. Der Film, betitelt als „Photoroman“ und von der Stimme eines Erzählers getragen, reflektiert nicht nur den Aspekt der Bewegungsillusion im Film, sondern auch die Genderthematik, die damit verbunden ist.

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unterbricht. Die starre Androide ist subversiv, gerade in ihrer Unbelebtheit widersetzt sie sich dem Willen ihres Schöpfers.109 Deshalb beeilt der sich, sie in Bewegung zu versetzen: Edison toucha l’une des bagues du gantelet d’argent de Hadaly. L’Andréide tressaillit tout entière : elle redevenait apparition ; le fantôme se réanimait. L’impression désillusionnante que l’explication de tout à l’heure avait laissée dans l’esprit de Lord Ewald s’affaiblit à cet aspect. (EF, 242)

Der Anblick der belebten Statue versichert die Männer ihrer Gewalt über sie, während ihre Starrheit sie in Unruhe versetzt hatte. Der Aspekt der Bewegung bezieht sich aber nicht nur auf die Gliedmaßen der Androide, die ihren gleichmäßig wiegenden Gang ermöglichen, sondern auch auf die Bewegtheit, das Erröten und Erblassen, ihres Inkarnats als Abbild ihrer Gemütsbewegungen. Edison legt bei der Belebung Hadalys besonderes Augenmerk auf die mimetische Reproduktion des Hauttons: Dieser müsse genau getroffen sein, damit die Erscheinung zum Leben erwacht. So trägt ein Kapitel des Romans die Überschrift „L’Épiderme“ (EF, 264). Diese Herausforderung, die bereits Diderot in Mes petites idées sur la couleur im Hinblick auf die realistische Malweise beschreibt, erlebt in L’Ève future eine gleichermaßen ironische wie gespenstische Wiederkehr: On a dit que la plus belle couleur qu’il y eût au monde était cette rougeur aimable dont l’innocence, la jeunesse, la santé, la modestie et la pudeur coloraient les joues d’une fille ; et l’on a dit une chose que n’était pas seulement fine, touchante et délicate, mais vraie: car c’est la chair qu’il est difficile de rendre ; c’est ce blanche onctueux, égal sans être pâle ni mat ; c’est ce mélange de rouge et de bleu qui transpire imperceptiblement ; c’est le sang, la vie que font le désespoir du coloriste. Celui qui a acquis le sentiment de la chair, a fait un grand pas ; le reste n’est rien en comparaison. Mille peintres sont mortes sans avoir senti la chair ; mille autres mourront sans l’avoir sentie.110

109 

Zum subversiven Akt der Unbeweglichkeit siehe Getsy, David J.: Acts of Stillness. Statues, Performativity, and Passive Resistance. Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag am 33. Internationalen Kunsthistoriker-Kongress CIHA 2012 und ist online abrufbar: https://www.academia.edu/6905328/Acts_​of_​Stillness_​Statues_​Performativity_​and_​ Passive_Resistance. 110  Diderot, Denis: Mes petites idées sur la couleur. In: Ders.: Essais sur la peinture. Salons de 1759, 1761, 1763. Paris: Hermann 1984, S. 18–25, hier S. 22.

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Fleischfarbe verleiht dem Bild Leben und Wahrheit und ist deshalb so schwierig nachzuahmen. Sie steht für die perfekt mimetische Abbildung wie kein anderer Farbton. Wenn die Haut richtig reproduziert ist, so Diderot, fließt durch den Leib scheinbar Blut, dann ist das Lebendig-vor-Augen-Stellen tatsächlich gelungen. Die Farbe belebt das Werk: „C’est le dessin qui donne la forme aux êtres ; c’est la couleur qui leur donne la vie.“111 Dieser Mythos setzt sich im Zeitalter der Photographie und Kinematographie fort.112 Edisons Ehrgeiz richtet sich entsprechend darauf, Alicias Hautfarbe lebensecht wiederzugeben. In einem längeren Monolog beschreibt er diese künstlerische Herausforderung: C’est là que j’ai enfermé l’illusion même du derme humain. Vous en avez éprouvé la sensation lorsque vous avez serré la main solitaire qui est en haut sur la table. Je vous ai parlé de ces étonnantes épreuves photochromiques récemment signalées. Or, si le toucher de cette peau trouble tout être vivant, la matité de sa trame invisible et opaline est essentiellement réceptive de l’impression solaire ; elle devient parfois radieuse, comme le jeune éclat d’un teint virginal, sous l’action de la lumière. […] Les verres coloratifs impriment donc sur cet épiderme factice (une fois celui-ci adhérent au moulage même de la carnation) la teinte stricte de la nudité que l’on reproduit : or c’est la qualité du satinage de cette molle substance, si élastique et si subtile, qui vitalise, pour ainsi dire, le résultat obtenu, — et ceci au point de bouleverser complètement les sens de l’Humanité. Il devient tout à fait impossible de distinguer le modèle de la copie. (EF, 264)

Ähnlich wie Diderot behauptet auch Edison, die richtige Fleischfarbe belebe („vitalise“) das Bild. Im Falle der Androide wird diese durch photographische Verfahren erreicht (vgl. EF, 249). Im Unterschied zu Diderot fügt Edison der bloßen Lebensähnlichkeit des Bildes jedoch einen Aspekt hinzu: Wenn das Fleisch richtig getroffen ist, seien Modell und Abbild, Original und Kopie nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Dann verwirklicht sich der Traum vom Totalen Kino, der die Ansprüche der realistischen Malweise sogar noch übertrumpft. Das Inkarnat der Frau durchzieht als ästhetisches Faszinosum sowie als literarisches Klischee den Roman und das Narrativ vom Totalen Kino.113 Edison schwärmt davon, dass „l’Épiderme, qui va venir, est d’une fleur de peau, d’une pelure aussi satinée que translucide, et il y a telles dégradations de teintes qu’il 111  112 

Ebd., S. 18. Zu einer weiteren Facette dieses aktualisierten Inkarnats-Diskurses siehe Kapitel

3.2.1. 113  Vgl. Grauby: Le Corps de l’Artiste, S. 219.

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faut prévoir et fixer d’avance“ (EF, 249). Dabei scheint diese „pelure aussi satinée que translucide“ in Kontrast zur reflektierenden Oberfläche von Hadalys Rüstung zu stehen.114 Didi-Hubermans Blick unter die Haut offenbart jedoch, dass diese dem narzisstischen Spiegel auf faszinierende Weise ähnelt: Ce qui brille ne nous atteint d’abord que comme un défaut, par taches lumineuses, événements locaux d’un miroitement. Mais lorsque ce qui brille devient beauté, alors c’est globalement que la tache lumineuse atteint notre rapport à l’objet. […] D’une certaine façon, la peau suscite une dialectique analogue, dans les scandions de sa pâleur, de sa brillance, de ses passages incarnats. Ravissement de l’éclat, fantasme du tout.115

Der „éclat d’un teint virginal“ (EF, 264) ist es denn auch, den Edison in seinen Ausführungen zur Haut der Androide besonders lobt. In diesem Glanz spiegelt sich die narzisstische Schaulust des Künstlers, der wie Pygmalion zum Betrachter wird: „C’est en regardant le Glanz que le sujet se sent regardé“.116 Hinter „le teint de lis, les roses de la pudeur virginale“ (EF, 204) verbirgt sich eine Tiefe, ja ein Abgrund, aus dem einerseits die Lebendigkeit der Bildfrau erwächst, in den andererseits aber der Betrachter zu stürzen droht: Comme elle doit transparaître, adoucie d’éclat par l’Épiderme, sa nuance est celle d’une neige teintée d’une fumée d’ambre et de roses pâles, et d’un brillant vague, que le mica d’une faible dose amiante pulvérisée sait lui donner. L’action photochromique la sature du ton définitif. De là, l’Illusion. (EF, 247)

Die Illusion wird von der Blässe der Haut hervorgebracht; es gilt im Sinne Diderots: „Je größer die Illusion beim Betrachter ist, desto gelungener ist das Kunstwerk.“117 Dabei ist aus Edisons Perspektive die Illusion nichts, was dem Rezipienten schaden würde, wird sie doch vom Betrachter erst in die Erscheinung gelegt: „Sans l’illusion, tout périt. On ne l’évite pas. L’illusion, c’est la lumière !“ (EF, 221) Damit reflektiert L’Ève future bereits, was Gertrud Koch über filmische Illusion schreibt: „Die Illusion ist in ihrer Gesamtheit weder präre114 

Zugleich steht die zunächst sehr starke Betonung des Inkarnats durch Edison im Gegensatz zum späteren „beharrlichen Insistiere[n] auf dem Schattenaspekt“ der Androide, die immer wieder als „belle ombre“, „ténébreuse idole“, „sombre chef-d’œuvre“ und „noir prodige“ bezeichnet wird, Vgl. dazu Stoichita: Der Pygmalion-Effekt, S. 185 sowie Noiray: Le romancier et la machine. Band II, S. 354f. 115  Didi-Huberman: La peinture incarnée, S. 86. 116  Ebd., S. 87. 117  Kern, Andrea: Illusion als Ideal der Kunst. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane: …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 159–174, hier S. 162.

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flexiv, noch setzt sie ein Nicht-Wissen voraus, um täuschen zu können. Die ästhetische Illusion will nur in ihrem Erscheinen geglaubt werden.“118 Während dies auf Edison zutrifft, wird es am Ende doch jemanden geben, der der Täuschung zum Opfer fällt: Ewald und mit ihm die Leserinnen und Leser. Ewald kann nicht anders, als sich der Betrachtung hinzugeben: „Le rêve recommençait, reprenant le chemin de cette habitude d’une heure.“ (EF, 242) In den langen Passagen der bewundernden Betrachtung scheint erneut der Pygmalionmythos auf: Nicht das fluide électrique animiert die Androide, sondern die Ersetzungsgeste des Betrachters, der sie als lebendige Frau erkennt: „Je te reconnais !“ (EF, 306), sagt er am Ende zur fertigen Hadaly – und meint Alicia. Die Lebensähnlichkeit der Reproduktion bringt für den Betrachter die Grenze zwischen Realität und Illusion, zwischen Original und Kopie ins Wanken und damit auch die Gesetze der Wahrnehmung: […] en ces instantes où, voilé par une demiveille et sur le point d’être ressaisi par les pesanteurs de la Raison et des Sens, l’esprit est encore tout imbu du fluide mixte de ces rares et visionnaires sommeils dont je te parle, — tout homme en qui fermente, dès ici, le germe d’une ultérieure élection et qui sent bien, déjà, ses actes et ses arrière-pensées tramer la chair et la forme futures de sa renaissance, ou, si tu préfères, de sa continuité, cet homme a conscience, en et autour de lui, tout d’abord de la réalité d’un autre espace inexprimable et dont l’espace apparent, où nous sommes enfermés, n’est que la figure. (EF, 310, Herv. i. O.)

Dieser „autre espace“ ist die Virtuelle Realität, der Hadaly angehört, die Welt der Bilder oder, mit Platon gesprochen, die Höhle, in der die Schatten tanzen. Die vorhin noch verschleierte und stumme Androide spricht hier plötzlich zu ihrem Betrachter, „comme si elle eût levé tout à coup quelque rideau ténébreux“ (EF, 314). Sie trägt keinen Schleier mehr, er sieht Tränen in ihren Augen und wie sie ihn „regardait fixement“ (EF, 306). Abhängig davon, ob Ewald „la simplicité de me croire“ besitzt, ist ihr Wesen entweder „palpitante ou in­ animée“ (EF, 316). Am Ende übertrifft die falsche Alicia die echte an Natürlichkeit: „La fausse Alicia semblait donc plus naturelle que la vraie.“ (EF, 308) Das ist der Triumph des Totalen Kinos. Zwar ist die Elektrizität, wie Noiray bemerkt,119 essenziell dafür, dass die Androide sich bewegen und sprechen kann, die eigentliche Belebung geschieht

118  119 

Koch: Müssen wir glauben, was wir sehen?, S. 53. Vgl. Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 304ff.

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aber im Blick des Betrachters, der die reale Frau durch die Androide ersetzt. Darin ähneln die Betrachter bei Villiers dem Bildhauer in Ovids Metamorphosen, nicht umsonst kommt Jas Elsner zu der Schlussfolgerung, „Pygmalion as a viewer“120 zu bezeichnen. Im Unterschied zu Pygmalion schafft Edison seine künstliche Frau allerdings nach einem Vorbild, eine Referenz auf zeitgenössische Reproduktionstechniken wie Photographie und Kinematographie, die beide Originale zur Abbildung benötigen.121 Renate Lachmann bezeichnet L’Ève future deshalb als „technomagische Prä-Science-fiction Version des Pygmalion-Mythos“ und unterstreicht, dass ausgehend von Ovids Prätext der Roman ebenfalls geprägt sei von einer „Ambivalenz zwischen Virtualität und magischer Realität, zwischen Simulacrum und belebter Figur“.122 Dabei ist die Motivation, eine künstliche Frau zu schaffen, anders als beispielsweise beim Golem-Stoff im Falle des antiken Bildhauers keineswegs Hybris, sondern vielmehr die „Ablehnung der gegebenen (natürlichen) Schöpfung“.123 Dieselbe Ablehnung der natürlichen Frau ist, wie gezeigt wurde, auch Ausgangspunkt für die Entwicklung der Androide. Deren Gelingen bezeugt am Ende Ewald selbst – und damit auch den Vollzug jener narrativen Metalepse, die das belebte Bild auf der Darstellungsebene zu einer vollwertigen Romanfigur werden lässt.124 Der entscheidende Schritt vollzieht sich am Ende von L’Ève future in der ironisch-romantischen Liebesszene, in der Ewald der Automate seine Liebe gesteht. Hier wird der Beweis ihrer ästhetischen Ent-Grenzung vom Rezipienten erbracht: Ewald glaubt, Alicia gegenüber zu haben („c’était bien Alicia“, EF, 307), aber er spricht in Wirklichkeit mit Hadaly. Erst in diesem Moment trifft

120 

Elsner: Roman Eyes, S. 113. Dabei ist sich die Überlieferung des Pygmalionmythos in diesem Punkt nicht ganz einig. Gertrud Koch zitiert einen Lexikonartikel aus dem 18. Jahrhundert, der nahelegt, dass Galatea nach dem Vorbild einer Venusstatue geformt und Pygmalion somit der Venus verfallen sei, die sich in der animierten Statue eine menschliche Gestalt geschaffen habe. Siehe: Koch: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur, S. 427. 122  Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 345 und 337. 123  Ebd., S. 338. 124  Es sei an dieser Stelle an die Definition der Metalepse erinnert, die Sonja Klimek gibt: „Statuen, die sich nur bewegen, oder Heiligenbilder, die spontan weinen, verletzen zwar die Grenzen ihrer Kunstform, nicht jedoch die logische Typentheorie bzw. die Hie­ rarchie der Darstellungsebenen. Greift die verlebendigte Statue jedoch in ihre Umgebung ein oder beginnt einen dialogischen Austausch mit ihr, so wirkt sie eindeutig als dargestellte Figur auf der Darstellungsebene, auf der sie eigentlich nur Stein sein dürfte.“ Siehe Klimek, Sonja: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur. Paderborn: mentis 2010, S. 279. 121 

111

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die Aussage zu, dass „le Grand Œuvre […] est venue au monde“ (EF, 299). Hier kulminiert Villiers’ Präfiguration des Totalen Kinos. Der junge Mann ist überzeugt, Alicia an ihrer Hand, ihren Augen und ihren Gesten zu erkennen. Tatsächlich glaubt er, von der echten Alicia in den Garten geführt zu werden, „vers la sombre allée“ (EF, 301), dorthin, wo es „très obscure“ (EF, 301) ist. Die dunkle Atmosphäre ähnelt einem Kinosaal, kurz bevor die Premiere beginnt. Wie so häufig erweist sich die Finsternis als Komplizin der Phantasmagorie.125 Edison verfolgt die Szene von einem Logenplatz aus: „[I]l écarta très vite le rideau de la porte vitrée et les suivit d’un regard brillant à travers les carreaux. Puis il approcha vivement une petite table sur laquelle se trouvaient une lorgnette marine, un microphone de nouveau système et un manipulateur électrique.“ (EF, 301) Er will die Aufführung, „scène“ (EF, 301), in Farbe und mit Ton genießen, in der seine Bildfrau die Hauptrolle spielt. Die folgende Liebesszene ist in den Kitsch gesteigert: Lord Ewald macht vermeintlich seiner Alicia eine Liebeserklärung, er vergießt sogar eine klischeehafte Träne; „le poète se réveilla dans son esprit“ (EF, 303). Die Ironie hinter dieser melodramatischen Szene, in der „Miss Alicia Clary gardait le silence“ (EF, 304) angesichts „le doux et brûlant murmure“ (EF, 305), erschließt sich erst, als die angeschwärmte Alicia ihm gesteht, dass sie in Wirklichkeit Hadaly ist: „Ami, ne me reconnais-tu pas ?“ (EF, 306) Ewald „se sentit comme insulté par l’enfer“ angesichts dieser Täuschung (EF, 307). Allerdings lässt der Erzähler Ewald nicht allein in diese Falle tappen; er macht die Leserinnen und Leser ebenfalls zu Getäuschten, indem er bis zum Schluss die Auflösung zurückhält, dass es sich bei dieser ‚Alicia‘ nicht um die echte handelt. So heißt es hier nicht nur, „Miss Alicia Clary prit le bras de son amant“ (EF, 301), auch Edison spielt für den Erzähler Theater: „Le visage d’Edison, immédiatement après le départ des deux jeunes gens, prit une expression d’inquiétude et de concentration profondes. L’ingénieur craignait, peut-être, que la folle sottise de Miss Alicia Clary ne trahît quelque confidence“ (EF, 301). Als wäre dies noch nicht genug der falschen Fährten, betont der Erzähler sogar, dass Edison hier die Trennung zwischen Ewald und Alicia belauschen wolle „avant de donner Hadaly“ (EF, 301, Herv. i. O.). Bis zum Schluss dieser ausführlichen Szene, als schon „une vague senteur d’ambre et de roses l’avait frémir de la tête aux pieds sans qu’il se rendît compte de l’éclair qui venait d’éblouir son entendement d’une façon terrible“ (306), bleibt der Erzähler dabei: „En même temps,

125 

Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 386f.

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Miss Alicia Clary se leva“ (EF, 306). Erst die Androide selbst klärt Ewald und die Leserinnen und Leser dann über ihre wahre Identität auf: „Je suis Hadaly.“ (EF, 306) Erst hier endet die Szene und damit die Täuschung. So hält der Text die totalkinematographische Illusion bis zum Ende aufrecht und erweist sich selbst als überzeugendes Illusionsmedium. Auf diese Weise also „infiltriert das mit elektrischer Bewegung, phonographischer Stimme, skulpturaler Schönheit und menschlicher Seele ausgestattete Geschöpf Hadaly die Sphäre der übrigen Figuren“.126 Hadaly erscheint, nachdem sie sich Lord Ewald gegenüber offenbart hat, als Romanfigur auf derselben diegetischen Ebene wie die anderen Figuren. Sie spricht, weint und bewegt sich wie eine ‚reale‘ Frau, sodass auch aus der Perspektive der Leserinnen und Leser ihre spezifische Andersheit keine Rolle mehr zu spielen scheint. Zunächst versucht Ewald noch, sie sich mittels optischer Geräte auf Distanz zu halten: „Pourquoi mets-tu ce morceau de verre dans ton œil, en me regardant ?“ (EF, 318) Durch eine selbst gesetzte Rahmung will der Betrachter sich vom Bild abgrenzen: „[…] je suis au théâtre ! Et je ne dois qu’applaudir. La scène est, en effet, très étrange ! Bravo, donc ! Edison !“ (EF, 319) Immer wieder rückt er sein Lorgnon zurecht, wie um sich seiner Distanz zum virtuellen Abbild zu versichern (vgl. EF, 307 und 319).127 Allerdings muss er bald einsehen, „qu’il s’était engagé dans une aventure beaucoup plus sombre qu’il ne l’avait pensé“ (EF, 320). Die Virtualität ist ansteckend: „[J]e résous de m’enfermer avec toi, ténébreuse idole“ (EF, 324). Dies ist die Konsequenz der Metalepse, die Edison mit seinem Experiment provoziert hat und die die Vollendung seines Vorhabens anzeigt: Der Rahmen, der noch die projizierten Bilder von Alicia und Evelyn umgeben hat, ist durchbrochen. Hadaly ist von ihrem Sockel gestiegen (vgl. EF, 115). Sie wünscht, zu leben: „[S]i je pouvais vivre ! Si je possédais la vie !“ (EF, 322) Und sieht nun mit eigenen Augen: „Ô Lumière, te voir !“ (EF, 322) Es ist dieses Zurückblicken, nachdem der Schleier gelüftet wurde, vor dem sich Ewald mit dem Lorgnon

126 

Chihaia, Matei: Der Golem-Effekt, S. 118. Mattenklott schreibt über die Brille, diese bedeute „– durch das zwischengeschaltete Glas – die Objektivierung des Angeschauten, eine Wirkung wie auf den Angeschauten, so auch auf den Brillenträger selbst, dem sie, wie durch Autosuggestion, das Gefühl von Unvoreingenommenheit und Sachlichkeit vermittelt.“ Siehe Mattenklott, Gert: Das gefräßige Auge. In: Kamper, Dieter: Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt: Suhrkamp 1982, S. 224–240, hier S. 228. Wobei Ewalds Versuch, sich mit dieser Geste in eine Distanz zur Androiden zu rücken, scheitert. 127 

113

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und Edison mit dem Fernglas zu schützen versuchten. Die lebende Alicia hat Ewald da schon vergessen (vgl. EF, 326), ja er hält inzwischen sie für das wahre Gespenst: „la vivante qui est le fantôme“ (EF, 324). Hadaly hat nicht nur die Form einer lebendigen Frau angenommen, sie gehört zu jenen Phantomen, die „prétendent se mêler à notre existence“ (EF, 319). Ihre Faszination besteht gerade in dieser „fidélité à la nature“.128 In sie sind eingraviert „les gestes, la démarche, les expressions du visage et les attitudes de celle que l’on incarne dans l’Andréide“ (EF, 217, Herv. i. O.). Diese Gravur, die vor allem durch Edisons kunstfertigen Umgang mit dem Ausgangsmaterial und den proto-kinematographischen Apparaten zustande kommt, macht Hadaly zu einer „illusion de la Vie“ (EF, 120, Herv. i. O.). Es spielt nun keine Rolle mehr, dass sie eine Projektion ist, „dessiné avec de la lumière“ (EF, 331), ein „Être fait à notre image“ (EF, 125, Herv. i. O.). Ewald hält sie für die wahre, obwohl er weiß, dass sie es nicht ist. Er steht damit selbst unter dem Einfluss der „Illusion nécessaire“ (EF, 245). Hierin macht L’Ève future einen zentralen Aspekt kinematographischer Ästhetik begreifbar, der bis heute fasziniert: Warum glaubt man bereitwillig der Illusion im Film, obwohl man durchaus in der Lage ist, sie zu durchschauen? Obwohl die Zuschauerinnen und Zuschauer im Kino wissen, dass es sich um eine Reihe einzelner Phasenbilder handelt, können sie auf der Leinwand nicht keine Bewegung sehen. Das Gleiche gilt Edison zufolge für die Androide: Si vous connaissiez déjà le charme de l’Andréide venue au jour, comme vous connaissez celui de son modèle, aucune explication ne vous empêcherait de le subir, — non plus que l’aspect, par exemple, de l’écorché de votre belle vivante ne vous empêcherait de l’aimer encore, si elle se représentait, ensuite, à vos yeux, telle qu’elle est. (EF, 147, Herv. i. O.)

Gertrud Koch diagnostiziert aufgrund dieser Ästhetik der Illusion nicht nur den Zuschauern, sondern der gesamten Filmtheorie einen „Pygmalion-Komplex“, der unmittelbar mit dem Realitätseindruck des Kinos zusammenhänge. Als „voraussetzungsvolles Als-ob“ überwältige dieser die Zuschauer durch die Illusion der Erscheinung.129 Das Kino wird damit ein „illegitimes Kind von Pygmalion und Venus“,130 es beruht auf derselben freiwilligen und doch unhintergehbaren Illusion wie die Belebung der Galatea. In dieses Abstammungs-

128 

Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 314.

129 Koch: Pygmalion – oder die göttliche Apparatur, S. 430. 130 

Ebd., S. 431.

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verhältnis setzt bereits L’Ève future die Androide Hadaly stellvertretend für das Kino. Auch wenn Bazin in seinen Ausführungen zum Mythos vom Totalen Kino „ne se réfère nullement à l’androïde“,131 stellt Villiers’ Roman in ihr dennoch eine wirkmächtige Präfiguration des Totalen Kinos vor Augen.

131 Boillat: L’Ève future et la série culturelle des „machines parlantes“, S. 16.

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1.2 Echos der Stille: Jules Vernes Le Château des Carpathes (1892)

Während sich Villiers’ L’Ève future noch deutlich an den Pygmalionmythos anlehnt, entwickelt Jules Vernes Roman Le Château des Carpathes – von Villiers inspiriert132 – die romantische Fiktion des Maschinenmenschen weiter in Richtung einer audiovisuellen Reproduktion, die nicht mehr von der Schaffenskraft eines Erfinders oder Künstlers abhängt. Stattdessen gerät das Dispositiv als mediale Topik in den Fokus und mit ihm die Rezeptionsästhetik dieses neuen Medienverbunds. Indem Le Château des Carpathes in die Inszenierung der Infiltration eines Kunstwerks eine Ununterscheidbarkeit zwischen Infil­ tration und Immersion einschreibt, trägt der Text eine entscheidende Facette zum Narrativ des Totalen Kinos bei und formuliert gleichzeitig bereits eine Kritik am audiovisuellen Dispositiv, die dieses noch jahrzehntelang heimsuchen wird – und das, obwohl das Kino noch gar nicht existierte, als Verne den Roman 1890 vollendete.133 Im Unterschied zur pygmalionesken Verlebendigung in L’Ève future ist in den „kinoähnlichen Phantasien Jules Vernes“134 der Orientierungsverlust des Zuschauers auf eine Dynamisierung von Immer­ sions- und Infiltrationsbewegungen zurückzuführen. Chihaia kommentiert in seiner Studie zum Golem-Effekt diesen Taumel, in den der Verne’sche Re-

132 

Den vielfältigen Bezügen zwischen Villiers und Verne geht Moré nach, vgl. Moré, Marcel: Nouvelles Explorations de Jules Verne. Musique, misogamie, machine. Paris: Gallimard 1963, v. a. S. 197–206. 133  Der Roman wurde zwar erst 1892 veröffentlicht, aber bereits 1890 fertiggestellt. Vgl. dazu Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 177. 134  Chihaia, Matei: Der Golem-Effekt, S. 117.

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zipient angesichts des Filmbildes gerät und der eine neue Qualität in den literarischen Kino-Diskurses bringt: 118

Wenn eine historische Trennlinie zu ziehen wäre, würde sie Villiers und Verne trennen: Der eine weist auf den Pygmalion-Effekt zurück, der andere auf die Unschlüssigkeit voraus, die im Kinozeitalter zwischen diesem kunsttheoretisch wirksamen Mythos der Infiltration und seinem neuzeitlichen Gegenstück, der sujethaften Immersion, entsteht.135

Trotzdem dominieren auf den ersten Blick die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Werken: Wie L’Ève future kreist auch Vernes Kino-Vision um die perfekte Reproduktion einer Frauenfigur, deren Gelingen auch hier ein männlicher Rezipient bezeugt: Der Betrachter unterliegt der Täuschung, er habe es mit seiner toten Geliebten zu tun. Das Abbild besitzt Realpräsenz; auf diese Weise präfiguriert auch Le Château des Carpathes das Totale Kino. Aus dem Text spricht ein Zeitgeist, der fasziniert und skeptisch zugleich den neuen medialen Möglichkeiten gegenübersteht. Vernes Roman erzählt visionär vom „possible abus vampirique qui pourrait naître d’une civilisation de l’image“136 und weist gleichzeitig zurück auf den paragone, indem er zentrale Argumente dieses Wettstreits in den neuen Mediendiskurs übersetzt. Dabei erzählt er vom Dispositiv statt von den schöpferischen Fähigkeiten eines Künstlers: Vernes Text enthält zwar phantastische Elemente, führt aber anders als noch Poes The Oval Portrait die „absolute life-likeliness of expression“ des Abbildes nicht auf eine Seelenwanderung vom Modell auf das Bild zurück, sondern auf die Funktionsweise des Apparats.137 Wie Poes Erzählung nutzt auch Le Château des Carpathes ein verlassenes Schloss in den Bergen als Chronotopos für die Situierung der Handlung.138 In beiden Texten spielen die Architektur dieses Schlosses sowie die Lichtverhältnisse in seinem Inneren eine wesentliche Rolle für die Rezeption des Bildes. Aber bei Verne betont der Er-

135 

Ebd., S. 118. Mustière, Philippe: La voix fantôme et le théâtre libidinal du baron de Gortz dans Le Château des Carpathes. In: Cahiers de l’Echinox. Jules Verne dans les Carpathes. Actes du Colloque International (Cluj-Napoca, 12–15 mai 2005), 9 (2005), S. 25–31, hier S. 26. 137  Poe, Edgar Allen: The Oval Portrait (1842). In: Ders.: Poetry and Tales. New York: Literary Classics of the United States 1984, S. 481–484, hier S. 482 (Herv. i. O.) Siehe für eine weiterführende Interpretation der Erzählung: Bronfen: Over her dead body, v. a. S. 110–117. 138  Bei Poe ist in die Handlung der kurzen Rahmenerzählung in einem „Chateau“ situiert, „one of those piles of commingled gloom and grandeur which have so long frowned among the Appenines“, siehe Poe: The Oval Portrait, S. 481. 136 

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zähler schon zu Beginn, dass er sich von den Phantasmen der Romantik distanzieren wolle: Cette histoire n’est pas fantastique, elle n’est que romanesque. Faut-il en conclure qu’elle ne soit pas vraie, étant donnée son invraisemblance ? Ce serait une erreur. Nous sommes d’un temps où tout arrive, — on a presque le droit de dire où tout est arrivé.139

Er kündigt eine technische Erklärung für alles Unerklärliche an – falls den Leserinnen und Lesern der Roman also phantastisch vorkommt, liegt die Schuld dafür bei ihnen selbst. Der Text dagegen versteht sich gemäß dieser Bekundung als Prophezeiung einer Zukunft, in der technische Innovationen die Fiktion aus dem „rang des légendes“ erlösen werden (CC, 1). Dabei bietet die nahe Zukunft seit jeher Spielraum für Visionen, vor allem für solche der totalen Simulation.140 Wie in Bazins Mythe du Cinéma total erscheint auch in Le Château des Carpathes die Grenze „zwischen Antizipation und Phantastik, modern gesprochen zwischen wissenschaftlicher Prognose und Science Fic­tion, in hohem Maße porös“.141 Alles wird möglich „grâce aux ressources scientifiques qui sont le lot de l’avenir“ (CC, 1). Le Château des Carpathes erzählt vom gespenstischen Treiben auf einem verlassenen Schloss, das in der kargen Landschaft Transsylvaniens nahe dem Dorf Werst liegt. In der Nähe der Burgruine werden eines Tages von den Dorfbewohnern plötzlich Rauch- und Lichtzeichen gesichtet, körperlose Stimmen vernommen und Menschen auf rätselhafte Weise vorübergehend zum Erstarren gebracht. Der Schäfer Frik bemerkt als erster solche Erscheinungen, als er aus dem Schornstein des Schlosses, das ein gewisser Baron Rodolphe de Gortz vor Jahren verlassen hat, Rauch aufsteigen sieht. Daraufhin nähern sich mehrere Personen der Ruine, um herauszufinden, was es mit diesen Zeichen auf sich hat. Begleitet werden sie jeweils von der spöttischen Stimme des

139 

Verne, Jules: Le Château des Carpathes. In: Ders.: Les Œuvres de Jules Verne. Band XXXVI. Lausanne: Éditions Rencontre 1966, S. 1, im Folgenden abgekürzt mit CC und Seitenzahl. 140  Als „Simulation“ bezeichnet Kittler jene Illusion, die von technischen Medien hervorgebracht wird: „These wäre also, daß überkommene Künste als Handwerke, die sie ihrem griechischen Begriff nach waren, nur eine Illusion oder Fiktion geleistet haben, aber keine Simulation wie technische Medien.“ Siehe Kittler: Optische Medien, S. 34. Durch den Begriff der Simulation wird somit der Rezipient ein Stück weit entlastet, das Dispositiv rückt in den Vordergrund. 141  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 231 (Herv. i. O.).

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heterodiegetischen Erzählers, der sich über ihren Aberglauben lustig macht. Zunächst begeben sich zwei Dorfbewohner, der junge Nic Deck und „le poltron“ (CC, 52) Doktor Patak auf den Weg, obwohl Nic Deck von einer Geisterstimme im Dorfgasthaus davor gewarnt wurde, dem Schloss zu nahe zu kommen. Die beiden gelangen nicht bis ins Innere, sie erstarren buchstäblich an der Burgmauer. Der weitere Weg ist ihnen versperrt, sie müssen umkehren. Kurz nach ihrer Rückkehr erreicht ein Fremder, der junge Graf Franz de Télek, das Dorf. In einer ausführlichen Rückblende wird von dessen tragischer Liebe zu der Opernsängerin La Stilla berichtet, die kurz vor der geplanten Hochzeit auf der Bühne tot zusammenbrach. An dem Abend, an dem sie ihre letzte Arie sang, befand sich noch ein weiterer Bewunderer der Stilla, der ehemalige Schlossbewohner Baron de Gortz, zusammen mit einem geheimnisvollen Begleiter im Saal. Was danach aus den beiden wurde, weiß niemand. Der junge Graf Télek macht sich nun mit seinem Burschen Rotzko ebenfalls auf den Weg zum Schloss. Er gelangt als Einziger hinein und findet dort nicht nur Gortz und seinen Gehilfen Orfanik, sondern auch seine Geliebte, die gerade ansetzt, ihre letzte Arie erneut zu singen. Télek will sie retten, aber der Versuch misslingt. Es stellt sich heraus, dass es Gortz und dem Erfinder Orfanik gelungen ist, die Stimme und das Bild der Stilla in ein Kästchen zu bannen und mit Hilfe einer geheimnisvollen Apparatur immer wieder zu reproduzieren. Das Ziel der Männer: „faire renaître par des moyens purement techniques la voix, l’apparence, l’existence même“.142 Sie reproduzieren die Frau und verleihen dem „simulacre de la Stilla toutes les apparences de la vie“.143 Die Sängerin selbst starb beim Aufnahmeprozess an jenem Abend auf der Bühne. Télek sieht im Schloss also nur eine Projektion der Stilla, hält sie aber für die echte, die lebendige Frau. Für die Täuschung ist der Apparat verantwortlich, den Orfanik im Auftrag des Baron de Gortz gebaut hat. In diesem Medienverbund trifft ein Gemälde auf Projektor und Phonograph, wodurch eine scheinbar lebendige Projektion hervorgebracht wird. Die mimetische Qualität des Portraits wird damit, wie später noch auszuführen sein wird, zu einer vernachlässigbaren Größe im Hinblick auf die Wirkung auf den Rezipienten: Er wird nicht durch bloße Ähnlichkeit getäuscht, sondern durch die Arbeit des Apparats. Dieser wird am Ende des Romans bei einer Explosion zerstört, der auch Gortz zum Opfer fällt.

142  143 

Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 176. Ebd., S. 177.

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Bereits beim Blick auf die Handlung treten Ähnlichkeiten zu L’Ève future zu Tage, insbesondere was das Motiv der Reproduktion durch optische und akustische Apparate betrifft. Den größten Unterschied mag man darin sehen, dass die Projektion der Stilla ein Standbild bleibt, während es Villiers’ Erfinder bereits gelungen war, Bewegtbilder zu projizieren. Maryse Petit geht auf diesen Anachronismus ein: […] la machine à enregistrer les voix qui est le nœud du drame du Château des Carpathes, écrit en 1892, est-elle le phonographe d’Edison, apparu en 1876, et l’on peut s’étonner que la vision de la Stilla ne soit que l’image fixe produite par un jeu de miroirs à partir d’un portrait, au moment où triomphe la photographie et où se concurrencent tant de machines cherchant à reproduire le mouvement.144

Dem Phonograph kommt eine besondere Rolle zu: Indem er die lebendige Präsenz der Stilla aufzeichnet, speichert und reproduziert, dient er gewissermaßen auch der Wiedergabe von Bewegung, vor allem aber von Zeit. Wie Kittler betont, konnte die Tonaufnahme des Phonographen „schon aus Mangel an Eingriffs- oder Schnittmöglichkeiten nur das Reelle von Geräuschen reproduzieren“.145 Bekanntlich sind Vernes Fiktionen nicht selten von beeindruckenden Maschinen wie Unterseebooten und Propellerinseln bevölkert, die Handlung in Le Château des Carpathes wird dagegen von recht schlichten Apparaten, „phonographe et lanterne magique“, bestimmt.146 Doch der Eindruck täuscht: Kaum ein Werk aus der Zeit weist so treffend auf die Revolution voraus, die die Erfindung des Kinematographen für die moderne Gesellschaft bedeuten sollte.147 Tonaufnahme und Photographie werden bei Verne mit dem Phantasma des Imaginären aufgeladen, indem das Medienverbundsystem sie mitein­ ander verschaltet. Die mit einer Stimme ausgestattete projizierte Photogra-

144 

Petit, Maryse: La machine animale. In: Reffait, Christophe / ​Schaffner, Alain (Hg.): Jules Verne ou les inventions romanesques. Amien: Encrage Université 2007, S. 87–97, hier S. 87. 145  Kittler: Optische Medien, S. 227. 146  Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 36. 147  Die Aufzeichnung der Stimme ging zumindest ideengeschichtlich bereits einher mit der Möglichkeit, Bilder aufzuzeichnen: So glaubt schon Nadar an die baldige Möglichkeit einer akustischen Daguerreotypie und Stendhal „dreamed of a way of obtaining perfect ‚portraits‘ of singers to preserve their art“, siehe dazu Frank, Felicia M.: The mechanical song. Women, Voice, and the Artificial in Nineteenth-Century French Narrative. Stanford: Stanford University Press 1995, S. 148f.

121

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phie in Le Château des Carpathes stellt eine entscheidende Präfiguration des Totalen Kinos als vollkommener Simulation von Leben vor Augen. Allerdings hat diese schon hier letale Folgen: „Die totale Spurensicherung, von der Leute durch Medienverbundsysteme erfaßt werden, wirkt […] auf die Körper selber zurück.“148 Und sie wirkt tödlich. In seinem stärker auf die Rezeption und weniger auf die Produktion gerichteten Interesse unterscheidet sich der Roman von den meisten anderen Maschinen-Fabeln Vernes: So liegen in Vingt mille lieues sous les mers oder La Maison à Vapeur deutlich stärker die Apparate selbst im Fokus; ihre „animalité“ lässt sie zu Bestien werden und sowohl monströs als auch belebt erscheinen.149 In Le Château des Carpathes steht dagegen die Wirkung der Maschinen im Vordergrund. Elektrizität ist in diesem Roman nicht nur die Antriebskraft für den Apparat, sie erweist sich auch als poetologische Strategie: Sie erzeugt Narrative und Bilder, besorgt die Visualisierung der Imagination und ähnelt damit dem Verfahren des Schreibens selbst. Der Apparat ist ein labyrinthisches Schloss, das als Metapher für das audiovisuelle Dispositiv steht. Nicht die Maschine belebt sich, sie sorgt für die scheinbare Verlebendigung der Reproduktion. Während diese „machine animale est en contact avec la vraie nature et il faudra qu’elle livre combat contre son autre de chair et de sang“,150 hat die Projektion der Stilla keine organische Verbindung zum Leben mehr. Deshalb trifft Mikkonens Analyse, dass in dem Roman mit Hilfe der Elektrizität „circus- and theater-like wonders“151 vor Augen gestellt werden, den Kern nicht ganz: Die Erscheinung der Stilla ist eben nicht wie im Theater, sondern körper- und leblos. Orfaniks Apparat tötet die Stilla auf der Bühne, um ihrem Abbild zu Lebensähnlichkeit zu verhelfen. Die „possibilité de perpétuer et d’animer une image féminine“152 kreiert ein Gespenst. Im Folgenden soll nun das Dispositiv untersucht werden, das in dem Roman entworfen wird. Dabei richtet die Lektüre ihren Fokus zunächst auf die Sphäre des Akustischen und anschließend auf die Sphäre des Visuellen, um zu zeigen, wie der Roman akustische und optische Wahrnehmung und Reproduktion verhandelt und für eine Autoreflexion literarischer Möglichkeiten produktiv macht. Wie Timothy Unwin nachweisen konnte, spielen „visu-

148  149 

Kittler: Optische Medien, S. 280. Petit: La machine animale, S. 90. 150  Ebd., S. 94. 151  Mikkonen: The Plot Machine, S. 14. 152  Milner: La Fantasmagorie, S. 221.

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al curiosities, optical or ocular eccentricities and unusual visual faculties“ eine entscheidende Rolle in Vernes Werken.153 Die Akustik, die den Roman in eine Echokammer verwandelt, ist allerdings nicht weniger zentral. Das dritte Kapitel widmet sich anschließend dem Verbund dieser beiden Sphären im phantasmagorischen Apparat des Karpatenschlosses. Dabei stehen jeweils jene Aspekte des Romans im Vordergrund der Lektüre, die für eine Betrachtung von Vernes Vision der Kinematographie Relevanz haben. So zeigt sich, was Verne an der Schwelle zum Kinozeitalter zur Ausformulierung des Narrativs vom Totalen Kino beiträgt. Dass die kinematographischen Bezüge in Le Château des Carpathes bislang noch nicht herausgearbeitet und untersucht worden sind, liegt einerseits vermutlich daran, dass der Roman für den literaturwissenschaftlichen Kanon weniger zentral ist; andererseits spielt aber auch eine Rolle, dass in dem Text anders als bei Villiers kein Bewegtbild im Spiel zu sein scheint. Dass der Roman dennoch in direkter Linie zu späteren KinoNarra­tionen steht, wird diese Studie versuchen zu zeigen.154 1.2.1 Fern-Hören: „Voglio morire“

Le Château des Carpathes fragt nach der Präsenz der Stimme im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit. Charles Cros, der noch vor Edison die Idee für einen akustischen Aufzeichnungsapparat gehabt haben soll, imaginiert in einem Gedicht die Potenziale der künftigen Phonographie: Comme les traits dans les camées J’ai voulu que les voix aimées Soient un bien, qu’on garde à jamais, Et puissent répéter le rêve

153 

Unwin, Timothy: Jules Verne – The Unbearable Brightness of Seeing. In: Harrow, Susan (Hg.): The Art of the Text. Visuality in Nineteenth- and Twentieth-Century Literary and Other Media. Cardiff: University of Wales Press 2013, S. 17–29, hier S. 18. 154  Als Beispiel mag die lateinamerikanische Phantastik gelten, in der das Kino und andere visuelle Medien prominent verhandelt werden. Jules Verne stellte für diese eine bedeutende Inspirationsquelle war. So betrachtet etwa María Negroni die lateinamerikanische Phantastik als Fortsetzung der Gothic Novel, deren Bedeutung für Verne sie hervorhebt, vgl. Negroni, María: Galería fantástica. México: Siglo XXI 2009, S. 9: „Leo la literatura fantástica de América Latina como una deriva de la literatura gótica“ und ebd. S. 11: „Casi todos los tópicos recurrentes de la literatura gótica están presentes en el relato de Verne [Veinte mil leguas bajo el mar]“; wobei für ihre Argumentation Le Château des Carpathes als Beispiel eigentlich noch einschlägiger wäre.

123

Der Traum vom Totalen Kino Musical de l’heure trop brève; Le temps veut fuir, je le soumets.155

124

Der Phonograph repräsentiert das Versprechen, die Vergänglichkeit der Zeit aufzuheben, die Stimme in ewiger Wiederholung zu bewahren. Damit scheint auch der Tod seine Notwendigkeit zu verlieren. Vernes Roman buchstabiert aus, was Cros hier entwirft; allerdings fügt er diesem Sieg der Technik über den Tod eine kritische Komponente hinzu. Zwar vermag der Verbund aus Phonograph und Laterna magica, was sonst nur die Literatur konnte: Bilder von Toten erscheinen und deren Stimmen erklingen zu lassen. Aber den Erscheinungen, die dieses Dispositiv hervorbringt, wohnt gerade wegen der Präsenz, die die Stimme dem Bild verleiht, etwas Bedrohliches inne. Tatsächlich kommt der reproduzierten Stimme in Le Château des Carpathes ein privilegierter Status zu, den auch Baudry erkennt. Die Stimme lässt sich nicht nachahmen, sondern nur wiedergeben. Sie ist immer real: Wenn im Realitätsbezug ein Zwischenglied fehlt, so wird dies durch das Dispositiv dadurch korrigiert, daß es sich des Echos bemächtigt und sich die nur zu realen Stimmen einverleibt. Außerdem ist es so, daß man im Kino genau wie bei allen anderen sprechenden Maschinen nicht ein Bild der Töne hört, sondern die Töne selbst. Die Verfahren der Aufzeichnung und der Wiedergabe können die Töne zwar verzerren, doch diese werden reproduziert, wiedergegeben, und nicht nachgeahmt. Die Illusion kann sich nur auf die Quelle ihrer Herkunft beziehen, nicht auf ihre eigene Realität.156

Durch diese besondere Qualität der Stimme, der ihre Realpräsenz auch in der Reproduktion nie abhanden kommt, erhält das projizierte Gemälde der Stilla ein totalkinematographisches Moment und eine paradoxe Körperlichkeit.157 Wie sich später noch zeigen wird, ist die Stimme das entscheidende Detail, das Télek glauben macht, er habe es mit der realen Frau zu tun, schließlich handelt

155 

Cros, Charles: Le collier des griffes. Paris 1908/1964, S. 136, zit. n. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 38. Kittler zufolge fehlten Cros schlicht die Mittel, um seine Idee umzusetzen. 156  Baudry: Das Dispositiv, S. 389. 157  Hier sei noch einmal an die bereits im vorigen Kapitel erwähnten Experimente Edisons mit seinen talking dolls erinnert, in denen er seinen Phonographen installierte. Die Reproduktion der menschlichen Stimme suchte schon immer nach einem (künstlichen) Körper; in Vernes Roman liefert das zweidimensionale Abbild der Stilla einen hinreichenden Ersatz für diesen. Vgl. dazu Sadoul: Histoire du cinéma mondial des origines à nos jours, S. 11.

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es sich bei ihrer optischen Erscheinung ja lediglich um ein Gemälde ohne besonderen künstlerischen Wert. Anders als noch bei Villiers stehen hier nicht die handwerklichen Fähigkeiten des Erfinders als Kopist der Realität im Vordergrund; Gortz ist weder Erfinder noch Künstler und kann dennoch die reproduzierte Frau zu scheinbarem Leben erwecken. Die Illusion wird erzeugt von der vermeintlichen Präsenz der Reproduktion, die sich aus dem Zusammenspiel der Apparate ergibt; wer diese hergestellt hat und wie sie genau funktionieren, tritt in den Hintergrund. Le Château des Carpathes führt vor Augen, welchen immensen Eindruck es beim Rezipienten hinterlässt, wenn er ein Bild sieht, dem durch den Ton eine Dauer eingeschrieben ist. So ist jedes Tonsignal „die momentane Amplitude einer zwar komplexen, aber einzigen Schwingung in der Zeit“.158 Da also die Modulationen der Stimme nichts anderes als Bewegungen sind, ist die Annahme falsch, dass „dans Le Château des Carpathes, le mouvement est nié ; projections fixes et sédations peuvent seules sauver des atteintes du temps“.159 Das Gegenteil ist der Fall: Der Eintritt ins Zeitalter der Wiedergabe von Ton verändert nicht nur den Status des Bildes, sondern den Status von Zeit und Realität.160 Paul Virilio beschreibt, warum der Ton den entscheidenden Unterschied macht: „Ein Gespenst ohne Sprache ist kein Problem, sondern ein Phantom. Aber ein sprechendes Gespenst ist eine Erscheinung.“161 Die Stilla tritt zunächst als unheimliche „forme vague“ (CC, 138) auf, sie bleibt Phantom, solange sie keine Stimme besitzt. Die körperlosen Stimmen in der Gaststube des Roi Mathias hingegen sind Erscheinungen, wie in einer Séance: Soudain, une voix se fit entendre assez distinctement au milieu du silence général, et voici les paroles qui furent lentement prononcées: « Nicolas Deck, ne va pas demain au burg ! … N’y va pas… ou il t’arrivera malheur ! » Qui s’était exprimé de la sorte ? … D’où venait cette voix que personne ne connaissait et qui semblait sortir d’une bouche invisible ? … Ce ne pouvait être qu’une voix de revenant, une voix surnaturelle, une voix de l’autre monde… L’épouvante fut au comble. On n’osait pas se regarder, on n’osait pas prononcer une parole… (CC, 46f., Herv. i. O.)

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Kittler: Optische Medien, S. 276. Mustière: La voix fantôme et le théâtre libidinal, S. 27. 160  Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 10. 161  Virilio, Paul: Die Kamera als Waffe und das Ende der Fotografie. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. In: Kunstforum International, 172 (2004), S. 57–69, hier S. 66. zit. n. Geimer: Das lebende Lichtbild – ‚Mumie der Veränderung‘, S. 237. 159 

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Die Stimme eines Abwesenden, die – wie sich später zeigen wird – technisch übertragen wird, bringt alle Anwesenden zum Schweigen. Sogar dem Erzähler scheinen die Worte zu fehlen, nachdem die Stimme erklungen ist. Hier spricht niemand, die Stimme „se fit entendre“. Es gibt kein sprechendes Subjekt. Indem die Stimme diese Leerstelle erzeugt, verweist sie implizit nicht nur auf den ebenfalls nicht körperlich anwesenden, weil heterodiegetischen Erzähler, sondern macht diesem gar die Position streitig. Der Erzähler gerät ins Straucheln und Stottern, die Auslassungspunkte zeugen davon. Dass diese Passage als Discours indirect libre erzählt wird, unterstreicht den Effekt, dass auch der Erzähler von dem hier auftretenden Medium adressiert und herausgefordert wird. Angesichts des Auftritts dieser konkurrierenden Instanz zieht er sich ganz auf die Fiktion zurück, indem er auf Übernatürliches und Fiktionales verweist („surnaturelle“, „l’autre monde“) – und das, obwohl er sich zuvor selbst über den Aberglauben der Dorfbewohner lustig gemacht hatte. Das Phantastische, so scheint es, ist ihm Zuflucht angesichts des Potenzials der Konkurrenzmedien. Nachdem die Stimme verklungen ist, bleiben Fragen offen, deren dringendste ist, wer hier gesprochen hat. Außerdem ungewiss ist der Ort dessen, der gesprochen hat. Obwohl zu Beginn eine technische Erklärung für sämtliche Erscheinungen angekündigt wurde, wird diese hier nicht gegeben, sondern für den Schluss des Romans aufgespart (die Stimme wurde per Mikrophon und Telefonkabel aus dem Schloss übertragen). Der sonst so altklug auftretende Erzähler scheint ebenfalls noch nicht über dieses Wissen zu verfügen. Doch nicht nur für ihn, auch für die Dorfbewohner stellt das körperlose Sprechen eine Bedrohung dar: „La terreur régnait au village.“ (CC, 47) Während der heterodiegetische Erzähler die Handlung nicht beeinflussen kann – selbst dann nicht, wenn er die Handlungen der Dorfbewohner verspottet und kommentiert –, nimmt das Auftreten einer zweiten, anderen körperlosen Stimme im Roman sehr wohl Einfluss auf die Handlung: „Après le phénomène de la fumée du donjon, après le phénomène de la voix entendue dans la salle du Roi Mathias, on ne s’étonnera pas que toute la population fût comme affolée.“ (CC, 47) Hier wird die Macht der neuen audiovisuellen Medien bereits angedeutet und gegenüber der literarischen Narration in Stellung gebracht. Der Phonograph, der die Stimme der Stilla gespeichert hat, ist also nicht das einzige akustische Medium in Vernes Roman. Das Telefon, durch das Gortz seine Stimme im Dorfgasthaus erklingen lässt, kann Stimmen zwar nicht bewahren, aber über große Entfernungen hinweg transportieren. Obwohl das Telefon kein Speichermedium darstellt, teilt es wesentliche Merk-

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male des Phonographen: Beide Apparate ermöglichen einen Transport der menschlichen Stimme, das Telefon über eine räumliche Distanz, der Phonograph über zeitliche und räumliche Distanz. In Frankreich wurden die ersten Telefone 1878 auf der Weltausstellung gemeinsam mit dem Phonographen vorgestellt;162 im Ausstellungskatalog heißt es: „Deux merveilleuses inventions ayant pour but les transmissions du son et de la voix humaine : le téléphone et le phonographe, marqueront notre siècle comme une des plus grandes victoires de la science.“163 Ein solcher Sieg der Wissenschaft über die Kategorien von Zeit und Raum war in der Tat revolutionär. Während das Telefon die Echtzeit-Kommunikation über beliebige Entfernungen hinweg ermöglicht, bannt der Phonograph die Zeit in eine Schleife und verleiht ihr Ewigkeit: Mit dem Phonographen – wie auch mit Mikrophon, Telefon und Radio – scheint die Endlichkeit der Stimme ganz augenscheinlich verloren. In diesem Sinne ist die Phonographie in vielerlei Hinsicht ein weitaus schockierenderes Emblem der Moderne als die Fotografie. Seit unvordenklichen Zeiten hielten Zeichnungen und Gemälde Momente in der Zeit fest, Tonaufzeichnungen jedoch verlangen Dauer, eine vierte Dimension, die die bemalte Oberfläche allenfalls implizieren kann.164

Die Stimme verleiht der Bildfrau das Leben, indem sie ihr eine vierte Dimension einschreibt. Dabei war die Stimme, die Hegel als „Zeichen menschlicher Endlichkeit und Sterblichkeit“165 bezeichnet, bis zur Erfindung des Phonographen ebenso flüchtig wie das Leben selbst. Dass die Projektion von Stillas Portrait eine Stimme zu besitzen scheint, verleiht ihr den trügerischen Anschein von Zeitlichkeit und also Lebendigkeit. Bild und Stimme müssen zusammenkommen, im Zusammenspiel der beiden entsteht die Kinematographie, die „das Gleiche, was der Phonograph für das Ohr tut, für das Auge vollbringen“ sollte.166

162  Vgl. Hagen, Kirsten von: Telefonfiktionen. Spielformen fernmündlicher Kommunikation. Paderborn: Fink 2015, S. 24. 163  Brunfaut, Jules: Le Téléphone et le phonographe. In: L’Exposition Universelle de 1878 illustrée, avril 1878, Paris 1878, S. 56, zit. n. Hagen: Telefonfiktionen, S. 24. 164  Peters, John Durham: Helmholtz und Edison. Zur Endlichkeit der Stimme. In: Kittler, Friedrich / ​Macho, Thomas / ​Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin Akademie Verlag 2002, S. 291–312, hier S. 292. 165  Ebd., S. 291. 166  Edison, Thomas A.: The Diary and Sundry Observations of Thomas Alva Edison (hg. v. Dagobert D. Runes). New York 1948, zit. n. Peters: Helmholtz und Edison, S. 302.

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Dass das Kino bei Verne analog zur Phonographie gedacht wird, überrascht nicht, wenn man den Roman im Zusammenhang mit den anderen in dieser Studie behandelten Texten und im Zusammenhang mit dem Narrativ des Totalen Kinos betrachtet: Literarische Visionen der Kinematographie imaginieren diese immer wieder analog zur Phonographie als eine Art Licht- oder Bewegungsschrift (kínēma, gráphein), bei der Bewegungen auf dem Filmmaterial ihre Spuren hinterlassen wie die Schallwellen auf der Stanniolwalze. Sie betonen damit nicht nur die Indexikalität des filmischen Mediums und damit die Illusion der Realpräsenz des Dargestellten, sondern denken Kino auf diese Weise als Mimesis-Apparat, der von einer Kunstform und montierten Bildern, also einer eigenen Rhetorik, weit entfernt ist. Le Château des Carpathes trägt diesen strukturellen Zusammenhang zwischen Phonographie und Totalkinematographie in das Narrativ des Totalen Kinos ein.167 In Vernes Roman sind sowohl akustische als auch visuelle Erscheinungen auf mediale Hilfsmittel und technische Instrumente angewiesen: Den Rauch, der vom Schornstein des Schlosses aufsteigt, sehen die Dorfbewohner durch das Fernglas, das der Schäfer gekauft hat;168 die Stimme im Roi Mathias hören sie dank technischer Übermittlung. Dabei entziehen sich die Medien der Verfügung der Bewohner, während diese als unfreiwillige Rezipienten ihren Wirkungen ausgeliefert sind. So hat der Wirt der Schänke fortan Angst davor, dass die unheimliche Stimme wiederkehrt, um ihn zu terrorisieren, da sie die Kundschaft verschreckt und so die Macht besitzt, seine ökonomische Existenz zu ruinieren. Die Augen ließen sich verschließen, die Ohren nicht. Vernes Roman erzählt auch von einem medienhistorischen Paradigmenwechsel durch den Phonographen: „Ohr und Auge sind autonom geworden. Und das hat den Stand der wirklichen Dinge mehr verändert als Lithographie und Photographie“.169 Der Status der physischen Realität ändert sich, weil plötzlich eine virtuelle Realität neben sie und in Konkurrenz zu ihr tritt. Der Moment, in dem die Stimme im Roi Mathias den Erzähler ins Stocken bringt und

167  Noch bei Bazin ist dieser Zusammenhang relevant: Dort heißt es über den Automatismus, der zur Herstellung des photographischen wie des filmischen Abbildes führt: „Pour la première fois, une image du monde extérieur se forme automatiquement sans intervention“, siehe Bazin: Ontologie de l’image photographique, S. 15. Die Bewegung schreibt sich damit selbst in den Film ein, ähnlich wie die Schallwellen der Stimme sich durch den Mechanismus des Phonographen ohne weiteres Zutun ins Stanniol gravieren. 168  Siehe dazu das folgende Kapitel. 169  Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 10.

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ihn dazu zwingt, übernatürliche Erklärungen in Erwägung zu ziehen, offenbart, dass dieser Paradigmenwechsel auch neue Machtkämpfe um den Zugriff auf die Wirklichkeit mit sich bringt. Die Gaststube des Roi Mathias wird später noch einmal zum Resonanzraum für eine körperlose Stimme: Auch Franz de Télek hört dort eine Stimme, kurz bevor er zum Schloss aufbricht. Allerdings ist es in seinem Fall der Gesang der Stilla, den er halb träumend, halb wachend vernimmt. Während Nic Deck durch die Stimme in der Gaststube abgeschreckt werden sollte, soll der junge Graf vom Sirenengesang ins Schloss gelockt werden. Noch ehe die Stilla als visuelle Projektion auftritt, ist also bereits ihre Stimme zu hören. Wie schon in L’Ève future ist die reale Frau auch hier abwesend im Text, sie wird ersetzt durch eine Reproduktion, die dem männlichen Begehren entspricht. Felicia Frank weist darauf hin, dass „feminine subjectivity is silent in these texts that present women singers as figurations of lack, as mirrors to echo male desire“.170 Der weibliche Körper muss abwesend sein, damit der Apparat seine Potenz beweisen kann. Die Geschichte der neuen Medien ist auch eine Geschichte der „Disziplinierung des Körpers“, die bis zu seiner Ausschließung und Abschaffung reicht.171 Zu den Rückkopplungseffekten dieser Disziplinierung des Leibes gehört die unheimliche Verknüpfung zwischen Phonographie und Tod, die sich wie in Charles Cros’ Gedicht als Traum von der Überwindung des Todes manifestieren kann. Peters zitiert einen „Phonographen-Enthusiasten“ aus dem Jahr 1896: „Der Tod hat einen Teil seines Stachels verloren, da wir jetzt die Stimmen der Toten für immer bewahren können.“172 Das Zeitalter des Phonographen „was an age in which all seemed possible. The notion that the human voice could be captured may be seen as one of the offspring of scientific positivism that transformed the latter years of the nineteenth century“.173 So empfahl bereits Thomas Alva Edison als „eine von zehn Nutzanwendungen“ für seinen Phonographen, mit dem Apparat „die letzten Worte von Sterbenden festzuhalten“.174 1877 heißt es entsprechend im Scientific American: „Speech, as it were, has become immortal.“175

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Frank: The mechanical song, S. 166. Peters: Helmholtz und Edison, S. 292. Ebd., S. 303. Frank: The mechanical song, S. 149. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 23. Zit. n. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 37.

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Aber der Phonograph verspricht nicht nur die potenzielle Überwindung des Todes. Die enge Nähe zwischen Phonographie und Tod schreibt der körperlosen Stimme umgekehrt auch ein Memento mori ein, das in La Château des Carpathes der Bildfrau eingraviert ist. Schließlich fordert die Reproduk­ tion der Stimme die Abwesenheit des Sprechers geradezu ein: So brüstet sich schon der historische Edison damit, dass der Verfasser nicht anwesend sein müsse, um phonographische Briefe zu diktieren, und demonstriert seine Erfindung, indem er den Sprecher aus dem Raum schickt.176 Der Sprecher muss abwesend sein, damit der Phonograph seinen Zweck erfüllt. Le Château des Carpathes nimmt diese Ambivalenz auf und problematisiert sie sowohl auf der Handlungsebene als auch strukturell. „Notre compulsion de répétition, qui est une des manifestations de l’instinct de mort“ erweist sich damit als zentrales Thema des Romans.177 So wird die Stimme der Stilla zu ihrem eigenen Echo und der Roman zu einem Resonanzraum dieses Echos. Die Stilla kann immer nur ihre letzten Worte wiederholen, jene Arie ihres letzten Auftritts. „Voglio morire“, singt sie mit ihrem letzten Atemzug. Immer wieder. Der Sterbenswunsch wird durch die ständige Wiederholung parodiert und eigentlich unmöglich gemacht, ein ironischer Seitenhieb der Literatur auf ihr Konkurrenzmedium. Der Phonograph lässt die Sängerin immer wieder von den Toten auferstehen, aber auch immer wieder sterben, denn „die akustischen Aufnahme-, Übertragungs- und Verstärkungsgeräte haben auch – in einem historisch nie dagewesenen Maße – die Materialität der Stimme offengelegt, ihre Unzulänglichkeiten, ihr Atmen und Flüstern – mit anderen Worten: ihre Sterblichkeit.“178 Davon zeugt Vernes Roman, indem er seine narrative Struktur in eine Echokammer verwandelt, in der jedes Flüstern zu einem gespenstischen Wispern wird. Der zweite Teil des Romans repetiert die Handlung des ersten: Während zunächst Nic Deck und Patak zum Schloss aufbrachen, sind es nun Franz de Télek und Rotzko. Die Besetzung ändert sich, die Konstellation aus zwei Gefährten sowie die Richtung, auf das Schloss zu, aber bleiben.179 Die Ruine übt

176  177 

Vgl. Peters: Helmholtz und Edison, S. 307. Milner: La Fantasmagorie, S. 233. 178  Peters: Helmholtz und Edison, S. 312. 179  Ähnliche Wiederholungsschleifen weist der experimentelle Spielfilm The Piano ­Tuner of Earthquakes (Quay Brothers, 2005) auf, der starke Referenzen sowohl auf Vernes Roman als auch auf Bioys La invención de Morel enthält, das in Kapitel 3.2 besprochen wird. In dem Film soll die Stimme der Opernsängerin Malvina van Stille mit Hilfe phan-

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eine Anziehungskraft auf die Romanfiguren aus, die der Dynamik der Gezeiten ähnelt, sie zieht sie an und stößt sie ab.180 Von der echoartigen Struktur zeugt auch die dichotome Anordnung der Figuren: Nic Deck und Patak, Gortz und Orfanik, Franz de Télek und Rotzko bilden jeweils Paare aus Herr und Knecht, Miriota und Stilla sind gegensätzliche Schwestern. So ergibt sich aus dem Personal des Romans bereits eine Struktur aus Doppelgängern. Indem diese jeweils paarweise zum Schloss aufbrechen, wird die Handlung in Wiederholungsschleifen gelegt. Und auch der Protagonist Franz de Télek scheint in repetitiven Schleifen gefangen: Nach dem ersten Erscheinen der Stilla wiederholt er wie eine Beschwörungsformel immer wieder das Wort „vivante“. „Vivante“ wird das Echo seiner eigenen Täuschung, ebenso wie der Name der Stilla: „[À] vingt reprises, il jeta ce nom que lui renvoyèrent les échos du Plesa.“ (CC, 144) Diese Echostruktur wird von der Topographie unterstützt, die der Roman konstruiert. Die Berge, zwischen denen das Karpatenschloss situiert ist, bilden einen Kessel („cirque“, CC, 62) und wiederholen das Echo ebenso wie der Apparat, der den Gesang der Stilla wieder und wieder abspielt. Betrachtet man die räumliche Struktur in Le Château des Carpathes, so fällt außerdem die Distanz zwischen den beiden Orten der Handlung auf: Auf der einen Seite das rückständige Dorf Werst, in dem die einfältigen Bewohner noch an böse Geister und den Teufel glauben; auf der anderen das technisch aufgerüstete Schloss des Baron de Gortz, wo neueste Kommunikationsmittel faszinierende Illusionen und optische Täuschungen hervorbringen. Milner betont angesichts dieser Topographie, dass es jene „signaux échangés entre ces deux mondes, les tentatives de pénétration de l’un par l’autre“ sind,181 die die Handlung vorantreiben. Milner geht allerdings nicht darauf ein, wofür diese beiden Welten stehen. Dabei lassen sich die beiden Orte – Dorf und Schloss – nicht nur als Inszenierungen von Orient und Okzident lesen, wobei das abergläubische Dorf für den mystischen Orient und das multimedial verka-

tastischer Apparate auf einer Insel für die Ewigkeit bewahrt werden. Der Klavierstimmer, der diese Apparate zum Laufen bringen soll, trägt den Namen Felisberto (eine Referenz auf den uruguayischen Schriftsteller Felisberto Hernández); in einer Verschränkung mehrerer Zeitebenen wird er aber auch zu Adolfo, dem ersten Verlobten der Malvina van Stille. 180  Mikkonen: The Plot Machine, S. 89. 181  Milner: La Fantasmagorie, S. 224.

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belte Schloss für den modernen Westen steht.182 Im Hinblick auf die mediale Topik des Romans erscheinen Dorf und Schloss als die Sphären von Projektor und Zuschauerraum, von Apparat und Publikum, die in der Phantasmagorie des Totalen Kinos ineinandergehen.183 Franz de Télek – er trägt nicht umsonst die Ferne, τῆλε, im Namen – wird diese Grenze zwischen den Sphären überwinden und als Rezipient ins Innere des Schlosses gelangen.184 Der Text dekon­struiert die Grenzüberschreitung – allerdings zu dem Preis, dass am Ende das Dispositiv zerstört wird. Neben seiner topographischen Bedeutung kommt dem Schloss als Handlungsort aber auch im Hinblick auf die Zeit eine besondere Bedeutung zu. So betont Bachtin die „gestalterische Bedeutung“ dieses Chronotopos, in dem die Zeit „sinnlich-anschaulichen Charakter“ annimmt.185 Hier wird das Gewesene virulent, das Gortz’ Reproduktionsapparat fortlaufend wiederholt: Das Schloß ist angefüllt mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit im engen Sinne des Wortes, d.h. mit der Zeit der historischen Vergangenheit. […] Schließlich sind es die Legenden und Überlieferungen, die mit den

182  Gleichzeitig wird durch diese Zuschreibung und ihre Verlängerung in den Kino-Diskurs hinein die beabsichtigte „Selbstvergewisserung Europas“ erschüttert. Vgl. zum Fehlgehen dieser Selbstvergewisserung im 19. Jahrhundert: Vinken, Barbara: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne. Paderborn: Fink 2015, S. 7–11, hier S. 7. Indem in Le Château des Carpathes die totalkinematographischen Projektionen auf unerfahrene Rezipienten treffen, die mit dem Orient assoziiert sind, wird hier „die Gegenwart […] durch eine orientalische Linse betrachtet“ und die Fortschrittsgläubigkeit durch die Figur des „inneren Orients“ konterkariert, vgl. ebd. S. 8 und 9. 183  Wie in Kapitel II dargestellt, liegt die Besonderheit des phantasmagorischen Dispositvs darin, dass Bilder und Betrachter „a common space and time“ bevölkern, vgl. Elcott: The Phantasmagoric Dispositif, S. 55. Diese Entgrenzung trifft sich in Le Château des Carpathes mit der Beobachtung, dass hier auch der Orient „nicht als das ganz Andere“ auftritt, sondern „als das Herzstück des Eigenen, das nie ausgetrieben werden kann“, vgl. Vinken: Einleitung, S. 10. 184  „Télek“ spielt nicht nur auf neue Apparate wie Telefon und Teleskop an, Vernes Protagonist ist gleichzeitig eine Anspielung auf den Orpheusmythos. Wie der antike Dichter kann Télek die Distanz zu seiner Geliebten nicht überwinden und sie nur ansehen, weil sie bereits gestorben und Bild geworden ist. Anders als bei Eurydike besteht im Falle der Stilla allerdings keine Hoffnung, dass sie unter die Lebenden zurückkehrt; ihre Wiederkehr ist nur eine Simulation des Apparats. Orpheus schickt Eurydike zurück ins Totenreich, weil er sie anblickt; Télek dagegen kann Stilla nur betrachten, weil der Apparat von Orfanik, einer weiteren Orpheusfigur, sie längst getötet hat. 185  Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt: Fischer 1989, S. 200.

JULES VERNE | LE CHÂTEAU DES CARPATHES Erinnerungen an ferne Ereignisse alle Ecken und Winkel des Schlosses und seiner Umgebung mit Leben erfüllen.186

Raum und Zeit sind im Karpatenschloss miteinander verdrahtet, die topographische Trennung zwischen Dorf und Schlossruine, zwischen Télek und Stilla beruht sowohl auf einer zeitlichen als auch auf einer räumlichen Distanz. Aus dieser erwächst das Begehren, das wiederum die Handlung vorantreibt und das Dispositiv in Gang setzt. Diesem obliegt es, „was ‚fort‘ ist, ‚da‘ zu repräsentieren“.187 Das Begehren tritt in Le Château des Carpathes insbesondere in der eingeschobenen Rückblende, der Vorgeschichte zu Télek, Stilla und Gortz, zu Tage. In diesem Einschub wird die Stimme der Frau zum „neuen erotischen Partialobjekt“ stilisiert.188 Das neue Begehren wird vom Apparat erzeugt und kann nur durch ihn gestillt werden, denn erst als die Stimme vom Körper abtrennbar wird, erregt sie die Triebe.189 „Technology permits the possession of the female voice long after it has been disembodied“.190 Die Stimme (der Frau) wird zu einem potenziellen Besitz (des Mannes). Das Begehren des Baron Rodolphe de Gortz erscheint dabei als so existenziell, dass er die Stimme der Stilla zu atmen scheint: „[N]e vivait plus que pour l’entendre, et il semblait que la voix de la cantatrice fût devenue nécessaire à sa vie comme l’air qu’il respirait“ (CC, 108). Sein Begehren richtet sich indes nicht auf den Körper der Frau, nie versucht er, die Angebetete kennenzulernen oder zu berühren: „Jamais il n’avait cherché à la rencontrer ailleurs qu’à la scène, jamais il ne s’était présenté chez elle ni ne lui avait écrit.“ (CC, 108). Darin unterscheidet sich sein Interesse an der Sängerin von dem Téleks. Während Letzterer sie in ihrer Garderobe aufsucht, ist dem Baron ihr Gesang genug, er betrachtet sie lieber aus dem Dunkeln. Gortz „caché dans le fond de sa loge, s’absorbait dans ce chant exquis, s’imprégnait de cette voix pénétrante, faute de la-

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Ebd., S. 195. Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 412. 188  Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 88. 189  Kittler erläutert die enge Verknüpfung von „Grammophonie und Telephonie“ mit weiblicher Erotik und dem Gespensterstatus der abwesenden Frau. Als Ursprungsnarrativ dafür zitiert er die Erzählung La Mort et le Coquillage von Maurice Renard, in der der Komponist Nerval die Sirenen im Rauschen einer Muschel singen hört; man darf vermuten, dass Vernes Roman dafür bereits Inspiration war. Vgl. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 82–90, unter Bezug auf Renard, Maurice: La Mort et le Conquillage. In: Ders.: L’invitation à la peur. Paris 1970 (1907), S. 67–72. 190  Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 35. 187 

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quelle il semblait qu’il n’aurait pu vivre“ (CC, 110). Es scheint eine parasitäre Beziehung zwischen ihm und der Stilla zu geben: Er saugt ihre Stimme begierig auf, labt sich an ihrem Gesang und wird ganz von ihm durchdrungen. Wie einem Vampir das Blut ist Gortz die Stimme der Stilla zum Lebenselixier geworden.191 So kann er es nicht hinnehmen, dass sie ihre Karriere beenden will, würde dies doch auch seine eigene Existenz gefährden. Dabei ist Gortz selbst „en partie cause de cette résolution“ (CC, 110): Sein allabendliches Starren beeinträchtigt nicht nur Stillas Kunst, sondern auch ihre Gesundheit. Um ihr Leben zu retten, will sie die Bühne verlassen; doch sie verliert es bei dem Versuch. Während Télek die Gelegenheit nutzt und um die Hand der Sängerin anhält, ist für Gortz nur noch ein Weg offen, schließlich verlöre er „tout ce qui l’attachait à la vie“ (CC, 111). An ihrem letzten Abend, dem Abend ihres Bühnentods, singt die Stilla die Rolle der Angelica. Télek wartet bereits in der Kulisse, um seine Frau anschließend fort von der Bühne zu führen, während Gortz zusammen mit Orfanik im Zuschauerraum sitzt. Beide Männer haben also ihren Blick auf die Frau gerichtet, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Absichten. Während Télek die Stilla von der Kunst ins Leben führen und zu seiner Ehefrau machen will, trachtet Gortz danach, ihre Kunst für immer zu genießen – und löscht damit ihr Leben aus. Bei diesem letzten Auftritt der Stilla „toute son âme semblait se distiller à travers ses lèvres… Et, cependant, on eût dit que sette voix, déchirée par instants, allait se briser, cette voix qui ne devait plus se faire entendre !“ (CC, 112) Die Stimme ist die Seele der Stilla, die in Klang übergeht, aus ihrem Körper herausfließt und in Gortz’ Körper hinein. Die Beschreibung einer totalen, somatischen Affizierung. Dabei scheint ihre Stimme ähnlich wie die gespenstische Stimme im Roi Mathi­ as bereits von ihrem Körper getrennt – „ne devait plus se faire entendre“ – nicht die Stilla als sprechendes Subjekt verstummt hier, sondern ihre Stimme ist nicht mehr zu vernehmen.

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Bram Stokers Roman Dracula, der 1897 veröffentlicht wurde, spielt ebenfalls mit der unheimlichen Wirkung des Phonographen. Vgl. Stoker, Bram: Dracula. Cambridge: Cambridge University Press 2013. Kittler nennt den 1897 erschienenen Roman ein „Heldenepos vom Endsieg technischer Medien über Alteuropas blutsaugerische Despoten“. Siehe Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 135. Zum medientheoretischen Gehalt des Romans außerdem: Kiening, Christian / ​Beil, Ulrich Johannes: Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari. Göttingen: Wallstein 2012, hier S. 267–288.

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In diesem Moment nun, am Ende der Schlussarie „la Stilla se laissait emporter alors à toute la fougue“ (CC, 112). Jetzt singt sie ihr „Voglio morire“ und der Todeswunsch, einmal ausgesprochen, erfüllt sich: „Soudain, elle s’arrête… La face du baron de Gortz la terrifie… Une épouvante inexplicable la paralyse… Elle porte vivement la main à sa bouche, qui se rougit de sang… Elle chancelle… elle tombe…“ (CC, 113f.) Zuerst versagt ihre Stimme, dann erstarrt sie wie gelähmt, schließlich sinkt sie zu Boden und ist tot. Nicht nur ihr Gesang verstummt, auch der Erzähler droht seine Sprache zu verlieren. Eingeschoben in die elliptischen Sätze blitzt kurz die Ursache für Stillas Erschrecken und ihren Tod auf: das Gesicht des Baron de Gortz. Wie ein Gespenst huscht es durch diese Szene, in der der Blick des Erzählers ansonsten ganz auf die Stilla gerichtet ist. Das Gesicht des Barons erscheint hier wie hineinmontiert in ein Staccato aus einzelnen Einstellungen, die Stillas Tod einfangen. Nachdem ihre Stimme verstummt ist, dominieren visuelle Eindrücke. Die Sprachlosigkeit endet mit Stillas Fallen aber nicht, sie geht auch auf den jetzt und für immer verwitweten Télek über: „[I]l la relève… il la regarde… il l’appelle… « Morte ! … morte ! … s’écrie-t-il, morte ! … » La Stilla est morte…“ (CC, 114) Nach diesem durch Ellipsen und Wiederholungen unterbrochenen Absatz folgt im Text eine Leerzeile. Stille. Der Tod der Stilla ist nicht nur für Télek, sondern auch für den Erzähler ein offenbar traumatisierendes Ereignis. Ihr Tod unterbricht ihn buchstäblich. Dass dieses Ereignis in Form einer Rückblende eingeschoben ist in die eigentliche Handlung, zeugt auch vom Versuch des Erzählers, es auf Distanz zu halten. Stillas Sterben ist vergangen – und kehrt doch immer wieder. Denn immer wieder singt die projizierte Stilla nun „Voglio morire“ und immer wieder aufs Neue wird ihr dieser Wunsch erfüllt. Die Echos dieses Todes werden durch den Phonographen endlos reproduziert, er gibt nicht nur ihren Gesang wieder, sondern auch ihren letzten Seufzer. Damit wird dem neuen Medium, in das, wie gezeigt wurde, Zeitgenossen große Hoffnungen auf die Überwindung des Todes setzten, bei Verne ein Memento mori eingeschrieben, das seinerseits im Narrativ des Totalen Kinos zu einem wiederkehrenden Echo werden wird.192

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Wie die folgenden Kapitel zu Pirandello, Mynona oder Bioy zeigen werden, ist das Narrativ des Totalen Kinos auch in anderen Romanen mit einer Todesdrohung verknüpft.

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1.2.2 Fern-Sehen: Téle-Skopophilie

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Wenn auch der Stimme der Stilla und ihrer Reproduktion in Le Château des Carpathes eine vorrangige Rolle in der Konzeption des audiovisuellen Dispositivs zukommt, so darf dennoch die Bedeutung des Visuellen in Vernes Roman nicht unterschätzt werden. Als wichtigste Reminiszenz erscheint Hoffmanns Sandmann – und damit ein Text, der ganz deutlich von einer Auseinandersetzung mit Visualität und visuellen Dispositiven geprägt ist. Trotz dieses Intertextes sind in der ohnehin überschaubaren Forschung, die zu Le Château des Carpathes vorliegt, die visuellen Aspekte stets zugunsten der akustischen vernachlässigt worden. Dabei handelt es sich bei der Reproduktion der Stilla mitnichten um ein rein akustisches Phänomen, sondern vielmehr um ein audiovisuelles, dessen Besonderheit, wie bereits ausgeführt wurde, darin liegt, dass der Ton dem Bild eine Dauer einschreibt. Mit dieser Konstellation antizipiert das Dispositiv, das der Roman entwirft, das ästhetische Paradigma der Kinematographie und damit „technology as a means of making fantasy a reality.“193 Erprobt wird das Potenzial dieses Dispositivs an den Dorfbewohnern, allen voran am Schäfer Frik, der, was den Umgang mit Medien angeht, völlig ungebildet ist und sich deshalb bestens als Versuchsobjekt für die Effekte des audiovisuellen Apparats eignet. Frik ist ein einfacher Mann, „aussi mal tenu de sa personne que ses bêtes“ (CC, 2). Der Schäfer, „immanior ipse“ (CC, 2, Herv. i. O.), bildet den Antagonisten zum einäugigen Orfanik, besitzt er doch wie dieser – allerdings ganz ohne technische Unterstützung – seherische Fähigkeiten und einen Blick, der immer wachsam ist: Eines seiner Augen wacht stets, während das andere schläft (vgl. CC, 3). Sein Blick gebietet sogar den Gespenstern und Ungeheuern: „[L]es vampires et les stryges lui obéissaient“ (CC, 5). Frik ist Herrscher über eine anachronistische Fabelwelt, er verkörpert die romantische Tradition, die im Roman gegen die Möglichkeiten des neuen Medienzeitalters ausgespielt wird. Zwar ist dem Schäfer das Echo der Berge und Täler Transsylvaniens geläufig, nicht aber jenes Echo, das das Schloss zurückwirft und das ein Echo aus dem Totenreich ist. Frik hat nicht viel Erfahrung mit Apparaten, weder mit optischen noch mit akustischen Instrumenten. Seine hohle Hand dient ihm als Fernrohr wie

193 

Gibson, Matthew: Dracula and the Eastern Question. British and French Vampire Narratives of the Nineteenth-Century Near East. Hampshire: Palgrave Macmillan 2006, S. 149.

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auch als Sprachrohr. Sie ist sein einziges Hilfsmittel, um das Schloss zu beobachten: „[D]e sa main à demi fermée, il se fit un porte-vue — comme il en eût fait un porte-voix pour être entendu au loin —, et il regarda très attentivement.“ (CC, 4) Aus der Einfalt, die diese Figur kennzeichnet, spricht nicht nur Vernes „véritable haine du berger“ oder eine Abneigung gegenüber „une certaine catégorie d’auteurs, les amateurs des « bergeries », qu’il accuse d’idéalisme et d’irréalisme“.194 Der Schäfer ist mehr als nur eine Randfigur, an der der Erzähler den Aberglauben der Dorfbewohner und die Rückständigkeit des Orients exemplifiziert.195 Frik bringt die Handlung überhaupt erst in Gang, da er als erster Bewohner von Werst einen optischen Apparat in die Hände bekommt und mit dessen Hilfe in der Lage ist, die Zeichen zu sehen, wenn auch nicht zu deuten, die das Schloss aussendet. In einer interessanten Lektüre der Figur des Schäfers legt Schuerewegen dar, Frik sei „« monstrueux » parce qu’il est incapable d’établir un contact « immédiat » avec les signes.“196 Schuerewegen macht die Parallele dieser Figur zu Gortz stark, da der Baron ebenfalls ein Monster sei, „un manipulateur de sons et d’images“.197 Allerdings übersieht man in dieser Parallelführung der beiden Figuren leicht, dass sie sich diametral gegenüberstehen und somit eher ein antagonistisches, denn ein kongruentes Paar bilden: Dem Schäfer steht zur Veränderung und Verbesserung der Hör- und Seherfahrung lediglich seine hohle Hand zur Verfügung, während der Baron Elektrizität und Technologie nutzt, um Töne und Bilder nicht nur zu beeinflussen, sondern überhaupt erst hervorzurufen. Zwar ist „le berger […] mécanicien et technologue à sa manière“,198 aber die Kräfte des Barons scheinen den seinen nicht nur im Ergebnis deutlich überlegen, sondern auch strukturell: Im Gegensatz zum Schäfer hat der

194  Schuerewegen, Franc: Le berger est un monstre (Jules Verne, Le Château des Carpathes). In: Del Lungo, Andrea / ​Lyon-Caen, Boris (Hg.): Le Roman du signe. Fiction et herméneutique au XIXe siècle. Saint-Denis: PUV 2007, S. 259–271, hier S. 260. 195  Vgl. Sprenger, Scott: Verne, anti-moderne: mariage, technologie et nostalgie du sacré. In: Cahiers de l’Echinox. Jules Verne dans les Carpathes. Actes du Colloque International (Cluj-Napoca, 12–15 mai 2005), 9 (2005), S. 256–261, hier S. 256: „Notre impression initiale que Le Château des Carpathes est un texte fantastique se produit, en fin de compte, par l’écart temporel qui existe entre la découverte des technologies de pointe dans des pays « civilisés » et leur diffusion retardée dans les zones rurales de pays « primitifs », comme la Roumanie du 19e siècle.“ 196  Schuerewegen: Le berger est un monstre, S. 261. 197  Ebd., S. 262 (Herv. i. O.). 198 Ebd.

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Baron durch seinen Gehilfen Orfanik einen manipulativen Zugriff auf die Zeichen, der Frik verwehrt bleibt. Der Schäfer bleibt im Wesentlichen Rezipient. Und so fällt ihm – aus der Literaturgeschichte statt vom Himmel herunter – ein Fernglas in die Hände. Ein fahrender Händler, der „des lunettes, des thermomètres, des baromètres et de petites horloges“ mit sich führt, verkauft Frik ein Fernrohr, das einzige Gerät aus dem Sammelsurium, das diesem tatsächlich nützlich erscheint, da er damit seiner voyeuristischen Schaulust frönen kann: Er entdeckt durch das Rohr „la belle Miriota“ und beobachtet heimlich jede ihrer „mignasses“ (CC, 11).199 Die Szene wird im Text explizit als Reminiszenz an E.T.A. Hoffmanns Sandmann eingeführt, der Verkäufer sei „d’une allure quelque peu hoffmanesque“ und führt als Firmenzeichen „l’enseigne du Sablier d’or“ (CC, 9). Ein intertextueller Verweis also bringt die Apparate ins Spiel, die fortan im Zentrum des Romans stehen. Und bereits hier wird klar, dass im Folgenden die rezeptionsästhetische Seite dieser Apparate im Fokus liegt, schließlich sagt der hoffmanneske Hausierer über die Fernrohre, dass sie „grossissent cinq à six fois les objets, ou les rapprochent d’autant, ce qui produit le même résultat.“ (CC, 10) Ob die Objekte nun vergrößert werden oder näherrücken – aus der Perspektive des Betrachters zählt das Ergebnis. Dass Frik gar nicht daran gelegen ist, die Funktionsweise des Fernglases zu begreifen, weist voraus auf das Erscheinen der Stilla später: Auch für Franz de Télek spielt es keine Rolle, warum und wie es möglich sein kann, dass die Tote plötzlich wieder vor ihm steht. Die Hauptsache ist, dass sie ‚da‘ ist. Damit täuscht das Fernrohr Frik ganz ähnlich wie das audiovisuelle Dispositiv später Télek täuscht: Beiden suggeriert der Apparat, das Objekt der Betrachtung sei ihnen nahe. Der gesamte Roman legt den Fokus auf die Betrachterperspektive statt auf die Entstehung der Erscheinungen: Wesentlich ist aus der Perspektive des Erzählers vor allem, dass Télek die Stilla für lebendig hält. Diese Täuschung kostet er sichtlich aus, allerdings ohne dass sich der Text damit selbst zum Illusionsmedium machte.200 199 

Darin ähnelt der Schäfer dem Baron de Gortz, der ebenfalls einen Apparat nutzt, um einer Frau auf bis dahin unmögliche Art näher zu kommen. Der Schäfer und Gortz sind Voyeure, allerdings stehen ihnen dafür ganz unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, die entsprechend auch unterschiedlich stark in die Realität eingreifen. 200  Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu Villiers’ Roman: Während dort, wie ausgeführt, der Text selbst die Illusion am Ende nicht nur aufrechterhält, sondern mitkreiert, indem den Leserinnen und Lesern suggeriert wird, es handle sich um die echte Alicia, wird bei Verne schon früh offenkundig, dass Télek hier der Getäuschte ist, während der Text die Täuschung enthüllt.

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Als Frik nun das Fernrohr auf die Burg richtet, die selbst ein Apparat zur Bilderzeugung ist, scheint man ihm etwas vorzumachen: Er sieht „une brume“ oder „une fumée“ (CC, 12) und vermutet sogleich eine Fehlfunktion des Instruments: „C’est le verre de votre machine qui se brouille“ (CC, 14). Zwar hat Frik mit dieser Vermutung Unrecht, doch er spricht gleichzeitig ein zentrales Thema des Romans an: Apparate sind in der Lage, dem Betrachter etwas vorzugaukeln. Die Illusion gehört zu den Potenzialen des Dispositivs, der Rezipient ist seiner medial vermittelten Rezeption ausgeliefert, eine „Realitätsprüfung“ ist ihm unmöglich.201 Frik, der bislang ohne mediale Hilfsmittel auskam, reagiert entsprechend misstrauisch, als ihm das Fernrohr Dinge zeigt, die er vorher nie gesehen hat. Diese Skepsis teilt er allerdings weder mit Nic Deck noch mit Télek – beide lassen sich von der Illusionsmacht des Dispositivs überwältigen. Und doch muss Frik schließlich zugeben: „C’était bien une fumée“ (CC, 14). Diese visuelle Erkenntnis, die ihm erst das Perspektiv verschafft hat, lässt ihn erstarren und verstummen: „Frik, immobile, ne parlait plus“ (CC, 14), er steht „manifesté“, „ne broncha pas“ (ebd.). Hierin zeigt sich eine Wirkung auf den Körper des Betrachters, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, bereits im Fall des Fernrohres von einem wirkmächtigen Dispositiv zu sprechen. „Visiblement sous l’empire d’une stupéfaction aussi brusque qu’inexplicable“ (CC, 14). Unerklärlich, verblüffend, unüberwindbar – so ließe sich auch Gortz’ Reproduktionsapparat beschreiben. Wie im Sandmann macht das visuelle Dispositiv den Betrachter ver-rückt, indem es seine Perspektive verändert.202 Die Wirkung, die das Fernrohr auf den Schäfer hat, weist voraus auf das Erstarren des Franz de Télek angesichts der Stilla – ebenfalls eine medusische Wirkung hervorgerufen durch einen Apparat. Bereits zu Beginn des Romans, als nicht nur der Schäfer Frik das Schloss aus der Ferne betrachtet, sondern zusammen mit ihm auch die Leserinnen und Leser, deutet sich an, dass „le dispositif optique […] jouera un grand rôle dans le déclenchement de l’action“.203 Doch es spielt auch eine wichtige Rolle für die Erzählweise des Romans, ist diese doch angetrieben durch die Bewegung einer scheinbaren Annäherung, die buchstäblich ins Leere läuft. Ebenso wie das Fernrohr das Gesehene nur scheinbar in die Nähe des Betrachters 201 

Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 405. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. In: Ders.: Werke. Zweiter Band. Frankfurt: Insel 1967, S. 7–40. 203  Milner: La Fantasmagorie, S. 225. 202 

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rückt, kann auch Télek, obwohl er die Entfernung zum Schloss überwindet, nicht wirklich in Stillas Nähe gelangen. „Besides manipulating space, Verne’s machines suggest the control and the commodification of time“, schreibt Mikkonen mit Blick auf die Instrumente des fahrenden Händlers, der neben Fernrohren auch Uhren verkauft, an denen Frik jedoch kein Interesse zeigt. „With the help of new technology time can be made precise, it can be controlled, defined and sold as a commercial article.“204 Die Verfügung über Zeit und Raum, die der hoffmanneske Händler ins Spiel bringt, kulminiert später im Wiederauftreten der Stilla. Das Wiedersehen mit der Toten scheint das Vergehen der Zeit aufzuheben, ja Zeit sogar zurückdrehen zu können. Allerdings nur scheinbar, denn Téleks zeitliche wie räumliche Distanz zur Stilla erweist sich am Ende als unüberbrückbar. Sie kehrt nur als Bild zurück und verlässt ihre diegetische Ebene bloß scheinbar. Damit zeigt sich, dass das totalkinematographische Dispositiv bei Verne lediglich zu einer Illusion fähig ist, die der Roman bereits vorher als solche kenntlich gemacht hat. Nachdem Frik das Fernrohr ins Dorf gebracht hat, offenbart es dort schnell sein suggestives Potenzial: „[C]hacun de chercher à apercevoir la fumée sur la pointe du donjon. En fin de compte, la plupart affirmèrent qu’ils la distinguaient parfaitement, bien qu’elle fût parfaitement invisible à cette distance.“ (CC, 35) So eröffnet das Fernrohr der visuellen Wahrnehmung nicht nur neue Aspekte und Perspektiven auf die Realität, sondern verursacht auch Sinnestäuschungen bei den Dorfbewohnern. Sie geben vor, mit bloßem Auge etwas zu sehen, was sie ohne das Fernrohr gar nicht sehen können: den Rauch, der mysteriöser Weise aus dem Kamin der Burg aufsteigt. Denn tatsächlich ist ein Fernrohr als Hilfsmittel notwendig „pour constater ce que se passait au burg“ (CC, 40). Damit zeigt die Technik schon zu Beginn des Romans ihr janusköpfiges Potenzial: Einerseits kann sie den menschlichen Sinnesapparat erweitern, andererseits aber auch zur (auto-suggestiven) Manipulation der Wahrnehmung führen. Wer das Fernrohr besitzt, hat die Macht zu sehen. Alle anderen verhalten sich wie die Untertanen in Des Kaisers neue Kleider und stützen damit die machtvolle Autorität des Dispositivs.205

204  205 

Mikkonen: The Plot Machine, S. 70. Siehe für in dieser Hinsicht besonders ergiebige Lektüren von Andersens Märchen die Beiträge in Lüdemann, Susanne / ​Koschorke, Albrecht / ​Frank, Thomas / ​Matala de Mazza, Ethel (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Frankfurt: Suhrkamp 2002.

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Der Schäfer Frik versucht, diese Dynamik zu durchbrechen, indem er vorschlägt, sich mit eigenen Augen zu überzeugen und dort nachzusehen, „aller voir“ (CC, 39). Seine Nachbarn allerdings finden diesen Vorschlag offenbar so absurd, dass sie ihn gar nicht mit einer Antwort bedenken. Viel zu wahrscheinlich erscheint es den Bewohnern von Werst, dass „êtres surnaturels“ (CC, 40) in der Burg hausen. Sie schließen die Realitätsprüfung des Wahrgenommenen aus, weil dieses sie in Angst und Schrecken versetzt. Darin ähneln sie Platons Höhlenbewohnern, denen aufgrund ihrer Ketten die Überprüfung unmöglich ist.206 So wird das Fernrohr im Dorf zu einer Insigne der Macht, die fortan der Biró Koltz immer bei sich trägt, um gelegentlich in Richtung der Burg zu schauen (vgl. CC, 50). Alle Blicke im Roman konzentrieren sich auf diese Ruine, sowohl jene der Figuren als auch der des Erzählers. Für Verne ist „the eye, or the gaze, […] central to his very approach as a writer.“207 Das gilt insbesondere für seinen Roman über das Karpatenschloss, in dem im Vergleich zu anderen Werken die Funktionsweise der Maschinen wenig Raum einnimmt, während Aspekte der Visualität deutlich herausgearbeitet sind. Blicke markieren das Verhältnis zwischen den beiden Welten, dem Schloss und dem Dorf. Schließlich findet die erste Kontaktaufnahme zwischen den Bewohnern von Werst und dem Schloss mittels „la forme plus primitive et plus à la portée des paysans transylvaniens (quoique déjà fort merveilleuse pour eux) d’une lunette d’approche“ statt.208 Die dadurch angestoßene Handlung, eigentlich der gesamte Roman, erzählt vor allem Versuche der Realitätsprüfung des auf diese Weise Gesehenen. Der literarische Text wird so zur narrativen Expedition in die Welt, die das visuelle Dispositiv eröffnet hat. Von den Figuren werden unterschiedliche Erklärungsversuche für die Erscheinungen unternommen – die einen positivistischer, die anderen phantastischer Natur. Aber alle Erklärungen laufen ins Leere: Weder wurde die Stilla von Gortz entführt und gefangen gehalten, noch spuken Geister durch das Schloss. Die Versuche, von außen auf das Geheimnis des Karpatenschlosses zu blicken,

206 

Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 386f. Unwin: Jules Verne – The Unbearable Brightness of Seeing, S. 20. Unwin arbeitet anhand mehrerer Werke Vernes heraus, worin diese besondere Bedeutung des Visuellen in Vernes Schaffen liegt. So zeigt er beispielsweise in einer überzeugenden Lektüre von Michel Strogoff die „sublime visuality of the world, and the need to apprehend it by every means possible“ (siehe S. 22) und wie in Vernes Werk Wissenschaft und Ästhetik miteinander verknüpft sind (S. 23). Auf Le Château des Carpathes geht er allerdings kaum ein. 208  Milner: La Fantasmagorie, S. 224. 207 

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scheitern. Die tatsächliche, technische Erklärung hinter den Erscheinungen hätte keiner der Protagonisten zu geben vermocht, da sie ihre Medienkompetenz übersteigt. Erst der Blick auf den Apparat im Inneren des Schlosses ermöglicht es zumindest dem Erzähler, die Funktionsweise des Dis­positivs zu durchschauen und dessen illusionistische Wirkung aufzuklären, die die Narration bis dahin demonstriert hat. Verstellte Blicke, tötende Blicke, sehnsüchtige Blicke, die „communica­ tion par la vue“ durchzieht leitmotivisch den Roman.209 Schon am Anfang der Handlung steht das Rauchzeichen als optisches Kommunikationssignal, das das Schloss ausgesandt hat. Und der abergläubische Schäfer, Empfänger jenes Signals, blickt dank dem Fernglas nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Zukunft: An den dezimierten Zweigen der uralten Buche vor dem Schloss liest er ab, dass dieses nicht mehr lange stehen wird. Seine Ahnung wird sich am Ende des Romans bestätigen – ein ironisches Zugeständnis an den Aberglauben der Dorfbewohner. Das Schloss ist umgeben von einer gespenstischen Aura, die sich aus zwei Quellen speist: der abergläubischen Angst angesichts der Ruine und den technischen Apparaten, die im Schloss wirksam sind. Damit ist die Burg sowohl Projektionsfläche für die Ängste der Menschen als auch selbst Produzentin optischer und akustischer Phantasmagorien. Ähnlich wie bereits im Fall der körperlosen Stimme, die im Roi Mathias erklingt, haftet auch den visuellen Erscheinungen der Status des Gespenstischen an. So erscheint die Stilla beispielsweise auf der Burgmauer in ein weißes Gewand gekleidet, mit ausgestreckten Armen und weit aufgerissenen Augen, wie eine Parodie der Legende der Weißen Frau (vgl. CC, 138).210 Dabei ähnelt der Status der Stilla schon zu Lebzeiten der einer untoten Bildfrau. Bereits auf der Bühne ist sie vor allem die jeweilige Rolle, die sie verkörpert, bietet sie sich der Schaulust des Publikums dar. Aus der Perspektive des Rezipienten ist der Unterschied zwischen ihren Bühnenauftritten und ihrer späteren Reproduktion in Bild und Ton nur marginal. Indem Vernes Roman Skopophilie und das Gespenst der Frau zusammenführt, nimmt er gewissermaßen vorweg, was

209 

Ebd., S. 225. Die Holzschnitte, die dem Roman beigegeben sind, greifen diesen parodistischen Einfall auf und zeigen die Stilla als ‚Weiße Frau‘. Siehe zu dieser populären Sagen­gestalt exemplarisch Avenarius, Wilhelm: Rund um die Weiße Frau. Ein Geister-Handbuch. Übersinnliche Erscheinungen im Volksleben, auf Burgen und Schlössern. Sigmaringendorf: Glock & Lutz 1987. 210 

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beinahe hundert Jahre später die Filmtheorie heimsuchen wird, wie Kaja Silverman schreibt: Film theory has been haunted since its inception by the specter of a loss or absence at the center of cinematic production, a loss which both threatens and secures the viewing subject. […] This fundamental lack reveals a remarkable propensity for displacement. Sometimes the absence which structures cinema would seem to be the foreclosed real. At other times it is equated with the concealed site of production. On yet other occasions, lack would appear to be inscribed into cinema through the female body.211

Die Abwesenheit und der Mangel, die der kinematographischen Projektion durch den weiblichen Körper eingeschrieben werden, haben Auswirkungen auf den Status des Betrachters. Dieser empfindet angesichts dieser Abwesenheit seine eigene, körperliche Anwesenheit, gleichzeitig aber auch deren prekäre Präsenz.212 Bereits in Vernes Präfiguration des Kinos wird deutlich, „that lack is somehow intrinsic to the cinematic operation“.213 Le Château des Carpathes verhandelt die Abwesenheit der Frau über den weiblichen Körper und dessen Regungen. Der Stilla fehlen Affekte, Emotionen, Antrieb. All das, was die anderen zentralen Figuren im Roman auszeichnet, bleibt bei ihr ausgespart. Affekte erscheinen so vor allem als Effekt der Rezeption, Stilla hingegen steht auf der Seite des Apparats, sie nimmt selbst nicht wahr. Nicht nur war sie noch nie selbst verliebt, obwohl sie von der Liebe singt, die Stilla ist vor allem Schallquelle für Melodien, mit denen sie ihr Publikum affiziert. Sie ist bereits vor der Aufnahme durch den Phonographen zu einem Wiedergabeapparat geworden. Ihre Bildwerdung markiert folglich nur den Vollzug der „Vorherrschaft des Image über den realen Körper“.214 Die Stilla bietet sich den Blicken dar, ohne selbst zurückzublicken: „Jamais elle n’avait aimé, jamais ses yeux n’avaient ré-

211 

Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and ­Cinema. Bloomington: Indiana University Press 1988, S. 2. 212  Vgl. zu diesem Zusammenhang Morsch, Thomas: Der Körper des Zuschauers. Elemente einer somatischen Theorie des Kinos. In: Medienwissenschaft, 3 (1997), S. 271–89; sowie Shaviro, Steven: The Cinematic Body. Minneapolis: University of Minnesota Press 1993. 213  Silverman: The Acoustic Mirror, S. 3. 214  Bronfen, Elisabeth / ​Straumann, Barbara: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung. München: Schirmer-Mosel 2002, S. 48. Die Stilla ist eine der ersten Diven der Filmgeschichte: ein Star, der an seine Grenzen geht, sich verausgabt „in der Hoffnung auf Erlösung – die eigene wie die ihres Publikums“ (ebd., S. 47).

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pondu aux mille regards qui l’enveloppaient sur la scène“ (CC, 107). So ist sie das skopophile Objekt par excellence, schon zu Lebzeiten kaum unterscheidbar von jenem Kästchen, in dem Gortz später die phonographische Walze mit ihrer Stimme aufbewahren wird. Von Beginn an haftet ihr etwas Automatenhaftes an, ist sie mehr Kunstwerk als selbst Künstlerin: „[P]aralyzed, frozen, she is not, she is projected […], an image who is unable to cross to the other side“.215 Der Einzige, der eine andere Beziehung zur Stilla aufzubauen versucht, ist Franz de Télek. Dieser ist nicht nur von ihrer Stimme hingerissen: „Dès la première fois qu’il vit la Stilla, Franz éprouva les entraînements irrésistibles d’un premier amour“ (CC, 107). Er will sie heiraten und damit ihren Kunstwerkstatus aufheben. Baron de Gortz hingegen setzt den Objektstatus, den die Narration der Stilla bereits eingeschrieben hat, in die Realität um: Wie eine Medusa lässt er die Stilla zum Objekt erstarren, sobald sie zum ersten Mal sein Gesicht sieht. Der Bühnentod der Stilla ist eine Still-Stellung, die bereits im Namen der Sängerin anklingt: „La mort de la Stilla comme sédation totale de tout désir est dépassée par la fixation fétichiste outre-tombe.“216 Ihr Verstummen und ihre Bewegungslosigkeit sind Zwischenschritte, ihr Tod ist notwendig, ehe der Apparat ihr Abbild wieder zum Singen bringt. Allerdings hat dann der Mann die Kontrolle über die Bildfrau; er musste sie erst töten, um sie zu seinem Ideal, zur perfekten Frau, zu machen.217 Gortz ist ganz Betrachter und Zuhörer, und dabei selbst ein Schatten, den man visuell nicht fassen kann, „coiffé d’un large chapeau lui cachant la figure“ (CC, 108), „enfermé, immobile et silencieux“ (CC, 108). Dieser „homme bizarre“ (CC, 108) bleibt als Betrachter unsichtbar. Und als er sein Gesicht doch einmal zeigt, lässt dieser Anblick die Stilla im Augenblick ihres Todes erstarren: „La face du baron de Gortz la terrifie… Une épouvante inexplicable la paralyse“ (CC, 112). Es ist der einzige Moment, in dem sie ihn wirklich anblickt: Bien qu’elle ne pût l’apercevoir au fond de sa loge, dont il ne baissait jamais la grille, elle le savait là, elle sentait son regard impérieux fixé sur elle, et qui la troublait à ce point qu’elle n’entendait même plus les bravos dont le public accueillait son entrée en scène. (CC, 108)

215 

Lathers: The Aesthetics of Artifice, S. 38. Mustière: La voix fantôme et le théâtre libidinal, S. 27. 217  Zur Suche nach der idealen Frau siehe den Aufsatz von Hausmann: Die perfekte Frau im perfekten Körper; sowie die Arbeit von Rißler-Pipka: Das Frauenopfer in der Kunst. 216 

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Da sich das Gitter seiner Loge nie öffnet, ist er dahinter verborgen wie hinter einem Visier. Und so fragt auch der Erzähler: „Quel était ce spectateur si assidu ?“ (CC, 108) Gortz sieht, ohne gesehen zu werden. Im Schutz seiner Loge ist er Träger einer Macht, die der des Panoptikums ähnelt und sich ganz auf die Frau konzentriert. Jacques Derrida nennt dies den „effet de visière“218 und betont, dieser sei „peut-être l’insigne suprême du pouvoir : pouvoir voir sans être vu“.219 Diesem Blick ausgeliefert wird die Stilla zum Bild, zum Objekt für den voyeuristischen Blick. Doch nicht nur Gortz, auch Télek hat eine gewisse Affinität zum kinematographischen Sehen: A demi couché dans un fauteuil, Franz se laissa aller de nouveau à remonter le cours inoubliable du passé. Il était à Naples pendant la dernière représentation du théâtre San-Carlo… Il revoyait le baron de Gortz, au moment où cet homme lui était apparu, la tête hors de sa loge, ses regards ardemment fixés sur l’artiste, comme s’il eût voulu la fasciner… (CC, 126)

Télek scheint in einem Kinosaal zu sitzen, als er diesen Teil seiner Vergangenheit bildreich heraufbeschwört. So erinnert er sich nicht nur an Gortz, sondern vor allem an dessen Blick und Anblick, er scheint den Baron regelrecht wiederzusehen („revoyait“). Die Bilder lässt Franz de Télek erneut ablaufen, als wären sie in seinem Inneren wie auf einer Filmrolle gespeichert und könnten in einem beliebigen Moment, etwa wenn er sich in einem Sessel zurücklehnt, wieder abgespult werden. Und tatsächlich werden seine inneren Bilder sogleich von einer Filmmusik unterlegt: Er hört in diesem Moment in der Stube des Dorfgasthauses die Stilla singen, ihr Gesang setzt plötzlich ein; es ist, als ob „une bouche s’est approchée de son oreille“ (CC, 127), „comme bercé“ (CC, 127) lauscht er der Musik. Noch ist dem aufgeklärten, aber technisch wenig versierten Télek nicht bewusst, woher diese Stimme kommt, die sich später nicht nur zu seinen imaginierten Erinnerungsbildern, sondern zu Stillas projiziertem Abbild gesellen wird. Zwar scheint Gortz’ Blick auf die Frau sich grundsätzlich von Téleks zu unterscheiden, am Ende aber zeigt sich, dass beide vor allem ihr eigenes Begehren in der Stilla gespiegelt sehen. Denn während Gortz die Apparatur geschaffen hat, die die Stilla in Bild und Ton reproduziert, glaubt auch Télek, in dieser Projektion die reale Stilla zu sehen. Er

218 

Derrida, Jacques: Spectres de Marx. L‘État de la dette, la travail du deuil et la nouvelle Internationale. Paris: Éditions Galilée 1993, S. 27 (Herv. i. O.). Derrida leitet diesen Effekt aus Shakespeares Hamlet ab, wo er direkt mit dem Geist von Hamlets Vater und dem Gespenstischen im Allgemeinen verknüpft ist. Vgl. ebd., S. 27–29. 219  Ebd., S. 29.

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erliegt also demselben Wahn wie Gortz, beide geben sich mit der illusionistischen Kopie zufrieden und streichen damit die reale Frau aus. Télek kann nicht umhin, „die authentische Figur im Zentrum der Phantasmagorie“ zu sehen, auch wenn diese Authentizität nur seine Fiktion ist.220 Gortz ersetzt die Stilla schon zu Lebzeiten durch ein Bild, er besitzt „le plus beau des portraits que le grand peintre Michel Gregorio eût fait de la cantatrice“ (CC, 109). Das Gemälde scheint durch seinen Blick bereits belebt, es zeigt die Sängerin, „passionnée, vibrante, sublime, incarnée dans l’un de ses plus beaux rôles“ (CC, 109). Das Portrait dient ihm als Grundlage für die Reproduktion, in der er die Stilla nach ihrem Tod wiederauferstehen lässt. Milner betont: „C’est de l’image seule que le baron de Gortz est éperdument amoureux“.221 Angesichts seiner Lust am Schauen sind die Aufnahmen, die Orfanik mittels Phonograph für ihn anfertigt, lediglich ein „prolongement logique de son amour dément“.222 Dass es sich bei der Projektion anders als in L’Ève future nicht um ein photographisches Portrait handelt, sondern um ein gemaltes, verdeutlicht nur umso mehr, wie wirkmächtig der Apparat ist, denn Téleks Realitätseindruck angesichts der Projektion dieses Gemäldes wird nicht durch einen möglichst mimetischen Realismus der Darstellung erzeugt, sondern durch das Dispositiv selbst.223 Le Château des Carpathes weicht hier von Bazins Realismus-Konzept ab und führt vor Augen, dass es die Suggestivkraft der medialen Topik ist, die die Reproduktion für den Rezipienten zum überzeugenden Ersatz des Realen macht.224 Damit schreibt der Roman dem Narrativ des Totalen Kinos eine Ideologie- und Illusionskritik ein, die an Platons Höhlenmythos erinnert, wo die Schatten der Abbilder der Realität von dieser ebenfalls so weit abstrahiert sind, dass ausgeschlossen werden kann, dass die Täuschung der Höhlenbewohner auf Mimesis beruht. Besonders deutlich wird dieser Aspekt, der die Macht zu sehen und zu täuschen hinterfragt, wenn nun im Folgenden das Schloss selbst in den Blick gerät.

220 

Bronfen, Elisabeth / ​Straumann, Barbara: Die Diva, S. 49. Milner: La Fantasmagorie, S. 227. 222  Ebd., S. 228. 223  Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 389. 224  Der Begriff der medialen Topik, mit dem Paech das Dispositiv als medial räumliche Ordnung beschreibt, stammt aus dem Aufsatz von Paech: Überlegungen zum ­Dispositiv als Theorie medialer Topik. Bei Bazin hingegen beruht die Reproduktion auf jenem bereits zitierten transfert de réalité. 221 

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1.2.3 Das Schloss: im Inneren des Apparats

Für das Narrativ des Totalen Kinos ist Le Château des Carpathes ein entscheidender Text, weil er den Blick auf das Dispositiv und seine Wirkung lenkt. Der Effekt eines überzeugenden Realitätseindrucks wird in Vernes Roman nicht auf einen unerfahrenen Rezipienten,225 einen begnadeten Künstler oder eine magische Belebung zurückgeführt, sondern als Konsequenz einer (Macht‑) Struktur gedacht. Das audiovisuelle Dispositiv ergibt sich als Zusammenspiel von Topographie, Apparat und Rezipienten, mit Paech ist es „die (topische) Ordnung, in der (z. B. audiovisuelle) Diskurse ihren Effekt (z. B. den Realitätseindruck) erzielen.“226 Ein wesentlicher Faktor seiner Wirkungsweise ist demnach das Unsichtbarmachen von Differenz und Distanz sowie die „Verbannung aller Spuren von (technisch-apparativer) Arbeit aus der Repräsentation“.227 Ihre versteckte Arbeit kennzeichnet auch die technischen Apparate in Le Château des Carpathes. Die Drähte und Emissoren sind in der gesamten Handlung nie zu sehen, die Erklärung für die akustischen wie die optischen Phänomene wird ganz am Ende in einer Art Epilog nachgereicht, aus dem Erzählten ergibt sie sich nicht zwangsläufig. Die Arbeit der Apparate ist nicht Thema der Narration, sondern findet an deren Unterseite statt.228 Das Wissen um die Funktionsweise und Wirkmacht der neuen Technologien vom Fernrohr über die Phonographie bis zur Bildprojektion ist in Le Château des Carpathes klar als Herrschaftswissen charakterisiert, zu dem auch die Leserinnen und Leser erst gegen Ende Zugang erhalten. Innerhalb der Diegese erhalten Figuren, die dem Okzident näher stehen als dem Orient, eher diesen Zugang und damit Einblick in die Funktionsweise des Apparats, der die Topographie des Romans zentriert. Mikkonen beschreibt richtig, dass „the

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So wird gerade Franz de Télek als gebildeter, weit in den Westen gereister Mann eingeführt, der auf seinen Reisen auch eine ästhetische Bildung erworben hat (vgl. CC, 104). 226  Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 410. 227  Ebd., S. 401. 228  Was im Übrigen untypisch für Verne ist, der in Werken wie Vingt mille lieues sous les mers oder De la Terre à la Lune, trajet direct en 97 heures 20 minutes viel Raum auf die Beschreibung technischer Zusammenhänge und Funktionsweisen verwendet und nicht umsonst als ein Begründer der Science Fiction gilt. Auch Philippe Mustière weist darauf hin, dass in Le Château des Carpathes die Beschreibungen der technischen Abläufe viel weniger quasi-wissenschaftlichen Charakter haben als in anderen Romanen Vernes, siehe Mustière: La voix fantôme et le théâtre libidinal, S. 25–31.

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center stage in the novel is given to the seductive machine“.229 Einen ähnlichen Punkt macht Mustière, wenn er schreibt, dass „le dispositif audiovisuel, qu’Orfanik a mis au point pour le baron de Gortz, est au cœur du récit : sans lui, pas de drame, pas d’amour, pas de folie.“230 Die folgenden Seiten machen einen Schritt über diese Beschreibungen hinaus und zeigen, inwiefern die gesamte Anlage und Struktur des Romans der Entwicklung des Dispositivs dient, indem Topographie, Personal und Erzählweise die Potenziale und Machtverhältnisse ausloten, die dem Apparat im Inneren des Schlosses zukommen. Damit wird das Karpatenschloss selbst zu einem Projektionsapparat und der Roman zur Landkarte medialer Topik. Wie bereits angedeutet spielt Vernes Text stark mit Dichotomien; so werden schon zu Beginn der Aberglaube der Dorfbewohner und die Möglichkeiten technischer Medien gegeneinander ausgespielt. Auf diese Weise entsteht jenes „fantastique scientifique“,231 das Vernes Romane auszeichnet: „[L]e narrateur jouera habilement de ce contraste soit pour présenter sous un jour humoristique les imaginations des paysans apeurés, soit au contraire pour accumuler les prodiges qui paraissent leur donner raison.“232 Um diesen Effekt zu erzielen, stärkt der Text zunächst eine positivistische Lesart, indem er sich über den Aberglauben der Dorfbewohner lustig macht und seine eigene Glaubwürdigkeit durch Fußnoten untermauert. Es gibt über den Verlauf des Romans insgesamt fünf Fußnoten, von denen die ersten vier auf einen Realitätseffekt einzahlen und diesen stützen, während die fünfte ihn bricht. So geben die Fußnoten zunächst detaillierte Erläuterungen zu Längeneinheiten, Währungen und Geographie, sie scheinen Hilfestellung zu bieten bei der Umrechnung und Einschätzung dieser fremden Maße durch westliche Leserinnen und Leser (vgl. CC, 3, 9, 14, 16), während die letzte Fußnote unvermittelt ins Phantastische kippt: „Elles pouvaient même se voir dans des glaces reliées par les fils, grâce à l’invention du téléphote.“ (CC, 163) Indem der Text hier plötzlich das Register wechselt, verweist er metafiktional auf sein eigenes Dispositiv und dessen Potenzial. Außerdem unterläuft diese fünfte Fußnote nicht nur den zuvor untermauerten Realitätseindruck des Textes, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Erzählers, der hier den Leserinnen und Lesern

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Mikkonen: The Plot Machine, S. 30. Mustière: La voix fantôme et le théâtre libidinal, S. 25. 231  Milner: La Fantasmagorie, S. 226. 232  Ebd., S. 226.

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eine fiktionale Erläuterung unterzujubeln versucht.233 So wird fraglich, ob er wirklich so objektiv und zuverlässig ist, wie er zu Beginn behauptet oder ob er bereits selbst durch die Wirkung der neuen Medien korrumpiert wurde. Zusätzlich wird der Blick des Erzählers durch die Lichtsituation eingeschränkt. Wie die Protagonisten sieht auch er zunächst nur, was der Apparat ihm zeigt. So herrschen in der Nähe des Schlosses dauernd „la nuit“ (CC, 56) und „l’obscurité“ (CC, 58). Baudry betont in seiner Dispositiv-Theorie die Bedeutung der Finsternis, die eine Gemeinsamkeit zwischen der Platonischen Höhle und dem Kinosaal darstelle.234 Hier entfalten die Phantasmagorien ihre Wirkung am besten: Die visuelle Wahrnehmung ist eingeschränkt, der Fokus richtet sich auf das, was im Lichtkegel erscheint. Insofern ist die Dunkelheit selbst bereits Teil des Dispositivs, weil sie den Blick des Rezipienten zu lenken und ihn so zu steuern vermag.235 Entsprechend nähern sich Nic Deck und sein Begleiter Patak dem Schloss in der Dämmerung und erreichen seine Mauern, als es Nacht wird. Die Burg liegt einsam in der öden Wildnis, umgeben von einem Wassergraben, geschützt durch eine Mauer und ein Falltor, „tout était abandon et silence“ (CC, 60). In diese Dunkelheit und Stille hinein treten die geheimnisvollen Erscheinungen, die Nic Deck und Patak wahrnehmen: „Le cirque de montagnes s’emplit de ténèbres, et les formes du burg disparurent bientôt sous le crêpe de la nuit.“ (CC, 62) Die Dunkelheit in diesem „cirque“ wird in dieser Nacht so undurchdringlich, dass sich die Burg in ihr aufzulö-

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Alternativ ließe sich argumentieren, dass der Erzähler hier zwar ‚die Wahrheit‘ spricht, aber dies innerhalb einer phantastischen Welt. In diesem Fall ist seine Glaubwürdigkeit allerdings ebenfalls beschädigt, weil er wie erwähnt zu Beginn des Romans ja gerade betont, dass es sich nicht um eine phantastische Erzählung handelt. Eine andere Strategie verfolgen die Fußnoten in Adolfo Bioy Casares’ La invención de Morel, wo diese von einem fiktiven Herausgeber gegeben werden und die Glaubwürdigkeit der Fabel eher zu stärken scheinen, siehe dazu Kapitel 3.2.2. 234  Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 386. 235  Hauke Lange-Fuchs weist in einer akribischen historischen Recherche nach, dass sich die Vorführungen von Phantasmagorien und „Nebelbildern“, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts äußerst populär waren, fast ausschließlich auf die dunkleren Wintermonate konzentrierten: Die Saison begann „in der Regel im Herbst und dauert bis zum folgenden Frühjahr“. Vermutlich kam die früh hereinbrechende Dämmerung den Vorführungen mit Nebelmaschine und Doppelprojektoren entgegen, während die Sommer zum Erstellen neuer Programme genutzt wurden. Siehe Lange-Fuchs, Hauke: Die Reisen des Projektionskunst-Unternehmens Skladanowsky. In: Kessler, Frank / ​ Lenk, Sabine / ​Loiperdinger, Martin (Hg.): Kinematographen-Programme. KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Frankfurt: Stroemfeld 2002, S. 122–143, hier v. a. S. 128.

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sen scheint. Der Apparat wird transparent auf die Erscheinungen hin, die dadurch umso wirkmächtiger werden, weil sich die Grenze zwischen ihrer hypodiegetischen Ebene und der diegetischen Ebene des Rezipienten aufzulösen droht. Dunkelheit und Stille manipulieren die menschliche Wahrnehmung: En dépit de la fatigue, il ne cessait de regarder, il ne cessait de prêter l’oreille. Son cerveau était en proie à ces extravagantes visions qui naissent de troubles de l’insomnie. Qu’essayait-il d’apercevoir dans les épaisseurs de l’ombre ? Tout et rien, les formes indécises des objets qui l’environnaient, les nuages échevelés à travers le ciel, la masse à peine perceptible du château. (CC, 65)

Pataks Wahrnehmung ist unzuverlässig, er sieht „tout et rien“ und nimmt Dinge wahr, „qui lui semblaient se mouvoir“ (CC, 65): „Il entendait aussi les nyctalopes qui euffleuraient les roches d’un frénétique coup d’aile, les striges envolées pour leur promenade nocturne, deux ou trois couples de ces funèbres hulottes, dont le chuintement retentissait comme une plainte.“ (CC, 65) Fabelwesen und Nachttiere vermischen sich hier ebenso wie Fiktion und Realität; aus der Perspektive des Rezipienten lassen sie sich nicht mehr unterscheiden. Den Höhepunkt erreicht die Vorstellung um Mitternacht, „l’heure des apparitions, l’heure des maléfices“ (CC, 65): Le docteur venait de se relever, se demandant s’il était éveillé, ou s’il se trouvait sous l’influence d’un cauchemar. En effet, là-haut, il crut voir — non ! il vit réellement — des formes étranges, éclairées d’une lumière spectrale, passer d’un horizon à l’autre, monter, s’abaisser, descendre avec les nuages. On eût dit des espèces de monstres, dragons à queue de serpent, hippogriffes aux larges ailes, krakens gigantesques, vampires énormes, qui s’abattaient comme pour le saisir de leurs griffes ou l’engloutir dans leurs mâchoires. Puis, tout lui parut être en mouvement sur le plateau d’Orgall, les roches, les arbres qui se dressaient à sa lisière. (CC, 65f.)

Verne ruft hier das gesamte Bestiarium der Fabelwesen auf. Die Vielfalt an Gestalten ist überbordend, zudem treten sie alle im Plural auf und sind noch dazu in rauschhafter Bewegung. Die Wahrnehmung der physischen Realität scheint von der virtuellen Realität infiziert, wodurch sie ebenfalls in Bewegung gerät. Die Bewegung der Phantasmagorien, die der Apparat im Schloss hervorbringt, wirkt ansteckend auf die Wirklichkeit („tout lui parut être en mouvement“). Es findet eine dynamische Entgrenzung beider Sphären statt, die als konstitutiv für das Narrativ des Totalen Kinos zu bezeichnen ist. Dabei zeigen die Erscheinungen bereits Wirkung auf die Körper der Rezipienten; Nic Deck ist von ihnen gefesselt: „Nic Deck tend l’oreille, et ses yeux

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cherchent à percer les épaisses ténèbres qui recouvrent le burg.“ (CC, 66) Er ist wie versteinert, „immobile“ und stumm (CC, 66). Patak und der junge Förster werden von dem Spektakel affiziert und verwandelt: „[L]e forestier et lui ont pris un aspect cadavérique, figure blafarde, yeux éteints, orbites vides, joues verdâtres au teint grivelé, cheveux ressemblant à ces mousses qui croissent, suivant la légende, sur le crâne des pendus“ (CC, 68). Das unheimliche Licht, das aus dem Schloss dringt, seine „clarté intense, d’où sortent des éclats d’une pénétrante vivacité, des corruscations aveuglantes“ (CC, 66) macht aus ihren Körpern Leichen. Es kommt aus einer „source photogénique“, die „les baigne d’une lividité étrange“ (CC, 66). Dabei dauert das Phänomen nur „une minute au plus“, dann verschwinden „l’étrange lumière“ und „les mugissements s’éteignirent“ (CC, 68). Auch durch die Kürze der Vorstellung, die im Gegensatz zur Ausführlichkeit der Darstellung steht, wirkt die Vorführung wie ein Spuk. Anschließend herrschen wieder „le silence et l’obscurité“ (CC, 68). Der Text macht deutlich, dass es sich um audiovisuelle Erscheinungen gehandelt hat, um „phénomènes inexplicables de sons et de lumière“ (CC, 70), die vor den Augen des jungen Försters „surnaturelles“ (CC, 68) wirken. Patak scheint gänzlich transformiert: „[N]’était plus qu’une machine inerte“, „les épouvantements de cette nuit l’avaient réduit au plus complet hébétement“ (CC, 70). Der Doktor ist „un corps sans âme“ (CC, 72). Er wurde angesteckt von dem, was er gesehen hat.236 Auch hier scheint bereits ein Thema auf, das im Narrativ des Totalen Kinos stetig wiederkehrt: Das Gesehene infiziert den Rezipienten. Mit Blumenberg lässt sich darin die zentrale Warnung des platonischen Höhlenmythos wiedererkennen, wonach „[d]ie Schattenwelt […] die Innenwelt nicht nur affizieren, sondern infizieren“ kann.237 Die Infektionsgefahr erwächst aus der Rezeption. Zwischen den beiden Männern am Fuße des Schlosses scheint Kommunikation nach ihrem Kontakt mit dem Apparat vorerst nicht mehr möglich; Nic muss Patak schütteln, um sich verständlich zu machen, und als Patak ihn

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Zum Begriff der Ansteckung als Kategorie ästhetischer Affizierung siehe Fischer-­ Lichte, Erika: Zuschauen als Ansteckung. In: Schaub, Mirjam / ​Suthor, Nicola / ​Fischer-­ Lichte, Erika (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. München: Fink 2005, S. 35–50. Fischer-Lichte macht deutlich, dass der Vorgang der Ansteckung einer „körperlichen Transformation“ entspricht, was entsprechend bedeutet, dass die Rezeption hier eine „transformierende Kraft entfaltet und eine körperliche Veränderung herbeiführt“. Dies wiederum verweise auf den Medusamythos (ebd., S. 36). 237  Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt: Suhrkamp 1996, S. 121.

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ruft, „le forestier ne l’écouta point“ (CC, 73). Sie scheinen sich auf unterschiedlichen Ebenen zu befinden, Patak wirkt, als habe ihn die Kraft der Immersion ins Bild gezogen. So ist es nur folgerichtig, dass er kurz nach der phantasmagorischen Vorstellung erstarrt: […] voici qu’il ne peut bouger… Ses pieds sont retenus comme s’ils étaient saisis entre les mâchoires d’un étau… Peut-il les déplacer l’un après l’autre ? … Non !… Ils adhèrent par les talons et les semelles de leurs bottes… Le docteur s’est-il donc laissé prendre aux ressorts d’un piège ? … Il est trop affolé pour le reconnaître… Il semble plutôt qu’il soit retenu par les clous de sa chaussure. Quoi qu’il en soit, le pauvre homme est immobilisé à cette place… Il est rivé au sol… N’ayant même plus la force de crier il tend désespérément les mains… On dirait qu’il veut s’arracher aux étreintes de quelque tarasque, dont la gueule émerge des entrailles de la terre… (CC, 73f.)

Die unheimliche Stillstellung des Patak wird hier in erlebter Rede geschildert. Der Erzähler wundert sich mit ihm über seine plötzliche Bewegungslosigkeit und wirkt dadurch in dieser Passage einmal mehr selbst von der Wirkung des Dispositivs affiziert beziehungsweise infiziert. Die elliptischen Sätze, die durch die eingeschobenen rhetorischen Fragen zusätzlich gebremst werden, erwecken den Eindruck, als fiele auch ihm das Vorankommen schwer. Nic Decks ungestümes Vorwärtsdrängen wird von einem „coup de foudre“ (CC, 74) gebremst. Danach wird er auf einer „civière de branchages“ (CC, 82) getragen werden müssen, seine Verlobte wird ihn für tot halten, weil er ohne Bewusstsein ist, „les membres raidis, la figure exsangue, sa respiration lui soulevait à peine la poitrine“ (CC, 82). „Une partie de son corps était paralysée“ (CC, 82), so wurde er daran gehindert, ins Innere jenes Apparats zu blicken, der die Erscheinungen hervorgebracht hat. Die Projektionen sind bis ins ferne Dorf zu sehen. Dort halluziniert Nic Decks Verlobte Miriota, als Frau ohnehin für mediale Übertragungen empfänglich, zur gleichen Zeit ebenfalls von übernatürlichen Dingen (vgl. CC, 77). Und sogar in der mündlichen Nacherzählung entfalten die nächtlichen Phänomene noch einmal ihre Wirkung: Als Patak nach seiner Rückkehr Bericht ablegt über die Wesen, die den nächtlichen Himmel bevölkert haben, „tous les regards se portèrent vers le ciel pour voir“, und als er von den Klängen der Glocke erzählt, „toutes les oreilles se tendirent vers l’horizon, et plus d’un crut entendre des battements lointains, tant le récit du docteur impressionnait son auditoire“ (CC, 85). Dabei bietet Patak selbst einen entsetzlichen Anblick „avec sa figure convulsée, ses yeux fous“ (CC, 86). Als stamme er ebenfalls aus „cet autre monde“ (CC, 86), wiederholt er wie in einer Zeitschleife:

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„« […] Mes pieds y sont cloués… vissés… enracinés… J’essaie de les en arracher… c’est impossible… J’essaie de me débattre… c’est inutile. » Et le docteur Patak imitait les mouvements désespérés d’un homme retenu par les jambes“ (CC, 86). Es ist, als wäre Patak selbst Teil einer kinematographischen Reproduktion der Ereignisse, als wirke Virtualität viral. Gegen die Erscheinungen, die die Burg hervorbringt, war Patak denkbar schlecht gerüstet: Ausgestattet mit einer alten Pistole, einem Beil, einem bäuerlichen Hut und eisenbeschlagenen Stiefeln (vgl. CC, 50f.) wirkt er wie die Karikatur eines Hinterwäldlers, der mit den Medien einer neuen Ära konfrontiert wird. Kein Wunder also, dass diese ihn überfordern.238 Franz de Télek ist als Fremder im Dorf der Einzige, der für die Berichte von Patak und Nic Deck eine physikalische Erklärung vorschlägt: „En somme, les événements de cette nuit aux aventures, tout cela s’expliquait facilement si les êtres humains, malfaiteurs ou autres, qui occupaient le burg, possédaient la machinerie capable de produire ces effets fantasmagoriques.“ (CC, 122) Obwohl später auch Télek vom Apparat getäuscht wird, widerstrebt ihm zunächst der Aberglauben der Dorfbewohner: „Vous croyez avoir été frappé par un être surnaturel, et moi, je ne le crois pas, par ce motif qu’il n’y a pas d’êtres surnaturels, ni malfaisants ni bienfaisants.“ (CC, 124) Mit seinem aufklärerischen Impetus treibt Télek die Erzählung voran, denn wenn es nach den Dorfbewohnern ginge, wäre die Geschichte mit der Erklärung, dass in der Burg der Teufel haust, zu Ende. Damit ist Vernes Roman von einem epistemologischen Interesse angetrieben, hinter die Funktionsweise des Dispositivs zu blicken. Das Versprechen, „soyez sûr que tout s’expliquera et de la façon la plus simple“ (CC, 124), ist somit vor allem an die Leserinnen und Leser gerichtet. Trotz seines „ton assez ironique“ (CC, 100) angesichts des Aberglaubens im Dorf, erbleicht jedoch auch Télek, als er hört, wem die Burg gehört: „[M]achinalement, il répétait ce nom d’une voix altérée : « Rodolphe de Gortz ! »“ (CC, 102). Télek wird hier selbst zum mechanischen Wiedergabeapparat. Das Schloss hat auf ihn einen ganz ähnlichen Effekt wie auf die Dörfler: „[L]e village était terrorisé. Le travail des champs était entièrement délaissé. On se

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Verne nimmt hier das Szenario der Rube- oder Uncle-Josh-Filme vorweg, in denen „a simpleton mistakes the representation on the screen for physically present objects and people and intervenes in the action“, wie Thomas Elsaesser schreibt. Siehe Elsaesser, Thomas: Between Knowing and Believing. The Cinematic Dispositive after Cinema. In: Albera, François / ​Tortajada, Maria: Cine-Dispositives. Essays in Epistemology Across Media. Amsterdam: University Press 2015, S. 45–72, hier S. 59.

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tenait chez soi, portes et fenêtres closes.“ (CC, 88f.) Die Burg implementiert ein Terror­regime und ist gleichzeitig uneinnehmbar: „Il semblait, vraiment, que le château des Carpathes aurait pu se défendre rien que par la seule impracticabilité de ses approches.“ (CC, 136) Sie ähnelt einer black box, die Effekte hervorbringt, aber in die hineinzusehen, denen verwehrt bleibt, die diese Effekte wahrnehmen. Nicht nur ist der Weg zum Schloss voller „obstacles“ (CC, 136), es liegt außerdem „au milieu de ce morne désert“ des Orgallplateaus (CC, 136) und ist wie bereits erwähnt durch Burgmauer, Graben und Falltor gesichert. Obwohl seine Wirkung bis in die Stube des Dorfgasthauses hineinreicht, entzieht es sich dem Zugriff, sowohl durch räumliche Abschottung als auch durch Abschreckung, durch Angst und Terror. Als sich Franz de Télek auf den Weg zur Burg macht, gelingt es ihm nur deshalb, ins Innere zu gelangen, weil Gortz es darauf abgesehen hatte. Télek nimmt die Burg also nicht ein, sondern wird in ihr Inneres gelockt, um dort nach dem Plan des Barons den Tod zu finden. Auch Télek wird Zeuge der nächtlichen Projektionen, die das Schloss aussendet. Wiederum herrscht Dunkelheit, als aus dem Inneren der Burg ein gebündelter Lichtstrahl dringt und „une forme vague“ erscheint, die nach und nach Gestalt annimmt: Oui ! et c’était la Stilla, immobile, les bras dirigés vers le jeune comte, son regard si pénétrant attaché sur lui… « Elle ! … Elle ! … » s’écria-t-il. Et, se précipitant, il eût roulé jusqu’aux assises de la muraille, si Rotzko ne l’eût retenu… L’apparition s’effaça brusquement. (CC, 138)

Das Schloss erweist sich als wirkmächtiger Projektionsapparat, der eine Reproduktion der Stilla hervorbringt, die von ihrem Verlobten als „vivante“ (CC, 140) bezeichnet wird. Télek ist sich sicher, dass die Stilla „avait survécu“ (CC, 140). Hier zeigt sich bereits der Distanzverlust, den die Phantasmagorie als solche provoziert:239 Télek stürzt sofort auf die Stilla zu, eben weil er sie für lebendig hält, und droht deshalb in einen Abgrund zu fallen, den Abgrund der Immersion. „Il avait là une certitude absolue“, dass die Stilla lebt (CC, 140). Damit präfiguriert der Roman die zentrale Rezeptionserfahrung, die in das Narrativ des Totalen Kinos eingehen wird: die Ununterscheidbarkeit, ob es sich beim Wahrgenommenen um Wirklichkeit oder Simulation handelt.

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Es sei hier an die Etymologie des Begriffs erinnert, der eine Versammlung (agora) aus Zuschauern und Trugbildern (phantasma) beschreibt. Siehe dazu die eingangs zitierte Forschungsliteratur.

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Als „machinerie spéciale, destinée à épouvanter le pays en produisant des phénomènes, qui ne pouvaient être attribués qu’à une intervention diabolique“ (CC, 164) erschreckt das Schloss jene, die sich ihm nähern, mit „silhouettes photographiques de monstres projetées au moyen de puissants réflecteurs“ (CC, 166). Einzig Télek sollte durch die Projektionen angelockt werden: „La voix de la Stilla […] avait provoqué le jeune comte à se détourner de sa route“ (CC, 166). So verstärken die Erscheinungen in seinem Fall noch „l’irrésistible désir d’y pénétrer“ (CC, 166). Symptomatisch für die immersive Kraft des Dispositivs schließt sich die Zugbrücke hinter ihm: „Télek était prisonnier“ (CC, 144). Im Inneren des Schlosses findet er sich in den engen Gängen eines Labyrinths wieder: „murs solides“, „corridores multiples“, „escaliers dérobés“, „d’interminables couloirs, „longs tunnels“, „infinis méandres“ – „tel était l’ensemble de ce château des Carpathes, dont le plan géométral offrait un système aussi compliqué que ceux des labyrinthes de Porsenna, de Lemnos ou de Crète“ (CC, 146). Das Schloss ist eine verkehrte Camera obscura, „où n’arrivait jamais la lumière du jour“.240 Télek scheint begraben unter „l’énorme amas de pierre“ (CC, 146). In den Katakomben dieser Höhle herrscht „la plus complète obscurité“ (CC, 147), nur ein einzelner Lichtstrahl dringt aus dem Inneren, der das ganze Etablissement in eine Laterna magica verwandelt, die nach außen projiziert (vgl. CC, 144). Nachdem Télek sich gefangen sieht in der Burg, dringt er weiter in sie vor, immer auf diesen Lichtstrahl zu. Doch scheint es vielmehr, als sauge das Schloss ihn ein. Die Gänge werden immer enger, Télek verliert die Orientierung, stolpert und muss doch immer weiter: „[T]out était obscur, insondable, et c’est en vain qu’il cherchait à s’orienter au sein de ce labyrinthe, véritable travail de taupes.“ (CC, 147) Verirrte Echos beherrschen diese Gemäuer und tragen zum Orientierungsverlust bei, „les échos auraient pu répercuter jusqu’aux étages du donjon“ (CC, 148). Immer tiefer führen Gänge und Treppen hinab unter die Erde, bis Télek zur Quelle des Lichtstrahls ge240  Verkehrt ist diese Camera obscura, weil in sie nicht Abbilder äußerer Erscheinungen dringen, sondern sie ihrerseits Erscheinungen nach außen projiziert und insofern einer Laterna magica ähnelt. Kittler weist darauf hin, dass die „Sendeapparatur“ der Laterna magica „ein technischer, allerdings kein historischer Zwilling der Camera obscura“ war und führt aus: „Der Sache nach dreht die Laterna magica einfach die Camera obscura um. Wieder trennt das Loch in einer Wand Innen und Außen, System und Umwelt. Aber anstelle der Lichtquelle Sonne, die bei der Camera obscura Bilder aus der Umwelt ins System überträgt, tritt bei der Laterna magica eine künstliche Lichtquelle, anfangs also eine schlichte Kerze, im Systeminneren [sic!].“ Siehe Kittler: Optische Medien, S. 83.

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langt: „Franz se courba et regarda, sans faire un mouvement“ (CC, 149). Das Licht dringt aus einer Krypta, dem Zentrum des gesamten Schlosses, in deren Mitte eine „lumière jaunâtre“ hängt (CC, 149). Von dieser Lichtquelle bezieht der totalkinematographische Apparat sein Licht. Hier erwartet Franz eine Mahlzeit, die er hinunterschlingt und nach der er in einen seltsamen unbewussten Zustand fällt: Franz voulut se relever… Il n’y parvint pas, et sa pensée s’endormit ou, pour mieux dire, s’arrêta brusquement, comme l’aiguille d’une horloge dont le ressort se casse. Ce fut un sommeil étrange, ou plutôt une torpeur accablante, un absolu anéantissement de l’être, qui ne provenait pas de l’apaisement de l’esprit… (CC, 150)

Überaus deutlich zeigt sich hier die Macht des audiovisuellen Dispositivs auf den Körper. Télek wird stillgestellt, sein Denken angehalten, das Sein scheint aufgehoben. Er ist „torpide“, ganz so als sei seine bewusste Existenz an das Licht der seltsamen Laterne im Inneren des Schlosses gekoppelt. Erst als diese wieder aufleuchtet, erwacht auch er. Der Rezipient scheint selbst zu einer Projektion geworden zu sein, die mit dem Licht erlischt. Beim Eintreten in die Krypta hat er sich offenbar in eine Zeitschleife begeben: So sind, als er erwacht, Teller und Krug wieder gefüllt, ganz so als hätte jemand die Vorführung noch einmal von vorn gestartet. Das Schloss krümmt Zeit und Wahrnehmung; ob in diesem Moment Tag oder Nacht herrscht, lässt sich nicht sagen. Im Inneren der Burg scheint eine eigene Zeit zu gelten, die nicht linear, sondern zyklisch verläuft, und abhängig davon ist, ob das Licht in der Krypta brennt oder erloschen ist. Kurz nachdem die Laterne wieder zu leuchten begonnen hat, erscheint Stilla dem Graf von Télek zum zweiten Mal: „[U]ne voix d’une douceur infinie arriva jusqu’au jeune comte“ (CC, 152). Sie singt „Andiamo, mio cuore… andiamo…“ (CC, 152) und ruft ihn zu sich ins Totenreich. Hier scheint der Orpheusmythos auf, Télek will seine verstorbene Verlobte finden, „la prendre entre ses bras, l’entraîner hors du burg“ (CC, 152).241 Doch ihre Stimme entfernt sich und Télek glaubt, „je vais devenir fou… fou comme elle“ (CC, 154). Da schließt sich hinter ihm leise auch noch die letzte offene Tür, Télek „était maintenant emprisonné dans la crypte“ (CC, 154). Diese Krypta ähnelt nur auf

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Vgl. zum Orpheusmythos in Le Château des Carpathes auch Schuerewegen: Le berger est un monstre, S. 265.

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den ersten Blick dem unterirdischen Labor in L’Ève future.242 Betrachtet man die Topographie der beiden Orte genauer, so zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: Während die Höhle, in der Edison seine Eva der Zukunft zum Leben erweckt, feucht und warm wie ein Uterus ist, in dem (künstliche) Blumen ihren Duft verströmen, ist das Schloss des Baron de Gortz zur Maschine geworden. In seinen mechanischen Windungen und kalten Schächten entsteht die Reproduktion der Stilla, deshalb ist die „crypte baignée de la « clarté factice » de l’électricité“.243 Anders als in Villiers’ Roman, wo der Erfinder Edison die Usurpation weiblichen Gebärens dank seiner Kunstfertigkeit und seines Geschicks vorbereitet, werden bei Verne die Burgmauern zum Gehäuse eines Apparats, der die Illusion von Leben mechanisch-anorganisch hervorbringt. Indem der Text die Seite der Rezeption breiter ausführt als jene der Produktion der Erscheinungen, wird auch seine ikonoklastische und medienskeptische Geste deutlicher als noch bei Villiers: Le Château des Carpathes führt vor, welchen Schaden der Rezipient durch die medialen Reproduktionen nehmen kann. So hat das Wiedererscheinen der Stilla auf Télek eine erschütternde Wirkung: Er verliert „la faculté de réfléchir, la compréhension des choses, l’intelligence nécessaire pour en déduire les conséquences“ (CC, 154). Vernes Präfiguration der Kinematographie nimmt auch hier einen zentralen Aspekt späterer Kritik am Kino vorweg. Das Erscheinen der projizierten Stilla hat jene Wirkung, die Chihaia als Unschlüssigkeit zwischen Immersion und Infiltration beschreibt und mit dem Kino in Verbindung bringt. Die Antwort auf die Frage, ob die Reproduktion – trotz der Tatsache, dass es sich nur um ein projiziertes Gemälde handelt – tatsächlich lebensähnlich ist oder ob Télek durch die Immersionskraft des Schlosses die Fähigkeit, Fiktion und Realität zu unterscheiden, eingebüßt hat, bleibt offen. Weil diese Unschlüssigkeit den Text maßgeblich prägt, ist Le Château des Carpathes für Chihaia der erste Roman überhaupt, der die neuartige Rezeptionsästhetik des Kinos zu fassen versucht.244 Als Télek sich endlich aus der Krypta befreit, ist es draußen dunkel. Télek findet „sculptures égratignées“ und zerstörte, ehemals schmuckverzierte Räume (CC, 159). Stilla ist das einzige intakte Bild in dieser ikonoklastischen Umgebung. Schließlich gelangt Télek zu einem Spalt in einer Mauer, durch den er Orfanik, „cet inventeur toujours à la poursuite de quelque chimère“ (CC, 159),

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Vgl. Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 178. Ebd., S. 179. 244  Vgl. Chihaia, Matei: Der Golem-Effekt, S. 118. 243 

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und Gortz, dessen „regard étincelant jusqu’au fond de ses noires orbites“ (CC, 160), beobachtet. An diesem Punkt nun kündigt der Erzähler an, im Folgenden den Dialog der beiden wiederzugeben, als wäre der Text selbst nur Reproduktion eines Geschehens. Doch diese Wiedergabe dauert nicht lange, da ergreift der Erzähler wieder selbst das Wort: A notre avis, l’heure est venue de donner l’explication de certains phénomènes, qui se sont produits au cours de ce récit, et dont l’origine ne devait pas tarder à être révélée. A cette époque — nous ferons très particulièrement remarquer que cette histoire s’est déroulée dans l’une des dernières années du XIXe siècle, — l’emploi de l’électricité, qui est à juste titre considérée comme « l’âme de l’univers », avait été poussé aux derniers perfectionnements. L’illustre Edison et ses disciples avaient parachevé leur œuvre. (CC, 162f.)

In dieser Passage offenbart sich der Text nicht nur als Science-Fiction-Roman, der mit den Erwartungen an die Technologien einer nahen Zukunft („dans l’une des dernières années de XIXe siècle“) spielt, der Erzähler nimmt auch die Rolle dessen ein, der die Funktionsweise des Dispositivs enthüllt. Daraus ergibt sich einerseits ein retardierendes Moment für den Verlauf der Handlung, andererseits aber dient diese eingeschobene erklärende Episode auch dazu, die Macht des Dispositivs nur umso deutlicher zu unterstreichen. Schließlich wissen die Leserinnen und Leser fortan, dass es sich bei Stillas Erscheinen weder um einen Spuk noch um eine Halluzination oder gar um eine Entführung handelt, sondern um ein mediales Spektakel. So hat die Leserin gegenüber Télek einen Informationsvorsprung, vor dessen Hintergrund die täuschende Wirkung der Projektion auf Télek noch effektiver erscheint. Der Text legt die Arbeit des Dispositivs offen und damit seine Ideologie: Demgemäß verweist das kinematographisch Spezifische auf eine Arbeit, d.h. auf einen Transformationsprozeß. Die Frage ist dabei, ob die Arbeit sichtbar ist, ob die Konsumtion des Produkts einen Bewußtseinseffekt nach sich zieht, oder aber, ob die Arbeit verborgen ist; wobei, wenn letzteres zutrifft, das Produkt offenbar von ideologischem Mehrwert begleitet wird. Auf der praktischen Ebene stellt sich hierdurch die Frage, durch welche Verfahren die Arbeit tatsächlich in ihrer Einschreibung lesbar gemacht werden kann.245

245 

Baudry, Jean-Louis: Kinematographischer Apparat und Raumbegriff. In: Günzel, Stephan (Hg.): Texte zur Theorie des Raums. Stuttgart: Reclam 2013, S. 147–163, hier S. 159.

JULES VERNE | LE CHÂTEAU DES CARPATHES

In Le Château des Carpathes macht der literarische Text die Arbeit des Apparats lesbar. Die bereits erwähnte Fußnote über „l’invention du téléphote“ (CC, 163), einer Art Bildtelefonie, die an dieser Stelle eingeschoben ist, betont die Schriftlichkeit des Textes und zeigt so an, dass es der Text ist, der hinter die Apparatur zu blicken vermag und dieser damit überlegen ist.246 Insofern ist ­Mikkonens Fazit, wonach „the Vernian text can be metaphorized as a machine, it is a construction that places emphasis on duration and speed“, nicht ganz treffend, weil es die autoreflexive Ebene außer Acht lässt.247 Der Text ist nicht selbst der Apparat, sondern er stellt einen Apparat aus, den er selbst hervorbringt; er imaginiert ein audiovisuelles Dispositiv, reflektiert aber gleichzeitig, dass dieses literarisch erzeugt ist: „[L]e château des Carpathes n’existet-il que dans l’imagination“ (CC, 15). Während der Erzähler die Funktionsweise des Apparats erläutert, sitzt Télek passiv, stumm und bewegungslos vor dem Spalt in der Mauer. Er ist vom aktiven, sich vorwärts kämpfenden Retter zum passiven Zuschauer geworden. Dabei imaginiert er, wie „il les aurait terrassés, il les aurait frappés, il les aurait mis hors d’état de nuire“ (CC, 168). Die Wiederholung in dieser Konstruktion verdeutlicht seine Untätigkeit, der dreifache Konjunktiv unterstreicht, wie unmöglich all diese Vorhaben tatsächlich sind. Télek wird seinem Namen gerecht und zum tele-skopischen Beobachter. „Franz regarda“ (CC, 169) wird das neue, ständig wiederkehrende Leitmotiv. Als er sich danach weiter durch das Schloss bewegt, kommt Télek zu einem Raum, in dem er die Projektion der Stilla zum zweiten und letzten Mal sieht: „A travers le trou de la serrure, dont la clef était en dehors, filtrait un vif rayon de lumière. […] En appliquant son œil à la serrure, il ne distingua que la partie gauche d’une chambre, qui était très éclairée, la partie droite étant plongée dans l’ombre.“ (CC, 172) Der Raum, in den Télek hier späht, erscheint nicht von ungefähr wie der Saal eines Kinos, der auf der einen Seite von einem Lichtstrahl erleuchtet wird, während der andere Teil im Dunkeln liegt. Tatsächlich hängen schwere Vorhänge vor den Fenstern „qui ne laissaient rien passer au-dehors de la clarté intérieure“ und „sur le plancher se développait un tapis de haute laine, sur lequel s’amortissaient les pas“ (CC, 172). Wie

246 

In der deutschen Übersetzung fehlt diese Fußnote, die Anmerkung ist stattdessen in Klammern in den Text integriert, was einen Großteil des metapoetischen Potenzials dieser Ergänzung verloren gehen lässt. Vgl. Verne, Jules: Das Karpathenschloß (übers. v. Hansjürgen Wille u. Barbara Klau). Zürich: Diogenes 1977, S. 242. 247  Mikkonen: The Plot Machine, S. 85.

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schon in L’Ève future findet die Vorführung von der Außenwelt abgeschirmt und im Dunkeln statt. Baron de Gortz genießt hier jeden Abend ein „spectacle audio-visuel“.248 Er rezipiert die Aufnahmen nicht „comme on use d’une photographie, dont la contemplation renforce en nous le sentiment de l’évanescence du modèle. Il se livre lui aussi à une illusion“.249 Das Ziel dieser Illusion ist „la dénégation de la mort“.250 Zehn Fuß von der beleuchteten Leinwand entfernt steht ein altertümlicher Sessel. Dieser markiert den Standpunkt des Betrachters Gortz, der während der Rezeption unbeweglich ist. So ist auch in diesem Raum die Architektur Teil des Dispositivs, die Stillstellung des Rezipienten sowohl Ursache als auch Folge von dessen ästhetischer Wirkung. Rodolpe de Gortz sitzt in diesem Sessel und teilt mit Télek die Zuschauerrolle ebenso wie die Bewegungsunfähigkeit: „Soudain la Stilla apparut. Franz laissa tomber son couteau sur le tapis.“ (CC, 173) Télek erstarrt, die Stilla dagegen erscheint lebendig:251 La Stilla était debout sur l’estrade, en pleine lumière, sa chevelure dénouée, ses bras tendus, admirablement belle dans son costume blance de l’Angelica d’Orlando, telle qu’elle s’était montrée sur le bastion du burg. Ses yeux, fixés sur le jeune comte, le pénétraient jusqu’au fond de l’âme… (CC, 173)

Hell und strahlend ist sie hier tatsächlich eine angelische Erscheinung. Und wie schon auf der Burgmauer ist Télek überzeugt davon, dass das Bild zurückblickt und selbst beseelt ist, „son âme d’artiste lui était-elle restée tout entière“ (CC, 174). Obwohl Stillas Gesang die beiden Männer fasziniert, betont der Text doch immer wieder, dass nicht ihre Stimme allein sie betört: „Il s’absorbait dans l’ardente contemplation de cette femme qu’il croyait ne jamais revoir, et qui était là, vivante, comme si quelque miracle l’eût ressuscitée à ses yeux !“ (CC, 174) Aus ihrem Blick liest er, dass sie lebt. In ihrem vermeintlichen Zurückblicken liegt also die täuschende Illusion. „Stilla.. ma chère Stilla, répète-t-il, toi que je retrouve ici.. vivante…“ (CC, 176) Télek vermeidet das

248 

Milner: La Fantasmagorie, S. 231.

249 Ebd. 250 Ebd. 251 

Für Mikkonen ist diese Differenz zwischen Stillstellung und Belebung der Stilla ein zentrales Motiv des Romans: „Her name, reproduction on a portrait, phonograph, and slide projection, as well as her death preceding the narrative all emphazise a state of immobility and possibly increase the effect of her electric animation.“ Siehe Mikkonen: The Plot Machine, S. 95f.

JULES VERNE | LE CHÂTEAU DES CARPATHES

konkrete, aktive Verb elle vive; er wiederholt stattdessen immer wieder „elle… vivante“. Die Ellipse zeigt subtil die Täuschung an: Sie scheint/wirkt/sieht aus wie lebendig, sie … lebendig – aber sie ist es nicht. Der Text weigert sich also, die Täuschung seines Protagonisten mitzuvollziehen; er macht sie nachvollziehbar, aber enthält sich einer abschließenden Festlegung.252 In diesem Widerstehen liegt das Argument des Romans gegenüber dem Kino: Anders als L’Ève future zielt der Text hier nicht darauf, das Dispositiv zu übertrumpfen, sondern darauf, es zu stören. Auf dem „vivante“ liegt die stärkste Betonung im Schlusskapitel des Romans. Immer wieder unterstreicht Télek „son amour pour cette femme qu’il retrouvait vivante, out ! vivante !“ (CC, 142) und damit die Täuschung, der er erliegt. Doch schließlich löst Baron de Gortz das Rätsel auf: „« […] Vivante… la Stilla… vivante ! … » s’écrie le baron de Gortz. Et cette phrase ironique s’achève dans un éclat de rire, où l’on sent tout l’emportement de la rage.“ (CC, 176) Um zu beweisen, dass es sich bei der Stilla um sein Kunstwerk handelt, stößt Gortz ihr ein Messer ins Herz – und Télek hört, wie ein Spiegel zerspringt: „[A]vec les milles éclats de verre, dispersés à travers la salle, disparaît la Stilla…“ (CC, 176) Die Stilla offenbart sich als Spiegelung des männlichen Begehrens. Téleks Abstieg in die Fundamente der Burg ist deshalb auch ein Abstieg in sein eigenes Unbewusstes. Daher die Dunkelheit, die Getriebenheit, die Orientierungslosigkeit. Dort findet er nun den Ursprung seines Begehrens: Die ideale Frau ist eine männliche Konstruktion. Dieser Topos der Frau, die für das Begehren des männlichen Betrachters geopfert wurde, ist nicht neu, allerdings nimmt Vernes Roman eine Verschiebung vor, indem die Erschaffung der lebendigen Bildfrau hier nicht der Schaffenskraft eines männlichen Künstlers obliegt, sondern dem audiovisuellen Dispositiv. Weder Gortz noch Orfanik sind die Schöpfer der Stilla, viel entscheidender für die Hervorbringung der audiovisuellen Reproduktion sind das Karpatenschloss, die in ihm befindlichen Apparate sowie seine Architektur und die Topographie seiner Umgebung. Das Schloss repräsentiert den Kinematographen avant la lettre. Auf diese Weise nimmt Vernes Roman das Thema des belebten Kunstwerks auf und formt es so um, dass die Potenz des Schöpfers in den Apparat, genauer in den Lichtstrahl des Apparats, ausgela252 

Die deutsche Übersetzung geht auf diesen radikalen Unterschied nicht ein und übersetzt „elle… vivante“ jedes Mal mit einem verkürzenden und letztlich falschen „sie lebt“. Vgl. Verne: Das Karpathenschloß (übers. v. Hansjürgen Wille u. Barbara Klau), S. 208ff.

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gert wird. Damit geht Le Château des Carpathes einen entscheidenden Schritt, der für nachfolgende Werke, die sich mit dem Kino auseinandersetzen, prägend sein wird. Der Roman gibt dem Pygmalionmythos im Zeitalter des Kinos einen Impuls, der diesen in das Narrativ des Totalen Kinos münden lässt. Vernes Roman antizipiert somit zentrale Motive und Kritikpunkte am Kino-Dispositiv, er hat dessen ideologische Effekte ebenso im Blick wie die Frage nach der Macht des Sehens und Gesehen-Werdens.

1.3 Résumé: der Apparat des Totalen Kinos In der Zusammenschau von L’Ève future und Le Château des Carpathes, die beide vor der Erfindung des Cinématographe verfasst und veröffentlicht wurden, kristallisieren sich entscheidende Mythologeme sowie Umdeutungen bereits existierender Mythen, die für das Narrativ des Totalen Kinos wesentlich werden: Wie die Lektüre von Villiers’ L’Ève future gezeigt hat, bezieht der Roman Inspiration aus dem Pygmalionmythos, deutet diesen jedoch zunehmend auf eine technisch-apparative Herstellung der künstlichen Frau hin um. Villiers’ Erfinder Edison ist Schöpfer eines Maschinenmenschen – ein Motiv, das an ältere literarische Imaginationen anknüpft –, aber er kreiert die Androide mittels kinematographischer Techniken: Der Animation des Maschinenleibes geht nicht nur die Projektion einer Photographie voraus, sondern auch die Vorführung zweier kurzer Filme, die bereits den Tonfilm vorwegnehmen. Körper und Antlitz der Androide werden ihr schließlich mittels photographischem Verfahren vom Modell übertragen. Damit wird die Androide Hadaly selbst zu einer dreidimensionalen, lebensechten Projektion, die indes auch tastbar ist und wie die reale Frau nach Amber und Rose duftet. Der Kern des Narrativs vom Totalen Kino ist bereits hier angelegt: die Inszenierung einer täuschend lebendigen Reproduktion der Realität und schließlich die Bezeugung der Illusion durch den Rezipienten. * Die Ausgestaltung der bewegten Photoskulptur und damit die Verwirklichung des Traums vom Totalen Kino obliegt bei Villiers dem künstlerischen Geschick ihres Schöpfers, der nicht nur die Farbe ihrer Augen auswählt, sondern auch ihren Hautton präzise nachzuahmen versucht. In diesen pygmalionesken Anklängen unterscheidet sich L’Ève future von Jules Vernes Le Château des Car-

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pathes. Hier nämlich tritt der geniale Erfinder in den Hintergrund – die Hervorbringung und Wirkung des scheinbar lebensähnlichen Abbildes wird dem Apparat sowie der Topographie des Romans, letzen Endes also dem Dispositiv selbst, zugeschrieben. Im Vergleich zu Villiers’ Werk erscheint Vernes sechs Jahre jüngerer Roman zunächst anachronistisch, handelt es sich bei der Projektion der Stilla doch um ein projiziertes Gemälde statt um Bewegtbild. Verne geht hinter die von Villiers imaginierte photographie successive zurück und entwirft eine Illusion, deren Wirkung auf den Rezipienten nicht auf die Indexikalität des photographischen Bildes zurückzuführen ist. Stattdessen wird bei Verne die Projektion der Sängerin mit ihrer Stimme ausgestattet, der täuschende Realitätseindruck also mit der phonographischen Reproduktion verknüpft und ihr auf diesem Wege Dauer und die Illusion von Realpräsenz eingeschrieben. Schließlich ist die menschliche Stimme eben dadurch charakterisiert, dass sie in der Reproduktion nicht nachgeahmt, sondern nur wiedergegeben werden kann und damit immer schon auf die Präsenz eines lebendigen Körpers hinweist.253 Dass in Vernes Roman einem lediglich gemalten Portrait die Täuschung des Rezipienten gelingt, unterstreicht, dass die Macht zur illusionistischen Belebung hier nicht in der realistischen Darstellung liegt, sondern im Dispositiv. Die Lebensähnlichkeit von Stillas Portrait ist nicht entscheidend dafür, ob Télek die Phantasmagorie für lebendig hält: Ihrem Abbild fehlen Bewegung und mimetische Perfektion – und dennoch gelingt die Illusion durch die infektiöse Wirkung des Dispositivs.254 Indem der Roman selbst zu einer Landkarte medialer Topik wird, träumt Le Château des Carpathes vom Totalen Kino und verlagert die Verwirklichung dieses Traums in den Apparat, auf den sich sämtliche Blicke fokussieren. Gleichzeitig betont Vernes Roman die negativen Effekte der Simulation auf den Rezipienten; der Text erscheint insofern den neuen medialen Möglichkeiten gegenüber deutlich skeptischer als noch Villiers’ Roman. Indem erzählt wird, wie dem jungen Grafen die Denk- und Reflexionsfähigkeit angesichts der totalkinematographischen Projektion abhanden kommt, nimmt Le Château des Carpathes bereits Argumente jener Medienkritik vorweg, die das Narrativ des Totalen Kinos weiterhin prägen wird. *

253  254 

Vgl. Baudry: Das Dispositiv, S. 389. Vgl. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 121.

RÉSUMÉ: DER APPARAT DES TOTALEN KINOS

Beiden Romanen ist indes eine gespenstische Anwesenheit des weiblichen Körpers eingeschrieben. So reflektieren sie bereits, was in den folgenden Lektüren immer wieder aufscheinen wird: Die Kopie droht das Original zu ersetzen und mit dem Tod zu infizieren. Villiers’ Erzähler betont die abwesende Anwesenheit der realen Frau besonders stark, indem er drei Frauenfiguren auftreten lässt, die allesamt nur als Leerstellen anwesend sind. Die Männer halten ihre Blicke zwar unentwegt auf diese Bildfrauen gerichtet, deren Zurückblicken meiden und verschleiern sie allerdings. Die reale, authentische, nicht medial vermittelte Frau wird in der Konstellation des Romans zum Desiderat und der Kinematographie als Mangel eingeschrieben. So wird in L’Ève future immer nur über diese Frauen gesprochen, sie selbst kommen jedoch kaum zu Wort. In einer ironischen Brechung der Strategie des Erfinders Edison lässt Villiers damit dessen Bemühungen um eine perfekt mimetische Reproduktion subtil ins Leere laufen, indem gezeigt wird, dass die reale Frau den beiden Männern längst abhanden gekommen ist: „[T]he machine is designed to perpetuate the object of male desire but it turns out to be a mere delusion“.255 Edison versucht, eine Frau zu ersetzen, die nie wirklich da, sondern immer nur als (männliche) Projektion von Weiblichkeit gespenstisch anwesend war. In der abwesenden Anwesenheit des Objekts der Begierde liegt die eigentliche Ironie des Romans: Die Kinematographie kann nur eine Leerstelle reproduzieren, so entlarvt sich in ihr die narzisstische Selbstbespiegelung des männlichen Blicks. * Der männliche Betrachter spielt in beiden Romanen die Rolle dessen, der vom Dispositiv getäuscht wird. Ihm gelingt es nicht, den Realitätseindruck, den der totale Apparat hervorbringt, zu überprüfen und die künstliche Frau von der realen zu unterscheiden. So wird dieser Realitätseindruck zu einem zentralen Aspekt kinematographischer Ästhetik – noch bevor der Kinematograph überhaupt existiert. Die beiden Romane nehmen damit bereits Aspekte vorweg, die in der realistischen Filmtheorie sowie in Baudrys Dispositivbegriff zentral werden sollten, und liefern dadurch Präfigurationen für Bazins Le Mythe du Cinéma total. Insbesondere Villiers’ Roman übernimmt im Hinblick auf diesen Mythos jene „magische Sicherung“, die Blumenberg

255 

Mikkonen: The Plot Machine, S. 30.

165

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als Merkmal der Präfiguration bezeichnet.256 Der Roman verbürgt in seiner proto-­kinematographischen Narration das Ziel, auf das das Kino zuzusteuern scheint und sichert somit die technische Entwicklung des Kinos gegen den Eindruck von Willkür ab.257 Damit erweist sich die literarische Imagination als Quelle und Fluchtpunkt des Narrativs des Totalen Kinos. Während in L’Ève future der photographisch erzeugte, dreidimensionale Maschinenleib die Totalkinematographie verkörpert, die Illusion also der Produktionsseite zugeschrieben wird, ist im Fall von Vernes Roman das Gelingen der Täuschung stärker auf die Seite der Rezeption verschoben. Die ästhetische Wirkung des Bewegtbildes ist damit bereits zweipolig angelegt: Produktions- und Rezeptionsästhetik spielen zusammen, die Immersion des Rezipienten tritt neben die Infiltration des Kunstwerks. * Ablesbar ist die unterschiedliche Konzeption der Illudierung des Rezipienten in den Romanen auch an ihren jeweiligen narrativen Strategien: Während den Leserinnen und Lesern in Le Château des Carpathes ein Informationsvorsprung gewährt wird und sie bereits wissen, dass der Protagonist einer Simulation gegenübersteht, inszeniert Villiers die Infiltration der Androide als Effekt des Textes und damit klassisch pygmalionesk. L’Ève future führt in einer Dekonstruktion des Pygmalionmythos die Infiltration des Kunstwerks als literarisches Schaustück vor. Der Roman stellt sein eigenes Beherrschen der literarischen und ästhetischen Traditionen aus und übertrumpft damit den Apparat. Die Leserinnen und Leser werden selbst zu Getäuschten. Der Text spielt Edisons Spiel bis zum Ende mit und erweist sich damit selbst als überzeugendes Illusionsmedium, das die Infiltration der künstlichen Frau ermöglicht. Bei Verne hingegen widersetzt sich der Text, die Täuschung seines Pro­ tagonisten mitzuvollziehen. Er macht sie zwar narrativ nachvollziehbar, distanziert sich aber zugleich von dem Apparat, der sie hervorbringt. Die Stilla verlässt, anders als Hadaly ihre hypodiegetische Ebene nur scheinbar, nämlich aus der Sicht von Télek. Der Erzähler aber nimmt nicht dessen Perspektive ein. Im Auseinanderklaffen der beiden Betrachterstandpunkte zeigt sich, dass das totalkinematographische Dispositiv bei Verne lediglich zu einer Illusion fähig ist, die der Roman bereits vorher als solche kenntlich gemacht

256  257 

Blumenberg: Präfiguration, S. 17. Vgl. ebd.

RÉSUMÉ: DER APPARAT DES TOTALEN KINOS

und durchkreuzt hat. Le Château des Carpathes verfolgt also eine anders gelagerte Überbietungsgeste als L’Ève future: Der Text versucht das audiovisuelle Dispositiv nicht zu übertrumpfen, sondern kostet dessen illusionistische Macht aus, während er zugleich gegen sie arbeitet. Bei Verne erweist sich die Illusion als Machtdemonstration am affizierten Körper des Rezipienten; das Dispositiv wird dadurch vom Text nicht nur ausgestellt, sondern denunziert. * Dabei waren beide Romane im Hinblick auf ihre kinematographischen Visionen äußerst innovativ. Aus einer filmhistorischen Perspektive erscheint ein audiovisueller Medienverbund, wie er in L’Ève future und Le Château des Carpathes präfiguriert wird, geradezu unerhört. Münsterberg pocht noch 1916 darauf, Optisches und Akustisches zu trennen, da durch den Ton im Film die „visuelle Reinheit zerstört“ werde.258 Der Filmtheoretiker warnt davor, durch die Verknüpfung von Kinematographie und Phonographie das Kino „dem wirklichen Theater“ ähnlich zu machen, schließlich soll Film keine „Nachahmung der Bühne“, sondern vielmehr eine eigene Kunst sein.259 Das Narrativ des Totalen Kinos, wie es Villiers und Verne imaginieren, steht dieser Reinheitsästhetik entgegen. Bereits vor der Erfindung des Cinématographe präfiguriert die Literatur also ein Medienverbundsystem, das „das l’art pour l’art […] in Optik und Akustik“ zu Fall bringt.260 Der wahrnehmungsästhetische Umbruch, den das Konkurrenzmedium Film auch aus Sicht der Literatur bedeutete, ist in beiden Werken jedenfalls bereits deutlich spürbar. Kittler fasst diesen Paradigmenwechsel treffend in Worte: „Jene große Dame Natur, von der alle Welt redete und niemand etwas sah, stirbt an perfekter Simulation.“261 *

258 

Münsterberg, Hugo: The Photoplay. A psychological study. Nachdruck als: The Film. A Psychological Study. The Silent Photoplay in 1916. Hg. v. Richard Griffith. New York: XY 1970, S. 87. 259  Vgl. ebd., S.88. 260  Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 253. 261  Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800, 1900. München: Fink 1995, S. 442.

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Quelle: Institut Lumière

2 Stumm-Film-Kunst

2.1 Achtung, Kamera frisst: Luigi Pirandellos Quaderni di Serafino Gubbio operatore (1916/25)

Pirandellos Roman Quaderni di Serafino Gubbio operatore gilt als eines der frühesten Beispiele für die intensive literarische Auseinandersetzung mit dem Kino. 1915 unter dem Titel Si gira zuerst publiziert,1 sind die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio „einer der ersten Romane überhaupt, der den Film in den Mittelpunkt des Erzählten stellt“.2 Sabine Schrader spricht dem Werk innerhalb des frühen literarischen Diskurses über das Kino insbesondere wegen seiner detaillierten und fundierten Auseinandersetzung mit dem neuen Medium eine „Ausnahmestellung“ zu.3 Anders als im Falle von Villiers’ L’Ève future und Vernes Le Château des Carpathes gibt es zu Pirandellos Position gegenüber dem Film entsprechend breite Sekundärliteratur, auf die sich die vorliegende Studie stützen kann. Allerdings ist der Roman bislang nicht in einen Zusammenhang mit dem Narrativ des Totalen Kinos gestellt worden, obwohl eine Lektüre unter diesem Blickwinkel entscheidende Nuan-

1 

Pirandello begann die Arbeit an dem Werk bereits 1904, der Roman erschien dann von 1. Juni bis 16. August 1915 unter dem Titel Si gira in der Nuova Antologia und 1916 als Monographie ebenfalls mit dem Titel Si gira; 1925 legte der Verlag Bemporad den Roman unter dem jetzigen Titel neu auf, Pirandello überarbeitete den Text für die Neuauflage. Zur Veröffentlichungsgeschichte siehe Schrader, Sabine: ‚Si gira!‘ Literatur und Film in der Stummfilmzeit Italiens. Heidelberg: Winter 2007, v. a. S. 113. 2  Schrader: ‚Si gira!‘, S. 109. 3  Ebd., S. 112.

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cen schärfen kann – gerade weil der Roman durch die explizite Filmskepsis seines Erzählers dem Narrativ zuwiderzulaufen scheint. Pirandellos Roman über den Kameramann Serafino Gubbio als literarische Vision der Kinematographie zu lesen, ist somit kein neues Unterfangen, die Forschung zu diesem Werk ist aber auffällig zweigeteilt: Während kulturwissenschaftlich arbeitende Filmwissenschaftler den Roman als historisches Zeitdokument des angeblichen Filmskeptikers Pirandello betrachten,4 zieht sich ein Großteil der Literaturwissenschaft eher auf den Standpunkt zurück, dass der Film in den Quaderni eine „Kernmetapher des menschlichen Weltbezugs“ und der Roman selbst eine „Reflexion über die Scheinhaftigkeit und Substanzlosigkeit des menschlichen Lebens“ sei.5 Beide Perspektiven lassen außer Acht, was der Roman tatsächlich über das Kino und seine Ästhetik zu sagen hat. Man wird Pirandellos Quaderni nicht gerecht, wenn man sie bloß als literarische Film-Mimesis oder das Kino im Roman ausschließlich als Metapher „für die ‚gespenstische‘ Verfasstheit der ‚Person‘ und der ‚Realität‘“6 liest. Für die vorliegende Studie sind die Quaderni insbesondere deshalb interessant, weil sie nicht nur das Verhältnis zwischen Literatur und Film verhandeln, sondern die Narration um die Frage kreist, wie Film auf die Realität zugreift. Statt das Kino als bloße Metapher zu lesen, soll hier also auf die Materialität des Mediums fokussiert werden. Der Diskurs vom Kino als einer Kunst, das Leben illusionistisch zu reproduzieren, der mit Villiers und Verne begann, findet hier seine Fortsetzung – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. Denn bei Pirandello wird die filmische Illusion bereits dekon­ struiert, ehe sie ihre Wirkmacht entfalten kann. Anders als bei den beiden bereits besprochenen prä-kinematographischen Romanen, muss Pirandello das Kino außerdem nicht mehr imaginieren, um es zu visualisieren; es existiert ja schon. Und dennoch enthält auch Pirandellos Vision der Kinematographie fiktionale und phantasmatische Anteile; auch er wurde vom neuen Medium zu eigenständiger literarischer Produktion inspiriert und betreibt weniger Film-Mimesis in Form eines ‚Filmischen Schreibens‘, sondern vielmehr genuine Filmtheorie in Romanform. Gavriel Moses betont in seiner Studie des-

4 

Auch Sabine Schrader scheint die Ironie in dem Roman zu übersehen, wenn sie ihn für eine bloße „Abrechnung mit der durch die Industrialisierung geprägten ­Moderne“ (S. 118) und seine zentrale Botschaft für „Kulturpessimismus bzw. Antimodernismus“ (S. 122) hält, siehe a.a.O. 5  Schmitz-Emans: Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen, S. 188. 6 Ebd.

LUIGI PIRANDELLO | QUADERNI DI SERAFINO GUBBIO OPERATORE

halb zurecht, Pirandellos Roman sei „close to prophetic in anticipating applications of the film medium and technologies not yet available (such as sound) to the significant treatment of reality by cinema“.7 Der Zugriff des Films auf die Realität und die Reflexion dieses Verhältnisses durch die Literatur sollen im Folgenden im Zentrum stehen. Die Quaderni bieten eine informierte, aber fiktionalisierte literarische Auseinandersetzung mit den Potenzialen und Defiziten des Kinos. Insofern nimmt die vorliegende Studie Abstand von Lektüren, die den autodiegetischen Erzähler Serafino Gubbio mit dem Autor Luigi Pirandello identifizieren.8 Vielmehr soll an Arbeiten wie die von Moses angeknüpft werden, der sich eingehend mit den Quaderni befasst hat und das Werk sowohl als ein Stück Literatur als auch als Quelle einer ästhetischen Theorie des Kinos begreift.9 Moses betrachtet Pirandellos Roman als „prototype of a narrative sub-genre one might name the film-novel in which film is at the center and in which the epistemological and existential repercussions of this new twentieth century medium are explored through the means of narrative.“10 Dabei macht Moses nicht den Fehler, das Kino als bloße Metapher für entweder die Industrialisierung oder ein bestimmtes Konzept der Moderne, den Fortschritt oder Ähnliches zu verstehen.11 Pirandellos Roman ist, wie auch Schrader anerkennen muss, „eine der komplexesten theoretischen Überlegungen zum Film“.12 Das Kino agiert hier als Medium, dessen spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit innerhalb der Literatur und mit literarischen Mitteln dargestellt, analysiert und dekonstruiert wird. Die Quaderni bieten eine Auseinandersetzung mit dem Traum der Totalkinematographie, die Wesentliches über das Kino mit-

7 

Moses: The Nickel Was for the Movies, S. 4. So bezeichnet Alessandro Vettori das Buch beispielsweise als eine „ ferocious attack against the cinematographic medium“, ohne zwischen dem Autor und seinem Protagonisten zu unterscheiden, siehe Vettori, Alessandro: Serafino Gubbio’s Candid Camera. In: MLN, 113, 1, Italian Issue (1998), S. 79–107, hier S. 79. 9  Siehe insbesondere seine Aufsätze „Film Theory as Literary Genre in Pirandello and the Film-Novel“. In: Annali d’Italianistica, 6 (1988), S. 38–68 und „Gubbio in Gabbia: Pirandello’s Cameraman and the Entrapments of Film Vision“. In: MLN, 44 (1979), S. 36– 60; sowie außerdem Moses’ Monographie mit dem Titel The Nickel was for the Movies. 10  Moses: Film Theory as Literary Genre in Pirandello and the Film-Novel, S. 36. 11  Sabine Schrader liest das Kino im Roman hingegen als „pars pro toto für den gesellschaftlichen Wandel, d.h. für die entstehende Massenkultur, und damit für den durch die Industrialisierung entfremdeten Menschen“, siehe Schrader: ‚Si gira!‘, S. 131. 12  Ebd., S. 121. 8 

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zuteilen hat und das Kino nicht nur zur Illustration anderer, mit ihm nicht in Bezug stehender Ideen benutzt. Pirandellos Quaderni bilden Film und Kino nicht nur ab, sie hinterfragen die mimetische Qualität des Mediums und damit auch das Narrativ des Totalen Kinos. Dabei geht der Roman sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsaspekte ein. Der Kameramann erweist sich hierfür als prädestinierte Erzählerfigur, ist er doch einerseits in die Produktion des Films involviert und andererseits auch der erste und vermeintlich objektive, weil professionell unbeteiligte Zuschauer. Gubbio als Erzähler erlaubt „a subtle exploration of the diaphanous membrane that separates the two sides of the screen“.13 Diese beiden Seiten, Produktion und Rezeption von Kino, sollen in den beiden folgenden Kapiteln nacheinander im Fokus stehen, während das dritte Kapitel die zwischen ihnen gespannte meta-fiktionale Membran selbst in den Blick nimmt. Auf dieser Zwischenschicht findet im Roman die Reflexion über die ästhetischen Möglichkeiten des Kinos statt, verknüpft mit einigen pirandellesken Überlegungen zum Humor. Der Roman besteht aus sieben Tagebüchern des Kameramannes Serafino Gubbio, der für die Produktionsfirma Kosmograph tätig ist und von seiner Arbeit und seinen Erlebnissen berichtet. Im Laufe der durch Reflexionen über die Filmkunst und zahlreiche Rückblenden unterbrochenen Handlung entwickelt sich eine melodramatische Liebes- und Eifersuchtsgeschichte um die Schauspielerin Varia Nestoroff, ihren jetzigen Liebhaber Carlo Ferro, ebenfalls Schauspieler, und ihren Ex-Geliebten Aldo Nuti. Am Höhepunkt dieses Melodrams steht eine von Gubbio gedrehte Filmszene, in der Nuti eine lebendige Tigerin erschießen soll, den Lauf des Gewehres aber unvermittelt auf die Nestoroff richtet. Nuti schießt vor Ferros Augen auf die Schauspielerin, die Tigerin zerfleischt Nuti, während Gubbio dabei steht und ungerührt die Kurbel seiner Kamera dreht. Das Kurbeln ist nicht nur seine Aufgabe beim Film, sondern seine ganze Existenzweise: Der Kameramann beschreibt sich selbst als eine Hand, die eine Kurbel dreht. Höchste Perfektion erlange man in seinem Beruf durch maximale Teilnahmslosigkeit. Das, was vor der Kamera geschieht, betrachtet er deshalb so unbeteiligt, als wäre er selbst die Kamera, die er bedient. Insofern scheint es, als habe Gubbio bei der Tigerszene die höchste Perfektion in Form einer maximalen Teilnahmslosigkeit erreicht. Der Roman allerdings en-

13 

Moses: Film Theory as Literary Genre in Pirandello and the Film-Novel, S. 47.

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det danach, weil der Erzähler nach diesem Erlebnis nicht nur das Sprechen, sondern offenbar auch das Schreiben einstellt. Bei dieser finalen Sprachlosigkeit des Protagonisten setzt die gängigste Deutung des Romans an, die oft unter dem Eindruck seines blutigen Endes zu stehen scheint: Die Quaderni erzählten demnach von der „Enthumanisierung der Kunst“ und gäben dem Film die Schuld daran.14 Wie Michael Rössner allerdings betont, ist dies nur ein Thema von mehreren. Denn Pirandello belässt es keineswegs bei dieser vordergründigen ikonoklastischen Filmkritik, er verknüpft den Enthumanisierungs-Diskurs geschickt mit seiner Theorie des umorismo und legt so eine Deutung nahe, die den Film nicht denunziert, sondern produktiv macht. Auf diese Mehrschichtigkeit des Textes wird Kapitel 2.1.3 eingehen. In der bisherigen Forschung besteht zudem eine Lücke im Bezug auf Aspekte der Rezeption, da sich die meisten Studien zu den Quaderni auf die naheliegende Seite der Film-Produktion konzentrieren, liegt doch auch der Fokus des Romans auf den Ereignissen in den Filmstudios der Kosmograph, während keine einzige Szene eine Filmvorführung im Kinosaal schildert. Allerdings klammern solche Lektüren wesentliche Aspekte aus. Schließlich wird die kinematographische Ästhetik in der janusköpfigen Figur des Kameramanns verhandelt, der Filmemacher und Zuschauer zugleich ist. Über die Rezep­tions­ ebene verhandelt der Roman den besonderen Zugriff des Mediums Film auf die Wirklichkeit, der sich nicht auf ein Abbildungsverhältnis reduzieren lässt, sondern eine erkenntnistheoretische Dimension aufweist. Wie reproduziert Film die Realität? In welchem Verhältnis stehen Filmbild und lebendiges Vorbild? Welche Wirkung hat das Kino auf den Betrachter? Pirandellos Roman reflektiert diese Fragen, er inszeniert „die An- bzw. Abwesenheit von menschlichen Körpern“ und „die enge Beziehung zwischen dem Körper und den neuen Medien“15 ebenso wie das Verhältnis zwischen Sehen und Gesehenwerden, vor allem im Hinblick auf das eigene Abbild im Film. Pirandello verschränkt sein Konzept des umorismo und seine erkenntnistheoretischen Reflexionen so eng mit der Kinoästhetik, dass sie reziprok voneinander bestimmt und abhängig erscheinen. Die Quaderni erzählen damit von der „power of film not only to

14 

Rössner, Michael: Serafino Gubbio oder Die Ironie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Nachwort zum Roman. In: Pirandello, Luigi: Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio. Berlin: Propyläen 1997, S. 270–279, hier S. 271. 15  Schrader: ‚Si gira!‘, S. 142.

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mechanize perception, but also to mechanize or substitute for the real.“16 So liefert der Roman einen wichtigen Beitrag zum frühen literarischen Kino-Diskurs und für die Auseinandersetzung mit dem Narrativ des Totalen Kinos. 2.1.1 Re(pro)duktion: ein Schatten des Lebens

Die ästhetischen Möglichkeiten des Kinematographen bedeuteten für Zeitgenossen einen Schock. Ein Bericht aus La Poste nach der Premiere des Lumière’schen Cinématographe 1895 deutet an, welches Potenzial dem Film zugetraut wurde, die menschliche Existenz zu revolutionieren: „Wenn diese Kameras der Öffentlichkeit zugänglich werden und jeder seine Liebsten nicht mehr nur in stillgestellter Form, sondern auch in Bewegung photographieren kann, in Aktion, mit ihren vertrauten Gesten, mit Worten auf ihren Lippen, dann wird der Tod nicht länger endgültig sein.“17 Etwas weniger euphorisch, aber ebenso verblüfft berichtet der Erfinder des Filmprojektors Charles Francis Jenkins 1898 in seiner Studie Animated Pictures: „[T]he bare canvas before the audience instantly becomes a stage, upon which living beings exhibit actual muscular activity and perform their respective parts, moving, gesticulating, and changing expression with astonishing vividness“.18 Die Lebensähnlichkeit begeisterte die Zuschauer. Das Geheimnis des Films schien darin zu liegen, Bilder hervorzubringen, die etwas vom Leben des Modells in sich tragen. Der Traum vom belebten Bild, dem animated picture, wie Jenkins schreibt, der sich nun zu erfüllen schien, beherrschte im 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen der Literatur und den anderen Künsten. So erzählt nicht nur Poe in The Oval Portrait von einem Gemälde, dessen life-likeliness dem Modell des Malers das Leben kostete, auch Zolas Maler Claude Lantier triumphiert im Augenblick seines Todes: Als ihn die Frau auf seinem Gemälde zu sich ruft, scheint er sein Ziel erreicht zu haben und begeht Selbstmord, wie um ihr schließlich sein Leben einzuhauchen.19 Und Balzac lässt seinen Maler Frenhofer verrückt werden über der Frage, ob

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Gruic / ​Brillenburg: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age, S. 186. 17  La Poste, 29. Dezember 1895, zit. n. Herbert, Stephen: Animated Portrait Photography. In: History of Photography, 12 (1989), S. 65–78, hier S. 66. 18  Jenkins: Animated Pictures, S. 2. 19  Vgl. Poe: The Oval Portrait; sowie Zola, Émile: L’Œuvre. Paris: Gallimard 1983, S. 481–484.

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es sich bei seinem Werk um eine plastisch aus dem Bild heraustretende und also belebte Frau handelt.20 Die künstlerische Darstellung kannte, zumal in ihrer Reflexion durch die Literatur, also vor allem eine Richtung: Das Bild sollte möglichst lebendig erscheinen, notfalls auf Kosten des Modells und des Künstlers, die dem Kunstwerk ihr Leben einhauchen. Solche Opfer scheinen mit der Erfindung des Kinematographen allerdings passé: Mit dem Kino tritt ein technischer Apparat in die Weltgeschichte, der in der Lage ist, lebensecht abzubilden, ohne zuvor die Stillstellung des Modells oder des Künstlers notwendig zu machen. Die neuartige Form der Mimesis erlaubt Bewegung vor wie hinter der Kamera. Im Zuge dieser Verschiebung nehmen literarische Werke ihrerseits den Impuls auf, die Narrationen entfernen sich zunehmend von Künstlerfiguren wie Lantier und Frenhofer. Die Malerie spielt als Ausgangspunkt für die literarische Reflexion des Kinos auch in den Quaderni eine Rolle: Hier tritt die traditionelle künstlerische Produktion in der Gestalt des Malers Giorgio Mirelli auf. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist Mirelli längst tot – Selbstmord. Und so umgeben Nostalgie und Schwermut diese Figur, wann immer sie in der Erinnerung des Erzählers auftaucht. Mirelli war das erste Opfer der Filmschauspielerin Nestoroff, jener „vipera“, wegen der „Giorgio, Giorgio, Giorgio era avvelenato per sempre“.21 Das Modell des Malers ist im Film in Bewegung und entfesselt, es rächte sich an dem, der sie bislang zur Bewegungslosigkeit gezwungen hatte. In der Varia Nestoroff, einem der ersten Filmstars der Literaturgeschichte, wird der Topos der femme fatale aufgerufen, anhand der Konstellation aus Maler und ehemaligem Modell ausagiert und dann durch den Film ironisch gebrochen. Giorgio Mirelli nämlich „era tutto preso della sua arte“, als er die Nestoroff kennenlernte, „che si prestò a essere oggetto di contemplazione per lui, per la sua arte“ (SG, 158). So entwickelte sich zwischen den beiden der alte Kampf der Geschlechter, die Kunst der Verführung: Giorgio „non vide, non volle vedere in lei altro che il corpo, ma solo per carezzarlo su una tela co’ suoi pennelli, col giuoco delle luci e dei colori. E allora ella, offesa e indispettita,

20 

Vgl. Balzac, Honoré de: Le Chef-d’œuvre inconnu. Paris: Gallimard 1994. Pirandello, Luigi: Quaderni di Serafino Gubbio Operatore. Florenz: R. Bemporad & Figlio Editori 1925, S. 157. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert; Belege werden abgekürzt mit SG und Seitenzahl. Außerdem wird bei längeren Zitaten die deutsche Übersetzung angegeben, die jeweils von Michael Rössner stammt: Pirandello, Luigi: Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio (übers. v. Michael Rössner). Berlin: Propyläen 1997, hier S. 158. 21 

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per vendicarsi, lo sedusse“ (SG, 158).22 Die Rache der Frau besteht darin, den Mann zu verführen, ihn daran zu hindern, seine Schaffenskraft auf ihr Abbild zu konzentrieren, indem er stattdessen ihrem Körper verfällt. Hier wird verkehrt, was die Künstlererzählungen des 19. Jahrhunderts kennzeichnete: dass nämlich der männliche Künstler sich ein weibliches Ideal als Gegenüber in seiner Kunst schafft.23 Stattdessen bestimmt nun die in Bewegung versetzte femme fatale das Verhältnis der Geschlechter. Allerdings nicht allzu lange, denn die Kinoästhetik, die im Zentrum des Romans steht, durchkreuzt das nostalgische Liebesspiel mit Pinsel und Farbe. Die Kamera versetzt die Nestoroff zwar in Bewegung, saugt ihr aber gleichzeitig die Farbe aus dem Leib und lässt sie als einen blassen Schatten zurück. Damit erweist sich die Kinematographie einerseits als potenter als die Malerei, weil sie der Macht einer femme fatale ebenbürtig scheint. Gleichzeitig ist aber der Kameramann, indem er den Blick die ganze Zeit auf die Darstellerin gerichtet hält, auch besonders gefährdet, ihren Reizen zum Opfer zu fallen. Somit entzieht das Kino eigentlich allen die Macht, die ihnen im herkömmlichen Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachteter zukam. Die femme fatale, die zuvor noch den Maler verführte, wird nun selbst Opfer des Apparats. Und auch der, der hinter der Kamera steht und sie zu kontrollieren scheint, ist auf seinem Posten nicht mehr sicher. War das Gemälde, das Giorgio zu erschaffen versuchte, noch eine „figurazione fantastica, ch’egli subito se ne fece, e illuminata dalla luce che le diede“ (SG, 55), so ist das Filmbild näher an der Realität. Giorgios Gemälde der Nestoroff ist höchst subjektiv, es existiert „soltanto per lui“ (SG, 55). Ganz im Gegenteil dazu steht das Filmbild, das die Nestoroff zu einer international bekannten Filmdiva und damit zu einem Massenerlebnis macht, und das gleichzeitig die objektive Auffassung der Wirklichkeit repräsentiert. Hier wird die Gegenläufigkeit der Ästhetik von Malerei und Film ausgespielt. Die Rache der Nestoroff besteht nun darin, dass „il suo corpo a mano a mano davanti a lui cominiciasse a vivere, non per la delizia degli occhi soltanto“ (SG, 56). Indem sie Schauspielerin wird, emanzipiert sich ihr Abbild von der Leinwand, auf die Giorgio sie bannen wollte, und vervielfältigt sich auf tausende Lein-

22 

Dt.: „Und er sieht in ihr, will in ihr nichts anderes sehen als ihren Körper, aber nur um ihn auf der Leinwand mit seinen Pinselstrichen, mit dem Spiel von Licht und Farben zu liebkosen. Und sie, gekränkt und beleidigt, verführt ihn, um sich zu rächen“ (S. 159). 23  Vgl. zu diesem Topos: Rißler-Pipka: Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion.

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wände. Auf diesen Bildschirmen erstarrt der Körper der Frau nicht zum Objekt der Betrachtung, sondern belebt sich, wenn auch wiederum als Objekt für den männlichen Blick.24 So rächt sich hier der Film an der Malerei, und die Literatur steht schadenfroh dabei, während sie diesen paragone inszeniert. Allerdings fällt der Wettstreit nicht so eindeutig zugunsten des Kinos aus, wie es zunächst scheint, geht die Rache des Films an der Malerei doch ebenfalls auf Kosten des Modells: Die Nestoroff war einmal „più viva“ (SG, 26), hat aber offenbar durch ihre Filmkarriere an Lebendigkeit eingebüßt. Sie ist nicht mehr Varia, ihr früherer Vorname, sondern nur doch Die Nestoroff, eine Filmdiva, der ihr skandalöser Ruf vorauseilt. Ein Teil ihrer Lebendigkeit ist offenbar der Kamera zum Opfer gefallen, die Gubbio mehrmals als „un grosso ragno in agguato“ bezeichnet. Das filmische Reproduktionsinstrument ist nicht so liebkosend wie Farbe und Pinsel, sondern „un ragno che succhia e assorbe la loro realtà viva per renderla parvenza evanescente, momentanea, giuoco d’illusione meccanica davanti al pubblico“ (SG, 86). Die Metapher der Spinne für die Kamera, die Gubbio wiederholt gebraucht, wechselt sich ab mit der eines gefräßigen Tieres, dem er die Schauspieler zum Fraß vorwerfe; vom Leben bleibt nur eine „illusione meccanica“ (SG, 86).25 Die Produktion von Film wird in den Quaderni als gewaltsamer Akt dargestellt, Gubbio „con la manovella in mano“ ist für die Schauspieler „una specie d’esecutore“ (SG, 85). Dementsprechend hassen sie nicht nur ihn, sondern auch die Maschine, die er bedient: „Ma non odiano la macchina soltanto per l’avvilimento del lavoro stupido e muto a cui essa li condanna; la odiano soprattutto perchè si vedono allontanati, si sentono strappati dalla comunione diretta col publico“ (SG, 85).26 Das Filmemachen erscheint den Schauspielern wie eine Bestrafung, zu der sie verurteilt sind, die sie demütigt und die von Gubbio als Vollstrecker durchgesetzt wird. Die als nostalgisches Argument zuerst eingeführte Produktionsweise der Malerei muss im Vergleich dazu als das weit kleinere Übel erscheinen. Am Ende des filmischen Produktionsprozes24 

Vgl. dazu Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema. Die Spinne ist aber nicht nur wegen der langen Beine, die dem Kamerastativ ähneln, die gelungenere Metapher, sondern auch, weil sie die Körper ihrer Opfer aussaugt, während von der Mahlzeit eines wilden Tieres nur blutige Reste übrig bleiben würden. Trotzdem spielt die Metapher der gefräßigen Bestie eine zentrale Rolle im Roman – spätestens dann, wenn am Ende die Tigerin Aldo Nuti frisst. 26  Dt.: „Aber sie hassen die Maschine nicht nur wegen der Erniedrigung durch die stumme und stupide Arbeit, zu der sie sie verdammt; sie hassen sie vor allem, weil sie sich von ihr um die direkte Gemeinschaft mit dem Publikum betrogen fühlen […]“ (S. 85). 25 

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ses steht das „esilio […] da se stessi“ (SG, 86). Die Filmaufnahme entreißt die Schauspieler nicht nur dem Publikum und dessen direkter emotionaler Anteilnahme, die sie im Theater miterleben.27 Viel schwerer wiegt, dass das Kino sie gleichsam aus der Zeitzone ihres Publikums reißt. Perchè la loro azione, l’azione viva del loro corpo vivo, là, su la tela dei cinematografi, non c’è più: c’è la loro immagine soltanto, colta in un momento, in un gesto, in una espressione, che guizza e scompare. Avvertono confusamente, con un senso smanioso, indefinibile di vuoto, anzi di vôtamento, che il loro corpo è quasi sottratto, soppresso, privato della sua realtà, del suo respiro, della sua voce, del rumore ch’esso produce movendosi, per diventare soltanto un’immagine muta, che trèmola per un momento su lo schermo e scompare in silenzio, d’un tratto, come un’ombra inconsistente, giuoco d’illusione su uno squallido pezzo di tela. […] E colui che li spoglia della loro realtà e la dà a mangiare alla macchinetta; che riduce ombra il loro corpo, chi è? Sono io, Gubbio. (SG, 86, Herv. i. O.)28

In dieser pathetischen Selbstanklage bezeichnet Gubbio sich selbst als derjenige, der die Körper in Schatten verwandelt und ihnen die Realität raubt. Die Kamera arbeitet aus seiner Sicht eben jenem totalkinematographischen Ideal der realistischen Reproduktion entgegen, das Gubbio damit indirekt affirmiert. Dabei identifiziert er sich bereits teilweise mit der Kamera, deren „schiavo“ er ist. Das Verhältnis zwischen Filmbild und Körper erscheint defizitär, die Kamera nimmt dem Körper das Leben und macht aus dem „corpo“ eine „immagine“, die offenbar phänomenologisch weniger ist als der lebendige Körper zuvor. Die Reproduktion ist eine Reduktion.

27 

Pirandellos Roman stellt das Kino unterschiedlichen Künsten gegenüber: Nicht nur die Literatur setzt sich hier mit dem Film auseinander, sondern sie stellt ihn auch in Bezug zur Malerei sowie zum Theater. Beide Künste umweht eine Nostalgie und Authentizität, die dem Filmbild zu fehlen scheint und die Gubbio offenbar vermisst. 28  Dt.: „Denn ihr Handeln, das lebendige Handeln ihres lebendigen Körpers existiert auf der Leinwand des Kinematographen nicht mehr: Nur ihr Bild ist noch da, festgehalten in einem Augenblick, in einer Geste, in einem Ausdruck, der aufblitzt und wieder verschwindet. Sie ahnen dunkel, in einer wahnhaften, undefinierbaren Empfindung der Leere, ja, besser, des Leerwerdens, daß ihrem Körper seine Realität, sein Atem, seine Stimme entzogen, geraubt, weggenommen wird, ja sogar der Lärm, den seine Bewegungen verursachen, so daß nichts zurückbleibt als ein stummes Bild, das einen Augenblick lang auf der Leinwand erzittert und dann wieder stumm verschwindet, ganz plötzlich, wie ein körperloser Schatten, ein Spiel der Illusion auf einem schmutzigen Stückchen Stoff. […] Und wer nimmt ihnen ihre Wirklichkeit und wirft sie der Maschine zum Fraß vor, wer macht aus ihren Körpern Schatten, wer? Ich natürlich, ich, Gubbio.“ (S. 85f., Herv.i.O).

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Dem Körper wird seine „realtà“ entrissen. Dass Gubbio dies nicht als Aufstieg in eine höhere, womöglich überzeitliche Daseinsform begreift, sondern als Defizit, wird durch das wiederholte „soltanto“ unterstrichen, ein Wort, das ständig wiederkehrt, wenn Gubbio von der kinematographischen Produktion spricht. Der Schatten, der bei der Filmproduktion entsteht, ist demnach unbeständig und stumm, eine bloße Illusion; Gubbio selbst wird zu „una mano soltanto“, das Filmbild „la loro immagine soltanto“ oder „soltanto un’immagine muta“ (vgl. SG, 86). Das Kino erzeugt eine Kopie der Realität, der etwas Entscheidendes fehlt, das Leben nämlich. Damit erinnert Gubbios „Dichotomisierung von Leben und Filmbild“ an Platons Höhlengleichnis:29 Die Filmbilder sind aus seiner Sicht ebenso falsch und trügerisch wie es die Schatten an der Höhlenwand sind. Gubbios Feststellung, dass es sich bei dem, was der Kinematograph produziert, um Schatten handelt, ruft als Intertext den Höhlenmythos auf. Gubbios Selbstanklage beruht vor diesem Hintergrund darauf, dass er selbst die Schatten produziert, die die späteren Kino-Zuschauer als Höhlenbewohner „für das einzig Wirkliche halten“.30 In Pirandellos Neu-­ Interpretation des Mythos nimmt die Erzählerfigur damit jene Position ein, die bei Platon als Leerstelle klafft. Die Assoziation zwischen Schatten und Filmbild kommt indes bereits Maksim Gor’kij, der 1896 als Korrespondent in Paris über den Cinémato­graphe Lumière berichtet: Dieser bringe Schatten hervor, die zu leben scheinen.31 Die Ambivalenz dieser Beobachtung kehrt nicht nur in den Quaderni wieder, sondern auch bei Edgar Morin, der vierzig Jahre nach Pirandello schreibt: „Effectivement, le cinématographe Lumière […] anime des ombres porteuses des prestiges de l’immortalité comme des terreurs de la mort.“32 Der Todeshauch des Kinematographen umweht die Bilder, die Gubbios Kamera produziert. Ihnen fehlt die körperliche Präsenz und damit eine wesentliche Qualität des Schauspiels. So schreibt Pirandello 1908 in seinem Essay Illustratori, attori e traduttori, dass die Präsenz des Körpers für das Theater und seine ästhetische

29 

Schmitz-Emans: Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen, S. 189. Kiening, Christian / ​Beil, Ulrich Johannes: Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari. Göttingen: Wallstein 2012, S. 61. Kiening und Beil lesen Platons Höhlengleichnis als Gründungsnarrativ des Kinos, indem sie eine Vielzahl bestehender Deutungen unter dem Aspekt des Medialen zusammentragen und, wo nötig, auch fehlgehende ­Ansätze revidieren. 31  Vgl. Gor’kij: Flüchtige Notizen, S. 13. 32  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 41. 30 

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Wirkung unabdingbar sei.33 Es ist dieses Defizit, dem die Aufzeichnungen Serafino Gubbios Ausdruck verleihen und das Interpreten des Romans von einer „Enthumanisierung“ durch den Film sprechen lässt.34 Walter Benjamin findet auch durch die Beobachtung dieser fehlenden Präsenz zu seinem Begriff vom Verlust der Aura. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zitiert er die Quaderni ausführlich: Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darsteller dem Publikum einen anderen, als daß er der Apparatur sich selbst darstellt. Einer der ersten, der diese Umänderung des Darstellers durch die Testleistung gespürt hat, ist Pirandello gewesen. Es beeinträchtigt die Bemerkungen, die er in seinem Roman ‚Es wird gefilmt‘ darüber macht, nur wenig, daß sie sich darauf beschränken, die negative Seite der Sache hervorzuheben. Noch weniger, daß sie an den stummen Film anschließen. Denn der Tonfilm hat an dieser Sache nichts Grundsätzliches geändert. Entscheidend bleibt, daß für eine Apparatur – oder, im Fall des Tonfilms, für zwei – gespielt wird. ‚Der Filmdarsteller‘, schreibt Pirandello, ‚fühlt sich wie im Exil. Exiliert nicht nur von der Bühne, sondern von seiner eigenen Person. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallserscheinung wird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu verwandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert und sodann in der Stille verschwindet […].‘ Man kann den gleichen Tatbestand folgendermaßen kennzeichnen: zum ersten Mal – und das ist das Werk des Films – kommt der Mensch in die Lage, zwar mit seiner gesamten lebendigen Person aber unter Verzicht auf deren Aura wirken zu müssen. Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. 35

Auf diese Passage stützt sich eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich auf die Suche nach intertextuellen Bezügen zwischen Benjamins Kunstwerk-Aufsatz und Pirandellos Roman begeben.36 Wenn auch nicht alle so weit gehen

33 

Vgl. Pirandello, Luigi: Illustratori, attori e traduttori. In: Nuova Antologia, 43, 866 (1908), S. 227–240. 34  Rössner: Serafino Gubbio oder Die Ironie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, S. 271. 35  Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt: Suhrkamp 1977, S. 136–169, hier S. 151f. 36  Die intertextuellen Bezüge zwischen beiden Texten sind bereits häufig Gegenstand von Studien gewesen und sollen deshalb hier nicht weiter verfolgt werden. Näheres zum theoretischen Verhältnis zwischen Pirandello und Benjamin bieten der Aufsatz von De

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wie Moses, der „traces of Pirandello’s novel […] throughout Walter Benjamin’s“ Text zu erkennen meint,37 so ist dennoch Vorsicht geboten: Schließlich deutet vieles darauf hin, dass Benjamin den Roman nur in Auszügen kannte. So zitiert er beispielsweise in der obigen Passage nicht das Original, sondern die 1925 erschienene französische Übersetzung On tourne und auch diese nur indirekt über einen Verweis auf Léon Pierre-Quints Aufsatz Signification du cinéma.38 Vor allem aber unterscheidet sich Pirandellos Blick auf das Kino auch inhaltlich von dem, was Benjamin anhand der Filmästhetik zu zeigen versucht.39 Zentral ist in Pirandellos Roman die Parallelführung zwischen der Produktion der Erzählung und der Produktion von Film, die dadurch erreicht wird, dass der Erzähler auch die Kamera kurbelt. Diese provoziert in der Narration eine autoreflexive Auseinandersetzung der Literatur mit ihrem eigenen Verhältnis zur Wirklichkeit. Schon im Titel des Romans sind Schrift und Film, quaderni und operatore, aufgerufen – und an antagonistische Positionen am Anfang und am Ende des Titels gerückt. Dass es sich um die Tagebücher eines Kameramannes handelt, gibt diesem eine Schlüsselrolle für die Reflexion sowohl des Erzählens als auch der filmischen Produktion. Gubbio produziert Film und Literatur, seine Hand kurbelt und schreibt – allerdings nicht gleichzeitig, sondern alternierend. Diese Nähe macht nicht nur die Unterschiede zwischen Schrift und Licht-Schrift eklatant, sondern verweist auch auf die Notwendigkeit von Bewegung, die die Aufzeichnungen ebenso wie den Film erst hervorbringt. In beiden Fällen ist der Körper des Schreibenden wie des Kameramanns in die künstlerische Produktion involviert.

Michele, Fausto: Serafino Gubbio, la vertigine, il fragore e l’effimero ovvero l’opera d’arte nell’epoca della sua riproducibilità tecnica. In: Lauretta, Enzo (Hg.): Il cinema e Pirandello. Agrigento: Ed. Centro Nazionale Studi Pirandelliani 2003, S. 291–309; sowie Klinkert, Thomas: Quaderni di Serafino Gubbio operatore. Riflessioni sull’opera d’arte nell’epoca della sua riproducibilità tecnica. In: Rössner, Michael (Hg.): Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne. Wilhelmsfeld: Egert 1997, S. 181–200. 37  Moses: Film Theory as Literary Genre in Pirandello and the Film-Novel, S. 57. 38  Die Fußnote bei Benjamin lautet: „Luigi Pirandello: On tourne, cit. Léon Pierre-­ Quint: Signification du cinéma, in: L’art cinématographique II, 1. c., p. 14/15.“ siehe ­Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 152. 39  Vgl. Syrimis: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod, S. 20. Außerdem beschränkt sich Pirandello keineswegs auf „die negative Seite der Sache“, sondern macht, wie Kapitel 2.1.3 zeigen wird, den Film als humoristisches Reflexionsinstrument produktiv. Siehe Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 151.

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Historisch betrachtet war der Kameramann für die Filmproduktion eine ebenso essenzielle Figur wie der Erzähler für den literarischen Text. So unterstreicht Rudolf Arnheim 1934 in seinem Essay Bewegung im Film, dass im Film nicht nur die dargestellte Bewegung der Schauspieler wesentlich ist, sondern auch die Bewegung des Kameramannes. Er geht besonders auf die Fertigkeiten ein, die ein guter Kameramann mitbringen sollte: Mittels des sogenannten ‚Überdrehens‘ oder ‚Unterdrehens‘ gleicht der Kameramann auf Geheiß des Regisseurs eine zu hastige Bewegung durch Verlangsamung, eine zu langsame durch Beschleunigung aus. Dies äußerst wichtige und bisher bei weitem nicht genügend ausgenutzte Gestaltungsmittel hat der Tonfilm, indem er die Bildfrequenz starr festlegte, leider fast gänzlich unanwendbar gemacht.40

Zwar re-agiert der Kameramann „auf Geheiß des Regisseurs“, aber er ist dennoch der aktivste Part bei der Produktion eines Films. Arnheim betont, dass der Kameramann das Potenzial habe, „groteske und zauberhafte Bewegungseffekte“ zu erzeugen.41 Er wirkt also unmittelbar auf die Gestaltung des Films ein, was ihn näher an den literarischen Erzähler heranrückt, der ebenfalls nicht nur Erzählperspektive, sondern auch Tempo und Rhythmus einer Narration bestimmt. Während Arnheim die Bedeutung des Kameramannes unterstreicht, ist dieser für andere Zeitgenossen ein Faktor, den es möglichst auszumerzen gilt. Guido Seeber, der 1927 im Berliner Verlag der Lichtbildbühne die dreibändige Ausgabe von Der praktische Kameramann veröffentlicht hat, geht in seiner „Geschichte des lebenden Lichtbildes“42 nicht nur auf den Versuch, ein „dem Filmbilde eine Plastik zu verleihen, und durch Hinzunahme der Schallquellen-Photographie und ihrer Rückreproduktion durch Vermittlung des Films dem Filmbilde Raum und Klang zu geben“, sondern auch darauf, dass im Zuge dieser fortschreitenden Tendenz in Richtung Realismus und Totalkinematographie die Präzision der Aufnahme dadurch erhöht werde, dass man den 40 

Arnheim, Rudolf: Bewegung im Film. In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte Photographie – Film – Rundfunk. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 161–167, hier S. 164. 41 Ebd. 42  Seeber, Guido: Der praktische Kameramann. Theorie und Praxis der kinematographischen Aufnahmetechnik mit besonderer Berücksichtigung der wissenschaftlichen und Amateur-Filmerei (hg. v. Guido Seeber und Gg. V. Mendel). Band I: Arbeits-Gerät und Arbeits-Stätten des Kameramannes. Frankfurt: Schriftenreihe des Deutschen Film­ museums 1980, S. 1.

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„Antrieb von Hand […] durch den motorischen ersetzt“.43 Der Kameramann und seine Subjektivität erweisen sich somit als Hindernisse für den Traum vom Totalen Kino. Seeber beschreibt die Zeit zwischen 1895 und 1925 als technische Revolution: Wem es vergönnt war, bereits vor drei Jahrzehnten die Kurbel zu drehen und bei der Entwicklung und dem gewaltigen Aufschwung dieser jungen Industrie mitzuhelfen, auch heute noch diesen Beruf ausübt, kann wohl sagen, daß er eine gewaltige und seltene Zeitepoche miterlebt hat.44

Serafino Gubbio steht mitten im Zentrum dieser Revolution und spürt den Druck, so perfekt zu kurbeln wie ein Apparat. Schließlich scheint auch er von der totalkinematographischen Reproduktion zu träumen, die bisherige bezeichnet er als schattenhaft und leblos. Es ist dieses ontologische Defizit, dem er sich durch sein Schreiben entzieht und das ihn dazubringt, die künstlerischen Möglichkeiten sowohl der Dichtkunst als auch der Kinematographie zu reflektieren. Gleichzeitig ist auch ihm die Kurbel wie „jedem Kameramann sozusagen etwas Heiliges“,45 ist sie doch seine Art, den Bezug zur Welt herzustellen und diese Welt auf ein Stück Zelluloid zu bannen. Zumindest so lange, bis die Literatur als Reflexionsmedium dieses Weltbezugs hinzutritt. Allerdings ist die Kurbel nicht nur „Symbol des Kameramannes“,46 sie prägt auch das Nachdenken und Sprechen über Film, schließlich leitet sich von dem unscheinbaren Instrument schon früh die übertragene Bedeutung des Wortes „drehen“ ab, das Synonym dafür, einen Film zu produzieren. Seeber ermutigt seine Leserinnen und Leser, im Dunklen Bleistiftkreise auf Zeichenpapier zu malen, um nachvollziehen zu können, wieviel „Geschicklichkeit und längere Übung nötig“ für das Kurbeln sind.47 Selbst eine motorisch betriebene moderne Kamera, könne nur dann „sehr gut funktionieren, wenn sie in richtigen Händen ist.“48 In den richtigen Händen bedeutet in diesem Fall wohl Hände, die mit der Teilnahmslosigkeit einer Maschine arbeiten.

43  44  45  46  47  48 

Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 29f. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167f. Ebd., S. 175.

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Martin Weisers Medizinische Kinematographie von 1918 widmet dem In­ stru­ment des Kameramannes ein eigenes Kapitel, in dem es heißt: „Das Kurbeln muss fast unbewußt und so gleichmäßig geschehen, als wenn es ein Motor besorgte.“49 Vor diesem Hintergrund lässt sich Gubbios Dilemma nachvollziehen: Das höchste Ideal seines Berufsstandes ist die „impassibilità di fronte all’azione che si svolge davanti alla macchina“ (SG, 7). Gubbio betont immer wieder „la mia professionale impassibilità“ (SG, 7) – eine professionelle Distanz, die er in seinem Schreiben nicht immer einhält, ja auch gar nicht einhalten muss. Tatsächlich gibt er zu, dass seine schriftlichen Aufzeichnungen gewissermaßen eine Kompensation darstellen, denn er schreibe, um Rache zu nehmen für sich und für andere Kameraleute. Nostalgisch blickt er zurück auf jene Zeit, als noch der Dichter „deificava i suoi sentimenti“ (SG, 7); er jedoch sei dazu verdammt, der Maschine zu dienen: „Viva la Macchina che meccanizza la vita!“ (SG, 7f.) Gubbio leidet nicht nur darunter, dass er selbst nichts erschafft; in seinen Augen mechanisiert die Maschine das Leben und tötet es damit. Die Kamera steht zur lebendigen Wirklichkeit in einem besonderen Verhältnis, da sie diese für die Filmproduktion offenbar nicht nur braucht, sondern verbraucht und die Körper aussaugt, um sie in flimmernde Bilder zu verwandeln: „La macchina è fatta, per agire, per muoversi, ha bisogno d’ingojarsi la nostra anima, di divorar la nostra vita.“ (SG, 8)50 Die Bewegung des Filmbildes überträgt sich auf die Kamera, diese verleibt sie sich ein. Wie Peter Geimer betont, ist der kurbelnde Kameramann hier das entscheidende Verbindungsglied: Im bewegten Bild manifestierte sich nicht nur die ursprüngliche Bewegung des abgefilmten Objekts, sondern ebenso auch die Drehbewegung der Kurbel. Dieses Ineinander von Gegenstand und Instrument der Übertragung war mehr als eine technische Begleiterscheinung. Mit ihm war der Wirklichkeitsbezug der Bilder im Kern berührt […].51

In der Drehbewegung der Kurbel verzahnen sich Wirklichkeit und Filmbild. Ohne die reale Bewegung der Kurbel wie später der Filmspule im Projektor gäbe es keine Illusion der Bewegung im Filmbild. An eben dieser Schnittstelle kommt

49 

Weiser, Martin: Medizinische Kinematographie. Berlin 1918, S. 47. zit. n. Geimer, Peter: Das lebende Lichtbild – ‚Mumie der Veränderung‘. In: Ders. (Hg.): UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit. Berlin: Kadmos 2014, S. 162–181, hier S. 176. 50  Dt.: „Die Maschine ist dazu gemacht zu handeln, sich zu bewegen, sie muß unsere Seele verschlingen und unser Leben auffressen.“ (S. 10) 51  Geimer: Das lebende Lichtbild – ‚Mumie der Veränderung‘, S. 177.

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es zur „Kontamination des Lebendigen durch den Tod“.52 Geimer nennt den von der Kurbel angetriebenen Kinematographen deshalb ein „Scharnier zwischen Leben und Wiederbelebung“.53 An diesem „Ort der Unterbrechung“54 halten die Bilder kurz inne, wenn sie vom Leben zum Film werden, aber auch wenn sie wieder zum Leben erweckt werden. Dabei ist der „Apparat, der die Lebendigkeit bewirkte, […] selbst ein lebloses Ding, die Lebendigkeit eine optische Illusion“.55 Dieses Wissen, das Gubbio dem herkömmlichen Zuschauer voraus hat, weil er unmittelbar an jenem Ort der Unterbrechung im Einsatz ist, macht ihn zum Gehilfen einer Illusionsmaschine, deren Illusion er mit hervorbringt und durchschaut und eben deshalb denunziert. Der ungewohnte und – im Vergleich zu Literatur und Malerei – unmittelbare Zugriff des Films auf die Realität löst bei ihm eine ablehnende Reaktion aus: „Mi sono allontanato con orrore istintivo dalla realtà, quale gli altri la vedono e la toccano, senza tutavia poterne affermare una mia, dentro e attorno a me.“ (SG, 40)56 Gubbio schreckt vor der vermeintlich objektiven Realität zurück, die der Film für alle sichtbar macht, er sehnt sich nach einer subjektiven Realität, einer Innerlichkeit. Er sucht sie in der Literatur und fürchtet gleichzeitig, bereits den Blick der Kamera angenommen zu haben, vor dem es ihm graut: „Guardo ormai tutto, e anche me stesso, come da lontano“ (SG, 40). Der Film-Blick ist der distanzierte Blick, der unbeteiligte, impassibile. Um diesen abzustreifen, schreibt Gubbio seine Tagebücher. Das Schreiben wird zum Versuch, eine Affizierung herzustellen, die ihn mit dem Leben verbinden soll und die ihm durch das Kurbeln unmöglich gemacht wird. Die Ästhetik des Kinos ist – aus der Sicht Gubbios – somit eine Ästhetik der Reduktion und des soltanto. Dem defizitären Filmbild tritt am Ende des Romans, am Höhepunkt von Gubbios Aufzeichnungen eine Geschichte voller Gefühl, Drama und Emotionen entgegen, eine Geschichte, die nicht gefilmt wird, sondern nur erzählt und die quittiert wird mit dem Ausruf: „Basta ormai! basta ! basta ! –“ (SG, 193) Während das „soltanto“ im Zusammenhang mit dem Film steht, verdeutlicht das „basta“ die emotionale Fülle der literari-

52  Ebd., S. 171. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 

Ebd., S. 172. Dt: „Ich habe mich mit instinktivem Abscheu von der Wirklichkeit entfernt, wie die anderen sie sehen und mit Händen greifen, ohne ihr jedoch eine eigene, in mir und um mich herum gültige entgegenstellen zu können“. (S. 40) 56 

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schen Erzählung. Der hier zitierte Ausruf Cavalenas, der nicht mehr zu seiner eifersüchtigen Ehefrau zurückkehren will, markiert den dramatischen Höhepunkt der von Gubbio geschilderten Geschichte. Wenn hier die Emotionen Cavalenas so stark sind, dass er Basta! ruft und atemlos nach Luft schnappt, so ist das ein Verdienst des Erzählers, der diese Szene emotional schildert: „[I]t seems as if Gubbio’s humanness is only perserved in his writing and corrupted by his work as a cameraman, as it is through his writing that Gubbio revenges himself“.57 Gubbio als Erzähler zielt also, wenn man so will, auf eine Ästhetik des Basta!, die dem defizitären und unemotionalen, objektiven Filmbild eine schriftlich erzeugte überquellende Melodramatik entgegensetzt. Besonders dramatisch und bildreich wird die Reduzierung des Lebens auf einen Schatten in jener Passage dargestellt, in der Gubbio die Dunkelkammer beschreibt und damit den letzten Schritt der Filmproduktion. Von diesem Ort, der die filmische (Re‑)Produktion vollendet, berichtet der Kameramann Folgendes: Entro nel vestibolo a sinistra, e riesco nella rampa del cancello, inghiajata e incassata tra i fabbricati del secondo reparto, il Reparto Fotografico o del Positivo. In qualità d’operatore ho il privilegio d’aver un piede in questo reparto e l’altro nel Reparto Artistico o del Negativo. E tutte le meraviglie della complicazione industriale e così detta artistica mi sono familiari. Qua si compie misteriosamente l’opera delle macchine. Quanto di vita le macchine han mangiato con la voracità delle bestie afflitte da un verme solitario, si rovescia qua, nelle ampie stanze sotterranee, stenebrate appena da cupe lanterne rosse, che alluciano sinistramente d’una lieve tinta sanguigna le enormi bacinelle preparate per il bagno. La vita ingojata dalle macchine è lì, in quei vermi solitarii, dico nelle pellicole già avvolte nei telai. Bisogna fissare questa vita, che non è più vita, perchè un’altra macchina possa ridarle il movimento qui in tanti attimi sospeso. Siamo come in un ventre, nel quale si stia sviluppando e formando una mostruosa gestazione meccanica. (SG, 69)58

57 

Gruic / ​Brillenburg: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age, S. 190. 58  Dt.: „Ich trete in das Vestibül linker Hand und von dort gleich wieder auf die schmale, kiesbestreute Auffahrtsrampe hinaus, die zwischen den Gebäuden der Abteilung Zwei eingeklemmt ist, der Photographischen oder Positiv-Abteilung. In meiner Eigenschaft als Kameramann habe ich das Privileg, immer einen Fuß in dieser Abteilung zu haben und den anderen in der Künstlerischen oder Negativ-Abteilung. Somit sind mir alle Wunder der komplizierten Industrie und der ebenso komplizierten sogenannten Kunst vertraut. Hier wird die Arbeit der Maschinen auf geheimnisvolle Weise zu Ende gebracht. Alles, was die Maschinen mit dem Heißhunger wilder Tiere, die ein Bandwurm plagt, an Leben in sich hineingeschlungen haben, das geben sie hier wieder von sich, in diesen weitläufigen un-

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Dank seiner Sonderrolle bei der Filmproduktion hat Gubbio sowohl zur photographischen als auch zur künstlerischen Abteilung Zugang. Er steht also auch hier an der Schlüsselstelle zwischen objektiver Reproduktion und emotionaler Aufladung der Bilder: Die Realität wird zunächst auf einen Schatten reduziert, um danach, in einem zweiten Schritt, mit Affekten aufgeladen zu werden. Dies geschieht im Schnittraum, den Gubbio als Reparto Artistico bezeichnet. Während er zunächst allerdings noch von einer künstlerischen und wundersamen („misteriosamente“) Vollendung des Werkes spricht, wechselt er gleich darauf das Register: Nun ist die Rede davon, dass die macchina Leben verschlungen hat wie ein wildes Tier, das noch dazu von einem Bandwurm geplagt wird. Der Erzähler staunt angesichts der „voracità“ dieser Bestie, die hier wieder hochwürgt, was sie zuvor verschlungen hat. Entsprechend ist das Licht in dieser Kammer blutrot gefärbt. Eine gespenstische Stimmung herrscht in diesem Uterus, der Untotes hervorbringt: „vita, che non è più vita“ (SG, 69). Der Prozess des „fissare“, der letzte Schritt der Produktion, kann also nicht jene lebendige Realität festhalten, die zuvor vor der Kamera war, sondern nur „attimi“, kurze Ausschnitte. Das Leben wird verdaut und als Monströses wiedergeboren. Der Prozess der Filmproduktion ist damit abgeschlossen. Das Ergebnis ist ein versehrtes Abbild der Realität, grotesk entstellt durch die Verdauungsprozesse im Magen der gefräßigen Kamera-Bestie. Gubbios Urteil über den Film scheint verheerend auszufallen und es wirkt umso überzeugender, weil er selbst als Kameramann direkt am Produktionsprozess beteiligt ist. Allerdings werden die folgenden Seiten diese Deutung hinterfragen. Zuvor aber geht der folgende Abschnitt darauf ein, wie – komplementär zur bisher besprochenen Produktionsseite – die Aspekte der Filmrezeption in dem Roman verhandelt werden.

terirdischen Räumen, nur notdürftig erhellt von düsteren roten Laternen, die die riesigen zum Bad bereitstehenden Becken in ein unheilvolles, blutigrotes Licht tauchen. Das Leben, das die Maschinen verschlungen haben, das ist jetzt hier, in diesen Bandwürmern, will sagen, in den Filmstreifen, die schon auf Rahmen gespannt sind. Dieses Leben, das keines mehr ist, bedarf jetzt der Fixierung, damit eine andere Maschine ihm die Bewegung zurückgeben kann, die in vielen Momentaufnahmen aufgehoben ist. Wir sind hier wie in einem Bauch, in dem sich eine monströse, mechanische Schwangerschaft entwickelt.“ (S. 67f., Herv. i. O.)

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2.1.2 (Un)erfüllte Metonymie: der kinematographische Blick

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Wie bereits im „esilio […] da se stessi“ (SG, 86) der Filmdarsteller anklingt, ist die zentrale Erfahrung, die der Film bewirkt, die Erfahrung einer Entfremdung sowie einer zeitversetzten Wahrnehmung und damit die Wahrnehmung der Zeit selbst. Stärker noch als die Photographie, die ebenfalls in der Lage ist, die Bilder von Toten vor Augen zu stellen, führt der Film dem Betrachter die Vergänglichkeit seines Daseins vor Augen. In den Quaderni schließt die Auseinandersetzung mit dem Kino eine metaphysische ebenso wie eine erkenntnistheoretische Reflexionsebene ein, beziehungsweise setzt diese Reflexion unmittelbar in Gang. Wie auch in anderen hier untersuchten Romanen ist das literarische Schreiben über das Kino von einer Vanitas-Symbolik geprägt. In den Quaderni tritt diese besonders deutlich in jenen Szenen zu Tage, die die filmische Wahrnehmung konterkarieren und die Handlung antithetisch durchkreuzen: Szenen der Erinnerung – einer optischen, aber auch haptisch-sensuellen Erinnerung. Die Rede ist von Gubbios Erinnerungen an das Haus der Groß­ eltern Giorgio Mirellis. Mirelli, ohnehin eine nostalgische Figur, lebt hier in der Erinnerung als Kind und Jugendlicher wieder auf. Vor allem aber staunt der erzählende Kameramann über die Fähigkeit der Möbel, die Vergangenheit zu konservieren: Dolce casa di campagna, Casa dei nonni, piena del sapore ineffabile dei più antichi ricordi familiari, ove tutti i mobili di vecchio stile, animati da questi ricordi, non erano più cose, ma quasi intime parti di coloro che v’abitavano, perchè in essi toccavano e sentivano la realtà cara, tranquilla, sicura della loro esistenza. Covava davvero in quelle stanze un alito particolare, che a me pare di sentire ancora, mentre scrivo: alito d’antica vita, che aveva dato un odore a tutte le cose che vi erano custodite. […] Eh sì! Bastava mi voltassi a guardare quelle mensole curiose, che pareva avessero schifo di toccare la terra con le loro zampe dorate, di ragno… Il piano di marmo era un po’ ingiallito, e nello specchio inclinato si rivedevano precisi nell’immobilità i due cestelli posati sul piano: cestelli di frutta, anch’esse di marmo, colorate: fichi, pesche, cedri, a riscontro, di qua e di là, proprio precise, nel riflesso, come se fossero quattro e non due. In quella immobilità di lucido riflesso era tutta la calma limpida, che regnava in quella casa. (SG, 31f.)59

59 

Dt.: „Liebes altes Landhaus, ‚Casa del Nonno‘, voll mit dem ungreifbaren Duft alter Familienerinnerungen! Da waren all die alten Stilmöbel, belebt von den Erinnerungen, nicht mehr Dinge, sondern beinahe innige Bestandteile der Bewohner, die in ihnen die

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Die Beschreibung dieses Hauses entwirft eine Gegenästhetik zum Film. Gubbio hält hier eine Lobrede auf die „dolce casa di campagna“, die – im Gegensatz zum Filmbild – den Duft der Vergangenheit bewahre und deren Mobiliar – ebenfalls im Gegensatz zum Film – von Erinnerungen belebt sei. Die Dinge, die dieses Haus bevölkern, lassen sich sowohl haptisch als auch über andere Sinne erfahren, sie scheinen belebt und gleichzeitig unverrückbar in ihrer Existenz. Während der Film als Instrument der Erinnerung tot und sogar tödlich ist, lebt die Vergangenheit des Hauses wieder auf und besitzt sogar einen eigenen „alito“. Die anthropomorphen Gegenstände und Möbel scheinen Ekel vor dem Boden zu empfinden, sind müde und ihre Risse „mi diceva benignamente“ (SG, 31). Dabei liegt aus Gubbios Perspektive das Mnemo-Poten­ zial dieses Ambientes gerade in seiner Unbeweglichkeit, die es wiederum vom Kino unterscheidet: Die „immobilità“ macht die Präzision dieser Erinnerung aus, Zeit scheint hier nicht flüchtig, sondern tatsächlich konserviert, auch in ihrer Dauer. Im Gegensatz zum Filmbild, das ein Defizit aufweist, wird hier der Realität etwas hinzugefügt, sie wird verdoppelt „come se fossero quattro e non due“ (SG, 32). Der Film stellt zwar ebenfalls Doubles her, diese sind aber nur flüchtige Schatten, keine wahren Spiegelbilder. In der Casa dei nonni hingegen herrscht nicht die gefräßige Maschine, hier liegt eine heilige Ruhe über dem „lucido riflesso“ (ebd.). Die Unbeweglichkeit dieses Bildes ist für Gubbio deshalb so verlockend, weil sich an ihm und am Landhaus selbst das Vergehen der Zeit ablesen lässt. Die „crepacchiatura“ (SG, 31), die zu Gubbio spricht, ist eine Erscheinung, die von Verfall zeugt, ebenso wie die vergilbte Marmorfläche und der Pendelschlag der Uhr im Hintergrund. Diese Dinge erzählen vom Vergehen der Zeit und manipulieren sie nicht, wie es der Film tut. Deshalb sammeln und beinhalten sie aus Gubbios Sicht Erinnerungen – anders als das Kino. Diese Gegenstände sind Gefäße für erinnerte und wiedergefundene Zeit, während Film in Gubbios Augen die in Repetition gefangene Gegenwart eines Schon Vorüliebgewordene, sichere, ruhige Wirklichkeit ihres Daseins angreifen und fühlen konnten. […] Ah ja! Ich brauche nur diese seltsamen Konsolen betrachten, die sich vor der Berührung des Bodens mit ihren vergoldeten Spinnenbeinen zu ekeln scheinen… Die Marmorfläche war ein wenig vergilbt, und in dem geneigten Wandspiegel spiegelten sich präzise in ihrer Unbeweglichkeit die beiden darauf gestellten Körbe wider: Obstkörbe, auch sie aus Marmor, und bemalt: Feigen, Pfirsiche, Zitronen. Hier und dort standen sie einander gegenüber, mit unerhörter Präzision, als wären es vier und nicht zwei. In dieser Unbeweglichkeit des exakten Spiegelbildes lag all die reine Ruhe, die in diesem Haus herrschte.“ (S. 31f.)

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ber ist und damit auf ewig verlorene Zeit. Wiederholung und Erinnerung sind für Gubbio nicht dasselbe, sondern gegenläufige Bewegungen. Damit denkt er sie anders als Kierkegaard, der schreibt: Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich, während die Erinnerung ihn unglücklich macht.60

Für Gubbio dagegen ist die Wiederholung schmerzhafter als die Erinnerung, was wohl seiner Disposition als Nostalgiker entspricht. Während Kierkegaard die Wiederholung mit der Möglichkeit der Erlösung verknüpft,61 bedeutet sie für Gubbio Gefangenschaft und Unfreiheit. Das Filmbild, das die Darsteller in ein Exil von sich selbst schickt, bedeutet eine unendliche Wiederholung, die Gubbio zuwider ist. Seine nostalgische Perspektive auf die Vergangenheit spiegelt sich auch in seiner Wahrnehmung der flüchtigen Gegenwart: Già i miei occhi, e anche le mie orecchie, per la lunga abitudine, cominciano a vedere e a sentir tutto sotto la specie di questa rapida tremula ticchettante riproduzione meccanica. […] Avanti! Avanti perchè non s’abbia tempo nè modo d’avvertire il peso della tristezza, l’avvilimento dello vergogna, che restano dentro, in fondo. Fuori, è un balenio continuo, una sbarbàglio incessante: tutto guizza e scompare. Che cos’è? Niente, è passato! Era forse una cosa triste; ma niente, ora è passata. (SG, 9)62

Das „passato“ kennzeichnet Gubbios Wahrnehmung als kinematographisch. In der Passage scheint die Verzweiflung und Überforderung angesichts der Flüchtigkeit der Moderne auf. Der Konflikt zwischen der scheinbaren Gegenwärtigkeit der Filmhandlung und ihrem tatsächlichen Vergangensein löst

60 

Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung. Hamburg: Felix Meiner 2000, S. 3. Vgl. ebd., S. 3f. 62  Dt.: „Schon beginnen meine Augen und meine Ohren aufgrund der langen Gewohnheit alles in Form dieser raschen, zitternden und tickenden mechanischen Wiedergabe zu sehen und zu hören. […] Vorwärts! Vorwärts, damit man keine Zeit und keine Gelegenheit hat, das Gewicht der Traurigkeit, die tiefe Beschämung wahrzunehmen, die tief drinnen, ganz unten zurückgeblieben ist. Draußen ist ein dauerndes Blitzen, ein Fortreißen ohne Ende; alles zuckt kurz auf und verschwindet. Was ist das? Nichts, ist schon wieder vorbei! Vielleicht war es etwas Trauriges; aber das macht nichts, jetzt ist es vorbei.“ (S. 11) 61 

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Gubbios Ekel vor dem Filmbild aus. Und nicht nur der Kameramann ist durch die Rezeption des Kinos überfordert, auch die Schauspieler selbst sind es: […] la Nestoroff è veramente disperata di ciò che le avviene; ripeto, senza volerlo e senza saperlo. Resta elle stessa sbalordita e quasi atterrita delle apparizioni della propria immagine su lo schermo, così alterata e scomposta. Vede lì una, che è lei, ma che ella non conosce. Vorrebbe non riconoscersi in quella; ma almeno conoscerla. (SG, 50)63

Die Schauspielerin erkennt sich selbst nicht in ihrem Abbild, es flößt ihr Angst und Schrecken ein. Morin schreibt über diese „expérience auto-cinématographique“: „Pour ma part, j’ai très fortement ressenti à m’entendre à la radio comme à me voir à l’écran, une brève confusion honteuse, comme si m’apparaissait brusquement mon propre Mister Hyde.“64 Eine Beobachtung, die im Falle der Filmstars mit ihren zwei Leben noch eklatanter wird, denn „[l]a star a deux vies: celle de ses films, et sa vie réelle. En fait la première tend à commander ou à happer l’autre“.65 Das Filmbild erscheint auch der Nesto­roff als Bedrohung, als verändert und entstellt, obwohl es sie selbst reproduziert. Wodurch aber ist es so entstellt? Wohl doch durch das Vergehen der Zeit, das vom Kino scheinbar ausgesetzt wird und in dem das Totale Kino an seine Grenze gelangt. Nessuno, che non abbia gli occhi velati da una passione contraria e l’abbia vista uscire dalla sala di prova dopo l’apparizione di quelle sue immagini, può aver più dubbii su ciò. Ella è veramente tragica: spaventata e rapita, con negli occhi quello stupor tenebroso che si scorge negli agonizzanti, e a stento riesce a frenare il fremito convulso di tutta la persona. (SG, 50)66

Der Film versetzt die Nestoroff buchstäblich in Bewegung: Sie kann das Zittern ihres Körpers nicht mehr kontrollieren, ganz so als sei nicht nur ihr Bild,

63 

Dt.: „[…] die Nestoroff ist selbst ehrlich verzweifelt über das, was da mit ihr geschieht, und, es sei nochmals gesagt, unwillkürlich und ohne ihr Wissen geschieht. Sie ist selbst verblüfft und erschrocken, wenn sie ihr eigenes Bild so verändert und entstellt auf der Leinwand sieht. Sie sieht dort eine, die sie selbst ist und die sie doch nicht kennt. Sie will sich ja nicht gleich wiedererkennen in dieser Frau; aber wenigstens irgendwie bekannt sollte sie ihr doch erscheinen.“ (S. 50) 64  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 37. 65  Ebd., S. 37. 66  Dt.: „Wer nicht die Augen von einer dem entgegenstehenden Leidenschaft getrübt hat und sie nach dem Erscheinen dieser ihrer Bilder aus dem Vorführraum herausstürzen sieht, kann gar nicht daran zweifeln. Sie ist dann wirklich eine tragische Figur: in panischem Schrecken, völlig entrückt, mit diesem düsteren Erstaunen in den Augen, das man bei Sterbenden sieht, und sie kann nur mit Mühe das krampfhafte Zittern beherrschen, das ihren ganzen Körper schüttelt.“ (S. 50f.)

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sondern auch ihr Leib vom Projektor angetrieben. In einer unkontrollierbaren Immersion, die einsetzt, als sie ihr eigenes Filmbild sieht, wird sie selbst zu einem Teil der Maschine und damit anscheinend ebenfalls durch Gubbios Kurbeln bewegt. Ihr hysterischer Anfall ist ein Akt körperlicher Rebellion dagegen, dass man ihr Abbild ihrer Verfügungsgewalt entzogen und dem voyeuristischen Blick des Mannes ausgesetzt hat. In der Konsequenz rächt sie sich mit Hilfe dessen, was alle anderen am meisten an ihr schätzen: ihrem Körper, den sie nun in ständig wechselnde Liebesbeziehungen wirft (vgl. SG, 51). Der Topos der femme fatale wird bei Pirandello umgedeutet als Notwehr einer Frau, die den Blicken der Männer von Berufswegen ausgesetzt ist. Damit konterkariert der Roman ähnlich wie schon Villiers’ L’Ève future das Stereotyp durch den narrativen Einsatz kinematographischer Ästhetik. Die hysterische Reaktion auf das eigene, aus der Vergangenheit stammende Abbild im Film ist indes nicht spezifisch weiblich; auch Aldo Nuti ist von seinem eigenen Anblick im Film zunächst verstört: […] … con quegli occhi… Si possono contare i peli delle ciglia. Non mi pareva l’ora che sparisse dello schermo. — Mi voltai a guardarlo; ma mi sfuggì subito in un’ovvia considerazione: — Già! — disse. — È curioso l’effetto che ci fa la nostra immagine riprodotta fotograficamente, anche in un semplice ritratto, quando ci facciamo a guardarla la prima volta. Perchè? — Forse, — gli risposi, — perchè ci sentiamo lì fissati in un momento, che già non è più in noi; che resterà, e che si farà man mano sempre più lontano. (SG, 255)67

Den debütierenden Schauspieler Nuti erschrecken „quegli occhi“, die ja seine eigenen sind. Er leidet unter den Entfremdung, die der Film durch seinen Realismus der Darstellung bewirkt.68 Das Eigene wird zum Unheimli-

67 

Dt.: „‚[…] … mit diesen Augen … Man kann ja die Wimpernhaare zählen. Ich konnte es kaum erwarten, daß es wieder vom Schirm verschwindet.‘ Ich wandte mich um und sah ihn an; aber er flüchtete sich sofort in eine sich von selbst verstehende Feststellung: ‚Ja!‘ sagte er. ‚Ein seltsamer Eindruck ist das, wenn wir das erste Mal unser photographisch reproduziertes Bild vor uns sehen, auch wenn es nur ein einfaches Porträt ist. Warum wohl?‘ ‚Vielleicht liegt es daran‘, antwortete ich, ‚daß wir uns in einem Augenblick festgehalten sehen, der nicht mehr in uns ist, der aber bleiben und immer weiter in die Ferne rücken wird.‘“ (S. 256f.) 68  Von einem ähnlichen Gefühl der Entfremdung wird der Protagonist in Synecdoche, New York (Charlie Kaufman, 2008) heimgesucht: Caden Cotard entfernt sich über mehrere metafiktionale Ebenen immer weiter von seinem Alltag, den er gleichzeitig in ei-

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chen. Die Erklärung dafür liefert Gubbio: Der Effekt rühre daher, dass der Augenblick, den das Bild festhält, nicht mehr in uns ist und auch nicht vergeht, sondern bleiben wird und in immer weitere Ferne – zeitlich wie räumlich – rückt. Gubbio erläutert: „[I]l tempo, da lì, da quel ritratto, non procede più innanzi, non s’allontana sempre più d’ora in ora con noi verso l’avvenire“ (SG,256). Hier drückt sich die Gegensätzlichkeit der filmischen Wiederholung zur Erinnerungs­ästhetik der Casa dei nonni aus, wo das Vergehen der Zeit seine Spuren an den Möbeln hinterlassen hat und an diesen ablesbar wird. Das Filmbild hingegen ist der Vergänglichkeit enthoben. Dabei ist das Unheimliche des Films in den Quaderni durchaus ambivalent, denn gleichzeitig besitzt er das Potenzial, den Menschen, jenes „piccolo essere“, „inutile, quasi nullo“ (SG, 258), aus seiner Nichtigkeit herauszuheben und ihm Dauer zu verleihen. Dafür aber muss die Maschine ihn seines Lebens berauben, indem sie jene „bella persona svelta, ch’io potevo toccare, ecco, ancora viva, sensibile, accanto a me“ aufnimmt, verdaut und als Film wieder gebärt (SG, ebd.). Die Schauspieler hoffen mit ihrem „stupido giuoco“ darauf, „che darà apparenza di realtà a tutte le loro finzioni“ (SG, 72). Eine aus Gubbios Perspektive naive und fehlgeleitete Hoffnung. Er weiß: In der Kluft zwischen dem Anschein von Leben und der Über-Zeitlichkeit lauert der Tod, die Leere, in die „l’immagine di qualcuno morto giovane“ stürzt (SG, 258). Die „vita da cinematografo“ (SG, 214) ist eben kein reales Leben, sondern höchstens eine Illusion von Leben. Und Gubbio hält nicht viel von Täuschungen: Ma come prendere sul serio un lavoro, che altro scopo non ha, se non d’ingannare — non se stessi — ma gli altri? E ingannare, mettendo sù le più stupide finzioni, a cui la macchina è incaricata di dare la realtà meravigliosa? […] Si dovrebbe capire, che il fantastico non può acquistare realtà, se non per mezzo dell’arte, e che quella realtà, che può dargli una macchina, lo uccide, per il solo fatto che gli è data da una macchina, cioè con un mezzo che ne scopre e dimostra la finzione per il fatto stesso che lo dà e presenta come reale. Me se è mecchanismo, come può esser vita, come può esser arte? È quasi come entrare in uno di quei musei di statue viventi, di cera, vestite e dipinte. Non si prova altro che la sorpresa (che

ner Theaterproduktion enormen Ausmaßes realistisch abbilden will. Auch bei ihm führt der Realismus der Darstellung dazu, dass die Entfremdung von der Realität immer weiter voranschreitet. Kaufmans Tragikomödie nimmt Pirandellos Konzept des Umorismo auf und thematisiert in seiner mehrlagigen mise en abyme nicht nur das filmische Potenzial zum Simulakrum, sondern auch Tod, Verfall und das Verhältnis von Filmzeit und gefilmter Zeit.

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Der Traum vom Totalen Kino qui può essere anche ribrezzo) del movimento, dove non è possibile l’illusione d’una realtà materiale. (SG, 72)69

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In dieser Passage offenbart sich Gubbios Abneigung gegen den Versuch, mit Hilfe des Kinematographen Künstliches lebendig vor Augen zu stellen. Die Maschine wolle täuschen und zwar mit den dümmsten Fiktionen, die mittels des Apparats in wunderbare Wirklichkeit verwandelt werden sollen. Aber nur durch echte Kunst könne das Phantastische sich verwirklichen, ist Gubbio überzeugt. Er selbst und damit auch das Kino produziert keine Kunst, sondern bringt nur Tod hervor.70 Gerade durch den realistischen Anschein des Filmbildes wird die Simulation als Täuschung aufgedeckt. Die Passage antizipiert insbesondere in ihrem Vergleich zwischen Film und Wachsfigurenkabinett Argumente des 1925 von Ortega y Gasset veröffentlichten Essays La Deshumanización del Arte: Ver es una acción a distancia. Y cada una de las artes maneja un aparato proyector que aleja las cosas y las transfigura. En su pantalla mágica las contemplamos desterradas, inquilinas de un astro inabordable y absolutamente lejanas. Cuando falta esa desrealización se produce en nosotros un titubeo fatal: no sabemos si vivir las cosas o contemplarlas. Ante las figuras de cera todos hemos sentido una peculiar desazón. Proviene ésta del equívoco urgente que en ellas habita y nos impide adoptar en su presencia una actitud clara y estable. Cuando las sentimos como seres vivos, nos burlan descubriendo su cadavérico secreto de muñecos, y si las vemos como ficciones parecen palpitar irritadas. No hay manera de reducirlas a meros objetos. Al mirarlas, nos azora sospechar que son ellas quienes nos

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Dt.: „Aber wie könnte man eine Arbeit ernst nehmen, die keinen anderen Zweck hat als Täuschung – zwar nicht Selbsttäuschung, aber doch Täuschung der anderen? Und eine Täuschung, die mit den allerdümmsten Fiktionen arbeitet, denen die Maschine zu einer wunderbaren Wirklichkeit verhelfen soll. […] Versteht man denn nicht, daß das Phantastische nur auf dem Weg der Kunst Wirklichkeit gewinnen kann und daß die Wirklichkeit, die eine Maschine der Phantasie zu schenken vermag, sie zugleich tötet, einfach deshalb, weil sie von einer Maschine stammt, das heißt, von einem Medium, das den fiktiven Charakter eben dadurch aufdeckt, daß es das Phantasieprodukt für wirklich ausgibt? Wenn es aber ein Mechanismus ist, wie könnte es da Leben, wie könnte es Kunst sein? Das ist doch beinahe so, als wenn man eines dieser modernen Museen mit den lebenden Statuen betritt, die doch nur bemalte und angekleidete Wachsfiguren sind. Man empfindet nichts als Überraschung (die hier auch Abscheu beinhalten kann) über die Bewegungen, wenn dabei die Illusion einer materiellen Realität ausgeschlossen ist.“ (S. 70) 70  Zum Verhältnis von Kunstwerk und Tod siehe auch Klinkert: Quaderni di ­Serafino Gubbio operatore. Riflessioni sull’opera d’arte nell’epoca della sua riproducibilità tecnica, v. a. S. 193ff.

LUIGI PIRANDELLO | QUADERNI DI SERAFINO GUBBIO OPERATORE están mirando a nosotros. Y concluimos por sentir asco hacia aquella especie de cadáveres alquilados. La figura de cera es el melodrama puro.71

Das Argument, das Ortega y Gasset hier gegen die realistisch abbildende Kunst anführt, ähnelt jenem des Kameramanns Serafino Gubbio: Die Unsicherheit, die den Betrachter befällt angesichts der Frage, ob es sich um lebendige oder leichenhafte Abbilder handelt, führt zu Abscheu und Ekel. Grund dafür ist, dass der Betrachter nicht wisse „si vivir las cosas o contemplarlas“. Leben oder betrachten? Leib oder Leichnam? Die Wachsfigur täuscht durch ihre vermeintliche Lebensnähe und ent-täuscht durch ihre Totenstarre. Weil aber beide Zustände im gleichen Bild auftreten, ist der Betrachter überfordert und soll sich – so die Empfehlung von Ortega y Gasset wie von Gubbio – von solchen Erscheinungen fernhalten. Beide plädieren für eine Distanz des Rezipienten, eben „la mia professionale impassibilità“ (SG, 7). Mit dieser distanzierten Rezeptionshaltung, die Gubbio gegenüber dem Film für angemessen hält, geht eine Entwicklung einher, die eine Entfremdung von der lebendigen Wirklichkeit zur Folge hat: „In Gubbio’s camera perspective, it is not only perception but also life as a whole, indeed the life of the soul, which is mechanized“.72 Die Teilnahmslosigkeit, die Gubbio wie eine

71 

Ortega y Gasset, José: La Deshumanización del Arte. In: Ders.: Obras Completas. Tomo III, 1917/25. Madrid: Santillana Ediciones Generales 2005, S. 847–877, hier S. 862. Ortega y Gasset geht in seinem Essay nicht explizit auf das Kino ein, schließlich gilt ihm realistische Abbildung nicht als Kunst. Lobend erwähnt er dagegen Pirandello, dem es mit seinen Sei personaggi in cerca d’autore gelungen sei, eines der ersten Ideendramen überhaupt zu schaffen. Die Quaderni hingegen erwähnt er nicht. (Dt.: „Sehen ist eine Aktion auf Distanz. Jede Kunst verfügt über einen Projizierapparat, der die Dinge distanziert und umformt. Auf ihrem Zauberschirm stehen sie vor uns wie Entrückte, Bewohner eines unerreichbaren Gestirns, in absoluter Ferne. Fehlt diese Irrealisierung, so überkommt uns peinliche Unsicherheit; wir wissen nicht, sollen wir den Gegenstand erleben oder betrachten. In einem Wachsfigurenkabinett empfinden wir alle ein eigentümliches Unbehagen. Es entspringt aus der handgreiflichen Zweideutigkeit, die den Puppen anhaftet. In ihrer Gegenwart will es uns nicht mehr gelingen, eine sichere klare Haltung einzunehmen. Fühlen wir sie wie lebendige Menschen, so enthüllen sie spöttisch das leichenhafte Geheimnis ihres Puppentums; und sehen wir sie als Phantome, so scheinen sie entrüstet zu atmen. Wir bringen es nicht fertig, sie rein gegenständlich zu nehmen. Wir betrachten sie, und plötzlich verwirrt uns der Argwohn, daß sie es sind, die uns betrachten. Das Ende vom Lied ist, daß wir Ekel vor diesen gedungenen Leichen empfinden. Die Wachsfigur ist das Melodram in seiner Reinheit.“ Siehe Ortega y Gasset, José: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst (o. Ü.). München: dtv 1964, S. 7–39, hier S. 21.) 72  Gruic / ​Brillenburg: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age, S. 187.

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Linse zwischen sich und die Geschehnisse vor der Kamera schiebt, rückt den Erzähler und dessen Perspektive von Anfang an in den Vordergrund. Bereits der erste Satz der Aufzeichnungen ist von dieser Rezeptionshaltung geprägt und zieht damit in Zweifel, was Gubbio nahelegt – nämlich, dass diese Teilnahmslosigkeit bloß eine Reaktion auf den Film sei: „Studio la gente nelle sue più ordinarie occupazioni, se mi riesca di scoprire negli altri quello che manca a me per ogni cosa ch’io faccia: la certezza che capiscano ciò che fanno.“ (SG, 3)73 Gubbio beobachtet die Menschen aus der größten Distanz, die möglich ist, wenn er sich zugleich eingesteht, dass er einer von ihnen ist. Er schließt von ihrem Äußeren auf ihr Innerstes, ihr Bewusstsein. Seine Erzählperspektive erweist sich damit als eingeschränkt und bereits von Anfang an als kinematographisch: Im zeitgenössischen Stummfilm wurden Emotionen durch überdeutliche Gestik und beobachtbare Mimik dargestellt; Gubbio betrachtet die Menschen, als wären sie Schauspieler, deren Gesten er als Zuschauer interpretiert. Seine eigene Rolle verortet ihn außerhalb dieses Zirkus des öffentlichen Lebens zwischen „il giornale, la borsa, l’ufficio, la scuola“ und „la bottega, la fabbrica, il tribunale“ (SG, 4). Daher auch der programmatische Gegensatz zwischen „io“ und „voi“, der insbesondere am Beginn des Romans starkgemacht wird (vgl. SG, 3). Gubbio vermisst bei sich selbst, was er bei „la gente“ beobachtet: die Gewissheit, dass sie begreifen, was sie tun. Ihm ist diese offenbar abhanden gekommen. Seine „occhi intenti e silenziosi“ blicken unbeteiligt und sind aufgrund ihrer Teilnahmslosigkeit in der Lage, „un oltre in tutto“ zu erkennen (SG, 3, Herv. i. O.). Dieses oltre liegt jenseits des „congegno […] meccanico della vita“ (SG, 4) und damit jenseits dessen, was die Kamera abbilden kann. Dass diese schielende Wahrnehmung, die gleichzeitig die Welt und ihr anderes sieht, kein Nachteil sein muss, wird sich am Ende zeigen. Gubbio inszeniert sich selbst als teilnahmslosen Beobachter. Er läuft nicht Gefahr, jene „convivencia“ mit dem Gesehenen anzustreben, die Ortega y Gasset so verdammt, obwohl er tagtäglich mit Filmschaffenden zu tun hat. Gubbios Betrachterrolle ähnelt in ihrer vermeintlichen Objektivität der einer Kamera: „Gubbio sees cinematographically.“74 Und tatsächlich scheint er sich im

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Dt.: „Ich beobachte die Menschen bei ihren alltäglichsten Geschäften, um zu sehen, ob es mir nicht gelingt, wenigstens bei den anderen das festzustellen, was mir bei allem abgeht, was ich beginne: die Gewißheit, daß sie begreifen, was sie tun.“ (S. 5) 74  Gruic / ​Brillenburg: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age, S. 189, Herv. i. O.

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Laufe des Romans immer mehr in einen Kinematographen zu verwandeln. So verteidigt er sich am Anfang noch in einem imaginären Zwiegespräch mit jenem Herrn, der Pirandello selbst ähnelt, er sei eben nicht bloß „una mano che gira la manovella“ (SG, 6, Herv. i. O.). Später aber ruft er selbst diese Meto­ nymie wieder auf, wenn er die Vorgänge in der Dunkelkammer beschreibt: Mani, non vedo altro che mani, in queste camere oscure; mani affaccendate su le bacinelle; mani, cui il tetro lucore delle lanterne rosse dà un’apparenza spettrale. Penso che queste mani appartengono ad uomini che non sono più; che qui sono condannati ad esser mani soltanto: queste mani, strumenti. […] E a poco a poco m’invade tutto l’orrore della necessità che mi s’impone, di diventare anch’io una mano e nient’altro. (SG, 70)75

Gespenstische Hände, abgetrennt von den ihnen zugehörigen Körpern, sind hier am Werk, um den Film zu produzieren. Gubbio buchstabiert die Metonymie aus, um ja keinen Zweifel aufkommen zu lassen, worauf es ihm ankommt: Diese Hände gehören zu Menschen, die nicht mehr da sind. Sie sind von den Menschen abgetrennt und zu Instrumenten geworden. Darin ähneln sie den Filmbildern, die von ihnen produziert werden, die ebenfalls Menschen angehören, die (bald) nicht mehr da sind. Ihre Abbilder werden den sterblichen Leib überdauern und tragen so den Tod schon eingeschrieben. Diese Hände verweisen darauf, dass der Film selbst eine metonymische Kunst ist: Gerade in den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte wird der Film „zum Metonym des Lebens überhaupt“.76 Dies gilt nicht nur soziokulturell, weil im Kino bald alle Aspekte des Lebens reproduzierbar wurden, sondern auch ästhetisch: Das Filmbild ist eine Metonymie für das Leben. Seine mimetische Abbildhaftigkeit verbindet es mit der lebendigen Realität über eine me­to­ nymische Struktur: „L’illusion de réalité […] est une illusion de totalité. Elle est le produit d’une synecdoque à la fois sensible et intellective : un fragment du tout vaut pour le tout lui-même.“77 Der Film steht für die Wirklichkeit selbst, zeigt aber nur einen Teil davon; das Leben fehlt ihm zu wirklicher Totalität.

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Dt.: „Hände, nichts als Hände sehe ich hier in den Dunkelkammern; Hände, die sich an den Bändern zu schaffen machen; Hände, denen das düstere Licht der roten Laternen ein gespenstisches Aussehen verleiht. Ich stelle mir vor, daß diese Hände zu Menschen gehören, die nicht mehr da sind; das sie hier dazu verdammt sind, Hände zu sein, nichts weiter; und diese Hände sind Werkzeuge […]. Auch ich werde jetzt wieder eine Hand werden müssen und nichts weiter.“ (S. 68) 76  Schrader: ‚Si gira!‘, S. 166. 77  Godin: La Totalité, Band IV, S. 528, Herv. i. O.

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In diesem Punkt kulminiert Gubbios Kritik am Kino: Aus seiner Perspektive geht die filmische Metonymie nicht auf, erfüllt sich das Versprechen des Totalen Kinos nicht. Das Filmbild bleibt bloßer Schatten und der Schatten wiederum gibt kein geeignetes pars pro toto für das Leben. Hierin scheint Gubbio ganz Platoniker: Seine Kritik am Film beruht darauf, dass dieser zu weit vom Leben entfernt sei und somit nur „Effekte […] zweiten Grades“ hervorbringe.78 Während der Repräsentationsversuch durch den Film fehlschlägt, erfüllt sich ein anderer im Roman – wenn auch zur Überraschung für den Erzähler selbst: die Metapher der gefräßigen Kamera. Nachdem Gubbio, wie bereits ausgeführt wurde, diese Metapher immer wieder stark gemacht hatte, trägt die macchina am Ende tatsächlich ein Menschenleben in ihrem Bauch: „[A]veva in corpo quella macchina la vita d’un uomo; gliel’avevo data da mangiare fino all’ultimo“ (SG, 266). Es werden in dieser Szene die Ebenen der Einverleibung des Bildes durch die Kamera und der Einverleibung des menschlichen Körpers durch die Tigerin geschickt überkreuzt. Gubbio filmt die Szene, in der Aldo Nuti von der Tigerin gefressen wird; so finden die letzten Bilder Nutis ihren Weg in den Bauch der Maschine und es scheint beinahe, als habe die Kamera Nuti zerfleischt. Damit hätte sich erfüllt, was Gubbio schon längst metaphorisch angedeutet hatte, obwohl er nun zugeben muss: „Ah, che dovesse toccarmi di dare in pasto anche materialmente la vita d’un uomo a una delle tante macchine dall’uomo inventate per sua delizia, non avrei supposto.“ (SG, 266)79 Unerwartet für den Erzähler erweist sich die Tigerin als „una specie di incarnazione di una metafora abbastanza comune, quasi di un cliché dell’epoca“.80 Obwohl diese Inkarnation Gubbio zu überraschen scheint, ist sie doch die Verwirklichung („materialmente“) seiner eigenen Metapher. Dennoch hatte er offensichtlich nicht damit gerechnet, dass seine Sprache derartige Potenz entfaltet. Die Wirklichkeit konstituierende Kraft seines eigenen Schreibens manifestiert sich deutlicher, als er es für möglich gehalten hätte; Gubbio wird Zeuge einer „sudden conflation of metaphor and reality“, die sich noch ein-

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Kiening / ​Beil: Urszenen des Medialen, S. 61. Dt.: „Also, daß ich eines Tages auch buchstäblich ein Menschenleben einer der vielen Maschinen, die der Mensch zu seinem Vergnügen erfunden hat, in den Rachen stopfen würde, das hätte ich nicht gedacht.“ (S. 268) 80  Siehe das bislang unveröffentlichte Manuskript von Rössner, Michael: La tigre finta e la tigre vera. Visioni post-coloniali avant la lettre in Pirandello. München 2017.

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mal wiederholt, als er selbst am Ende des Romans verstummt und nun also ganz zu einer kurbelnden Hand geworden ist.81 Dass die Metapher der gefräßigen Kamera Realität wird und so die Dynamik der Bildwerdung der Realität im Film umkehrt, ist in seinem ironischen Überbietungsgestus auch ein Verweis auf den paragone, den hier die Literatur gewinnt. Während die filmische Metonymie enttäuscht, weil Film sein Versprechen von suggerierter Lebendigkeit nicht einlösen kann, gelingt Gubbios Schreiben ein Spiel der Ver/Enthüllung, das an den Wettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios erinnert. In diesem Streit zweier Künstler, den Plinius schildert, siegt bekanntlich Parrhasios, der einen Vorhang gemalt hat, während Zeuxis’ Trauben nur die Vögel täuschen.82 Analog dazu erweist sich die verhüllende Kunst auch in den Quaderni als Siegerin im Wettstreit mit der ausstellenden, rein mimetischen Kunst des Films. Der literarische Text übertrumpft mit seiner mehrlagigen Struktur, die die gefräßige Bestie in einer Metapher verhüllt, die bloß enthüllende und damit ent-täuschende, weil allzu plakative Filmkunst. Indem der Roman diesen Gegensatz aufmacht zwischen dem Kino, das auf eine bloße Abbildung der Realität abzielt, und der Literatur, die selbst Realität erschafft, betont er „the inherently metonymic structure of film syntax and plumbs it in its existential dimension“.83 Existenziell wird dieses Prob-

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Moses: The Nickel Was for the Movies, S. 10. Rössner interpretiert das Verstummen des Protagonisten am Ende des Romans in einer etwas anderen Prononcierung der Lektüre im Zusammenhang mit Pirandellos Auseinandersetzung mit dem Verismo und bemerkt, Pirandello schreibe „einen Meta-Roman“, in dem die Regeln des Verismo „schuld an Unglück, Scheitern und endlich Verstummen des Protagonisten sind“, siehe: Rössner, Michael: Die ‚lebende Figur‘. Bemerkungen zur Personenemanzipation bei Capuana und Pirandello. In: Thomas, Johannes (Hg.): Pirandello und die Naturalismus-Diskussion. Akten des II. Paderborner Pirandello-Symposiums. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1986, S. 85–94, hier S. 85. 82  Vgl. Plinius Secundus, Gaius d. Ä.: Naturkunde. Buch XXXV: Farben, Malerei, Plastik. Düsseldorf: Artemis & Winkler 1997, S. 57ff. Hier wird jene bekannte Auseinandersetzung zwischen den beiden Malern wiedergegeben: „Der zuletzt Genannte [Parrhasios, KJ] soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe so erfolgreich gemalte Trauben ausgestellt, daß die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.“ (Ebd.) 83  Moses: The Nickel Was for the Movies, S. 9.

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lem für Gubbio, als er sich aus dem Kosmos der Filmgesellschaft hinaus in die Welt begibt. Das Haus der Großeltern Giorgio Mirellis, das er zuvor schon in so warmer Erinnerung heraufbeschworen hatte, erfährt er einerseits als Antithese zur filmischen Ästhetik der ewigen Wiederholung, andererseits wird aber auch seine Nostalgie in Bezug auf das Erinnerung atmende Haus und sein Mobiliar konterkariert. Als Gubbio sich auf den Weg zu „la villetta“ bei Sorrento macht, erfährt er dort nämlich eine Enttäuschung seiner nostalgischen Gefühle. Zunächst stellt sich seine Erinnerung als trügerisch heraus und er fragt sich „Era quella?“ (SG, 222). Das Haus hat sich offenbar stark verändert, aber auch er ist ein anderer geworden, „il sentimento è cangiato“ (SG, 222). Er weiß, „che i luoghi non hanno altra vita, altra realtà fuori di quelle che noi diamo loro“ (SG, 222). Er kann nicht entscheiden, ob er den Klang der Türklingel nur falsch in Erinnerung hat oder ob sie tatsächlich ausgetauscht wurde. Gubbio, der es vom Film gewohnt ist, Vergangenes in unendlicher Wiederholung – wieder und wieder, aber immer gleich – zu sehen, sieht sich von der villetta enttäuscht: „Prima d’andare, guardai un’ultima volta la villetta. Non era più niente; d’un tratto più niente; come se la vista mi si fosse all’improvviso snebbiata. Eccola là: meschina meschina, vecchia, vuota… più niente!“ (SG, 225)84 Dreimal wiederholt Gubbio hier das „più niente“, obwohl das Haus ja noch steht, ist von ihm ‚nichts mehr‘ übrig. Er zieht sogar eine optische Täuschung in Betracht, zu der ihn seine Erinnerung an das Haus verleitet haben mag. Plötzlich erschient ihm der Film als das zuverlässigere Erinnerungsmedium, vom eigenen Gedächtnis glaubt sich Gubbio in die Irre geführt. Mindestens so stark wie das Gebäude haben sich allerdings die ehemaligen Bewohner des Hauses verändert; an Donna Rosa und Donna Duccella hat die Zeit deutliche Spuren hinterlassen. Gubbio findet sie „cadute in miseria“, die alte Rosa „sorda“, ihre Enkelin ganz entstellt: „S’arrestò sul pianerottolo e mi guardò con gli occhi chiari, spenti nella faccia bianca, grasse, dalla bazza floscia: sul labbro, di qua e di là, agli angoli della bocca, alcuni peluzzi. Duccella.“ (SG, 226)85 Gubbio verspürt den Drang zu fliehen, als er merkt, dass „non riconoscevo più“ (ebd.). Die Großmutter ist eine ebenso groteske Erscheinung:

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Dt.: „Ehe ich ging, betrachtete ich ein letztes Mal das alte Landhaus. Nichts war mehr von ihm geblieben, plötzlich nichts mehr; als ob mein Blick mit einem Mal die Schleier aus den Augen verloren hätte. Da lag es ja: armselig, alt und leer … nichts mehr war von ihm übrig!“ (S. 225) 85  Dt.: „Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und sah mich mit ihren hellen, erloschenen Augen in dem weißlichen, aufgedunsenen Gesicht mit dem schwammigen Kinn

LUIGI PIRANDELLO | QUADERNI DI SERAFINO GUBBIO OPERATORE Quella vecchia sorda, istolidita, senza più un dente in bocca, col mento aguzzo che le sbalzava orribilmente fin sotto il naso, biasciando a vuoto, e la lingua pallida che spuntava tra le labbra flaccide grinzose, e quegli occhiali grandi, che le ingrandivano mostruosamente gli occhi vani, operati di cateratta, tra le rade ciglia lunghe come antenne d’insetto! (SG, 227)86

Alles an dieser Frau ist verzerrt: Ihr Kinn, das bis zur Nase reicht, die durch die Brillengläser riesig vergrößerten Augen, die einzelnen Wimpern wie Insektenfühler. Donna Rosa und Donna Duccella ähneln auf frappierende Weise der Hexe, die Villiers’ Edison seinem Besucher vorführt, um ihm das wahre Wesen der Frau vor Augen zu führen: zahnlos, mit blutleeren Lippen und leeren Augen erschreckt auch diese Erscheinung ihren Betrachter so sehr, dass dieser es vorzieht, in die künstliche Welt des Totalen Kinos einzutauchen, statt eine solche Realität zu ertragen.87 In den Quaderni ist die Verunstaltung der Frau das Werk der vergehenden Zeit, sie erschafft die Groteske und verfolgt damit ein vollkommen anderes ästhetisches Programm als der Film, der aus Gubbios Perspektive zumindest den äußeren Schein bewahrt. In Aldo Nutis filmischer Nahaufnahme waren zwar auch die Wimpern einzeln zu zählen (vgl. SG, 255), aber sie besaßen nicht das Insektenhafte der Wimpern der Donna Rosa. Das Alter und der körperliche Verfall haben dem Gesicht der ehemals lieben Großmutter diese Entstellungen zugefügt. Ein Schicksal, das Nutis durch den Film für immer konserviertem Gesicht erspart bleiben wird. Gubbio muss einsehen, dass der Duft der Zeit, den er mit dem Landhaus assoziierte, verflogen ist; fast wünscht er sich, es gäbe eine kinematographische Aufnahme von „Duccella, il fiore vermiglio…. nonna Rosa, il giardino della villetta coi gelsomini di bella notte….“ (SG, 227). Gubbios Perspektive auf das Kino erweist sich hiermit also keineswegs als eindimensional feindselig, sie ist vielmehr ambivalent: Der Film zeigt sich als Erinnerungsmedium zuverlässiger als das individuelle Gedächtnis; gleichzeitig aber wohnt auch dem Filmbild, das aus dem Vergehen der Zeit herausan: Auf der Oberlippe, in beiden Mundwinkeln, standen ein paar Schnurrbarthärchen. Duccella.“ (S. 227) 86  Dt.: „Da saß ein altes, taubes, verblödetes Weiblein ohne einen einzigen Zahn im Mund, mit einem spitzen Kinn, das ihr grotesk bis fast zur Nase hinauf vorsprang, vor sich hin brabbelnd; diese blasse Zunge, die zwischen den faltigen, kraftlosen Lippen hervorschaute, diese riesigen Brillengläser, die ihre leeren, staroperierten Augen grotesk vergrößert erscheinen ließen, zwischen den einzelstehenden langen Wimpern, die aussahen wie Insektenfühler!“ (S. 227f.) 87  Vgl. zu Villiers Kapitel 1.1.2.

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gelöst ist, ein verzerrender Effekt inne. Die Dichotomie zwischen dem stetig dahinfließenden Leben und der Kunst, die es konserviert, beschäftigt Pirandello auch in seinem Humor-Essay. Dort schreibt er: „La vita è un flusso continuo che noi cerchiamo d’arrestare, di fissare in forme stabili e determinate, dentre e fuori di noi“.88 Für Gubbio, der es gewohnt ist, dieses Fließen der Zeit in wiederkehrende Filmsequenzen zerlegt zu sehen, mündet dieses Dilemma in eine ästhetische und existenzielle Krise. Der Höhepunkt dieser Krise folgt nach dem Besuch in Sorrento: „No, nè mondo, nè tempo, nè nulla: io ero fuori di tutto, assente da me stesso e dalla vita; […] non era vero niente! Non le avevo trovate più perchè non c’erano state mai: ombre, sogno…“ (SG, 228).89 Gubbio fühlt sich aus Zeit und Welt herausgefallen, er erkennt sie nicht wieder und hält nun alles für Illusion und Schatten, auch die Realität selbst. Fast scheint es, als könne er Film und Leben nicht mehr voneinander unterscheiden – aber nicht weil der Film so perfekt mimetisch ist, sondern weil die Realität so unwirklich scheint. Das Totale Kino wird hier zur psychotischen Episode. Ausgelöst wurde diese epistemologische und aisthetische Krise, als Gubbios kinematographischer Blick auf die Welt traf, die eben nicht ihre Form über die Zeit hinweg bewahrt, wie es das Filmbild tut. Mit keinem von beiden ist der Kameramann zufrieden: Dem Filmbild fehlt der Atem, der Duft, jene Nostalgie, die er empfindet, wenn er an die villetta denkt; der Realität aber kann er nicht verzeihen, dass sie beim Vergehen der Zeit ihre Form verliert. Deshalb ist er nach seiner Rückkehr in die Kosmograph einerseits erleichtert, als er dort Luisetta wiedersieht, die die Rolle der jungen Duccella glaubwürdig übernommen hat. Sie bewahrt das jugendliche Bild der inzwischen alt gewordenen Frau. Andererseits kann er aber auch diese Rückkehr der Vergangenheit nicht gutheißen, obwohl sogar Nuti „pareva per prodigio ritornato quello di tant’anni fa“ (SG, 229).

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Pirandello, Luigi: L’umorismo. Milano: Baldini & Castoldi 1993, S. 156. (Dt.: „ Das Leben ist ein ständiges Fließen, das wir anzuhalten und in dauerhafte und feste Formen zu bringen versuchen, und zwar innerhalb wie außerhalb von uns“, siehe Pirandello, Luigi: Der Humor. Essay. In: Ders: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden (hg. v. Michael Rössner), Band III. Berlin: Propyläen 1997, S. 200.) 89  Dt.: „Nein, keine Welt mehr, keine Zeit, gar nichts: Ich stand jetzt außerhalb von allem, war abwesend, aus mir selbst und aus dem Leben herausgetreten! […] Das war alles nicht wahr! Ich hatte sie nicht wiedergefunden, weil es sie nie gegeben hatte: Schatten, Traumwesen …“ (SG, 229)

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Insgesamt zeigt sich also, Gubbios Abneigung gegen das Kino „beruht auf der metaphorischen Polarisierung von ‚lebendiger Wirklichkeit‘ und ‚toter Form‘, die auch als Kunst-Leben-Dichotomie akzentuiert wird.“90 Diese Dichotomie durchzieht den gesamten Roman als eine ästhetische Problemstellung, die sich in narrativen Situationen und Konstellationen kristallisiert. So nutzt Pirandello das Kino, um ästhetische und philosophische Fragen zu reflektieren. Es ist ihm nicht nur Motiv, sondern literarische Strategie basierend auf its ability to display, in ways more concrete than those furnished by any aesthetic medium that preceded it, the existential dilemma that humans have confronted all along and that they will always confront — namely, the unending struggle to define truth and identity and the multiple illusions created in its course.91

Der Krise, die von der Konfrontation des Kamera-Blicks mit der Vergänglichkeit der Realität ausgelöst wird, liegt die „Frage nach den Möglichkeiten des Erzählens der Welt“ zugrunde, was die Quaderni zu einem „Metatext der Literatur“ macht.92 So zeigt sich in Pirandellos Roman einmal mehr, wie das Narrativ des Totalen Kinos Literaten zur Reflexion der eigenen Möglichkeiten und Potenziale anregt. Anhand der ästhetischen Möglichkeiten des Kinos entwickelt Pirandello „a theory about the infinite ways in which reality may be interpreted“.93 Damit enthält der Roman eine der frühesten Filmtheorien überhaupt, die mit literarischen Mitteln verhandelt und hinterfragt wird. Auch deshalb wäre es zu kurz gegriffen, die Quaderni als Zeugnis eines Filmfeindes zu lesen. Wer dies tut, lässt sich die Ironie und den Humor entgehen, die in dem Werk zum Tragen kommen und mit denen sich das folgende Kapitel beschäftigen wird. 2.1.3 Unter der Oberfläche: Kino als Medium des Umorismo

Das Verhältnis des Kameramanns Serafino Gubbio gegenüber seinem Metier scheint von Skepsis bis Abneigung zu reichen. Nicht ohne Grund lesen viele Interpreten den Roman als filmskeptisches Zeitdokument.94 Für diese Les-

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Schmitz-Emans: Entgrenzungsphantasien und Derealisierungserfahrungen, S. 188. Syrimis: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod, S. 4f. 92  Schrader: ‚Si gira!‘, S. 123. 93  Syrimis: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod, S. 5. 94  Die Forschung zeigt sich recht einig, dass Pirandellos Roman film- und technikfeindlich ist, siehe Schrader: ‚Si gira!‘, S. 123; außerdem: Vettori, Alessandro: Serafino Gubbio’s 91 

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art sprechen einige Indizien, die hier bereits dargelegt wurden: Gubbio bezichtigt die Kamera, die Seelen der Schauspieler zu fressen, ihnen das Leben aus dem Körper zu saugen und sie als bloße Schatten wieder auszuspucken. Nicht nur Gubbio, auch die Schauspieler selbst sind angeekelt von dem Bild, das am Ende des langen Produktionsprozesses als ihr Abbild vor ihren Augen erscheint. Hinzu kommt, dass das Medium Film, dem hier eine todbringende Macht zugesprochen wird, gleichzeitig als verlockende Kopie der Realität geschildert wird, was Gubbio offensichtlich ebenfalls zuwider ist. Damit verweist auch Pirandellos Roman implizit auf das Narrativ des Totalen Kinos, ist er doch „an extensive document on the mimetic context of early Italian cinema“.95 Anders als bei Villiers und Verne ist in Pirandellos Roman von einer metaleptischen Überschreitung der Grenze zwischen Film und Realität allerdings keine Rede. Für Gubbio ist der Film „ein mechanisches Bild bzw. ein ohne menschliche Beteiligung vom Licht gemaltes Bild, ein von einem Apparat aufgezeichneter Spiegel der sprechenden Natur, der zwar die äußere Wirklichkeit registrieren, aber keine Sinnstiftung übernehmen kann.“96 Statt Sinn zu stiften, sorgt das Kino für Orientierungslosigkeit, indem es den Rezipienten mit diesem Spiegelbild konfrontiert. Während vor allem bei Villiers, aber auch bei Verne noch die Infiltration der kinematographischen Geschöpfe in die reale Welt symptomatisch war, beschreibt Gubbio den Film als immersive Kraft: Data l’intenzione, in cui mi vado sempre più raffermando, di rimanere uno spettatore impassibile, questa mente questo cuore mi servono male. Ho ragione di credere (e già più d’una volta me ne sono compiaciuto) che la realtà ch’io do agli altri corrisponda perfettamente a quella che questri altri dànno a se medesimi, perchè m’industrio di sentirli in me com’essi in sè si sentono, di volerli per me com’essi per sè si vogliono: una realtà, dunque, al tutto ‚desinteressata‘. Ma vedo intanto che, senza volerlo, mi lascio prendere da questa realtà, la quale, così com’è, mi dovrebbe restar fuori: materia, a cui do forma, non per me, ma per se stessa; da contemplare. Senza dubbio, c’è un inganno sotto, un beffardo inganno in tutto questo. Me vedo presso. (SG, 134)97

Candid Camera. In: MLN, Vol. 113, Italian Issue (1998), S. 79–107. 95  Moses: The Nickel Was for the Movies, S. 3. 96  Schrader: ‚Si gira!‘, S. 147. Es sei hier auf die Nähe zu Bazins Ontologie de l’image photographique hingewiesen; Bazin versteht Photographie und Film ebenfalls als Lichtschrift und betont, dass die Reproduktion ohne menschliche Beteiligung stattfindet. 97  Dt.: „In mir bestärkt sich immer mehr die Absicht, ein teilnahmsloser Beobachter sein zu wollen, und dabei kann ich diesen Geist und dieses Herz nur sehr schlecht ge-

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Gubbio lässt sich ergreifen von dieser Realität, die er den Schauspielern durch seine affektive Einfühlung schenkt. Er ist gefangen in „questa realtà“, die der Film schafft und die doch nur „un beffardo inganno“ ist. Die Metamorphose des Zuschauers in einen Gefangenen verläuft analog zur Verwandlung des Kameramanns in einen Filmzuschauer: Weil Gubbio seine berufsmäßige Teilnahmslosigkeit aufgibt, packt die filmische Realität ihn emotional und affiziert ihn. Er fühlt, was die Figuren im Film fühlen, er kann nicht einmal mehr „sorridere“, wenn er „una complicazione di casi o di passioni“ miterlebt (SG, 134). Was Gubbio hier an sich beobachtet, ist der Verlust seiner eigenen Professionalität und seine Affizierung durch das Bild. Die Erfahrung, als Künstler vom eigenen Kunstwerk überwältigt zu werden, inszeniert die Literatur seit Pygmalion und nicht immer mit so glücklichem Ausgang wie dort: Das leibhaftige Bild kann den Künstler quälen „comme un enfer“98 – das gilt auch für den Kameramann Serafino Gubbio. Pirandello bedient sich hier eines traditionellen Topos in der Auseinandersetzung zwischen Literatur und (Bild‑)Kunst; die fatale Verlebendigung des Kunstwerks spielt Schriftstellern stets in die Hände, wenn es darum geht, die allzu getreue Mimesis des Abbildes zu kritisieren. Im Zeitalter des Kinos kehren sich allerdings die Vorzeichen um: Der empfindsame Künstler, der ein Kunstwerk durch seinen besonderen Blick auf die Welt erschafft, wird von der objektiv abbildenden Kamera ersetzt. Allerdings ist er deshalb noch lange nicht außer Gefahr, vom Bild infiziert zu werden, wie die obige Passage beweist. Gubbio blickt wehmütig zurück auf den Dichter, der „deificava i suoi sentimenti“ (SG, 7). Im Gegensatz zu ihm muss der Kameramann nicht besonders talentiert oder leidenschaftlich, sondern im Gegenteil besonders teilnahmslos sein. Gubbios Emotionalität ist ein Hindernis für seine Professionalität, könnte sie ihn doch dazu verleiten, das Kurbeln zu beschleunigen,

brauchen. Ich habe Grund anzunehmen (und mehr als einmal konnte ich schon feststellen, daß ich damit recht habe), daß die Wirklichkeit, die ich den anderen gebe, genau jener entspricht, die sie sich selbst zuteilen, weil ich mich bemühe, sie in mir genau so zu fühlen, wie sie sich in sich selbst fühlen; sie für mich genau so zu wollen, wie sie sich für sich selbst wollen: also eine völlig ‚selbstlose‘ Wirklichkeit. Aber inzwischen merke ich, daß ich mich unwillkürlich von dieser Wirklichkeit packen lasse, die, so wie sie ist, außerhalb von mir selbst bleiben sollte: eine Materie, der ich Form gebe, aber nicht um meinetwillen, sondern um ihrer selbst willen; nur um sie zu betrachten. Zweifellos liegt dem Ganzen eine Täuschung zugrunde, eine boshafte kleine Täuschung. Ich merke, daß ich gefangen bin.“ (S. 134) 98  Didi-Huberman: La peinture incarnée, S. 69.

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zu verlangsamen oder ganz zu unterbrechen, wenn vor der Kamera Dinge geschehen, von denen er sich im Wortsinne anstecken lässt. Der hysterische Anfall der Nestoroff zeigte Symptome einer solchen übermäßigen Identifikation mit den flackernden „Hadesschatten“,99 die auch Gubbio bei sich befürchtet. Auch deshalb bedeutet die Szene, in der die Tigerin Aldo Nuti verschlingt, seinen Triumph als Kameramann: Trotz der Ereignisse hat er nicht aufgehört zu kurbeln, hat sich nicht packen lassen von dem, was vor der Kamera geschah. Oder hat er sich womöglich von der mordenden Tigerin statt vom angegriffenen Opfer affizieren lassen? Wie so oft in der Geschichte der Literatur fordert auch in den Quaderni das perfekte Kunstwerk ein Menschenleben. Gubbios Teilnahmslosigkeit angesichts dessen ist allerdings keine Nebenwirkung seines Kontakts zum Film in Form einer Deshumanisation und Mechanisierung des Kameramanns, wie der Erzähler selbst es darstellt und wie es die meisten Interpreten übernehmen. Vielmehr stellt die Teilnahmslosigkeit Gubbios Versuch dar, sich vor dem affizierenden und immersiven Potenzial des Films zu schützen. Der Roman lässt offen, ob das Filmen der Tiger-Szene den Erfolg diese Strategie oder eine fehlgehende Identifikation bezeugt, nämlich jene mit der gefräßigen Bestie. Gubbio mag Filmskeptiker sein, Pirandello ist es deshalb allerdings nicht zwangsläufig auch. Denn die Quaderni sind zweilagig konstruiert, ein für Pirandello nicht unübliches literarisches Verfahren.100 So stellt auch Rössner fest: „Chi conosce l’opera di Luigi Pirandello sa che mai e poi mai da lui le cose sono così univoche.“101 Unter der wörtlich zu lesenden Kritik Gubbios an der Kinematographie liegt eine Ebene, die gerade in den ironischen Passagen immer wieder durchbricht und die Film nicht denunziert, sondern vielmehr als Medium humoristischer Reflexion rehabilitiert.102 Die Figur des Kame99 

Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 121. So weist Gavriel Moses mit Blick auf diese Zweilagigkeit im Œuvre Pirandellos treffend auf eine Parallele hin: Quaderni di Serafino Gubbio operatore „does for cinematography what Six Characters in Search of an Author does for the theater“, vgl. Moses: The Nickel Was for the Movies , S. XVII. 101  Siehe dazu das bereits zitiert Vortragsmanuskript von Rössner: La tigre finta e la tigre vera. Dies zeigt sich auch in Pirandellos wichtigstem Drama, siehe Pirandello, ­Luigi: Sei personaggi in cerca d’autore. In: Ders: Teatro. Milano: Giovanni Macchia 2007, S. 335–404. 102  Die reflexive, das Betrachtete in Distanz rückende Wirkung des Humors betont auch Freud, demzufolge der Humor sagt: „Sieh’ her, das ist nun die Welt, die so gefährlich aussieht.“ Siehe Freud, Sigmund: Der Humor (1928). In: Ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV. Frankfurt: Fischer 1978, S. 275–282, hier S. 282. Darin ähneln 100 

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ramanns ist dabei die Schlüsselfigur, die den Weg zum Erfassen der zweilagigen Anlage des Textes weist. Gubbio inszeniert sich selbst als mechanisch kurbelnden und teilnahmslos beobachtenden Erzähler, er verfolgt dahinter aber eine eigene Agenda, die nicht nur dann offenbar wird, wenn er theoretische und philosophische Reflexionen über die Filmästhetik einschiebt, sondern auch in jenen Passagen, in denen er von Luisetta spricht beziehungsweise sie filmt: „Non ho mai girato con tante delicatezza la manovella della mia macchinetta.“ (SG, 201) Obwohl er sich sofort korrigiert, denn „son rovinato, se la mia mano si mette a sentire!“ (SG, 201), ist bereits klar, dass es mit seiner Teilnahmslosigkeit nicht weit her ist. In einer metonymischen Struktur schreibt er seine Empfindungen seiner Hand zu, um sich von ihnen zu distanzieren. Allerdings ist ja gerade jene Hand zur Teilnahmslosigkeit verpflichtet; wenn sie fühlt, fühlt auch er. Dabei macht Gubbio nicht etwa eine Entwicklung vom teilnahmslosen zum liebenden und am Ende verstummten Subjekt durch, er ist vielmehr eine ständig changierende Figur. Als Erzähler ist er in seiner Position weder konsistent noch besonders überzeugend. Stellenweise wirkt er sogar infantil und psychisch instabil, etwa dann, wenn er die Angst vor seinem eigenen Schatten beschreibt: […] tenendo un fiammifero acceso tra le dita, ho visto davanti a me, vincinissima, enorme nel’altra parete, la mia ombra. Smarrito nel silenzio della casa, mi sentivo l’anima così piccola, che quella mia ombra al muro, così grande, m’è sembrata l’immagine della paura. (SG, 151)103

Wie ein Kind fürchtet sich Gubbio in dem Korridor des Hauses, in dem er wohnt, vor seinem eigenen Schatten. Dabei ist er es doch, wie er selbst sagt, der täglich Schatten hervorbringt. Sein eigener Schatten, das Abbild seines Körper, wird ihm zum Auslöser und zum Abbild einer existenziellen Angst, der Angst selbst ein Schatten zu werden, also vom Filmbild angesteckt worden zu sein. Damit erweisen sich Gubbios Reflexionen einmal mehr als Neu-Er-

sich Freuds Auffassung vom Humor und jene von Pirandello, auf die gleich noch ausführlich einzugehen sein wird. 103  Dt.: „Auf dem Gang, kaum daß ich die Türe zu Nutis Zimmer geschlossen hatte, sah ich im Licht eines Streichholzes vor mir ganz nah und riesig auf der gegenüberliegenden Wand meinen Schatten. Von der Stille des Hauses erdrückt, fühlte ich meine Seele so klein werden, daß dieser riesenhafte Schatten auf der Wand mir wie das Abbild meiner Angst erschien.“ (S. 151)

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zählungen des platonischen Höhlenmythos, denn auch bei Platon bleibt „niemand unberührt von der Seinsqualität dessen, womit er ständig Umgang hat und woran er seine Erfahrung macht“.104 Die Infektion ist die größte Gefahr für jene, die ständig auf die Schatten starren, sie sind bedroht durch „das Hadeshafte der Schatten, [die] Korruption durch das Bildhafte und seinen mangelnden Ernst“.105 Wenn Gubbio tatsächlich infiziert ist von dieser Rezeptionserfahrung, so scheint seine professionelle Objektivität dadurch untergraben und in der Folge auch seine Kritik am Film fragwürdig. Ist er gar nicht der Fachmann zum Kino, als der er sich ausgibt? Oder liefern gerade seine Affiziertheit und seine Tendenz, die objektive Distanz zu seinem Gegenstand zu verlieren, einen besonders aufschlussreichen Zugang zur Kinoästhetik? Für letztere Lesart spricht eine Lektüre, die die Quaderni mit einem anderen zentralen Text Pirandellos verknüpft: Liest man seinen buchlangen Essay zum Umorismo von 1908, so erweist sich nicht nur Gubbio als humoristischer Erzähler, sondern umgekehrt auch Pirandellos ästhetisches Programm des umorismo als grundlegend mit dem Medium Film verwoben. Pirandello liefert in L’umorismo nicht nur eine luzide literaturhistorische Studie über humoristisches Schreiben von Ariost und Cervantes bis zur Schlegelschen Ironie, er betont auch das poetologische dekonstruktive Potenzial von Humor: Humor „scompone“, er produziert Disharmonien und bringt in Unordnung.106 Im Gegensatz zum bloß Komischen deckt der Humor in allem das jeweilige Gegenteil nicht nur auf, sondern lässt einen dieses Gegenteil empfinden, schreibt Pirandello. Dieses „sentimento del contrario“107 stellt sich beim Humoristen ein, indem sich die Reflexion vor das Werk schiebt und das Gefühl, das es auslöst, unmittelbar analysiert und zerlegt.108 Somit entspricht Pirandellos Verständnis vom Humor einem Reflexionsprozess (riflessione), der „spassionandosi del primo sentimento […] genera appunto il sentimento del contrario“.109 Diese Rezeptionshaltung ist durchaus mit dem zu vergleichen, was Gubbio „la mia professionale impassibilità“ nennt (SG, 7),

104  105  106  107  108  109 

Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 120. Ebd., S. 121. Pirandello: L’umorismo, S. 50, Herv. i. O. Ebd., S. 129, Herv. i. O. Vgl. ebd. Ebd., S. 130.

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mit jener Linse also, die er zwischen sich und das Geschehen vor der Kamera, die Realität, schiebt. Pirandellos Humorkonzept zielt allerdings nicht auf einen Gegensatz zwischen einer bewussten Reaktion und einer spontanen, unbewussten. Die humoristische Reflexion „è una specie di projezione della stella attività fantastica: nasce dal fantasma, come l’ombra dal corpo“.110 Diese Metapher, die Pirandello hier für die humoristische Reflexion gebraucht, ähnelt der oben zitierten Passage, in der Gubbio seine Angst vor dem Schatten, der aus seinem Körper erwächst, schildert. Beide Erfahrungen erscheinen analog zu jener der Schauspieler, die ihr eigenes Bild, sobald es als Bewegtbild vor ihnen erscheint, als von ihnen abgetrennt und ihrem Zugriff entzogen wahrnehmen. Hier schiebt sich das Medium zwischen den Körper und sein Abbild und ermöglicht damit eine Rezeptionserfahrung, die derjenigen im Genre des Humors nahekommt. Nicht zufällig bezeichnet Pirandello den Humor auch als „un fenomeno di sdoppiamento“.111 Das ästhetische Potenzial des Kinos und jenes des Humoristen ähneln sich. Entgegen der üblichen Interpretation zeigt sich in der gemeinsamen Lektüre der Quaderni und des Umorismo-Essays, dass Pirandello das humoristische Potenzial des Mediums Film durchaus zu schätzen wusste. So beschreibt er etwa die „strana impressione“,112 die ausgelöst wird, wenn wir uns selbst im Spiegel sehen: „Alziamo una mano, nell’incosczienza; e il gesto ci resta sospeso. Ci pare strano che l’abbiamo fatto noi. Ci vediamo vivere.“113 Eine ähnliche Reflexion vermag das Kino als Verdopplung der Realität auszulösen; auch Film bietet Einblick in una realtà vivente oltre la vista umana, fuori delle forme dell’umana ragione. Lucidissimamente allora la compagine dell’esistenza quotidiana, quasi sospesa nel vuoto di quel nostro silenzio interiore, ci appare priva di senso, priva di scopo; e quella realtà diversa ci appare orrida nella sue crudezza impassibile e misteriosa, poiché tutte le nostre fittizie relazioni consuete di sentimenti e d’immagini si sono scisse e disgregate in essa.114

110 

Ebd., S.137.

111 Ebd. 112 

Ebd., S. 157. Ebd., S. 156f, Herv. i. O. (Dt.: „Wir heben unbewußt eine Hand und halten mitten in der Bewegung inne. Es erscheint uns seltsam, daß wir diese Bewegung gemacht haben. Wir sehen uns leben.“, S. 201) 114  Ebd., S. 157. (Dt.: „eine andere als die gewöhnlich wahrgenommene Realität, eine Realität, die jenseits des menschlichen Sehvermögens und außerhalb der Formen 113 

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Pirandellos Interpretation der humoristischen Spiegelszene ähnelt der Per­ spektive Gubbios: Auch er erhält Einblick in eine außergewöhnliche Realität und in die Sinnlosigkeit des Daseins. Die virtuelle Realität des Spiegelbildes wie des Filmbildes eröffnet Einblicke, die ansonsten verwehrt blieben. Die Krise, die Gubbio bei seinem Besuch in der villetta bei Sorrento – übrigens ebenfalls angesichts eines Spiegels115 – erlebt, ist der Erkenntnis des Vergehens der Zeit geschuldet. Ermöglicht wurde die Krise aber nur, weil seine Wahrnehmung zuvor schon kinematographisch geschult worden war. Ein anderer Betrachter hätte die Veränderung von Rosa und Duccella eben als natürlichen Verfall im Laufe des Lebens eingeordnet; Gubbio aber, weil er es gewohnt ist, von den unvergänglichen, immer strahlenden Bildern der Filmwelt umgeben zu sein, trifft die Härte der Realität mit voller Wucht. Diese Erfahrung ist zwar nicht komisch, wohl aber humoristisch. Pirandello geht im Humor-Essay nicht auf den Film ein, aber auf ein anderes optisches Hilfsmittel, das Teleskop: Dieses könne zu einem „terribile strumento“ werden, weil es „subissa la terra e l’uomo e tutte le nostre glorie e grandezze“.116 Optische Instrumente können also durch die Veränderung und Verzerrung unserer Wahrnehmung durchaus zu einer im Sinne des umorismo veränderten Weltsicht beitragen. Dies gilt auch für den Film. Dabei übertrifft das Kino als Bewegungskunst das humoristische Potenzial der anderen abbildenden Künste noch: „[L]’arte, come tutte le costruzioni ideali o illusorie, tende a fissar la vita: la fissa in un momento o in varii momenti determinati“.117 Das Festhalten in einem Einzelbild widerstrebt dem Vergnügen des Humoristen an der „incongruenza“, die Flüchtigkeit der Bewegung im Film kommt

menschlicher Vernunft existiert. Der alltägliche Lebenszusammenhang schwebt dann gleichsam in der Leere unseres inneren Schweigens und erscheint uns in äußerster Klarheit als etwas Sinn- und Zielloses. Diese andere Realität wirkt in ihrer gefühllosen und mysteriösen Härte auf uns grauenerregend, denn alle unsere gewohnten, künstlichen Gefühls- und Vorstellungsbeziehungen haben sich gespalten, zerteilt und so in sie aufgelöst.“, S. 202) 115  Zu Spiegelphänomenen im Werk Pirandellos siehe insbesondere Schmitz-Emans, Monika: Potenzierte Spiegelungen. Zur Fiktionalisierung des erkenntnistheoretischen Diskurses bei Pirandello. In: Rössner, Michael (Hg.): Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne. Wilhelmsfeld: Egert 1997, S. 129–162. 116  Pirandello: L’umorismo, S. 161. 117  Ebd., S. 162. (Dt.: „Die Kunst tendiert wie alle ideellen oder illusorischen Konstruktionen dazu, das Leben festzuhalten. Sie hält es in einem oder verschiedenen bestimmten Augenblicken fest“, S. 208).

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ihm dagegen entgegen.118 Der Film bietet mehr Spielraum, indem nicht nur mehrere Episoden aus dem Leben festgehalten, sondern diese durch Montage auch unterschiedlich kombiniert werden können. Film ist wie der Humor „come un demonietto che smonta il congegno d’ogni immagine, d’ogni fantasma messo su dal sentimento; smontarlo per veder com’è fatto; scaricarne la molla, e tutto il congegno striderne, convulso.“119 Film und Humor zerlegen beide die Realität, „il congegno esterno, vorrei dir meccanico della vita“ (SG, 4), wie eine Maschine. Der Kameramann lacht über jene, die das Leben „un mistero“ (SG, 179) nennen. Dank dem Film kann er längst tiefer blicken als diese Naiven: „[L]a vita, posta davanti così, perde per forza ogni consistenza reale e diventa un’astrazione vuota di senso e di valore.“ (SG, 179) Gubbio ist auch hier Humorist: „[A]ttraverso il ridicolo di questa scoperta vedrà il lato serio e doloroso; smonterà questa costruzione, ma non per riderne solamente; e in luogo di sdegnarsene, magari, ridendo, compartirà“.120 So zeigt sich, dass der Blick des Kameramann-Erzählers auf die Welt nicht nur ein kinematographischer ist, sondern auch ein humoristischer. Ja, dass ihm der humoristische Blick erst durch die Kinematographie aufgezeigt und ermöglicht wird, weil beide einer Ästhetik des Zerlegens und der distanzierten Betrachtung Vorschub leisten. Das Kino ist für Pirandello nicht nur eine Metapher für den Blick des Humoristen auf die Welt, sondern selbst ein humoristisches Medium. Das Potenzial des Kinos wird über die Poetik des umorismo begreifbar, und umgekehrt. Indem der Roman Gubbio als humoristischen Erzähler installiert, wird innerhalb des Textes der Kameramann zum Medium, um den Film und die Welt zu verstehen. Es geht in den Quaderni also nicht so sehr darum, dass Gubbio ein humoristisches Bild vom Kino und von der Filmindustrie zeichnet,121 sondern darum dass das Kino selbst als Mittel zur humoristischen Brechung des Blicks auf die Welt inszeniert wird: „Gubbio’s insights indeed imply that the film camera may be transformed into a

118 

Ebd., S. 163. Ebd., S. 142. (Dt.: „[…] wie eine Art Teufelchen, das jedes vom Gefühl hervorgebrachte Bild- und Vorstellungsgefüge zerlegt. Es zerlegt es, um nachzusehen, wie es gemacht ist, entspannt seine Triebfeder, und das ganze Gefüge fängt an, sich zu verziehen und zu verzerren.“, S. 181) 120  Ebd., S. 151. (Dt.: „Durch das Lächerliche an seiner Entdeckung hindurch wird er auch deren ernsthafte und schmerzhafte Seite sehen. Er wird zwar auch diese Konstruktion auseinandernehmen, aber nicht nur, um darüber zu lachen, und statt verärgert zu sein, wird er allenfalls lachend Mitleid empfinden.“, S. 193) 121  Vgl. Syrimis: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod, S. 228. 119 

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humoristic instrument. It is capable of provoking reflection, leading to an unsettling intellectual and emotional state“.122 Die Quaderni erweisen sich als humoristischer Text, da in ihnen Film und Roman geradezu parasitär ineinander verwachsen sind. Bereits darin entsprechen sie dem Konzept des Umorismo. Für Pirandello zeichnet es das humoristische Kunstwerk aus, dass „qui, invece, per la riflessione inserta nel germe del sentimento, come un vischio maligno, si sveglian le idee e le immagini in contrasto.“123 So kommt auch Rössner zu dem Schluss, dass Pirandello not only describes (quite critically) cinematographic art, but causes it to invade as a kind of metastasis the space of the novel […]. Obviously, we may classify this also as a mise en abyme in a double sense : of the film which from object of the narrative becomes a parasite within the narration and finally of the narration itself.124

Das Kino als Parasit des Romans ist dabei allerdings keine destruktive Geschwulst, sondern vielmehr ein Parasit, der den „germe“ für eine konstruktive Reflexion, eine „riflessione sulla vita“ in sich trägt.125 Das Ineinander von Film und Roman lässt sich daher eher als Symbiose, denn als Krankheit beschreiben. In der Folge zeigt sich, dass „the whole structure of binary opposition (stupid mechanical art versus sublime human art) cannot be maintained.“126 Zum Abschluss der Lektüre zeigt sich also, dass das Gegenteil der ersten Intuition der Fall ist: Film wird bei Pirandello in seiner transmedialen Repräsentation durch die Literatur zum Erkenntnisinstrument, das in der humoristischen Tradition stehend die menschliche Erkenntnisfähigkeit hinterfragt. Kino ist in den Quaderni keine bloße Metapher, sondern geht mit dem Text eine höchst fruchtbare Symbiose ein; in der gegenseitigen Bespiegelung – der Text beleuchtet den Film, der Film beleuchtet den Text – reift die Erkenntnis, dass Film das Leben nicht bloß aussaugt, sondern ihm eine Perspektive hinzufügt. Dabei nimmt Pirandellos Kino-Roman das Kinematographische nie als

122 

Ebd., S. 213f. Pirandello: L’umorismo, S. 138. (Dt.: „Hier aber, wo die Reflexion wie ein bösartiger Parasit schon im Keim der Empfindung eingeschlossen ist, werden die gegenteiligen Vorstellungen und Bilder wach.“, S. 174) 124  Rössner, Michael: Mise en abyme and Transmediality: Mediatizing Media. In: De Toro, Alfonso (Hg.): Translatio. Transmédialité et transculturalité en littérature, peinture, photographie et au cinéma. Amériques – Caraïbes – Europe – Maghreb. Paris: L’Harmattan 2013, S. 115–127, hier S. 125. 125  Pirandello: L’umorismo, S. 138. 126  Rössner: Mise en abyme and Transmediality: Mediatizing Media, S. 125. 123 

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a priori gegebene, stabile Kategorie außerhalb des Textes an, es manifestiert sich vielmehr „as an effect of that text“.127 Der Effekt, den das Kino in den Quaderni hervorbringt, ist – in einer Umkehrung von Gubbios eigener Affiziertheit – jene Distanzierung, die den Ausstieg aus dem Drama ermöglicht. So rät der Kameramann im Dialog mit Luisettas Vater Fabrizio Cavalena diesem: — Un gradino più su, signor Fabrizio; salga un gradino più su di codeste considerazioni astratte, di cui ha voluto darmi un saggio in principio. Creda che, se vuol confortarsi, è l’unica. Ed è anche di moda, oggi. — Come sarebbe? — mi domanda, stordito, Cavalena. E io: — Evadere, signor Fabrizio, evadere; sfuggire al dramma! È una bella cosa, e anche di moda, le ripeto. E-va-po-rar-si in dilatazioni, diciamo così, liriche, sopra le necessità brutali della vita, a contrattempo e fuori de luogo e senza logica; su, un gradino più su di ogni realtà che accenni a precisarcisi piccola e cruda davanti agli occhi. (SG, 251)128

Zum Aussteigen aus dem Drama, gemeint ist hier das Melodram um Luisetta und Aldo Nuti, bietet vor allem der Film die Gelegenheit. Das Kino ermöglicht jene Perspektive, die sich „a contrattempo e fuori de luogo“ über die Wirklichkeit erhebt, ohne diese jedoch zu leugnen. Was Gubbio hier ausspricht, ist eine Einladung, sich auf die Meta-Ebene zu begeben und die Ereignisse aus der Vogelperspektive zu betrachten. Ein Wechsel der Perspektive bietet sich seiner Erfahrung nach bei unterschiedlichen Gelegenheiten an: „Appena le cose si mettono male, appena due, poniamo, vengono alle mani o ai coltelli, via, su, guardare in su, che tempo fa, le rondini che volano, o magari i pipistrelli, se qualche nuvola passa“ (SG, 251).129

127 

Gruic / ​Brillenburg: Cinematography as a Literary Concept in the (Post)Modern Age, S. 191 (Herv. i. O.). 128  Dt: „‚Eine kleine Stufe höher hinauf, Herr Fabrizio. Steigen Sie doch eine Stufe höher auf diesen abstrakten Betrachtungen, von denen Sie mir zu Beginn eine so ­schöne Probe geben wollten. Glauben Sie mir, wenn Sie Trost finden wollen, ist es die einzige Möglichkeit. Und heutzutage ist es auch sehr in Mode.‘ ‚Wie wäre das?‘ fragt mich Cavalena ganz verwirrt. Und ich sage darauf: ‚Aussteigen, Herr Fabrizio, aussteigen; dem Drama entfliehen! Das ist eine schöne Sache, ist auch recht modern, wie ich Ihnen schon sagte. Sich auf-lö-sen in einem, sagen wir, lyrischen Verströmen des Ich über die brutalen Notwendigkeiten des Lebens, völlig zur falschen Zeit und am falschen Ort und ohne Logik. Los, hinauf, eine kleine Stufe höher hinauf als jede Wirklichkeit, die droht, sich da klein und brutal vor unseren Augen aufzubauen.“ (S. 252.) 129  Dt: „Kaum nehmen die Dinge einen ungünstigen Verlauf, kaum, sagen wir, werden zwei Leute handgreiflich oder nehmen gar das Messer, weg, höher hinauf, mal nachse-

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Bezeichnenderweise geschieht die Verknüpfung dieses Potenzials mit der filmischen Ästhetik in den Quaderni implizit statt explizit, also auf einer Ebene, die hinter Gubbios Schimpftiraden auf das Kino liegt. Der Roman gewährt seinen Leserinnen und Lesern das humoristische Vergnügen, diese Doppellagigkeit selbst zu entschlüsseln und vermittelt jene „skeptische Grundeinstellung, die jede Beobachtung, Überlegung und Darstellung begleitet, eine bis zur Bösartigkeit genaue Analyse der Realität und schließlich, als Ergebnis dieser Bedingungen und Prozesse, das Umschlagen eines ursprünglichen Gefühls in sein Gegenteil“.130 Vom zunächst plausibel erscheinenden Filmskeptizismus gelangen die Quaderni damit zu einer versierten Filmästhetik und Filmtheorie. Moses zufolge antizipieren „the narrative insights of a novel such as Quaderni“ sogar die spätere Filmtheorie von Kracauer über Metz bis Baudry.131 Allerdings müssen diese „insights“ dem Roman erst entlockt werden, denn erst „a study of the novel in light of Pirandello’s theory of humour suggests that cinema may indeed allude to truth via its ability to enact a process of reflection.“132 So ist die Wahrheit bei Pirandello nie eindimensional und greifbar, sondern vielgestaltig, und höchstens performativ einzukreisen. Syrimis’ Schlussfolgerung ist deshalb zuzustimmen: „Pirandello aims not to unveil a primordial truth but to expose its multiple portrayals.“133 Das Kino-Dispositiv, das Pirandello in seinem Roman entwirft, erweist sich dafür als potentes Reflexionsinstrument, weil es Dinge sichtbar macht, die zuvor verborgen lagen: „[T]ante cose nel bujo vedevo io con quei lumi là, che loro forse non vedono più con la lampadina elettrica, ora; ma in compenso, ecco, con queste lampadine qua altre ne vedono loro, che non riesco a vedere io“ (SG, 116).134 Die alten Öllampen brachten Phantasmagorien hervor, die mit den modernen elektrischen Lampen nicht mehr zu sehen sind. Aber die elektrischen Lampen erzeugen neue Phantasmagorien. Indem Pirandellos

hen, was für ein Wetter ist, oder die Schwalben betrachten, die vorüberfliegen, meinetwegen auch die Fledermäuse, oder ob eine Wolke vorüberzieht“, S. 252. 130  Thomas, Johannes: Pirandellos heimlicher Humor. Nachwort zur deutschen Übersetzung von Pirandello: Der Humor, S. 236. 131  Moses: Film Theory as Literary Genre in Pirandello and the Film-Novel, S. 55. 132  Syrimis: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod, S. 198 (Herv. i. O.). 133  Ebd., S. 214. 134  Dt.: „Früher, mit diesen Öllampen, habe ich viele Dinge im Dunkeln gesehen, die Sie mit dieser elektrischen Lampe jetzt vielleicht nicht mehr sehen können; aber dafür sehen Sie mit diesen modernen Lampen wieder andere Dinge, die ich nicht sehen kann“, S. 114.

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Roman diese Phantasmagorien heraufbeschwört und seinen Erzähler mitten in sie hinein setzt, legt er nicht nur die Potenziale des Mediums Film offen, sondern zugleich die Grenzen des Narrativs vom Totalen Kino.

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2.2 Krieg der Bilder: Salomo Friedlaenders /  Mynonas Graue Magie (1922)

Salomo Friedlaender veröffentlichte Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüssel­ roman 1922 unter dem Pseudonym „Mynona“. Das Anagramm von „anonym“ scheidet den Groteskenschreiber vom Philosophen – wobei das Spiel mit der Verkehrung als schriftstellerisches Projekt an Friedlaenders Philosophie durchaus anschlussfähig ist: Das ver-kehrte Pseudonym markiert eine „Schreibstrategie“,135 die sich insbesondere im Hinblick auf die Reflexion des Mediums Film als fruchtbar erweist.136 In Graue Magie zeigt sich Friedlaender/ Mynona137 als medientheoretisch hellsichtiger Autor, der sich mit literarischen Mitteln dem Konkurrenzmedium Film und dessen politischen Implikationen

135 

Vgl. Hilmes, Carola: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg: Winter 2000, S. 290. 136  Bisweilen wendet sich in dieser auf die Filmästhetik konzentrierten Lektüre der Schriftsteller Mynona allerdings auch gegen den Philosophen Friedlaender, etwa wenn am Ende des Romans das Fest der grauen Magie die Überwindung des Kinematographischen zugunsten einer Vernunftmagie illustrieren soll, aber konträr zu diesem philosophisch-programmatischen Vorhaben das Fest der grauen Magie deutliche totalkinematographische Züge trägt. Insofern betreibt die vorliegende Lektüre nicht die Affirmation von Friedlaenders Philosophie in Mynonas Roman, sondern liest – wo nötig – auch Mynona gegen Friedlaender und den Text damit gegen den Strich. 137  Diese Schreibweise des Autorennamens mit Schrägstrich zwischen dem bürgerlichen Namen und dem Pseudonym folgt einem Vorschlag des Nachlassverwalters und Herausgebers der Schriften Friedlaender/Mynonas, Hartmut Geerken. Im Folgenden wird sie aus Gründen der Leserfreundlichkeit alternierend mit der ebenfalls von Geerken vorgeschlagenen Abkürzung F/M sowie Friedlaenders bürgerlichem Namen und dem Pseu­ donym „Mynona“ verwendet, abhängig vom jeweiligen Kontext.

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nähert, dieses aber nicht denunziert, sondern hinterfragt und in seinen Möglichkeiten austestet. Dabei scheint in Mynonas literarischer Vision der Kinematographie das Narrativ des Totalen Kinos nicht nur auf, sondern markiert den Fluchtpunkt des Romans: Die Fiktion mündet in eine literarische Präfiguration des Totalen Kinos, wobei dessen Totalität in Graue Magie auch eine politisch wirkmächtige Dimension erhält. Der Roman erscheint elf Jahre bevor Friedlaender selbst vor den Nationalsozialisten ins französische Exil fliehen muss, wo ihm die Publikation seiner schriftstellerischen und philosophischen Werke so gut wie unmöglich wird.138 In Graue Magie wird deutlich, inwieweit das Kino auch Propaganda- und Disziplinierungsinstrument sein kann.139 Friedlaenders Denken über das Kino zeigt nicht nur auf, welche revolutionäre Bedeutung dem Film im Bezug auf die menschliche Wahrnehmung zukommt, sondern auch, wie weit die gegenseitige Durchdringung von Film und Leben gehen und welche Folgen diese Erfahrung zeitigen kann. So lässt sich in Graue Magie die totalkinematographische Erfahrung einer Entgrenzung von Realität und Film auf den nur wenige Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg zurückführen, in dem Friedlaender zwar nicht gekämpft hat, der aber dennoch als erster Totaler Krieg der Geschichte seinen Roman sowie seine Vorstellung vom Kino geprägt hat.140 Da-

138 

Friedlaender lebte mit seiner Familie in Paris in größter Armut. Er schrieb dort zwar noch einige für sein Spätwerk zentrale philosophische, literarische und autobiographische Werke, hatte aber wenig Erfolg damit, seine Texte zu veröffentlichen. Dem Konzentrationslager entkam er nur, weil er bereits bettlägerig war, als die französische Polizei im Auftrag der Nationalsozialisten kam, um ihn abzuholen, vgl. Exner: Fasching als Logik, S. 397. 139  Zu kinematographischen Totalitätsansprüchen bei Mynona und Huxley siehe auch meinen Aufsatz, der auf den folgenden Ausführungen basiert und inzwischen erschienen ist: Janker, Karin: Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität. Kinematographische Totalitätsansprüche in Mynonas Graue Magie und Aldous Huxleys Brave New World. In: Haupt, Sabine / Ruf, Oliver (Hg.): Projektion & Reflexion. Das Medium Film in Kunst und Literatur. Le cinéma dans l’art et la littérature. Bielefeld: transcript 2018, S. 35-55. 140  In der Politikwissenschaft gilt der Erste Weltkrieg als erster Totaler Krieg der Geschichte, siehe dazu Imbusch, Peter: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 527ff. Bereits Carl Schmitt weist darauf hin, dass sich der Begriff des Totalen Krieges in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet habe und um 1920 zum beherrschenden Schlagwort geworden sei, vgl. Schmitt, Carl: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat. In: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar, Genf, Versailles. 1923– 1939. Berlin: Duncker & Humblot 1988, S. 235–239, hier S. 235. Ebenfalls stark geprägt wurde Friedlaenders Blick auf das Kino von den Produktionen der Filmindustrie der

SALOMO FRIEDLAENDER / MYNONA | GRAUE MAGIE

bei ist die Erfahrung der Entgrenzung in Graue Magie auch literarisches Programm: Der Roman verwebt unterschiedliche Textsorten und Genres und hält sie durch einen starken Erzähler zusammen; schließlich ist Mynona eigentlich kein Autor der langen Form, sondern eher von Grotesken und Aphorismen. Das Groteske hält auch in Graue Magie Einzug, weshalb es sich bei dem Roman gemäß dem Untertitel nicht um einen Schlüssel-, sondern um einen „Nachschlüsselroman“ handelt,141 dessen Handlung im Verlauf von einer Kriminalgeschichte „in ein magisch-phantastisches Märchen“ kippt.142 Wie Lisbeth Exner in ihrer Monographie zu Friedlaender bemerkt, ist das Buch gleichzeitig ein Stück weit Gesellschaftsroman, der „intellektuelle und politische Tendenzen“ der Weimarer Republik nachzeichnet. Nicht zuletzt aber ist Graue Magie ein „Filmroman, der ausgehend von Science-Fiction-Motiven auch das Verhältnis von Realität und Illusion reflektiert“.143 Während Exner nicht weiter auf den Roman und seine Reflexion des Verhältnisses von Realität und Illusion eingeht, soll dieses im Folgenden im Zentrum stehen. Anders als die kinematographisch inspirierten Großstadtromane von Zeitgenossen wie Alfred Döblin oder John Dos Passos wurde Friedlaender/Mynonas Schreiben in Bezug auf das Thema Film bislang kaum untersucht.144 Dabei betont Friedrich Kittler, der den Roman beiläufig erwähnt, dass Friedlaender/

Weimarer Republik, allen voran Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), Dr. Mabuse, der Spieler (1922) sowie den drei Golem-Filmen von Paul Wegener und Carl Boese (1915, 1917 und 1920); wobei daran erinnert sei, dass insbesondere der Golem-Stoff ebenso wie die Figur des Dr. Mabuse sich bekanntermaßen aus literarischen Quellen speisen. Aus diesen Filmen ließen sich Spuren und Referenzen in Graue Magie nachweisen, es würde allerdings den Rahmen dieser Studie sprengen, diesen im Einzelnen nachzugehen. 141  Ein „Nachschlüssel“ ist dabei als Zitat aus der Gaunersprache zu verstehen und meint einen Schlüssel, der „einem anderen [ohne Erlaubnis, heimlich] nachgearbeitet worden ist“. Der Duden führt neben dieser Definition das Synonym „Diebeshaken“ auf. Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Nachschluessel. 142  Exner, Lisbeth: Fasching als Logik. Über Salomo Friedlaender/Mynona. München: belleville Verlag 1996, S. 376. 143  Ebd. Exners Studie zu Friedlaender ist eine der wenigen Monographien zu diesem Autor. Sie geht allerdings auf Graue Magie nur kurz ein und referiert über weite Teile Friedlaenders Biographie. 144  Vgl. für einen Überblick über Großstadtromane der Weimarer Republik beispielsweise Stockhorst, Stefanie: Intermediale Erzählstrategien im urbanen Kontext. Mediale Grenzüberschreitungen in Großstadtromanen der Weimarer Republik. In: Schmidt, Wolf Gerhard / ​Valk, Thomas: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin: De Gruyter 2009, S. 115–138. Auch hier wird Mynonas Graue Magie nicht erwähnt.

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Mynona „wie kein zweiter Schriftsteller seiner Zeit aus Mediengeschichte wieder Geschichten“ macht.145 Trotzdem wird er für gewöhnlich übergangen, so auch von Sabine Hake, die eine umfangreiche Arbeit mit dem Titel The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany 1907–1933 vorgelegt und sich darin sowohl mit Filmtheorie und Filmkritik als auch mit fiktionalen Werken über das Kino auseinandergesetzt hat, Friedlaender/Mynona und seinen Roman aber mit keinem Wort erwähnt.146 Ihre Beobachtung trifft indes auch auf Graue Magie zu: With the new fictions of cinema — the film novels, the gossip columns, the films about film — came the recognition that the act of looking was no longer limited to evenings at the movies or the experience of the big city. Instead, the cinema now provided a paradigm for discourses exclusively concerned with imaginary relationships; it instituted spectatorship and fantasy as the organizing principles of modern consumer culture.147

Friedlaenders Roman ist durchdrungen vom Filmischen und reflektiert dessen Möglichkeiten, indem er sie mit literarischen Mitteln hinterfragt. Das Kino prägt den Roman nicht nur als Motiv, sondern auch strukturell, was das Werk für die vorliegende Untersuchung besonders relevant macht. Friedlaender/Mynonas origineller Blick auf den Film macht Graue Magie zu einem zentralen Text für den Kinodiskurs der Weimarer Republik; in dem Roman „ist die Faszination, die vom boomenden Filmbetrieb ausging, ebenso erkennbar wie eine ironische Distanzierung davon“.148 Besonders ersichtlich wird dies anhand der Darstellung der Filmstadt Berlin, in der die Handlung situiert ist und die die Handlung ihrerseits strukturiert. Der Chronotopos „Großstadt“ wird in Graue Magie durch die visuellen und formalästhetischen Möglichkeiten des Films durchquert, unterhöhlt, verkehrt und aus den Angeln gehoben. Doch Mynona spielt nicht nur mit den Möglichkeiten einer veränderten Wahrnehmung, er reflektiert auch die (bio) politische Bedeutung der Massenmedien: In Graue Magie hat es das Kino auf

145  146 

Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 93. Vgl. Hake, Sabine: The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany 1907– 1933. Lincoln: University of Nebraska Press 1993. 147  Ebd., S. 160. 148  Meier, Olaf: Im Labyrinth der Moderne. Die Auseinandersetzung des Romans der Weimarer Republik mit der problematischen Moderne. Frankfurt: Verlag neue Wissenschaft 2001, S. 174.

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die Totalerschließung des Raumes ebenso wie auf die totale Affizierung des Betrachters abgesehen.149 Der Roman beginnt mit einer recht eindeutigen Orts- und Zeitangabe: „Richard Bosemann ging nach Mitternacht durch den Grunewald.“150 Dieser erste Satz steckt den Rahmen einer zunächst realistischen Erzählung ab, die sich auf die Topographie einer konkreten Stadt, nämlich Berlin, bezieht. Der Realitätseindruck, der zunächst dafür sorgt, dass der Text „konkreter auf aktuelles Zeitgeschehen beziehbar“ wirkt,151 wird allerdings im weiteren Verlauf von den filmästhetischen Reflexionen zunehmend zersetzt. Das Kino selbst dekonstruiert in Graue Magie den absoluten Raum und setzt ihm eine relative Raumzeit entgegen, die beim Zuschauer einen Orientierungsverlust zur Folge hat und in nächster Konsequenz zum Ineinanderlaufen von Immer­ sion und Infiltration und zur Ununterscheidbarkeit von physischer und virtueller Realität führt. Gleichzeitig deutet der erste Satz an, dass Graue Magie zu jenen Werken einer „mit Phantasmen arbeitende[n] Literatur“ gehört, die die „Nachtseite der Kultur“ im Medium verorten.152 Die Realität scheint bereits hier von Phantasmen bedroht: Bei seinem Spaziergang durch den nächtlichen Grunewald findet Richard Bosemann eine ohnmächtige Frau, Agnes, die nur mit einer blau-schwarzen Schärpe bekleidet ist. Es handelt sich um die Geliebte des Erfinders Ernest Sucram, der im Dienst des Filmunternehmers Morvitius steht. Soweit das Stammpersonal des Romans; wobei insbesondere die Zu-

149  Das Moment der totalen Affizierung und der Entgrenzung der Sphären von Realität und Fiktion greift der Spielfilm EXistenZ (David Cronenberg, 1999) auf, in dem ein Computerspiel, das über ein nabelschnurartiges Kabel an die Körper der Rezipienten angeschlossen wird, diese in eine Virtuelle Realität versetzt, wodurch sie die Kontrolle über ihre realen Körper verlieren. Der Film entwickelt eine Struktur aus mehreren ineinander verschalteten (virtuellen) Realitätsebenen, sodass am Ende der Begriff der Realität selbst fraglich wird. EXistenZ ist einer von mehreren Filmen, die im ausgehenden 20. Jahrhundert die totale Immersion an ein Computerspiel auslagern und so dem Traum vom Totalen Kino eine neue Mediendifferenz einschreiben. 150  Friedlaender, Salomo/Mynona: Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band XIV (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2013, S. 65. Wird im Folgenden zitiert mit der Sigle GM und der jeweiligen Seitenzahl. 151  Meier: Im Labyrinth der Moderne, S. 173. 152  Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 83 und 81. Zwar gehört der Roman nicht zur klassischen Schauerliteratur, aber er enthält Anspielungen an diese Tradition, wie etwa das angedeutete Setting der ersten Szene in der Zeit nach Mitternacht.

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sammenarbeit zwischen dem kantianischen Erfinder Sucram153 und dem brutalen Machtmenschen Morvitius, im Fokus des Interesses liegt. Letzterer geht für den Profit seiner Morvitius Film-G.m.b.H. buchstäblich über Leichen. Um sein Vorhaben, ein dreidimensionales audiovisuelles Tastkino, umzusetzen, benötigt er Sucrams Hilfe, der dank praktischer Anwendung einer auf Kant basierenden Vernunftmagie Wunderdinge erschafft. Seine wichtigste Schöpfung ist eben jene schwarz-blaue Schärpe, die Agnes um den Leib trägt, als Bosemann sie findet. Mit Hilfe dieser Schärpe kann Morvitius nicht nur unsichtbar werden, sondern auch ohne Zeitverlust durch den Raum reisen. Die Schärpe vollbringt Dinge, die sonst nur filmische Montage möglich macht: Sie lässt Morvitius verschwinden und an einem anderen Ort wieder auftauchen; außerdem dematerialisiert sie Körper, sodass Überblendungseffekte entstehen. Es läge angesichts dieser Ausgangssituation nahe, dem Autor von Graue Magie eine Art ‚Filmisches Schreiben‘ zu attestieren, schließlich wurde der Roman bei seinem Erscheinen nicht von ungefähr mit dem Slogan „Ein Roman? Ein Film? Charlie Chaplin oder Jules Verne?“ beworben.154 Allerdings wäre mit dieser Diagnose nicht viel gewonnen.155 In der folgenden Lektüre stehen deshalb stärker ästhetische Reflexionen über Kino und Film sowie deren Möglichkeiten im Vordergrund. Ähnlich wie in Villiers’ L’Ève future und Vernes Le Château des Carpathes finden zur Herstellung der totalkinematographischen

153 

Das Anagramm „Sucram“ verweist auf Friedlaenders philosophisches Vorbild, den Kantianer Ernst Marcus, dem der Roman gewidmet ist. Vgl. Thiel, Detlef: Einleitung: Die Hyperamerikanisierung Europas. In: Friedlaender, Salomo/Mynona: Graue Magie. Gesammelte Schriften, Band XIV (hg. v. Hartmut Geerken u Detlef Thiel), S. 9–59, hier S. 12. Zahlreiche Schriften F/Ms zu Marcus, u. a. zu dessen Geburtstag, neuen Veröffentlichungen und seinem Tod versammelt der Band Friedlaender/Mynona: Philosophische Abhandlungen und Kritiken 1896–1946. Teil II. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band III (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2006. 154  Vgl. die Abbildung des Einbands der kartonierten Erstausgabe bei Thiel: Die Hyper­ amerikanisierung Europas, S. 62. An dieser Stelle sei eine Anekdote erwähnt, die Thiel zitiert: So habe Friedlaender auf den Vergleich mit Chaplin geantwortet: „Schon damals nannte man mich den ‚Chaplin der Philosophie‘; dankesehr! (Man hätte Chaplin lieber den Mynona des Films nennen sollen). Ich möchte nichts weniger gern als ein moderner Liebling sein.“ Siehe Thiel, Detlef: Experiment Mensch. Friedlaender/Mynona Brevier. Herrsching: Waitawhile 2014, S. 65. 155  Die vorliegende Untersuchung nimmt bewusst Abstand vom Konzept des sogenannten ‚Filmischen Schreibens‘, da in Debatten darüber sich immer wieder herauskristallisiert, dass ‚filmisches‘ und ‚nicht-filmisches‘ Schreiben kaum voneinander zu unterscheiden sind und überdies eine solche Unterscheidung wenig Erkenntnisgewinn bringt. Siehe dazu Kapitel II.

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Reproduktion auch in Graue Magie zwei Prinzipien in Gestalt von zwei Männern zusammen: Waren es bei Verne der Ästhet Gortz und sein genialer Erfinder Orfanik, sind es jetzt der skrupellose Filmmagnat Morvitius und der metaphysische Physiker Sucram. Wie Pirandellos Quaderni spielt auch Graue Magie im Milieu von Filmemachern und an Orten der Filmproduktion, allerdings ist der Stellenwert der Rezeption hier ungleich größer, denn das Kino erweist seine Macht vor allem in seiner Wirkung auf die Zuschauer. Insofern knüpft Graue Magie an Diskurse und Motive an, die in vorangegangenen Kapiteln bereits bearbeitet wurden. Ausgehend von dieser Traditionslinie lässt sich zeigen, wie der Roman das Narrativ des Totalen Kinos fortschreibt, es politisch auflädt und – nicht zuletzt – mit reflexiven Momenten über die literarische Gemachtheit dieser kinematographischen Vision verknüpft. Die Großstadt, die F/M in Graue Magie entwirft, ist bereits vom Kino durchdrungen: Morvitius’ Kameraleute bevölkern Berlin und verwandeln Menschen – auch gegen deren Willen – in Filmdarsteller. Dies widerfährt auch dem braven Spießbürger Richard Bosemann. Am Höhepunkt des Romans, dem Fest der grauen Magie, findet dann die ganze Welt in einer „Miniaturgegenerde“ ihre Reproduktion. In diesem von Morvitius und Sucram inszenierten Spektakel erfahren sämtliche zuvor angedeutete Perversionen eine Steigerung; die Heterotopie vom Totalen Kino verwirklicht sich und Realität wird vom Kino tatsächlich ununterscheidbar, weil Morvitius zuvor schon auf die Zersetzung der Grenze zwischen beiden Sphären hingearbeitet hat. Friedlaender war selbst eifriger Kinogänger; das neue Medium inspirierte ihn zu Betrachtungen der modernen Existenzweise. So schreibt er im November 1915 an seinen Freund, den Maler Alfred Kubin: Der Mensch ist bloß scheinlebendig, eine natürlichere Kinofigur […]. Das indifferent eigne Selbst ist ein so schöpferischer Projektionsapparat, daß noch aus dessen letzten Reflexen sein eignes ursprüngliches Leben zu ihm zurückstrahlt. Menschen sind nur von ihm belebte Filmfiguren.156

Friedlaender/Mynonas Schaffen fällt unmittelbar in die Zeit, in der in Deutschland das Kino und der expressionistische Film ihren Höhepunkt erleben. Die Möglichkeiten des neuen Mediums fließen unmittelbar in sein Den156 

Friedlaender/Mynona an Kubin, 12. November 1915, zit. n. Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 40. Hier klingt bereits die enge Verknüpfung zwischen Friedlaenders Philosophie, insbesondere seinem frühen Hauptwerk Schöpferische Indifferenz, und dem Kino an.

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ken und sein künstlerisches Schaffen ein. In seinen Texten steigert er diese mitunter ins Groteske, sein bevorzugtes Register. Allerdings dient das Groteske bei F/M stets dazu, neue Sinnzusammenhänge zu erschließen. Friedlaender schreibt selbst: „Der groteske Humorist speziell hat den Willen, die Erinnerung an das göttlich geheimnisvolle Urbild des echten Lebens dadurch aufzufrischen, daß er das Zerrbild dieses verschlossenen Paradieses bis ins Unmögliche absichtlich übertreibt.“157 Insofern drückt die Groteske als literarische Form Friedlaenders philosophischen Anspruch aus, in Polaritäten zu denken, die sich am Ende zugunsten einer höheren Existenzweise auflösen. Dasselbe Potenzial wird in Graue Magie dem Kino zukommen. Dem Friedlaender’schen Denken in Gegensätzen entsprechend soll die folgende Lektüre des Romans die Polaritäten zwischen Friedlaender und Mynona nicht unberücksichtigt lassen und statt eine gegenseitige Affirmation zu betreiben die Widersprüche zwischen den beiden Stimmen aufdecken. Einerseits kann man Mynonas Schreiben tatsächlich „einen philosophischen Impetus“ unterstellen.158 Andererseits überwiegt gerade in Graue Magie sein „Hang zum Phantastischen und zum Monströsen.“159 Deshalb hieße es ein allzu reduziertes Bild von dem Werk zu zeichnen, wenn man es als bloßen „Vernunft­ roman“, einen Roman über die Vernunft und ihre Anwendung, bezeichnete.160 Dies würde seinem (meta‑)literarischen und kino-ästhetischen Gehalt nicht gerecht, denn der Roman ist nicht bloß Vehikel für Friedlaenders Philosophie, wie dies mitunter dargestellt wird.161 Im Folgenden soll er vielmehr als eigenständiges Werk einer Lektüre mit Fokus auf den Bereich der literarischen Visualität unterzogen werden. Im Vordergrund steht dabei, wie der Roman mit literarischen Mitteln über das Kino nachdenkt, schließlich enthält er, wie auch Detlef Thiel eingestehen muss, „zukunftsweisende Ideen und Thesen zu Theo­ rie und Praxis des Films, der Medien überhaupt“.162

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Mynona: Das Groteske. In: Ders.: Der verliebte Leichnam. Grotesken, Erzählungen, Gedichte. Hg. v. Klaus Konz. Hamburg: Galgenberg 1985, S. 147. zit. n. Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich, S. 291. 158  Meier: Im Labyrinth der Moderne, S. 152. 159  Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich, S. 290f. 160  Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 10. 161  Vgl. etwa Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, v. a. S. 10; Meier: Im Laby­ rinth der Moderne und Cardorff, Peter: Friedlaender (Mynona) zur Einführung. Hamburg: Junius 1988. 162  Thiel, Detlef: Maßnahmen des Erscheinens. Friedlaender/Mynona im Gespräch

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2.2.1 Virtualisierung des Raumes: die Filmstadt Berlin

Berlin, der Dreh- und Handlungsort des Romans, wird von Mynona präzise portraitiert: „Fast alle genannten Straßen gibt es wirklich; die ‚Heiligengeiststraße‘ heißt heute Heiligegeistgasse, der Reichskanzlerplatz Theodor-HeußPlatz.“163 Bemerkenswert sind diese Referenzen auf die Metropole Berlin vor allem deshalb, weil im weiteren Verlauf die Topographie der realen Stadt nicht nur visualisiert, sondern zunehmend pervertiert und verkehrt wird. Mynona liebt das Spiel mit Entgegensetzungen, aber es ist nicht bloß die Verkehrung von Oben und Unten, Innen und Außen, Sichtbar und Unsichtbar, die seinen Umgang mit dem Chronotopos Großstadt kennzeichnet. Dahinter steht die Ästhetik des Kinos, die seine literarische Strategie inspiriert. So ist die Stadt nicht nur Kulisse für die Handlung, ihre Topographie wird vielmehr entwickelt, um sie durch filmische Montage zu dekonstruieren. Berlin wird im Wortsinn in eine Film-Stadt verwandelt, das Kino verleibt sich die Stadt förmlich ein: „In Berlin wird alles gefilmt […]; so verwandelt sich die Stadt in ein Kino“.164 Der virtualisierte Raum wird Medium für das Totale Kino.165 Dabei ist die Metamorphose in eine Filmstadt Ausdruck eines Machtanspruchs des Filmunternehmers Morvitius, der sich insbesondere räumlich artikuliert und durchsetzt. Morvitius erhebt sich mittels kinematographischer Effekte über räumliche Hindernisse und Strukturen, ja über das a priori des Raumes selbst. Er strebt nach der „Totalerschließung des Raumes“, von der um 1900 die ganze motorisierte Welt zu träumen schien.166 Kurt Möser zeichnet nach, wie in jener Zeit sowohl „in Romanen und populären Erzählungen, aber auch als experimentelle Prototypen eine Fülle von Phantasiegefährten“ auf den Plan trat,167 die sich insbesondere durch ihre „Straßenun-

mit Schelling, Husserl, Benjamin und Derrida. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2012, S. 14. 163  Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 20. 164  Ebd., S. 47. 165  Vgl. dazu Kittler, Friedrich: Die Stadt ist ein Medium. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp 2013, 181–97. 166  Möser, Kurt: Amphibien, Landschiffe, Flugautos – utopische Fahrzeuge der Jahrhundertwende und die Durchsetzung des Benzinautomobils. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte / ​Economic History Yearbook. Band 40, 2 (1999), S. 63–83, hier S. 64. 167 Ebd.

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abhängigkeit“ auszeichneten.168 Das Gefühl einer „räumlichen Befreiung“169 bestimmte die Zeit; angestoßen von der Erfindung des Benzinautos trieb die utopische Erschließung des Raumes in der Literatur ihre Blüten: „Super-Individualverkehrsmittel“ erweitern die „Linearität der Straße“ und machen auch den Raum darunter, daneben und darüber begehbar.170 In Graue Magie vergegenständlicht sich Morvitius’ Streben nach Erschließung, Entgrenzung und schließlich „Virtualisierung“171 des Raumes vor allem in zwei Verkehrsmitteln: dem Flugschirm und dem Unterlandboot. Der Flugschirm hat die Form eines Regenschirms, ist aber eine – auch sprachliche – Verkehrung des Fallschirms: Mit regelmäßigen Klappbewegungen manövriert sich der Schirmflieger in die Luft und schlägt dort die gewünschte Richtung ein. Der Erzähler berichtet davon mit Staunen: Wir folgen Richard Bosemann in die Lüfte. In der Nähe der Heiligengeiststraße tauchte das rote Berliner Rathaus auf. Durch geschickte Stöße mit der Hand ließ sich der Schirm in jede gewünschte Richtung dirigieren, […] ob auch die horizontale Steuerung weniger bequem als die vertikale war. (GM, 78)

Diese Flugschirme, die bald „zur Erbauung von treppen- und liftlosen Häusern“ (GM, 81) führen, sind eine der Erfindungen des Dr. Sucram in Morvitius’ Auftrag. Und obwohl er die harmloseste aller folgenden Apparaturen darstellt, vermag der Flugschirm bereits die gesamte Stadt zu revolutionieren: In den Lüften gab es eine Menge Schirmflieger. Die Erfindung hatte sich als das bequemste Flugzeug leicht eingebürgert. Jedermann flog spazieren, und da die Schirme in der schönen Septembersonne farbenbunt schimmerten, boten sie einen überraschend freundlichen Anblick, sie belebten Berlins Straßenbild auf das angenehmste. Unfälle waren selten und liefen glimpflich ab. Sogar die Frau Reichspräsident betätigte sich im Luftklettern. Es war zu einem neuen Sport geworden, der den Damen eine fesche Hosenmode gestattete. Leider Gottes profitierten auch die Einbrecher von diesem Instrument. Man sah kein Haus mehr ohne solid vergitterte Fenster. Überdies war die Schu-, Si- und Popo mit Flugschirm ausgerüstet. Er war die Waffe der Reichswehr geworden. Postbo-

168  169 

Ebd., S. 79. Ebd., S. 64. 170 Ebd. 171  Friedmar Apel spricht, allerdings in einem anderen Zusammenhang, von einer „Virtualisierung von Räumen und Distanzen durch die elektronischen Möglichkeiten“; er leitet daraus „eine Rückbesinnung auf den realen Raum“ im topographical turn der jüngeren Theoriegeschichte ab, vgl. Apel: Das Auge liest mit, S. 40.

SALOMO FRIEDLAENDER / MYNONA | GRAUE MAGIE ten und Geldbriefträger sparten eine Menge Schuhzeug. Leidtragende waren außer den Schuhmachern die Kutscher, Chauffeurs und eine Anzahl Fuhrinstitute. Als der Flugschirm dadurch vervollkommnet wurde, daß man unter ihm ein veritables Fahrrad anbrachte, bei dem durch Pedalbewegung eine mit der Lenkstange steuerbare Luftschraube zu wirbeln begann, benutzten nur noch Kinder, Greise und Kranke die Elektrische, die Stadtbahn oder die Untergrund, so daß die Preise dieser relativ wohlfeilen Einrichtungen desgleichen zu klettern genötigt waren. (GM, 84f.)

Diese Passage zeugt von der Fabulierlust des Erzählers, der sich zusammen mit den Flugschirmen aufschwingt, um Berlin aus der Vogelperspektive zu betrachten.172 In dieser atemlosen Schilderung wird ausgeführt, wie sich die Erfindung des Flugschirms auf das gesamte öffentliche Leben auswirkt. Sie beeinflusst die Architektur, die Mode, die öffentliche Sicherheit, das Straßenbild, das Militär und die Wirtschaft. Bereits diese Erfindung wirkt ansteckend; sie zielt auf totale Affizierung.173 In der Pervertierung des Fallschirms zum Flug- oder Kletterschirm liegt außerdem ein autoreflexives Moment, das die Macht von Sprache abbildet. Schließlich entspricht der Einfall des Erzählers, aus dem Fall- einen Flugschirm zu machen, einer winzigen semantischen Inversion. Diese hat allerdings weitreichende Folgen für die gesamte diegetische Welt. Indem der Erzähler diese Folgen in allen Details genüsslich ausbreitet und darlegt, kostet er nicht zuletzt auch seine eigene Macht aus: die Macht der (sprachlichen) Manipulation. Die Ersetzungsbewegung Fall-/Flug- hat zur Folge, dass die räumliche Ordnung der Diegese zwar nicht außer Kraft gesetzt, wohl aber verformt wird. Fortbewegung findet nun nicht mehr nur wie gewohnt in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen statt. Indem das Phantastische hier als literarischer Effekt ausgestellt wird, macht der Erzähler bereits zu Beginn klar, dass seine Macht jener, nach der Morvitius trachtet, mindestens ebenbürtig ist.174

172  Zur Vogelperspektive bemerkt Kittler knapp und präzise: „Strategisch fallen Filmen und Fliegen also zusammen.“ Siehe Kittler: Optische Medien, S. 259. 173  Zum ästhetischen Prinzip der Ansteckung, das für die Darstellung des Filmischen in Graue Magie einschlägig ist, siehe die Einleitung und den Beitrag von Fischer-­Lichte „Zuschauen als Ansteckung“ in Schaub / ​Suthor / ​Fischer-Lichte(Hg.): Ansteckung. Der Begriff der Ansteckung wirft nicht nur ein Licht auf somatische Aspekte der Affizierung, sondern reflektiert auch die Medien-Seite (vgl. ebd., S. 35ff.). 174  Nähere Erläuterungen zum Machtanspruch des Erzählers (vor allem gegenüber dem Kino) folgen in den beiden nächsten Teilkapiteln.

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Auch Morvitius will die räumlich-zeitliche Ordnung nach seinen Wünschen verformen. Sein liebstes Spielzeug ist das Unterlandboot, „das die Erdschichten ähnlich durchdrang wie ein Unterseeboot das Wasser“ (GM, 127). Auch dieses trägt ein sprachliches Spiel im Namen, zugleich enthält es Referenzen auf literarische Vorbilder wie Jules Verne, den Friedlaender schon als Kind gelesen und verehrt hat.175 So gilt, was Noiray im Bezug auf Verne konstatiert, ganz ähnlich auch für Graue Magie: Comprenons alors que le sous-marin de Vingt mille Lieues sous les Mers est beaucoup plus qu’une simple machine, comme pouvaient l’être encore, avant lui, le Victoria ou la Columbiad de La Terre à la Lune: ce que révèlent ces constantes exclamations d’enthousiasme, c’est la profondeur des affinités qui unissent le Nautilus à son créateur, toute la puissance imaginaire dont cette machine est investie : « chair de (la) chair » de Verne comme de Nemo, le Nautilus, injustifiable techniquement, nous le verrons, trouve sa grandeur poétique dans son impossibilité même.176

Das Boot, das Morvitius befördert, ist ebenso untrennbar mit seiner Person verknüpft wie die Nautilus mit Nemo: Ohne das Unterlandgefährt besäße Morvitius nicht diese umfassende Macht. Allerdings wird das phantastische Fahrzeug, gerade weil es technisch unmöglich ist, zu einer Metapher für filmische Ästhetik. Mit dem Unterlandboot bewegt sich der Filmunternehmer „in der Luftlinie, aber durch feste Erde, die sein Boot verflüchtig[t]“ (GM, 127). Da das Boot in Verbindung mit der Schärpe als Kernmetapher für das Kino zu betrachten ist, erweist sich auch Morvitius als ein zutiefst kinematographischer Charakter. Der Filmunternehmer verkörpert das Kino selbst, das Medium Film wird hier ähnlich wie bei Verne „zum Ort des Phantastischen“.177 So haben Unterlandboot und Flugschirm bereits Modellcharakter für das Dispositiv des Totalen Kinos.178 Obwohl sie nicht mehr als Fortbewegungsmittel zu sein scheinen, stehen sie für eine Umwälzung des Raumes und der

175 

Vgl. Friedlaender, Salomo/Mynona: Ich (1871–1936). Autobiographische Skizze. Aus dem Nachlass hg. v. Hartmut Geerken. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2003, S. 23. 176  Noiray: Le Romancier et la machine. Band II, S. 70 (Herv. i. O.). 177  Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 295. 178  Bereits Paul Virilio betont in Le dernier véhicule „cette corrélation entre l’invention du cinématographe et celle de l’aviation“. Gleichzeitig sieht er in der Kinematographie eine neue Wendung der Transportmittelrevolution gekommen, „comme si la conquête de l’espace s’avérait pour finir celle des seules images de l’espace.“ Siehe Virilio, Paul: Le dernier véhicule. In: Ders.: L’inertie polaire. Paris: Christian Bourgois Éditeur 1990, S. 39–74, hier S. 58 und 42 (Herv. i. O.).

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Lebenswelt der Menschen. Indem sie selbst Dispositivcharakter besitzen, verdeutlichen sie die Konzentration von Macht auf der einen und den Kontrollverlust auf der anderen Seite; denn die Rezipienten sind auch den brutalsten von Morvitius’ Kreationen hilflos ausgeliefert. Gleichzeitig stehen diese Gefährte für eine Erweiterung des Raumes wie der Erfahrung, die nicht automatisch negativ konnotiert ist, sondern deren Implikationen ambivalenten Deutungsmöglichkeiten unterliegen. In ihrem manipulativen Zugriff auf den Raum buchstabieren sie das Prinzip der Entgegensetzung aus, Mynonas liebstes Spiel.179 So macht er nicht nur aus der berühmten Filmschauspielerin Asta Nielsen eine gewisse „Niesta Alsen“ (GM, 322) und verfüttert sie an einen Löwen.180 Er lässt auch ein Alter Ego seiner selbst auftreten: den „leidlich bekannte[n] Humorist[en] Friedrich Salomon“, auf dessen „eckigen Zügen […] ein sich selber beständig Lügen strafender Ernst oder eine sich selber wieder ausstreichende Heiterkeit“ liegen (GM, 159). Mit dem Narren Salomon tritt ein zweiter Chronotopos in den der modernen Großstadt ein, denn „Schelm, Narr und Tölpel schaffen um sich herum besondere Mikrowelten, besondere Chronotopoi“.181 Bachtin weist auf die produktive Bedeutung dieser Figuren für die literarische Handlung hin:

179 

Die Entgegensetzung und die aus ihr resultierende produktive Indifferenz legt F/M bereits in seinem philosophischen Frühwerk Schöpferische Indifferenz (1918) dar, siehe Friedlaender, Salomo/Mynona: Schöpferische Indifferenz. In: Ders: Gesammelte Schriften, Band X (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2009. Wie im Folgenden angedeutet wird, gibt es zwischen diesen philosophischen Überlegungen und der zeitgenössischen Filmtheorie zahlreiche Interferenzen und Überschneidungen, sodass es lohnend erschiene, den Filmbezug in Friedlaenders Philosophie näher zu untersuchen. 180  Hier dürfte eine Referenz auf Pirandellos Quaderni vorliegen, wo mit der Nestoroff ebenfalls eine der Asta Nielsen nachempfundene Figur imaginiert wird, galt diese Schauspielerin Zeitgenossen doch als „Inkarnation der Filmkunst“. Siehe Diederichs, Helmut H.: Zur Entwicklung der formästhetischen Theorie des Films. In: Ders. (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 9–27, hier S. 10. Zudem ist die Szene, die in Graue Magie geschildert wird, dem Finale von Pirandellos Roman sehr ähnlich – wenn auch mit anderem Ausgang: „Morvitius hatte die berühmteste Filmdiva Niesta Alsen in einen Löwenkäfig gesteckt, und daselbst war das fesche Mädel von einem geschmackvollen Löwen sehr langsam in Kotelette, Ragout, blutiges Steak und so weiter verwandelt worden.“ (GM, 322) Auch in Bioys La invención de Morel taucht übrigens eine zeitgenössische Schauspielerin als Vorbild der Faustine auf: Diese ist eine Reminiszenz an die Filmdiva Louise Brooks, vgl. Peters, Karin: Der gespenstische Souverän. Opfer und Autorschaft im 20. Jahrhundert. München: Fink 2013, S. 318. 181  Bachtin: Formen der Zeit im Roman, S. 93.

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Ihr Äußeres und alles, was sie tun und reden, hat keine direkte und unmittelbare Bedeutung, sondern eine übertragene und zuweilen entgegengesetzte, man darf sie nicht wörtlich nehmen, sie sind nicht das, was sie zu sein scheinen [, sondern] die Widerspiegelung eines anderen Seins, wobei es sich hier um keine direkte Widerspiegelung handelt. Sie sind Schauspieler ihres Lebens, ihr Sein fällt mit ihrer Rolle zusammen, und außerhalb dieser Rolle existieren sie überhaupt nicht.182

So ergeht es auch dem Narren Salomon, auch dieser existiert nur in seiner Rolle und diese Rolle wiederum beruht auf einem metaphorischen, autoreflexiven Moment. Und doch hat er eine ähnlich zerrüttende Wirkung auf den bestehenden Chronotopos wie die neuartigen Fortbewegungsmittel. Der Auftritt des Narren Salomon besteht im Wesentlichen darin, dass er in einem vornehmen Salon deutsche Volkslieder „ins Gegenteil ihres Sinnes umgedreht“ vorträgt (GM, 164). Vor illustrem Publikum stimmt er an: Wohl ab, Kameraden, vom Pferd, Aus dem Feld in die Freiheit gezogen, Im Frieden, da ist Uniform nichts mehr wert, Da wird das Herz nur gewogen, Da tritt kein anderer für dich ein, Auf dir selber stehst du, doch nicht allein. (GM, 165f.)

Dieses Narrenstück zeugt von Mynonas poetologischer Selbstreflexion; hier legt er seine Idee des Grotesken dar. Diese erweist sich als eng mit der zeitgenössischen Filmtheorie verbunden. Salomon erklärt den empörten Zuhörern seine Zoten nämlich durch einen quasi-maschinellen Prozess, der ganz ohne sein Zutun ablaufe: „‚Ich bin unverantwortlich,‘ erklärte Salomon, ‚die Perversion der Lieder vollzieht sich doch automatisch. […]‘“ (GM, 167) Der Automatismus, der in der Verkehrung ins anstößige Negativ besteht, hat dabei ebenso wie Mynonas Anagrammatismus eine deutliche „medientechnologische Seite“.183 Der Narr Salomon tritt hier als Apparat auf, der den Prozess der chemischen Entwicklung photographischer Aufnahmen nachahmt, in dem ebenfalls das Eigentliche als Negativ zu Tage tritt. So folgt aus der Inversion nicht nur die Perversion des Gesagten, sondern auch neue Erkenntnis.

182 Ebd. 183  Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln: Böhlau 2002, S. 214. Greber betont außerdem, dass Anagramme letzten Endes „Wortmaschinen“ repräsentieren (ebd.). Für weitere Ausführungen zu Mynonas Anagrammatismus siehe das folgende Kapitel.

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Die verkehrten Gedichte des Narren Salomon kreieren durch die Kombination wesensfremder Elemente neuen Sinn. Darin nähert sich Mynonas Verfahren an Eisensteins Montagetheorie an. Dieser fordert 1926 in einem programmatischen Essay, der Film müsse sich von der reinen Eins-zu-eins-Abbildung des Geschehens vor der Kamera lösen und „eine der buchstäblichen Bedeutung wesensfremde Kontextzusammenstellung“ wagen.184 Eisenstein verlangt, der Film solle sich damit an die Bildhaftigkeit der Rede annähern, und betont die Bedeutung der Montage, die gerade darin liege, dass sie zwei Kontexte verknüpft, die nicht zusammengehören: „Der Ausdruckseffekt des Films ist das Ergebnis von Zusammenstellungen.“185 Wie neu und unerhört diese Forderung war, wird klar, wenn man bedenkt, dass während der zwanziger Jahre noch eine völlig andere Produktionsmethode üblich war: On se souvient que de nombreux cinéastes, pour éviter au maximum les coupures au montage, repéraient l’intégralité de leurs films du début à la fin par une répétition en continuité, chaque scène étant chronométrée pour connaître la durée approximative du film.186

Schnitt und Montage wurden also zunächst eher vermieden, statt sie als typisch filmische Ausdrucksmittel anzusehen. Noch Mitte der 1950er Jahre fordert Bazin: „Le montage ne peut y être utilisé que dans les limites précises, sous peine d’attenter à l’ontologie même de la fable cinématographique.“187 Eisenstein hingegen erkannte als einer der ersten Filmemacher das Potenzial, das darin lag, die Einheit von Zeit und Ort aufzubrechen, wobei er sich dabei explizit auf literarische Vorbilder bezieht.188 Auch Mynona betont die Vorgängigkeit der Literatur in Sachen Montage und exerziert diese in Graue Magie, wo die Dekonstruktion des Raumes zur

184  Eisenstein, Sergei M.: Béla vergißt die Schere (1926). In: Ders.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie (hg. v. Felix Lenz u. Helmut H. Diederichs). Frankfurt: Suhrkamp 2006, S. 50–57, hier S. 55 (Herv. i. O.). 185  Ebd., S. 54. 186  Virilio: Guerre et Cinéma, S. 17. Virilio schreibt weiter, dass diese Produktionsweise besonders „fréquent en Allemagne pendant les années vingt“ gewesen sei (ebd.). 187  Bazin, André: Montage interdit. In: Ders.: Qu’est-ce que le cinéma? Band I: Ontologie et Langage. Éditions du Cerf 1958, S. 117–129, hier S. 124. 188  Eisenstein bezieht sich vor allem auf Dickens und Shakespeare, denen er einen meisterhaften Umgang mit Montagetechniken attestiert, vgl. Eisenstein: Dickens, Griffith und wir, hier v. a. S. 84ff.

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Machtstrategie des Filmunternehmers Morvitius gehört. Angesichts dessen beweist der Auftritt des Narren Salomon, dass die Literatur schon viel früher als der Film Effekte der Montage produktiv gemacht hat. Ja, dass das Montieren, Permutieren und Arrangieren von Buchstaben das eigentliche Geschäft des Schriftstellers ist. So dient im Text wie im Kino die Zerstückelung der Raum­erfahrung nicht vorrangig der Zerstörung, sondern der Konstruktion neuer Sinnzusammenhänge. Hierin spiegelt sich Mynonas Verständnis vom Grotesken als sinnstiftender Dekonstruktion, das als ästhetisches Prinzip auf Literatur und Film gleichermaßen anzuwenden ist. In Graue Magie bezieht sich das Groteske nicht selten auf die Ebene des Visuellen. Prägnantestes Beispiel ist eine Passage über den Maler Settegal, einen Bekannten von Dr. Sucram.189 Dieser hat zwar nur einen kurzen Auftritt im Roman, allerdings wird anhand eines seiner Gemälde eine Theorie der Ästhetik dargelegt und parodiert, die mehr über das Kino als über Malerei erzählt: Berühmt war er durch ein Tierbild geworden, das in einem überaus kostbaren, an vielen Stellen zertrümmerten, wie ein unregelmäßiges Polygon geformten goldenen Rahmen, auf bröckeliger, zerbeulter Fläche, die bald konkav gehöhlt, bald konvex ausgestülpt war, in der Größe eines Freskos Ungeziefer jeder Gattung zeigt. (Daraufhin hatten ihm die vereinigten Kammerjäger Berlins eine Ehrenadresse gestiftet.) Auf diesem Bilde waren, fast mikroskopisch klein, Menschen zu sehen, gegen welche die Läuse wahre Pyramidengröße aufwiesen. Settegal pflegte vor diesem Werk sentimental zu werden: man müsse der traurigen Wahrheit, daß de facto das Ungeziefer auf Erden immer noch den Menschen übertreffe, ins Medusenantlitz sehen. (GM, 231, Herv. i. O.)

Der Maler Settegal verfolgt ein ähnliches Ziel wie Mynona selbst: Erkenntnisgewinn durch groteske Verfremdung. Typisch für Mynona ist hierbei, dass das ästhetische Programm des Malers mit ironischem Pathos aufgeladen und die ans Licht kommende Erkenntnis selbst nur eine Banalität ist. Trotzdem hinterlässt die zweifache Verfremdung am Ende nicht Nonsens, sondern zielt auf ein Erkenntnisinteresse ab: Ein zertrümmerter Rahmen ist eben nicht kein Rahmen. Settegals Gemälde illustriert eine Gegenästhetik zur dokumentarischen Photographie, indem das Kunstwerk die „von der Photographie erzielte Ähn189  Ebenso wie Sucram ist auch Settegal von einer historischen Figur inspiriert, nämlich von dem Maler Arthur Segal, der bis 1933 in Berlin lebte und arbeitete. Eine Übersicht über sämtliche Figuren des „Nachschlüsselromans“ findet sich im Anhang der Gesammelten Schriften, Band XIV.

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lichkeit“ negiert und nicht den „Oberflächenzusammenhang“, sondern die Bedeutung eines Gegenstandes wiedergibt.190 Indem das Gemälde Läuse und Menschen in einen relativen Zusammenhang zueinander rückt, vollzieht es, was Eisenstein vom Film fordert: Es schafft neue Kontexte, indem es die Bindung an die reine Mimesis aufkündigt. So besitzt nach Kracauer schon die einzelne photographische Aufnahme, eine „gespenstische Realität […] aus Teilen im Raum, deren Zusammenhang so wenig notwendig ist, daß man sich die Teile auch anders angeordnet denken könnte“.191 Das einzelne Filmbild bleibt zwar mimetisch, Kontext und Bedeutung aber entstehen erst durch Montage, die Neuanordnung der Elemente. Settegals Gemälde stellt somit aus, worauf schon der Auftritt des Narren Salomon zielte: Statt bloß die Raumerscheinung des Gegenstandes abzubilden, macht er ebenso wie der Film „die Bedeutung des Gegenstandes zur Raumerscheinung“.192 Damit schreibt Mynona dem Kino das Potenzial zu, Erkenntnis auf ähnliche Weise freizusetzen und zu ermöglichen wie die Groteske. Allerdings wird dieser optimistische Blick auf Film durchkreuzt vom immersiven Potenzial des Kinos, von dem Anspruch, den es auf den Rezipienten erhebt. Dieser erscheint in Graue Magie total, ja totalitär. Morvitius zielt nicht nur auf die Tastbarkeit der optophonetischen Gebilde ab, sein Filmunternehmen erschafft Bildräume, deren herausragendstes Charakteristikum ihre Sogwirkung ist. Zum ersten Mal zeigt sich diese, als Richard Bosemann sich aufmacht, um das Geheimnis der magischen Schärpe zu ergründen. Im Laden eines Althändlers, der zu Morvitius’ Leuten gehört, macht er „die Erfahrung, daß das Zimmer sich nach Art eines Lifts langsam nach unten bewegte“ (GM, 74). Bosemann wird hier vom Film absorbiert, die Immersion, die sogartige Abwärtsbewegung des Zimmers, versetzt ihn buchstäblich in „eine körperlich-geistige Nähe zum Filmgeschehen“.193 Eingeschlossen in dieses Zimmer gelangt Bosemann in die von Morvitius beherrschte Halbwelt, den Film, die bezeichnenderweise unter der Erde liegt und darin an Platons Höhlenmythos

190 

Kracauer, Siegfried: Die Photographie (1927). In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt: Suhrkamp 1977, S. 21–39, hier S. 27. 191  Ebd., S. 32. 192  Ebd., S. 27. 193  Diese Wirkung bildet laut Christiane Voss den Kern fiktionaler Immersion, s­ iehe Voss, Christiane: Fiktionale Immersion. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane (Hg.): „Es ist, als ob“. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft. München: Fink 2009, S. 127–138, hier S. 128.

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erinnert. In Graue Magie beruht das Kino auf einer „Ästhetik des Eintauchens“, es ist „ein kalkuliertes Spiel mit dem Auflösen von Distanz“.194 Die Immersion erweist sich hier als eine spezifische „Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht“.195 Damit ist in dieser Abwärtsbewegung des Zimmers auch das Totale Kino aufgerufen und es deutet sich an, dass Morvitius es auf dessen Verwirklichung abgesehen hat. Als sich die Zimmertür öffnet, überschreitet Bosemann die Schwelle und gelangt in einen Lichthof. Dort drückt er einen Knopf: „Ein Geräusch von sich bewegenden Scharnieren wurde hörbar. Das Portal öffnete sich, die Türflügel sprangen nach innen.“ (GM, 75) Das Aufspringen des Tores und Bosemanns Eintreten ähneln der Immersionswirkung auf Franz de Télek, als dieser immer weiter ins Château des Carpathes vordringt. Und wie bei Verne ist auch Friedlaenders Protagonist gefangen, nachdem sich das Tor automatisch hinter ihm geschlossen hat. Während sich Télek in der von einer gelben Laterne beleuchteten Krypta wiederfindet, steht Bosemann nun unter einem Kronleuchter „im rotmarmornen Oval des hohen Raumes“ (GM, 75). Auch in diesem „Tempel“ (GM, 79) wird ein Geheimnis bewahrt. Bosemann befindet sich hier im Innersten von Morvitius’ Filmgesellschaft und gleichzeitig in einer Kulissenwelt, die stark an solche Hallen erinnert, wie sie für die Produktion etwa von Fritz Langs Metropolis in Berlin-Babelsberg erbaut wurden. Allerdings ist nach Bosemanns kurzem Besuch der Tempel, den er darin fand, wieder verschwunden und er blamiert sich öffentlich, als er der Polizei und der Presse zu erklären versucht, was er in dem Lichthof vorgefunden hat: Die Verbrecher hatten es heute so leicht! Sie brauchten ja nur schlechte Belletristik zu lesen, Kitschdramen oder gar -filme, und kriegten alle Tricks, die sie brauchten. Richard Bosemann ging mit den Kriminals und den Reportern auf den Lichthof und inspizierte die wracke Garage, die wahrlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Tempel hatte. ‚Halt!‘ sagte er, ‚die Leute hier arbeiten mit den kompliziertesten Versenkungsmaschinerien. […]‘ (GM, 79)

Weil er in Erklärungsnot gerät, vermutet man, er habe womöglich „im Fieber phantasiert“ (GM, 79). Dabei war es die Simulationsmaschine des Kinos, die 194 

Bieger, Laura: Ästhetik der Immersion. Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben. In: Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld: transcript 2011, S. 75–95, hier S. 75. 195 Ebd.

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ihn hinters Licht geführt hat. Das Kino ist tatsächlich eine Versenkungsmaschinerie, wie Bosemann am eigenen Leib erfahren hat. Die Illusionsräume, die diese hervorbringt, sind flüchtig und mehr Schein als Sein. Und doch bringen sie die Raumwahrnehmung aus den Fugen. So erweist sich bei nochmaliger Begehung des Tatortes der Tempel, „in dem sich Bosemann heute früh gefangen“ (GM, 98) gefühlt hatte, als bloße Projektion: Gabriel entnahm einer Truhe, welche Instrumente zur Reinigung des Hofs zu enthalten schien, eine Art Scheinwerfer mit mehreren Objektiven, die an beweglichen Scherenarmen saßen. Er stellte ihn so auf, daß seine unsichtbaren, sich kreuzenden Strahlen die Stelle bestrichen, wo heute früh der Tempel gestanden hatte. Nun suchte er mit den Strahlen wie ein Jäger mit dem Rohrlauf nach einem verborgenen Wilde zu zielen. Am Kreuzungspunkte zuckten neblige Gebilde auf, die schwankenden Konturen des Tempels. (GM, 98)

Bosemann war an diesem Morgen offenbar in einer immersiven Projektion gefangen, einem nebligen Gebilde, das er jedoch nicht als solches erkannt hatte. Er befand sich in einer virtuellen Realität, deren Realitätseindruck von der physischen Realität für ihn nicht zu unterscheiden war. In der Instabilität dieser Filmwelt, die einmal da, dann wieder verschwunden ist, zeigt sich ein weiteres Merkmal filmischer Ästhetik, das Mynona für seinen Roman produktiv macht: Die Realität des Films nimmt im immersiven Modus […] stets sequen­ ziellen Ereignischarakter an und nie den einer statisch-stabilen Welt. Ein stabiles Weltmodell ist ein in sich raumzeitlich sowie logisch abgeschlossenes, das einen entsprechend regelgeleiteten Zugang fordert, einen Zugang, der sich unter anderem auf die Gesetze der Logik stützt.196

Mit herkömmlicher Logik ist Morvitius’ Filmwelt nicht erklärbar, nur mit jener Vernunftmagie des Dr. Sucram. Wie bereits gezeigt wurde, gelten die Gesetze der Schwerkraft und des Raumes nur bedingt in dieser Welt; Morvitius versucht zunehmend und mit Erfolg, sie zu unterlaufen. Wenn auch die filmische Welt-Konstruktion nicht gänzlich chaotisch verläuft, so ist sie doch in Dynamik begriffen, einer Dynamik, in der auch gegenläufige Bewegungen, die sich weder aufheben noch abstrahieren, denkbar und möglich sind. Dies zeigt sich in dem Zusammenspiel aus Immersion und Infiltration, das Mynonas Roman durchzieht: So absorbiert Morvitius Bosemann nicht nur als

196 

Voss: Fiktionale Immersion, S. 129.

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Zuschauer in seine Filmwelt, sondern macht ihn außerdem zum (unfreiwilligen) Schauspieler und erweckt ihn als Filmfigur zu neuem Leben. Nach seinem Ausflug in den Tempel gilt Bosemann in den folgenden Wochen als verreist. Die Immersion hat ihn zumindest vorübergehend buchstäblich aus der Diegese in die Hypodiegese gesogen.197 Er tritt erst auf der Kinoleinwand wieder in Erscheinung, als Darsteller in Morvitius’ neuestem Kassenschlager Die Schärpe aus Mädchenhaut. Als seine Mutter und seine Tante Emmy im Kinosaal sitzen und den Film sehen, scheint es ihnen fast, als sei Bosemann in den Film hineingestiegen. „Das schattenhafte Wiedersehen“ mit ihm auf der Kinoleinwand lässt sie tatsächlich glauben, sie hätten es mit dem echten Bosemann zu tun (GM, 107). Damit beweist Morvitius, dass sein Kino nicht nur immersiv wirksam ist; auch die Gegenbewegung der Infiltration gelingt aus Sicht der beiden Zuschauerinnen. Die Faszination für die intermediale Metalepse198 und die totale Simula­ tion beschäftigt Friedlaender/Mynona nicht nur in Graue Magie, sondern auch in kürzeren Texten seines umfangreichen Œuvres. In der Groteske Idee vom Ferntaster von 1913 bedauert er etwa, dass „die Telehaptie, der Telehaptor, der Ferntaster […] noch auf sich warten“ lassen.199 Dabei bemerkt er ironisch und sinnig zugleich, dass „wenn einer fragt: wo bin ich? daß er dann eigentlich meint: wo bin ich zu tasten. Denn gesehen, gehört, gerochen könnte er auch anderswo werden.“200 Die Unmittelbarkeit des Tastsinns ist die letzte Illusion, die das Kino hervorbringen muss, um die virtuelle Realität vollständig glaubwürdig zu simulieren. Schließlich ist das Tastbare vermeintlich wirklicher als das bloß Sichtbare, wie F/M in Das kosmische Gehirn mit einem impliziten Verweis auf Herders Plastik-Schrift bemerkt: „Tastbarkeit ist nicht Sichtbarkeit, und die nur gesehene Welt ist nicht wirklicher als ein Spiegelbild“.201 197 

In Bioys La invención de Morel wird diese Immersion unwiderruflich verlaufen, siehe Kapitel 3.2.3. 198  Vgl. Chihaia: Aquí, ahora, S. 105. Chihaia geht davon aus, dass erst Cortázar in den 1950er Jahren die intermediale Metalepse als literarische Strategie entwickelte, wobei sich offenbar schon bei Friedlaender/Mynona erste Schritte in diese Richtung andeuten. 199  Friedlaender, Salomo/Mynona: Idee vom Ferntaster. In: Ders.: Grotesken I. Gesammelte Schriften, Band VII (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2008, S. 199–201, hier S. 199. 200 Ebd. 201  Friedlaender, Salomo/Mynona: Das kosmische Gehirn. In: Ders.: Philosophische Abhandlungen und Kritiken. Gesammelte Schriften, Band III (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2006, S. 676–682, hier S. 677. Hierin lässt sich eine Referenz auf Herders Plastik-Schrift erkennen; in dieser räumt Herder „allein dem hap-

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Von einem Medium, das eine tastbare Virtuelle Realität herstellt, erzählt Mynona bereits in Das vertikale Gewerbe (1916): In diesem eigens zur exakten Vortäuschung von Luftreisen errichteten Kino hängt der Zuschauerraum hoch über der Schirmbühne. […] Nach diesem Beispiel sollten alle Räume zu Darstellungen eingerichtet sein; das beliebte horizontale Kino, in dem der Schirm sich vor dem Zuschauer befindet, ginge dann mit Leichtigkeit so zu verwandeln, daß der Zuschauer sich bald unter, bald über dem Schirm platziert sähe; dadurch könnten die wunderbarsten Wirkungen hervorgebracht werden!202

Das kinematographische Dispositiv strebt hier danach, den Traum vom Totalen Kino zu verwirklichen. Im Falle der simulierten Luftschifffahrt trägt auch der Ton zum Gelingen der Täuschung bei, denn das Geräusch des Projektors hört sich „wie das Surren der Schraube eines Luftschiffs an und dient also zur Erhöhung der Illusion“.203 Ziel des ganzen Spektakels ist es, den Rezipienten in einen „Wahn“ zu stürzen: Dieser dürfe „niemals auf die Vermutung einer Illusion geraten“.204 Auf diese Weise könne schließlich die gesamte Erdkugel simuliert und dem Zuschauer suggeriert werden, dass er sich der Sonne nähert – eine Vision, die Eingang in Graue Magie finden wird. Aufgrund dieser Suggestivkraft rät Mynona seinen Leserinnen und Lesern am Ende dieser kurzen Groteske: „[…] argwöhnen Sie vielmehr, die gesamte Welt wäre bereits ein so vertikales Gewerbe – nicht bloß optisch, sondern plastisch bis in alle Sinne hinein.“205 So scheint in dieser Groteske bereits auf, worauf Morvitius’ Gewerbe hinausläuft: die Ununterscheidbarkeit von physischer und virtueller Realität. Die Illusionskraft des Kinos beschäftigt F/M immer wieder, in seinen Texten steigert er sie ins Unermessliche. Angesichts des mimetischen Filmbildes

tischen ‚Dunkelsinn‘ ein, Wirklichkeit als etwas Authentisches zu erfahren“; in der Folge garantiert das Tasten „die ästhetische Ausrichtung des Wahrnehmens“ und steht also in der Sinneshierarchie über dem Sehen und Hören. Siehe dazu: Greif, Stefan: Herder Handbuch. Paderborn: Fink 2016, S. 526 und 532. Vgl. Herder, Johann Gottfried von: ­Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Riga 1778, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/herder1778. Siehe dazu außerdem: Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München: Fink 1998. 202  Friedlaender/Mynona: Das vertikale Gewerbe. In: Ders.: Grotesken I. Gesammelte Schriften, Band VII (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2008, S. 307–309, hier S. 307. 203  Ebd., S. 308. 204 Ebd. 205  Ebd., S. 309.

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kommen Zweifel an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf, wenn Schein und Sein nicht mehr zu unterscheiden sind. Als Kantianer muss Friedlaender die Totalkinematographie verwerfen,206 als Schriftsteller allerdings faszinierte sie ihn offenbar. An ihren Höhepunkt wird die totale Simulation in Graue Magie beim Fest der grauen Magie gelangen, bei dem Sucram Erscheinungen hervorbringen will, im Vergleich zu denen Ovids Metamorphosen „zahm“ erscheinen (GM, 288). Zuvor wird dieses Spektakel mit entsprechender Reklame und Propaganda angekündigt: Jeder fragte jeden aus, es entstand das bekannte Munkeln und Raunen, und endlich tat die Presse ihren großen Mund zunächst nur schüchtern auf. Die Rede ging von übergewaltigen Erfindungen, die den Film, wie man ihn bisher kannte, antiquieren sollten. Der Projektionsschirm, hieß es, wäre abgeschafft, und kombinierte Projektionsapparate streckten ihre Gebilde nicht mehr flach hin, sondern bauten sie kubisch, mitten im Raum, als dreidimensionale Gebilde auf. Diese Gebilde in natürlichen Farben sollten schließlich auch tastbar gemacht werden können, so daß sie sich am Ende rein äußerlich von wirklichen Naturphänomenen gar nicht mehr unterschieden. (GM, 282)

Durch diese proleptische Ankündigung des Romanschlusses stellt der Text selbst sein Potenzial als Propagandainstrument aus. Was hier im Namen des Filmunternehmers prophezeit wird, ist nichts anderes als das Totale Kino, das allerdings nicht bloß als vollkommen mimetische Reproduktion der Welt präsentiert wird, sondern als entgrenzte Virtuelle Realität. Hierin liegt die Magie des Dr. Sucram, mit deren Hilfe es Morvitius’ Filmkunst nicht nur gelingt, den Nachthimmel zu erhellen, sondern sogar Mond und Sterne auszulöschen (vgl. GM, 283). Das Kino macht die Nacht zum Tag, doch damit nicht genug: Morvitius wird es bald gelingen, die Temperatur zu manipulieren, und er verspricht noch mehr: „Passen Sie auf! Wir alternieren die Gravitation, heben die Erde in andere Angeln.“ (GM, 283). Das Medim Film soll die Welt nicht nur abbilden, sondern tatsächlich neu gestalten. Der Filmraum, den die Morvitius-G.m.b.H. erschafft, enthält nicht nur Falltüren und versteckte Tore, die „transformant les acteurs en passe-murailles“,207 sondern anscheinend auch unsichtbare Gänge, Kerben und Furchen, in

206 

Vgl. Thiel: Hyperamerikanisierung Amerikas, S. 51. Thiel beschreibt „die für den Film konstitutive Verwechselbarkeit mit Realität“ als antikantianisch und damit als Feindbild für F/M (ebd.). 207  Virilio: Guerre et Cinema, S. 18. Virilio beschreibt hier die Praxis von Regisseuren, die über architektonische Konventionen hinweg ihre Darsteller durch die Wände der Ate-

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denen sich der Filmunternehmer mit seinem Unterlandboot fortbewegt. Die Vorstellung von einer Dynamisierung des Raumes, die Mynona als Wirkung dem Film zuschreibt, teilt der Roman mit post-Newton’schen und post-Kantianischen Raumkonzepten und deren „Faszination für die Dynamisierungswirkung von Grenz- und Schwellenerfahrungen, die von der Peripherie her auf den Mittelgrund des Normalen übergreifen: Am Ende ist die Schwelle überall“.208 In Graue Magie zeigt sich, dass diese Dynamisierung eng mit der ästhetischen Erfahrung der Kinematographie verknüpft ist, wobei umgekehrt die Raumsemantik zur Reflexion des Mediums Film dient. Die Dynamisierung des Raumes, die Bosemann in dem abwärts sinkenden Zimmer und anschließend in Morvitius Film-Tempel erlebt, greift im weiteren Verlauf auf den Chronotopos Stadt über und wird zu jener entgrenzten Grenzerfahrung, die Koschorke als „Existenzweise der Modernen überhaupt“ bezeichnet.209 Die enge Verknüpfung von Raum- und Medientheorien ergibt sich in Graue Magie auch deshalb, „weil beide die Überwindung von Distanz als Transformation statt als bloßen Transfer behandeln.“210 Exemplarisch wird diese Beobachtung anhand des Unterlandbootes, das tatsächlich nicht nur zum Transfer dient, sondern den Raum transformiert. Es offenbart, dass dieser Raum, in den sich die Filmstadt Berlin durch Morvitius verwandelt, nicht mehr bloß „Schauplatz der Objektbewegungen“ ist; vielmehr wird der Raum „selbst von deren Unruhe erfasst“.211 Durch die Dekonstruktion des realistischen Raumes verdeutlicht Graue Magie, wie sich die Erfahrungswelt der Menschen auch durch die Verbreitung der Kinematographie verändert hat: Die kulturelle Welt der Moderne des 20. Jahrhunderts ist, „nicht mehr in eine uniforme räumliche Ordnung, die alle Erscheinungen durchherrscht, zu integrieren.“212 Die Zentralperspektive ist aufgekündigt, die kinematographisch reproduzierten Körper interagieren mit dem Raum statt sich nur durch ihn hindurch zu bewegen. Der Alt-Kantianer213 Friedlaender zeigt anhand des

lierbauten schickten, um von einer Einstellung zur nächsten zu kommen. F/M greift diese Praxis ironisch auf. 208  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 116. 209  Ebd., S. 116. 210  Ebd., S. 113 (Herv. i. O.). 211 Ebd. 212  Ebd., S. 112. 213  Friedlaender bezeichnet nicht nur Ernst Marcus als „Alt-Kantianer“, sondern sieht auch sich selbst in einer Tradition, die seiner Ansicht nach „zu Kant zurück und mit Kant über ihn hinaus“ führt. Vgl. dazu etwa Friedlaender, Salomo/Mynona: Über die Unsterb-

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Film­unternehmers Morvitius, wie der Raum „den Charakter einer a priori gesetzten Wahrnehmungsbedingung“ verliert.214 So gilt für Graue Magie, was Laura Frahm mit Blick auf die Raumtheorie der 1920er Jahre konstatiert: Der Film wird mit seinen bewegten, dynamischen Räumen in den zeitgenössischen Diskursen wiederholt als ein Medium begriffen, das nicht allein die Aufzeichnung von Bewegung ermöglicht, sondern im selben Zuge Aussagen über eine grundlegende Neuordnung des Raums zu treffen vermag, deren Zielpunkt die Dynamisierung des Raums bildet.215

Diese Dynamisierung begreift Mynona nicht als Metapher einer Ästhetik der ständigen Steigerung, sondern als einen Effekt des Kinos auf die Wahrnehmung. Die Wirkung dieses Effekts erprobt und analysiert er mit literarischen Mitteln, indem er den Raum mit Hilfe des Kinos zerfurcht, unterhöhlt und in Bewegung versetzt. 2.2.2 Die zerfetzte Schärpe: die Textur des Filmischen

So entscheidend das Unterlandboot für Morvitius’ Machtstreben und seine scheinbare Allgegenwärtigkeit ist, das Gefährt ist doch nutzlos, wenn der Film­unternehmer nicht im Besitz der Schärpe ist, die es antreibt. Er muss sich mit dem Stoff umwickeln, um unsichtbar werden oder das Unterlandboot in Bewegung versetzen zu können – wobei das Einwickeln und Verwickeln metaphorisch auf schon angesprochene Aspekte filmischer Ästhetik wie die Immersion sowie die Affizierung des Rezipienten verweist. Die Schärpe zieht sich buchstäblich wie ein Band durch den Text. Schon am Anfang des Romans setzt sie die Handlung in Gang, als Bosemann Agnes findet und sich auf die Suche nach dem Ursprung ihres einzigen Kleidungsstücks begibt. Außerdem steht sie immer wieder im Zentrum von Dialogen und Auseinandersetzungen zwischen Sucram und Morvitius, zwischen Agnes und Sucram sowie zwischen Bosemanns Freunden und Morvitius. Sogar handgreifliche Auseinandersetzungen werden um diese Schärpe geführt, die

lichkeit. Ein Gespräch zwischen einem Empiristen und dem verstorbenen Alt-Kantianer Ernst Marcus (1933). In: Ders.: Philosophische Abhandlungen und Kritiken, Teil II. Gesammelte Schriften, Band III (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Wait­ awhile 2006, S. 859–862. 214  Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 112 (Herv. i. O.). 215  Frahm, Laura: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld: transcript 2010, S. 204 (Herv. i. O.).

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angeblich ein „Geheimnis“ in sich trägt (GM, 119). Tatsächlich ist ihre Entstehungsgeschichte rätselhaft. Agnes schildert sie so: Ernest und ich lebten wie Mann und Frau. Er liebte es, mich nackt tanzen zu sehen. Eines Nachts gerieten wir dabei in eine sehnsüchtige Verzückung. Wie könnte ich Ihnen schildern, was ich erlebt habe! Damals kam es, wir wissen ja selber nicht wie, zur Erschaffung, zur Schöpfung meiner Schärpe. (GM, 141f.)

Insofern ist die Schärpe nicht, wie Sucram versichert, nur „rein geistig einem schöpferischen Akt als materialisierter Äther entsprungen“ (GM, 145), sondern vielmehr gezeugt in einem erotischen Akt, bei dem das Sinnliche zum Geistigen hinzutreten muss. Auch die Affizierung, die die Schärpe erlaubt, betrifft den Leib ebenso wie den Geist. Das Sinnliche scheint allerdings zunächst in den Hintergrund zu treten, wenn die Schärpe für allerlei Phantasmen verantwortlich gemacht wird. So wird sie zum Antrieb nicht nur des Unterlandbootes, sondern der kinematographischen Produktion überhaupt: „Das Ding wurde ja nur der Schärpe wegen gedreht“ (GM, 74), heißt es über den Film, in dem Bosemann die Hauptrolle spielt. Die Schärpe beziehungsweise ihr vorübergehender Verlust und die Suche nach ihr bilden den Kern der Handlung von Morvitius’ halbdokumentarischem Spielfilm Die Schärpe aus Mädchenhaut. Sie ist das „zur Berliner Legende gewordene Filmrequisit“ (GM, 244). Schließlich hat bereits ihr Anblick das Potenzial, den Betrachter „in einen träumerischen Rausch“ zu versetzen (GM, 82). Dabei steht sie als Objekt, auf das sich das Begehren richtet, nicht nur am Beginn der Romanhandlung sowie im Zentrum des erzählten Films, sie ist auch wichtigstes Instrument des Morvitius. Denn die Schärpe ist der Antrieb seiner den Raum zerfurchenden Bewegungen und repräsentiert damit das Kinematographische an sich. Die Fahrten mit dem Unterlandboot sind nur demjenigen möglich, der im Besitz der Schärpe ist: „Denken Sie nur an eine solche Erfindung wie unser Unterlandboot, vermittelst dessen ich vom Transportverkehr der Staaten völlig unabhängig bin. Was wird aus diesem Boote, wenn ich seinen Motor mit mir selbst nicht mehr durch die Schärpe verbinden kann? Ohne die Schärpe gibt keine unserer Maschinen mehr ihr Bestes her. Der ganze Betrieb wird mir von den Amerikanern, die mir hart auf den Fersen bleiben, wenn ich ihnen auch jüngst um eine Riesenstrecke vorausgekommen bin, falls die Schärpe fehlen sollte, mit Leichtigkeit überholt werden.“ (GM, 252)

In dieser Rede des Morvitius wird klar, wie bedeutsam die Schärpe für seine Unternehmungen ist, dass sie nicht nur Insigne seiner Macht, sondern auch

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Instrument zu ihrer Erhaltung ist.216 Dank der Schärpe, die ihn wie eine Tarnkappe unsichtbar macht, kann Morvitius unbemerkt Unterhaltungen zwischen Bosemann und seinen Freunden oder zwischen Agnes und Sucram belauschen. Er kann Häuser betreten, Dinge entwenden und unbemerkt wieder entfliehen. Niemand kann jemals sicher sein, ob Morvitius nicht gerade in der Nähe ist. Durch die Tarnkappenfunktion der Schärpe kommt ihm jener Visier-Effekt zu, den Derrida dem Gespenst als Machtinsigne zuschreibt und der bereits in der Analyse von Le Château des Carpathes eine Rolle spielte.217 Ähnlich wie Gortz, der hinter dem Gitter seiner Loge verborgen ist und dessen Gesicht dort schockartig der Stilla erscheint, tritt auch Morvitius dank der Schärpe unerwartet inmitten von Tischgesellschaften und Salons in Erscheinung „[o]hne daß man vorher das geringste Zeichen seiner Anwesenheit gemerkt hätte“ (GM, 122).218 Der Berliner Filmunternehmer weitet das Prinzip des Panoptikums potenziell auf die ganze Welt aus. Sein Siegeszug steht für den Siegeszug der Kinematographie und seine Macht für eine entfesselte Medienmacht. Mynona imaginiert ein Totales Kino, das auf den Möglichkeiten von Schnitt und Montage beruht; damit entwickelt sich das Narrativ hier fort von der Vorstellung einer visuellen Phonographie. Die Schärpe ermöglicht, was sonst nur die filmische Montagetechnik den Figuren möglich macht: plötzliches Auftauchen und Verschwinden, Sprünge im Raum, Überblendungen, Projektionen, die Herstellung neuer Sinnzusammenhänge durch das Aneinander unterschiedlicher Kontexte, etc. Insofern gilt für die Schärpe, was Doris Agotai für den Schnitt im Film beschreibt: Dieser schaffe „neue Raumverbindungen“, die nicht den logischen Regeln entsprechen müssen; er kann neue Bedeutungszusammenhänge, also neue Räume kreieren und somit als

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Hier liegt eine Ambivalenz, die nicht verschwiegen werden soll: Die Schärpe und damit auch das Kino, für das sie steht, gelten in Graue Magie nicht per se als unmoralisch und böse. Sie werden von Morvitius instrumentalisiert und missbraucht. Insofern sei hier betont, dass F/M kein Technikfeind war, sondern im Gegenteil Technologie und Film als Instrumente zur Überwindung der prekären Existenz des Menschen ansieht. 217  Vgl. Derrida, Jacques: Spectres de Marx, S. 29. In Le Château des Carpathes kommt diese Machtinsigne dem Baron Gortz zu, der wie der durch die Schärpe unsichtbar gewordene Morvitius im Zentrum eines Panoptikums sitzt und – darin dem Rezipienten im Kino ähnlich – sieht, ohne selbst gesehen zu werden. 218  Weitere solche Szenen des plötzlichen Auf- oder Abtretens des Filmunternehmers, die hier nicht alle angeführt werden können, finden sich etwa auf den Seiten 202, 208 und 271 des Romans.

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„Verdichtung, als Überlagerung verschiedener Ebenen gelesen werden“.219 Die Schärpe arbeitet in Graue Magie in eben diese Richtung – allerdings wird auch klar, zu welchem Preis: Morvitius muss seinen mächtigen Leib mit der Schärpe umwickeln, sich also selbst in die filmische Simulation verwickeln lassen. Eingeführt wird die Schärpe als Bild, genauer als Abbild ihrer selbst: In jener Nacht im Grunewald, als Bosemann die bewusstlose Agnes findet, ist diese anscheinend nur mit diesem Stück Stoff bekleidet, das sich jedoch alsbald als Tätowierung, noch später dann als temporärer, photographischer Abdruck der eigentlichen Schärpe herausstellt (vgl. GM, 135): Sie war nackt; nur von der Hüfte zu Hüfte zog sich rings um den keineswegs häßlichen Leib eine herrliche Schärpe: hellblaue Stickerei auf einem von lila Bordüren säuberlich eingefaßten sammetschwarzen Grunde. Richard kauerte sich nieder, setzte die Laterne auf die moosige Erde und vergewisserte sich handgreiflich, daß die Schärpe nur auf die Haut gemalt (oder tätowiert?) war. Es bemächtigte sich seiner ein unbeschreibliches Gefühl; ja, er hockte vor einem dunkleren Rätsel als die Leser. Denn die lesen einfach weiter, blättern Seite um Seite, kriegen rasch Aufklärung. Richard hatte es nicht so leicht. (GM, 65)

Bereits zu Beginn ist die Schärpe mit einem autoreflexiven Moment verknüpft; sie ist Erzähltes und Erzählendes zugleich. Indem sie Schein und Sein gegeneinander austauscht, verweist sie auf das Vermögen der Fiktion selbst. Damit demonstriert der Text schon zu Beginn sein visuelles und bilderschöpfendes Potenzial.220 Hinzu kommt, dass sich die Schärpe in jener oben beschriebenen mysteriösen Materialisierung „gleichsam selber gemacht hat“ (GM, 96). Auch Sucram und Agnes können sich ihre Entstehung nicht erklären. Dieser Verweis auf die Autopoiesis des Literarischen wird noch verstärkt, wenn man – mit Barthes – die textile Qualität der gewebten Schärpe bedenkt: Texte veut dire Tissu; mais alors que jusqu’ici on a toujours pris ce tissu pour un produit, un voile tout fait, derrière lequel se tient, plus ou moins caché, le sens (la vérité), nous accentuons maintenant, dans le tis-

219  Agotai, Doris: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf den Raum. Bielefeld: transcript 2007, S. 104. 220  Friedlaender/Mynona greift ironisch die Tradition der Mädchenleiche auf, die hier allerdings nur eine „anscheinende“ ist (GM, 65) und sich, recht pygmalionesk, von ihrem Betrachter zum Leben erwecken lässt – mit einem Spritzer Kölnisch Wasser (vgl. GM, 68). Vgl. zum literarischen Topos der schönen Frauenleiche die bereits zitierte Studie von Bronfen: Over her dead Body.

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Der Traum vom Totalen Kino su, l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; perdu dans ce tissu — cette texture — le sujet s’y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les sécrétions constructives de sa toile.221

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In der Schärpe wird die Webarbeit des Textes greifbar. Der schwarz-blau-lila gemusterte Stoff ist mehr als nur Filmrequisite oder Instrument für Morvitius’ Machterhalt. Die Schärpe ist in Graue Magie das Vehikel, um die filmische Ästhetik darzustellen – und gleichzeitig ihre literarische Gemachtheit auszustellen. Sie ist Metapher für das phantasmatische Potenzial des Films, das vom Text hervorgetrieben wird. „Äfft mich ein Schein?“, fragt Agnes, als sie feststellt, dass ihre Wahrnehmung getäuscht wurde. „Ich sehe meine Schärpe, taste sie aber nicht.“ (GM, 69) Die Schärpe betreibt „Mimikry“ (GM, 68), sie zeugt von der Illusion vollendeter Mimesis und damit vom Totalen Kino. Obwohl Richard Bosemann nicht an solche „Mysterien“ (GM, 81) glaubt, muss er einsehen, dass diese Schärpe seine Wahrnehmung Lügen straft. Es handelt sich bei dem scheinbar echten, dann anscheinend tätowierten, in Wirklichkeit aber nur photographisch projizierten Stück Stoff bereits um eine jener Illusionen, die Morvitius im Zuge der totalen Simulation hervorzubringen im Stande ist. Sein Filmunternehmen vermag Realität nachzuahmen und den Betrachter zu täuschen (vgl. GM, 90). In der Schärpe manifestiert sich die phantasmagorische Kraft des Films. Da er über diese verfügt, stellt Morvitius sich selbst mit folgenden Worten vor: Unsere Films sind die Welt, eine halbe Andeutung genügt. […] Zum völligen Schlagen der gesamten Konkurrenz, leider vielleicht auch zu Ihrer Beunruhigung, mußte ich Ihre Schärpe an mich bringen, meine Gnädige. […] ich habe nämlich die Kurbelmanie, und nur Romantik läßt sich hübsch kurbeln. Also wundern Sie sich nicht. Der Film erklärt, weswegen mitten in unserm anscheinend so nüchternen, so realpolitischen Berlin derartige märchenhafte Dinge möglich werden. Der Film streicht […] das Wort ‚Unmöglich‘ aus seinen Registern. Wir vernichten und erschaffen. (GM, 101)

Morvitius’ Vorherrschaft auf dem Filmmarkt beinhaltet das Potenzial, Phantasmen zu erschaffen – und zwar mitten in der Realität Berlins. Die Schärpe ermöglicht ihm eine Art magischen Realismus, indem sie die Sphären von Realität und (filmischer) Magie entgrenzt, wobei durch ihre textile Qualität

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Barthes, Roland: Le plaisir du texte. Paris: Éditions du Seuil 1973, S. 100f.

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stets als Gegendiskurs auf der Unterseite mitläuft, dass all dies im Medium des Literarischen ermöglicht wird. Morvitius hat nicht nur den Anspruch, die Welt mimetisch abzubilden, sodass „das Gesicht es für das Richtige hält, dem Getast allen Kredit aufzukündigen“ (GM, 68). Er betreibt die totale Simulation vor allem, um seine Auseinandersetzung gegen die menschliche Vernunft zu gewinnen und hat deshalb in einem ersten Schritt deren Verteidiger, Kants „Thronerben“ Sucram (GM, 280), auf seine Seite gezogen.222 Dessen Schärpe erlaubt Morvitius, sich zu dematerialisieren, sie ist in der Lage, „die Tastbarkeit des Körpers aufzuheben“ (GM, 126): ‚Herr Morvitius,‘ amüsierte sich Ferry, ‚in dem Schal sehen Sie wie eine Odaliske aus – zum Anbeißen!‘ Er sprang auf und versuchte, Morvitius zu umarmen, hielt aber bestürzt inne, denn er griff durch den klar sichtbaren Leib der ‚Odaliske‘ wie durch einen bunten Schatten hindurch, und bald war auch dieser Schatten verschwunden. Ferry ließ sich durch nichts imponieren: ‚Ich glaube, aus purer Angst vor mir hat er sich in einen Film verflüchtigt.‘ (GM, 126)

Das Filmbild wird hier mit einem Schatten verglichen, ähnlich wie schon bei Pirandello. Allerdings ist dieser Schatten bunt und somit näher an der Realität als das herkömmliche Schwarz-Weiß-Bild.223 Die Schärpe verwandelt den Leib in ein Abbild, das von der Realität zunächst nicht zu unterscheiden ist. Ihre Wirkung entspricht weniger einer Dematerialisierung als vielmehr einer Bildwerdung: Der Stoff entstofflicht – und hinterlässt als Residuum das Bild. Dabei ist die Verwandlung in ein Bild ein Zwischenschritt zur vollständigen Abwesenheit: Morvitius verlässt nach der oben zitierten Szene den Raum im Schutz der „Tarnkappe“ (GM, 126). Hier wird der gespenstische Charakter 222  Der Konflikt zwischen Morvitius und Sucram hat zahlreiche Facetten, die teilweise an den Faust-, aber auch den Golem-Stoff anknüpfen und hier nicht in allen Einzelheiten ausgebreitet werden können. Festgestellt werden soll aber, dass sich das Kräfteverhältnis der beiden Antagonisten verschiebt: Während zunächst Morvitius den Ton angibt und Sucram in seinen Diensten steht, kehrt sich am Ende beim Fest der grauen Magie dieses Verhältnis um. Für den Zusammenhang der vorliegenden Studie ist vor allem entscheidend, dass Sucram und Morvitius zusammenkommen müssen, um das Totale Kino zu verwirklichen. Sie arbeiten – mit unterschiedlichen Mitteln – auf das gleiche Ziel hin: die Ununterscheidbarkeit von Realität und Film. 223  Das Filmbild erscheint bei Mynona damit nicht nur realistischer als bei Pirandello, es ist auch der zeitgenössischen Kinotechnik voraus: Film war ja in den 1920ern immer noch weitgehend schwarz-weiß. Insofern liegt bereits in diesem „bunten Schatten“ ein totalkinematographisches Moment.

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des Filmbildes evident. Es spukt im Zwischenraum von Anwesenheit und Abwesenheit als „ein lebendiges Nichts“ (GM, 144). F/M war sich der phantasmatischen Macht des Mediums wohl bewusst, 1935 schrieb er in sein Tagebuch: „Seit der Entdeckung der Photographie gespenstert die Immortalität der Inkarnation. Im stereoskopischen & farbigen Tonfilm ist sie auf moderner Höhe.“224 Der sich in ein Bild auflösende Leib ist ebenso wie das fleischgewordene Bild Sitz des Gespenstischen. Damit denkt F/M eine Beobachtung Georg Simmels weiter, mit dem er im Übrigen gut bekannt war und der in Über die dritte Dimension in der Kunst konstatiert: „Eine Gestalt, die wir sehen, durch die wir aber hindurchgreifen könnten, ohne daß sie ein Tastgefühl erweckte, wäre nicht wirklich, sondern ein Spuk“.225 In Graue Magie zeigt sich, dass sogar die Tastbarmachung der optophonetischen Gebilde ihnen ihren gespenstischen Charakter nicht austreiben kann. Sucram fragt: „Wie wär’s mit diesem stereoskopischen Kino, dessen optische Gebilde zugleich tastbar wären?“ (GM, 287) Die „unheimliche“ Wirkung (GM, 186) dieses Tast-Kinos bleibt trotz der „Verlängerung ins Physische“ (GM, 287) bestehen, resultiert sie doch aus dem Kippen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das dem Film immer schon inhärent ist. Dabei beschäftigten plastische Filmbilder Berlin einige Jahre zuvor auch ganz konkret: Als im Jahr 1914 der Film Fantomo Premiere im Palast am Zoo feiert, wurden bei dessen Vorführung „vor separatem Hintergrund Aufnahmen von realen Schauspielern auf eine Glasscheibe projiziert.“226 Die Presse berichtet über diese „jüngste Errungenschaft der Kinematographie“, es scheine, als würden „die projizierten Personen sich vielmehr wie lebende Schauspieler im freien, erleuchteten Bühnenraum bewegen.“227 Verheißungsvoll heißt es in dem Zeitungsartikel weiter, der plastische Film vermöge es, „der Kinematographie ganz neue Perspektiven zu eröffnen, und man darf gespannt darauf sein, welchen Gebrauch unsere Filmindustrie von dieser eigenartigen, zweifellos noch sehr entwicklungsfähigen Erfindung machen wird“.228 Gewisser224 

Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 42. Zitiert nach Wilke, Tobias: Medien der Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrnehmungstechniken 1918–1939. München: Fink 2010, S. 73. Der Essay von Simmel, erschienen 1906 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, findet sich hier online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/zaak1906/0070. 226  Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 22. 227  o. A.: Der plastische Film. In: Der Tag (17.4.1914), http://www.earlycinema.uni-​ koeln.de/​documents/view/4176. 228 Ebd. 225 

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maßen schreibt auch dieser Pressetext das Narrativ des Totalen Kinos fort, indem er der Erfindung des plastischen Films ein Versprechen für die Zukunft abnimmt. Gleichzeitig kehrt er das Gespenstische des Mediums heraus, denn die Bühnenhaftigkeit des Spektakels ist ja nur deswegen eine Attraktion, weil es sich eben nicht um lebendige Schauspieler auf einer Bühne handelt, sondern um projizierte Bilder. Der „Mangel“ des Filmbildes ist sein Potenzial.229 Dem Filmunternehmer Morvitius ist die Verwirklichung des Totalen Kinos mithilfe der Schärpe nicht umfänglich gegönnt. Stattdessen lässt der Roman ihr gespenstisches Treiben in groteske Szenen ausfransen. Nicht nur lässt er einen durch die Schärpe unsichtbar gemachten Hund herzhaft in eine Männerwade beißen (vgl. GM, 185f.), er zerfetzt auch den Filmunternehmer Morvitius vor aller Augen: Die Zuschauer reagieren geschockt, als von der magischen Schärpe nach einem Kampf zwischen Morvitius und Bosemanns Freund Maertel ein zerfledderter „Schärpenrest“ (GM, 244) übrig bleibt, der als solcher Morvitius nur unvollständig verschwinden lassen kann. In der Folge steht dieser „ohne die geringsten Spuren blutiger Verwundung zu zeigen, man kann es nicht anders sagen, ähnlich zerschlissen und durchlöchert wie die Schärpe“ da (GM, 244f.). Das Ergebnis ist abstrakte (Film‑)Kunst: Sein Leib nebst Bekleidung war an vielen Stellen durchsichtig geworden, und er machte sich den Spaß mit seinen ebenfalls defekten Händen durch die Risse wie durch Luft hindurchzufahren. Aber damit noch nicht genug, so intermittierte, pendelte gleichsam das Phänomen zwischen Zerfetztheit und Wiederherstellung abwechselnd hin und her. – Settegal, trotz entsetzten Protestes seiner Frau vor Begeisterung fast wahnsinnig, klatschte Bravo: ‚Endlich, endlich! Das chaotische Porträt, wie es mir seit langem verschwommen vorschwebt, sonnenklar deutlich, mit Händen zu greifen!‘ (GM, 245)

229  Wilke untersucht in seiner Studie die philosophischen Aspekte von Graue Magie und gleicht sie mit den Schriften des Philosophen Ernst Marcus ab. Wilke betont, dass für Marcus der Unterschied zwischen Bildern und Körpern eklatant und die Gewichtung eindeutig sei: „Die rein optische Phänomenalität“ des Filmbildes stelle „nach den von Marcus formulierten Prämissen eine Ordnung des Mangels dar – eine Ordnung, die gerade einen ‚unmittelbaren‘ Bezug zu den Dingen als unmöglich ausschließt“. Diesen „konstitutiv[en] Mangel der kinematographischen Wahrnehmung“ versuchen Wilke zufolge Sucram und Morvitius zu kompensieren. Entgegen dieser Lesart lässt sich aber, wie oben gezeigt wird, gerade der Mangel als Sitz des Phantasmas und damit als gespenstisches Potenzial des Filmbildes lesen. Siehe Wilke: Medien der Unmittelbarkeit, S. 78 und 84 (Herv. i. O.)

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Statt realistisch abzubilden, erscheint der Film hier als abstrahierte Darstellung in intermittierender Erscheinung und damit selbst als grotesk. Die zerfetzte Schärpe zeitigt jenen Effekt, den Mynona zu seiner literarischen Strategie erkoren hat und auch „im Spiel mit Eigennamen oder mit nachgerade absurden Kombinationen von Fremdwörtern“ betreibt.230 Beide Spielarten der Verfremdung reflektieren die Möglichkeiten des Films, durch Schnitt und Montage alternative Zusammenhänge und neue Erkenntnis zu erzeugen. Der Autor dürfte frühe filmische Experimente von Méliès im Kopf gehabt haben, als er die obige sowie die folgenden Szenen schrieb: Maertel, der im Kampf mit Morvitius ebenfalls einen Teil der Schärpe erbeutet hat, benutzt diesen „mit dem Resultat, daß jählings die eine Längshälfte seines Leibes, bis auf einen Arm, der alternierend kam und ging, weg war“ (GM, 245). Der Leib wird vom Film in seine Einzelteile zerlegt und zum Mittelpunkt eines grotesk-komischen Schauspiels. Die Szene, in der Morvitius und Maertel, „der immer wieder mit der rasch intermittierenden Hand durch den Raum fuhr, wo beträchtliche Teile von ihm fehlten, einander stumm gegenüber“ stehen (GM, 245), erinnert an Filme aus Méliès’ Trickkino wie etwa Pygmalion et Galathée.231 Entsprechend erklärt Sucram: „Es handelt sich hier um einen neuen Filmtrick, der durch eine meiner Erfindungen verwirklicht wird.“ (GM, 245) Damit tritt die Schärpe als „Medium des Verschwindens und Erscheinens […] in Analogie zur Schnitttechnik“ und verdeutlicht einmal mehr, dass F/M das Potenzial von Film nicht eben gering geschätzt hat.232 Aber gerade die zerfetzte Schärpe lässt in ihrer löchrigen Textur durchscheinen, dass dieses Stück Stoff mehr ist als bloß Metapher für filmische Montage: Die Schärpe verweist auf die literarische Gemachtheit des Filmischen in Graue Magie. Sie wird damit zur autoreflexiven Machtgeste des Tex-

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Stockhammer: Zaubertexte, S. 219. Siehe Méliès, Georges: Pygmalion et Galathée, Frankreich 1898. In diesem kurzen Film erwacht Pygmalions Statue nicht nur zum Leben, die Schauspielerin hat abwechselnd keinen Rumpf und keine Beine; wenn der Bildhauer nach ihr greifen will, greift er ins Leere. Am Ende des Films folgt die Pointe: Galatea verwandelt sich, sehr zum Ärger ihres Schöpfers, zurück in eine Statue. In diesem frühen Filmdokument offenbart Méliès bereits die Tricks, die mittels Montage und Überblendung bzw. Mehrfachbelichtung möglich waren. Der Film stellt die Hoffnungen und Ängste metaphorisch vor Augen, die mit dem Bild, das laufen lernt und sich von seinem Schöpfer emanzipiert, verbunden sind. Gleichzeitig zeigt der Film, dass schon das frühe Kino seine eigene Verwandtschaft zum Pygmalionmythos reflektierte. 232  Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 47. 231 

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tes gegenüber dem Film. „Für mich ist Stoff eben Stoff“, verkündet Morvitius (GM, 128) und lenkt damit den Blick auf die textile Metaphorik. Denn Stoff ist tatsächlich Stoff für Interpretation. Wie Erika Greber in ihrer umfangreichen Studie zur Metapher des Textilen darlegt, gibt es nicht nur „einen inneren Zusammenhang von Textilmetaphorik, Textur und Text“;233 der Schärpe wohnt wie anderen textilen Metaphern auch eine „metatextuelle Qualität“ inne.234 Das Schlingen und Winden gehört dabei ebenso ins metaphorische Feld des Textes als Textil wie das Knüpfen, Weben und Flechten. Die ars combinatoria, die mit diesen Metaphern aufgerufen wird, markiert den Text gerade in seiner Auseinandersetzung mit dem Film selbst als ein Montiertes. Schließlich basiert literarisches Schreiben seit jeher „auf einem Akt, den man kombinatorisch nennen müßte“, wobei das Kombinatorische „als Archisem in den mythopoetischen Metaphern für das kunstfertige Herstellen von Texten enthalten“ ist.235 Die Schärpe stellt als textiles, quasi archaisches Artefakt in der ansonsten von Technologie geprägten Welt der Grauen Magie einen Fremdkörper dar, der äußerst produktiv wirksam ist. In ihrem Anachronismus verweist sie auf jene antiken Mythen, in denen „immer die Frauen […] den Faden des Schicksals, das Gewebe der Welt, die Textur der Texte spinnen und weben.“236 Und tatsächlich wäre ohne Agnes „die Schärpe nicht entstanden“ (GM, 298). Die Macht des Morvitius findet ihren Ursprung und ihre Grenze im Reich der Mythen, dem Reich der Literatur. Es ist – wie implizit deutlich wird, wann immer von der Entstehung der Schärpe die Rede ist – niemand anderes als der Erzähler, der die Schärpe erschaffen hat, sie nach Belieben mit einem Eigenleben ausstattet und auch wieder verschwinden lässt. Dafür spricht nicht nur ihr scheinbar unmotiviertes und unerklärliches Erscheinen, sondern ebenso auch ihr endgültiges Verschwinden: „Urplötzlich entringelte sich Morvitius’ bunte Schärpe seiner Brusttasche wie von selber, flatterte durch die Luft, verschwand.“ (GM, 235) Tatsächlich ist nach diesem Satz kein einziges Mal mehr die Rede von der Schärpe, sie ist buchstäblich aus dem Text verschwunden. Der Erzähler ist derjenige, der selbst das Instrument, das verschwinden lässt, verschwinden lassen kann. Der Text offenbart seine eigene Gemachtheit als

233  234 

Greber: Textile Texte, S. 21. Ebd., S. 221. 235  Ebd., S. 19f. 236  Ebd., S. 24.

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ständiges Flechten und sich selbst Bearbeiten,237 und schließt in diese Arbeit die Repräsentation des Filmischen mit ein. Das Spielerische in F/Ms Schreiben ist also keineswegs harmlos. Die autoreflexiven Verweise auf das eigene Erzählen zeugen davon, dass der Text sich selbst ernster nimmt, als aufgrund des humorvoll-satirischen Tons auf den ersten Blick zu vermuten wäre. So legt er schon auf der Ebene der Buchstaben seine eigene Web- und Knüpfarbeit offen: Mynonas Anagrammatismus ist mit der Schärpe wesensverwandt. Beides verweist auf Textilmetaphern und damit auf den Text selbst. Schließlich sind die Namensanagramme, mit denen Mynona fortlaufend spielt, nichts anderes als Permutationen und Neuverknüpfungen von Buchstaben; sie zeigen damit auf das, worin die schriftstellerische Arbeit im Wesentlichen besteht: das Anordnen und Umstellen von Buchstaben. In Mynonas Anagrammen konzentriert sich das Wirken und Weben des Schriftstellers auf einen Akt, in dem aus Sinn Unsinn entsteht – oder aber alternativer Sinn. Schließlich besteht „die ursprüngliche poetische Kompetenz und wesentliche Aufgabe des Dichters in anagrammatischen Handlungen“.238 Mynona, der Anagramme nicht nur für seinen eigenen, sondern auch für viele andere Eigennamen verwendet, kombiniert darin zwei Absichten: Einerseits verschlüsseln diese Anagramme Bedeutung und Identitäten, andererseits generieren sie gleichzeitig neue Bedeutung. Der Untertitel des Romans verweist auf eben diese im Verborgenen stattfindende und sich zugleich selbst ausstellende Arbeit der Literatur. Mynonas Schreiben ist angetrieben von dieser Dynamik. Die Schaffung von Sinn und alternativem Sinn unterliegt bei ihm einem kombinatorischen Mechanismus der Autopoiesis, der den Anagrammdichter vom Schöpfer zum „Schöpflöffel“239 macht und damit ähnlich wie die Umkehrgedichte des Narren Salomon auf die medientechnologische Seite der Literatur verweist, die angesichts des Konkurrenzmediums Film hervorgekehrt wird. Während so auf den ersten Blick eine Ähnlichkeit zwischen Text und Film aufscheint, betont Mynonas Anagrammatismus gerade die genuine Potenz des Textes: Schließlich ist „die Anagrammatik […] ein Spiel mit dem Alphabet, mit dessen Buchstabenset sich buchstäblich alles machen lässt.“240 Und genau darin zeigt sich die Literatur dem bloß abbildenden Medium Film überlegen. 237  238 

Vgl. Barthes: Le plaisir du texte, S. 100. Greber: Textile Texte, S. 171. 239  Ebd., S. 224. 240  Ebd., S. 212 [Herv. KJ].

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Obwohl Mynona einer der ersten Schriftsteller war, der das dekonstruktive Potenzial filmischer Montage in einem Roman narrativ zu fassen versucht, gibt er sich dieser Faszination dennoch nicht vollständig hin, sondern versetzt seinen Text mit Markierungen, die davon zeugen, dass Literatur schon wesentlich länger als der Film eine „Kombinationskunst“ ist.241 Hier setzt sich der Text mit dem Film in ein mediales Konkurrenzverhältnis, das – indem ‚Film‘ als geschriebene, mit literarischen Mitteln erzählte Filmimagination ausgestellt wird – vor allem dazu dient, dass sich der Text selbst bespiegelt. In der Figur des Sucram kristallisiert sich dieser Gedanke. „Sucram“ ist wie erwähnt ein Anagramm des Namens des von Friedlaender verehrten Philosophen Ernst Marcus, wobei es als exakt rückläufige Buchstabenreihe einen Sonderfall unter den Anagrammen bildet. Das unvollständige Palindrom „Sucram“ wird in Graue Magie zu einer Denkfigur filmischer Ästhetik,242 schließlich ist Sucram nicht nur Erfinder veritabler „Filmtricks“ (GM, 247), sondern kann auch als Einziger die Zeit rückwärts laufen lassen. In einer Szene kurz vor dem fulminanten Finale, dem Fest der grauen Magie, als Morvitius’ Verbrechen bereits Menschenleben fordern, stellt der Erfinder diese Fähigkeit unter Beweis: Auf einem Altar in dem bereits erwähnten Kinotempel, den Bosemann erkundete, liegt nun eine nackte Mädchenleiche, der die Gehilfen des Morvitius soeben „die Haut über die Ohren“ ziehen wollen (GM, 325). Als Sucram hinzukommt, durchkreuzt er ihre Pläne, indem er einen Filmtrick anwendet:

241 

Ebd., S. 15. Ein vollständiges Palindrom würde von vorne wie von hinten gelesen das gleiche Wort ergeben, also seinen semantischen Gehalt behalten und wie ein auf links gezogener Strumpf im Spiel der Enthüllung lehren, dass „Hülle und Verhülltes dasselbe sind“, siehe dazu Benjamin, Walter: Der Strumpf. In: Ders.: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 58. Zum intellektuell engmaschigen Verhältnis zwischen F/M und Benjamin erscheint demnächst ein Aufsatz von Florian Telsnig in dem Band Erfahrung und Zerstörung (hg. v. Christian Schulte). Im bislang unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel „Am Kreuzweg der Extreme. Notizen zu Walter Benjamins Der destruktive Charakter“ heißt es, Benjamin habe zentrale Gedanken von Friedlaender, insbesondere aus Schöpferische Indifferenz aufgegriffen und F/M sehr geschätzt: „Wann Benjamin die Schriften von Friedlaender/Mynona zum ersten Mal wahrnimmt, lässt sich nicht genau sagen, jedoch spricht viel dafür, dass er sie schon vor 1918 gekannt hat. Erstmals namentlich erwähnt wird er in einem Brief an Scholem vom 10.2.1918, in dem Benjamin ihn bittet, eine Liste von Büchern für ihn zu bestellen; u. a. die Groteskensammlung von Mynona Rosa die schöne Schutzmannsfrau […]. Am 21.5.1921 kann er dann begeistert Scholem berichten, dass er und seine Frau Dora ‚zu einer kleinen Mynona-Geburtstagsfeier bei einem seiner Bekannten eingeladen‘“ seien.

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Der Traum vom Totalen Kino Zum Altar schreitend, hob er die Hand über den geschändeten toten Leib, der wie schmelzendes Eis langsam taute, zerging, verduftete, dann aber hauchzart gerann, sich verdichtete, ja bekleidete, belebte, mit einem Seufzer der Entzückung wieder auferstand. Das Mädchen regte seine Glieder, richtete sich auf, schaute umher. Auf Sucrams magischen Wink verschwand es, bevor es Zeit hatte, sich zu besinnen. (GM, 326)

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Sucram nutzt das genuine Vermögen der Bildkünste, „alles Vergangene […] zu vergegenwärtigen“ (GM, 317), um Tote wiederauferstehen zu lassen: Das heißt den Verlauf der Zeit umkehren. Das rückwärtslaufende Namens-Anagramm verweist auf die Buchstabenebene der Schrift; das Vermögen wird zu einem von der Literatur hervorgebrachten. Der tote Leib taut, zergeht, verduftet, gerinnt, verdichtet, bekleidet und belebt sich. Die Fülle an bildstarken Verben bezeugt das Wunder. Was Greber als Potenzial des Palindroms als anagrammatischem Spezialfall beschreibt, gilt auch hier: „Weil im Palindrom die Linearität der Sprachhandlung virtuell durchkreuzbar ist, bietet es sich als Denkbild für die Reversibilität von Zeit an“.243 So stellt Graue Magie zwar das Rückwärtslaufen der Zeit als Filmtrick aus, lässt aber unterschwellig stets als eine Art autoreflexives Programm mitlaufen, dass diese Tricks hier vom Medium der Literatur hervorgebracht werden. Auf diese Weise offenbart sich, dass hinter dem totalen Filmbild die Sprache steht, und die immersive Kraft des Bildes erweist sich mit Wittgenstein als Macht des Textes: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“244 2.2.3 Das Fest der grauen Magie: der entgrenzte Film

Wenn der Rezipient bei den von Morvitius inszenierten „Privatorgien“ bereits „den Schein von der Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann“ (GM, 210), dann erreicht diese „Kunst der Vorspiegelung, der Verwandlung des Seins in den täuschendsten Schein“ (ebd.) ihre Vollendung beim Fest der grauen Magie, bei dem Sucram die Regie übernimmt.245 Hier kulminiert Mynonas Kino-Roman in einer Präfiguration des Totalen Kinos.

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Greber: Textile Texte, S. 182. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt: Suhrkamp 1967, S. 67 (Herv. i. O.). 245  Anders als es eine Friedlaenders Philosophie affirmierende Lektüre nahelegen würde, wird im Folgenden das Fest der grauen Magie nicht als Überwindung des Filmischen 244 

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Das Fest ist „ein Wahrtraum“ (GM, 350) und stellt damit innerhalb des Romans die maximale Annäherung an die Totalkinematographie dar. Gleichzeitig rückt es diese in einen politischen Kontext, der dem Narrativ eine neue Ebene einschreibt und symptomatisch für die Zeit ist, in der Graue Magie verfasst wurde. Norbert Bolz nennt Friedlaender einen Vertreter jener „philosophischen Extremisten“ zwischen den beiden Kriegen, die es sich zur Aufgabe gemacht hätten, die dissoziierenden Auswirkungen der Moderne zu untersuchen.246 Die Dissoziation dringt durch die Kriegsmetaphorik in Graue Magie ein, wobei die Zerrüttung der Wahrnehmung mit der Kinoerfahrung verknüpft wird: Krieg und Kino, Politik und Ästhetik werden zu interagierenden Metaphernfeldern.247 Als panoptisches Medium realisiert das Kino bei F/M „das Phantasma der ‚Massenbezwingung‘ durch Massenmedien“.248 In diesem Panoptismus sieht Sabine Haupt eine Fluchtlinie, die Graue Magie mit Villiers’ L’Ève future verbinde; demnach erzählen beide Romane „die kinematographische Herstellung einer totalen, ja totalitären Wirklichkeitssimulation“.249 Wenn Haupt in diesem Zusammenhang allerdings von einem „gigantischen Umwandlungspro-

durch das Magische gelesen, sondern der Fokus auf die deutliche totalkinematographische Metaphorik dieses Ereignisses gelegt. Insofern fühlt sich die vorliegende Lektüre vor allem einer kritischen Betrachtung filmästhetischer Reflexionen in Graue Magie verpflichtet und liest gewissermaßen Mynona gegen Friedlaender, um den Roman für ein tieferes Verständnis des Narrativs vom Totalen Kino in Stellung zu bringen. 246  Vgl. Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München: Fink 1989, S. 10. 247  Zum Krieg als Wahrnehmungspoetik siehe auch die Arbeit von Julia Encke, die untersucht, wie in der Zwischenkriegszeit die totale Mobilmachung bei Jünger, Musil und Kafka zum ästhetischen Programm wird: Encke, Julia: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. München: Fink 2006. Außerdem bietet Godards Film Les Carabiniers (1963) eine ganz ähnliche Reflexion über den Zusammenhang zwischen Kino und Krieg wie Graue Magie: Der Film, der mit einem Borges-Zitat über das Potenzial ‚abgenutzter Metaphern‘ einsetzt, ruft nicht nur einmal mehr die Legende vom Film-Zug auf, den der Protagonist bei seinem ersten Kinobesuch mit einem realen Zug verwechselt. Zudem löst der Besuch des Soldaten im Kino ein, was sich der junge Mann vom Krieg versprochen hatte: die Befriedigung seines Voyeurismus durch den Blick auf den weiblichen Körper. Allerdings zerstört er die filmische Illusion – gerade weil der Betrachter den Schein mit dem Sein verwechselt. 248  Werber, Niels: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. München: Hanser 2007, S. 249. 249  Haupt: Schöpfung, Magie, Kunst und Technik, S. 175. Wobei Haupt Friedlaender irrtümlich auf den Vornamen „Saul“ tauft. Sie geht nicht auf Bazins Mythos vom Totalen Kino ein, obwohl sie von einer totalen Wirklichkeitssimulation spricht.

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zess“ spricht, dem die Natur zum Opfer falle,250 so mag diese Interpretation für Villiers’ Roman gelten, in Graue Magie liegen die Dinge allerdings komplizierter: Statt mit einer Umwandlung der Natur in Film hat man es hier eher mit einer Entgrenzung des Filmischen zu tun. Das Totalmedium, das Morvitius und Sucram realisieren, lässt sich nicht als Verwandlung von Leben in Film beschreiben, sondern eher als ein Prozess der Diffusion: Das Totale Kino dringt in jede Ritze des menschlichen Alltags, bis die Realität nicht mehr als solche zu distinguieren ist. In der schwelenden Auseinandersetzung zwischen Morvitius und Sucram bedeutet das Fest der grauen Magie eine Machtverschiebung, wenn auch keinen grundsätzlichen Machtwechsel, schließlich verfolgen beide die Verwirklichung des Totalen Kinos – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Obwohl Morvitius „seine Leute so geschickt unter die Gäste zu verteilen versucht, daß sie eine Kontrolle ausüben konnten, die er im Auge und in der Hand behalten wollte“ (GM, 338), übernimmt Sucram bei dem Spektakel die Regie: Er lässt Morvitius’ Sitzordnung in letzter Minute ändern – und verändert damit das Dispositiv selbst, das nun als positiv gewendete „Walpurgisnacht“ (GM, 309) nicht mehr die Vernichtung, sondern den Frieden feiern soll. Inszeniert wird dieses Spektakel wie das Ende eines Krieges. Berlin ist beflaggt „wie bei einem militärischen Siege“, an allen „Hauptstraßen flattern Fahnen“, was „auf die Ausländer demonstrativ wirken“ soll (GM, 330). Tatsächlich sind Vertreter aus aller Welt anwesend, als Sucram sein Werk, ein „atemberaubendes Wunder“, präsentiert: Er hat die Erde kopiert (GM, 332). Am nächtlichen Himmel über Berlin erscheint eine „Miniaturgegenerde“, die der Erde „wie aus dem Gesicht geschnitten“ gleicht (GM, 332): Kontinente, Ozeane, Metropolen können die Festbesucher „unschwer herauserkennen“ (ebd.). Zwischen dem realen Erdboden und dem verkleinerten „Spiegelbilde“ des Globus verlaufen „lange silberne, gezahnte Schienenstränge“ (GM, 331). Auf denen gleitet nun „mit sausender Geschwindigkeit […] ein goldglänzender Eisenbahnzug aus dem himmlischen Erdstern zum Rondell hernieder“ (GM, 332). Hier wird einmal mehr deutlich, wie stark F/Ms Idee einer „Vernunftmagie“ (GM, 298) mit der kinematographischen Vorstellungswelt verbunden ist: Wenn auch Sucram als „Vernunftmagier“ (GM, 287) über Morvitius’ Filmtricks hinausgehen wollte, so bleibt doch der Text metaphorisch im Register des Filmischen. Mit der Kopie der Erde, also sämtlicher empirisch erfahrba-

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Ebd., S. 176.

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rer Natur, übertrifft Sucram die Mimesis-Paradigmen der Kunstgeschichte und übersetzt sie ins Medium des Films. In der Miniaturgegenerde und dem Zug, der das Publikum zu ihr bringt, vereinen sich die beiden Gründungsmythen des Kinos: Die Szenerie spielt nicht nur auf Lumières Arrivée d’un train an, sondern auch auf dessen „Pendant“, Méliès Le Voyage dans La Lune.251 Damit bringt F/M die phantastisch-magische Tradition des Zaubertrick-Filmemachers Méliès mit der realistisch-dokumentarischen Tradition der Lumières zusammen – und verknüpft zwei komplementäre, miteinander in „chiastischer Weise“ verschränkte Stränge der Kinogeschichte.252 Mynona inszeniert hier das Totale Kino als Heterotopie, die buchstäblich im Nirgendwo schwebt, also einen „lieu de nulle part“ darstellt.253 In ihrem „pouvoir de juxtaposer en un seul lieu […] plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles“ liegt der heterotopische Charakter dieser Gegenerde, dessen Ursprünge hier metaphorisch in Szene gesetzt werden.254 Die beiden Gründungsmythen der Filmgeschichte werden sogar noch übertrumpft, denn Sucrams Filmzug braust nicht nur auf die Zuschauer zu, um kurz vor ihnen zum Stehen zu kommen – was hier schon keinem mehr angst und bange macht; man kann sogar in ihn einsteigen. So gleitet der Zug, jetzt vollbesetzt, „lautlos, wie er gekommen war, […] wieder aufwärts“ (GM, 334). Infiltration und Immersion sind hier tatsächlich untrennbar miteinander verschränkt. Der Planet, auf den die Rezipienten hier befördert werden, tut sich „gleich einer Blumenknospe auf und empfing die kommenden Bewohner in seinem Innern, das mit einem Lichte von bunter Sanftheit erfüllt, ein einziger Festsaal aus kristallenen Grotten mit spiegelnden Wänden und Fußböden zu sein schien“ (GM, 334). Die künstliche Erde wird zum Immersionsraum, der die Rezipienten in der Illusion empfängt. Die Abbildhaftigkeit der Miniatur-Erde konterkariert den artifiziellen Charakter ihres Inneren, wo alles Licht und Spiegel ist. Sucrams Publikum erhält hier Einblick in das Innere des Projektionsapparats. Die Illusion verliert aber dennoch nicht ihre Überzeugungskraft, schließlich wirkt der gereichte Wein „die Differenzen des Bewusstseins

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Wilke: Medien der Unmittelbarkeit, S. 86. Zu den beiden „Gründungslegenden der Kinematographie“ und ihrem poetologischen Gehalt siehe Kammer: Poetik des Zauber(n)s, v. a. S. 29ff. 253  Foucault, Michel: Des espaces autres. In: Ders.: Dits et écrits. 1954–1988. Band IV. Paris: Gallimard 1994, S. 752–762, hier S. 757. 254  Ebd., S. 758. 252 

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vertilgend“ (GM, 335). So scheint mit dieser Gegenerde „die Errichtung eines ‚totalen Medienraums‘“255 gelungen. Morvitius hatte es in den Wochen vor dem großen Fest allerdings weniger auf die Perfektionierung der künstlerischen Darbietung abgesehen, sondern auf Macht, Politik, „Erdherrschaft“ (GM, 253). Obwohl Sucram und Morvitius beide als Filmemacher zu betrachten sind, klafft hier der größte Unterschied zwischen ihnen: Sie stehen für zwei Seiten des Mediums, die künstlerisch-visionäre einerseits und die industriell-materielle andererseits. Beide Seiten gehören – und hier kommt die „polaristische Strategie“256 in Friedlaenders Denken zum Tragen – zusammen, sie heben sich nicht auf, sondern bringen erst gemeinsam das Potenzial des Kinos hervor. Morvitius’ Rolle ist klar definiert: Der Unternehmer ist „ein fanatischer Macht- und Geldmensch“ (GM, 111), der „die Menschen nach seinem Willen zu lenken“ versteht (GM, 119). Dass er Bosemann zum unfreiwilligen Filmdarsteller macht, ist nur ein Beispiel dafür. Morvitius spricht gegenüber Sucram selbst immer wieder von seinem „eigentlichen Ziel, der Erdbeherrschung“ (GM, 129). Dieses will er mit Hilfe von Sucrams Magie erreichen (vgl. GM, 177). Seine Macht ist die Macht der Inszenierung, die Macht des Spektakels. Sein Name trägt dies bereits an die Oberfläche: „[D]er Kurbeljupiter Morvitius (klingt das nicht wie Totleben?)“ (GM, 108). Der Mors-vitius ist eine Verkehrung des Lebens, das Untote in Bewegung. „Le spectacle en général, comme inversion concrète de la vie, est le mouvement autonome du non-vivant“.257 Was Guy Debord über das Spektakel schreibt, trifft auch auf das Unternehmen des Morvitius zu. Dieser macht das Spektakel zum Mittel und zum Zweck seiner totalitären Strategie und begründet damit ein weiteres Charakteristikum der spektaklistischen Gesellschaft: „Le spectacle est le moment où la marchandise est parvenue à l’occupation totale de la vie sociale. Non seulement le rapport à la marchandise est visible, mais on ne voit plus que lui: le monde que l’on voit est son monde.“258

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Werber: Medien der Immersion, S. 59. Bei der Begriffsfindung bezieht sich Werber auf Werneburg, Brigitte: Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik. In: Müller, Hans-Harald/Segeberg, Harro (Hg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. München: Fink 1995, S. 39–57, hier S. 44. 256  Thiel: Die Hyperamerikanisierung Europas, S. 36. 257  Debord: La Société du Spectacle, S. 3. 258  Ebd., S. 25 (Herv. i. O.).

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Das Spektakel dient Morvitius zur Demonstration seiner Macht, schließlich ist es „la spécialisation du pouvoir, qui est à la racine du spectacle“.259 So will Morvitius zum Fest der grauen Magie „führende Politiker“ einladen und „vor ihnen mit unseren Machtmitteln“ spielen (GM, 274). Diese Mittel sind kinematographisch; das Kino ist sein „Kommandomedium“, denn die „Macht über die Massenmedien zielt immer auf totale Formen der Herrschaft“.260 Ein Teil von Morvitius’ Machtstrategie ist es deshalb, überall zugleich zu sein. Nicht nur dank der Tarnkappenfunktion der Schärpe, sondern auch durch sein Film­unternehmen gibt es kaum noch etwas, wobei er „nicht die Hand im Spiel hätt[e]“ (GM, 74). Überall in Berlin stehen die Operateure mit einem ihrer „stelzbeinigen photographischen Apparate“ (GM, 92) und kurbeln. In der Folge will das Filmunternehmen sogar noch die Phantasmen der Literatur übertrumpfen – auch dies ein Hinweis darauf, dass in Graue Magie Literatur und Film gegeneinander in Stellung gebracht werden: Der Wells mit seinem ‚Unsichtbaren‘ ist nichts gegen die neue Erfindung Doktor Sucrams, die bestimmt ist, aus dem Film ins Leben zu treten. Bald wird man Film nicht mehr von Leben unterscheiden können. Wir werden aus Menschen lebendige Filmfiguren machen, die wir nach Belieben töten und beleben. (GM, 123)

Morvitius’ Plan ist brutal und kompromisslos: Er will das Totale Kino. Graue Magie zeigt, dass dieses Unterfangen auch mit einem biopolitischen Totalitarismus einhergeht. „Die gezielte Auflösung der Grenzen zwischen ‚here and there, near and far, fact and fiction‘ in der Virtualität immersiver Simulationen, die Bosemann erleben muß“,261 ist der Kern von Morvitius’ Projekt. In dieser Phänomenologie der Entgrenzung ähnelt sein Kino dem Totalen Krieg. So scheint schon in Mynonas Schreiben auf: „La guerre c’est du cinéma et le cinéma c’est la guerre“.262

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Ebd., S. 11. Werber: Die Geopolitik der Literatur, S. 251. 261  Ebd., S. 252. 262  Virilio: Guerre et Cinéma, S. 35, Herv. i. O. Interessanterweise leitet Virilio die Verknüpfung von Kino und Krieg auch von der legendären Massenpanik angesichts des Zugfilms der Lumières ab und damit vom Narrativ des Totalen Kinos selbst. Seiner Argumentation nach setzte mit der Gewöhnung an Bilder wie jene vom einfahrenden Zug eine Rezeption ein, die den Tod zunehmend amüsant fand und vom Kino immer mehr Tote verlangte. Damit liegt die Wurzel des Zusammenhangs zwischen Totalem Kino und Totalem Krieg im Ursprung des Narrativs vom Totalen Kino selbst. 260 

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Obwohl Friedlaender selbst Pazifist war und aufgrund seines chronischen Asthmas und wohl auch dank erfolgreichen Simulierens nicht im Ersten Weltkrieg kämpfte,263 hat der erste Totale Krieg der Weltgeschichte ihn tief getroffen und sein Schreiben beeinflusst. So bringt bereits die 1916 verfasste Groteske Krieg, sagte der Irrsinnige, Krieg ist unmöglich – ist ewig unmöglich die kinematographische Wahrnehmung mit der Kriegserfahrung zusammen. Dort schreibt Mynona über den Pazifisten Hastenpiep: „Im übrigen, sollte man meinen, müßte doch der Anblick eines Schlachtfeldes, ja schon eines gemalten, losgehender Kanonen, Verwundeter und Gefallener von der heilsamsten Wirkung sein“,264 weshalb ein „kinematographischer Projek­tions­ apparat“265 zum Einsatz kommt, um die Grauen des Krieges vorzuführen: Auf dem Schirm erschien das furchtbarste Gemetzel. Ganze Reiterregimenter hingemäht. Explodierende Granaten. Zeppelins, aus denen Bomben auf zerberstende Stadtteile fielen. Gasangriffe. Die ganze schöne Theatralik des Krieges bis auf das Massengrab und das ententefreundliche Neutralien. Krieg auf und unter der Erde, in Lüften, auf und in Wassern und in den sogenannten Seelen, wie sie sich auf gegnerischen Antlitzen so unselig spiegeln.266

Der Kriegsheimkehrer Hastenpiep beschreibt den Krieg als ein Phänomen, das nicht nur auf, über und unter der Erde wütet, sondern auch in den Seelen.267 Der Totale Krieg bedeutet die totale Affizierung. Dem Kinematographen ist eine ähnliche Wirkung zu eigen, weshalb dieser Apparat in dem Text als Möglichkeit erwähnt wird, um den Krieg durch mediale Vermittlung auch denen aufzuzwingen, die ihn nicht miterlebt haben. Nur so ließen sich die Menschen zu Pazifisten erziehen. Hastenpiep will seine Kriegserfahrung über das Kino mit den Zuschauern teilen, Film wird zum „Mittel“, um „jedem beliebi263 

Den Hinweis auf Friedlaenders Simulation einer geistigen Behinderung bei der Musterung für den Kriegsdienst verdankte diese Arbeit wie andere Details zu F/Ms Biographie seinem Herausgeber und Nachlassverwalter Hartmut Geerken. 264  Friedlaender, Salomo/Mynona: Krieg, sagte der Irrsinnige, Krieg ist unmöglich – ist ewig unmöglich (1916). In: Ders.: Grotesken I. Gesammelte Schriften, Band VII (hg. v. Hartmut Geerken u. Detlef Thiel). Herrsching: Waitawhile 2008, S. 276–288, hier S. 276. 265  Ebd., S. 283. 266  Ebd., S. 284. 267  Diese Beschreibung ähnelt jener, die Carl Schmitt 1937 gibt: „Die verschiedenen Waffengattungen und Kriegsarten, Landkrieg, Seekrieg, Luftkrieg prägen die Totalität des Krieges in verschiedenartiger Weise aus. Um jede dieser Kriegsarten wölbt sich eine ihr in besonderer Weise zugehörige Welt von Vorstellungen und Begriffen.“ Siehe ­Schmitt: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, S. 236.

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gen Menschen wenigstens auf Minutendauer den Blick – wie soll ich sagen – einzu ….. massieren, den ich permanent am Leibe habe“.268 Das Einmassieren dieses Blicks geschieht durch die spezifische rezeptionsästhetische Wirkung des Kinos, dessen Immersions- und Affizierungseffekte auf den Körper des Zuschauers wirken. Das „Waffensystem Filmkamera“ wird auf den Menschen angesetzt.269 In Graue Magie macht sich der Filmunternehmer Morvitius die kriegsähnliche Wirkung des Kinos zunutze – aber nicht, um Pazifisten zu erziehen, sondern um seinen Krieg mit kinematographischen Mitteln gegen die Berliner Bevölkerung zu führen. Es geht ihm dabei nicht um ein Einimpfen der Kriegserfahrung, er forciert das Übergreifen des Krieges auf die Sphäre des alltäglichen Lebens und damit den Totalen Krieg in Analogie zum Totalen Kino. Der Roman zeugt von den Eindrücken des zurückliegenden Krieges, der mit seinem Massentod in den ‚geordneten‘ Materialschlachten der Westfront und dem nicht weniger massenhaften Sterben im ‚wilden Krieg‘ im Osten […] Vernichtungsprinzipien offenbart, welche die bis dato gültigen bürgerlichen Zivilisationsstandards in eine so tiefe Krise stürzten, daß es danach kein einfaches Zurück zur ‚Normalität‘ mehr geben konnte.270

Krieg und Kino werden in Graue Magie zu Mitteln der Verunsicherung der Bevölkerung und zur Durchsetzung von Macht. Wenn Elsaesser/Hagener Zuversicht und Vertrauen in Film und Medien ab dem Zweiten Weltkrieg gebrochen sehen, setzen sie diesen Bruch also zu spät an, denn bereits bei F/M zeigt sich dieses Vertrauen grundlegend erschüttert.271 In der Art und Wei-

268  Friedlaender/Mynona: Krieg, sagte der Irrsinnige, Krieg ist unmöglich – ist ewig unmöglich, S. 284. 269  Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S.195. Allerdings lässt F/M anders als Kittler und Virilio in diesem Zusammenhang auch eine positive Deutung zu, die bereits anklang: Das ‚exzentrische‘ Nachempfinden des Krieges soll Pazifisten hervorbringen. F/M äußert sich unter anderem in seinem Text Das kosmische Gehirn ausführlich über Ernst Marcus’ Theorie der ‚exzentrischen Empfindung‘. Siehe Friedlaender/Mynona: Das kosmische Gehirn, S. 676–682. 270  Imbusch: Moderne und Gewalt, S. 530. 271  Vgl. Elsaesser/Hagener: Filmtheorie zur Einführung, S. 40f. Die Autoren betrachten in der Folge Bazins realistische Filmtheorie als Versuch, „sich das schuldbeladene Medium erneut anzueignen und wieder Vertrauen in seine realitätsbildende und wirklichkeitsschaffende Kraft zu fassen“. Bazin lehnte demnach den Schnitt „als allzu schuldbeladen ab“ (ebd., S. 41). Hieraus ergibt sich eine argumentative Linie, die von Graue Magie, wo die Möglichkeiten der Montage tatsächlich für Verbrechen missbraucht werden, zu Bazin führt.

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se, wie Morvitius das Totale Kino denkt und zu realisieren versucht, ähnelt sein Projekt dem, was Ludendorff wenige Jahre später in seinem Propaganda-Pamphlet über den Totalen Krieg schreibt. Wie der Weltkrieg erfasst auch Morvitius’ Filmgesellschaft „unmittelbar Leben und Seele jedes einzelnen Mitgliedes der kriegführenden Völker“.272 So trägt sein Kinoprojekt bereits Züge des Totalitären, das wenige Jahre später politische Realität werden sollte: Wie der Totale Krieg ist in Graue Magie das Kino „vollständig entgrenzt“ und basiert auf der „versuchte[n] Herstellung totaler Kontrolle“ mittels Massenmedien und Propaganda.273 Morvitius’ Filmexperimente gehen, je länger sie dauern, auf Kosten der Menschen in Berlin: Dort ist bald niemand mehr seines „ungekurbelten Daseins sicher“ (GM, 109) – und letzten Endes seines Daseins überhaupt. „Seine Kurbler sind allgegenwärtig“ (GM, 154), wobei die Allgegenwart der Kameras Voraussetzung und Symptom der Entgrenzung zugleich ist. Der Krieg, den Morvitius gegen die Bevölkerung von Berlin führt, hat eine ebensolche „geisterhafte Front“, wie Benjamin sie für den Totalen Krieg beschreibt: „Eine Front, die gespenstisch bald über diese, bald über jene Metropole, in ihre Straßen und vor jede ihrer Haustüren vorgerückt wird“.274 Wie der Krieg bedroht das Kino das Leben, denn es dient „dem Schein“ (GM, 125). Den Eintritt in die Scheinwelt des Films bezahlen immer mehr Darsteller mit dem Leben, wie einer von Morvitius’ Angestellten bemerkt: Ein toller Kerl! So etwas von Filmraserei ist mir in sämtlichen Erdteilen noch nicht begegnet. Hast du die Statistik der Unfälle im Betrieb gesehen? Um da nicht Unannehmlichkeiten zu haben, muß man sich mit den Behörden aller Länder bis in die Regierungen hinein gut stehen. Ein gar nicht so geringer Prozentsatz des menschlichen Materials ist ganz einfach verschwunden. Ob Morvitius bis in die höchsten Grade hinauf seine Schmiergelder verstreicht? Es scheint mit der allerstärkste Großbetrieb und wird auch als Großmacht respektiert. Jetzt sollen, wie im

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Ludendorff, Erich: Der totale Krieg. München: Ludendorffs Verlag 1937, S. 5. Friedlaender kannte Ludendorff, er widmet ihm sogar einen kleinen Auftritt in Graue Magie, verklausuliert als „Leutnant Ludenstadt“, und lässt ihn „zum soundsovielten Male“ über „den ‚Dolchstoß‘“ reden (GM, 337) und davon träumen, „die janze Erdkiste in der Hand“ zu haben (GM, 345). Am Ende allerdings ist der Leutnant plötzlich verschwunden, wie alle „Verwaschenheit der Natur“ (GM, 348). 273  Imbusch: Moderne und Gewalt, S. 526 und 529. 274  Benjamin, Walter: Die Waffen von Morgen. Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloäthylsulfid. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band IV. Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 473–476, hier S. 473.

SALOMO FRIEDLAENDER / MYNONA | GRAUE MAGIE Kriege, Verlustlisten geführt werden. An die zurückgebliebenen Angehörigen der Verschollenen werden erkleckliche Trostsummen geblecht. (GM, 118, Herv. i. O.)

Verlustlisten werden sonst auf dem Schlachtfeld geführt, nun aber mitten in Berlin. Die Morvitius Film-G.m.b.H. ist eine „Großmacht“ und wie eine solche verlangt sie in Kriegszeiten Menschenleben. Seine Darsteller sind für den Filmunternehmer nur „Material“. Dieser Beschreibung nach ist Morvitius des vielfachen Mordes schuldig. Sein Film, der zunächst nur auf Unterhaltung und Kassenerfolge ausgerichtet schien, erweist sich als letale Biomacht.275 Es geht dieser neuen Macht nicht mehr um die einzelnen Individuen, sondern um „Fragen des Lebens allgemein“,276 ja um ein neues Weltbild, das sich anhand der Kinoerfahrung analog zur Kriegserfahrung ausbildet. So schreibt Carl Schmitt über den neu aufgekommenen Luftkrieg: […] es gibt noch kein Weltbild des Luftkrieges, das den vom Landkrieg und vom Seekrieg her gewonnenen Vorstellungswelten entspräche. Doch wird auch heute schon durch den Luftkrieg die Gesamtgestalt eines dreidimensional totalen Krieges wesentlich beeinflußt.277

Analog dazu liest sich die bereits zitierte Schirmflieger-Passage aus Graue Magie wie der Einbruch jener neuen Vorstellungswelt; die neue Perspektive ist die des Piloten im Luftkrieg. In der Engführung von Krieg und Kino formuliert F/M eine brisante und zugleich im Hinblick auf die zeitgenössische Geschichte erschreckend hellsichtige literarische Vision der Kinematographie. Er hebt das Problem des Totalen Kinos auf eine politische Ebene, die von der ästhetischen jedoch nicht zu trennen, sondern vielmehr mit dieser eng verwoben ist: In der Unhintergehbarkeit des filmischen Realitätseindrucks, dadurch also, dass Schein und Sein im Film kaum noch zu unterscheiden sind, liegt die biopolitische Macht des Morvitius-Film.278 Bosemann formuliert es so: „Der Film wird zum mo-

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Dieser Machttyp löst jenen ab, „der die Körper der Einzelnen in bestimmten, heterotopisch genannten Räumen abschließt, überwacht und diszipliniert“. Siehe dazu Ott, Michaela: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur. München: Richard Boorberg Verlag 2010, S. 349. 276 Ebd. 277  Schmitt: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, S. 237. 278  Auch Werber unterstreicht die „biopolitischen Implikationen“ von Morvitius’ Projekt, siehe Werber: Die Geopolitik der Literatur, S. 254.

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dernen Moloch – Menschenopfer.“ (GM, 151) Er ist sprachlos angesichts der Verbrechen, die Morvitius unter dem Deckmantel des Films begeht. Die elliptische Struktur dieses Satzes verstärkt die Aussage und ihren Effekt nur. Schließlich wurde Bosemann selbst zum Opfer und „zu Filmzwecken vergewaltigt“ (GM, 149). Die Grausamkeiten steigern sich noch, je näher das Fest der grauen Magie rückt. Nun schreckt Morvitius auch vor Menschenexperimenten nicht mehr zurück: In Unmengen ließ er, zu horrenden Preisen, lebendes Menschenfleisch ankaufen. Mit diesen Unglücklichen wirtschaftete seine perverse Phantasie. Von absurd hoch honorierten Chirurgen ließ er das lebendige gleich totem Material künstlich zu Mißgeburten umoperieren. Der Welt gegenüber war das Verbrechen mit dem Schutzmantel ‚Film‘ bedeckt. (GM, 311)

Morvitius wird zum Doctor Moreau. Dass der Film hier als „Schutzmantel“ dient, diskreditiert diesen und schreibt ihm zugleich enorme Macht zu: Er verleiht auch realen Verbrechen den Anschein von Fiktivität, ebenso wie er umgekehrt Fiktionen wahr erscheinen lässt. So wie die Schärpe dafür sorgt, dass man durch einen „Leib hindurchgreifen“ (GM, 267) kann, oder wie Sucram Bilder tastbar macht, gerät auch hier die Grenze zwischen physischer und virtueller Realität in Bedrängnis. Indem sie die Grenze zur Fiktion streift, bleibt die zerstörerische Kraft des Films zumindest teilweise ambivalent. So erklärt Morvitius beispielsweise dem Berliner Polizeipräsidenten, dass es für ihn „kinderleicht“ wäre, solche Verbrechen, während ich nur zu filmen schiene, in der Tat zu begehen. Jener Herr Richard Bosemann zum Beispiel hat wirklich geglaubt, ich ließe jungen Mädchen die Haut abschinden und zu Tapete verarbeiten!!! Jedenfalls kann der Film gar nicht illusionistisch genug sein. Manchmal engagier’ ich Menschen, die sich verpflichten müssen, auf Jahre aus Europa zu verschwinden.“ (GM, 322)

Was ist hier Schein, was Realität? Täuscht Morvitius den Polizeipräsidenten oder täuscht er sein Publikum? Es ist jedenfalls offensichtlich, dass Morvitius’ Filme Einfluss auf die Realität nehmen – egal, ob er Menschen umbringt oder sie nur ins Exil schickt. Während umgekehrt seine Filme so realistisch wirken, dass man sie für Realität halten könnte. Morvitius betreibt ein Trickkino, das die Grenzen der Illusion durchsichtig werden lässt. Darin erweist er sich als eine frühe Inkarnation jener Diktatoren des 20. Jahrhunderts, die Virilio später als „dictateurs thamaturges“ bezeichnet, wenn er treffend daran erinnert, dass Machthaber wie Hitler oder Mussolini

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„ne gouvernaient déjà plus, mais qu’eux aussi mettaient en scène“.279 Morvitius scheint bei seinem Griff nach „der Erd- ja vielleicht der Weltherrschaft“ (GM, 262) schon zu antizipieren, was Virilio später zitiert: Hitler, qui observe attentivement les foules qui se pressent pour célébrer les messes noires du cinéma, déclare un jour en 1938 : « Les masses ont besoin d’illusion, il leur faut des illusions ailleurs qu’au théâtre et au cinéma, pour ce qui est du sérieux de la vie, elles en ont leur compte ». Le « lebensraum » nazi sera […] une extension des dimensions de l’écran-cinéma à celles du continent européen […]. Hitler ne profane que le réalisme quotidien.280

Auch der Filmunternehmer will den Massen Illusionen außerhalb des Kinos und des Theaters bieten – und opfert dafür den alltäglichen Realismus. Er arbeitet in zwei Richtungen auf die Unterminierung des Status der Realität hin: Auf der einen Seite erschafft er mit Sucrams Unterstützung ein realistisches 3D-Tastkino, das von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden ist, auf der anderen wirkt seine magische Schärpe im Wortsinne zerfetzend auf die Realität. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird also von zwei Seiten her angegriffen. Damit ist die Expansion des kinematographischen Unternehmens letzten Endes ein Angriff auf die Wahrnehmung der Rezipienten. Weil die nachhaltigste Zerrüttung der „champs de perception“281 der Weltkrieg bewirkt hat, geht auch Morivitus mit kriegerischen Mitteln vor. So ähnelt die teilweise Dematerialisierung, die Bosemanns Freund Maertel durch die zerfetzte Schärpe erfährt, stark jenen Erfahrungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg, die Paul Virilio beschreibt: „Dans le déphasage inattendu de la vision indirecte, le soldat a moins le sentiment d’être détruit que déréalisé, dématérialisé, de perdre brusquement tout référent sensible au profit d’une exagération des repères visibles“.282 Die Erfahrung auf dem Schlachtfeld wirkt als Effekt der Entfremdung auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers zurück, Ähnliches beschreibt schon Pirandello über die Selbstwahrnehmung im Film.283 Mynona geht allerdings noch deutlich weiter, indem er in Graue Magie das Kino tatsächlich als eine Massenindustrie entwirft, die „la perturbation chronologique“ sowie „la

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Virilio: Guerre et Cinéma, S. 98 (Herv. i. O.). Ebd., S. 99 (Herv. i. O.). 281  Ebd., S. 26. 282  Ebd., S. 19. 283  Virilio verweist ebenfalls auf die Schattenhaftigkeit des Schauspielers bei Piran­ dello, vgl. ebd., S. 20. 280 

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violente effraction cinématique du continuum spatial“ verursacht.284 Vor diesem Hintergrund werden sogar die eigentlich harmlos erscheinenden Flugschirme zu Metaphern für die filmenden Kampfflugzeuge des Krieges, die ein neues Weltbild ankündigen.285 Kinos sind somit bereits bei Mynona simulateurs de guerre où le visiteur est censé se retrouver dans la situation du spectateur-survivant du champs de bataille de tout à l’heure : autour de lui l’obscurité se fait presque totale, tandis qu’imitant la courbure d’un horizon marin, une côte lointaine s’éclaire doucement derrière la vitre d’un grand pare-brise panoramique […], on a donc recours ici au vieux procédé diorama qui, en rendant plus important le champ visuel, donne au spectateur l’illusion d’être projeté dans une image qui n’aurait pratiquement plus de limites.286

In Graue Magie setzt der Erzähler gegen Ende des Romans ebenfalls auf ein Diorama-Verfahren: Das Filmbild erscheint unbegrenzt, als die Handlung in das Fest der grauen Magie übergeht. Es gibt kein Außerhalb dieser Hypodiegese mehr, alles ist nun Film. Die gegenseitige Durchdringung von Film und Leben, die sich spätestens dann vollzieht, als die Gäste den Filmzug betreten, der sie auf die andere Erde bringt, wirkt als Bewegung der Entgrenzung zerrüttend auf die Wahrnehmung der Rezipienten. Abgezeichnet hat sich dieses Ineinanderlaufen von Realität und Fiktion schon vorher, als Bosemanns Tante Emmy die Ereignisse auf der Leinwand nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnte (vgl. GM, 108), während andererseits bei den grausamen Untaten von Morvitius’ Verbrecherbande „nach außen hin alles Film scheinen“ sollte (GM, 308). Weil es ihm gelungen ist, die Grenze zwischen Fiktion und Realität durchsichtig zu machen, kann Morvitius seine „Verbrechen vor den weit aufgerissenen, entzückten Augen der Polizei“ begehen (GM, 102). Sogar die Justiz würde sie für einen „Sensationsfilm werten und sich auf Kolossaldividenden freuen“ (ebd.). Physische und virtuelle Realität dringen durch gegenläufige Bewegungen der Immersion und Infiltration ineinander, wie auf den Schlachtfeldern des Weltkriegs Alptraum und Wirklichkeit ineinander verschwammen. Doch Friedlaender/Mynona lässt seinen Roman nicht in der „Psychose“ des Totalen Krieges enden.287 Am Ende war alles kaum mehr als ein Spuk, selbst von der Erfüllung der Totalkinematographie bleiben nicht mehr als „pla284  285 

Ebd., S. 26 und 36. Vgl. Schmitt: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, S. 237. 286  Virilio: Guerre et Cinéma, S. 74f. (Herv. i. O.). 287  Benjamin: Die Waffen von Morgen, S. 473.

SALOMO FRIEDLAENDER / MYNONA | GRAUE MAGIE

tonisch[e] Erinnerungen, kantisch[e] Hoffnungen“ (GM, 352). Schließlich ist der Machtanspruch des Erzählers mindestens so groß wie jener des Morvitius, weshalb nicht nur das Kino in Graue Magie stets als ein literarisch hervorgebrachtes markiert ist, sondern den Roman auch ein Epilog abschließt. Das letzte Wort hat der Erzähler, der „die so aufregende Episode in Richard Bosemanns schlichtem Leben“ (GM, 353) mit der Versicherung beendet: „Eigentlich nun sollte hier nichts erzählt werden als diese Episode.“ (Ebd.) Der Epilog löst die Verwicklungen. Wie ein Abspann nach dem Kinofilm lässt er den Zuschauern Zeit, sich wieder im Hier und Jetzt zurechtzufinden, während sie ungläubig ins Licht der Lampen blinzeln. Aber er stellt nicht bloß den Normalzustand wieder her – indem die Justiz Gerechtigkeit schafft, Ehen geschlossen werden und Bosemann wieder wie gewohnt früh zu Bett geht (vgl. 351ff.) –, vielmehr markiert gerade der Epilog eine schöpferische Indifferenz, die durch das filmische Spektakel in die Wahrnehmung der Berliner eingezogen ist. So denken sie angesichts der drohenden „Weltfriedenskatastrophe“ (GM, 352) manchmal noch an jene „Film-Illusion“ (ebd.) zurück, die sie unter Morvitius heimsuchte. Es ist am Ende eben nicht alles wie vorher, denn seine „Verbrechen haben Nachahmung gefunden“ (GM, 352), Morvitius hat sich vervielfältigt. So deutet sich an, dass sich der Siegeszug des totalkinematographischen Spektakels wohl nicht mehr bremsen lassen wird, auch dann nicht, wenn Morvitius wirklich in Mexiko gestorben ist (vgl. GM, 351). Ganz am Ende folgt schließlich eine Warnung, die es gerechtfertigt erscheinen ließe, F/M einen Propheten zu nennen: „[…] die Erde wimmelt noch von Morvitiussen, die sich zu Sucrams verstellen, Raubtieren in Menschenhaut.“ (GM, 353) Hellsichtig scheinen hier nicht nur die kinotechnischen und rezeptionsästhetischen Umwälzungen, die der Welt bevorstehen, erfasst, sondern auch die politischen. F/M hat Kino und Film anders als bisweilen vermutet wird, nicht als Inbegriff eines entfesselten Kapitalismus denunziert,288 sondern fruchtbar gemacht für ein Nachdenken über die Revolution, die das neue Medium für die Wahrnehmung und den Begriff der Realität bedeutet. Joseph Strelka betont daher zurecht, dass „Mynona früher und genauer als die meisten seiner Zeitgenossen die künftigen Bedrohungen und Katastro-

288 

Vgl. Haupt, Sabine: Traumkino. Die Visualisierung von Gedanken: Zur Intermedialität von Neurologie, optischen Medien und Literatur. In: Haupt, Sabine / ​Stadler, Ulrich (Hg.): Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur. Zürich: Voldemeer 2006, S. 87–125, hier v. a. S. 111.

267

Der Traum vom Totalen Kino

phen herannahen sah“.289 Aber er sah eben nicht nur diese, sondern auch die Hoffnungen und Potenziale. 268

289 

Strelka, Joseph: Mynona. In: Rothe, Wolfgang (Hg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern: Francke 1969, S. 623–636, hier S. 633.

2.3 Résumé: das (auto)reflexive Potenzial des Totalen Kinos

Im Fortschreiten der technischen Entwicklung des Kinos nehmen auch die literarischen Imaginationen der Kinematographie neue Züge an. Die beiden Romane von Pirandello und Friedlaender/Mynona, die hier zusammenfassend betrachtet werden, stellen frühe Zeugnisse der literarischen Auseinandersetzung mit dem neuen Medium dar, dem in den 1910er und 1920er Jahren in Italien und Deutschland wachsende sowohl wirtschaftliche als auch künstlerische Bedeutung zukam. Auch dies brachte Schriftsteller zunehmend dazu, sich mit dem Konkurrenzmedium auseinanderzusetzen.290 Im Vergleich zu den früheren Romanen von Villiers und Verne, die beide ein totalkinematographisches Abbild recht gegenständlich vor Augen stellen, stehen diese beiden Romane aus der Ära des Stummfilms in einem eher abstrakt-reflexiven Verhältnis zum Narrativ des Totalen Kinos. Sie erzählen nicht unmittelbar davon, wie ein täuschend lebendiges Abbild einen Rezipienten täuscht, sondern verknüpfen ihre Medienreflexion mit weiteren Aspekten und Beobachtungen zum Kino. So schärfen sie das Narrativ des Totalen Kinos an seinen Rändern und reichern es mit ironischen Reflexionsebenen und internen Brechungen an. *

290  Dies belegen auch diverse Anthologien, die Aussagen über das Kino von Schriftstellern aus dieser Zeit zusammengetragen haben, siehe exemplarisch: Kaes: Kino-Debatte; Schweinitz: Prolog vor dem Film; Tröhler, Margrit / ​Schweinitz, Jörg (Hg.): Die Zeit des Bildes ist angebrochen! Französische Intellektuelle, Künstler und Filmkritiker über das Kino. Eine historische Anthologie 1906–1929. Berlin: Alexander Verlag 2016.

Der Traum vom Totalen Kino

270

In Pirandellos Quaderni wird das Kino nicht nur in seinem Verhältnis zur Literatur, sondern auch zu anderen Künsten wie Malerei und Theater dargestellt. In der multiperspektivischen Mediendifferenz offenbart sich die unheimliche Macht des Kinematographen, das Eigene als Entfremdetes vor Augen zu stellen, als ein humoristisches Potenzial, das der Erzähler Serafino Gubbio, der sich zunächst als Filmfeind geriert, produktiv zu nutzen weiß. Entgegen anderen Interpretationen erweist sich in der hier vorgenommenen Lektüre der Film weniger als Auslöser der ästhetischen Krise des Erzählers, sondern eher als Reflexionsebene dieser Krise, was das Medium in einer abschließenden Betrachtung rehabilitiert und zumindest einen Teil der von Gubbio vorgebrachten Kritik insbesondere am totalkinematographischen Anspruch des Apparats zurücknimmt. Das Kino ist in den Quaderni keine bloße Metapher, es geht vielmehr mit dem Text eine fruchtbare Symbiose ein. In der gegenseitigen Bespiegelung von Text und Film zeigt sich, dass Film das Leben nicht nur aussaugt, sondern ihm auch eine Perspektive hinzufügt. Auf den ersten Blick noch fatalistischer erscheint der Blick auf das Kino in Friedlaender/Mynonas Graue Magie. Hier nutzt ein skrupelloser Filmunternehmer die technischen Möglichkeiten, um seine Schreckensherrschaft über ganz Berlin zu installieren. Das Kino erhält hier, besonders durch die im Roman verarbeitete Erfahrung des Ersten Weltkriegs als erstem Totalen Krieg, eine biopolitische Dimension. Es ist nicht nur ein wirkmächtiges Macht- und Propagandainstrument, sondern es erfasst und beeinträchtigt den Alltag der Berliner mit einer ähnlichen Totalität wie der entgrenzte Krieg, der darauf abzielt, „die letzten verbliebenen Unterschiede zwischen Fiktion und Wirklichkeit, also alles das, woran man seit unvordenklichen Zeiten sogenannte Kunstwerke von sogenannter Empirie unterschied, im Namen des totalen Krieges oder der totalen Simulation einzuebnen“.291 Diese Einebnung ist nicht anders denn als Schritt in Richtung Totalkinematographie zu verstehen. Doch auch F/M belässt es nicht bei einer bloßen Denunziation des Mediums Film, zeigt er doch auf, dass die filmische Ästhetik Potenziale bietet, die künstlerisch und erkenntnistheoretisch produktiv gemacht werden können, und verschränkt diese mit der Ästhetik von Mynonas Lieblingsgenre, der Groteske. *

291 

Kittler: Optische Medien, S. 281f.

RÉSUMÉ: DAS (AUTO)REFLEXIVE POTENZIAL DES TOTALEN KINOS

Noch deutlicher als bereits in Vernes Château des Carpathes erscheint das Kino in Graue Magie als ein immersiver, heterotopischer Raum, den zu betreten fatale Konsequenzen für den Rezipienten haben kann. Während Nic Deck im Inneren des Schlosses einer geisterhaften Erscheinung gegenübersteht, sieht Richard Bosemann in Morvitius’ Filmstadt die fundamentalen Kategorien seiner Wahrnehmung bedroht. Denn der Filmunternehmer beherrscht in Zusammenarbeit mit Sucram nicht nur die Kunst, optophonetische Tastbilder zu erzeugen, die von der Realität nicht mehr unterscheidbar sind, sondern auch die Kunst der Montage. In keinem anderen Roman im Korpus dieser Studie spielen deren kombinatorische und manipulative Möglichkeiten eine solch zentrale Bedeutung wie in Graue Magie. Mit dem Narrativ des Totalen Kinos ist die Montage in Graue Magie entgegen der ersten Intuition gerade deswegen verknüpft, weil sie das Potenzial besitzt, den unmittelbaren Konnex zwischen Reproduktion und Realität zu hinterfragen. Schließlich zielt Morvitius durch die Virtualisierung des Raumes ebenso wie durch die Montage-Effekte der Schärpe darauf, die Sphären von Schein und Sein zu entgrenzen. So steht das Totale Kino bei Mynona der Realität nicht nur als deren Reproduktion gegenüber; die Dynamik der Infiltration bedroht epistemologisch und existenziell den Status der wirklichen Dinge – eine Bedrohung ganz analog zu jener, die der Totale Krieg für das Leben der Zivilbevölkerung darstellt. Ähnlich sind sich Pirandellos Quaderni und Mynonas Graue Magie vor allem in der Ambivalenz der Darstellung der Kinematographie: Während der Filmskeptiker Gubbio am Ende das humoristische, reflexive Potenzial des Kinos heraustreten lässt, endet auch Mynonas Roman nicht in der Hölle des Totalen Krieges, sondern entwirft die ultimative Verwirklichung der Totalkinematographie als positiv gewendete Walpurgisnacht. Dieser kommt ein konstruktives Potenzial zu, wie Mynona es schon in der Groteske über den Kriegsheimkehrer Hastenpiep dargestellt hat: Das Kino ermöglicht einschneidende Erfahrungen – allerdings ohne zu verwunden. * Aus der Perspektive der Literatur erscheint das Kino in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als es sich von einer Jahrmarktsattraktion längst zur veritablen Unterhaltungsindustrie entwickelt hat, offenbar weniger als Konkurrenzmedium, das es zu bekämpfen gilt, denn als Phänomen, das narrativ ausgeleuchtet werden kann. Die Vision des Totalen Kinos, wie sie Villiers und Verne noch imaginierten, ist nicht eingetreten und scheint in weite Ferne gerückt. Daher können nun Romane wie Graue Magie und die Quader-

271

Der Traum vom Totalen Kino

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ni di Serafino Gubbio operatore das Kino als Stimulus für die eigene Narration fruchtbar machen und seine immersiven Räume erkunden, ohne sich der Gefahr ausgesetzt zu sehen, dass die stummen, flackernden Schwarz-Weiß-Bilder für die Literatur zu einer ernsthaften Konkurrenz erwachsen. Ihre Neugier ist spielerisch. In diesem Spiel zeigen die beiden Kino-Narrationen, dass das Kino nicht nur Täuschung ermöglicht, sondern auch Erkenntnis. Mit Bezug auf die zu Tage getretenen Neu-Interpretationen von Platons Höhlenmythos kann man somit konstatieren: „Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe.“292 Das Kino lädt nicht nur ein, die Schatten zu betrachten, sondern kann ebenso auch aus der Schattenwelt hinausgeleiten – insbesondere dann, wenn es wie in Graue Magie klar als literarisch hervorgebrachtes Spektakel zu Tage tritt: Hier macht die gewebte Textur der Schärpe Morvitius’ Filmtricks überhaupt erst möglich. Insofern enthält Mynonas Roman eine starke autoreflexive Ebene, die die mutmaßliche Konkurrenz zwischen Literatur und Film hinterfragt. Diese Autoreflexivität der Literatur und ihr ironischer Blick auf die eigene Medialität verbindet Mynonas Roman mit jenem von Pirandello und bringt gleichzeitig eine neue Qualität in das Narrativ des Totalen Kinos, das sich hier selbst als literarisch hervorgebracht erkennt und reflektiert. * Somit setzen die beiden Romane einen Kontrapunkt innerhalb des Narrativs vom Totalen Kino, da sie nicht einfach den Topos einer virtuellen Realität, die von der physischen nicht mehr zu unterscheiden ist, reproduzieren, sondern das Narrativ gegen den Strich bürsten. Indem Mynona den Fokus auf die Montage und damit auf die rhetorische Seite des Mediums legt, denkt er Film nicht als visuelle Phonographie, als getreue Eins-zu-eins-Abbildung der Realität, sondern als manipulatives Medium. Morvitius und Sucram erschaffen zwar eine Kopie der Welt, die als totalkinematographisch zu bezeichnen ist, zerfetzen aber zugleich die Realität im Wortsinne durch die Tricks der Schärpe. Der Roman hinterfragt damit den Realitätsbegriff, der als Gegenbegriff zur technischen Simulation im Zentrum des Narrativs des Totalen Kinos und gleichzeitig unter kritischer Beobachtung durch die Künste der Moderne steht.293

292 

Heraklit DK B 60, in: Die Vorsokratiker. Stuttgart: Reclam 1987, S. 261, zit.n. Kiening / ​Beil: Urszenen des Medialen, S. 74. Siehe dazu auch das Schlusskapitel. 293  Vgl. Knaller: Die Realität der Kunst, S. 12.

RÉSUMÉ: DAS (AUTO)REFLEXIVE POTENZIAL DES TOTALEN KINOS

F/M lehnt in der Tradition Kants den totalkinematographischen Impuls, „[d]ie Grenzen zwischen Film und Realität, Privat und Öffentlich, Tod und Leben zu sprengen“ zwar grundsätzlich ab.294 Da er seine Literatur ebenso wie seine Philosophie aber als ständiges Spiel mit Differenzen und Verkehrungen betreibt, thematisiert er das Totale Kino eben doch – nicht, um es am Ende auszustreichen, sondern um es schöpferisch zu dekonstruieren. * Auf ähnliche Weise schreibt sich auch Pirandello dem Narrativ des Totalen Kinos ein. Sein autoreflexiver Blick hinterfragt die Ästhetik und den Anspruch der Literatur der Moderne: Pirandello’s humoristic deconstruction works through the transmedial representation of a ‚commercial and mechanical‘ art (cinema) in a traditional and sublime genre, but the result is not, as we could suppose from the beginning, that we have to defend the latter against modernization.295

Die Literatur muss in keinem der beiden Romane gegen den Film verteidigt werden, sie demonstriert in beiden Werken ihr eigenes Potenzial auch und gerade auf der Ebene der Medienreflexion. So zeugen die beiden Texte von einem Verständnis der Mediendifferenz, das man mit Hansen-Löve als metonymisch bezeichnen kann, da es „jedem Medium prinzipiell den gleichen Kultur- und Erkenntniswert zugesteht, nichtsdestoweniger aber die strukturellen und konstitutiven Unterschiede der Erkenntnisart, der Denkstrukturen und der konstruktiven bzw. semiotischen Prozesse […] reflektiert und thematisiert“.296 Sowohl Graue Magie als auch den Quaderni geht es weniger darum, eine Hierarchie zwischen Wort- und Filmkunst zu festigen, vielmehr offenbaren die Texte ein Interesse an dem neuen Medium, das weder in eine Denunziation des illusionistischen Totalmediums noch in naive Film-Mimesis mündet. So zeigt sich am Ende der gemeinsamen Betrachtung der Romane von Mynona und Pirandello, dass hier die Literatur in ihrer Reflexion des Kinos dem

294  Thiel: Hyperamerikanisierung Amerikas, S. 51. Thiel schreibt weiter: „Die Aufhebung der Differenz, die für den Film konstitutive Verwechselbarkeit mit Realität entspricht derjenigen, vor der Kant stets warnt: der Verwechslung von Wahrheit und transzendentalem Schein.“ (Ebd.) 295  Rössner: Mise en abyme and Transmediality: Mediatizing Media, S. 125. 296  Hansen-Löve: Intermedialität und Intertextualtität, S. 32.

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imaginierten Film selbstbewusst ihre eigenen Möglichkeiten entgegenhält. Dieses Selbstbewusstsein der Literatur, das zu spielerischen und mitunter ironisch gebrochenen Auseinandersetzungen mit dem Narrativ des Totalen Kinos in den beiden Romanen geführt hat, sollte durch den aufkommenden Tonfilm in Mitleidenschaft gezogen werden, wie das folgende Kapitel zeigen wird. *

Quelle: Institut Lumière

3 Wiederkehr der Phantasmagorie

3.1 Der totalkinematographische Staats‑Apparat: Aldous Huxleys Brave New World (1932)

Aldous Huxleys Anti-Utopie1 Brave New World ist, obwohl dies häufig übersehen wird, ein Kino-Roman, der auf ein entscheidendes Ereignis der Kinogeschichte Bezug nimmt: die Premiere des ersten Tonfilms in Spielfilmqualität. Der Roman entsteht, kurz nachdem Huxley The Jazz Singer 1929 in einem Pariser Kino gesehen und seinem Ärger über diesen Film und den Tonfilm im Allgemeinen in einem Essay mit dem programmatischen Titel Silence is Golden Luft gemacht hat.2 Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, Brave New World nur

1 

Mit dieser Bezeichnung unterscheide ich Brave New World von Dystopien wie beispielsweise George Orwells 1984, mit dem der Roman oft verglichen wird. Huxley entwirft im Gegensatz zu Orwell nicht eine dystopische Gesellschaft, sondern eine, in der sich diverse Utopien verwirklicht haben und nun ihre negativen Seiten offenbaren; dazu gehört neben dem Weltfrieden und der Abschaffung von Hunger und Armut auch die Vollendung des Totalen Kinos. Vgl. zum Begriff der Anti-Utopie die Arbeit von Hausmann, Matthias: Die Ausbildung der Anti-Utopie im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Von Charles Nodier über Emile Souvestre und Jules Verne zu Albert Robida (1833–1882). Heidelberg: Winter 2009. Mit dieser Bezeichnung folge ich außerdem Bernfried Nugel, Gründer der Huxley-Forschungsstelle der Universität Münster, der den Begriff der Anti-­ Utopie in Bezug auf Huxley bei einem Roundtable der AEDEAN Conference verteidigt hat (Dokumentation online: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/​ englischesseminar/huxley/bnwroundtablealmer__a2010.pdf). 2  The Jazz Singer (Alan Crosland, 1927) war der erste Spielfilm, der als talkie vermarktet wurde. Huxley hat ihn zwei Jahre nach seinem Erscheinen gesehen – und harsch kritisiert: „With many in his generation, Huxley had difficulty with the close-ups which enormously magnified the actor’s faces, the loud volume of the music, and the length of the pre-feature shorts.“ Siehe Higdon, David Leon: Wandering into Brave New World. Amsterdam: Rodopi 2013, S. 131. Es sei an dieser Stelle aber daran erinnert, dass nicht nur

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als Zeugnis einer Abwehrreaktion gegen eine Innovation der Filmindus­trie zu lesen. Vielmehr schreibt der Roman ausgehend von Huxleys Medienkritik das Narrativ des Totalen Kinos fort und fügt ihm nicht nur entscheidende Differenzierungen hinzu, sondern legt auch ihm inhärente Bruchstellen und Abgründe offen. So zeigt sich die politische Anti-Utopie in Brave New World stärker von der Ästhetik und Programmatik des Totalen Kinos geprägt, als Edgar Morin vermutet, der mit Blick auf Huxleys Feelies schreibt: „Cette anticipation timide n’est que d’une à deux étapes seulement en avance sur le cinémascope.“3 Der beginnende Siegeszug der talkies lässt Ende der 1920er Jahre die Diskussion um die immer noch junge Kunstform Film aufflammen. Die Frage nach dem mimetischen Gehalt von Kino und seinem künstlerischen Einsatz treibt insbesondere Schriftsteller dazu, sich in Essays für oder gegen Film und Kino zu positionieren. Virginia Woolf bringt in ihrer Kritik auf den Punkt, was viele Literaten jener Zeit umtreibt: „For a strange thing has happened — while all the other arts were born naked, this, the youngest, has been born fully-clothed. It can say everything before it has anything to say.“4 Dass der Tonfilm in Sachen Mimesis allen bisherigen Künsten überlegen war, ließ sich nicht abstreiten. Die zentrale Frage, die Woolf formuliert, lautet allerdings: Wozu? Was hat uns Film zu sagen? Wenn das neue Medium nur dazu dient, die Realität zu reproduzieren, was ist dann das Künstlerische an der Filmkunst? Das latente Argument gegen den Film ist ein platonisches: Die bloße Kopie der Wirklichkeit ist demnach nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich: „[N]aturalism, realism […] are supposed to be the mind’s morphine“.5 Virginia Woolfs Essay The Cinema erscheint im Zusammenhang mit Brave New World aber auch deshalb interessant, weil Woolfs Misstrauen gegenüber der jüngsten Kunst auf einer Verunsicherung beruht, die sie zwischen den Zeilen eingesteht: „They [the pictures, KJ] have not become more beautiful in the sense in which pictures are beautiful, but shall we call it (our vocabulary is miserably insufficient) more real, or real with a different reality from

Huxley als Laie den Tonfilm skeptisch betrachtete, ähnliche Reaktionen zeigten beispielsweise auch Eisenstein oder Arnheim, vgl. dazu Diederichs: Zur Entwicklung der form­ ästhetischen Theorie des Films, S. 25f. sowie S. 355ff. 3  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 38. 4  Woolf, Virginia: The Cinema. In: Dies: Collected Essays. Vol II. London: Hogarth Press 1966, S. 268–272, hier S. 272. 5  Hobson, Marian: The Object of Art. The Theory of Illusion in Eighteenth-Century France. Cambridge: Cambridge University Press 1982, S. 4.

ALDOUS HUXLEY | BRAVE NEW WORLD

that which we perceive in daily life?“6 Angesichts des Kinos und dem von ihm vermittelten Realitätseindruck fehlen der Schriftstellerin die Worte. Wenn es um die Frage nach dem ontologischen Status des Filmbildes geht, erscheinen Woolf die Mittel der Literatur offenbar ungenügend („insufficient“). Indem sie dieses Unvermögen formuliert, bringt sie zur Sprache, was sich nicht ausdrücken lässt. Das Narrativ des Totalen Kinos wirft die Literatur auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten zurück. Diese Verunsicherung und das Bewusstsein der Hinfälligkeit von Sprache, die im Narrativ des Totalen Kinos zu Tage treten, nähren wiederum den Konflikt zwischen den Konkurrenzmedien, der in den 1920er Jahren zunächst abgeflaut war. Kittlers Diagnose, dass der Tonfilm aus der Perspektive vieler Schriftsteller einer „Katastrophe“ gleichkam, erscheint deshalb äußerst treffend.7 Nicht nur Pirandello kritisierte, dass das Kino mit der Erfindung des Tonfilms „einen falschen Weg“ einschlage, „eben den Weg der Literatur“;8 auch Huxley drückte seine Abscheu aus gegen ein Kino, in dem die Bilder nicht nur laufen, sondern auch sprechen können: „I find nowadays that I simply don’t want to be up-to-date.“9 Von Huxleys Misstrauen gegenüber Tendenzen, die in Richtung des Totalen Kinos weisen, zeugt nicht nur sein bissiger Essay Silence is Golden, sondern auch sein bekanntester Roman. Zwar wurde Brave New World bislang kaum als Kino-Roman rezipiert,10 eine entsprechende Lektüre, die sich auf die kinematographischen Aspekte des Textes konzentriert, erweist sich allerdings als äußerst fruchtbar. Dann zeigt 6 

Woolf: The Cinema, S. 269. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 254. 8  Pirandello, Luigi: Wird der Tonfilm das Ende des Theaters sein? In: Ders.: Sechs Personen suchen einen Autor. Trilogie auf dem Theater und theaterkritische Schriften. Gesammelte Werke in sechzehn Bänden. Band VI (hg. v. Michael Rössner). Berlin: Propyläen 1997, S. 422–432, hier S. 425. Der Originaltitel des Essays lautet Se il film parlante abolirá il teatro und erschien zuerst im Corriere della sera am 16. Juni 1929. 9  Huxley, Aldous: Silence is Golden. In: Ders.: Complete Essays. Vol II (hg. v. Robert S. Baker u. James Sexton). Chicago: Ivan R. Dee 2000, S. 19–24, hier S. 19. Laura Frost fasst die Bedeutung sowohl des Films als auch von Huxleys Reaktion darauf treffend zusammen: „Huxley’s cranky response to The Jazz Singer, a film that stood as both a technolo­ gical landmark and a massive box-office success, is a window onto a key moment in the history of cinema when articles such as ‚Silence Is Golden‘, ‚Why ‚Talkies‘ Are Unsound‘, ‚Ordeal by ‚Talkie‘‘, and ‚The Movies Commit Suicide‘ contended with equally impassioned defenses of sound film.“ Siehe Frost, Laura: The Problem With Pleasure. Modernism And Its Discontents. New York: Columbia University Press 2013, S. 131. 10  Eine Ausnahme bildet die Monographie von Laura Frost, die Brave New World ein Kapitel widmet, in dem auf kinematographische Aspekte im Zusammenhang mit dem 7 

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sich: Das Kino ist der Schlüssel zu der Anti-Utopie, die Huxley in Brave New World entwickelt. Der „World State“ ist ein totalitäres Kino-Spektakel: Nicht nur spielen die Feelies als Steigerungsform von Movies und Talkies eine zentrale Rolle für Propaganda und die Wahrung des sozialen Friedens; auch die biopolitische Disziplinierung sowie die Retortenreproduktion des Menschen sind inspiriert von Photo- und Filmtechnik. Die Droge Soma, die regelmäßigen Urlaub vom Alltag erlaubt, stellt schließlich den Status der Wirklichkeit selbst in Frage und repräsentiert damit auch Woolfs Vision von „a different reality from that which we perceive in daily life“.11 Diesen zentralen kinematographischen Aspekten des Romans wird sich die folgende Lektüre widmen und so zu zeigen versuchen, dass Brave New World nicht nur eine der markantesten Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts ist, sondern auch einer der Romane, die vom Traum des Totalen Kinos erzählen – wenn auch als Alptraum. Obwohl Huxley 1937 beschloss, nach Hollywood auszuwandern und später selbst Drehbücher schrieb,12 ist er vor allem in seinen frühen Jahren ein ausgesprochener Kritiker der amerikanischen Filmindustrie. Virginia Clark, die unter dem Titel Aldous Huxley and Film eine reichhaltige, aber vor allem biographisch angelegte Studie über das Verhältnis des Schriftstellers zum Kino vorgelegt hat, liegt deshalb falsch mit ihrer Einschätzung, dass Film für Huxleys frühes Schaffen keine Rolle gespielt habe: „The advances in foreign film-making, the interest shown in England for avant-garde films, seem not to have touched Huxley’s imagination in his early career.“13 Zeigen doch im Gegenteil zahlreiche Essays, die er im Laufe der 1920er Jahre veröffentlicht hat, wie

übergeordneten Forschungsthema, dem Vergnügen des Rezipienten, eingegangen wird, siehe Frost: The Problem With Pleasure. 11  Woolf: The Cinema, S. 269. 12  James Fisher geht auf Huxelys Hollywood-Karriere ein und bemerkt: „The scripts he contributed for a few films, most notably Pride and Prejudice (1940), Jane Eyre (1944), and Madame Curie (1943; uncredited), do not overtly reflect themes from his most enduring novel, Brave New World (1932).“ Siehe Fisher, James: ‚Everyone Belongs to Everyone Else‘: The Influence of Brave New World on Cinema. In: Izzo, David Garrett / ​Kirkpatrick, Kim (Hg.): Huxley’s Brave New World. Essays. Jefferson: McFarland 2008, S. 172–182, hier S. 172. Siehe zu Huxleys Drehbüchern und seiner Zeit in Hollywood auch Clark, Virginia M.: Aldous Huxley and Film. Metuchen: The Scarecrow Press 1987. 13  Clark: Aldous Huxley and Film, S. 7. Clark widmet sich vorrangig Huxleys Dreh­ büchern, die er in späteren Jahren geschrieben hat. Seine Auseinandersetzung mit dem Medium in Brave New World nimmt in der Studie dagegen wenig Raum ein.

ALDOUS HUXLEY | BRAVE NEW WORLD

sehr ihn das Kino beschäftigte;14 die Lektüre von Brave New World wird darlegen, inwiefern diese Reflexionen auch in seinen Roman eingeflossen sind. Insbesondere prägt ein Ausflug nach Hollywood seinen Blick auf Film: Huxley besucht auf seiner Weltreise 1925/26 nicht nur Indien, wo die im Kastensystem segregierte Gesellschaft nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlässt, sondern auch Los Angeles und die Filmstudios. In Jesting Pilate (1926), seinem Bericht über die monatelange Schiffsreise, widmet er der Stadt und ihren Verlockungen ein ausführliches Kapitel. Unter dem Titel „America“ beschreibt er seine Eindrücke als Beobachter eines Filmdrehs: But within the movie studio there shone no sun, only the lamps, whose intense and greenish-yellow radiance gives to living men and women the appearance of jaundiced corpses. In a corner of the huge barn-like structure they were preparing to ‚shoot‘. The camera stood ready, the corpselights were in full glare.15

Die Filmproduktion verwandelt Menschen in Leichen – Huxleys Assoziationen ähneln denen von Pirandellos Serafino Gubbio bis in Details: Der Filmdreh wird von beiden als gewaltsamer Akt beschrieben, wenn auch bei Huxley die Darsteller nicht wie bei Pirandello vom gefräßigen Monster der Kamera ausgesaugt, sondern gleichsam von einem Erschießungskommando exekutiert werden. Bereits aus diesen Zeilen spricht jene düstere Faszination für die unheimliche Atmosphäre der Filmwelt, die später auch Brave New ­World prägen wird. In der Filmszene, der Huxley in Hollywood beiwohnt, spielt eine Schauspielerin eine Augenzeugin, die einen Mord beobachtet.16 In einer Verschränkung der Blickachsen wird Huxley hier zum Voyeur einer Voyeurin. Er nimmt eine Position ein, die analog zu jener der Kamera ist. Allerdings schildert er – anders als die Kamera, die die fiktionale Szene abbildet – auch die Umgebung und das, was außerhalb der Rahmung der Einstellung stattfindet. Ja, die Ereignisse, die dem späteren Filmzuschauer verborgen bleiben, scheinen ihn sogar stärker zu faszinieren als die eigentliche Handlung. Ganz offensichtlich genießt er das Gefühl, den Leserinnen und Lesern seine eigene, von der

14 

Hier sei auf eine Auswahl von einschlägigen Essays verwiesen, die explizit auf das Kino rekurrieren; zu diesen gehören A Film with a Warning (1922), Where Are the Movies Moving? (1925), The Outlook for American Culture (1927) und Silence is Golden (1929). Die meisten davon werden im Folgenden ausführlicher besprochen. 15  Huxley, Aldous: Jesting Pilate. London: Chatto & Windus 1969, S. 261. 16  Vgl. ebd., S. 262.

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Kamera unabhängige Perspektive schildern zu können und darin dem Publikum, das den fertigen Film zu sehen bekommen wird, überlegen zu sein. So beschäftigt ihn in seinen Schilderungen vor allem die Frage, wie im Film Affekte erzeugt und vermittelt werden. Er beschreibt, wie der Regisseur in knappen Worten von der Schauspielerin verlangt: „Make it emotional“.17 Wobei der Frau die glaubwürdige Darstellung von Emotionen nur gelingt, weil sie von Musik in die entsprechende Stimmung versetzt und also selbst affiziert wird. Auf das Kommando des Regisseurs setzen die Musiker ein: „[T]he Band, whose duty it is in every studio to play the actors into an appropriate state of soul, struck up a waltz. The studio was filled with a sea of melodic treacle; our spirits rocked and wallowed on its sticky undulations.“18 Den „appropriate state of soul“ erreicht die Schauspielerin also nur, weil es noch ein anderes Medium gibt, das Emotionen transportiert: die Musik. Deren melodiöse Bewegungen sind so klebrig („sticky“), dass sich der Affekt nicht nur auf die Schauspielerin, sondern durch sie als Medium auch auf die späteren Zuschauerinnen und Zuschauer überträgt. Für Huxley ist das bereits ein Zeichen dafür, dass Film nichts als ein Umweg ist, den die Emotionen, die die Musik transportiert, nehmen, um am Ende beim Publikum anzukommen und bei diesem gewissermaßen eine Effekt dritter Ordnung hervorzurufen. Die Künstlichkeit der Affizierung durch den Film tritt am Ende der Dreh-Szene in Jesting Pilate noch deutlicher zu Tage, wenn sich die Empfindung der „cinematographic fear“durch den Befehl des Regisseurs („a little more terror“) zunächst noch steigert – jedoch nur um dann, wenn die Kamera stoppt, ebenso schnell vergangen und vergessen zu sein.19 Nicht nur der Anschein von Realität, auch Gefühle und Emotionen beruhen im Film auf einer Ästhetik des Als-ob. Sie werden ebenso künstlich hergestellt wie die Wunder und Naturkatastrophen, die auf der Leinwand real scheinen mögen, in Wirklichkeit aber in der Badewanne erzeugt wurden: In one room they were concocting miracles and natural cataclysms — typhoons in bathtubs and miniature earthquakes, the Deluge, the Dividing of the Red Sea, the Great War in terms of toy tanks and Chinese fire-crackers, ghosts and the Next World.20

17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 

Ebd., S. 263.

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Huxley steht staunend, aber skeptisch vor der Illusionsmaschine Film. Das Verhältnis zwischen Simulation und Wirklichkeit fasziniert und inspiriert ihn nachhaltig; nicht nur die Schilderungen in Jesting Pilate, auch sein nächster Roman, Brave New World, in dem Affizierung, Transport von Emotionen sowie Immersion ebenfalls zentrale Themen sind, zeugen davon. Auch dort bildet die Diskrepanz zwischen der Tatsache, dass Filmproduktion mit Tricks und Fiktionen arbeitet, und dem Umstand, dass das fertige Werk auf den Zuschauer dennoch unhintergehbar realistisch wirkt, einen Einsatzpunkt für Huxleys Medienkritik. Der Roman erzählt von einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Regeln der standardisierten Produktion mit einem Anspruch totalitärer Herrschaft gelten. Menschen werden in Reagenzgläsern reproduziert und je nach Kastenzugehörigkeit unterschiedlich biochemisch und psychologisch determiniert. Allen gemeinsam ist die Unfähigkeit, ihre eigene Situation beziehungsweise die Gesellschaftsordnung zu hinterfragen. Sie sind wie Filmfiguren, die ihre Dialoge aufsagen ohne zu wissen, dass sie ihnen vom Regisseur diktiert wurden. Die Axiome des World State lauten etwa „When the individual feels, the community reels“21 oder „Ending is better than mending“ (BNW, 44). Oberste Ziele dieser Ordnung sind Stabilität und sozialer Frieden. Beide werden durch eine in den Überfluss gesteigerte Reproduktion erreicht. Voraussetzung dafür, dass diese Reproduktionsmaschine in Gang bleibt, sind die systematische Konditionierung und das Überangebot an Zerstreuung und Unterhaltung. Die Droge Soma ermöglicht, in Tablettenform eingenommen, „a holiday from reality“ (BNW, 46), die multisensuellen Feelies haben das herkömmliche Kino abgelöst und gestatten ihren Rezipienten ebenfalls ein Abtauchen in eine virtuelle Nicht-Wirklichkeit. So werden Aggression und andere negativ konnotierte Gefühle in der Brave New World weitgehend eliminiert oder wo nötig sublimiert. Im London des Jahres 632 A.F. (After Ford) konzentriert sich die Narra­ tion auf drei Figuren, die alle zu den oberen Kasten gehören: Der Protagonist Bernard Marx ist „a mistake“ (BNW, 39), er besitzt zwar die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten eines Angehörigen der Alpha-Plus-Kaste, nicht aber die entsprechende körperliche Statur. Marx ist ein Außenseiter, entzieht sich

21 

Huxley, Aldous: Brave New World. London: Vintage / ​R andom House 2004, S. 81. Im Folgenden werden sämtliche Belege aus dieser Ausgabe im Text abgekürzt wiedergegeben durch die Sigle BNW und Seitenzahl.

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den sozialen Aktivitäten der Gesellschaft und ist häufig lieber allein. Individualität gilt im World State jedoch als subversiver Akt, was Marx bald in Konflikt mit der Obrigkeit bringt. Ähnlich ergeht es Helmholtz Watson, Feely-Autor und damit gewissermaßen Künstler, mit seiner Situation und seinem Schaffen aber unzufrieden, weil die medialen und künstlerischen Möglichkeiten der Feely-Produktion streng reglementiert sind.22 Die dritte zentrale Figur ist Lenina Crowne, Mitarbeiterin in der Embryo-Station, die dem verordneten promiskuitiven Lebensstil folgt und eine Affäre mit Marx beginnt.23 Von ihrem gemeinsamen Ausflug in ein Reservat, in dem vor-zivilisatorische Menschensiedlungen zu besichtigen sind, bringen die beiden einen jungen Mann, John, und seine Mutter Linda mit nach London. Die beiden „Wilden“ stellen Fremdkörper in der Gesellschaft dar: John, „the Savage“, war noch nie in einem Feely, hat noch nie Soma konsumiert und wurde sogar auf natürlichem Wege geboren. Er gehört nicht zu den „civilized men and women“ (BNW, 177). Die Einführung dieser Differenz in die Gesellschaft des World State setzt Chaos und revolutionäres Potenzial frei; am Ende allerdings hat John keine Chance, sich mit seiner Rebellion gegen die freiwillige, weil unbewusst konditionierte Unterwerfung der Menschen durchzusetzen: „All conditioning aims at that: making people like their unescapable social destiny.“ (BNW, 12) Der Roman en-

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Mit dem Namen Helmholtz sind zugleich die optischen Experimente aufgerufen, mit denen der Physiker Hermann von Helmholtz im 19. Jahrhundert die Theorie der Wahrnehmung revolutionierte. Jonathan Crary betont Helmholtz’ Beiträge zur Erforschung des menschlichen Auges, insbesondere den Abschied von einer Vorstellung des Auges als Camera obscura: „Helmholtz stößt die Vorstellung von der Transparenz des Auges unter anderem dadurch um, daß er nachweist, wie unter gewissen Umständen innerhalb des Auges Objekte sichtbar werden können.“ Siehe Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 174. Der Bezug auf den Physiker erscheint im Zusammenhang mit dem Fokus auf kinematographische Bezüge des Romans interessant, hinterfragt doch Brave New World auch die Möglichkeiten visueller Wahrnehmung und Affizierung. 23  Die misogyne Darstellung von Frauen in Brave New World ist ein Aspekt, der hier nicht behandelt werden kann; zitiert sei an dieser Stelle, an der das Personal des Romans vorgestellt wird, nur ein Hinweis von Frost auf die Gender-Thematik: „There are some subtle distinctions between men and women in Brave New World: few women seem to have been bred into the very highest class, men still run the organizations (there don’t appear to be any female ‚professors of feelies‘), rule the state, and drive the helicopters.“ Siehe Frost, Laura: The Pleasures of Dystopia. In: Greenberg, John / ​Waddell, Nathan (Hg.): Brave New World: Contexts ans Legacies. London: Springer 2016, S. 69–88, hier S. 81.

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det mit Johns Suizid – allerdings nicht ganz: Denn ein Feely-Filmer zeichnet ihn zuvor auf und hält ihn damit für immer in leiblicher Präsenz am Leben. Entscheidener als die Stränge „rudimentärer Handlung“24 – es entwickeln sich Liebesbeziehungen, erst zwischen Lenina Crowne und Bernard Marx, dann zwischen ihr und John – sind die Unterdrückungs- und Determinierungsmechanismen, die der Roman imaginiert und ausagiert. Das Kino, hier zum Feely gesteigert, ist einer davon. In seinem 1946 geschriebenen Vorwort zu Brave New World nennt Huxley als Voraussetzung einer totalitären Diktatur, diese müsse ihren Untertanen die Freiheit gewähren, „to daydream under the influence of dope and movies and the radio, it will help to reconcile his subjects to the servitude which is their fate.“25 Brave New World erzählt, wie eine solche Gesellschaft aussehen würde und setzt damit manche Gedanken fort, die sich bereits in Friedlaender/Mynonas Graue Magie angedeutet haben:26 Während Graue Magie mit der drohenden „Weltfriedenskatastrophe“ endet (GM,532), ist der Weltfrieden in Brave New World längst Realität. So verleiht Huxley wie Mynona dem Totalen Kino eine politische Dimension, die anders als in Graue Magie aber nicht im Zusammenhang mit Krieg, sondern mit dem sich als ebenso destruktiv erweisenden Versprechen ewigen Friedens steht.27 3.1.1 Feelies: jenseits des Visuellen

Nachdem Huxley sich in den Jahren zuvor intensiv und kritisch mit dem Kino auseinandergesetzt hatte, steigert er in Brave New World jenes Potenzial, das er im Tonfilm erkannte, ins Phantasmagorische.28 So gilt für seine Präfiguration des Totalen Kinos: „He was depicting a world that already largely existed in the 1920s and 1930s, only exaggerated and distorted by the satiric 24  Adorno, Theodor W.: Aldous Huxley und die Utopie. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften. Band X.I. Frankfurt: Suhrkamp 1977, S. 97–122, hier S. 98. 25  Huxley, Aldous: Foreword. In: Huxley, Aldous: Brave New World. London: Vintage / ​ Random House 2004, S. XXIX–XXXVIII, hier S. XXXVII. 26  Nicht zufällig gehörte Brave New World zu Friedlaenders liebsten Lektüren, wie er in seinen Tagebüchern festhielt. Für den Hinweis auf diese bislang nicht veröffentlichte Tagebuchnotiz danke ich Hartmut Geerken, dem Herausgeber von F/Ms Nachlass. 27  Siehe dazu auch Janker: Vom Stummfilm zur Virtuellen Realität. 28  Marina Warner betont in ihrer Studie zur Phantasmagorie deren metaleptisches Potenzial, insofern die Phantasmagorie dem Rezipienten näher komme als andere visuelle Erscheinungen. Sie leitet dies aus der Etymologie des Wortes ab (griech.: Versammlung der Geister). Siehe Warner: Phantasmagoria, v. a. S. 147.

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lens“.29 Statt ins Movie-Theater gehen die Menschen nun ins Feelie-Theater, wo sie die Handlung nicht nur sehend und hörend, sondern auch tastend, riechend und schmeckend miterleben. Feelies sind als „the most intense vehicle of mass pleasure“30 konstitutiv für den World State der Brave New World, und gleichzeitig emblematisch für Huxleys Position dem Kino gegenüber. So kommt auch Frost zu dem Schluss, dass „[i]f the feelies suggest that Huxley was one of the great naysayers about cinematic development, they also suggest that few took the talkies more seriously“.31 Die Bewohner des World State besuchen die Vorstellungen, die in großen Filmpalästen stattfinden, wann immer ihnen nach Zerstreuung ist. Die Feelies dienen der Disziplinierung der Gesellschaft: Sie suggerieren die Realpräsenz des Dargestellten; Dargestelltes und Darstellendes werden in dieser Messe unter dem „doppelten Blick des Rezipienten“ synonym.32 Eben das verlangt der totalitäre Staat von seinen Untertanen: Sprache ist stets buchstäblich zu nehmen, Metaphern sind ungebräuchlich, wenn nicht sogar verboten. Der Staat besteht auf der „Nicht-Zeichenhaftigkeit“ des Zeichens; so nähern sich die Feelies dem Traum des natürlichen Zeichens an.33 Gleichzeitig dienen sie aber auch dazu, die Menschen mit seichter Unterhaltung bei Laune zu halten. Damit kommen sie dem ziemlich nahe, was Huxley im Kino seiner Zeit sieht. Zwar diskutierte er 1926 noch mit Charlie Chaplin und Robert Nichols „the way of cinematographic salvation“34, allerdings wird spätestens 1927 in sei-

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Higdon: Wandering into Brave New World, S. 25. Frost: The Pleasures of Dystopia, S. 73. 31  Frost, Laura: Huxley’s Feelies: The Cinema of Sensation in Brave New World. In: Twentieth Century Literature, Vol. 52, No. 4 (2006), S. 443–473, hier S. 463. 32  Belting: Das echte Bild, S. 90. Hier überschneidet sich Hedigers Verwendung des Begriffs der Realpräsenz mit der theologischen Bedeutung, nach der in der Eucharistie das Dargestellte im Darstellenden erscheint, also Brot und Wein buchstäblich zu Leib und Blut werden. Vgl. dazu a.a.O., v. a. S. 89–91. 33  Hediger, Vinzenz: Illusion und Indexikalität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung, 54 (2006), S. 101–110, hier S. 105. Hediger betont mit Bezug auf Gunning, dass auch Bazin diesen Traum geträumt habe, indem er davon ausging, dass das filmische ebenso wie das photographische Bild das Dargestellte in Realpräsenz vor Augen stellt und also gar kein Zeichen mehr sei, sondern Transsubstantiation der Realität (vgl. ebd., S. 101). Insofern steht das natürliche Zeichen in engem Bezug zum Narrativ des Totalen Kinos. 34  Huxley: Jesting Pilate, S. 266. Wobei auch Chaplin dem Tonfilm zunächst skeptisch gegenüberstand und behauptete: „I shall never speak in a film. I hate the talkies and will not produce talking films.“ Eine Position, die er später revidieren sollte. Chaplin wird hier zitiert nach Frost: The Problem With Pleasure, S. 133. Chaplin öffnete Huxley später die 30 

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nem Essay The Outlook for American Culture klar, dass Huxley dem Kino und anderen Vergnügungsinstitutionen einen entscheidenden Beitrag zur Verflachung der Gesellschaft sowie die Verwässerung von Hoch- und Populärkultur vorwirft.35 Von ähnlichen Sorgen zeugt der bereits erwähnte Essay Silence is Golden: Das Kino sei „the latest and most frightful creation-saving device“, jedenfalls keine Kunst.36 In dem Text schwört Huxley voller Abscheu der neuen Mode des Tonfilms ab – aus dem Grund, dass dieser zu realistisch sei: „So I simply avoid most of the manifestations of that miscalled ‚life‘, which my contemporaries seem to be so unaccountably anxious to ‚see‘“.37 Der hier diskreditierten Wiedergabe von Leben nähern sich die Feelies noch weiter an. Im Zuge einer anti-utopischen Übersteigerung dieser Ästhetik der Totalkinematographie werden den Rezipienten in Brave New World nun auf sämtlichen Sinneskanälen lebensähnliche Substitute präsentiert. Die Feelies bilden dabei eine jener multisensuellen „Medienverbundschaltungen“, die Kittler zufolge schon die Erfinder von Phonograph und Kinematograph herbeisehnten.38 Mit dem ersten Tonfilm drohte das „l’art pour l’art […] des Stummfilms“, unter dem man dem Film eine Daseinsberechtigung zugestanden hatte, zu erodieren.39 In Huxleys Feelies kann von Kunst nun tatsächlich keine Rede mehr sein, es geht um bloße Unterhaltung durch die Attrak­tion der realpräsentischen Darstellung. Damit präfiguriert der Roman, was der Schriftsteller Walter Bloem 1922 befürchtete, dass nämlich „mit dem Wegfall der Stummheit der letzte, der Hauptdamm niederbrechen [würde], der das Lichtspiel vor der hemmungslosen Hingabe an die Darstellung der blanken Wirklichkeit schützt“.40 Das ist die Katastrophe, die Virginia Woolf befürchtet hatte. Feelies sind „pictures that you could hear and feel and smell, as well as see“ (BNW, 110). Im Verlauf des Romans wird dieses Erlebnis immer wieder angekündigt, allerdings ebenso oft verschoben und hinausgezögert. Erst spät

Türen zu den Hollywoodstudios, für die dieser nach seiner Emigration gelegentlich arbeitete. Vgl. Frost: The Problem With Pleasure, S. 158. 35  Vgl. Huxley, Aldous: The Outlook for American Culture. In: Harper’s Monthly Magazine, 1. August 1927, S. 265–272, hier S. 267. Zu diesem Essay folgen weitere Erläuterungen im nächsten Kapitel. 36  Huxley: Silence is Golden, S. 20. 37 Ebd. 38  Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 252. 39  Ebd., S. 254. 40  Bloem, Walter: Seele des Lichtspiels. Ein Bekenntnis zum Film. Leipzig 1922, S. 36, zit. n. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 254.

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werden die Protagonisten Zeugen davon, wie „every hair“ eines reproduzierten Bärenfells wie angekündigt tatsächlich fühlbar wird (BNW, 29). John erlebt seine Feelie-Premiere, als er zusammen mit Lenina das Alhambra-Kino besucht. Nach einer Art Vorspiel aus Düften und synthetischer Musik, „a trio for hyper-violin, super-cello and oboe-surrogate“ unterstützt durch „the scent organ […] playing a delightfully refreshing Herbal Capriccio“ (BNW, 145),41 beginnt die eigentliche Vorstellung: Sunk in their pneumatic stalls, Lenina and the Savage sniffed and listened. It was now the turn also for eyes and skin. The light house lights went down; fiery letters stood out solid and as though self-supported in the darkness. three weeks in a helicopter. an all-super-singing, synthetic-talking, coloured, stereoscopic feely. with synchronized scent-organ accompaniment. ‚Take hold of those metal knobs on the arms of your chair,‘ whispered Lenina. ‚Otherwise you won’t get any of the feely effects.‘ The Savage did as he was told. Those fiery letters, meanwhile, had disappeared; there were ten seconds of complete darkness; then suddenly, dazzling and incomparably more solid-looking than they would have seemed in actual flesh and blood, far more real than reality, there stood the stereoscopic images, locked in other another’s arms, of a gigantic Negro and a golden-haired young brachycephalic Beta-Plus female. (BNW, 145f., Herv. i. O.)

Der Erzähler nimmt hier die Perspektive des unerfahrenen Zuschauers ein, der zum ersten Mal ein Feely miterlebt; also jene Perspektive, aus der Huxley in Silence is Golden seine eigene Tonfilm-Premiere schildert. Auf die Ähnlichkeit zum Kino deutet bereits hin, dass auch in der obigen Passage der erste Eindruck ein visueller ist. Hinter diesen vom Kino bekannten Seheindruck schiebt sich allerdings sogleich eine räumliche Tiefe, der Eindruck von Haptik, von Leib, Fleisch und Blut. Wie die Buchstaben, die den Titel ankündigen, wirken auch die Figuren dreidimensional in den Raum projiziert. Die Reproduktion materialisiert sich scheinbar ohne Leinwand, sie übertrifft die Wirklichkeit („more real than reality“).42

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Die Duftorgel, auf die ich unten noch einmal zurückkommen werde, greift einen Aspekt aus Jesting Pilate auf: Wie dort die Musik als eine Art Trägermedium für die Emotio­ nen fungiert, die die Schauspielerin imitiert, so werden im Feely Düfte eingesetzt, um ähnliche Wirkung beim Rezipienten zu erzielen. 42  Huxleys Feelies erleben in Strange Days (Kathryn Bigelow, 1995) eine Wiederkehr: Im dystopischen Los Angeles wird mit Tapes gehandelt, die in einer totalkinematographischen Projektion, die direkt auf das Zentralnervensystem wirkt, die Erlebnisse anderer

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Doch trotz der überwältigenden Sinnlichkeit wohnt den „feely effects“ auch eine prekäre Flüchtigkeit inne, die verlangt, dass der Rezipient sich dem Dispositiv körperlich ausliefert. John muss sich selbst in Hautkontakt mit dem Apparat bringen und in dieser Stellung verharren (vgl. BNW, 146). Der Rezipient wird stillgestellt, damit die Figuren im Feely zum Leben erwachen können. Hierin liegt ein Topos der literarischen Auseinandersetzung mit dem belebten Bild, das die Stillstellung des Rezipienten voraussetzt: „The paintings’ desire, in short, is to change places with the beholder, to transfix or paralyze the beholder, turning him or her into an image for the gaze of the picture in what might be called ‘the Medusa effect’.“43 Der Betrachter steht in einem prekären Verhältnis zur Phantasmagorie. Huxley kommentiert diesen Effekt bereits in Silence is Golden: „At the cinema […] there is no escape. […] Nothing short of total blindness can preserve one from the spectacle.“44 Er schildert die Rezeptionssituation als eine Unfreiheit, von der aber gleichzeitig eine Faszination ausgeht: „The jazz-players were forced upon me; I regarded them with a fascinated horror.“45 Lässt sich die Rezipientin, wie Lenina Crowne es tut, auf die Erfahrung ein, so wird ihr ein Spektakel geboten, das der Vollendung des Traums vom Totalen Kino recht nahe kommt. Das Feely macht das Dargestellte anwesend, verlangt dafür aber auch vom Rezipienten seine körperliche, stillgestellte Anwesenheit. Entsprechend wird Johns Rezeptionserfahrung geschildert: „The Savage started. That sensation on his lips! He lifted a hand to his mouth; the titillation ceased; let his hand fall back on the metal knob; it began again.“ (BNW, 146) Das Feely repräsentiert eine der Maximen des World State: Der Mensch in der schönen neuen Welt hat stets präsent zu sein. Die Rezeptionssituation im Feely ist eine Erfahrung der Unmittelbarkeit, aber um den Preis

User erfahrbar machen. Den Protagonisten des Films wird die Indexikalität dieser Projektionen zum Verhängnis, als eines der Tapes einen Mord aufzeichnet. Bigelows Film reflektiert das Potenzial von Film, Dinge in Präsenz vor Augen zu stellen, und greift dabei wesentliche Aspekte der Feelie-Ästhetik und ‑Wirkung auf. 43  Mitchell: What Do Pictures Want?, S. 36. 44  Huxley: Silence is Golden, S. 21. Huxley schreibt weiter, indem er auf seine Augenkrankheit eingeht: „For the first time I felt grateful for the defect of vision which had preserved me from a daily acquaintance with such aspects of modern life. And at the same time I wished that I could become, for the occasion, a little hard of hearing.“ (Ebd.) 45 Ebd.

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der gleichzeitigen Unhintergehbarkeit ästhetischer Erfahrung.46 Das Wahrgenommene entzieht sich der Realitätsprüfung, so wie das Kitzeln auf Johns Lippe verschwindet, als er die Hand hebt, um danach zu tasten. Diese Unmöglichkeit der Realitätsprüfung ist für Baudry zentrales Element des kinematographischen Dispositivs, das er von Platons Höhlengleichnis ableitet: Es ist also ihre motorische Lähmung, die Unmöglichkeit, von dort, wo sie sind, wegzugehen, die für sie die Realitätsprüfung unmöglich macht, die ihren Irrtum beschönigt und sie tatsächlich dazu bringt, das Stellvertretende für real zu halten, vielleicht dessen Vorstellung, dessen Projektion auf den Bildschirm, den die vor ihnen liegende Wand der Höhle darbietet und von dem sie den Blick nicht lösen und sich nicht abwenden können. Sie sind an die Projektionsfläche gebunden, gefesselt, angekettet – eine Beziehung, eine Verlängerung zwischen ihr und ihnen, die mit ihrer Unfähigkeit zusammenhängt, sich von ihr fortzubewegen.47

Die Disziplinierung durch den Zwang zur körperlichen Präsenz greift in Brave New World nicht nur im Feely, sondern auch bei Freizeitaktivitäten wie dem Obstacle Golf oder den regelmäßigen Treffen des Solidarity Service, einer regelmäßigen Messe für die Gemeinschaft. Wer hier fehlt – wie Bernhard Marx, der gegen beides tiefe Abneigung empfindet – gefährdet nicht nur „his reputation“ („they say he doesn’t like Obstacle Golf“, BNW, 38), sondern wird durch seine Abwesenheit, und sei sie nur in Gedanken, zum subversiven Element. „Was and will make me ill“, rezitiert Lenina und bringt damit das Diktum des Jetzt im totalitären Dispositiv des World State auf den Punkt (BNW, 90). Wie im Film geht es um die Gegenwärtigkeit des „être-là de la chose“.48 Doch der Huxleyschen Anti-Utopie wohnt auch ein satirisches Element inne: Und so wird das Erlebnis im Feely-Theater sogleich konterkariert durch die plumpe Banalität des Dargestellten:

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Damit erfüllt ebenjene Kunst, die eigentlich keine Kunst, sondern bloße Reproduktion der Realität ist, die Forderung nach Immanenz, wie sie Benedetto Croce formuliert, bei dem der Immanenz-Begriff mit dem der Unhintergehbarkeit der ästhetischen Erfahrung verknüpft ist. Vgl. dazu Münchberg, Katharina: Immanenz. Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs. In: Schönert, Jörg / ​Zeuch, Ulrike (Hg.): Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin: De Gruyter 2004, S. 151–166, hier S. 151. 47  Baudry: Das Dispositiv, S. 387, Herv. i. O. 48  Barthes, Roland: Rhétorique de l’image. In: Ders.: L’Obvie et l’obtus. Essais critiques III. Paris: Éditions du Seuil 1982, S. 25–42, hier S. 36.

ALDOUS HUXLEY | BRAVE NEW WORLD The scent organ, meanwhile, breathed pure musk. Expiringly, a soundtrack super-dove cooed ‚Oh-Ooh‘; and vibrating only thirty-two times a second, a deeper than African bass made an answer: ‚Aa-aah.‘ ‚Ooh-ah! Ooh-ah!‘ the stereoscopic lips came together again, and once more the facial erogenous zones of the six thousand spectators in the Alhambra tingled with almost intolerable galvanic pleasure. ‚Ooh …‘ The plot of the film was extremely simple. A few minutes after the Ooh’s and Aah’s (a duet having been sung and a little love made on that famous bearskin, every hair of which — the Assistant Predestinator was perfectly right — could be separately and distinctly felt), the Negro had a helicopter accident, fell on his head. Thump! what a twinge through the forehead! A chorus of ow’s and aie’s went up from the audience. (BNW, 146)

Das Feely Three Weeks in a Helicopter ist kaum mehr als Pornographie: Zunächst ein paar gehaltlose Dialoge aus sinn- und bedeutungslosen Urlauten, dann folgt „a little love made on that famous bearskin“ (BNW, 146). Allerdings handelt es sich eher um Pornographie für Fetischisten, denn hier ist sogar der Sex Nebensache, die eigentliche Attraktion ist das Bärenfell, von dem bereits im Verlauf des Romans mehrmals die Rede war, weil „every hair“ einzeln reproduziert und zu spüren sei. Im Feely dringt der Rezipient tatsächlich „tief ins Gewebe der Gegebenheit ein“, Walter Benjamins metaphorische Prophezeiung für die filmische Immersion verwirklicht sich.49 Die Simulation selbst besitzt den Charakter einer Attraktion. Entsprechend preist der namenlose Assistant Predestinator den Film an: „I hear the new one at the Alhambra is first-rate. There’s a love scene on a bearskin rug; they say it’s marvellous. Every hair of the bear reproduced. The most amazing tactual effects.“ (BNW, 29) Das Interesse des Rezipienten richtet sich nicht auf die eigentliche Handlung oder die Liebesszene, sondern auf die mimetische Qualität des Films.50 Das Feely übermittelt keine Bedeutung außerhalb seiner selbst: „They mean themselves, they mean a lot of agreeable sensations to the audience.“ (BNW, 194) So offenbart Brave New World Adorno zufolge „das Wesen des Films als bloßer Verdopplung und Verstärkung dessen, was ohnehin ist; seine eklatan-

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Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 158. 50  Hier wird die These gestützt, die bereits zu Beginn dieser Arbeit formuliert wurde: Literarische Imaginationen des Totalen Kinos konzentrieren sich häufig auf die Darstellung eines „cinema of attractions“, in dem statt Narration eher die Schauwerte und der Modus der Darstellung im Fokus stehen. Siehe dazu noch einmal Gunning: The Cinema of Attractions.

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te Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit sogar in der zum Infantilismus verhaltenen Freizeit; die Unvereinbarkeit des Verdopplungsrealismus und des Anspruchs, Bild zu sein.“51 Allerdings erfasst diese Lesart das Verhältnis des Romans zum Kino nicht ganz. Denn ganz im Sinne der Huxleyschen Ironie endet das Feely Three Weeks in a Helicopter mit einem Happyend: Then the bearskin made a final appearance and, amid a blare of sexophones, the last stereoscopic kiss faded into darkness, the last electric titillation died on the lips like a dying moth that quivers, quivers ever more feebly, ever more faintly, and at last is quite, quite still. But for Lenina the moth did not completely die. Even after the lights had gone up, while they were shuffling slowly along with the crowd towards the lifts, its ghost still fluttered against her lips, still traced fine shuddering roads of anxiety and pleasure across her skin. (BNW, 147)

Die Echos und Nachbilder der Rezeption sind für Lenina auch nach dem Ende der Vorführung noch spürbar. Zurück bleibt ein gespenstisches Nachleben jenes Kitzels, einer ohnehin geisterhaften Erfahrung, die über die Dauer des Films hinaus von der scheinbaren Präsenz des Wahrgenommenen zeugt.52 Hier zeigt sich, dass Huxley die Feelies nicht nur zur Denunziation des Kinos benutzt, sondern durchaus dessen Wirkung auf den Rezipienten zu erfassen versucht: „Despite the broad satire of the feelies’ idiocy, Huxley dwells on their popularity, their allure, and their efficient mobilization of the body.“53 Brave New World führt also nicht bloß die Überflüssigkeit des Films vor Augen, wie Adorno schreibt, sondern ergründet seine Wirkung auf den Körper. Auch Virginia Woolf schildert die Überforderung des Rezipienten im Kino als somatisch-sinnliche Erfahrung: „The eye licks it all up instantaneously, and the brain, agreeably titillated, settle down to watch things happening without beseeching itself to think… Eye and brain are torn ruthlessly as they try vainly to work in couples“.54 Die Fähigkeit zu reflektieren scheint im Kino abhanden gekommen, überrannt von den Stimuli auf den Wahrnehmungsapparat. Das Feely ist bei Huxley zugleich weniger und mehr als ein Bild. Es kommt

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Adorno: Aldous Huxley und die Utopie, S. 114f. Wobei Präsenz hier mit Susanne Knaller als Effekt der „Inszenierung von verschiedenen Wahrnehmungscodes der Unmittelbarkeit“ verstanden wird. Siehe Knaller: Die ­Realität der Kunst, S. 68. 53  Frost: The Pleasures of Dystopia, S. 74. 54  Woolf: The Cinema, S. 269. 52 

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dem nahe, was Benjamin ein „Geschoss“ nennt: Diesem ist eine taktile Qualität zu eigen, es lässt sich aber nicht berühren. Stattdessen dringt es auf den Betrachter ein und hindert ihn so an der reflektierenden Kontemplation.55 Wie die Feelies durchdringt das Geschoss, ohne selbst vom Betrachter durchdrungen zu werden. Es stößt ihm zu.56 Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden.57

Benjamin und Woolf scheinen sich einig in ihrer Perspektive auf den überforderten Rezipienten. Ähnlich schreibt auch Georges Duhamel 1930 in seinen Scènes de la vie future: „Je ne peux déjà plus penser ce que je veux. Les images mouvantes se substituent à mes propres pensées.“58 Die Unmöglichkeit, das Filmbild zu erfassen und das Gefühl, von ihm überwältigt zu werden, wird in Brave New World mit der fixierenden Wirkung des Films auf den Rezipienten enggeführt. Die daraus resultierende kognitive und emotionale Unfreiheit bildet den Kern von Huxleys Unbehagen gegenüber dem Kino. Er erkennt, schreibt Frost, „cinema as a bodily apparatus that is also inevitably a political instrument“: „While many of his contemporaries found the talkies excessive or confusing, Huxley expands on those reactions to explore the social and political implications of sound film.“59

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Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 164. Benjamin schreibt dort: „Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zu einem Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität. Damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen.“ 56  Ähnliche Reflexionen kennt auch die Kinogeschichte; man denke etwa an das berühmte Filmplakat zu Georges Méliès’ Le Voyage dans la Lune (1902), das den Mond als Gesicht zeigt, das von der Rakete wie von einem Geschoss direkt ins Auge getroffen wird. Dass der Kinopionier mit diesem Plakat für seinen Film warb, zeigt, dass er sich der eindringlichen visuellen Qualität des Mediums wohl bewusst war. 57  Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 164. 58  Duhamel, Georges: Scènes de la vie future. Paris: Mercure de France 1930, S. 52. 59  Frost: Huxley’s Feelies, S. 463.

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Die überwältigende Wirkung von Sinnestäuschungen trifft den Rezipienten in der Brave New World auf unterschiedlichen Ebenen. John, der unerfahren ist, was die neuen Medien angeht, wird bereits anhand einer olfaktorisch-taktilen Erfahrung von einer Epiphanie heimgesucht: Opening a box, he spilt a cloud of scented powder. His hands were floury with the stuff. He wiped them on his chest, on his shoulders, on his bare arms. Delicious perfume! He shut his eyes; he rubbed his cheek against his own powdered arm. Touch of smooth skin against his face, scent in his nostrils of musky dust — her real presence. ‚Lenina,‘ he whispered. ‚Lenina!‘ (BNW, 124)

Ohne sichtbar zu werden, scheint Lenina hier vor ihm zu stehen. Ihr duftender Puder und der Hautkontakt genügen als Medien der Übermittlung ihrer „real presence“. Ähnlich wie in den Feelies steht auch hier die taktile Rezeption im Vordergrund, wenn John seine Augen schließt und den Puder an seine Wange reibt. Zusammen mit dem Duft erzeugt diese Tasterfahrung die scheinbare Anwesenheit der Frau. In dieser Spannung aus Anwesenheit und Abwesenheit in der Illusion von Realpräsenz gründet Huxleys Reflexion medialer Wahrnehmung, wobei Medien wesentlich gekennzeichnet sind durch „ihre eigene geheimnisvolle Anwesenheit in der Abwesenheit, ihre Spannung von Existenz und Transparenz“.60 Brave New World zeigt sich tief geprägt von dieser Ambivalenz, die mediale Wahrnehmung trägt hier phantomhafte Züge: „Phantome sind sichtbare Entitäten, deren Anwesenheit aber nicht impliziert, dass ein realer Gegenstand anwesend ist.“61 Diese „ontologische Zweideutigkeit“ prägt die Rezeptionserfahrung im Feely.62 Sie schleicht sich in die ansonsten auf Eindeutigkeit ausgelegte Gesellschaft des World State. Helmholtz Watson, der wohl am ehesten als Poet zu bezeichnen ist, scheint das Potenzial, das in dieser Spannung liegt, zumindest zu erahnen, wenn er in einem Gedicht über das Problem von Anwesenheit und Abwesenheit räsoniert. Allerdings kann er mit den beschränkten poetischen Mitteln, 60 

Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 85. Wiesing, Lambert: Von der defekten Illusion zum perfekten Phantom. Über phänomenologische Bildtheorien. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane: …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 89–101, hier S. 98. 62  Für Günther Anders besteht diese Zweideutigkeit angesichts des Films darin, dass „die gesendeten Ereignisse zugleich gegenwärtig und abwesend, zugleich wirklich und scheinbar, zugleich da und nicht da“ sind. Siehe Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck 1956, S. 131 (Herv. i. O.). 61 

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die der World State zulässt, kaum zu einer tiefgründigen Antwort gelangen. Stattdessen endet sein Gedicht in Obszönitäten. Während die erste Strophe noch lyrische Topoi wie „midnight in the city“ oder „flutes in a vacuum“ (BNW, 158) persifliert und tatsächlich andeutungsweise ein subversives Moment enthält – schließlich verstößt die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach „silence“ gegen „at least a quarter of million warnings against solitude“ (BNW, 158) – driftet die zweite Strophe ins Pornographische ab: Absence, say, of Susan’s, Absence of Egeria’s Arms and respective bossoms, Lips and, ah, posteriors, Slowly form a presence; Whose? And I ask, of what So absurd an essence, That something, which is not, Nevertheless should populate Empty night more solidly Than that with which we copulate, Why should it seem so squalidly? (BNW, 158)

Das Gedicht, geschrieben im Duktus des modernen, zivilisierten und also auf Buchstäblichkeit konditionierten Menschen, enthält eine ästhetische Theorie der Herstellung von Präsenz. Ausgangspunkt ist die Abwesenheit des weiblichen Körpers, die in der Brave New World paradox erscheint, weil hier willige weibliche Körper nicht nur in den Feelies ständig zur Verfügung stehen, sondern dank der anerzogenen Promiskuität auch außerhalb der Kinosäle. Helmholtz’ Gedicht erprobt nun das pro ommaton poiein, das Vor-Augen-Stellen eines imaginierten weiblichen Körpers angesichts der Überfülle realer Leiber. Sein lyrisches Experiment scheint zunächst zu gelingen: Durch die Worte (arms, bossoms, lips, posteriors) gewinnt der Körper nicht nur eine Form, sondern sogar „a presence“. Dann allerdings zerfällt der figurativ beschworene Leib in Absurdität, er löst sich auf („something, which is not“) und geistert fortan als Phantom durch die Nacht. Schließlich endet das Gedicht im Misslingen des sexuellen Aktes, der keine Körper zeugen kann. Die Verse drücken nicht nur die Sehnsucht und zugleich Impotenz des auf Buchstäblichkeit konditionierten Dichters aus, sie formulieren auch das Paradox der abwesenden Anwesenheit, dessen John im Feely-Kino gewahr wird, als er die Hand hebt, um dem Kitzeln an seinen Lippen nachzuspüren. Als Dichter beruft sich Helmholtz auf eine „latent power“ (BNW, 159), er wünsche sich nichts sehnlicher, als „really good, penetrating , X-rayish phrases“ (BNW,

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162) zu schreiben. Die figurative Sprache des Dichters steht ihm in der Brave New World aber nicht zur Verfügung, hier hat Sprache eindeutig und buchstäblich zu sein. Helmholtz möchte Verse verfassen, wie sie Shakespeare geschrieben hat, von dem sogar der Controller der westlichen Welt sagt, dass seine Werke „better than those feelies“ sind (BNW, 194): „But that’s the price we have to pay for stability. You’ve got to choose between happiness and what people used to call high art. We’ve sacrificed high art. We have the feelies and the scent organ instead.“ (BNW, 194) Die Kunst wurde dem Traum vom Totalen Kino geopfert, zurück bleiben die phantomhaften Illusionen, die auf eine Herstellung von Präsenz zielen. So zeigt sich, dass das Feelie-Theater mehr ist als ein Nebenschauplatz der Handlung von Brave New World. Vielmehr bilden die Reflexionen über die technischen Innovationen in Kino und Film den Ausgangspunkt und Kern von Huxleys Roman. 3.1.2 Retorte: die Reproduktion der Masse

Brave New World ruft das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen aus. Die Vervielfältigung des Individuums dient der Genese einer Masse, einer Masse aus lauter Gleichen.63 Wie viele Intellektuelle seiner Zeit stand Huxley der Masse skeptisch gegenüber, er vertraute ihr weder in Sachen politischer Willensbildung noch in ästhetischen Geschmacksurteilen. Der Zusammenhang zwischen Masse und Massenmedien kommt in Brave New World zum Tragen: Einerseits bedient das Kino den Massengeschmack, andererseits bringt es die träge Masse gewissermaßen erst hervor. Zwar gilt der Roman manchen Interpreten als Beispiel für „the classic denunciation of mass culture in the interwar years“.64 Was bisher aber übersehen wurde, ist die Bedeutung des Massenmediums Film: Der Roman zeigt die Masse als Symptom einer Gesellschaft, die zutiefst kinematographisch geprägt ist. Das beginnt bei der Genese der Masse, die sich aus photographisch vervielfältigten

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Die Tatsache, dass es sich bei der Huxley’schen Masse um eineiige Zwillinge bzw. Klone handelt, verdeutlicht eine Eigenschaft der Masse, die auch Canetti beobachtet: „Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.“ Siehe Canetti, Elias: Masse und Macht. Hamburg Claassen Verlag 1960, S. 28 (Herv. i. O.). 64  Carey, John. The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice Among the Literary Intelligentsia 1880–1939. London: Faber 1992, S. 86.

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Retortenwesen zusammensetzt, und geht bis hin zu den Maßnahmen, die zur Disziplinierung dieser Masse angewandt werden, die ebenfalls auf Reproduzierbarkeit setzen. Die Masse war in der Zeit zwischen den Weltkriegen nicht nur Gegenstand gesellschaftlicher Debatten, sondern auch Projektionsfläche schriftstellerischer Tätigkeit, bietet sie doch Gestaltungsspielraum und Formbarkeit: „Since the ‚mass‘ is an imaginary construct, displacing the unknowable multiplicity of human life, it can be reshaped at will, in accordance with the wishes of the imaginer.“65 John Carey beobachtet in seiner Studie deshalb, dass rewriting or reinventing the mass was an enterprise in which early twentieth-century intellectuals invested immense imaginative effort, and it naturally generated a wide variety of identities. The aim of all these rewritings was the same, however: to segregate the intellectual from the masses, and to acquire the control over the mass that language gives.66

Die Abgrenzung von und Zähmung der Masse spielt auch bei Huxley eine zentrale Rolle. Allerdings bringt er eine zusätzliche Dimension ins Spiel, indem er die Masse ausgehend vom Massenmedium Film denkt. Er verortet damit nicht nur das Kino auf der gegnerischen, der anti-intellektuellen Seite, sondern stellt auch die Frage nach dem Entstehungszusammenhang von Kino-Publikum und Masse. Dieser Zusammenhang, der in Brave New World zentral ist, wird von vielen Forschungsarbeiten über das Phänomen der Masse in der Moderne übersehen, die diese nur als politische und höchstens noch als ökonomische Größe betrachten und dabei die Bedeutung der Masse als ästhetische Größe außer Acht lassen. So kommt auch Stefan Jonsson in seiner Studie über „idea and image of the masses“ in den 1920er und 30er Jahren nur am Rande auf Film und Kino zu sprechen;67 er stellt bei dieser Gelegenheit aber einen interessanten Zusammenhang zwischen Fließbandarbeit und Medienrezeption her, der auch für Huxleys Roman relevant ist: The first had to do with the process of production and the division of labour: the factory system had taught people how to organize many individuals according to a common logic so that they all contributed to the same end. The second had to do with the new media situation, which made it possible to produce messages and images on a mass scale and to dissem-

65 

Ebd., S. 23.

66 Ebd. 67 

Jonsson, Stefan: Crowds and Democracy. The Idea and Image of the Masses from Revolution to Fascism. New York: Columbia University Press 2013, S. 175 ff.

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Der Traum vom Totalen Kino inate them to a mass audience whose members received and experienced them simultaneously. The first is a case of collective production of material things, the second a case of collective reception of signs and images.68

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Die Masse steuert auf ein einheitliches Ziel zu („to the same end“), wobei ihre einzelnen Mitglieder parallel („simultaneously“) die gleichen Erfahrungen machen. Obwohl der Masse aufgrund dieser Simultandynamik ein enormes Potenzial innewohnt, gehört zu ihren Charakteristika auch, dass sie allzu leicht zu disziplinieren und stillzustellen ist, sei es am Fließband oder im Kinosessel. Dieser Passivität der Masse gilt Huxleys schärfste Kritik Dass seine Imagination der Masse auf der Ästhetik des Kinematographen beruht, zeigt sich bereits zu Beginn des Romans, als das Labor für die Fließband-Fertilisation vorgestellt wird. Hier werden die Nachkommen einer Welt, in der natürliche Fortpflanzung abgeschafft wurde, produziert beziehungsweise reproduziert, denn: „Embryos are like photograph film.“ (BNW, 8) Entsprechend ähnelt der „Fertilizing Room“ (BNW, 1) mit seiner nur von Rotlicht schwach erleuchteten Finsternis einer Dunkelkammer für Filmentwicklung, wie sie bereits Pirandello in seinen Quaderni beschrieben hat.69 Geschützt „against any possible infiltration of the day“ (BNW, 8) werden hier Menschen wie Photographien vervielfältigt. Der sogenannte Bokanovsky-Prozess kre­iert „millions of identical twins“, er ist „the principle of mass production at last applied to biology“ (BNW, 5). Dabei werden die befruchteten Eizellen – wie photographische Abzüge – nicht nur mit unterschiedlichen chemischen Flüssigkeiten behandelt, sondern auch mit speziellem Licht: „A few hard X-rays being about as much as an egg can stand“ (BNW, 4). Später werden die Embryos dann in Bewegung versetzt, „simultaneously shaken into familiarity with movement“ (BNW, 9) und schließlich so konditioniert, dass „they’re only truly happy when they’re standing on their heads“ (BNW, 14), wie die Filmbilder im Kinoprojektor.

68 

Ebd., S. 216. Zum Zusammenhang zwischen Fließbandarbeit und Kinorezeption siehe auch Charlie Chaplins Film Modern Times (1936). Hier überwacht der Chef der Fabrik seine Arbeiter mit Hilfe von panoptischen Bildschirmen. Chaplins Film kann nicht nur als Kritik am Taylorismus, sondern auch als Satire auf den Tonfilm gelesen werden, da lediglich die Geräusche von Maschinen (Industrieanlagen, aber auch Phonographen) wiedergegeben werden, während sämtliche Darsteller pantomimisch agieren. Damit liefert Modern Times einen kritischen Kommentar zum Zusammenhang zwischen Massenmedien und Serienproduktion und ihre jeweilige Zurichtung des Individuums. 69  Siehe zur Dunkelkammer bei Pirandello Kapitel 2.1.1.

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In dieser Engführung von Retortenfertilisation und photochemischer Film­entwicklung wird die Masse durch den gleichen Prozess hervorgebracht wie das Massenmedium. So offenbart Brave New World schon zu Beginn, dass man es hier mit einem totalkinematographischen Staatsapparat zu tun hat und dass die Masse für den Erhalt dieses Apparats konstitutiv ist. Huxley nimmt in seinem Roman die Diagnose vorweg, die Günther Anders 25 Jahre später stellen sollte: Laut Anders leidet der moderne Mensch unter einer „Malaise der Einzigkeit“ und wünscht deshalb, sich „in reproduzierbare Serienprodukte“ zu verwandeln.70 Die Reproduktion im Bild ist deshalb „eine, im größten Stile von ihm durchgeführte Gegenmaßnahme gegen sein ‚mich gibt’s nur einmal‘. Während er sonst von der Serienproduktion ausgeschlossen bleibt, verwandelt er sich eben, wenn photographiert, doch in ein ‚reproduziertes Produkt‘.“71 Dass der Mensch hier zu einem Abbild seiner selbst wird, spiegelt sich sprachlich darin, dass in den ersten Kapiteln des Romans Optik und Visualität eine wichtige Rolle spielen. Verben des Sehens treten hier besonders gehäuft auf und rekurrieren immer wieder auf die Metapher der photographischen Reproduktion der Klone. „Can’t you see?“ (BNW, 4, Herv. i. O.), fragt der Direktor während der Führung, bei der er seinen Studenten den Fertilizing Room zeigt. In einer optisch beeindruckenden Vorführung präsentiert er ihnen, wie mit unterschiedlichen Flüssigkeiten hantiert wird, wie die befruchteten Eizellen „were inspected for abnormalities“ und „how (and he now took them to watch the operation) this receptacle was immersed in a warm bouillon containing free-swimming spermatozoa“ (BNW, 3). Fortpflanzung ist zu einem optischen Prozess geworden; ihr Ergebnis, ein „improvement […] on nature“ (BNW, 4), wird zum visuellen Erlebnis. Am Ende des Bokanovsky-Prozesses stehen „standard men and women; […] the whole of a small factory staffed with the products of a single bokanoskified egg“ (BNW, 5). Menschen werden wie Bilder kopiert, die Massenreproduktion zeugt die Masse, die wiederum für die Massenproduktion am Fließband konzipiert und zugerichtet ist. Wirklich lebendig ist diese Masse allerdings nicht, ihr wohnt etwas Gespenstisches inne, das ihr schon zu Beginn eingeschrieben wird. In den Keller, in dem der Fertilizing Room liegt,72 dringt nur ein einzelner Lichtstrahl, der 70 

Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, S. 55. Ebd., S. 56 (Herv. i. O.). 72  Wie bei Huxley befindet sich auch bei Villiers und Bioy der Apparat, der die Bilder hervorbringt in einem dunklen Keller. Vergleichbar ist dieser abgeschiedene Raum 71 

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wie ein Eindringling nach Lebendigem sucht, aber dort ausschließlich unbelebtes Material findet: „A harsh thin light glared through the windows, hungrily seeking some draped lay figure, some pallid shape of academic gooseflesh, but finding only the glass and nickel and bleakly shining porcelain of a laboratory“ (BNW, 1). Der vereinzelte Lichtstrahl, der wie schon bei Jules Verne auch hier die Assoziation des Lichts eines Filmprojektors aufruft, ähnelt einem Suchscheinwerfer, der den Raum vergeblich nach einem Zeichen von Leben abtastet. Das verirrte Licht wird in diesem Keller zum Irrlicht: „[T]he light was frozen, dead, a ghost“ (BNW, 1). In dieser aseptischen Atmosphäre werden die Eizellen befruchtet, damit sie sich massenhaft vervielfältigen. Das Gespenstische nistet sich bereits in diesem frühen Stadium in die Masse ein; wobei das Rotlicht in der Dunkelkammer auch die hier arbeitenden Männer und Frauen in „spectres […] with purple eyes“ (BNW, 8) verwandelt. Alles ehemals Lebendige ist entweder tot oder untot in dieser unheimlichen Produktionshalle für eineiige Klone. Bereits die ersten Sätze des Romans zeugen von der Unwirtlichkeit dieser Umgebung: „A squat grey building of only thirty-four storeys. Over the main entrance the words, central london hatchery and conditioning centre, and, in a shield, the World State’s Motto, community, identity, stability.“ (BNW, 1, Herv. i. O.) Dass den einleitenden Sätzen die Verben abhanden gekommen sind, steht nicht nur für die Statik und Monumentalität dieser Gesellschaftsordnung, die hier tatsächlich in Stein gemeißelt erscheint, sondern zeugt auch von ihrer Lebensfeindlichkeit. Hier regt sich nichts. Die Gebäude sind monolithische Blöcke und der Bokanovsky-Prozess, der in ihrem Inneren stattfindet, ist ebenso leblos, ja lebensfeindlich. Bedeutet er doch eine lebensbedrohliche Vergiftung, denn die meisten Embryos „were dosed almost to death with alcohol“ (BNW, 4). So generiert dieser Staat Untertanen, deren Intellekt für einen revolu­tio­nären Akt nicht ausreicht; die Massenreproduktion züchtet das Publikum für die Massenrezeption. Huxley skizziert die Genese der Masse als „Reproduktion der Dummheit“.73 Unmissverständlich wird hier klar, mit welcher Skepsis er dem technischen Fortschritt begegnete; schon von den industriellen Errungenschaften der Arbeitsteilung und Fließbandproduktion hielt der Romancier und Essay-

ebenfalls mit dem Schloss in Vernes Roman und der gespenstischen Dunkelkammer bei Pirandello. 73  Adorno: Aldous Huxley und die Utopie, S. 101.

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ist nicht viel. Vergleicht man seinen Blick auf die moderne Gesellschaft mit dem deutlich optimistischeren Émile Durkheims, so zeigen sich die Abgründe, in die Huxley blickt: Man weiß in der Tat, dass der Ertrag umso größer ist, je mehr sich die Arbeit teilt. Die Mittel, die sie uns zur Verfügung stellt, werden immer reichlicher; sie sind auch qualitativ besser. Die Wissenschaft wird besser und schreitet rascher voran; die Kunstwerke werden zahlreicher und feiner […].74

Brave New World erzählt vom Gegenteil: Zwar ist der Ertrag der Produktion in der fordistischen Gesellschaft tatsächlich größer, für Kunst gibt es im W ­ orld 75 State aber keinen Platz mehr. Sie verkommt, wie das Beispiel der Feelies zeigt, zum sinnfreien Spektakel, das die Massen unterhält und für ihre Zerstreuung sorgt. Als Vorbild dafür diente Huxley das US-amerikanische Kino. In seinem Essay The Outlook for American Culture (1927) rechnet er mit allem ab, was ihm als oberflächlich erscheint: Given food, drink, the company of their fellows, sexual enjoyment, and plenty of noisy distractions from without, they are happy. […] Contemporary urban life, with its jazz bands, its negroid dancing, its movies, theaters, football matches, newspapers, and the like, is for them ideal.76

Kinos gehören seiner Meinung nach zu jenen billigen Verlockungen der Moderne, die den Intellekt eher einschläfern, als ihn herauszufordern: „[T]he press, cinema and radio have hastened the descent into mindlessness“, fasst Carey Huxleys Sicht auf die modernen Massenmedien zusammen.77 Dabei richtet sich Huxleys Abscheu vor allem gegen Vergnügungen, die „ready-made“78 sind, also im Zusammenhang mit einer standardisierten Produktion stehen. Die Retortenwesen in Brave New World stellen den Konnex her zwi-

74 

Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt: Suhrkamp 1992, S. 289. Durkheims Studie erschien zuerst im Jahr 1893, womöglich ist Huxleys Blick auf die Fließbandarbeit also entsprechend durch die historischen Entwicklungen ernüchtert. 75  Siehe zur Bedeutung des Fordismus und der von Ford eingeführten Serienproduktion auch Higdon: Wandering into Brave New World, S. 69ff. 76  Huxley: The Outlook for American Culture, S. 267. Wie schon in der Feelie-Szene in BNW zeigen sich hier Huxleys mit rassistischen Ressentiments durchsetzte Vorbehalte gegenüber afroamerikanischer Kunst und Musik, vgl. dazu auch Higdon: Wandering into Brave New World, S. 131. 77  Carey: The Intellectuals and the Masses, S. 86. 78  Huxley: The Outlook for American Culture, S. 267.

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schen der massenhaften Produktion dieser „distractions“ und dem Massenkonsum eben dieser. Das standardisierte Kino erzeugt die gedankenlose Masse und diese konsumiert das Kino in einem endlosen Zirkel der Reproduktion der Reproduktion. Dabei gibt Huxley sich nicht als genereller Fortschrittsfeind. Er zeigt sich vielmehr enttäuscht von der Art und Weise, wie die modernen Medien benutzt werden: „The rotary press, the process block, the cinema, the radio, the phonograph are used not, as they might so easily be used, to propagate culture, but its opposite.“79 Ebenso wie die Freizeit, die der Mensch durch die Industrialisierung gewonnen hat, würden auch die Medien „misused“, indem sie der bloßen Unterhaltung statt der Kunst dienen.80 Das Schädliche liegt demnach also nicht im Medium selbst; der Musikliebhaber Huxley gibt zu, dass Reproduktionstechniken wie der Phonograph durchaus genutzt werden könnten, um Kulturgüter und Bildung zu verbreiten.81 Allein – und in dieser Enttäuschung gründet seine bittere Skepsis – sie werden dafür nicht genutzt, eben weil sie zu Massen-Medien verkommen sind. Die Masse korrumpiert den Apparat; insofern bedingen sich Dispositiv und Publikum hier gegenseitig. In Brave New World führt dieses Zusammenspiel zu einer dumpfen Masse aus geklonten Ebenbildern, die durch kinematographische Verfahren erzeugt wird und die ihrerseits wieder die gleichförmige Unterhaltung durch das Kino sucht. Die kopflose Masse, deren Orientierungslosigkeit aus dem Konsum der Massenmedien resultiert, ist der große Antagonist von Intellektuellen wie Huxley oder Ortega y Gasset. Dieser beschreibt 1929 in La Rebelión de las Masas sein Unbehagen gegenüber der trägen Masse, die durch den technischen und politischen Fortschritt in die privilegierte Situation der gesellschaftlichen Mitbestimmung geraten sei: La muchedumbre, de pronto, se ha hecho visible, se ha instalado en los lugares preferentes de la sociedad. Antes, si existía, pasaba inadvertida, ocupaba el fondo del escenario social; ahora se ha adelantado a las baterías, es ella el personaje principal. Ya no hay protagonistas: sólo hay coro.82

79 

Ebd., S. 268. Ebd., S. 267. 81  Vgl. ebd., S. 266. 82  Ortega y Gasset, José: La Rebelión de las Masas. In: Ders.: Obras Completas. Tomo IV (1926–1931). Madrid: Taurus 2008, S. 347–528, hier S. 377. (Dt.: „Die Menge ist auf einmal sichtbar geworden und nimmt die besten Plätze der Gesellschaft ein. Früher blieb 80 

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Dabei gilt Ortegas Unbehagen weniger den Arbeitermassen, als vielmehr jenem neuen „hombre medio“, der „no se diferencia de otros hombres, sino que repite en sí un tipo genérico“.83 Eben dieses Unbehagen drückt sich in den Klonen der Brave New World aus. Sie sind durchschnittlich, verrichten niedere Tätigkeiten, sind nur in ihrer schieren Quantität eine wichtige gesellschaftliche Größe: „[T]hey’re the foundation on which everything else is built“ (BNW, 195). Die „fore-doomed“ (BNW, 196) Bokanovsky-Gruppen haben schlichte Bedürfnisse, die leicht zu befriedigen sind: „Seven and a half hours of mild, unexhausting labour, and then the soma ration and games and unrestricted copulation and the feelies.“ (BNW, 197, Herv. i. O.) Das macht sie zu leicht beherrschbaren Untertanen. Im Kern von Huxleys Medienkritik liegt seine Sorge vor dem passiven Rezipienten, der den Kontrollverlust hinnimmt und sich wie der Betrachter von der Medusa stillstellen lässt. Die „atmosphere of passivity“,84 die das Kino bei seinem Publikum erzeuge, steht im Gegensatz zu Benjamins Auffassung der neuen Massenmedien, derzufolge der Film „machtvollster Agent“ der „Massenbewegungen unserer Tage“ ist.85 In Brave New World wirkt das Kino im Gegenteil demobilisierend, es erzeugt Leerlauf; die Kunst, wie sie früher existierte, scheint ausgemerzt von dem, was Huxley als ready-made kritisiert: If you wanted a pictorial record of some person or scene you had to draw and paint. If you lived in a village or out of the way town and wanted drama you had to act, yourself. To-day you need do none of these things. You turn on the gramophone or the radio when you need music; you click your Kodak when you want a picture; you go to the village movies when you want drama.86

Huxley idealisiert hier einen engagierten Rezipienten, der früher selbst Theater gespielt habe statt wie heute ins Kino zu gehen. Die Passivität, die er dem Kinopublikum unterstellt, kehrt in seinem Roman Eyeless in Gaza (1936) wieder, wo die Zuschauer „sitting at the picture palace passively accepting sie, wenn sie vorhanden war, unbemerkt; sie stand im Hintergrund der sozialen Szene. Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben; sie ist Hauptperson geworden. Es gibt keinen Helden mehr; es gibt nur noch den Chor.“ Siehe Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1935, S. 10.) 83  Ebd., S. 377. 84  Huxley: The Outlook for American Culture, S. 268. 85  Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 141. 86  Huxley: The Outlook for American Culture, S. 268.

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ready-made day-dreams from Hollywood“.87 Mit dem nostalgischen Topos des Zuschauers, der vom ehemals aktiven Kunstschaffenden zum passiven Betrachter wird, rekurriert Huxley implizit auf den Pygmalionmythos, der nicht nur von der Verwandlung eines toten Kunstwerks in eine lebendige Frau erzählt, sondern auch von der Metamorphose des Künstlers in einen Betrachter.88 Elsner stellt in einer überzeugenden Lektüre des Mythos fest, dass Ovid dem betrachtenden Künstler deutlich mehr Raum und Text widmet als seiner künstlerischen Arbeit an der Statue, und kommt daher zu dem Schluss, dass der Kern des Textes darauf ziele, den Bildhauer „as a viewer“89 darzustellen, also eben jene Verkehrung des künstlerischen in ein passives Subjekt zu inszenieren, vor der Huxley warnt. In den Monaten vor dem Erscheinen von Brave New World beschäftigt sich Huxley intensiv mit dem Mythos des Bildhauers, er veröffentlicht zwei Essays, die auf ihn Bezug nehmen und setzt ihn dabei in Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt seiner Zeit.90 1931 erscheint sein Aufsatz Pigmalión contra Galatea in der von Victoria Ocampo herausgegebenen argentinischen Literaturzeitschrift Sur;91 hier drückt er sein Misstrauen gegenüber technisch erzeugten Artefakten aus: „Nada marcha mejor que lo que se inventa; pero nada también, a veces, fracasa tan sorprendentemente.“92 In dem Text ver-

87 

Huxley, Aldous: Eyeless in Gaza. New York: Harper 1936, S. 355. Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 370ff. 89  Elsner: Roman Eyes, S. 113. 90  Tatsächlich ist der im Folgenden zitierte Essay aus Sur nicht der einzige, in dem sich Huxley mit der Legende des Bildhauers beschäftigt. Im gleichen Jahr erschien in H ­ earst ein weiterer Essay mit dem Titel Pygmalion. Hier bezeichnet Huxley den Pygmalion­ mythos als „a parable of humanity and its creations“, denn „[m]an brings his inventions into the world and they proceed to develop independently of their creator – sometimes even in hostility to him.“ Siehe Huxley, Aldous: Pygmalion. In: Ders.: Complete Essays. Vol III (hg. v. Robert S. Baker u James Sexton). Chicago: Ivan R. Dee 2000, S. 307–308, hier S. 307f. Huxley scheint besonders fasziniert von einer alternativen, pessimistischen Fortschreibung des antiken Mythos, einer Version, in der „the charming Galatea of a few generations or centuries ago has grown into a ferocious and terrifying monster“ (ebd., S. 308). 91  Zum Kosmos der Intellektuellen rund um die argentinische Zeitschrift gehören nicht nur der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, der Huxleys Ansichten über Masse und Massenmedien teilt, sondern auch Victoria Ocampos Schwager Adolfo Bioy Casares, mit dessen Roman La invención de Morel sich das folgende Kapitel beschäftigen wird. 92  Huxley, Aldous: Pigmalion contra Galatea. In: Sur. Revista Trimestral, 3 (1931), S. 85– 93, hier S. 85. 88 

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leiht Huxley der Sorge Ausdruck, dass vom Menschen geschaffene Artefakte sich wie Frankensteins Monster gegen ihre Schöpfer wenden könnten. Durch den Bezug zu Pygmalion bettet er diese Problematik des außer Kontrolle geratenen Werks in einen ästhetischen und autoreflexiven Diskurs ein. „[E]sas artes de nuestra invención, mediante las cuales hemos dominado a la naturaleza, nos están a su vez dominando“,93 schreibt Huxley und eröffnet damit das Schlachtfeld für den Kampf („pugna“94) zwischen Mensch, Natur und Kunst: Nachdem Kunst zunächst als Mittel erschienen war, mit dem sich der Mensch über die Natur erhebt, wenden sich die Kreationen gegen ihren Erschaffer. Dieses bedrohliche Motiv weitet Huxley in Brave New World auf die gesamte Gesellschaft aus: Hier bringen die modernen Medien die Masse nicht nur hervor, sie wenden sich bald gegen ihr Publikum. So geschieht die Zurichtung des Menschen im World State unter anderem durch „sleep teaching“ (BNW, 39), einem akustischen Konditionierungs- und Disziplinierungsverfahren, das sich als äußerst wirksam erweist. Wie nachhaltig die Maximen wirken, die Kindern im Schlaf in Dauerschleife vorgespielt werden, zeigt sich in den Dialogen zwischen Lenina und Bernhard Marx. Während Letzterer von Berufswegen mit der Konditionierung betraut und ein Experte für „hypnopaedia“ ist (BNW, 40), der ihre Mechanismen durchschaut und die Maximen ironisch zitiert, wiederholt Lenina ganz automatisch die Regeln, die ihr eingetrichtert wurden: ’[…] Everybody’s happy now.‘  ’Yes, everybody’s happy now,‘ echoed Lenina. They had heard the words repeated a hundred and fifty times every night for twelve years. (BNW, 65)

Tatsachen werden durch Repetition geschaffen, die Bedeutung der Worte allerdings wird ausgehöhlt. „Happy“ ist für Lenina nicht mehr mit einer Empfindung verbunden, das Wort als Zeichen hat keinen Bezug zur Realität mehr. So arbeitet im World State alles darauf hin, die Signifikanten zu entleeren.95

93 

Ebd., S. 86f. Ebd., S. 87. 95  Wobei mit „leeren Signifikanten“ hier nur indirekt auf Laclaus Theorie verwiesen werden soll, denn diese fasst den leeren Signifikanten als potenziell vieldeutig auf, während in Brave New World bestimmte Wörter tatsächlich bedeutungslos werden. Vgl. Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? Die soziale Produktion leerer Signifikanten. In: Ders.: Emanzipation und Differenz. Wien: Turia und Kant 2010, S. 65–78. 94 

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Nicht einmal Bernhard Marx, der den Mechanismus durchschaut, kennt mehr die Bedeutung von „happy“; seine Überlegenheit beruht allein darin, dass er sich dessen noch bewusst ist. Aber auch er ist in der Wiederholungsschleife gefangen und hat keinen Zugriff auf die Signifikate mehr. Wie die Retortenreproduktion ist auch die „sonic repetition“ ein Leitmotiv in Brave New W ­ orld.96 Das Echo des Phonographen pflanzt sich fort, so lange bis Lenina selbst zu einem Wiedergabeapparat wird. Der Roman kulminiert in der Apparatwerdung des Menschen. Das dritte Kapitel führt dies eindrücklich vor Augen: Hier mündet eine Parallelmontage mehrerer Dialoge und Szenen in einer Kakophonie aus reproduzierten und somit bedeutungslos gewordenen Standardsentenzen: ‘Every man, woman and child compelled to consume so much a year. In the interests of industry. The sole result…‘  ‘Ending is better than mending. The more stitches, the less riches; the more stitches…’  ‘One of these days,’ said Fanny, with dismal emphasis, ‘you’ll get into trouble.’  ‘Conscientious objection on an enormous scale. Anything not to consume. Back to nature.’  ‘I do love flying, I do love flying.’  ‘Back to culture. Yes, actually to culture. You can’t consume much if you sit still and read books.’  ‘Do I look all right?’ Lenina asked. Her jacket was made of bottle-green acetate cloth with green viscose fur at the cuffs and collar.  ‘Eight hundred Simple Lifers were moved down by machine guns at Golders Green.’  ‘Ending is better than mending, ending is better than mending.’ (BNW, 42f.)97

Dass hier zusätzlich zur repetitiven Redundanz noch eine schnell geschnittene Parallelmontage vorgeführt wird, die in Orientierungslosigkeit bezüglich der Frage ‚Wer spricht mit wem worüber?‘ endet, ist als weiterer Seitenhieb auf das Kino zu verstehen. Der Text macht in dieser autoreflexiven Wendung bewusst, dass er das Kinematographische in Form einer Parallelmontage nicht

96 

Garneau, Theo: Brave New World as Prototypical Musicalized Fiction. In: Izzo, David Garrett / ​Kirkpatrick, Kim (Hg.): Huxley’s Brave New World. Essays. Jefferson: McFarland 2008, S. 132–144, hier S. 136. 97  Diese Passage wurde als Ausschnitt ausgewählt und ohne Auslassungen wiedergegeben, insgesamt zieht sich diese kakophone Parallelmontage über fünf Seiten am Ende des dritten Kapitels des Romans.

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nur imitieren, sondern auch parodieren und somit übertreffen kann. Allerdings um den Preis, dass die Sätze bedeutungslos werden. In der künstlich reproduzierten Masse schlummert ein aggressives Potenzial, das sich vor allem gegen Fremdkörper wie John richtet. Die Masse setzt ihre eigene Durchschnittlichkeit durch, indem sie alles andere abtötet. Ortega y Gasset scheint mit Huxley darin einig, dass diese Tendenz zur Durchsetzung der Gleichförmigkeit aus den USA kommt: „Como se dice en Norte­américa: ser diferente es indecente. La masa arrolla todo lo diferente, egregio, individual, calificado y selecto.“98 Wobei in Brave New World die Masse nicht nur aus Epsilon Semi-Morons, der untersten Kaste, besteht, sondern auch die oberen Kasten einschließt. Sie alle bilden eine Masse, die so heißt, „no tanto porque sea multitudinario, cuanto porque es inerte“.99 Dabei gilt wie in der Physik, dass eine träge Masse, einmal in Bewegung versetzt, nur schwer zu bremsen ist. John, der ihr als einziges freies Individuum gegenübersteht, muss dies am eigenen Leib erfahren: A sudden noise of shrill voices made him open his eyes and, after hastily brushing away the tears, look around. What seemed an interminable stream of identical eight-year-old male twins was pouring into the room. Twin after twin, twin after twin, they came — a nightmare. Their faces, their repeated face — for there was only one between the lot of them — puggishly stared, all nostrils and pale goggling eyes. Their uniform was khaki. All their mouths hung open. (BNW, 177)

Das immer gleiche Gesicht mit dem immer gleichen Gesichtsausdruck – John sieht sich einer unheimlichen Armee entstellter Kinder gegenüber. Hier erlebt er den Alptraum, zu dem die Brave New World geworden ist. Ein nicht endender Strom gleichförmiger Wesen flutet den Raum. Die Embryos aus dem Fertilizing Room kehren hier wieder, inzwischen zu Menschen gereift, aber nicht zu Individuen. Diese Wesen sind tatsächlich Abzüge der immer gleichen Photographie, „repeated indefinitely, as though by a train of mirrors“ (BNW, 183). Indem die Unterschiede zwischen Individuen negiert werden, erhält das System sich selbst. So wendet sich die Masse gegen den Fremdkörper John, der zunächst noch vorhat, sie zu befreien: „I’ll make you be free whether you want

98 

Ortega y Gasset: La Rebelión de las Masas, S. 380. (Dt.: „Wie es in N ­ ordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist.“ Siehe Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 16.) 99  Ebd., S. 413.

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to or not.“ (BNW, 187, Herv. i. O.) Das Freiheitsversprechen wirkt als kurzes retardierendes Moment, ehe die Panik die Masse ergreift: „For a moment the khaki mob was silent, petrified, at the spectacle of this wanton sacrilege, with amazement and horror. […] A great shout suddenly went up from the mob; a wave of movement drove it menacingly towards the Savage.“ (BNW, 187) Die träge Masse wälzt sich getrieben von einer intrinsischen Bewegung der Selbsterhaltung auf John zu. Einmal mehr wird klar, dass John kein Teil dieser Masse ist.100 Als er ihre Soma-Rationen zerstört, wird die Masse zu einem bewegten Leib aus vielen Leibern.101 Elias Canetti beschreibt die Situation der Massenpanik eindrücklich: Die Panik ist ein Zerfall der Masse in der Masse. Der einzelne fällt von ihr ab und will ihr, die als Ganzes gefährdet ist, entkommen. Aber da er noch physisch in ihr steckt, muß er gegen sie angehen. […] Durch Schläge und Stöße weckt er Schläge und Stöße. […] Es ist merkwürdig zu beobachten, wie sehr die Masse für den in ihr Kämpfenden den Charakter des Feuers annimmt.102

Aus Johns Perspektive sind in diesem Moment tatsächlich alle um ihn herum von der „feindlichen Gesinnung des Feuers angesteckt“.103 Als Einzelkämpfer hat er jedoch keine Chance gegen diese Vielzahl an Leibern anzukommen. Dabei liegt das Unheimliche in dieser Szene gerade darin, dass seine Angreifer alle das gleiche Gesicht tragen. Die „indistinguishable faces of his assailants“ (BNW, 187) kehren immer wieder und graben sich tief in Johns visuelle Erinnerung ein. Viel später sucht ihn dieses geklonte Gesicht noch einmal heim: „The remembered image of those long rows of identical midgets“ (BNW, 195) besitzt ein Nachleben. Der „Alptraum endlosen Doppelgängertums“,104 den Huxley in seinem Roman entwirft, ist der Alptraum der Moderne.

100 

Wobei generell anzumerken ist, dass schon der Begriff „Masse“ davon ausgeht, dass derjenige, der andere als Masse bezeichnet, selbst nicht Teil dieser Masse ist und damit den anderen, die er so beschreibt, die Selbsterkenntnis ihres Masse-Seins abspricht. Die Masse kann sich nicht selbst beobachten. Insofern ist der extradiegetische Erzähler ebenfalls kein Teil der Masse. 101  Die Reaktion ähnelt damit der legendären Panik im Zuschauerraum bei der Projektion von Lumières L’Arrivée d’un Train. Die Zugfilm-Anekdote implizierte bereits, dass angesichts des neuen Mediums Film das Publikum zur Masse degeneriert. 102  Canetti, Elias: Masse und Macht. Hamburg Claassen Verlag 1960, S. 25. 103  Ebd., S. 26. 104  Adorno: Aldous Huxley und die Utopie, S. 98.

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3.1.3 Soma: jenseits der Wirklichkeit

Dass John eigentlich nicht von dieser schönen neuen Welt ist, wird im Text unmissverständlich deutlich. Er stammt nicht aus dem hochzivilisierten London, sondern aus einem Reservat in New Mexico, wo die Menschen noch in Holzhütten und von den Früchten der Feldarbeit leben. John steht aber nicht nur für „uncorrupted Nature“,105 sondern auch für die noch nicht totalkinematographisch erfasste Realität. Er ist die einzige Figur in Huxleys Roman, die nicht reproduziert, sondern auf natürlichem Wege geboren wurde und so noch einen Bezug zu dem hat, was Huxley und seine Leser als Wirklichkeit und Alltag kannten; alle anderen Figuren, von Lenina bis zum Controller of Western Europe, leben in einer artifiziellen Scheinwelt, die so künstlich ist, dass sie den in der Badewanne erzeugten Filmtricks ähnelt, die Huxley bei seinem Besuch in Hollywood beobachtet hat.106 Aber auch John entkommt dem totalkinematographischen Staatsapparat am Ende nicht: Kurz vor seinem Suizid wird auch er zu einem Opfer dieser alles erfassenden Kraft, wenn „Darwin Bonaparte, the Feely Corporation’s most expert big-game photographer“, „his telescopic camera carefully aimed“, den Wilden als Film reproduziert und damit kolonialisiert (BNW, 223). John, der niemals die Gesellschafts-Droge Soma konsumiert und nur einmal ein Feelie-Theater besucht hat, wird selbst zum Objekt des Blicks der Massen: „Twelve days later The Savage of Surrey had been released and could be seen, heard and felt in every first-class feely-palace in Western Europe.“ (BNW, 224) Diese finale Bildwerdung des einzigen freien Menschen, der nun ebenfalls in ein Objekt der Massenrezeption verwandelt ist, bedeutet den Sieg der Masse über das Individuum und des Scheins über die Realität: „When they had put in the feely effects at the studio, it would be a wonderful film.“ (BNW, 224) Die Feelies sind, wenn sie auch zunächst den Anschein unmittelbarer Realität zu evozieren scheinen, hyperreal; sie infiltrieren und ersetzen die Wirklichkeit, die John verkörpert. Er wird zum stellvertretenden Opfer dieser Ersetzungsdynamik: Sobald der Film über ihn in den Kinos ist, sucht die Meute ihn in seinem Versteck auf, „a great swarm of helicopters“ (BNW, 224) kreist über ihm und sein neues Publikum verlangt von ihm, dass er die bereits im Feely erlebte Handlung wiederholt. Ihre Sehnsucht nach dem Realen lässt al-

105  106 

Carey. The Intellectuals and the Masses, S. 89. Vgl. Huxley: Jesting Pilate, S. 263.

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lerdings dieses letzte Stück Realität verschwinden: Nach einer masochistischen Orgie, in der John sich selbst, „his own rebellious flesh“ malträtiert, liegt auch er, genau wie die Untertanen des World State „[s]tupefied by soma“ in seinem Unterschlupf (BNW, 228, Herv. i. O.). Dies ist die ultimative Kapitulation. Am nächsten Tag nimmt er sich das Leben. Danach bleibt von ihm nur das Feely übrig, das ihn in den Tod getrieben hat. So ersetzt am Ende die totalkinematographische Reproduktion die Realität. Die Wirklichkeit hatte aber schon vorher keinen guten Stand in der Brave New World. Es gibt für diejenigen, die ihr überdrüssig sind, nicht nur die Zerstreuung durch die Feelies, sondern auch einen noch wirksameren Ausstieg: Soma. Was dem Feely noch nicht gelang, vollbringt diese Droge. Während sich der Rezipient im Feely-Theater durchaus noch bewusst ist, dass er es mit einer – wenn auch täuschend echten – Simulation von Realität zu tun hat, wird die Illusion durch Soma zur Halluzination. In seinem nachträglich verfassten Vorwort zum Roman schreibt Huxley: „[R]eality, however utopian, is something from which people feel the need of taking pretty frequent holi­ days“.107 Diese Ferien erleben die Bewohner des World State durch die synthetisch hergestellte und weitgehend nebenwirkungsfreie Droge. Lenina erträgt die anachronistische, vor-zivilisatorische Wirklichkeit, die sie bei ihrem Ausflug ins Reservat der ‚Wilden‘ umgibt, nur einen Tag lang, dann braucht sie eine Auszeit: Lenina felt herself entitled, after this day of queerness and horror, to a complete and absolute holiday. As soon as they got back to the rest-house, she swallowed six half-gramme tablets of soma, lay down on her bed, and within ten minutes had embarked for lunar eternity. It would be eighteen hours at the least before she was in time again. (BNW, 122)

Im Soma-Rausch gilt eine andere Zeit, die ewige Gegenwart: Die Droge ermöglicht der Konsumentin „the experience of the self in an ongoing present“.108 Allerdings ist Combs Formulierung hier nicht ganz zutreffend: Da im Soma-Rausch anders als im Feelie-Theater das Bewusstsein über den ei-

107 

Huxley: Foreword, S. XXXVII. Combs, Robert: The Eternal Now of Brave New World: Huxley, Joseph Campbell, and The Perennial Philosophy. In: Izzo, David Garrett / ​Kirkpatrick, Kim (Hg.): Huxley’s ­Brave New World. Essays. Jefferson: McFarland 2008, S. 161–171, hier S. 161. Wobei diese Gegenwart eigentlich eine durch ständige Wiederholung pervertierte Vergangenheit in den reproduzierten Klons oder den hypnopädischen Endlosschleifen der gesellschaftlichen Regeln darstellt. 108 

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genen Zustand abhanden kommt, gibt es hier eben keine „experience of the self“ mehr. Während John und Lenina sich im Feely-Theater durchaus bewusst sind, dass sie einen multisensuellen Film rezipieren, und die Rezeption jederzeit unterbrechen können, indem sie die Hände von den „metal knobs“ (BNW, 146) nehmen oder ihre Sessel verlassen, ist das Bewusstsein der Soma-Konsumentin für die Dauer des Rausches ausgeschaltet und eine Unterbrechung nicht möglich. Im Gegensatz zum Feely versetzt Soma seine Konsumenten buchstäblich „in another world – the warm, the richly coloured, the infinitely friendly world of soma-holiday. How kind, how good-looking, how delightfully amusing everyone was“ (BNW, 66, Herv. i. O.). Die Folge der Immersion in diese andere Welt ist eine „happy ignorance“ (BNW, 67) der hiesigen. Denn „soma had raised a quite impenetrable wall between the actual universe and their minds“ (BNW, 67, Herv. i. O.). Man muss Soma schlucken, es sich also einverleiben; in gottesdienstähnlichen Zeremonien wird es bisweilen auch gemeinsam verzehrt. Diese Soma-Kommunion dient dem Erhalt der Gemeinschaft, es löscht „dreadful ideas“ (BNW, 79) und ersetzt sie durch sozial erwünschte, gedämpfte Affekte.109 Die Anwendungsmöglichkeiten von Soma sind vielfältig: Es kann als Aphrodisiakum, Beruhigungsmittel, Stimmungsaufheller, Halluzinogen und Anästhetikum eingesetzt werden, wobei alle diese Wirkungen nicht nur auf die Gewährleistung eines stabilen sozialen Friedens abzielen, sondern auch auf eine Vertiefung der Immersionserfahrung beim Rezipienten. Durch Soma fühlt er sich ganz Teil der Brave New World, sein Leib wird Teil der Masse. Auch der Name der Substanz ist einladend vieldeutig: σῶμα, der Körper, ist der Ort des Menschen in der Wirklichkeit und zugleich der Urgrund seiner Sterblichkeit.110 Eben diese Wirklichkeit wird durch den Soma-Rausch allerdings substituiert, ähnlich wie die sinnliche Erfahrung durch das Feely ersetzt wird. In den indischen Veden bezeichnet „Soma“ ein rituell verwendetes Rauschge-

109 

Michaela Ott spricht mit Bezug auf Norbert Elias von „Affektdämpfung“, die die moderne Gesellschaft von ihnen Mitgliedern verlange, siehe Ott: Affizierung, S. 347. ­Siehe außerdem Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Bern: Francke Verlag 1969, v. a. S. 328. 110  Freud, der Weismanns morphologische Theorie zitiert, betont etwa, dass „das Soma der höheren Lebewesen aus inneren Gründen zu bestimmten Zeiten“ abstirbt; insofern ist das Soma auch ein Memento mori, das das Organische dem Tod zutreibt. Siehe Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Gesammelte Werke, Band XIII. London: Imago Publishing 1955, S. 1–69, hier S. 49.

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tränk.111 Auf die Konsumenten hat es eine vergleichbare Wirkung wie die Feelies: „Euphoric, narcotic, pleasantly hallucinant.“ (BNW, 46) Ganz ähnlich beschreibt Huxley in seinem Essay Where Are the Movies Moving (1925) das Kino, wo „the darkness of the theater, the monotonous music“ das Publikum in „a kind of hypnotic state“ versetzen.112 Auch Virilio weist auf die intrinsische Verwandtschaft zwischen Totalem Kino und Drogenerfahrung hin: Das perfektionierte realistische Simulationssystem ähnle einem „phénomène d’hallucination qui s’apparente à celui des stupéfiants, ce futur matériel d’entraînement signale la tendance à la disparition de toute scène, du tout écran, au profit du seul « siège »“.113 Indem sie auf „chemical persuasion“ setzt,114 geht Huxleys Vision des Totalen Kinos über die Vorstellung einer rein mimetischen Kinematographie ebenso hinaus wie über die einer entgrenzten Filmmagie bei Friedlaender/Mynona. Stattdessen imaginiert Huxley das Totale Kino als ein halluzinogenes Medium, das die Rezipienten von der Realität abtrennt. Der unvermittelten Wirklichkeit wird keiner der Bewohner des World State mehr ansichtig, die Realität ist immer schon durch die Konditionierung, die mediale Zurichtung, das Dispositiv vermittelt und wird dadurch zu ihrer eigenen Kopie. Auch der Soma-Konsument verwandelt sich in „somebody else“ (BNW, 77), eine andere Version seiner selbst. Ohnehin bietet der World State seinen Bürger für beinahe sämtliche Alltagsdinge Ersatz an: Embryos werden mit „blood-surrogate“ (BNW, 9) ernährt, man trinkt „champagne-surrogate“ (BNW, 196) und hört „oboe-surrogate“ (BNW, 145). Kunstwerke könnten – wenn überhaupt – aus „Carrara-surrogate“ (BNW, 68) gehauen werden; für Frauen gibt es ein „pregnancy substitute“ (BNW, 32), statt echter Leidenschaft ein „passion-surrogate“ (BNW, 164). Ihre ästhetische Vollendung erfährt diese Ersetzungsbewegung

111  Huxley, der mit der Niederschrift von Brave New World kurze Zeit nach seinem Besuch in Indien begann, kannte diese Bedeutung ebenfalls. Er schreibt darüber im 1959 erschienen Brave New World Revisited: „The Soma of Brave New World had none of the drawbacks of its Indian original. In small doses it brought a sense of bliss, in larger doses it made you see visions and, it you took three tablets you would sink in a few minutes into refreshing sleep.“ Siehe Huxley, Aldous: Brave New World Revisited. London: Vintage / Random House 2004, S. 90. Siehe zur Bedeutung von Soma außerdem Higdon: Wandering into Brave New World, S. 41ff. 112  Huxley, Aldous: Where Are the Movies Moving?. In: Ders.: Complete Essays. Vol I (hg. v. Robert S. Baker u James Sexton). Chicago: Ivan R. Dee 2000, S. 174–177, hier S. 176. 113  Virilio: Le dernier véhicule, S. 53. 114  Huxley: Brave New World Revisited, S. 87.

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in Leninas bewundertem Gürtel aus „real morocco-surrogate“ (BNW, 45): Hier verschwimmt die Grenze zwischen „real“ und „surrogate“, zwischen der Wirklichkeit und ihrer Nachbildung vollends. Die Kopie hat das Original ersetzt. In Fortsetzung dieser Logik stellen Feely und Soma-Rausch ebenfalls Realitäts-Surrogate dar, die vor allem auf die Ersetzung sinnlicher Erfahrung abzielen. Die traditionelle Sinneshierarchie, nach der spätestens der Tastsinn zwischen Abbild und Realität unterscheiden kann, ist aufgehoben, nachdem sie bereits bei den optophonetischen Tastbildern in Mynonas Graue Magie ins Wanken geraten war. Die Ersatzangebote, die die neue Zivilisation macht, sind nicht nur bequemer und nebenwirkungsfrei – so bekommt man von Champagner-Surrogat keine Kopfschmerzen und eine substituierte Schwangerschaft verursacht keine Geburtswehen –, sie haben die Realität bereits vollständig ausgemerzt. Champagner wird nicht mehr hergestellt und Fortpflanzung geschieht im Reagenzglas. Soma ist das Mittel, um das gleiche Prinzip auf die Wirklichkeit anzuwenden; in einer Welt, in der Soma zur freien Verfügung steht, ist „der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Land der Technik“ geworden, wie Benjamin über das Kino schreibt.115 Nur sucht in der Brave New World niemand mehr nach dieser blauen Blume. Der extradiegetische Erzähler ist die einzige Instanz, die die Realität diesseits des Soma-Rausches gewährleistet und im Wissen der (ehemaligen) Existenz dieser Realität von der Welt der Surrogate, der vollendeten Utopie des Totalen Kinos erzählt.116 Huxley beschäftigt sich immer wieder mit der Vorstellung, dass durch technologischen Fortschritt der Status quo nicht bloß weiterentwickelt wird, sondern dass Fortschritt auch den Verlust und Ersatz von bisherigen Institutionen bedeutet. In seinem Essay The Substitutes for Religion führt er diesen Gedanken am Beispiel des säkularisierten Staates aus, in dem Religion nicht einfach verschwindet, sondern ersetzt wird durch diverse Substitute und Sur-

115 

Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 157. 116  Bazin denkt das Cinéma total zwar nicht als Ersatz der Wirklichkeit, im literarischen Diskurs kehrt dieses Argument gegen den Film aber seit Villiers’ L’Ève future immer wieder, was auch mit der bereits eingangs angesprochenen Verknüpfung des total­ kinematographischen Narrativs mit dem Pygmalionmythos zusammenhängt: Pygmalion schafft eine lebensechte Statue, um durch sie die realen Frauen zu ersetzen, die er für lasterhaft hält. Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 370f. In dieser Verknüpfung liegt ein ikonoklastisches Argument der Literatur gegen den Film, das für die Präfigurationen des Totalen Kinos wesentlich ist.

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rogate wie Politik, Kunst, Sex sowie bestimmte Rituale.117 In Brave New World wendet er dieses Prinzip auf die Realität an: Der Realitätsentzug ist eine Folge des Fortschritts in Richtung des Totalen Kinos. In der Zivilisation des W ­ orld State wurden nicht nur Religion durch den Fordismus und Literatur durch die Feelies ersetzt; für die Wirklichkeit selbst hat man Ersatz gefunden – und zwar einen Ersatz, der dem Original eben durch seine Künstlichkeit überlegen scheint. Hier knüpft Huxleys Roman an einen Intertext an, der in Brave New World immer wieder aufscheint: Joris-Karl Huysmans’ À rebours. Von dessen Protagonist Des Esseintes bezieht Huxley nicht nur die Inspiration für die „scent organ“ (BNW, 146),118 sondern auch den grundlegenden Gedanken, dass „l’imagination lui semblait pouvoir aisément suppléer à la vulgaire réalité des faits“.119 In gewisser Weise vervollkommnet das Soma den Traum von Des Esseintes, der vorhat „substituer le rêve de la réalité à la réalité même“.120 Auch in der Brave New World „la nature a fait son temps“.121 Ihre Zeit ist abgelaufen. Huxley hebt das individuelle Projekt des decadent auf eine gesellschaftspolitische Ebene: Während für Des Esseintes der Besuch einer Taverne eine Reise nach London ersetzt und die Phantasmagorien, die er dort erlebt, ihn „saturé de la vie anglaise“ zurücklassen,122 nehmen die Bewohner des World State statt der Realität überhaupt nur noch Phantasmagorien wahr. „Meurs donc, vieux monde !“, heißt es nicht nur in À rebours,123 sondern auch in Brave New World, wo die alte Welt in Reservate verbannt und den Zugang zu ihr reglementiert wurde. Sowohl in À rebours als auch in Huxleys Roman soll die Realität nicht nur ersetzt, sondern überboten werden durch eine ins Leblose gesteigerte Artifizialität.124 Ist dieses Stadium erreicht, führt

117 

Vgl. Huxley, Aldous: The Substitutes for Religion. In: Ders.: Proper Studies. London: Chatto & Windus 1949, S. 207–229. 118  Vgl. zu dieser Referenz Frost: Huxley’s Feelies, S. 450f. Die „scent organ“ spielt auf Des Esseintes’ „Mundorgel“ an, die mittels Likören und Schnäpsen Empfindungen hervorruft, die jenen beim Hören von Musik entsprechen. Vgl. Huysmans, Joris-Karl: À rebours. Paris: Classiques Garnier 2011, S. 129. Außerdem besitzt der Dandy eine breite Parfumpalette, aus deren Düften er synästhetische Gemälde und Landschaftsbilder erstellt. Vgl. ebd., S. 248f. 119  Huysmans: À rebours, S. 87. 120  Ebd., S. 89. 121 Ebd. 122  Ebd., S. 285. 123  Ebd., S. 396. 124  Während in Brave New World das „pregnancy substitute“ als Höhepunkt dieser am Ende fruchtlosen Überbietung der Natur angesehen werden kann, ist Des Esseintes’

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kein Weg zurück in die Realität:125 Johns Mutter Linda stirbt im Soma-Delirium, aus dem sie nie wieder aufwacht; sie ist zu tief eingetaucht in die Immersion (vgl. BNW, 174).126 Huxleys Perspektive für die Menschheit sieht angesichts der Innovation des Tonfilms ähnlich ausweglos aus. In Silence Is Golden schreibt er über die Zukunft des Intellekts im Kinozeitalter: It is a corruption as novel as the régime under which they and all the rest of us now live — as novel as protestantism and capitalism; as novel as urbanization and democracy and the apotheosis of the Average Man; as novel as Benjamin-Franklinism and the no less repulsive philosophy and ethic of the young Good Times; as novel as creation-saving machinery and the thought-saving, time-killing press; as novel as Taylorized work and mechanized amusement. Ours is a spiritual climate in which the immemorial decencies find it hard to flourish. Another generation or so should see them definitely dead. Is there a resurrection?127

Brave New World hält keine Erlösung bereit; der Eintritt ins Totale Kino ist ultimativ. Der Grund dafür liegt in der Wirkungsweise von Soma: Die Affizierung durch Soma wirkt direkt auf das zentrale Nervensystem des Konsumenten und ist deshalb psychologisch wie physiologisch unhintergehbar und un­unterbrechbar. Insofern Soma in Brave New World dazu genutzt wird, die immersive Wirkung der Totalkinematographie zu intensivieren, ist es nicht mehr weit bis zu Ray Kurzweils Vision von Nanobots, die im Inneren des menschlichen Körpers eine virtuelle Realität erzeugen, die von der physischen Realität nicht mehr unterscheidbar sein wird.128 In Brave New World bietet die Kombination aus Soma und Feely die Möglichkeit zur geplanten Ekstase und „organisierten Orgiastik“.129 Das Versprechen lautet: „Take a holiday from reMeisterstück eine Schildkröte, die durch Gold und Edelsteine auf ihrem Panzer so lange zum künstlichen Artefakt stilisiert wird, bis sie daran zugrunde geht. 125  À rebours endet zwar mit widerwilligen Reisevorbereitungen für Des Esseintes’ Rückkehr in die Pariser Gesellschaft. Ob diese Reise allerdings jemals angetreten wird, lässt der Roman am Ende offen. 126  Damit wurde auch sie, die immerhin eine Zeitlang im Wirklichkeits-Reservat außerhalb des World State gelebt hat, ähnlich wie John von den mächtigen Dispositiven der Brave New World korrumpiert. 127  Huxley: Silence is Golden, S. 24. 128  Vgl. Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 28. 129  Adorno: Aldous Huxley und die Utopie, S. 105. Wobei das Orgiastische auch bereits bei Friedlaender/Mynona in enger Verbindung mit dem Filmemacher Morvitius und seinem Fest der grauen Magie stand.

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ality whenever you like, and come back without so much as a headache or a mythology.“ (BNW, 46)130 Soma löscht die Vergangenheit und ersetzt sie durch das Jetzt: „Was and will make me ill […]. I take a gramme and only am“ (BNW, 90). Damit liegt die Soma-Erfahrung nicht bloß in einer Steigerung von Infiltration und Immersion, sie führt zu einer buchstäblichen Einverleibung des Rezipienten, seiner somatischen Inklusion in eine Scheinwelt. Der Leib selbst wird zum Erlebnisraum des Soma-Rausches, der in ein Jenseits der Realität führt, das aber ganz körperlich ist.131 Die Unmittelbarkeit der Soma-Erfahrung wird in Brave New World enggeführt mit der bereits angesprochenen verordneten Buchstäblichkeit jeglicher Rede im World State. Auf diese Weise entwirft der Roman „an environment that utterly contains its characters in opaque literalness.“132 Besonders deutlich wird dies in einer fehlschlagenden Unterhaltung zwischen Lenina und John, in der er ihr seine Liebe zu gestehen versucht: “[…] I mean I’d sweep the floor if you wanted.”   “But we’ve got vacuum cleaners here,” said Lenina in bewilderment. “It isn’t necessary.”   “No, of course it isn’t necessary. But some kinds of baseness are nobly undergone. I’d like to undergo something nobly. Don’t you see?”  “But if there are vacuum cleaners …”   “That’s not the point.”   “And Epsilon Semi-Morons to work them,” she went on, “well, really, why ?”   “Why? But for you, for you. Just to show that I …”  

130 

Ein ähnliches Versprechen steht im Zentrum von Paul Verhoevens Film Total Recall (1990), in dem ein Unternehmen seinen Kunden Erinnerungsimplantate anbietet, die beispielsweise eine Reise zum Mars als Virtuelle Realität erlebbar machen. Die Action-­ Komödie weist zwar einige logische Inkongruenzen auf, aber auch Schweinitz betont ihren Wert für eine Betrachtung des Topos der Ununterscheidbarkeit zwischen realer und virtueller Welt, vgl. Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 136. 131  Da der Erzähler als extradiegetische Instanz außerhalb des Soma-Rausches bleibt, können Erfahrungen während der vorübergehenden Besuche dieses Jenseits nicht erzählt werden. Von außen betrachtet wirken die Konsumenten jedenfalls, als wären sie bis ins Äußerste passiv: „[S]he could now sit, serenely not listening, thinking of nothing at all“ (BNW, 87f.). Wäre der Roman hingegen von einer intradiegetischen Instanz erzählt, würde dies die Narration verunmöglichen, da dann weder figurative Sprache noch ein Abgleich mit der Realität außerhalb der Totalkinematographie möglich wären. Ein solcher Roman würde mit in die Aporie gerissen, die dem Narrativ des Totalen Kinos innewohnt und zu der am Ende des Kapitel zurückzukehren sein wird. 132  Combs: The Eternal Now of Brave New World, S. 163.

ALDOUS HUXLEY | BRAVE NEW WORLD “And what on earth vacuum cleaners have got to do with lions …”   “To show how much …”   “Or lions with being glad to see me …” She was getting more and more exasperated.  “How much I love you, Lenina,” he brought out almost desperately.   [… John, KJ:] “Outliving beauty’s outward with a mind that cloth renew swifter than blood decays.”   “What ?”  “It’s like that in Shakespeare too. ‘If thou dost break her virgin knot before all sanctimonious ceremonies may with full and holy rite …’”  “For Ford’s sake, John, talk sense. I can’t understand a word you say. First it’s vacuum cleaners; then it’s knots. You’re driving me crazy.” (BNW, 167f., Herv. i. O.)

Der Grund dafür, dass Lenina John nicht versteht und die Kommunikation zwischen den beiden misslingt, liegt nicht allein darin, dass sie noch nie von Shakespeare gehört hat, weil dessen Verse in der Brave New World verboten sind.133 Lenina ist der metaphorische Gebrauch von Sprache nicht geläufig, sie ist darauf konditioniert, alles wörtlich zu nehmen, was John ihr sagt.134 So glaubt sie, er wolle tatsächlich den Boden für sie wischen – aus ihrer Sicht ein absurder Gedanke, wo es dafür doch Maschinen gibt. Metaphern sind im World State nicht direkt verboten, aber sie sind ungebräuchlich geworden in einer Welt der Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit, in der sowohl die Kinos als auch die Drogen dazu dienen, Realpräsenz zu suggerieren und so die Imaginations- und Interpretationsfähigkeit des Rezipienten nicht zu strapazieren. Hierin liegt die anti-utopische Übersteigerung der Totalkinematographie in Brave New World: Das Totale Kino bildet die Wirklichkeit nicht allegorisch-­ figurativ ab, sondern buchstäblich. Die Rhetorik ist im Narrativ des Totalen Kinos vollständig aus dem Film getilgt; so wie es keinen Schnitt gibt, existiert auch keine metaphorische Bedeutung der totalkinematographischen Simulation. Die „Realpräsenz des Dargestellten im Bild“ bedeutet seine eigene ewige Gegenwärtigkeit.135 Auch Vergangenheit ist ausgelöscht, weil das Kino den Moment in die Dauerschleife ewiger Wiederkehr zwingt. In Brave New ­World tragen die Eigennamen der Figuren zwar Spuren der Vergangenheit, diese bedeuten aber nichts mehr, sondern sind „simply a mishmash of cultural debris“.136 Sie haben ihre historische Bedeutung verloren und sind ebenfalls nur 133  134 

John zitiert hier aus Troilus and Cressida sowie aus The Tempest. Vgl. Combs: The Eternal Now of Brave New World, S. 163. 135  Hediger: Illusion und Indexikalität, S. 103. 136  Combs: The Eternal Now of Brave New World, S. 164.

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noch buchstäblich zu lesen; höchstens als Untote suchen Lenin, Marx und Helmholtz den Text noch heim. Ansonsten ist die Gesellschaft im World State ganz gegenwärtig und entspricht damit einer Selbstbeobachtung der Moderne, die Ortega y Gasset formuliert hat: Sentimos que de pronto nos hemos quedado solos sobre la tierra los hombres actuales; que los muertos no se murieron de broma, sino completamente; que ya no pueden ayudarnos. El resto de espíritu tradicional se ha evaporado. Los modelos, las normas, las pautas, no nos sirven. Tenemos que resolvernos nuestros problemas sin colaboración activa del pasado, en pleno actualismo — sean de arte, de ciencia o de política.137

Die Unbehaustheit der Moderne, die ihre Wurzeln gekappt sieht, wird in der Brave New World zum Prinzip erklärt. Hier befördert die Maxime „history is bunk“ (BNW, 29) „alles nicht den jüngsten industriellen Produktionsmethoden Entsprechende, schließlich jegliche Kontinuität des Lebens auf den Schutthaufen“.138 Es gibt tatsächlich keine Kontinuität mehr, nur noch das Präsens. Shakespeare ist ebenso verboten wie die Bibel, „because it’s old; that’s the chief reason. We haven’t any use for old things here. […] Particularly when they’re beautiful. Beauty’s attractive, and we don’t want people to be attracted by old things.“ (BNW, 192f.) Huxley inszeniert Shakespeare als Opfer des Kinos und bringt so den Kanon der Literaturgeschichte gegen das Konkurrenzmedium in Stellung.139 Dass die Feelies Shakespeares Verse ersetzt haben, macht sein

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Ortega y Gasset: La Rebelión de las Masas, S. 392. (Dt.: „Wir fühlen, wir Heutigen, auf einmal, daß wir allein auf der Welt sind, daß die Toten nicht im Scherz starben, sondern unwiderruflich, daß sie uns nicht mehr beistehen können. Der Geist der Tradi­ tion ist bis auf den letzten Rest entflohen. Vorbilder, Normen, feste Formen nützen uns nichts. Wir haben unsere Probleme – seien sie künstlerisch, wissenschaftlich oder politisch – ohne die tätige Mitarbeit der Vergangenheit in voller Gegenwart zu lösen.“ Siehe Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 36.) 138  Adorno: Aldous Huxley und die Utopie, S. 104. 139  Frost weist auf eine interessante und amüsante Konstellation hin, zu der Stummfilm-Adaptionen von Shakespeare führten: „Huxley’s choice of Shakespeare as the foil for Glyn and the feelies reflects the central role Shakespeare played in early cinema history. The silent film industry frequently turned to Shakespeare for its adaptations – from Herbert Tree’s King John (1899) onward, including Buchowetzki’s Othello (1922) – in an effort to elevate the medium’s status. Such productions introduced the irony of ‘silent Shakespeare’ and led to vigorous debates about the relationship between cinema and theater.“ Siehe Frost: Huxley’s Feelies, S. 456.

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Werk stellvertretend für die gesamte Literatur zu einem der „lost values of what Huxley sees as civilization and culture“.140 Statt ihre Imagination und ihren Intellekt durch Literatur herauszufordern, befinden sich die Bürger im World State konstant im passiven Zustand der Rezeption und des Konsums. Die Folge davon ist nicht nur eine vollständige Infantilisierung (vgl. BNW, 84), sondern auch ein Rückzug in die künstliche Welt jenseits der Realität. Wann immer die Wirkung der „ready-made distraction“141 nachzulassen und der Rezipient aus seinem dauer-euphorischen Dämmerzustand aufzuwachen droht, kommt Soma zum Einsatz: […] if ever by some unlucky chance such a crevice of time should yawn in the solid substance of their distractions, there is always soma, delicious soma, half a gramme for a half-holiday, a gramme for a weekend, two grammes for a trip to the gorgeous East, three for a dark eternity on the moon; returning whence they find themselves on the other side of the crevice, safe on the solid ground of daily labour and distraction, scampering from feely to feely (BNW, 47f., Herv. i. O.)

Soma schafft Abhilfe, falls ein „crevice“ droht, ein Filmriss, der einen Absturz in die Realität zur Folge hätte. Je nach Dosierung bewirkt die Droge eine Überbrückung entweder räumlicher oder zeitlicher Distanz. So bringt sie ihre Konsumenten wahlweise durch ein Wochenende oder in den Fernen Osten. Am Ende befördert Soma seine Konsumenten sogar bis auf den Mond. Dabei ist die Reise zum Mond, wie schon bei Mynona und bei Pirandello,142 eine Reminiszenz an die Filmgeschichte. Schließlich boten Filme tatsächlich die erste Möglichkeit, der Mondoberfläche ansichtig zu werden und sie im Zuge der Immersionswirkung des Kinos zu ‚betreten‘. Ist der Soma-Konsument allerdings einmal auf dem Mond angekommen, befindet er sich tatsächlich jenseits der Welt. Eine Rückkehr ist erst möglich, wenn die Wirkung der Droge nachlässt. Das Totale Kino hat in Brave New World als drogeninduziertes Szenario die Realität tatsächlich ersetzt, die nun eine metaphysische Größe geworden ist. Gott wird hier als „a reality, an absolute and everlasting truth“ bezeichnet (BNW, 206), wie die Realität ist er etwas, das „manifests himself as an absence; as though he weren’t there at all“ (BNW, 206f.). Die Realität ist ebenso

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Frost: Huxley’s Feelies, S. 456. Huxley: The Outlook for American Culture, S. 267. 142  Zu Mynona siehe Kapitel 2.2.3. In den Quaderni di Serafino Gubbio operatore ist ebenfalls davon die Rede, dass es möglich sei, auf dem Mond zu spazieren, „andare nella Luna […] cinematograficamente, si capisce“, siehe SG, 89. 141 

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transzendent geworden; wer sie in der Brave New World finden oder ihrer ansichtig werden wollte, wäre zum Scheitern verurteilt.143 Während die Schauspieler und der Kameramann bei Pirandello noch den Verlust der Realität beklagten, ja sogar den Film bezichtigen, sie der Realität zu berauben (vgl. SG, 86), nehmen die Bewohner des World State freiwillig Urlaub von „the appalling present, the awful reality“ (BNW, 179). Soma ist also mehr als eine Einladung zum Eskapismus, es ist der modus operandi, den der World State gegenüber der Realität gefunden und zur Anwendung gebracht hat. Das Totale Kino hat die Wirklichkeit in Huxleys Roman komplett durchdrungen. Brave New World stellt die Erfüllung des totalkinematographischen Narrativs vor Augen. Wenn jedoch die ganze Welt Totales Kino geworden ist, bedeutet das zugleich, dass der Traum vom Totalen Kino ad absurdum geführt ist. Denn wie im Soma-Rausch ist sich der Rezipient des Totalen Kinos der gelungenen Täuschung nicht mehr bewusst, er hält seine Umgebung schlechthin für die Realität. Die Möglichkeit, die Illusion zu durchbrechen, ist notwendig, um das Kino als total erkennen zu können. Das Narrativ des Totalen Kinos existiert nur als Utopie. Huxleys Roman stellt hingegen vor Augen, was passiert, wenn sich der „Traum des natürlichen Zeichens“ tatsächlich verwirklichen würde:144 Dann spräche niemand mehr von ‚Kino‘. So legt Brave New World die Selbstauslöschungsphantasie der Totalkinematographie offen und steuert das Narrativ auf einen Abgrund zu: „The drive to complete cinema, to perfect its mimetic capacities, suggested the eventual elimination

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Dana Sawyer, die Huxleys philosophischen Standpunkt untersucht hat, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis im Bezug auf Huxleys Ontologie: „He argues for a non-­dual position, believing that Reality is ultimately a Oneness whose essence is transcendental and non-different from our own.“ Wobei diese Annahme für die Menschen, die der Herrschaft des World State unterworfen sind, offenbar keine Gültigkeit mehr besitzt. Siehe: Sawyer, Dana: The Ersatz of Suchness. Aldous Huxley and the Spiritual Importance of Art. In: Nugel, Bernfried / ​R asch, Uwe / ​Wagner, Gerhard (Hg.): Aldous Huxley, Man of Letters. Thinker, Critic and Artist. Berlin: Lit Verlag 2007, S. 3–13, hier S. 6. Hier lässt sich ein Zusammenhang zu Huxleys erkenntnistheoretischer Position herstellen: Ähnlich wie die Menschen in der Brave New World keinen Zugriff auf die Realität mehr haben, hat der Mensch Huxleys Vorstellung nach keinen Zugriff auf die Wahrheit: „In his system, the mind can only grasp an intellectual analogue of Truth“ (ebd.). Sawyer schreibt weiter: „Huxley believed that art gives us a glimpse of absolute Truth.“ (S. 7) Da es in Brave New World keine Kunst mehr gibt, erfährt der Mensch in dieser Welt weder Schönheit noch Wahrheit noch Realität. Das Kino, so macht Huxley unmissverständlich deutlich, vermag den Weg zur Wahrheit jedenfalls nicht zu öffnen. 144  Hediger: Illusion und Indexikalität, S. 109.

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of cinema as such.“145 Indem der Roman das Narrativ des Totalen Kinos auf diese ihm inhärente Aporie zutreibt, durchkreuzt er es mit dem ihm selbst innewohnenden Paradox.

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Lippit: Three Phantasies of Cinema, S. 213. Vgl. dazu auch Krämer: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun?, S. 15.

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3.2 Fatale Metalepse: Adolfo Bioy Casares’ La invención de Morel (1940)

Nach den bisher untersuchten Texten aus den Zentren der frühen Filmproduktion in Europa schließt diese Studie mit der Lektüre eines Romans aus der Peripherie – allerdings einer Peripherie, die keineswegs abgeschnitten war von den Diskursen in Europa und den USA, sondern im Gegenteil einen privilegierten Beobachterposten innehatte und diesen auch selbstbewusst einnahm. So kommt Wolfram Nitsch zu dem Schluss, dass in der „Bibliothek literarischer Texte […], die sich mit neuartigen Konkurrenzmedien befassen oder doch wenigstens vor deren Hintergrund auf ihre eigene Medialität besinnen“, die argentinische Literatur „[e]inen erstaunlich wichtigen Platz“ einnimmt.146 In vorderster Reihe steht hier Adolfo Bioy Casares’ Roman La invención de Morel, der auf bemerkenswerte Weise das Narrativ des Totalen Kinos aktualisiert und produktiv fortschreibt, indem er es durch den Rückbezug auf Topoi der Kunstgeschichte und -theorie aus der Aporie entlässt, in die Huxleys Brave New World es geführt hat. La invención de Morel setzt den Traum von der Totalkinematographie ins Verhältnis zu zunächst anachronistisch erscheinenden Diskursen wie dem Inkarnat oder einem platonisch gefärbten Ikonoklasmus; angesichts des rasanten Fortschritts der Kinotechnologie scheinen solche Kontexte unzeitgemäß beziehungsweise längst überwunden. Bioy zeigt allerdings, dass diese Annahme falsch ist. Indem La invención de Morel zentrale bildtheoretische Diskurse

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Nitsch, Wolfram: Die Insel der Reproduktionen. Medium und Spiel in Bioy Casares’ Erzählung La invención de Morel. In: Iberoromania, 60 (2004), S. 102–117, hier S. 102.

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aufruft und auf das Kino überträgt, legt der Roman die Wurzeln des Narrativs vom Totalen Kino offen und zeigt, wie stark sich dieses aus der Tradi­tion des paragone zwischen Wort- und Bildkünsten speist.147 In der Lektüre von La invención de Morel offenbart sich eine Strategie literarischer Präfigurationen des Totalen Kinos: Der Text spricht dem Film seinen ästhetischen Wert und die Fähigkeit zur Selbstreflexion ab. Bioys Roman betreibt einen hinter Idola­trie verborgenen Ikonoklasmus – ein Projekt, in dem auch eine für die argentinische Phantastik spezifische Selbstvergewisserungsstrategie erkennbar wird. Letztlich ist La invención de Morel keine bloße Denunziation des Kinos, vielmehr wird das Konkurrenzmedium hier gemäß Lachmanns Hypothese zum eigentlichen Sitz des Phantasmas: Die literarische Imagination „bemächtigt“ sich des Mediums, indem sie es verbal hervorbringt „es in phantastische (utopische) Verhältnisse transponiert und ihm Potenzen zuschreibt, über die es (noch) nicht verfügt“.148 La invención de Morel erzählt nicht nur von den ins Phantastische übersteigerten Möglichkeiten des Kinos, sondern auch von der eigenen Medialität des Literarischen: Die Autoreflexivität der Literatur wird in Bioys Roman zum Überlegenheitsgestus gegenüber dem Film. Insofern ist der Roman ein weiterer Schlüsseltext für das Narrativ des Totalen Kinos, da dieses als Ausein­ andersetzung zwischen Literatur und Film mit einer deutlichen autoreflexiven Ebene gedacht werden muss. Somit ist La invención de Morel wahrhaftig „fondé sur le mythe du cinéma total“149 und steht in einer langen Linie mit Villiers’ L’Ève future, wie schon Edgar Morin bemerkt:

147  Zwar liegt „ein unvertrauter neuer Medienverbund, der zur Ursache medialer Unschlüssigkeit wird“, im Fokus des Romans, dieser steht jedoch eindeutig im Zusammenhang mit dem Narrativ des Totalen Kinos. Chihaia scheint das zu übersehen, vgl. Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 292–295. Neifert hingegen kommt zu dem Urteil: „La invención de Morel es […] una metáfora del cine. Si se quiere, casi un hecho cinematográfico en sí mismo.“ Siehe Neifert, Agustín: Del papel al celuloide. Escritores argentinos en el cine. Buenos Aires: La Crujía Ediciones 2003, S. 335. 148  Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 320. 149  Diese Bemerkung macht einer der beiden Interviewer, die 1961 mit Alain Robbe­Grillet und Alain Resnais über deren Film L’Année dernière à Marienbad und die Referenzen des Drehbuchs auf La invención de Morel sprechen, siehe Labarthe, André S. / ​Rivette, Jacques: Entretien avec Resnais et Robbe-Grillet. Cahiers du Cinéma, 123 (1961), S. 1–18, hier S. 14. Während Resnais auf die Frage antwortet, dass er das Buch nicht kenne, berichtet Robbe-Grillet: „[J’ai] reçu un coup de téléphone de Claude Ollier, après la projection de Marienbad, qui me disait: mais c’est ‚L’invention de Morel‘“. (Ebd.) Zu den ­Bezügen zwischen dem Film und Bioys Roman insbesondere im Hinblick auf den Mythos vom To-

ADOLFO BIOY CASARES | LA INVENCIÓN DE MOREL Ce double rayonnant, Hadaly, est de même essence que la Faustine de Bioy Casares. A soixante-dix années de distance, les rêves antérieurs au cinéma et le rêve de la fin cinématographique de l’homme se rejoignent dans le monde des doubles. Ce monde retrouve son charme originaire et même exalte sa qualité magique essentielle: monde de l’immortalité, c’esta-dire monde des morts.150

Der namenlose Ich-Erzähler in La invención de Morel findet sich tatsächlich in einer Welt voller Doubles wieder, die sich als Totenreich herausstellt. Der Bericht des Tagebuchschreibers beginnt mit einer wundersamen Begebenheit, einem „milagro“.151 Eines Tages bevölkern plötzlich Menschen die einsame Insel, auf der er sich versteckt hält, obwohl man kein Schiff landen und niemanden ankommen sah. Der Erzähler, der als Flüchtling vor der Justiz auf der Insel Schutz gesucht hat, beobachtet die Neuankömmlinge heimlich, aber ausdauernd und verliebt sich schließlich in eine Frau aus der Gruppe; ihr Name ist Faustine. Über die Fremden weiß er nichts – außer, dass sie Französisch sprechen, hin und wieder Kanada erwähnen und etwas altmodisch gekleidet sind.152 Im Gegensatz zu ihnen, die in einer dekadenten Faulheit schwelgen und arglos dort tanzen, wo Schlangen im Gras lauern (vgl. IM 18), leidet der Erzähler unter seiner prekären Körperlichkeit: Er ernährt sich auf der Insel von Blättern und Wurzeln, ist dem Wetter, den Moskitos und den lebensbedrohlichen Fluten des Meeres ausgeliefert und widmet sich neben der Suche nach Nahrung und der Beobachtung Faustines nur dem Schreiben seines Tatalen Kino siehe Guiney, Martin M.: ‚Total Cinema‘, Literature, and Testimonial in the Early Films of Alain Resnais. In: Adaptation, Vol. 5, 2 (2011), S. 137–151. Robbe-Grillet veröffentlichte 1953 eine Rezension zur französischen Übersetzung La invention de Morel in: Critique, 69 (1953), S. 172–174. Maurice Blanchot sorgte ebenfalls für eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den Roman in Frankreich, als er ihn 1955 in der Nouvelle Revue Française als „ingénieux“ bezeichnete. Die Referenz auf Bioys Roman findet sich auch in Blanchot, Maurice: Le secret du golem. In: Ders.: Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959, S. 120–129. Für weitere Hinweise auf die Rezeption der französischen Erstübersetzung von 1952 siehe Peters: Der gespenstische Souverän, v. a. S. 301f. 150  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 39. 151  Im Folgenden zitiere ich Bioy Casares, Adolfo: La invención de Morel. Madrid: ­Alianza 2008 mit der Sigle IM und Seitenzahl, hier S. 15. 152  Im Text heißt es: „Estan vestidos con trajes iguales a los que se llevaban hace pocos años.“ (IM, 17) Kracauer schreibt über den Anachronismus der Mode: „Das vor kurzer Frist getragene Kostüm wirkt komisch. […] Das jüngst Vergangene, das Leben beansprucht, ist abgelebter als das vor langem Gewesene, dessen Bedeutung sich gewandelt hat. […] Es geht in der Summe seiner Einzelheiten auf wie eine Leiche und gebärdet sich groß, als sei Leben in ihm.“ Siehe Kracauer: Die Photographie, S. 30f.

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gebuchs, dieses „testimonios“ (IM, 15), der zu seinem „testamento“ (IM, 19) werden wird. In dieser aussichtslosen Lage beschließt der Erzähler, sich Faustine zu offenbaren, ihr seine Liebe zu gestehen, zumindest in Kontakt mit ihr zu treten. Seinen ersten Versuch dazu unternimmt er über ein ästhetisches Artefakt: Er fertigt ein Blumenbild an, das sie beide darstellen soll. Faustine allerdings würdigt es keines Blickes – ja, es scheint fast, als habe sie Augen, die nicht zum Sehen, und Ohren, die nicht zum Hören gemacht sind (vgl. IM, 68). Denn auch als der Erzähler, der im gesamten Roman vor allem ein Betrachtender, ein Beobachter, ein Voyeur ist, auf Armeslänge direkt an sie herantritt und sie anspricht, ja anfleht, ignoriert sie ihn. Erst spät entdeckt er den Grund dafür: Sie ist eine multisensuelle Projektion. Im Keller des größten Gebäudes auf der Insel, das vom Erzähler „museo“ genannt wird,153 befindet sich ein Apparat, der Faustine und ihre Begleiter wie einen Kinofilm projiziert. Konstruiert wurde diese Maschinerie von Morel, einem Verehrer Faustines und ebenfalls Mitglied jener Reisegruppe. Während eines einwöchigen Aufenthalts, den die Gruppe vor Jahren oder Jahrzehnten gemeinsam auf der Insel verbrachte, haben Morels Maschinen eine perfekt mimetische Kopie sämtlicher Ereignisse erstellt. Seine Apparate nehmen Menschen und andere Lebewesen über mehrere Sinneskanäle auf, speichern die Aufnahme und geben sie fortan als lebensechte Bilder wieder. Gespeist aus der Kraft des alles umgebenden Meeres, angetrieben von einem Gezeiten-Kraftwerk, reproduziert Morels Erfindung die „semana eterna“ (IM, 123) seitdem als wiederkehrende Wochenschau. Faustine ist eine Projektion, die nicht nur durch den Raum wandelt, sondern auch für den Geruchs- und Tastsinn erfahrbar ist. Morels Ziel ist die perfekte Mimesis, „una reproducción de vida“ (IM, 90) – mit anderen Worten: Totales Kino, das niemals endet, „como si fueran partes de un disco o de una película que al terminarse volviera a empezar, pero que, para nadie, podían distinguirse de las personas vivas“ (IM, 90). Als der Erzähler dies herausfindet, wird ihm zugleich bewusst, dass die echte Faustine längst tot sein muss, denn die Aufnahmegeräte haben die fatale Nebenwirkung, dass alle Lebewesen, die sie aufzeichnen, nach der Auf-

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Bachtin zufolge hat der Chronotopos des Museums eine ähnliche Funktion wie das Schloss, das in Vernes Roman im Zentrum stand. Er schreibt: „Das Schloß entstammt früheren Jahrhunderten und ist der Vergangenheit zugewandt. Den Spuren der Zeit, auf die man im Schloß trifft, haftet freilich etwas Antiquiert-Museales an.“ Siehe Bachtin: Formen der Zeit im Roman, S. 195.

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nahme sterben.154 Verzweifelt beschließt er angesichts seiner „situación […] deplorable“ (IM, 19), ebenfalls in den Bildraum einzutreten. In einem selbstzerstörerischen Akt ultimativer Immersion taucht er ein in den Film, indem er sich selbst mit Morels Apparaten aufzeichnet – und zwar so, dass jeder Betrachter glauben muss, die Bildfrau unterhalte sich die ganze Zeit mit ihm. Die Interaktion mit den Apparaten, die ihm möglich ist, weil er diese vorher eingehend studiert hat, hat eine fatale Metalepse zur Folge: Seinen eigenen Tod nimmt der Erzähler in Kauf – in der Hoffnung, dass seine Seele auf sein Abbild übergehen und sein Doppelgänger in ewiger Betrachtung Faustines weiter existieren möge (vgl. IM, 130). Der Roman endet mit dem Tod des Erzählers. Diese Handlung, die Borges in seinem Vorwort als „perfecta“ bezeichnet,155 ist nicht zufällig voll mit Referenzen auf Intertexte der Literatur und Kunstgeschichte sowie Anspielungen auf Bild- und Blickmythen wie diejenigen von Narziss, Pygmalion und Medusa. So ist allein der Name des Schöpfers dieser totalkinematographischen Insel etymologisch an eine lange Kette aus Assoziationen und Überschreibungen geknüpft: Morus – Moreau – Morelly – Morell – Morel; der abwesend anwesende Protagonist trägt Assonanzen im Namen, die vom Schöpfer der ersten utopischen Insel bis zu Hitlers Leibarzt reichen.156 Die Wurzel dieser weit verzweigten Anspielungen liegt im Französischen ‚maure‘ und reicht damit tief hinein in das faszinierend Fremde. Morel ist eine gespenstisch entzogene Figur, die dem Erzähler in La inven-

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Genauer gesagt verlieren sie ihre Haare und Nägel, dann schält sich ihre Haut vom Körper (vgl. IM, 16). Damit greift Bioys Roman eine Angst Balzacs auf: „Derselbe Balzac, der seine fiktiven Figuren alle wie Daguerrotypien anfertigen wollte, sagte seinem Freund Nadar, Frankreichs erstem und berühmtestem Porträtphotographen, daß ihm selber vor dem Photographiertwerden grauen würde. Balzac mit seinen mystischen Neigungen konnte sich das Entstehen von Daguerrotypien nämlich gar nicht anders erklären, als daß jeder Mensch aus vielen optischen Schalen – etwa vom Typ der Zwiebelschalen – besteht, von denen jedes Photo die oberste einfängt und speichert, dem Abgebildeten also wegnimmt.“ Siehe Kittler: Optische Medien, S. 187. 155  Borges, Jorge Luis: Prólogo. In: Bioy Casares, Adolfo: La invención de Morel. ­Madrid: Alianza 2008, S. 7–10, hier S. 10. 156  Neben dem Autor von Utopia ruft der Name auch den Größenwahn des Doctor Moreau auf – Wells’ Vision einer misslingenden Schöpfung war eines von Bioys erklärten Vorbildern (vgl. Peters: Der gespenstische Souverän, S. 303) – sowie die rätselhafte Identität des französischen Insel-Schriftstellers Morelly, Autor des Prosagedichts La Naufrage des îles flottantes ou La basiliade du célèbre Pilpail (1753), vgl. Billig, Volkmar: Inseln. Geschichte einer Faszination. Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 228. Theodor Morell schließlich fungierte zu der Zeit, als La invención de Morel geschrieben wurde, als Leibarzt Adolf Hitlers.

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ción de Morel keine Fragen mehr beantworten kann, weil sie im Roman ausschließlich als Projektion ihrer selbst auftritt und in Wirklichkeit längst tot ist. Morel suchte die Unsterblichkeit und fand den Tod; dieses Paradoxon ist ihm ebenso eingeschrieben wie dem Narrativ des Totalen Kinos: „Le cinéma total […] confond dans le même acte mort et immortalité.“157 Damit deutet Bioy den faustischen Pakt, der sich im Namen der projizierten Protagonistin abzeichnet, als einen Pakt mit den Möglichkeiten des künftigen, des Totalen Kinos: El cine es el topos ideal de Bioy, el asunto y el lugar dilectos, el lugar común de sus desvelos lúcidos y de sus ensueños. Bioy ‘vivía yendo’ al cine; ahí anhelaba morir para que la muerte se acabara, como se acabe la vida o se acaba un filme que se reinicia en la próxima proyección o se reanima en una nueva copia. En la obra de Bioy, el pacto de Fausto es una variante del pacto del cine.158

Was Luisa Block de Behar in ihrer Analyse allerdings außer Acht lässt, ist die Frage, wie sich der Roman, der das Totale Kino präfiguriert, hinsichtlich der immanenten Mediendifferenz in Stellung bringt.159 So sind gerade die visuellen Aspekte der Morel’schen Projektionen derart deutlich pointiert, dass es unmissverständlich ist, dass es hier um Kino und seinen Zugriff auf die Realität geht, dem die Schriftlichkeit des Textes in einer antagonistischen Differenz gegenübersteht. Behält man beide Aspekte im Blick, so tritt in der Lektüre das graduelle Verhältnis von Opazität und Transparenz als Metapher für vorhandene beziehungsweise fehlende Autoreflexivität des jeweiligen Mediums in den Vordergrund. Im Folgenden soll dieses Verhältnis ebenso untersucht werden wie andere Aspekte, die Bioys Roman für eine Analyse des Narrativs vom Totalen Kino zentral machen.

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Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 40. Block de Behar, Luisa: Una épica de la invención. In: Cuadernos hispanoamericanos. Dossier Adolfo Bioy Casares, 609 (2001), S. 57–66, hier S. 65. 159  Schließlich spielen Autoreflexivität und das Verhältnis von Literatur und anderen Medien in vielen Texten von Bioy eine zentrale Rolle, siehe dazu beispielhaft seine Werke La aventura de un fotografo en La Plata (1985), El Noumeno (1986), El lado de la sombra (1962) oder auch seinen in engem Zusammenhang mit La invención de Morel stehenden folgenden Roman Plan de evasión (1945). Autoreflexivität kommt in Bioys Schreiben generell ein höherer Stellenwert zu als dem sogenannten ‚Filmischen Schreiben‘, das der Medialität des Filmischen eher affirmierend gegenüber steht. Zum Begriff der Autoreflexivität als „Sich-selbst-zur Anschauung-Bringen“ des Mediums siehe Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 134. 158 

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Medienhistorisch erscheint vor allem relevant, dass La invención de Morel das zunächst kunsttheoretische, nun aber medientheoretisch gewendete Problem des Inkarnats, der Darstellung der Haut, und im Zusammenhang damit die Rezeptionssituation verhandelt. Inkarnatmalen beschreibt seit der Renaissance die spezifische Technik der Maler, um Haut möglichst blutdurchpulst und das Bild somit lebendig erscheinen zu lassen. Das Problem mag im Zeitalter des Kinos anachronistisch erscheinen; bei genauerer Betrachtung allerdings zeigt sich, dass das Inkarnat bei Bioy nicht nur auf zeitgenössische Innovationen rekurriert, sondern bildtheoretische Diskurse im Bezug auf die filmische Reproduktion der Realität aktualisiert. Bioy veröffentlicht seinen Roman, als der Farbfilm gerade seinen Siegeszug antritt.160 Eisenstein schreibt im gleichen Jahr: „Wie der Stummfilm seinerzeit nach dem Ton schrie, schreit der Tonfilm nach der Farbe.“161 Dabei war auch die Einführungs des Farbfilms nicht unumstritten. Zwar war die Skepsis nicht mehr so groß wie noch beim Aufkommen des Tonfilms, allerdings blieb die Begeisterung verhalten.162 So lässt sich Morin noch Mitte der 1950er Jahre zu der Bemerkung hinreißen: „La couleur, sans changer la nature esthétique de l’image, l’oriente dans un

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Kittler bemerkt lakonisch, aber treffend: „Der Zweite Weltkrieg, kurz gesagt, war bunt.“ Siehe Kittler: Optische Medien, S. 281. Mit Bazin lässt sich diese technische Innovation in eine Reihe mit Entwicklungen wie Tonfilm, Breitwand-Projektion und 3-D-Film stellen: Sie diente demnach dazu, den Realitätseffekt des Films zu erhöhen und dem Totalen Kino näher zu kommen. 161  Eisenstein, Sergej: Nicht bunt, sondern farbig. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Zürich: Verlag der Arche 1965, S. 285–291, hier S. 287. Der Essay erschien 1940 in der sowjetischen Zeitschrift Kino. 162  Ein Grund dafür liegt sicherlich darin, dass die vielen Wege, die zum Farbfilm führten, weit verzweigt verliefen und es schon früh Versuche gab, Filmbilder händisch zu kolorieren. Auch deshalb kann die historische Situation beim Aufkommen des Farbfilms an dieser Stelle nicht erschöpfend wiedergegeben werden. Es sei aber auf einige einschlägige Titel und Aufsätze verwiesen, die diese darstellen: Belton, John: Color. From Novelty to Norm. In: Brunetta, Gian Piero (Hg.): Storia Del Cinema, Band IV. Turin: Einaudi 2001; Hanssen, Eirik Frisfold: Early Discourses on Colour and Cinema. Origins, Functions, Meanings. Stockholm: Almqvist & Wiksell 2006; Yumibe, Joshua: Moving Colors. Early Film, Mass Culture, Modernism. New Brunswick: Rutgers University Press 2012; Koshofer, Gert: Color. Die Farben des Films. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess 1988. Besonders hingewiesen sei außerdem auf ein Onlineprojekt unter der Ägide von Barbara Flückiger, das die technischen Innovationen, die zum Farbfilm führten, in einer originellen Nutzung von Hyperlink-Strukturen darstellt: http://zauberklang.ch/filmcolors/.

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sens différente : la qualité de reflet domine. Le cinéma gagne en enchantement, mais il perd en charme.“163 Angesichts des farbigen Films aktualisiert sich das Problem des Inkarnats, das im Folgenden im Zusammenhang mit der Rezeptionssituation des Erzählers beleuchtet werden soll. Im Anschluss daran steht das Verhältnis zwischen dem Tagebuchtext und neuen Reproduktionsmedien im Fokus. Die Apparate in Bioys Roman lassen sich dabei als Weiterentwicklung der Feelies betrachten: Faustine ist auch eine multisensuelle Projektion, sie ist aber nicht mehr auf einen Kinosaal angewiesen, um zu erscheinen. Das Kino hat sich, ganz ähnlich wie in Mynonas Filmstadt Berlin, Bahn gebrochen und die Realität infiltriert. Das dritte Kapitel konzentriert sich danach auf das Dispositiv selbst und seine Funktionsweise; die gespenstische Seite des Mediums gerät in den Blick. Durchgehend durch die gesamte Lektüre offenbart sich die Todesnähe der Totalkinematographie, die so stark noch in keinem der bisher untersuchten Werke zu Tage trat. Bioys Roman birgt auch ein halbes Jahrhundert nach der Gründungslegende des Narrativs des Totalen Kinos noch derart viele neue Perspektiven auf dieses Narrativ, dass man am Ende der Analyse Nitschs zustimmen möchte, wenn er schreibt, „dass periphere, von der modernen Geschichte ins Abseits gedrängte Kulturen wie die spanische oder die lateinamerikanische die Eigenart der Technik besser durchschauen als die zentralen Kulturen der Erfinder“.164 3.2.1 (Un)totes Inkarnat: Haut im Spiegel

Der Erzähler in La invención de Morel pocht wiederholt auf ein Motto, das er bei Leonardo da Vinci entlehnt und zu seinem Leitsatz erklärt: Ostinato rigore – in stetem Bemühen, mit Ausdauer und Beständigkeit wolle er seinen Bericht schreiben (vgl. IM, 19). Allerdings prägt dieses Motto zunächst vor allem sein Sehen. So beschließt er, seine Beobachtung Faustines immer weiter auszudehnen: „Por mi propósito de cumplir con el ostinato rigore de la divisa, la vigilancia alcanzó una amplitud que me honra“ (IM, 105, Herv. i. O.).165 Der

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Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 35. Nitsch: Die Insel der Reproduktionen, S. 107. 165  Dt.: „Fest entschlossen, meinen Wahlspruch ‚Ostinato rigore‘ wahrzumachen, habe ich den Bereich meiner Spähertätigkeit in einem mich ehrenden Grade ausgedehnt.“ (Dt. Übersetzung von Karl August Horst: Morels Erfindung. Frankfurt: Suhrkamp 1975, S. 134; 164 

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Leitsatz seines Schreibens überträgt sich auf die Betrachtung Faustines, bis am Ende das Sehen zum leeren Starren und der Schreibende selbst zum Bild wird. Da der Erzähler im Roman hauptsächlich Zuschauer ist, lohnt es, die Praxis seiner Wahrnehmung näher zu untersuchen. Dabei erweist sich der Erzähler als Kunstkenner, der in Diskursen der Malerei besser bewandert ist als in kinematographischen Diskursen. Womöglich liegt darin auch ein Grund, warum die totalkinematographischen Projektionen ihn so erfolgreich täuschen. Als Rezipient wendet der Flüchtling regelmäßig eine Technik an, die ebenfalls von Leonardo inspiriert ist, eine Art infiltrierendes Hinein-Sehen: Leonardo rät in seinem Trattato della pittura Malern dazu, ihre Imagination zu schulen, indem sie feuchte Flecken an einer Wand betrachten. Mit ein wenig Übung träten aus diesen unregelmäßigen Umrissen dann große Gemälde von Landschaften, Schlachten oder auch Portraits hervor, deren Umrisse der Maler im Geiste nachzeichnen solle.166 So erlange der Künstler Übung darin, visuelle Eindrücke nicht nur wiederzugeben, sondern sie überhaupt erst zu generieren. In Leonardos Malschule gehen Techniken der Rezeption und der künstlerischen Produktion Hand in Hand.167 Der Erzähler bei Bioy Casares berichtet, dass er diese Imaginationsübung seit seiner Kindheit anwendet. Wenn er damals Bücher betrachtet habe, seien ihm darin lebendige Objekte erschienen: „Cuando era chico jugaba a los descubrimientos en las ilustraciones de los libros: las miraba mucho e iban apareciendo objetos, interminablemente.“ (IM, 61) Nicht von den Narrationen in im Folgenden wird die deutsche Übersetzung längerer Zitatpassagen immer aus dieser Ausgabe zitiert) 166  Da Vinci, Leonardo: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei (hg. u. kommentiert v. André Chastel). München: Schirmer-Mosel 2011, S. 385. 167  Der gesamte Roman scheint von einem Problem inspiriert, das Leonardo in seinen Schriften zur Malerei behandelt: der Frage nach dem belebten Bild. In einem dichten kunsttheoretischen Aufsatz widmet sich Frank Fehrenbach der Ästhetik des lebendigen Bildes und beobachtet, dass Leonardo auf der einen Seite die „Todesverfallenheit der Dichtung“ betont, während er andererseits rühmt, dass die Malerei „das Lebendige als Lebendiges konserviert, ‚im Leben hält‘“. Fehrenbach gelingt es herauszuarbeiten, wie dieses vermeintliche Lob in ein Defizit des Bildes umschlägt: „[…] je gelungener die Täuschung, desto sicherer die Enttäuschung. Gerade noch überwältigende Präsenz, macht das Bild die Differenz zum wirklichen Leben um so schmerzhafter bewußt. Das Auge leuchtet, aber es blickt nicht“. Siehe dazu Fehrenbach, Frank: Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen Bildes‘ in der Frühen Neuzeit. In: Pfisterer, Ulrich / ​Seidel, Max: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. München: Deutscher Kunstverlag 2003, S. 151–170, hier S. 151.

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den Büchern war er also beeindruckt, sondern von den Illustrationen, aus denen Gegenstände hervorgetreten seien, wobei sich die Infiltration des Bildes aus der ausdauernden Betrachtung („interminablemente“) ergibt. Schon damals sah sich der Erzähler also in einem Zirkel aus Immersion und Infiltration, in den er durch die intensive Betrachtung eingetreten war. Während er sich als Kind davon noch lösen konnte, wird er sich der Endlosschleife, in die ihn die Betrachtung Faustines zieht, nicht mehr entwinden können. So deutet sich bereits in dieser Kindheitserinnerung an, wie visuelle Erscheinungen ihm zur Bedrohung werden könnten. Seiner bisherigen Erfahrung nach führte das stete Betrachten dazu, dass sich das Betrachtete belebte – eine Erfahrung, die er mit dem antiken Bildhauer Pygmalion teilt, der seine Statue ebenfalls durch ausdauernde Bewunderung belebt sieht.168 In La invención de Morel ist diese Wahrnehmungspraxis nicht nur auf das Visuelle beschränkt, sondern schließt – ebenso wie bei Leonardo – das Hören synästhetisch mit ein. Bild und Ton ergeben zusammen das sinnliche Spektrum des Kinos, das in La invención de Morel das vorrangige Register der Wahrnehmung bildet. Gleich zu Beginn des Romans kündigt die Melodie eines Grammophons die Ankunft der Fremden auf der Insel an (vgl. IM, 15). Später wendet der Erzähler Leonardos Infiltrationstechnik auf das Hören an und kommt zu einer synästhetischen Assoziation, wie sie ganz ähnlich auch Leonardo schildert: Als sich der Erzähler in einer Kapelle versteckt, tritt aus dem ihn umgebenden, rumorenden Gewitterrauschen draußen plötzlich eine Melodie hervor: „Entre los ruidos, empecé a oír fragmentos de una melodía concisa, muy remota“ (IM, 33). Der Erzähler setzt die Harmonie, die plötzlich in das Rauschen einzieht, in direkten Bezug zu Leonardos Wasserflecken: Dejé de oírla y pensé que había sido como esas figuras que, según Leonardo, aparecen cuando miramos un rato las manchas de humedad. Volvió la música y yo estuve con los ojos nublados, complacido por armonía, convulso antes de aterrorizarme del todo. (IM, 33)169

168 

Vgl. dazu die bereits zitierte Studie von Elsner, Jas: Roman Eyes, S. 113. Dt.: „Dann hörte ich sie nicht mehr und war der Meinung, es habe sich damit wie mit jenen Figuren verhalten, die nach Leonardo aus der Wandfläche hervortreten, wenn man längere Zeit einen von durchschlagender Nässe verursachten Fleck betrachtet. Die Musik stellte sich wieder ein, und ich stand da mit umflorten Augen, bestrickt von ihrer Harmonie, erstarrt, bis ich mich im tiefsten entsetzte.“ (S. 33) 169 

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Indem er hier auf die „manchas de humedad“ verweist, verzahnt sich der Text mit dem Intertext von Leonardo. Dieser schließt seine Erläuterungen der Imaginationsübung beim Betrachten der Wasserflecken mit einem analogen akustischen Vergleich: „Mit solchem Gemäuer und Steingemisch geht es wie mit den Kirchenglocken, du findest in ihrem Schlagen jeden Namen und jedes Wort, das du dir vorstellst.“170 Während Bioys Erzähler das Hören einer Melodie im Gewitterrauschen mit dem Betrachten von Wasserflecken in Zusammenhang bringt, vergleicht Leonardo das Betrachten von Wasserflecken mit dem Hören von Worten beim Glockengeläut. Anders als bei Leonardo schwingt bei Bioy noch eine zweite, unheimliche Ebene mit: Das Gehörte besitzt auch das Potenzial, dem Hörer Schrecken einzujagen, „de aterrorizarme“ (IM, 33). Hier klingt bereits das fatale Ende des Romans an, die Gefahr, die aus der immersiven Rezeption erwachsen kann. Dass seine Augen während des Horchens vernebelt sind, unterstreicht, dass der Erzähler eine gefährliche Tendenz zur Absorption besitzt, die andere Sinne sowie die Fähigkeit zur Selbstreflexion ausschaltet. Er ähnelt darin dem Narziss, seine an Leonardo geschulte Rezeption zeugt von fehlender „Medienkompetenz“ angesichts der neuen Medien.171 Sowohl bei Leonardo als auch bei Bioy wird die Praxis der imaginativen Infiltration zwar von den jeweils empfangenen Sinneseindrücken, den Flecken auf der Mauer beziehungsweise dem Glockenläuten, angestoßen; sie speist sich aber nicht aus dem Empirischen allein. Stattdessen trägt die Oberfläche des Betrachteten in einem Glanzpunkt auch etwas vom Betrachter in sich. Das Fleckensehen des Leonardo ist ein Oberflächenphänomen: Das Auge des Betrachters dringt nicht in die Tiefe, zum etwaigen semiotischen Gehalt der Flecken, sondern konstruiert einen solchen mit Hilfe der Imagination. Der Maler schult seine Reproduktionstechnik nicht durch Mimesis, sondern durch eine Form der Selbsttäuschung, die auf ausdauernder Betrachtung beruht. Die Wand dient dabei wie ein Vexierbild dem Auge und der Phantasie des Betrachters zugleich. Die Illusion ist der Ursprung des Kunstwerks. Leonardos Technik rückt damit in die Nähe einer Praxis der Wahrnehmung, die Aleida Assmann als „Starren“ bezeichnet: Der „lang[e] fasziniert[e] Blick, der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag“, ist eine

170  171 

Da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, S. 385. Zur fehlenden Medienkompetenz des Narziss an der Quelle, der sein Gegenüber nicht als Bild erkennt, siehe Kruse: Wozu Menschen malen, S. 376.

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Praxis „wilder Semiose“.172 Assmann betont insbesondere den Unterschied zum Lesen, das als der „schnelle schlaue Blick durch die Oberfläche“ auf die immaterielle Bedeutung zielt, während das Starren als medialer Akt an der opaken Oberfläche des Zeichens verweilt und das Zeichen so nicht auflöst, sondern als unübersetzbar belässt.173 Wild ist diese Semiose des starrenden Blicks, weil sie in ludischer Interaktion mit der opaken Oberfläche verweilt und sich wie die Phantasie des Malers bei Leonardo nicht auf eine einzelne Bedeutung des Wasserfleckens festlegt, sondern die Oberfläche in ihrer Vieldeutigkeit belässt. Für beide Blickarten, das Lesen wie das Starren, weist La invención de Morel Beispiele auf. Zunächst scheint das Lesen jene Praxis zu sein, die dem schreibenden Flüchtling, der in seiner Heimat Venezuela offenbar Teil eines literarischen Zirkels war (vgl. IM, 129), am ehesten entspricht. Lesend blickt er hinter das Geheimnis der Bildfrau Faustine: Er muss erst Morels Notizen finden, um zu begreifen, dass er es hier mit Projektionen zu tun hat. Die Schrift ermöglicht ihm einen Einblick in das Rätsel der Frau. Ebenfalls als Beispiel für eine Praxis des Lesens erweist sich der Moment, in dem der Erzähler die Maschinen im Keller im Wortsinne durchschaut, ihren Mechanismus versteht, und in dem ihm aufgeht, wie er sie abschalten kann: „[…] fue como si me hubiera acercado por vidrios de aumento: los motores dejaron de ser un casual montón de hierros, tuvieron formas, disposiciones que permitían entender su cometido. Desconecté, salí.“174 Mit einem Blick, der auf den Grund des Apparats dringt, durchschaut er die Maschine. Es ist, als habe er sich ihr mit einer Lesebrille genähert; plötzlich ist es ihm möglich, sie abzuschalten. Weil er sie versteht und ihren Wirkmechanismus begreift, kann er sie schließlich kontrollieren. Allerdings gelingt ihm dies bezeichnenderweise nur deshalb, weil Morel die Maschinen nicht aufgezeichnet hat. Sie sind nicht Teil der Bildwelt. Dies ist die transparente Stelle der Erfindung: Hätte Morel die Apparate ebenfalls aufgenommen, so wären sie ebenso unverrückbar und unlesbar wie die Bücher in der Bibliothek des mu-

172 

Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt: Suhrkamp 1988, S. 237–251, hier S. 240f. 173  Vgl. ebd., S. 240f. 174  Dt.: „[…] es war, als hätte ich mir durch Vergrößerungsgläser näheren Einblick verschafft. Die Motoren waren nicht mehr eine zufällige Anhäufung von Eisenteilen: sie schlossen sich zu Formen und Anordnungen zusammen, denen sich entnehmen ließ, worin ihre Leistung besteht. Ich schaltete ab und ging hinaus.“ (S. 149)

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seo. Nur weil sie nicht Teil der Reproduktion sind, kann der Erzähler die Maschinen durchschauen und später bedienen. Lesbar ist nur das Original, nicht die Reproduktion.175 In den Abbildern ist Lesen aussichtslos, der Blick klebt an ihrer Oberfläche, das Gesehene kann nicht entschlüsselt werden. So ist der ausdauernde Blick des Erzählers auf Faustine ein Starren, das oberflächlich bleibt, weil es auf den Grund der Frau nicht dringen kann. Die opake Oberfläche dieses Bildes lässt den Blick des Betrachters erstarren. Und tatsächlich verbringt der Erzähler Stunden in absoluter Bewegungslosigkeit, als er Faustine beobachtet. Während sie sich aufreizend langsam bewegt, wird der Erzähler ganz reg­los und beobachtet sie von seinen Verstecken aus (vgl. IM, 62). Die Topographie der Insel mit ihren Sümpfen und dem unwegsamen Gelände trägt zu dieser Bewegungsunfähigkeit bei; wie schon in Le Château des Carpathes ist sie Teil des totalkinematographischen Dispositivs. Faustine wird zur Medusa, die den Betrachter versteinern lässt. Schließlich ist es auch bei Ovid keineswegs der viel zitierte ‚Blick der Medusa‘, der die Männer erstarren lässt, sondern ihr Anblick, der zum langen Blick wird, zum Starren eines Erstarrten.176 Wie die Männer, die das Medusenhaupt erblicken, zu Steinstatuen werden, wird auch in La invención de Morel der Betrachter am Ende zum Bild. Die opake Oberfläche der Bildfrau Faustine, an der der Blick zum Starren gerät, beschäftigt den Erzähler in Bioys Roman auch ganz konkret. Als er das Blumenbild für sie anfertigt, sein scheiternder erster Kontaktversuch, hält er sein Werk vor allem deshalb für misslungen, weil er ihren Hautton nicht richtig getroffen habe: He trabajado como un ejecutante prodigioso; la obra sale de toda relación con los movimientos que la hicieron. Tal vez la magia dependa de esto: había que aplicarse a las partes, a la dificultad de plantar cada flor y alinearla con la precedente. Desde el trabajo no podía preverse la obra concluida; sería un desordenado conjunto de flores o una mujer, indistintamente. Sin embargo, la obra no parece improvisada; es de una satisfactoria pul-

175 

Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die Maschinen nur deshalb zur Reproduktion der Bilder in der Lage sind, weil sie eben keine toten Abbilder ihrer selbst sind. Diese Abbilder könnten ihrerseits keine Bilder hervorbringen. Implizit zeigt sich bereits hier, dass nur der Roman in der Lage ist, die funktionsfähigen Maschinen am Laufen zu halten, die die Bilder erzeugen. 176  Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 157. Siehe zu den Bild- und Blickmythen in diesem und anderen Werken auch meine Masterarbeit Medusa-Effekt. Tödliche Frauenbilder in ­Literatur und Film.

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Der Traum vom Totalen Kino critud. […] La mujer está de frente, con los pies y la cabeza de perfil, mirando una puesta de sol. La cara y un pañuelo de flores violetas forman la cabeza. La piel no está bien. No pude lograr ese color adusto, que me repugna y que me atrae. (IM, 43)177

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Zunächst scheint der Erzähler mit seinem Werk zufrieden, wenn er auch die Schwierigkeiten anerkennen muss, vor denen bildende Künstler stehen: die Herausforderung, die Farben der Blumen zu kombinieren und zu arrangieren, sowie die Unmöglichkeit, während des Arbeitens das ganze Werk zu sehen; er kann nicht Betrachter und Künstler zur gleichen Zeit sein.178 Außerdem bemerkt er, dass die Bewegungen, die er ausführt, um das Blumenbild zu schaffen, hinterher nicht im Werk wiederzufinden sind; ein Hinweis auf das Kino, wo sich Bewegung direkt im Werk abzeichnet, ja dieses erst hervorbringt. Erst nach dieser Reflexion über seine eigene künstlerische Produktion sticht ihm die entscheidende Unzulänglichkeit seines Blumenbildes ins Auge: Die Farbe von Faustines Gesicht sei nicht getroffen. Anders als bei der Darstellung ihrer Kleidung ist es ihm hier nicht gelungen, den richten Farbton zu treffen, jene ganz besondere Farbe der Haut, die den Betrachter abstößt und anzieht zugleich. La invención de Morel rekurriert hier auf anachronistische Diskurse, die allerdings im Zeitalter des aufkommenden Farbfilms wie-

177 

Dt.: „Ich habe wie ein Zauberlehrling geschafft. Das Werk läßt in nichts mehr erkennen, wie es zustande gebracht worden ist. Vielmehr beruht die Magie auf folgendem Umstand: es war geboten, sich bei der Arbeit auf einzelne Rabatten zu konzentrieren, die Blumen Stück für Stück zu setzen und sie nach den schon gesetzten auszurichten. Solange die Arbeit nicht fertig war, konnte man das Werk als Ganzes nicht ins Auge fassen: es ist entweder eine regellose Ansammlung von Blumen oder eine Frau, eines wie das andere. Trotzdem wirkt die Anlage nicht improvisiert. Sie ist von zufriedenstellender Hübschheit. […] Man erblickt die Frau in Vorderansicht, Füße und Kopf im Profil. Sie betrachtet einen Sonnenuntergang. Das Gesicht und ein Kopftuch aus violetten Blumen krönen die Figur. Die Hautfarbe ist nicht gut getroffen. Es wollte mir nicht gelingen, jene dunkelmatte ‚Tönung‘ hervorzubringen, die mich abstößt und zugleich fesselt.“ (S. 47) 178  Chihaia übersieht die zahlreichen Verweise auf die bildenden Künste, wenn er das Blumenbild als reine „Textallegorie“ versteht, vgl. Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 301. Im Text heißt es schließlich: „Yo no he combinado colores; de pintura no entiendo casi nada“ (IM, 40), der Bezug auf die Malerei macht deutlich, dass der Erzähler sich an dieser orientiert. Außerdem zeigt die oben zitierte Formulierung „la obra sale de toda relación con los movimientos que la hicieron“ (IM, 43) eine Referenz auf den Pygmalionmythos an, bei dem ebenfalls das Werk des Bildhauers keine Spuren seiner künstlerischen Arbeit mehr trägt („ars adeo latet arte sua“, siehe Ovid: Metamorphosen, S. 370f.)

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der virulent werden.179 Die Herausforderung, Haut zu malen, beschäftigte die Kunstgeschichte über Jahrhunderte, zahlreiche Traktate wurden über die Malweise des Inkarnats geschrieben.180 Fleischmalen ist die ultimative He­ rausforderung, schließlich entscheidet der Hautton darüber, ob die Darstellung gelungen und damit lebensecht, blutdurchpulst ist.181 Doch geht es bei der Darstellung von Haut nicht nur darum, den perfekten Farbton zu mischen und diesen auf die Leinwand zu bringen. Der Teint changiert. Diese besondere Schwierigkeit des Inkarnats beschreibt Diderot in seinen Petites idées sur la couleur: Das Gesicht ist „cette toile qui s’agite, se meut, s’étend, se détend, se colore“.182 Die Farbe soll dem Bild das Leben geben, aber Leben bedeutet Bewegung. Und so mache gerade das Erröten zarter Frauenwangen das Bemühen des Künstlers so aussichtslos.183 Das Kino scheint nun – gerade seit dem Aufkommen des Farbfilms – die Herausforderung des Inkarnatmalens an den Apparat ausgelagert zu haben. Die Problematik, die sich dem Erzähler in La invención de Morel stellt, wirkt daher seltsam aus der Zeit gefallen. Aller179 

Dass sich Filmschaffende im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Farbfilms auch mit Hautfarbe und Inkarnat beschäftigt haben, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass als erster deutscher Spielfilm in Farbe Das Schönheitsfleckchen (1936) in die Filmgeschichte einging und in der zeitgenössischen Rezeption dieses Kurzfilms das Augenmerk weniger auf Inhalt und Regie, sondern vor allem auf die farbgetreue Wiedergabe gelegt wurde, siehe dazu Klaus, Ulrich J.: Deutsche Tonfilme. Filmlexikon der abendfüllenden deutschen und deutschsprachigen Tonfilme nach ihren deutschen Uraufführungen. Band VII, Jahrgang 1936, Berlin: Klaus 1996, S. 232. Barjavel reflektiert dieses neue Vermögen des Farbfilms in Cinéma total, wenn er im Kapitel „Le Cinéma en Couleurs“ schreibt: „Les femmes seront ce qu’elles ont toujours été, arcs-en-ciel, bouquets. Malgré les obus et les coups de sifflet, elles n’ont jamais éteint les lumières de leurs yeux et de leur chair.“ Siehe Barjavel: Cinéma total, S. 38. 180  Der bekannteste ist eine Anleitung von Cennino Cennini, der um 1400 das Rezept für das Inkarnat als eine Schichtung von Farbflächen beschreibt, die mit dem Grün des Leichnams beginnt und über das Blau der Venen und das Rot der Arterien bis zum Weiß der obersten Hautschicht führt. Cenninis Inkarnat-Rezeptur wird zitiert bei Kruse: Wozu Menschen malen, S. 175ff., sowie bei Didi-Huberman: La peinture incarnée, S. 22f. 181  Auch Poes The Oval Portrait rekurriert auf diesen Topos: Das Portrait, das der Maler in der Binnenhandlung von seiner Geliebten malt, ist dann vollendet und lebensecht, als er das Wangenrot erfolgreich vom Modell auf das Bild übertragen hat: „And he would not see that the tints which he spread upon the canvas were drawn from the cheeks of her who sat beside him.“ Siehe Poe: The Oval Portrait, S. 483 (Herv. i. O.). 182  Diderot: Mes petites idées sur la couleur, S. 25. 183  Vgl. ebd., S. 18. Nicht nur bei Diderot ist es insbesondere das Wechselspiel der Farben, das die Haut so schwer darstellbar macht. Bereits im Pygmalionmythos zeigt sich die Belebung der Statue am Inkarnat: Das Elfenbein (ebur) errötet (erubuit), vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 370 und 372; vgl. dazu auch Stoichita: Pygmalion-Effekt, S. 211.

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dings gilt es zu bedenken, dass die längste Zeit Film keineswegs in der Lage war, Farben naturgetreu wiederzugeben. Bei aller Lebensnähe des Bewegtbildes, die für den Kino-Diskurs schon früh zentral war, blieb die Frage des Inkarnats im Film lange Zeit ungelöst. Bioys Roman rekurriert in seiner Auseinandersetzung mit dem täuschend lebendigen Bild auf dieses Problem der lebensechten Darstellung. Denn die Haut mit ihrem Farbenspiel hütet das Geheimnis des Lebens.184 In La invención de Morel versucht der Erzähler, das Abbild Faustines aus Blumen zu erschaffen, die eine „vitalidad casi animal“ (IM, 40) besitzen. Da ihnen aber gleichzeitig eine „monstruosa urgencia en morirse“ (IM, 41) zu eigen ist, sind sie als Medium der Darstellung ungeeignet. Dabei versucht der Erzähler mit seinem Bild an eine poetische Tradition anzuknüpfen, die sich ebenfalls als hinfällig erweist: […] seine durch die Blume gesagte oder vielmehr geschriebene Liebeserklärung schreibt sich unweigerlich ein in das Florilegium petrarkistischer Liebesdichtung, bleibt also unpersönlichen literarischen Konventionen verhaftet. Insofern lässt sich die Missachtung des Gartens durch das Simulakrum der Dame auch als Geste der Verabschiedung deuten: Im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit ist die Geliebte nur noch über ein Medium der Präsenz zu erobern.185

Die Darstellung des Inkarnats durch die Blumen schlägt fehl – nicht nur, weil ihnen kein Farbenspiel möglich ist, sondern auch, weil sie als Darstellungsmedium hinter der Bildfrau zurückbleiben: Faustine ist ja bereits unvergängliches Bild; sie nun in einem vergänglichen Medium reproduzieren zu wollen, hieße, sie sterblich zu machen. Blumen vertrocknen nach kurzer Zeit, nicht aber Faustine. Der Versuch, sie durch die überkommene Geste zum Leben zu erwecken, muss misslingen.186

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Vgl. Didi-Huberman: La peinture incarnée, S. 70f. Nitsch: Insel der Reproduktionen, S. 114. 186  Peters bemerkt diesen Aspekt ebenfalls; ihr Hinweis auf die Hautfarbe bleibt aber auf die petrarkistische Liebesdichtung bezogen: „Während der spanischsprachige Petrarkismus ‚rosa‘ und ‚azucena‘ als Metaphern weiblicher Schönheit einsetzt, wählt der Erzähler gleich einen ganzen Garten, um einen noch nie dagewesenen Lobpreis auf seine Dame zu singen. Dennoch fällt auf, dass gerade die Farbe der Haut (mit den Rosen-Lippen und Lilien-Wangen topischerweise Zentrum der botanischen Tropen) nicht recht gelingen will.“ Siehe Peters: Der gespenstische Souverän, S. 357f. 185 

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Gerade weil Faustines Haut so perfekt ist, zeigt sich der Erzähler fasziniert von ihrem dunklen Teint.187 Ihre gebräunte Haut steht für die Exotik dieser Frau, die sich damit von den übrigen Mitgliedern der Reisegruppe und insbesondere vom blässlichen Morel abhebt. Der besitzt einen hellen, wächsernen Teint, eine durchschimmernde Haut, die das Gegenteil von Faustines Bronzehaut zu sein scheint: „La barba parecía postiza. La piel es femenina, cerosa, marmórea en las sienes. […] Las manos son larguísimas, pálidas; les adivino un tenue revestimiento de humedad.“ (IM, 47) Aber trotz dieser offensichtlichen Unterschiede, die der Erzähler betont, ist Morels Wachshaut dem dunklen Teint Faustines ähnlich.188 Die Ähnlichkeit offenbart sich im Effekt der Illusion: Wax cheats death; it simulates life; it proves true and false. The word ‚mummy‘, applied to bodies embalmed according to Egyptian burial rites, derives from ‚moum‘, the word for wax or tallow; since those remote times, wax has been the principle material used in preserving the dead so as to make them look as if they are still alive.189

Betrachtet man Faustines Inkarnat genauer, so zeigt sich, dass es ebenfalls nicht vom ewigen Leben, sondern vom ewigen Tod erzählt. Faustine ist ebenso eine wandelnde Mumie wie Morel – auch wenn der Erzähler dies zunächst nicht wahrhaben will. Ihre Haut zeigt kein Farbenspiel, ist im Gegenteil von einem opaken Bronzeton, der den Erzähler anzieht und abstößt zugleich. Diese Sog- und Abstoßbewegung durchzieht als Leitmotiv den gesamten Roman. Es ist die Bewegung des Meeres, der Gezeiten, die die Maschinen antreiben. Wie Patricia Oster-Stierle richtig beobachtet, ist Wasser und insbesondere das Meer Inbegriff jeder Bewegung:

187 

Didier Anzieu weist darauf hin, dass Morels Erfindung letztlich „die Utopie einer unverletzbaren Haut“ darstelle, die im Gegensatz zur prekären Dünnhäutigkeit des Erzählers steht. Siehe Anzieu, Didier: Das Haut-Ich. Frankfurt: Suhrkamp 1996, S. 168. 188  An dieser Stelle sei an die Passage von Ortega y Gasset zur Wachsfigur erinnert, die bereits im Bezug auf Pirandellos Quaderni zitiert wurde. Ortega geht hier auf den Ekel ein, den der Betrachter angesichts der „Zweideutigkeit“ unwillkürlich empfinde, weil die Wachsfigur immer dann lebendig scheint, wenn man sie als Gegenstand betrachten will, und immer dann das „leichenhafte Geheimnis ihres Puppentums“ enthülle, wenn man sie für lebendig hält. Auch der Erzähler bei Bioy berichtet von jenem „asco“, den er angesichts der Projektionen bisweilen empfinde. Vgl. dazu Ortega y Gasset: La Deshumanización del Arte, S. 862. (Dt.: Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, S. 21.) 189  Warner: Phantasmagoria, S. 23.

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Der Traum vom Totalen Kino Schon Leonardo da Vinci machte seine Bewegungsstudien am fließenden Wasser. Zur Vorgeschichte des kinematographischen Mediums zählt Eadweard Muybridge, der 1872 versuchte, Bewegung photographisch zu bannen, indem er Wasserfälle in ihrer Dynamik photographierte. Ebenso hielt Étienne Jules Marey 1893 die Bewegung ineinander fließender Flüssigkeiten in Chronophotographien fest. Das Medium Film, das der Bewegung ein neues Feld eröffnete, ist wie das Wasser ein Milieu für Licht und Bewegung.190

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Die Analogie zwischen Wasser und Bewegtbild scheint in Faustines Inkarnat auf. Die pulsierende Bewegung des Meeres entspricht der Wirkung, die ihre Haut auf den Rezipienten hat. Wie das Meer der Wirkung des Mondes unterliegt, ist der Erzähler der Wirkung des Bildes ausgeliefert und schwankt zwischen Anziehung und Ekel (vgl. IM, 95); wobei am Ende die Sogwirkung überwiegt und ihn in den Film holt.191 Dabei gleicht Faustines Inkarnat den Fluten, die das Leben des Erzählers bedrohen, seinen Schlaf aufstören und ihm das Gefühl geben, zu ersticken; beide sind Medien der Immersion.192 Faustines gebräunte Haut gibt ihr im Zusammenspiel mit den bunten Kleidern das Aussehen einer „de esas bohemias o españolas de los cuadros más detestables“ (IM, 28). Das Wasser, das überall auf der Insel in Kanälen und Rinnsalen fließt, ist von demselben schlammig braunen Bronzeton wie ihre Haut: Tardo en dormirme, pensando en el momento en que el agua, barrosa y tibia, va a taparme la cara y producirme un ahogo momentáneo. Quiero que la creciente no me sorprenda, pero la fatiga me vence y ya está el agua, en silencio, como una vaselina de bronce, forzándome las vías respiratorias. (IM, 98)193

190 

Oster-Stierle, Patricia: „‚La région fluviatile‘ de la mémoire“ und ihre filmische Transposition. In: Chihaia, Matei / ​Münchberg, Katharina (Hg.): Marcel Proust. Bewegendes und Bewegtes. München: Fink 2013, S. 81–98, hier S. 81. 191  Dabei lässt sich die Beobachtung, dass sich der Erzähler erst voller Abscheu von den Bildern abwendet, um sich dann buchstäblich ins Bild zu stürzen auch in Analogie zu Kruses Interpretation des Narzissmythos deuten: „Narziss’ Erkenntnis ist eine doppelte: Der Einsicht, dass der andere ein Bild seiner selbst ist, kein eigenes Sein, kein Wesen, kein Leben hat – tot ist –, folgt die Gewissheit, dass auch er sterben wird. […] Das Wissen um den eigenen Tod lässt ihn zur Illusion, zur Täuschung zurückkehren.“ Siehe Kruse: Wozu Menschen malen, S. 311. 192  Vgl. zum Wasser als Metapher für Immersion in La invención de Morel auch Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 299. 193  Dt.: „Ich brauche lange, bis ich einschlafe, und denke dabei an den Augenblick, da sich das schlammig laue Wasser mir aufs Gesicht legen und mir einen vorübergehenden Erstickungstod bereiten wird. Ich will nicht, daß die Flut mich überrascht, aber ich erliege

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Der Tod, den diese Flut bringt, ist zähflüssig und lautlos. Er nähert sich nachts im Schlaf. Wie bronzefarbene Vaseline legt sich das Wasser auf das Gesicht des Erzählers und verschließt ihm die Atemwege. Sanft und geschmeidig schleicht sich die opake Flut an. Die unheimliche Gefahr ähnelt jener, die vom Inkarnat ausgeht. Mit der braunen Farbe, die Faustine wie eine Aura umgibt, ist Karin Leonhard zufolge „das Dämmerige, Schattenhafte, Unauffällige, Unkenntliche, Erdfarbene“ assoziiert.194 Braun ist „die Farbe der Verschwiegenheit“,195 „eine verhüllte Liebesfarbe“196 und gleichzeitig Anzeichen für „einen gewaltsamen Abschied“.197 Faustines mysteriöses Schweigen und das aussichtslose Werben des Erzählers um ihre Gunst korrespondieren also auf subtile Weise mit der Farbigkeit ihrer Haut. Die „Trauerfarbe“198 Braun verweist einerseits auf den Tod der realen Faustine und andererseits auf ihre Mittelstellung „zwischen Licht und Finsternis, Tod und Leben, die dieser Farbe auch sonst in der mythischen Symbolik eignet und sie zur passenden Farbe der trauernden Überlebenden macht“.199 In Faustines Inkarnat scheint das Untote des photographischen Bildes metaphorisch auf: So korrespondiert ihr Inkarnat mit dem historischen Farbton mumia, der in der Renaissance von Malern verwendet und tatsächlich aus ägyptischen Mumien hergestellt wurde.200 Diese Farbe war ebenfalls von einem bräunlich schlammigen Ton, ähnlich wie Faustines Inkarnat. Die Haut

der Müdigkeit, und schon ist das Wasser da: lautlos, wie bronzefarbene Vaseline, und verstopft mir die Atemwege.“ (S. 124) 194  Leonhard, Karin: Mutter Erde, oder die Farbe Braun. Zur Promiskuität des barocken Bildfelds. In: Hansen-Löve, Aage / ​Ott, Michaela / ​Schneider, Lars (Hg.): Natalität. Geburt als Anfangsfigur in Literatur und Kunst. Paderborn: Fink 2014, S. 151–171, hier S.152. 195  Borinski, Karl: Braun als Trauerfarbe. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Philologische und Historische Klasse. München 1918, S. 1–18, hier S. 8, https://archive.org/details/sitzungsberichte1918bayeuoft. Auf diesen Text des von Walter Benjamin wiederholt zitierten Literaturwissenschaftlers Borinski bezieht sich auch Karin Leonhard in ihrem Aufsatz. 196  Ebd., S. 9. 197  Leonhard: Mutter Erde, oder die Farbe Braun, S. 152. 198  Borinski: Braun als Trauerfarbe, S. 3. 199  Ebd., S. 18. 200  Vgl. Lehmann, Ann-Sophie: Hautfarben. Zur Maltechnik des Inkarnats und der Illusion des lebendigen Körpers in der europäischen Malerei der Neuzeit. In: ­Geissmar-Brandi, Christoph / ​Hijiya-Kirschnereit, Irmela / ​Naoki, Sato (Hg.): Gesichter der Haut. Frankfurt: Stroemfeld 2002, S. 93–128, hier S. 110.

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der Bildfrau, die ihre eigene Mumifikation an die Oberfläche trägt, unterläuft damit die Strategie des Erzählers, der sich der Illusion hinzugeben versucht, dass sie lebendig ist. Entgegen Morels Absicht spricht Faustines Haut nicht vom Leben, sondern vom dunklen Sog des Bildes und schließlich von der tiefen Ewigkeit des Todes.201 Die Farbe Braun besitzt dem Kunsthistoriker Borinski zufolge auch eine erotische Bedeutung, sie verschwestert die braune Erdkröte und mit der Gebärmutter.202 Neben der thanatalen Deutung steht also eine natale Deutung der Farbe Braun und eine klare Analogie zum weiblichen Geschlecht. Borinski schreibt in seiner 1920 veröffentlichten Studie über die Farbe Braun, im romanischen Sprachraum habe das Braune die „antiken Bezeichnungen für die natürliche Schatten- und Dämmerfarbe verdrängt, wohl wegen der leuchtenden, durchsonnten Schatten im Süden.“203 Die Beobachtung, dass Braun eine leuchtendere Version der Todesfarbe Schwarz ist, scheint auf Faustine zuzutreffen, auch ihre braune Haut scheint merkwürdig zu leuchten. Auf den Erzähler wirkt sie tatsächlich wie eine Art durchsonnter Schatten: Ihr dunkles Gesicht glänzt, als ob „soles prenatales han de haber dorado su piel“ (IM, 28). Immer wieder steht Faustine in Zusammenhang mit der Sonne: Allabendlich betrachtet sie den Sonnenuntergang und wird dabei wiederum vom Erzähler betrachtet. Besondere Faszination entfaltet bei diesem Schauspiel jener Moment, wenn statt der Sonne nur noch ihr Trugbild zu sehen ist: „Todavía el sol estaba arriba del horizonte (no el sol; la apariencia del sol; era ese momento en que ya se ha puesto, o va a ponerse, y uno lo ve donde no está).“ (IM, 36) Dieser Augenblick, in dem die Sonne bereits verschwunden ist und der Erzähler sie dort sieht, wo sie nicht mehr ist, spiegelt den Blick auf Faustine: Auch sie ist nicht mehr dort, wo man sie zu sehen glaubt, wo ihre „aparencia“ noch zu

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Zum Bezug zwischen (lebensähnlichem) Bild und Mumie schreibt Rebekka Schnell treffend: „Gerade in der Perfektion des Ästhetischen, im vollkommenen Bild erstarrt das Leben zur Mumie“ Siehe: Schnell, Rebekka: Natures mortes. Zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon. Paderborn: Fink 2016, S. 113f. Bazin macht einen „« complex » de la momie“ am Ursprung der realistischen Kunst aus; siehe Bazin: Ontologie de l’image photographique, S. 11. In der Folge bezeichnet er Film als „momie du changement“, ebd., S. 16. 202  Vgl. Borinski, Karl: Nochmals die Farbe Braun. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Philologische und Historische Klasse, München 1920, S. 1–20, hier S. 14, https://archive.org/details/sitzungsberichte1920bayeuoft. 203  Borinski: Braun als Trauerfarbe, S. 4.

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sehen ist. Auch sie ist längst „puesto“, gehört ins Totenreich und ist nur noch als Wiedergängerin sichtbar. Und doch kehrt sie wie die Sonne immer wieder. Zwei Sonnen und zwei Monde beobachtet der Erzähler über der totalkinematographischen Insel und bemerkt, „que este segundo sol – quizá imagen de otro – es mucho más violento“ (IM, 66). Das virtuelle Spiegelbild ist wirkmächtiger als das Original,204 aber auch potenter als herkömmliche Reproduktionen, wie Morel feststellt: „Las imágenes habían sido archivadas muy deficientemente por la fotografía y por el cinematógrafo. Dirigí esta parte de mi labor hacia la retención de las imágenes que se forman en los espejos.“ (IM, 88)205 Der Spiegel zeigt das Double in Realpräsenz, verlangt er doch die Anwesenheit des Abgebildeten: Um im Spiegel zu erscheinen, muss das Abgebildete tatsächlich vor dem Spiegel und also präsent sein.206 Nirgendwo ist „der kausale Nexus von Gegenstand und Bild“ stärker als beim Spiegelbild.207 Morels Totalkinematographie verwirklicht damit Morins Metapher: „Le monde

204  Zur Wirkmacht („efficiency“) des virtuellen Bildes siehe auch die in der Einleitung zitierte Definition von Virtualität von Peirce, vgl. Baldwin: Dictionary of Philosophy and Psychology, S. 763. Das Spiegelbild ist dabei das virtuelle Bild par excellence. Darin, dass Morels visuelle Aufnahmegeräte mit Spiegeln arbeiten, ähneln sie den Dispositiven in L’Ève future und Le Château des Carpathes, wo die Projektionen ebenfalls über Spiegel entstehen. 205  Dt.: „Dagegen waren bisher die Bildeindrücke von Film und Photographie nur mangelhaft aufgezeichnet worden. Ich wendete mich in diesem Teil meiner Arbeit der Fixierung von Bildern zu, wie die Spiegel sie hervorbringen.“ (S. 110) 206  La invención de Morel wird von zahlreichen Spiegelbildern bevölkert: Im Inneren des museo gibt es beispielsweise einen Raum, der ganz mit Spiegeln ausgekleidet ist, auch der Keller gleicht einem Spiegelkabinett und der Erzähler betrachtet lange die Spiegelung im düster-romantisch anmutenden Aquarium-Zimmer. Generell sind Spiegel gerade bei Bioy und Borges häufig gebrauchte Metaphern für Medialität. David Klein kommentiert in seiner Dissertation zur argentinischen Medienphantastik Borges’ Cuento Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, der, ebenfalls 1940 geschrieben, eine Art Spiegel-Erzählung zu La invención de Morel bildet. Dort tritt nicht nur ein gewisser „Bioy Casares“ auf, sondern auch ein Spiegel, der „algo monstruoso“ an sich hat. Siehe Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: Ders.: Ficciones. Madrid: Alianza 2009, S. 13–40. Klein erkennt in dem Cuento ein Abarbeiten an jener Kluft, die „zwischen den Dingen und den Wörtern, zwischen dem Gemeinten und dem Gesagten“ liegt. Siehe Klein, David: Medienphantastik. Phantastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar. Tübingen: Narr Frankche Attempto Verlag 2015, S. 57. Diese Kluft wird in La invención de Morel auch als Kluft zwischen dem die Differenz negierenden Totalen Kino und der die Differenz reflektierenden Sprache, als Kluft zwischen Film und Literatur spürbar. 207  Hediger: Illusion und Indexikalität, S. 103. Hediger betont diesen Nexus im Hinblick auf das kinematographische Dispositiv; dieses setze ebenfalls „die Realpräsenz des Gegenstandes vor dem Aufzeichnungsapparat voraus“ (vgl. ebd.).

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se réflétait dans le miroir du cinématographe.“208 Morel will schließlich nicht nur ein alle Ewigkeit überdauerndes Bild schaffen, er will ewiges Leben ermöglichen und also die realpräsentische Anwesenheit des Abgebildeten. Die Verdopplung lässt sich allerdings nicht lange aufrechterhalten: Der Körper stirbt angesichts seiner lebensechten Reproduktion, der Apparat gebiert die Mumie. Auf Faustines sonnenglänzender Hautoberfläche fallen Inkarnat und der narzisstische Spiegel in eins. Im Glanz der Haut ertrinkt das Auge, die Tiefe des Wassers fordert den Betrachter heraus.209 Hinter der Oberfläche des Inkarnats lockt die Tiefe. Faustines Haut ist jene Dialektik zu eigen, die zwischen Opakem und Transparentem changiert und jenes Phantasma des Ganzen erzeugt, das im Bild selbst liegt. Die Tiefe des Bildes, die sich im Glanz der von der Sonne vergoldeten Haut auftut, zieht den Betrachter zu sich. Die narziss­ tische Immersion des Erzählers ist damit die unausweichliche Konsequenz der langen Betrachtung des Inkarnats dieser Bildfrau, der Mangel, der dem Betrachter hier offenbar wird, nichts anderes als die Vergänglichkeit des Körpers. Diese hat das Bild längst abgelegt. Das Memento mori liegt in Faustines opaker Lederhaut, es spiegelt dem Betrachter seine eigene Sterblichkeit.210 Im Glänzen ihrer Haut scheint auf, was sich auf dem Grund dieses totalkinematographischen Abbildes verbirgt: der Tod. 3.2.2 Madeleine: der Duft der Zeit

Mit der Mumie hat Faustine nicht nur die Farbe des Inkarnats, sondern auch den Sieg über die Zeit gemein. Bazin erläutert die Verwandtschaft der Kinematographie zur Mumifizierung, demnach befriedigte der ägyptische Totenkult ähnlich wie die Erfindung der modernen Wiedergabemedien „un besoin fondamental de la psychologie humaine : la défense contre le temps. La mort

208  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 168. Später führt Morin die Spiegelmetapher noch aus: „C’est en effet parce qu’il est miroir anthropologique que le cinéma reflète nécessairement les réalités pratiques et imaginaires“, siehe ebd., S. 177. 209  Vgl. dazu Didi-Huberman: La peinture incarnée, S. 85f. 210  Zum Narzissmus in La invención de Morel enthält Didier Anzieus Studie Das HautIch ein Kapitel, das allerdings den Roman eher illustrierend zitiert und nicht genauer untersucht. Interessant ist allerdings die Verknüpfung, die Anzieu zwischen Inkarnat und Idolatrie herstellt: „Fasziniert vom Ideal ihrer Abbilder, zieht es der Erzähler vor, ausgestattet mit einem so empfindlichen Haut-Ich, anstatt der realen Menschen ihre Idole zu lieben – genau das nennt man Idolatrie“. Siehe Anzieu: Das Haut-Ich, S. 168f.

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n’est que la victoire du temps. Fixer artificiellement les apparence charnelles de l’être c’est l’arracher au fleuve de la durée : l’arrimer à la vie“.211 Faustines Erscheinung am Leben zu vertäuen, ist Morels erklärtes Ziel. Der Erfinder, der in La invención de Morel nicht als reale Figur, sondern ebenfalls nur als Abbild seiner selbst anwesend ist, hat die Absicht, den Lauf der Zeit aufzuhalten: Er will die lineare Zeit in den Kreislauf einer Grammophon-Platte umlenken und ihr so die ewige Wiederkehr ermöglichen beziehungsweise aufzwingen. Seine Reproduktionsmaschine stoppt je nach Stand der Gezeiten an einem beliebigen Tag der Woche und beginnt an genau dieser Stelle wieder, sobald das Gezeitenkraftwerk ausreichend Elektrizität liefert.212 Morels Film gelangt nie ans Ende; die Zirkelstruktur der „semana eterna“ bedeutet seinen Sieg über die Zeit. Faustine ist Frau Faust, Gegenstand eines teuflischen Pakts, der den Augenblick verweilen lässt. Der Erzähler ist von dieser Frau weiter entfernt, als er zunächst vermutet: „¿Cómo seguiré en la tortura de vivir con Faustine y de tenerla tan lejos?“ (IM, 120)213 Es geht nicht nur um die Entfernung zwischen seiner Südseeinsel und Frankreich, wo er Faustines Heimat vermutet; durch die scheinbare räumliche Nähe zunächst verborgen liegt zwischen ihm und ihr eine unüberbrückbare zeitliche Distanz. Sein Wunsch, mit Faustine in Zeitgenossenschaft zu leben, wird dem Erzähler verwehrt bleiben, denn diese seltsam altmodisch gekleideten Fremden sind die Bilder von Toten.214 Faustine stammt buchstäblich aus einer anderen Zeit: Gefangen in Morels Bilder­ welt verläuft ihre Zeit zirkulär, während die Zeit des Erzählers gemäß der literarischen Narration linear angelegt ist. Kino-Zeit und Text-Zeit sind asynchron; sie können nur durch den Tod des Schreibenden in Einklang gebracht werden, weil dann die Narration endet und der Text in den Kreislauf seiner

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Bazin: Ontologie de l’image photographique, S. 11. Morels Abspielsystem erinnert daher an eine Schallplatte, auf der die Nadel in einer einzigen Rille immer weiter läuft oder an einen Kinoprojektor, der eine Filmspule als Möbiusband abspielt. 213  Dt.: „Wie soll ich weiterhin die Folterqual erdulden, mit Faustine zu leben und ihr gleichzeitig so fern zu sein?“ (S. 155) 214  Barthes beschreibt in seinen Vorlesungen am Collège de France das Zusammenleben als räumliche und zeitliche Tatsache und stellt in diesem Zusammenhang die auch hier virulente Frage, „wie sich chronologische Sinnestäuschungen auswirken (vgl. die optischen).“ Siehe Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977. Frankfurt: Suhrkamp 2007, S. 41. 212 

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eigenen Reproduktion, des Lesens und Wiederlesens, eintritt. Morels Automaten haben sich dank des Mechanismus im Gezeitenkraftwerk verselbstständigt, das im Entstehen begriffene Buch hingegen ist abhängig von dem, der es niederschreibt.215 Morel verfolgt ein anderes Ziel als eine möglichst kunstfertige Narration, er will mit der mimetischen Wiedergabe der Sinneseindrücke die Seele transportieren: „Congregados los sentidos, surge el alma.“ (IM, 90) Das Sinnliche wird in seiner kinematographischen Maschinerie zum Medium einer Seelenwanderung. Als Beweis dafür, dass die Seele aufs Bild übergeht, betrachtet Morel den Tod der aufgenommenen Lebewesen: Ihre Seelen verlassen den Leib und gehen seiner Meinung nach auf die Projektionen über. Die Schwächen dieses Plans zeigen sich, wenn man Morels Erfindung mit einem anderen großen Erinnerungsprojekt kontrastiert, das intertextuell aufgerufen ist: Prousts À la recherche du temps perdu.216 Während dort der Erzähler unwillkürlich in der sinnlich heraufbeschworenen Erinnerung an die Vergangenheit versinkt, geht es Morel darum, die Vergangenheit systematisch zu wiederholen. Eklatant ist dabei der bereits im Zusammenhang mit Pirandellos Quaderni zitierte Unterschied zwischen Erinnerung und Wiederholung, den Kierkegaard macht: „[…] dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist“.217 Das Kino erweist sich bei Bioy als Medium der Wiederholung, das nicht zurückblickt, weil dort der Tod lauert. Besonders deutlich wird dies in einer konkreten Anspielung auf Prousts Recherche, der Madeleine-­ Episode in La invención de Morel: Als Morel seinen Freunden die Erfindung erklärt und ihnen zugleich eröffnet, dass sie ohne ihr Wissen von den Apparaten aufgenommen wurden, zieht er eines seiner früheren Experimente zur Erläuterung heran. Bereits in Europa, berichtet er, unternahm er Versuche, einzelne Personen aufzunehmen und abzubilden. Eine davon war eine

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Insofern unterschätzt Nitsch Morels Erfindung, wenn er die Abhängigkeit von den Gezeiten als „Mangel“ der Apparatur bezeichnet, vgl. Nitsch: Die Insel der Reproduktionen, S. 110. 216  Bioy, der ähnlich wie Borges sehr belesen war, nennt 1977 in einem Interview neben zahlreichen anderen Schriftstellern auch Proust als Vorbild und Inspiration. Siehe Roffé, Reina: Entrevista con Adolfo Bioy Casares. In: Cuadernos Hispanoamericanos, 609 (2001), S. 35–43, hier S. 37. 217  Kierkegaard: Die Wiederholung, S. 3.

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Frau namens Madeleine, die er nun vor den Augen, Ohren und Nasen seiner Freunde wiederkehren lässt: Una persona o un animal o una cosa, es, ante mis aparatos, como la estación que emite el concierto que ustedes oyen en la radio. Si abren el receptor de ondas olfativas, sentirán el perfume de las diamelas que hay en el pecho de Madeleine, sin verla. Abriendo el sector de ondas tactiles, podrán acariciar su cabellera, suave e invisible, y aprender, como ciegos, a conocer las cosas con las manos. Pero si abren todo el juego de receptores, aparece Madeleine, completa, reproducida, idéntica; no deben olvidar que se trata de imágenes extraídas de los espejos, con los sonidos, la resistencia del tacto, el sabor, los olores, la temperatura, perfectamente sincronizados. Ningún testigo admitirá que son imágenes. (IM, 88)218

Morels Madeleine, in Jasminduft statt in Lindenblütentee getaucht, dient als Anschauungsobjekt dafür, wie Vergangenes lebensecht, in materieller, sinnlich immer wieder erfahrbarer Reproduktion konserviert wird. So täuschend echt, dass kein Zuschauer sie als Bild erkennt. Allerdings erscheint die Madeleine hier nicht allein, sondern zusammen mit einer verborgenen Verwandtschaft zu Maria Magdalena und der Einbalsamierung Christi.219 Schließlich

218  Dt.: „Eine Person oder ein Tier oder ein Gegenstand ist im Angesicht meiner Apparate gleichsam die Sendestation, die das Konzert ausstrahlt, das Sie am Radio hören. Wenn Sie den Empfänger für Geruchswellen einschalten, werden Sie den Duft der Narzissen, die Madeleine an der Brust trägt, empfinden, ohne jedoch Madeleine zu sehen. Wenn Sie den Tastwellenbereich einschalten, können Sie ihr liebkosend über das Haar streichen – was weich und unsichtbar fließt – und wie die Blinden lernen, die Dinge mit den Händen zu erkennen. Wenn Sie aber die gesamte Empfangsskala spielen lassen, erscheint vor Ihnen Madeleine in vollständiger, reproduzierter, identischer Gestalt. Sie dürfen nicht vergessen, daß es sich um Bilder handelt, die dem Spiegel entnommen sind und mit den Lauten, dem Tastwiderstand, den Geschmacks- und Geruchsqualitäten, der Temperatur auf die perfekteste Art synchronisiert worden sind. Kein Mensch, der ihnen gegenübertritt, wird bereit sein, zuzugeben, daß es Bilder sind.“ (S. 110f.) In der hier zitierten deutschen Übersetzung wird „diamela“ fälschlicherweise mit Narzisse übersetzt, gemeint ist aber Jasminblüte. Dies ist in einer neueren, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen Übersetzung inzwischen korrigiert, vgl. Bioy Casares, Adolfo: Morels Erfindung (übers. v. Gisbert Haefs). Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 86. 219  Kevin Newmark legt in einem brillanten Aufsatz über Prousts Madeleine deren Verwandtschaft zu Maria Magdalena offen: „Clearly, ‘embalming’ is a metonymy for death, since it names a process or a ceremony that presupposes a death and a corpse upon which to operate. In the terms of the Christian allegory that is mimed throughout, the ‘Madeleine’ is also a proper name, Magdalene, and it has a specific role to perform in this sacrificial structure: ‘At that time, Mary Magdalene, Mary the mother of James, and Salome, brought spices, that they might go and anoint Jesus‘ (Mark, 16:1–2, emphasis added). The madeleine, then, names the faculty and the agent of the anointing or em-

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rekurriert Morels „semana eterna“ auch auf die Semana Santa, die Woche zwischen Palmsonntag und Ostern. In dieser Referenz auf das Grab und den einbalsamierten Leichnam verweist die Madeleine letztlich auf den mumienhaften Charakter der Totalkinematographie und denunziert deren Anspruch auf Realismus, der hinter Morels Reproduktionsprojekt als Überbietung Prousts aufscheint. Für Bioy wie für Borges ist blanker Realismus keine Kunst: So kritisiert Letzterer im Vorwort zu La invención de Morel: „Hay páginas, hay capítulos de Marcel Proust que son inaceptables como invenciones: a los que, sin saberlo, nos resignamos como a lo insípido y ocioso de cada día.“220 Die realistische Darstellung langweile ihn wie die Fadheit des alltäglichen Lebens, schreibt Borges und bezieht sich damit indirekt auf Ortega y Gasset, der sich ebenfalls gegen eine bloße Verdopplung der Realität ausspricht. Die Epiphanie der Vergangenheit, die Prousts Madeleine-Episode aufruft, wird von Morels Erfindung allerdings sogar noch übertroffen, denn diese soll ja Madeleine in Realpräsenz vor Augen stellen. „Der ‚appetit d’illusion‘ will nicht einfach Illusion, sondern die Illusion der Permanenz des Vergänglichen.“221 Die Reproduktion soll duften. Allerdings erweist sich das Gelingen dieses Unterfangens als fragwürdig, denn der Erzähler berichtet von keinerlei olfaktorischen Eindrücken. Da es sich bei der Erscheinung der Madeleine um einen Film im Film handelt – Morels Vorführung der Madeleine findet ja innerhalb der aufgezeichneten Woche statt – bleibt der Duft der Jasminblüten in der Mise en abyme gefangen. So entsteht hier wie im gesamten Roman eine Diskrepanz zwischen behaupteter Multisensualität und erzählter Audio­ visualität, denn tatsächlich beschreibt der Erzähler weder Madeleines noch Faustines Duft. Er konzentriert sich stattdessen durchgängig auf optische und akustische Eindrücke. Auch Haptik spielt für seine Rezeption keine Rolle, obwohl Morel doch stolz verkündet, dass man seine Reproduktionen so-

balming it performs on the narrator’s boyhood; through its homonymy with Mary Magdalene it smears the natural corpse of Combray with the perfumed oils of linden in order to preserve it ritually.“ Siehe Newmark, Kevin: Ingesting the Mummy: ­Proust’s Allegory of Memory. In: Yale French Studies. Literature and the Ethical Question, 79 (1991), S. 150– 177, hier S. 168. Den Hinweis auf Newmarks Aufsatz verdanke ich Rebekka Schnell, die sich in ihrer Dissertation zum Stillleben bei Proust ebenfalls mit der Madeleine beschäftigt hat, vgl. Schnell: Natures mortes, v. a. S. 52ff. 220  Borges: Prólogo, S. 8. (Dt.: „Es gibt bei Marcel Proust Seiten, ja ganze Kapitel, die als Erfindungen ungenießbar sind, aber wir nehmen sie unbewußt hin, wie dir den faden und müßigen Ballast des täglichen Lebens hinnehmen.“ Siehe Borges: Nachwort, S. 174.) 221  Hediger: Das Wunder des Realismus, S. 76.

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gar fühlen kann: „Abriendo el sector de ondas táctiles, podrán acariciar su cabellera, suave e invisible, y aprender, como ciegos, a conocer las cosas con las manos.“ (IM, 88) Dennoch überzeugt der Erzähler sich von der Totalität dieser Projektionen nicht, er vermeidet sogar jegliche Berührung mit seiner geliebten Faustine und bleibt ganz Zuschauer. Dies zeichnet sich schon zu Beginn ab, als ihm noch gar nicht klar ist, dass es sich bei Faustine um eine Projektion handelt: „Con estirar el brazo, la hubiera tocado. Esta posibilidad me horrorizó (como si hubiera estado en peligro de tocar un fantasma).“ (IM, 38f.)222 Die Vorstellung, sie zu berühren, ist abschreckend, es handelt sich ja wirklich um ein Phantasma. So erfährt der Erzähler „l’impossibilité de rencontrer Faustine dans la dimension holographique où celle-ci perdure en image“.223 In der Frage, ob der Erzähler Faustine jemals berührt hat, deutet alles darauf hin, dass es bei seiner religiös-keuschen Bewunderung geblieben ist. So legt er sich beispielsweise auf den Boden neben ihrem Bett, während sie schläft, „y me conmuevo mirándola descansar“ (IM, 101). Für den Erfolg von Morels totalkinematographischem Reproduktionsprojekt bedeutet dies einen offenen Ausgang: Der Erzähler ist zwar lange Zeit überzeugt davon, dass sein Gegenüber lebendig und real ist, aber er vergewissert sich dessen nie und gefährdet dadurch auch seine eigene Glaubwürdigkeit. Die Frage nach der Berührung des Phantasmas wird im Laufe des Ro­mans zur entscheidenden Frage für den Status des Erzählers. Der Text lässt eine bedeutungsvolle Stelle der Unschärfe, einen blinden Fleck, der es sonderbar erscheinen lässt, dass die Frage nach der Berührung in bisherigen Studien zu La invención de Morel keine wesentliche Rolle gespielt hat. Um dies zu erläutern, sei zunächst die Passage zitiert, in der sich die Unschärfe eingenistet hat: Tuve pocas dificultades, a pesar de que abrir las puertas — aun las cerradas sin llave — es imposible (porque si estaban cerradas cuando se grabó la escena, tienen que estarlo cuando se proyecta). Tal vez pudiera forzarlas, pero temo que una rotura parcial descomponga todo el aparato (no

222  Dt.: „[…] ich hätte sie mit ausgestrecktem Arm berühren können. Diese Möglichkeit jagte mir einen Schauder ein (als sei ich in Gefahr gewesen, ein Gespenst anzurühren).“ (S. 40f.) 223  Bozzetto, Roger: L’Invention de Morel. Robinson, les choses et les simulacres. In: Études françaises. Robinson, la Robinsonade et le monde des choses, 35 (1999), S. 65–77, hier S. 72.

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Der Traum vom Totalen Kino lo creo probable). Faustine, al retirarse a su cuarto, cierra la puerta. En una sola ocasión no me será posible entrar sin tocarla: cuando la acompañan Dora y Alec. Después estos dos salen rápidamente. (IM, 100f.)224

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Unscheinbar verbirgt sich die Unschärfe, die die Erzählinstanz ins Wanken bringt, in jenem la, das als Pronomen an das Verb „tocar“ angehängt ist. Das weibliche Pronomen ist an dieser Stelle unbestimmbar, es bleibt offen, worauf es sich bezieht: die Tür oder Faustine? Dafür, dass der Erzähler hier erzählt, dass er die Tür bei dieser Gelegenheit berührt hat, spräche der Kontext: Der Erzähler erläutert vorher ausführlich das Problem der geschlossenen und unbeweglichen Türen im reproduzierten Gebäude des museo: Er vermeide es, diese zu berühren, aus Sorge, einen Fehler in der Reproduktion zu verursachen. Dafür jedoch, dass es um eine Berührung Faustines geht, spräche die Logik: Die Berührung einer Tür müsste wohl nicht eigens als große Ausnahme betont werden, eine Berührung der Bildfrau dagegen stellt eine erzählenswerte Anekdote dar. Für eine dritte Deutungsmöglichkeit, nämlich dass es sich hierbei um eine bewusst gesetzte oder zumindest in Kauf genommene und schließlich produktiv werdende Unschärfe des Textes handelt, spricht, dass der Erzähler relativ unvermittelt noch einmal auf diese Passage zurückkommt, kurz bevor er stirbt: La noche que Faustine, Dora y Alec entran en el cuarto, contuve triunfalmente los nervios. No intenté averiguación alguna. Ahora tengo un ligero fastidio por haber dejado ese punto sin aclarar. En la eternidad no le doy importancia. (IM, 128)225

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Dt.: „Aus Neugier gehe ich ihr seit rund zwanzig Tagen nach. Ich hatte dabei verhältnismäßig wenig Anstände, wenngleich es nach wie vor keine Möglichkeit gibt, die Türen – auch die nicht abgeschlossenen – zu öffnen (denn waren sie geschlossen, als die Szene aufgenommen wurde, müssen sie auch geschlossen sein, wenn sie gesendet wird). Vielleicht könnte man sie aufbrechen, aber ich fürchte, daß eine teilweise Beschädigung den ganzen Apparat stillegen könnte (ich halte das aber nicht für wahrscheinlich). Wenn Faustine sich in ihr Zimmer zurückzieht, schließt sie die Tür hinter sich. Nur bei einer einzigen Gelegenheit ist es mir nicht möglich, mit ihr hineinzugehen, ohne sie zu berühren: nämlich wenn Dora und Alec in ihrer Gesellschaft sind. Diese beiden kommen dann rasch wieder heraus.“ (S. 127f.) In der deutschen Übersetzung wird die Unschärfe abgeschwächt, wenn auch nicht ganz aufgehoben. 225  Dt.: „In der Nacht, als Faustine, Dora und Alec in das Zimmer hineingingen, habe ich meine Nerven großartig bezähmt. Ich habe nicht versucht, irgend etwas herauszubringen. Jetzt bin ich ein wenig verdrossen, daß ich diesen Punkt unaufgeklärt gelassen habe. In der Ewigkeit messe ich ihm keine Bedeutung bei.“ (S. 165) Die deutsche Übersetzung greift die Unschärfe hier nicht auf und klingt deswegen an dieser Stelle besonders holprig, weil nicht klar ist, was „herauszubringen“ gewesen sein sollte.

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Ein leichter Unmut befällt ihn, wenn er darüber nachdenkt, dass er diesen Punkt offengelassen hat. Welchen Punkt er genau meint, bleibt wiederum ungesagt. Aber es deutet alles darauf hin, dass er auf eben jene Unschärfe anspielt, die im Pronomen la liegt; schließlich findet sich sonst im ganzen Text keine Passage, in der von Faustine, Dora und Alec die Rede ist, als die oben zitierte. Somit handelt es sich bei dem unbestimmbaren la um eine Unschärfe, die der Text hervorbringt, die sogar nur der Sprache als Medium möglich ist. Und die deshalb die Schwäche und zugleich das Potenzial der Literatur gegenüber dem Totalen Kino ausstellt: In der exakten Wiedergabe der Realität mag der Text unzulänglich sein, allerdings befeuert er gleichzeitig die Imagination der Leserinnen und Leser und lässt im Gegensatz zu Morels Film, der ja letztlich blanker Realismus ist, Raum für Phantastisches. Hat der Erzähler Faustine berührt oder nur die Tür? Um über das Gelingen oder Misslingen von Morels totalkinematographischer Projektion zu entscheiden, ist die Antwort auf diese Frage ausschlaggebend. Der Text allerdings lässt sie offen und damit Morels Bemühen um die perfekte, auch tastbare Reproduktion von Leben ins Leere laufen. Darauf, dass es sich bei der Unschärfe im Pronomen la um eine vermeintliche Schwäche des sprachlichen Mediums handelt, aus der ein Vorteil erwächst, deutet auch dieser Kommentar des Erzählers hin: „Un hombre solitario no puede hacer máquinas ni fijar visiones, salvo en forma trunca de escribirlas o dibujarlas, para otros, más afortunados.“ (IM, 101)226 Die Literatur kann, ebenso wie die Malerei, nur verstümmelte Reproduktionen liefern; allerdings sind diese nicht unbrauchbar, sondern für andere, Glücklichere, durchaus ein Gewinn. Diese Glücklicheren sind jene, die die Fähigkeit zur Imagination besitzen. Bioy kontrastiert Film und Literatur also nicht nur, um „genuine Möglichkeiten der Literatur auszustellen und ihr Potential vorzuführen“, sondern auch, um mimetische Kunst generell zu problematisieren und damit „den Anspruch des Realismus an sich ad absurdum“ zu führen.227 Nicht umsonst verwehrt sich Borges in seinem Prolog zu La invención de Morel gegen die Ansprüche der „novela ‚realista‘“, die „prefiere que olvidemos su carácter de artificio verbal y hace de toda vana precisión (o de toda lánguida vaguedad) un nuevo

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Dt.: „Ein einzelner Mensch kann weder Apparate herstellen noch Visionen fixieren; allenfalls in der unzulänglichen Form, sie für beglücktere Menschen niederzuschreiben oder aufzuzeichnen.“ (S. 129) 227  Hausmann: Herausforderung durch den Film und Herausforderung an den Film, S. 446f.

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toque verosimil“.228 Der Versuch, mittels perfekter Mimesis der Reproduktion einen „toque verosimil“ zu verleihen und letztlich die Transparenz des Kunstwerks zu erreichen, stößt bei Borges wie bei Bioy gleichermaßen auf Ablehnung.229 Insbesondere die Kunst des 19. Jahrhunderts „no es arte, sino extracto de vida“.230 Das Fatale an der realistischen Kunst – hierin sind sich Ortega, Borges und Bioy einig – ist, dass sie statt zur Kontemplation zur „convivencia“ einlade.231 Diese Falle, in die bereits Pygmalion tappte, wird auch dem Erzähler in La invención de Morel zum Verhängnis. Auch er will mit den Bildern zusammenleben. Bioys Roman greift die Kritik am Realismus auf, indem er die (phantastische) Literatur gegen den Traum vom Totalen Kino in Stellung bringt. Dabei erweist der Text sich gerade in seinen Unschärfen am produktivsten; dort, wo er das Phantasma streift. Bioys Medienphantastik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie ihre eigene Medialität stets mit bedenkt: Die Selbstreferenzialität des Textes und die Reflexion der Schriftlichkeit als materieller Gegebenheit spielt, wie stets bei Bioy, auch in La invención de Morel eine entscheidende Rolle – und hier verstärkt, weil in der aufgerufenen Mediendifferenz zum Kino besonders deut-

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Borges: Prólogo, S. 8. (Dt.: Der realistische Roman „will uns über seinen Charakter eines Wortkunstwerks hinwegtäuschen und macht so aus jeder nichtigen Angabe (oder jeder laxen Verschwommenheit) einen neuen Wahrscheinlichkeitstupfen.“ Siehe Borges: Nachwort, S. 174) 229  Mit dem gleichen, im Wesentlichen platonischen Argument sprechen auch andere zeitgenössische Schriftsteller und Theoretiker dem Film den Kunstwerkstatus ab. Die theoretischen Implikationen und zentralen Linien dieser Debatte zeichnet Carell in seiner Film-Philosophie nach, siehe dazu Carroll, Noël: The Philosophy of Motion Pictures. Oxford: Blackwell Publishing 2008, v. a. S. 26ff. Zusammenfassend sei hier zitiert: „The capacity of film and photography to afford a window into the past has been called ‚photographic transparency‘. […] Consequently, neither photography nor film can sustain aesthetic interest.“ (Ebd., S. 26) Was hier ebenfalls klar wird, ist, dass es sich bei dieser angeblichen Transparenz des filmischen Mediums um eine Zuschreibung handelt, die im Gegensatz zu den tatsächlichen Gegebenheiten steht, wenn man bedenkt, dass Film zu der Zeit, als diese Argumente aufkamen, noch stumm und schwarz-weiß war. 230  Ortega y Gasset: La Deshumanización del Arte, S. 852. Karin Peters sieht in dem scharfen Angriff von Borges und Bioy auf den literarischen Realismus einen „Reflex auf den Realismusanspruch der Literatur des 19. Jahrhunderts, der – ironisch gebrochen – im Modus des Phantastischen unheimlich wiederkehrt“. Siehe: Peters: Der gespenstische Souverän, S. 306. Darauf, dass dieser Reflex auch durch das Aufkommen des Kinos befeuert sein könnte, geht sie allerdings nicht ein. 231  Ortega y Gasset: La Deshumanización del Arte, S. 858. Allerdings lobt Ortega insbesondere Proust für seine Anstrengungen, den Realismus zu überwinden. Vgl. ebd., S. 866.

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lich hervortritt, was in dieser Präfiguration des Totalen Kinos das spezifisch Literarische ist. Mit Nitsch gesprochen demonstriert der Text seine Überlegenheit gerade in seiner Reflexionsfähigkeit: Gegenüber Morels technischer Aufzeichnung hat sein Tagebuch den entscheidenden Vorteil, dass er jederzeit darin blättern, neue Eintragungen mit alten vergleichen oder diese im Lichte jener neu lesen kann. Damit eröffnet es ihm die Möglichkeit zur Reflexion und zur nachträglichen Interpretation der Reproduktionen.232

Statt den paragone bloß einmal mehr abzuspulen, inszeniert der Text sich als das bessere Reflexionsmedium. Er hat seine eigenen Schwächen im Blick und kann – anders als Morels Totalkino – die eigene Medialität mitbedenken. Entscheidend hierfür ist die Erzählinstanz, die zwischen Ikonoklasmus und Idolatrie schwankt und gerade in ihrer Unzuverlässigkeit zeigt, dass Literatur im Gegensatz zum Totalen Kino den Rezipienten zur distanzierten Reflexion befähigt.233 Zu Beginn des Romans inszeniert sich der Erzähler bei seinen Streifzügen durch die Gebäude auf der Insel als Bilderstürmer: „Hay quince departamentos. En el mío hice una obra devastadora, que dio poco resultado. No tuve más cuadros – de Picasso –, ni cristales ahumados, ni forros con valiosas firmas, pero viví en una ruina incómoda.“ (IM, 24)234 Er bekennt gleich zu Beginn, ein Mann der Schrift zu sein – und ein Gegner der modernen Massenmedien: Escribo esto para dejar testimonio del adverso milagro. Si en pocos días no muero ahogado, o luchando por mi libertad, espero escribir la Defensa ante Sobrevivientes y un Elogio de Malthus. Atacaré, en esas páginas, a los agotadores de las selvas y de los desiertos; demostraré que el mundo,

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Nitsch: Die Insel der Reproduktionen, S. 115. Schließlich tritt durch das Konzept des unzuverlässigen Erzählers auch die Rezeptionssituation selbst in den Vordergrund. Vgl. dazu: Liptay, Fabienne / ​Wolf, Yvonne: Einleitung. Film und Literatur im Dialog. In: Dies. (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Richard Boorberg 2005, S. 12–18, hier S. 17. Siehe zu diesem Konzept und seinen Implikationen im selben Band auch den Beitrag von Fludernik, Monika: Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit. a.a.O., S. 39–59. 234  Dt.: „Es sind im ganzen fünfzehn Zimmer vorhanden. Ich bezog eines davon und verrichtete darin ein Zerstörungswerk, das wenig fruchtete. Ich verbrannte die Gemälde – von Picasso –, die angelaufenen Kristallgegenstände, den Bodenbelag namhafter Firmen, aber ich lebte in einer unbehaglichen Ruine.“ (S. 19) 233 

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Der Traum vom Totalen Kino con el perfeccionamiento de las policías, de los documentos, del periodismo, de la radiotelefonía, de las aduanas, hace irreparable cualquier error de la justicia, es un infierno unánime para los perseguidos. (IM, 15f.)235

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Seine literarischen Ambitionen scheinen sich dabei zunächst eher gesellschaftspolitischen Themen und der Verteidigung seiner eigenen Person gegen die Verfolgung durch die Justiz zu widmen, sein „testimonio“ (IM, 15) wird erst nach und nach zu einem ästhetischen Projekt.236 Überhaupt scheint seine schriftstellerische Tätigkeit erst zu erwachen, als Faustine und ihre Begleiter auftauchen: „Hasta ahora no he podido escribir sino esta hoja que ayer no prevía.“ (IM, 16) Sein Schreiben wird somit erst ausgelöst durch den Kontakt mit einem modernen Wiedergabemedium und gewissermaßen ebenfalls durch die Maschinen im Keller des museo angetrieben: „A la madrugada me despertó un fonógrafo.“ (IM, 15) Da der Phonograph hier selbst Teil einer totalkinematographischen Reproduktion ist, wird bereits am Beginn des Romans die Struktur der Mise en abyme aufgerufen, die den gesamten Text prägt. Das Erscheinen der Projektionen motiviert das Erzählen, wobei der „testimonio“ zu einer weiteren Reproduktion dieser Reproduktion einer Reproduk­tion wird, indem der Erzähler wiedergibt, was Morels Maschinen wiedergeben, wobei allerdings wie im Palimpsest üblich die einzelnen Schichten miteinander interferieren.237 Was die unterschiedlichen Ebenen der Reproduktion voneinander unterscheidet, ist letztlich vor allem „die Geste des Schreibens selbst“.238 Diese wird 235 

Dt.: „Ich schreibe dies nieder, um von dem widerwärtigen Wunder Zeugnis zu geben. Sofern ich nicht in den nächsten Tagen ertrinke oder um meine Freiheit kämpfend sterbe, hoffe ich ‚Die Verteidigung im Angesicht Überlebender‘ und eine ‚Laudatio auf Malthus‘ zu Papier zu bringen. In dieser Schrift werde ich die Ausbeuter der Wälder und Wüsten attackieren. Ich werde nachweisen, daß die Welt auf Grund ihrer perfektionierten Polizeimethoden, ihres Melde- und Presseapparats, ihrer Funktechnik und Zollabsperrung Justizirrtümer unwiderruflich macht und für die Verfolgten eine einzige Hölle ist.“ (S. 8) 236  Damit spielt der Roman auch mit den Leser-Erwartungen, indem er der Konven­ tion widerspricht, die von einem Tagebuch „ein intimes Gespräch des Schreibers mit sich selbst“ erwartet. Siehe Peters: Der gespenstische Souverän, S. 321. 237  Vgl. Oesthues, Julian: Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2017, S. 17. Osthues betont im Hinblick auf das Palimpsest die „Ambivalenz von Absenz, Präsenz und deren Simultanität“, die auch in La invención de Morel, einem ebenfalls postkolonialen Text, zu beobachten ist (vgl. ebd., S. 18). 238  Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A.

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dadurch ausgestellt, dass es sich bei dem Text um einen in der ersten Person verfassten tagebuchartigen Bericht handelt, und der Erzähler immer wieder über seine eigene Verfassung und Intention reflektiert: „Escribo esto para dejar testimonio del adverso milagro.“ (IM, 15) Hinzu kommen Reflexionen über unterschiedliche Medien: Estuve leyendo los papeles amarillos. Encuentro que distinguir por las ausencias – espaciales o temporales – los medios de superarlas, lleva a confusiones. Habría que decir, tal vez: Medios de alcance y medios de alcance y retención. La radiotelefonía, la televisión, el teléfono, son, exclusivamente, de alcance; el cinematógrafo, la fotografía, el fonógrafo – verdaderos archivos – son de alcance y retención. Todos los aparatos de contrarrestar ausencias son, pues, medios de alcance (antes de tener la fotografía o el disco hay que tomarla, grabarlo). Asimismo, no es imposible que toda ausencia sea, definitivamente, espacial… En una parte o en otra estarán, sin duda, la imagen, el contacto, la voz, de los que ya no viven (nada se pierde…). (IM, 98f., Herv. i. O.)239

Der Erzähler reflektiert hier die Möglichkeiten und Defizite unterschiedlicher Medien. Vom Lesen der „papeles amarillos“, die Morels schriftliche Notizen enthalten, gelangt er zu Übertragungsmedien wie Fernsehen und Telefon und schließlich zu den Speichermedien Kino, Photographie und Grammophon, wobei ihm letztere als „verdaderos archivos“ offenbar potenter erscheinen, weil sie nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Distanz überbrücken und also Anwesenheit scheinbar bewahren können. In dieser Passage offenbart sich nicht der Erzähler, sondern Morel als der eigentliche Ikonoklast. Ähnlich wie in Huxelys Brave New World wird auch hier der Erfolg der medialen Reproduktion daran gemessen, ob sie Präsenz herstellt. Die tatsächliche Abwesenheit des Dargestellten zu leugnen, stellt Hoffmann. München: Fink 2008, S. 21. 239  Dt.: „Ich habe die gelben Blätter noch einmal gelesen. Ich halte es für irreführend, wenn man die Mittel zur Überwindung von Abwesenheiten danach gliedert, ob es sich um ihre räumliche oder zeitliche Dimension handelt. Man müßte etwa so sagen: Mittel zur Erfassung und Mittel zur Fixierung. Radio, Fernsehen, Telephon sind ausschließlich Mittel zur Erfassung. Film, Photographie, Grammophon – ausgesprochene Archive – sind Mittel zur Erfassung und Fixierung. Alle Apparate, die dazu bestimmt sind, Abwesenheiten aufzuheben, sind folglich Mittel zur Erfassung (denn bevor man die Photographie oder die Schallplatte in der Hand hat, muß die Aufnahme gemacht worden sein, muß man die Platte graviert haben). Auch ist es nicht ausgeschlossen, daß folglich jede Abwesenheit räumlicher Natur ist … Irgendwo, ob an diesem oder an einem anderen Ort, werden das Bild, die Tastbarkeit, die Stimme jener, die nicht mehr leben, sich zweifellos befinden (nichts geht verloren).“ (S. 124f.)

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ein Ziel künstlerischer Mimesis dar. Wie Boehm bemerkt, zielt gerade realistische Kunst „auf bildlichen Realitätsersatz, zu dessen Kriterien seit jeher gehörte, die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern“.240 Eben deshalb ist der realistische Künstler „idealiter ein Ikonoklast“;241 er versucht die Bildlichkeit des Bildes zu negieren. Dies gilt auch für Morel, der wie Zeuxis dann künstlerische Genugtuung empfindet, wenn seine Trauben von den Vögeln gefressen werden.242 Morels ikonoklastisches Projekt hat bereits den Bildträger abgeschafft, die totalkinematographische Projektion benötigt keine Leinwand mehr: Im Totalen Kino fallen Bildgehalt und Bildträger in eins. Dieser Topos, der bereits bei der Androide in L’Ève future aufschien, dehnt sich hier auf eine ganze Insel aus. Hier überlagern sich palimpsestartig mehrere Inselbilder, bis ununterscheidbar wird, „cuáles son las moscas verdaderas y las artificiales“ (IM, 117). Mit diesem Projekt kann und will der Erzähler nicht konkurrieren. Er verfolgt eine gegenteilige Strategie, wie in der obigen Textstelle bereits sichtbar wird: Kursivschrift lehnt sich der Handschrift entgegen, betont die schriftliche Verfasstheit dieses tagebuchartigen Textes und stört zugleich den Lesefluss, indem sie ähnlich wie eine Unterstreichung oder Sperrung des gedruckten Wortes wirkt. Wie der von Hunger, Insektenstichen und Verletzungen gemarterte Körper des Erzählers ist auch der Textkörper von Striemen und Markierungen der Schriftlichkeit übersät. Durch Kursivierungen, Doppelpunkte, Zitate und Auslassungszeichen – Unterbrechungen des Leseflusses – wird Schrift wie in der obigen Passage im Text immer wieder sichtbar gemacht, die „visuelle Materialität der Schrift“ betont.243

240  Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35. 241 Ebd. 242 

Vgl. Plinius: Naturkunde, Buch XXXV: Farben, Malerei, Plastik, S. 57f. Kammer, Stephan: Visualität und Materialität der Literatur. In: Benthien, Claudia / ​ Weingart, Brigitte (Hg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin: De Gruyter 2014, S. 31–47, hier S. 35. Die Verwendung von Kursivschrift und Interpunktionszeichen kann dabei als die simpelste und zugleich langlebigste Markierung von Schriftlichkeit gelten, weil sie von jedem Drucksetzer und jedem Übersetzer leicht zu übernehmen ist; leichter jedenfalls als Verfahren, die Kammer anführt als Beispiele für die „Thematisierung des buchstäblich Augenfälligen“, wie etwa unterschiedliche „Schriftformen und Tintenfarben, Drucktypen und die Hinterlassenschaften unterschiedlicher Schreibwerkzeuge“ (ebd., S. 34). Siehe dazu außerdem den Band von Giuriato, Davide / ​Kammer, Stephan (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Frankfurt: Stroemfeld 2006. 243 

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In dieser Materialität des Textes liegt eine Autoreflexion der eigenen Medialität – und damit genau das, was Morels Projektionen zu verbergen suchen, indem sie die eigene Bildlichkeit negieren. Der Text hingegen geht nicht vollständig im Prozess der Signifikation auf, wird also nie ganz transparent, sondern reflektiert seine eigene Opazität und seine Gemachtheit.244 Das Schriftbild macht sich selbst sichtbar. Dieses „Zum-Vorschein-Kommen des Mediums“ lässt sich mit Martin Mann als „mediale Opazität“ beschreiben.245 Seitenlange Aufzählungen verstärken den opaken Charakter des Berichts: A continuación corrijo errores y aclaro todo aquello que no tuvo aclaración explícita: abreviaré así la distancia entre el ideal de exactitud que me guió desde el principio y la narración.   Las mareas: He leído el librito de Belidor (Bernardo Forest de). […]  Apariciones y desapariciones. Primera y siguientes: Las máquinas proyectan las imágenes. […]  Los dos soles y las dos lunas: Como la semana se repite a lo largo del año, se ven estos soles y lunas no coincidentes (y también los moradores con frío en días de calor; bañandose en aguas sucias; bailando entre los matorrales o en el temporal). […]  Árboles y otros vegetales: Los que grabó la máquina están secos; […]  La llave de luz, los pasadores atrancados. Cortinas inamovibles: Adáptese a los pasadores y llaves de luz lo que dije, hace mucho, de las puertas: Si estaban cerradas cuando se tomó la escena, tienen que estarlo cuando se proyecta. Por la misma razón las cortinas son inamovibles.  La persona que apaga la luz: La persona que apaga la luz del cuarto opuesto al de Faustine, es Morel. […]  Charlie. Fantasmas imperfectos: Primero no los encontraba. […]  Los españoles que vi en el antecomedor: Son empleados de Morel.  Cámara subterránea. Biombo de espejos: Le oí decir a Morel que sirven para experimentos de óptica y de sonido. (IM, 121–124)246

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Martin Mann betont in seiner Studie zur Autoreflexität des Mediums, dass Medien anders als Zeichen nicht im Prozess der Signifikation aufgehen, sondern wie etwa Gemälde einen Doppelcharakter besitzen, der aus opaken und transparenten Anteilen besteht. Mann stellt das aristotelische Transparenzparadigma der Medientheorie in Frage, wonach „Medien dann am besten funktionieren, wenn sie unsichtbar werden“, siehe Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 25f. Man muss allerdings an dieser Stelle relativierend einräumen, dass Bioy insgesamt doch einen phantastischen Roman geschrieben hat und kein avantgardistisches Projekt betreibt. Gerade deshalb erscheinen aber die subtilen Reflexionen der eigenen Medialität umso interessanter. 245  Mann: Das Erscheinen des Mediums, S. 111. 246  Dt.: „Im folgenden korrigiere ich Irrtümer; auch gebe ich für all das eine Erklärung, was bislang keine Erklärung fand. So wird das Erzählte dem von mir von Anfang an verfolgten Ideal der Genauigkeit wesentlich näherkommen. Die Fluten: Ich habe das kleine Buch von Belidor (Bernardo Forest de) gelesen. […] Erscheinungen und Verschwinden

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Das vermeintliche „ideal de exactitud“ (IM, 121) wird sofort relativiert, indem der Erzähler „errores“ einräumt. Es handelt sich offensichtlich nicht um einen allwissenden Erzähler, sondern um einen, der Fehler macht und also nicht zu derselben Präzision fähig ist wie der Apparat, den Morel erfunden hat. Zusätzlich scheint die Zuverlässigkeit des Erzählers in La invención de Morel dadurch unterminiert, dass ihn ein fiktiver Herausgeber immer wieder kritisiert und korrigiert.247 Im Anschluss an die oben zitierte Liste an Korrekturen durch den Erzähler folgt eine Fußnote zu folgendem Satz (IM, 124): Ya no han de quedar puntos inexplicables, en mi diario1. Queda el más increíble: la coincidencia, en un mismo espacio, de un objeto a su imagen total. Este hecho sugiere la posibilidad de que el mundo está constituido, exclusivamente, por sensaciones. (N. del E.)248

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In dem Moment, in dem der Erzähler behauptet, alles aufgeklärt zu haben, weist der Herausgeber auf einen logischen Fehler hin (und verwendet dabei der Erscheinungen. Diese und folgende Beobachtungen. Die Maschinen projizieren die Bilder. […] Die zwei Sonnen und zwei Monde. Da sich die Woche das Jahr über wiederholt, sieht man diese Sonnen und diese Monde doppelt, das heißt nicht zusammenfallend (wie ja auch die Gäste an heißen Tagen frieren, in schmutzigem Wasser baden, im Gestrüpp tanzen oder im Gewittersturm). […] Bäume und andere Gewächse: Die von der Maschine aufgezeichneten sind verdorrt; […] Die Lichtschalter, die versperrten Klinken. Unbewegliche Vorhänge. Für die Klinken und die Lichtschalter gilt, was ich weiter oben von den Türen gesagt habe. Waren sie geschlossen, als die Szene aufgenommen wurde, so müssen sie es auch sein, wenn sie projiziert wird. Aus demselben Grund sind die Vorhänge unverrückbar. Die Person, die das Licht ausdreht: Die Person, die in dem Zimmer gegenüber der Tür Faustines das Licht ausdreht, ist Morel. […] Charlie. Unvollkommene Gespenster. Zuerst konnte ich sie nicht finden. […] Die Spanier, die ich in der Anrichte sah: Es sind Angestellte Morels. Unterirdische Kammer. Spiegelschirm. Ich hörte Morel sagen, sie dienten optischen und akustischen Experimenten.“ (S. 159f., die Interpunktion und alles Weitere wurde aus der dt. Übersetzung übernommen, aus Platzgründen jedoch nicht die Absätze, die wie im oben zitierten spanischen Original liegen) 247  Identität und Status dieses Herausgebers bleiben bis zum Ende des Romans ungeklärt. Auf seine Funktion als Zeuge für den Tod des Verfassers wird später noch kurz eingegangen. Einen sogenannten Herausgeber lässt auch E.T.A. Hoffmann in Die Elixiere des Teufels auftreten. Dieser prototypische Schauerroman hat mit La invención de Morel außerdem die Thematik optischer Halluzinationen gemein, vgl. Hoffmann, E.T.A.: Die Elixiere des Teufels. In: Ders.: Werke. Band I. Frankfurt: Insel 1967, S. 279–561, hier S. 281f. 248  Dt.: „Somit dürften sich in meinem Tagebuch keine Punkte mehr finden, die einer Erklärung bedürfen.*“ – Hierauf folgt die Fußnote: „* Der unwahrscheinlichste Punkt bleibt unaufgeklärt: daß in ein und demselben Raum ein Gegenstand und sein totales Abbild koinzidieren. Dieser Umstand läßt darauf schließen, daß die Welt lediglich in Sinnesempfindungen besteht.“ (S. 161)

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selbst zum ersten Mal im Text den Begriff des totalen Abbildes). Allerdings bleibt die Funktion dieser Anmerkung ebenso wie die anderer Herausgeberkommentare ambivalent, schließlich liefert diese Fußnote indirekt auch eine Beglaubigung dessen, was zuvor gesagt wurde: Wenn nur dieses eine Detail der Aufklärung bedarf, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass der Rest des Berichts offenbar korrekt sein muss? So zeigt der überaus kritische Herausgeber, dass er den Erzähler nicht mit Ungenauigkeiten davonkommen lässt, was im Umkehrschluss die Annahme stützt, dass der Rest des Textes ebenfalls von ihm geprüft wurde und dieser Überprüfung standgehalten hat. Nicht einmal zweifelhafte Stellen will der Herausgeber unkommentiert lassen (vgl. IM, 121). Er liefert mit seiner oben zitierten Vermutung, die Welt sei ausschließlich aus empirischen Sinneseindrücken zusammengesetzt, sogar eine mögliche Erklärung für die Überzeugungskraft von Morels Maschine – und entlastet damit den Erzähler, den er zunächst zu kritisieren schien.249 Ähnliches geschieht in anderen Fußnoten, in denen der editor eine Erklärung für die erhöhte Temperatur auf der Insel zu geben versucht (vgl. IM, 123), ein früheres Werk Morels zitiert (vgl. IM, 87) oder die korrekte Bezeichnung der Insel bezweifelt, weil es auf den Ellice-Inseln keine Bäume gebe (vgl. IM, 19).250 All diese Herausgeberkommentare rühren nicht am Kern der Fabel, der editor stellt nie in Frage, dass es Morels Apparat und die Projektionen tatsächlich gibt. Da er gleichzeitig als scheinbar verlässliche, kritische Instanz auftritt,

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Außerdem stellt dieser Herausgeberkommentar einen Bezug zum radikalen Empirismus her, wie ihn etwa George Berkeley vertritt, der sich, ganz ähnlich wie der Erzähler in La invención de Morel, mit dem Problem der Synthese visueller und haptischer Empfindungen auseinandersetzt. Siehe dazu Breidert, Wolfgang: George Berkeley. Wahrnehmung und Wirklichkeit. In: Speck, Josef (Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit, Band I. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 211–239, hier v. a. S. 215f. 250  Hinter dieser Ortsbezeichnung könnte sich übrigens eine Referenz auf Jules Vernes Roman L’Île à hélice verbergen, in dem sich vier Musiker auf einer künstlichen Insel wiederfinden, die von Maschinen angetrieben durchs Meer steuert. Bioy dürfte nicht nur diesen Roman gekannt haben, sondern auch andere Werke Vernes wie etwa Le Château des Carpathes. Dass letzterer unter anderem aufgrund einer ähnlich angelegten Reflexion über das Medium Film gut mit La invención de Morel zusammengeht, zeigt der bereits erwähnte Spielfilm The Piano Tuner of Earthquakes der Brothers Quay (2005), der die beiden Romane von Verne und Bioy über eine autoreflexive Ebene miteinander verknüpft. Den Hinweis darauf verdanke ich dem Aufsatz von Hausmann, Matthias: A French Version of an Argentinian Fantastic Narrative. Jean Pierre Mourey’s L’invention de Morel. In: European Comic Art, 6 (2013), S. 66–87, hier S. 70.

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stützt er indirekt den Bericht des Erzählers.251 So entsteht, was Wirth eine „Doppelrahmung“ oder „ein Modell durchschaubarer Täuschungen“ nennt, das „den Betrachter und den Leser konstitutiv in den Prozeß der Fiktionserzeugung“ einbezieht.252 Diese Doppelrahmung wird in La invención de Morel dafür genutzt, um die Materialität des Textes auszustellen, während im Gegensatz dazu Morels Reproduktion keinen Rahmen mehr besitzt. Zu weiteren Markern der Materialität des Textes gehören Zitate, die als „Fremdkörper“253 in den Text integriert werden und gleichzeitig beweisen, dass im Text – anders als im Film – Zurückblättern, Reflexion und Selbstzitat möglich sind. Passagen wie die folgende bilden somit eine nach außen gekehrte Naht im Gewebe des Textes: En las primeras páginas he dicho: «Siento con desagrado que este papel se transforma en testamento. […] Pondré este informe bajo la divisa de Leonardo – Ostinato rigore1 – e intentaré seguirla.» Mi vocación es el llanto y el suicidio; sin embargo no olvido ese rigor pactado. (IM, 120f.)254

Der Erzähler zitiert hier nicht nur Leonardo, sondern auch sich selbst. Eine weitere Schicht, die zur Opazität des Schriftlichen beiträgt, kommt hinzu, indem der Herausgeber an eben dieser Stelle in einer Fußnote anmerkt: No aparece en el encabezamiento del manuscrito. ¿Hay que atribuir esta omisión a un olvido? No sabemos; como en todo lugar dudoso elegimos el riesgo de críticas, la fidelidad al original. (N. del E.) (IM, 121)255 1

251  Diese Interpretation läuft der in der Forschung üblichen entgegen, die den gängigen Konventionen entsprechend davon ausgeht, dass die Herausgeber-Fußnoten den Erzähler von La invención de Morel schwächen und destabilisieren, siehe dazu exemplarisch und den aktuellsten Forschungsstand abbildend die bereits zitierte Habilitationsschrift von Matthias Hausmann aus dem Jahr 2017. Die vorliegende Studie argumentiert auf Basis der dargelegten Lektüre stattdessen, dass der Erzählerfigur eine Ambivalenz eingetragen ist, die sich nicht in ihrer vorgeblichen Unzuverlässigkeit erschöpft. 252  Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 55. 253  Vgl. ebd., S. 23. 254  Dt.: „Auf den ersten Seiten schrieb ich: ‚Ich habe das unbehagliche Gefühl, daß diese Niederschrift auf ein Testament hinausläuft. […] Ich werde diesem Bericht den Wahlspruch Leonardos – Ostinato rigore – voranstellen und bestrebt sein, ihm nachzuleben.‘ Das, wozu ich berufen bin, ist die Klage und der Selbstmord. Trotzdem werde ich diesen Pakt mit der Akribie nicht außer acht lassen.“ (S. 156) 255  Fatalerweise fehlt diese Fußnote in der zitierten deutschen Übersetzung vollständig. In der jüngeren Neuübersetzung von Gisbert Haefs ist sie enthalten: „Es steht aber nicht über dem Manuskript. Soll man diese Auslassung der Vergeßlichkeit zuschreiben? Wir wissen es nicht; wie an jeder zweifelhaften Stelle wählen wir das Risiko, kritisiert zu

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Der editor korrigiert das Selbstzitat des Erzählers und zieht damit seine Sorgfalt bei der Wiedergabe von bereits Geschriebenem in Zweifel. Das Kopieren gelingt dem Schreibenden offenbar weniger gut als Morels Apparat. Die Maschinen reproduzieren absolut mimetisch, der Erzähler reproduziert nicht einmal Selbstverfasstes fehlerfrei. Diese Unzuverlässigkeit dieses Erzählers, seine mögliche Vergesslichkeit steht in auffälligem Gegensatz zur absoluten Zuverlässigkeit der Wiedergabe durch Morels Maschinen, schließlich scheint, wie Fabienne Liptay und Yvonne Wolf mit Blick auf Kracauer feststellen, die Kamera „stets neutral“,256 ein bloßes „Registrier-Instrument“.257 Dieser Kontrast zur ambivalenten Erzählerfigur steigert die autoreflexive Wirkung des Textes nur noch: Die Unzuverlässigkeit des auktorialen oder editorialen Aussagesubjekts entbindet den Leser davon, sich dessen dispositiver Steuerungsmacht zu überlassen. Statt dessen übernimmt nun der Leser – scheinbar autonom – die dispositive Interpretationsmacht. Das durch die Unzuverlässigkeit geweckte interpretative Mißtrauen lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers von den Aussagen des Textes auf die Form der Botschaft.258

Allerdings erschöpft sich Bioys Roman anders als viele andere autoreflexive Texte eben nicht in „Selbstbeobachtung“,259 sondern zielt darüber hinaus auch auf die Fremdbeobachtung der medialen Möglichkeiten von Film und Kino, indem er den perfekten Realismus des Totalen Kinos gegen die eigenen Hinfälligkeiten und Schwächen antreten lässt wie den geschwächten Körper des Erzählers gegen die Projektionen, die „[b]ailan entre los pajonales de la colina, ricos en víboras“ (IM, 18). Wie Faustine für das Totale Kino, so steht der Körper des Erzählers für die Literatur. Sein vernarbter, schmutziger, aber lebendiger Körper wird zur Metapher des Textes. Seine Schmerzen enden erst, als er in den Film eintritt: „En cuanto al dolor, tengo una impresión absurda: me parece que aumenta, pero que lo siento menos.“ (IM, 128) Wenn aber der Leib des Erzählers in all werden, die Treue gegenüber dem Original. (Anm. d. Hrsg.)“ Siehe: Morels Erfindung. Frankfurt 2003, S. 122. 256  Liptay / ​Wolf: Film und Literatur im Dialog, S. 13. Die Autorinnen weisen allerdings zurecht darauf hin, dass auch Film über Möglichkeiten der subjektiven und damit potenziell unzuverlässigen Darstellung verfügt. 257  Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt: Suhrkamp 1993, S. 216. 258  Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 184. 259  Ebd., S. 423.

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seiner Hinfälligkeit und (Schmerz‑)Empfindlichkeit für den Textkörper und damit für das Medium der Literatur steht, während die (un)toten Projektionen für das Kino und sein Streben nach realistischer Reproduktion stehen, dann ergibt sich aus dieser Analogie eine komplexe Reflexion der Überlegenheit des vermeintlich hinfälligen, aber lebendigen Mediums gegenüber dem vermeintlich perfekten, aber toten: „Ahora, invadido por suciedad y pelos que no puedo extirpar, un poco viejo, crío la esperanza de la cercanía benigna de esta mujer indudablemente hermosa.“ (IM, 29)260 Im Gegensatz zu Faustines unberührbarer Schönheit steht die empirisch erfahrbare Verletzlichkeit seines eigenen Leibes. Dass er am Ende stirbt und der Text damit endet, ist der ultimative Beweis, dass er ‚real‘ und kein Bild ist. Die Schrift „als Textkörper einer literarischen Realpräsenz“ wird Zeugin „für das Selbstopfer des Autors“, das beweist, dass die Literatur das überlegene, weil lebendige Medium ist.261 Faustine dagegen kann nicht mehr sterben; die totalkinematographischen Projektionen finden kein Ende, sie sind Gespenster. 3.2.3 Fort-Da-Spiel: gespenstische Dialektik des Kinos

Wie die anderen Projektionen ist Faustine gefangen in einem Wiederholungszwang: „El atroz eterno retorno“ (IM, 53), in dessen rollender Assonanz bereits anklingt, dass er unentrinnbar ist.262 Gleichzeitig ist eine Wiederkehr („retorno“) nur möglich, wenn die Bilder zwischendurch auch verschwinden. Sie sind nicht ständig da, sondern kehren wieder wie der Mond, die Sonne und die Gezeiten: „[U]na semana de estas imágenes […] vuelve a repetirse“ (IM, 107) – aber mit unvorhersehbaren Unterbrechungen. So ist sich der Erzähler zunächst sicher, dass „la mujer vuelve diariamente“ (IM, 39). Dann allerdings bleibt sie überraschend aus: Ayer no fui a las rocas. Muchas veces me declaré que no iría hoy. A la mitad de la tarde supe que iría. Faustine no fue y quién sabe cuándo volverá.

260  Dt.: „Überkrustet von Schmutz und Haaren, die ich nicht entfernen kann, ein wenig altersmüde, schöpfte ich heute die Hoffnung aus der wohltätigen Nähe dieser Frau, die zweifellos schön ist.“ (S. 27) 261  Peters: Der gespenstische Souverän, S. 363. 262  Freud betrachtet den Wiederholungszwang als unheimlich (vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 261), bzw. dämonisch (vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 37).

ADOLFO BIOY CASARES | LA INVENCIÓN DE MOREL […] En las rocas estaba enloquecido: «Es mi culpa», me decía (que Faustine no apareciera), «por haber estado tan resuelto a faltar». (IM, 50)263

Die Abwesenheit Faustines droht den Flüchtling um den Verstand zu bringen; er gibt sich selbst die Schuld daran, weil er einen Tag lang nicht auf seinem Beobachterposten war. Offensichtlich kann er es kaum erwarten, Faustine wiederzusehen. Er geht davon aus, dass seine Anwesenheit notwendige Voraussetzung für ihr Erscheinen ist – ein Zusammenhang, der bereits bei den Feelies zum Tragen kam und auf die Disziplinierung des Körpers im Kino verweist. Dass Faustines Erscheinen und Ausbleiben allerdings nicht von einer spontanen Laune, sondern von den Apparaten im Keller des museo abhängt, wird ihm erst später klar. Der Apparat setzt die Projektionen unter einen Wiederholungszwang, der sie in der Perspektive des Rezipienten dem visuellen Spiel annähert, das Freud in Jenseits des Lustprinzips als Fort-Da-Spiel seines Neffen Ernst beschriebt.264 In der Beschäftigung des Kindes, das eine Zwirnspule auswirft und sie wie eine Angel wieder einholt, sieht Freud Lebens- und Todestrieb miteinander im Spiel. Dabei betont er die Bedeutung, die insbesondere der visuellen Wahrnehmung hier zukommt: „Die meiste Unlust, die wir verspüren, ist ja Wahrnehmungsunlust“.265 Dies trifft auch auf den Erzähler in La invención de Morel zu, den bald „la infinidad de mosquitos“ (IM, 67) nicht mehr stört, solange er nur Faustine betrachten kann. Für Freud ergibt das „rätselhafte und andauernd wiederholte Tun“266 des Kindes im Spiel mit der Spule erst Sinn, als er es mit der vorübergehenden Abwesenheit der Mutter in Verbindung bringt: Demnach entschädigte sich das Kind für das Fortgehen der Mutter, „indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen mit den ihm erreichbaren Gegenständen selbst in Szene setzte.“267 Der von einem „Racheimpul[s] gegen die Mutter“268 ausgelöste „Wiederholungszwang“ setzt sich „über das Lustprinzip“ hinaus: Er schließt die

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Dt.: „Gestern war ich nicht auf den Klippen. Immer wieder habe ich mir vorgesagt, auch heute würde ich nicht hingehen. Als der halbe Nachmittag um war, wußte ich, daß ich gehen würde. […] Auf den Klippen jedoch war ich außer mir. ‚Es ist meine Schuld‘, sagte ich zu mir (daß Faustine nicht erscheint), ‚weil ich so fest entschlossen war, wegzubleiben.‘“ (S. 56) 264  Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 12ff. 265  Ebd., S. 7. 266  Ebd., S. 11. 267  Ebd., S. 13. 268  Ebd., S. 14.

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Wiederholung des unlustvollen Ereignisses ein.269 Wie die Zwirnspule scheinen auch die Projektionen auf Morels Insel abwechselnd anwesend und abwesend. Je nachdem, wie die Flut steht, tauchen sie auf, verschwinden und erscheinen erneut. Auch sie entschädigen für die Abwesenheit der realen Personen. Anders als in Freuds Beschreibung des Kinderspiels ist der Erzähler allerdings nicht in der Lage, Verschwinden und Wiederkehr der Bilder zu steuern. Selbst dann, als er die Funktionsweise der Apparate durchschaut, ist er ihnen und den Gezeiten, die sie antreiben, ausgeliefert.270 Wie die Zwirnspule für das Kind ein Ersatzobjekt für die Mutter darstellt, sind auch die Projektionen Ersatz für die realen Personen. Sie haben die Originale tatsächlich ersetzt, indem sie deren Tod einforderten. Damit sind die Projektionen letztlich Gespenster und ähneln nicht nur der Zwirnspule, sondern auch dem Geist des Vaters in Hamlet: „Enter the Ghost, Exit the Ghost, Re-enter the Ghost.“271 Auch Faustines Spuk besteht im Auf- und Abtreten, wobei es für den Erzähler undurchsichtig ist, wann sie erscheint und wann sie verschwindet. Nicht er folgt also einem Racheimpuls, sondern der Apparat selbst nimmt Rache – am Rezipienten und am Text, indem das diskontinuierliche Auftreten der Projektionen den linearen Verlauf des Tagebuchs unterbricht, in Schleifen führt und schließlich ganz abreißen lässt. In der zwischen Abwesenheit und Anwesenheit oszillierenden Präsenz der Projektionen gründet die Macht des totalkinematographischen Dispositivs bei Bioy. Hie­ rin liegt ein Moment des Widerstands gegen das Medium der Literatur, welches das Kino in diesem Fall erst hervorbringt. Das Fort-Da-Spiel der Projektionen begründet eine Unruhe, die sich auch auf den Text auswirkt. Für Didi-Huberman liegt hierin der Charakter eines jeden Bildes: „[…] les images de l’art […] savent présenter la dialectique visuelle de ce jeu [du Fort-Da, KJ] où nous avons su (mais nous avons oublié) inquiéter notre vision et inventer des lieux pour cette inquiétude“.272 Faustine ist ein

269 

Ebd., S. 37. Er ist dem Medium ebenso wie dem Meer ausgeliefert. Das Rauschen des Meeres steht in La invención de Morel in Analogie mit dem Rauschen des Mediums, von dem Kittler schreibt: „Medien im Unterschied zu Künsten spielen ja immer auf dem Hintergrund eines Rauschens“. Siehe Kittler: Optische Medien, S. 223. 271  Derrida, Jacques: Spectres de Marx, S. 32. Wobei die Gespenster laut Derrida überhaupt erst aus der Medialität der Sprache entstehen: „Ensuite, on ne peut parler de générations de crânes ou d’esprits […] qu’à la condition de la langue […].“ (Ebd., S. 30, Herv. i. O.) 272  Didi-Huberman: Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, S. 69 (Herv. i. O.). 270 

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solcher Ort der Beunruhigung. Didi-Huberman beschreibt das Oszillieren des Bildes als pulsierende Bewegung von Diastole und Systole.273 Diese Bewegung entspricht jener Sogwirkung des Meeres, die nicht nur Morels Maschinen antreibt, sondern über das Inkarnat auch den Betrachter in La invención de Morel in Bewegung versetzt. Das Beunruhigende der Bildfrau Faustine ist ihr Oszillieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Leben und Tod, zwischen Leib und Gespenst. Schließlich arbeitet der Wiederholungszwang als Bewegung in Richtung eines früheren Zustands immer auch auf eine Rückkehr ins Leblose hin.274 Faustine befindet sich auf einem nicht enden wol­lenden „Umwege zum Tode“,275 ihre scheinbare Unsterblichkeit ist ein ewiges Sterben, in das der Kino-Apparat sie geschickt hat. Indem der Text dies offenlegt, offenbart er den Kern des Mythos vom Totalen Kino: L’invention de Morel nous propose le mythe cinématographique final : l’absorption de l’homme dans l’univers dédoublé pour tel qu’en lui-même — enfin — l’éternité le sauve. Par là, elle nous révèle que si le mythe latent du cinématographe est l’immortalité, le cinématographe total est lui-même une variante de l’immortalité imaginaire. N’est-ce pas en cette commune source, l’image, le reflet, l’ombre, qu’est le refuge premier et ultime contre la mort?276

Als das Andere des Textes gehen die Abbilder im Roman um wie Gespenster und unterlaufen mit ihrer abwesenden Präsenz die Strategie des Erzählers, der eigentlich keine Halluzinationen, sondern Tatsachen wiedergeben will: „[A]quí no hay alucinaciones ni imágenes: hay hombres verdaderos, por lo menos tan verdaderos como yo“ (IM, 17). Die Tradition des paragone sowie das Narrativ des Totalen Kinos ironisch zitierend entwirft La invención de Morel das Kino-Dispositiv als ein Gegenüber des Textes, das in der Gegenüberstellung seine Faszination, aber auch seinen Schrecken entfaltet.277 So kippt der Ikonoklasmus des Erzählers in fatale Idolatrie: Der liebende „ex muerto“ (IM, 44), der sich durch seine Liebe von den 273 

Vgl. ebd., S. 51. Er vergleicht an dieser Stelle das „mouvement de diastole et de systole“ mit „le flux et le reflux de la mer qui bat“ (ebd.). 274  Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 40. 275  Ebd., S. 41. 276  Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 40. 277  Vgl. hierzu Lachmanns Konzept der Phantastik, in dem sie das Phantastische als ausgegrenzte „Unkultur“ begreift und ihm eine stark bildliche Dimension zuschreibt. Die Faszination der Literatur für das (Bewegt‑)Bild speist sich aus eben dieser Quelle. Vgl. Lachmann: Erzählte Phantastik, hier z. B. S. 9.

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Toten erweckt glaubt, wird selbst zum Wiedergänger. Sein „descubrimiento literario o cursi de que la muerte era imposible al lado de esa mujer“ (IM, 44) wird sich bewahrheiten. Was zunächst als kitschiger Topos der Liebesdichtung daherkommt, entpuppt sich als unheimliche Vorahnung: An Faustines Seite ist der Tod tatsächlich unmöglich. Wer an ihrer Seite stehen will – ihr also nicht als Betrachter gegenüber –, muss selbst zum Bild und damit zum Untoten werden. Der Erzähler lässt sich anstecken von der gespenstischen Präsenz der Projektionen.278 Damit greift die Wirksamkeit jener Dialektik des Bildes auf ihn über, die Didi-Huberman beschreibt: „[I]l n’y a pas de sens à se poser le question de savoir si une image est morte ou bien vivante : l’une ou l’autre réponse restera toujours insuffisante, pour peu que l’image soit efficace“.279 Worin diese gespenstische Wirkung des Filmbildes liegt, scheint bereits in der Madeleine-Episode auf, die neben Proust noch auf weitere Intertexte verweist.280 Der Auftritt einer Madeleine spielt nämlich nicht nur auf die Recherche an, sondern auch auf die folgenschwere Entdeckung des ersten filmischen Trickeffets durch Méliès. Morin fasst die Anekdote zusammen: un an à peine après la première représentation du cinématographe, Méliès […] filme la place de l’Opéra. La pellicule se bloque, puis se remet en

278  Wie erwähnt schlagen Schaub und Suthor den Topos der Ansteckung als ein Gegenmodell zum Begriff der Rezeption vor: Während der Rezipient „Auslassungen, Unterlassungen und Umdeutungen vornehmen“ könne und „gegenüber seinem Material immer die Oberhand“ behalte, beschreibe das Konzept der Ansteckung „ein weniger intellektgeleitetes“, unvermittelteres Affiziertwerden, vgl. Schaub / ​Suthor: Einleitung. In: Schaub / ​Suthor / ​Fischer-Lichte (Hg.): Ansteckung, S. 9. Der Topos der Ansteckung lässt sich ähnlich wie schon bei Verne und Pirandello auch für die Analyse von La invención de Morel produktiv machen, da der Erzähler gerade durch seine prekäre Körperlichkeit eine wehrlose Angriffsfläche für die affizierende Kraft der Projektionen darstellt und er im Laufe des Romans von einem reflektierten Bildkritiker, von der Idolatrie infiziert, selbst zur gespenstischen Projektion wird. 279  Didi-Huberman: Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, S. 80. 280  Die Filmgeschichte liefert einen weiteren Intertext, der La invención de Morel über die Madeleine mit Poes bereits erwähnter Kurzgeschichte The Oval Portrait verknüpft, in der ebenfalls der „Realismus als buchstäblicher Austausch zwischen Lebens- und Todes­ energien“ ironisiert wird. Gunning arbeitet in einem Aufsatz die filmtheoretischen Implikationen von Poes Erzählung heraus und geht dabei auf Jean Epsteins Verfilmung von Poes The Fall of the House Usher (La Chute de la maison Usher, 1928) ein, die dieser mit Motiven aus The Oval Portrait durchkreuzt, wodurch Madeline Usher zum Modell für ein lebensechtes Portrait wird und zugunsten des realistischen Abbildes stirbt. Obwohl Gunning Bioys Roman nicht zu kennen scheint, stellt er damit einen indirekten Bezug zwischen Epsteins Film, Poes Erzählung und La invención de Morel her. Siehe Gunning: Re-Animation, v. a. S. 182–186.

ADOLFO BIOY CASARES | LA INVENCIÓN DE MOREL marche au bout d’une minute. Entre temps, la scène avait changé; l’omnibus Madeleine-Bastille, traîné par des chevaux, avait fait place à un corbillard. […] En projetant la bande, Méliès vit soudain un omnibus transformé en corbillard, des hommes changés en femmes.281

Was Méliès hier entdeckte, ist nichts anderes als der Effekt der Montage: Zwei Szenen, die eigentlich nicht in Kontinuität stehen, folgen direkt aufeinander. So verwandelt sich der Omnibus der Linie Madeleine-Bastille in einen Leichenwagen. Es sei dieser Moment, in dem der Kinematograph sein Phantasma offenbart, betont Morin: „Un an après sa naissance, la cinématographe se situe dans l’axe de cette « petite machine » qui se complaît aux squelettes et fantômes […]. Le fantôme n’est pas une simple efflorescence. Il joue un rôle génétique et structurel.“282 Dass hier schon wieder eine Madeleine, diesmal die Église de la Madeleine, erscheint, ist beinahe selbst schon gespenstisch und zeigt, wie reichhaltig die Intertexte sind, die in Bioys Roman umgehen. Tatsächlich handelt es sich bei dem museo, das Morels künstlerisches Schaffen beherbergt, um ein totalkinematographisches Spukhaus. Beim Hinabsteigen in den Keller des Gebäudes begibt sich der Erzähler in die „cámara“, jenen Bereich, in dem die Bilder produziert werden. Seine erste Assozia­ tion angesichts dieses Raums bezieht er aus seiner eigenen Erfahrung als Filmzuschauer: „Entré en una cámara poliédrica — parecida a unos refugios contra bombardeos, que vi en el cinematógrafo — con las paredes recubiertas por chapas de dos tipos — unas de un material como el corcho, otras de mármol — simétricamente distribuidas.“ (IM, 26)283 Im Inneren dieses totalen Kinematographen, der an das Schloss in Vernes Le Château des Carpathes erinnert, macht der Erzähler dann eine weitere unheimliche Fort-Da-Erfahrung: Cuando recorría el sótano advertí que ninguna pared tenía el tragaluz que yo había visto desde afuera, con vidrios espesos y rejas, medio escondido entre las ramas de un conífero. Como en una discusión con alguien que me sostuviera que ese tragaluz era irreal, visto en un sueño, salí a comprobar si todavía estaba. Lo vi de nuevo. (IM, 24)284

281 

Morin: Le cinéma ou l’homme imaginaire, S. 49. Ebd., S. 46. 283  Dt.: „Ich betrat ein unregelmäßig geformtes Gemach, das so ähnlich aussah wie ein Schutzraum gegen Bombenangriffe – mir nur aus Filmen bekannt –, die Wände ausgeschlagen mit Platten von zweierlei Beschaffenheit: aus einem korkähnlichen Stoff die einen, aus Marmor die anderen – in symmetrischer Aufteilung.“ (S. 22) 284  Dt.: „Während ich das Kellergeschoß durchstreifte, fiel mir auf, daß nirgendwo in der Wand die Luke zu erblicken war, die ich von außen gesehen hatte: aus dickem Glas 282 

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Das kleine vergitterte Fenster aus dickem Glas spukt. Einmal ist es sichtbar, dann wieder nicht. Damit steht das Fenster für die Morel’schen Projektionen, die ebenfalls abwechselnd erscheinen und verschwinden. Um Aufklärung oder zumindest einen bleibenden, verlässlichen Eindruck bemüht, hetzt der Erzähler durch die Gänge des Hauses. Er will überprüfen, ob er halluziniert. Erst als er wieder in den Keller zurückkehrt, gelingt es ihm, sich zu orientieren und schließlich festzustellen, dass sich die Kellerluke hinter einer Wand befinden muss, durch die keine Tür führt. So entzieht sich ihm dieses Fenster ebenso wie Faustine sich ihm entzieht, auf gespenstische Weise. Er kann sie sehen, dann wieder nicht. Sie zeigt sich und verschwindet, ohne dass er darauf Einfluss nehmen oder den Rhythmus dahinter auch nur durchschauen könnte. In dieser Unverfügbarkeit liegt das Eigenleben des Bildes in La invención de Morel, das sich als widerständig erweist, und sich der Narration entzieht. Der tragaluz erscheint und verschwindet nach dem Prinzip, das der Filmwissenschaftler Tom Gunning in seinem Aufsatz Now You See It, Now You Don’t als das Prinzip des „cinema of attractions“285 beschreibt: The act of display on which the cinema of attractions is founded presents itself as a temporal irruption rather than a temporal development. While every attraction would have a temporal unfolding of its own and some (a complex acrobatic act, for instance, or an action with a clear trajectory, such as an onrushing train) might cause viewers to develop expectations while watching them, these temporal developments would be secondary to the sudden appearance and then disappearance of the view itself.286

Das Gleiche gilt für Faustine und die anderen Projektionen: Dadurch, dass sie je nach Stand der Gezeiten, immer wieder unvermittelt verschwinden und erscheinen, sind auch sie Beispiele für jenes Kino der Attraktionen, das Gunning beschreibt und das den Nukleus des Narrativs vom Totalen Kino bildet. Die Attraktionen sind reine Schauwerte, sie spielen mit dem Zuschauer ein

und mit Eisenstäben vergittert, lag sie fast verdeckt hinter den Ästen eines Nadelbaums. Als sei ich uneins mit einem, der behauptete, dieses Kellerfenster sei nicht wirklich, sei die Vorspiegelung eines Traums, begab ich mich ins Freie, um festzustellen, ob es noch da sei. Ich sah es wie sonst auch.“ (S. 19f.) 285  Wobei er mit diesem Begriff vor allem das frühe Kino beschreibt, das eben noch kein cinema of narrations gewesen sei. Vgl. Gunning: The Cinema of Attractions, S. 63–70. 286  Gunning, Tom: Now You See It, Now You Don’t. The temporality of the Cinema Attractions. In: Grieveson, Lee / ​Kramer, Peter (Hg.): The Silent Cinema Reader. New York: Routledge 2003, S. 41–50, hier S. 46.

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„game of presence/absence“.287 La invención de Morel legt offen, was in den anderen Romanen höchstens implizit mitschwang: Dass literarische Präfigurationen des Totalen Kinos das Kino vorrangig als Attraktion statt als Narration imaginieren – wohl auch, um das eigene Medium umso stärker vom Konkurrenzmedium abzugrenzen.288 Insofern ist Gunnings Hypothese, wonach das „cinema of attractions“ ab etwa 1908 zunehmend verschwunden sei, zu widersprechen. Im Narrativ des Totalen Kinos lebt es fort. Morel hat seine Apparatur zwar nicht in einer unendlichen Mise en abyme durch die autoreferenzielle Schleife der Selbstaufnahme geschützt, wohl aber durch eine Wand, die auf magische Weise unverwundbar erscheint. Auch der spukende tragaluz befindet sich hinter dieser Wand im Keller des museo, die der Erzähler als „muy lisa y muy sólida“ (IM, 24) beschreibt und mit einer Eisenstange attackiert: Con el hierro que servía para atrancar una puerta, y una creciente languidez, abrí un agujero: se vio claridad celeste. Trabajé mucho y esa misma tarde estuve adentro. Mi primera sensación no fue el disgusto de no encontrar víveres, no el alivio de reconocer una bomba de sacar agua y una usina de luz, sino la admiración placentera y larga: las paredes, el techo, el piso, eran de porcelana celeste y hasta el mismo aire (en ese cuarto sin más comunicación con el día que un tragaluz alto y escondido entre las ramas de un árbol) tenía la diafanidad celeste y profunda que hay en la espuma de las cataratas. (IM, 25)289

Durch sein Guckloch späht der Erzähler in himmelblaue Weite. Dem Voyeur ist der Zugang verwehrt, nur sein Blick hat einen Weg durch die Wand gefun-

287 

Ebd., S. 49. Darin ist auch eine Strategie erkennbar, das Narrationsmonopol in Händen der Literatur zu behalten; wirklich bedrohlich würde das Totale Kino aus Sicht der Literatur schließlich erst, wenn es auch erzählen könnte. Gegen dieses Szenario geht das Narrativ des Totalen Kinos vor, indem es das Kino auf eine Attraktion reduziert. 289  Dt.: „Mit der eisernen Vorlegestande zum Verriegeln einer Tür brach ich – während mich wachsende Mattigkeit überfiel – ein Loch in die Wand. Himmelblaue Helligkeit drang mir entgegen. Ich schuftete angestrengt und war noch am gleichen Abend in dem anstoßenden Raum. Meine erste Empfindung war nicht verärgerte Enttäuschung, keine Lebensmittel vorzufinden, auch nicht Erleichterung beim Anblick einer Wasserpumpe und eines Lichtstromgenerators, sondern wohlgefälliges und großäugiges Erstaunen. Die Wände, die Decke, der Boden bestanden aus lichtblauem Porzellan, ja selbst die Luft (denn die Tageshelligkeit drang nur durch ein hohes, hinter Baumzweigen verstecktes Oberlicht in den Raum) war von jener ätherischen und tiefen Durchsichtigkeit, wie sie der Fall von Kaskaden hervorbringt.“ (S. 20f.) 288 

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den. Dahinter erwartet ihn ätherische Schönheit: Luft wie die Gischt an einem Wasserfall, zwischen Dunst und Klarheit. In diesem Raum, in den kaum Tageslicht dringt, scheint das Porzellan selbst das Licht auszustrahlen. Das feine, zerbrechliche Material besitzt einen himmlischen Glanz. In diesem Raum entstehen die Bilder, er selbst aber ist bilderlos. Seine Wände sind so glatt und glänzend, dass das Auge an ihnen abgleitet, ähnlich wie an der Oberfläche der Maschinen.290 Im Gegensatz zu Leonardos fleckiger Wand, ist dieses Porzellan makellos und widersteht dem Blick, indem es ihm keine Angriffsfläche bietet. So bleibt nur „admiración placentera y larga“ (IM, 25), ein leeres Starren, das anders als an der Wand mit Wasserflecken keine Bilder hervorzubringen vermag. Hier befindet sich der Erzähler im Inneren des Apparats. Die Bearbeitung dieser glatten, undurchdringlichen Wand mit einer Eisenstange erscheint als Versuch, ihr eine Struktur einzugravieren. Doch der Erzähler scheitert, wie sich bei einer weiteren Episode im Keller des museo herausstellt, als er sich bei einem neuerlichen Besuch im Maschinenraum plötzlich eingeschlossen sieht in himmelblaue Unendlichkeit: Entré por el agujero abierto en la pared y me quedé… Estoy dejándome llevar por la emoción. Debo componer las frases. Cuando entré sentí la misma sorpresa y la misma felicidad que la primera vez. Tuve la impresión de andar por el inmóvil fondo azulado de un río. Me senté a esperar, dando la espalda a la rotura que yo había hecho (me dolía esa interrupción en la celeste continuidad de la porcelana). Así estuve un rato, plácidamente distraído (ahora me parece inconcebible). Después las máquinas verdes empezaron a funcionar. Las comparé con la bomba de sacar agua y con los motores de luz. Las miré, las oí, las palpé con atención, de muy cerca, inútilmente. […] Al mirar la pared tuve la sensación de estar desorientado. Busqué el agujero que yo había hecho. No estaba. (IM, 109f.)291

290  Vgl. Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 297. Auch Hadaly hatte bereits eine solche glänzende Oberfläche, vgl. Kapitel 1.1.3. 291  Dt.: „Ich betrat den Raum durch das Loch, das ich in die Wand gebrochen hatte, und blieb… Nein, die Erregung reißt mich fort. Ich muß die Sätze formen. Als ich eintrat, erlebte ich dieselbe Überraschung, dasselbe beseligende Gefühl wie beim erstenmal. Ich hatte den Eindruck, als ginge ich am unbewegten blauen Grund eines Flusses dahin. Ich setzte mich hin und wartete, mit dem Rücken zu der Bresche (diese Unterbrechung in der himmlischen Gleichmäßigkeit des Porzellans tat mir weh). So verblieb ich eine Zeitlang, friedsam, zerstreut (was mich jetzt unfaßlich dünkt). Dann finden die grünen Motoren an zu arbeiten. Ich verglich sie mit der Wasserpumpe und dem Lichtstromgenerator. Ich betrachtete sie, horchte sie ab, befühlte sie aufmerksam aus nächster Nähe: umsonst. […] Als ich die Wand ansah, war mir, als hätte ich die Richtung verloren. Ich suchte nach dem Loch, das ich gebrochen hatte. Es war nicht mehr da.“ (S. 140f.)

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„No estaba.“ In diesem Befund bricht die Illusion der Realität in sich zusammen: Alles, was die Projektionsapparate vor Augen stellen, ist in Wirklichkeit nicht da und zugleich dauerhafter als das, was real ist. Die reale Wand hat ein Loch, die Projektion dagegen ist opak und undurchdringlich („las palpé con atención, de muy cerca“). Die Orientierungslosigkeit, die der Erzähler in Morels Maschinenraum empfindet, ist vergleichbar mit jener angesichts des Totalen Kinos, wo virtuelle und physische Realität nicht unterscheidbar sind. „Das Gefühl der Desorientierung hängt wie in Freuds Aufsatz Über das Unheimliche mit der Wiederkehr des überwunden Gemeinten zusammen. Es handelt sich […] um ein spezifisch mediales Unheimliches“.292 Versunken in die Betrachtung der Maschinen liefert der Erzähler sich dem Dispositiv aus. Der Ausweg aus der himmelblauen Unendlichkeit wird ihm versperrt – durch ein Bild. Die Motoren, die inzwischen angelaufen sind, projizieren die intakte Wand über die zerstörte und rekonstruieren sie damit nicht nur, sondern machen sie undurchdringlich. Schließlich sind die Projektionen der Wirklichkeit durch ihre Unverwundbarkeit überlegen.293 Seinen verzweifelten Schlägen widersteht die Bild-Wand ohne Kratzer, sie ist „invulnerable“ (IM, 111), kein Stückchen Lack platzt von diesem Blau. Allen Anstrengung zum Trotz bleiben „la celeste continuidad de la porcelana, la pared indemne y toda, el cuarto cerrado“ (IM, 112). Als er dann durch das Fenster blickt, macht der Erzähler erneut eine gespenstische Erfahrung: Er sieht, wie sich der Zweig eines Baumes zu verdoppeln scheint, ein zweiter Ast scheint aus dem ersten hervorzugehen und dann wieder in diesen einzutreten, „como fantasmas“ (IM, 112). Der Erzähler erkennt, dass er von Doubles umgeben und er ihr Gefangener ist: „No podré salir. Estoy en un sitio encantado“ (IM, 112, Herv. i. O.). Nicht nur der himmelblaue Maschinenraum ist verzaubert, er selbst ließ sich verzaubern von Morels 292 

Chihaia: Der Golem-Effekt, S. 298. Dasselbe gilt für Faustines Inkarnat: Die Haut der Bildfrau ist ebenfalls unverwundbar und unterscheidet sich darin von der Haut des Erzählers, die von Schmutz und Verletzungen gezeichnet ist. An diesen Aspekt des künstlichen Inkarnats knüpft der Film La piel que habito (Pedro Almodovar, 2011) an, in dem ein Chirurg eine künstliche Haut (mit der sprechenden Bezeichnung „Gal“) kreiert, die nicht nur unverwundbar ist, sondern auch an die Schönheit des Inkarnats auf Tizians Venus-Gemälden heranreicht. Der Chirurg, der diese Haut auf den Körper eines jungen Mannes verpflanzt, der im Zuge dessen auch sein Geschlecht wechselt, verfällt nach ausdauernder Betrachtung der von ihm geschaffenen Bildfrau. Der Film ruft somit diverse Aspekte der Lektüre von La invención de Morel wieder auf und reflektiert zugleich in seiner Kameraarbeit die eigene filmische Qualität dieser Neuauflage des Pygmalionmythos. Vgl. dazu meine Masterarbeit Medusa-Effekt. Todbringende Frauenbilder in Literatur und Film. 293 

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Erfindung. Er ist umgeben von Gespenstern und lebt in einem Spukhaus, in dem die Bilder ein Eigenleben entfalten.294 Angesichts dessen muss er anerkennen, dass er machtlos ist: „Como es una proyección, ningún poder es capaz de cruzarla o suprimirla (mientras funcionen los motores)“ (IM, 113). Letzten Endes erweist sich sogar der Schöpfer Morel als machtlos, was den Betrieb der Motoren durch die Gezeiten angeht. Obwohl er diese ausführlich studiert hat und davon ausging, dass die Projektoren durch das Kraftwerk ohne Unterbrechung laufen könnten, irrt er sich (vgl. IM, 113). Die Maschinen stoppen in unregelmäßigen Abständen. Allerdings wird, was zunächst als Defizit der Projektionen erscheint, dass sie nämlich dem ursprünglichen Plan ihres Schöpfers nicht gehorchen, sich als ihr gespenstisches Faszinosum entpuppen. Sich selbst als Gespenst zu erleben, bildet einen unheimlichen Kippmoment in den Schilderungen des Erzählers. Schon bevor am Ende des Berichts klar wird, „dass der Verfasser vom Beginn der Lektüre an als Toter zu uns spricht“,295 gibt es Hinweise darauf, dass die Projektionen nicht die einzigen Gespenster auf der Insel sind, sondern dass umgekehrt auch ihrem Betrachter etwas Gespenstisches anhaftet. Da Faustine auf sein Werben, seine unbeholfenen Kontaktversuche nicht reagiert, kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass er womöglich selbst ein Geist ist: „Por momentos pienso que la insalubridad extraordinaria de la parte sur de esta isla ha de haberme vuelto invisible.“ (IM, 49f.)296 Für die Projektionen ist der Zuschauer tatsächlich unsichtbar: „[F]ue como si los oídos que tenía no sirvieran para oír, como si los ojos no sirvieran para ver“ (IM, 38).297 Damit gehorcht Morels Totalkino dem Konzept ästhetischer Illusion, das Diderot entwirft:

294  Dieses spukhafte Eigenleben der Dinge erfährt der Erzähler auch anhand von Büchern, die plötzlich doppelt auftauchen, von Fenstern und Türen, die sich nicht öffnen lassen, und Lichtern, die ohne sein Zutun an- und ausgehen. 295  Peters: Der gespenstische Souverän, S. 306. 296  Dt.: „Manchmal streift mich der Gedanke, ob ich nicht durch die außerordentlich ungesunden Ausdünstungen im Südteil der Insel unsichtbar geworden bin.“ (S. 56) 297  Milner, der auf die Bezüge zwischen Bioys Roman und Vernes Le Château des Carpathes hinweist, liegt deshalb falsch mit seiner Interpretation, wenn er die Situation des Flüchtlings als „une situation, non seulement de spectateur, mais d’interlocuteur“ bezeichnet, siehe Milner: La Fantasmagorie, S. 234. Im Gegenteil: Es scheitern ja sämtliche Kommunikationsversuche zwischen Betrachter und Bild. Entsprechend ist es nicht richtig, dass Morels Maschinen „supprimant ainsi la distinction entre regardant et regardé“, siehe ebd., S. 236.

ADOLFO BIOY CASARES | LA INVENCIÓN DE MOREL Das Kunstwerk muss so tun, als gäbe es den Betrachter nicht. Das heißt, das Kunstwerk muss sich so an den Betrachter wenden, dass dieser glaubt, es gebe ihn nicht. Denn nur dann, wenn das Kunstwerk dem Betrachter vorspiegelt, es gebe ihn gar nicht, so Diderots Argument, kann das Kunstwerk als Kunstwerk entstehen. Das Kunstwerk kann erst dann als Kunstwerk entstehen, wenn es für den Betrachter kein Außerhalb der Leinwand mehr gibt, ja, wenn die Leinwand der ganze Raum ist, den es gibt.298

Gemäß dieser Auffassung hat Morel das perfekte illusionistische Kunstwerk geschaffen. In La invención de Morel vernebelt die Illusion die Erkenntnisfähigkeit so lange, bis der Erzähler das reflektierende Schreiben ganz aufgibt und sich dem Apparat ausliefert.299 Die finale Metalepse, in der der Erzähler seine diegetische Ebene verlässt und in die Hypodiegese eintritt, bedeutet seinen Tod, den Tod des Autors.300 Sein Schreiben verstummt nicht deshalb, weil der Text hier an eine Grenze des Erzählbaren gelangt wäre, sondern weil gerade dadurch, dass das Erzählen endet, der Text sein letztes Argument gegen das Kino vorbringt: Im Totalen Kino endet die Narration.301 Der Eintritt in die hypodiegetische Ebene des Films kann nur außerhalb des Textes vollzogen werden; nach dem Punkt, den der Erzähler hinter seinen letzten Satz setzt: Mi alma no ha pasado, aún, a la imagen; si no, yo habría muerto, habría dejado de ver (tal vez) a Faustine, para estar con ella en una visión que nadie recogerá.   Al hombre que, basándose en este informe, invente una máquina capaz

298 

Kern, Andrea: Illusion als Ideal der Kunst. In: Koch, Gertrud / ​Voss, Christiane (Hg.): …kraft der Illusion. München: Fink 2006, S. 159–174, hier S. 171. 299  Vgl. zu diesem Zusammenhang zwischen Illusion und Erkenntnis: Ebd., S. 160. 300  Insofern täuscht sich Peters, wenn sie schreibt, dass der Roman nicht mit einer Metalepse ende, sondern mit einer homodiegetisch erzählten Aussicht auf den Tod, vgl. Peters: Der gespenstische Souverän, S. 362. Sie übersieht dabei, dass es eben doch eine fremde Stimme gibt, „die das Ende des Erzählers noch depuis sa mort“ erzählt, nämlich den fiktiven Herausgeber. 301  In diesem Verstummen des Erzählers liegt eine Ähnlichkeit zwischen La invención de Morel und Pirandellos Quaderni. Pirandellos Werk war in Argentinien schon früh populär, siehe Lauretta, Enzo: Pirandello in cine a in TV in Argentina. In: Ders.(Hg.): Pirandello e il cinema. Centro Nazionale di Studi Pirandelliani. Agrigento: Sarcuto 1978, S. 105– 110; Nulf weist darauf hin, dass Pirandello vor seinem Tod Mitte der 30er Jahre noch durch Argentinien gereist ist, siehe Frank Nulf: Luigi Pirandello and the Cinema. In: Film Quarterly, 24 (1970–1971), S. 40–48.

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Der Traum vom Totalen Kino de reunir las presencias disgregadas, haré una súplica: Búsquenos a Faustine y a mí, hágame entrar en el cielo de la conciencia de Faustine. Será un acto piadoso. (IM, 130)302

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An dieser Stelle reißt der Bericht ab, weil der Verfasser stirbt und fortan im Bild weiterexistiert. Sein Tod macht ihn zum ex muerto, als Wiedergänger kann er nicht mehr sterben, seine Existenz ist fortan auf dem „disco eterno“ (IM, 121) gespeichert. In der Leere nach dem letzten Punkt vollzieht sich die ultimative intermediale Metalepse.303 Bioys Roman inszeniert sie als Warnung vor der Anziehungskraft des Totalen Kinos. Immersion erscheint hier als Folge der Infiltration, schließlich sieht sich der Erzähler schon seit Beginn des Romans „umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung“, wie Béla Balázs die Filmrezeption in seiner Kunstphilosophie des Films beschreibt.304 Dem Erzähler wird die immersive Rezeption zur Bedrohung: Er wird im Totalen Kino nicht wie erhofft Teil einer Narration, sondern selbst zur Attraktion. Stellvertretend erlebt er dies zunächst an seiner linken Hand, die er als Erstes aufgenommen hat: Puse la mano izquierda ante el receptor; abrí el proyector y apareció la mano, solamente la mano, haciendo los perezosos movimientos que había hecho cuando la grabé. Ahora es como otro objeto o casi animal que hay en el museo. (IM, 117)305

Seine eigene Hand wird zu einem unheimlichen Ding, zu einer Art Tier, das er voller Neugier, aber auch voller Abscheu beobachtet.306 In ihr kehrt das

302 

Dt.: „Meine Seele ist noch nicht in das Bild übergegangen. Andernfalls wäre ich gestorben, hätte ich (vielleicht) aufgehört, Faustine zu sehen, vereinigt mit ihr in einer Schau, die keines Menschen Auge erblickt. An den Menschen, der, gestützt auf diesen Bericht, vielleicht einmal die Maschine erfindet, die imstande ist, die zerfallenden Erscheinungen des Augenblicks wieder zusammenzufügen, möchte ich eine flehentliche Bitte richten. Möge er nach mir und Faustine suchen und mich in den Himmel ihres Bewusstseins kommen lassen. Das wäre eine Tat des Erbarmens.“ (S. 168f.) 303  Vgl. Chihaia: Aquí, ahora, S. 105. 304  Balázs, Béla: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Albersmeier, Franz-Josef: Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2003, S. 201–223, S. 212. 305  Dt.: „[…] ich brachte die linke Hand vor den Empfänger; ich drehte den Projektor auf, und die Hand erschien, nur die Hand, die genau dieselben lässigen Gebärden beschrieb wie im Augenblick der Aufzeichnung. Jetzt ist sie wie irgendein anderer Gegenstand oder fast wie ein Tier unter all dem, was es im Museum gibt.“ (S. 151) 306  An dieser Stelle sei kurz an die Bedeutung der Hand-Metonymie für die Filmproduktion in Pirandellos Quaderni erinnert. Auch dort zeigt die Hand, die vom Film verein-

ADOLFO BIOY CASARES | LA INVENCIÓN DE MOREL

Doppelgängermotiv metonymisch wieder, steht sie doch prophetisch für die „Ich-Verdopplung“ und schließlich die „beständige Wiederkehr des Gleichen“, die dem Erzähler noch bevorstehen und die Freud als Kernmotive des Unheimlichen identifiziert.307 Ihre Bewegungen, die einmal Sinn ergaben, sind nun aus diesem (narrativen) Zusammenhang herausgelöst und stehen für nichts mehr. Dabei ist die Hand nur der Anfang: Kurze Zeit später wird der Erzähler selbst das gleiche Schicksal erleiden. Letzten Endes läuft La invención de Morel also auf das hinaus, was Paul Virilio in Le dernier véhicule pro­ gnostiziert: „Devenir un film semble donc notre destin commun.“308 So endet der Erzähler als Attraktion im Spukhaus des Totalen Kinos.

nahmt wurde, die Entfremdung vom eigenen Körper an, sobald dieser zum Filmbild wird. 307  Freud: Das Unheimliche, S. 257. 308  Virilio: Le dernier véhicule, S. 50 (Herv. i. O.).

375

3.3 Résumé: am Abgrund des Totalen Kinos Zwar imaginierte bereits Friedlaender/Mynona in Graue Magie ein totalkinematographisches Spektakel, in dem die audiovisuellen Erscheinungen auch für Tast- und Geruchssinn erfahrbar sind, wirklich ausgestaltet wird diese Imagination jedoch erst zehn Jahre später in Aldous Huxleys Brave New World. In dieser bis über den aporetischen Kippmoment hinaus übersteigerten Utopie garantieren die Feelies nicht nur die Stabilität der Gesellschaft, sondern ermöglichen ihren stillgestellten, passiven Rezipienten auch einen Realitätseindruck absoluter Präsenz. Huxley führt in seiner Anti-Utopie vor Augen, was die Abschaffung von Leid, Krieg und Armut für die Welt bedeuten würde, und schließt in die Utopie, gegen die er anschreibt, auch die Verwirklichung des Traums vom Totalen Kino mit ein. Brave New World imaginiert, worauf bereits Graue Magie zusteuerte: Die ultimative Immersion des Rezipienten und die gleichzeitige Infiltration der Realität durch das Totale Kino gehen in Huxleys Roman mit der Installation eines weltumspannenden totalkinematographischen Staatsapparats einher. Die Heterotopie wird global, die Reste der Realität werden in Reservaten eingehegt. Literatur erfährt hier eine Bedrohung ihres zeichenhaften Zugriffs auf die Welt, indem der neue Staat die Buchstäblichkeit propagiert, Sprache auf ihren Literalsinn zu reduzieren versucht und in diesem Zuge nicht nur Shakespeares Dramen, sondern jede Form figurativen und metaphorischen Sprechens abschaffen lässt. Durch die Gleichsetzung dieses Regimes mit dem Totalen Kino übt Brave New World von den hier untersuchten Romanen die harscheste Kritik am Film und stellt diesen der Literatur als Konkurrenzmedium antagonistisch gegenüber. *

Der Traum vom Totalen Kino

378

In Bioys Roman La invención de Morel fällt die Denunziation des Kinos weniger eindeutig aus, wird doch eher dessen Unfähigkeit zur (Auto‑)Reflexion inszeniert. Insofern dominiert hier ein Gestus der Überlegenheit des Textes gegenüber dem Medium Film: Der Text lässt seine eigenen Unschärfen und Hinfälligkeiten produktiv werden und tritt mit einem von Narben der eigenen Schriftlichkeit gezeichneten Textkörper gegen die glatten Bilder des Mimesis­ apparats an, die sich als perfekt, aber leblos erweisen. In den beiden Romanen ist spürbar, dass – nach den eher spielerischen Experimenten von Pirandello und Mynona – ab den 1930er Jahren eine starke Konkurrenz zwischen Literatur und Kino aufflammt. Zu der Zeit kommen Ton- und Farbfilm auf, die beide wichtige Umschlagpunkte in der Entwicklung des Kino-Dispositivs markieren und von Huxley und Bioy reflektiert werden. Vor allem die Konkurrenz des Tonfilms provozierte, wie gezeigt wurde, mitunter heftige Abwehrreaktionen von Seiten der Literatur, schließlich kommt das Kino damit der Literatur plötzlich unheimlich nahe. An den Romanen lässt sich eine Entwicklung ablesen, die Helmut Diederichs im Hinblick auf die Filmtheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt: Diese erlebte einen Wandel vom frühen Diktum „Film ist keine Kunst, Film ist Wirklichkeit“ hin zur Position „Film ist eine audiovisuelle Kunst, die auch Naturfarben nutzt“.309 Allerdings, und das zeigen die filmtheoretischen Reflexionen, die die vorliegende Studie anhand der Lektüren zu Tage gefördert hat, war es ein weiter Weg von der einen Position bis zur anderen. In einer Übergangsphase, schreibt Diederichs, habe man sich etwa auf die Aussage „Film ist Kunst, weil seine Mängel der Wirklichkeitsabbildung künstlerisch genutzt werden können“ einigen können.310 Anhand von B ­ rave New World und La invención de Morel lässt sich ablesen, wie diese Posi­tion erodiert. Die Mängel der Wirklichkeitsabbildung werden weniger, als Ton und Farbe zur Projektion hinzutreten; der künstlerische Wert des Films gerät unter Beschuss und das Narrativ des Totalen Kinos gewinnt neue Brisanz. Davon zeugen die beiden Romane von Huxley und Bioy. * Brave New World und La invención de Morel legen angesichts der Herausforderung, die das Kino für die Literatur bedeutet, nahe, dass Film, gerade dann,

309 

Diederichs: Zur Entwicklung der formästhetischen Theorie des Films, S. 12.

310 Ebd.

RÉSUMÉ: AM ABRUND DES TOTALEN KINOS

wenn er perfekt mimetisch, duftend und tastbar geworden ist, keine Kunst ist, sondern im Gegenteil eine fatale Macht, die danach trachtet, den Rezipienten zu unterwerfen und erst seinen Geist und dann auch seinen Körper zu töten. Im Zuge ihrer kritischen Reflexion des Kinos führen die beiden Romane die Infektion und Absorption ihrer Protagonisten durch die Totalkinematographie vor Augen: Sowohl John, the Savage, als auch der Ich-Erzähler bei Bioy sind Fremdkörper in einem virtuellen Raum, in dem Infiltration und Immersion ineinanderlaufen, in einer Welt, die als totalkinematographisch zu bezeichnen ist. Beide Protagonisten werden von der Virtualität aufgesogen, in den Film hinein. Sie vollziehen eine Metalepse, die jeweils ihren Tod in der diegetischen Welt zur Folge hat und ihnen ein ewiges Dasein als (untotes) Abbild ihrer selbst garantiert. Auf diese Weise eliminiert das Totale Kino in beiden Romanen nicht nur den fremden Körper, der sich außerhalb seiner Reproduktion befindet, sondern zugleich den einzigen Betrachter, der zu einer Unterscheidung von Schein und Sein in der Lage gewesen wäre. Dass in beiden Fällen die Narration jeweils mit dieser Absorption endet, erscheint als folgerichtige Konsequenz, denn damit verliert die Erzählinstanz ihren Fokalisationspunkt außerhalb der Hypodiegese. Das Totale Kino stürzt in den Abgrund seines eigenen Anspruchs auf Totalität. Auch deshalb muss Bioys Roman mit dem Eintritt des Erzählers in den Film und also mit einer fatalen intermedialen Metalepse enden. Auf den namenlosen Inselbewohner hat die Aufnahme durch die totalkinematographischen Apparate dieselbe letale Wirkung wie auf John, the Savage, in Brave New World. Beide sterben, nachdem eine lebensechte Kopie von ihnen angefertigt worden ist, die ihre Körper ersetzt. * Huxleys Roman reflektiert in den Feelies nicht nur die medialen Innovationen seiner Zeit, sondern auch die filmische Ästhetik der Immersion als „eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens“.311 Huxleys Vision der Totalkinematographie wirkt ansteckend auf die Körper der Zuschauer, die selbst photochemisch reproduziert und damit nicht nur Rezipienten, sondern auch Produkte totalkinematographischer Ästhetik sind. Eine weitere Steigerungs-

311 

Bieger, Laura: Ästhetik der Immersion. Wenn Räume wollen. Immersives Erleben als Raumerleben. In: Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld: transcript 2011, S. 75–95, hier S. 75.

379

Der Traum vom Totalen Kino

380

stufe der Immersion imaginiert Brave New World in der Droge Soma, die wie das Kino einen Ausstieg aus der Realität ermöglicht, der allerdings in seiner Wirksamkeit derart gesteigert ist, dass er die Realität auf eine transzendente Ebene verdrängt und unmittelbare Präsenz beansprucht. Huxley führt das Narrativ des Totalen Kinos damit in die ihm innewohnende Aporie, an seinen eigenen, ihm inhärenten Abgrund. Denn wenn das Totale Kino tatsächlich Wirklichkeit wird, ist das Narrativ obsolet geworden. Niemand spricht dann mehr vom Kino beziehungsweise von einer von ihm zu unterscheidenden Realität. Dann fehlt die extradiegetische Perspektive, die diesen Unterschied konstatieren könnte. Der „profound influence of B ­ rave New World on cinema“ lässt sich somit keineswegs, wie Fisher das versucht, auf Film-Adaptionen des Romans reduzieren.312 Vielmehr liegt die Bedeutung des Romans in der Steigerung des utopischen Traums vom Totalen Kino hinein ins Anti-Utopische: Brave New World offenbart wie kaum ein anderer Roman die Aporie im Narrativ des Totalen Kinos. * Aus dieser Aporie muss Adolfo Bioy Casares das Narrativ erst wieder herausführen, wenn er in La invención de Morel vom Totalen Kino erzählt. Er tut dies, indem er das Narrativ zu seinen Ursprüngen in Kunstgeschichte und Ästhetik zurückführt. So kehren in seinem Roman einige Konstellationen und Motive wieder, die bereits in Villiers’ L’Ève future und Vernes Le Château des Carpathes zu Tage traten: Das Inkarnat der Bildfrau spielt wie bei Villiers eine zentrale Rolle, wird aber in seiner Wiederkehr unheimlich aufgeladen, indem es sein eigenes Untotes an die Oberfläche trägt. Nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung des Narrativs vom Totalen Kino, auch medienhistorisch erscheint der Bezug auf die künstlerische Herausforderung des Haut-Malens einleuchtend, wurde La invención de Morel doch gerade in jener Zeit geschrieben, als der Farbfilm aufkam und damit – nach dem von Huxley verabscheuten Tonfilm – eine weitere Entwicklungsstufe des kinematographischen Dispositivs, die in Richtung des Totalen Kinos zu weisen scheint. Im Gegensatz zur Imagination des totalkinematographischen Staatsapparats in Huxleys Roman, die das Kino nach seinen epistemologischen und politischen Implikationen befragt, stehen in La invención de Morel stärker ästhetische und poetologische Reflexionen über die Medialität des Filmischen, aber

312 

Fisher: ‚Everyone Belongs to Everyone Else‘, S. 176.

RÉSUMÉ: AM ABRUND DES TOTALEN KINOS

auch des Literarischen im Vordergrund. So spricht Bioy als zentraler Vertreter der lateinamerikanischen Phantastik dem Mimesis-Apparat den künstlerischen und reflexiven Anspruch ab, wie er und Borges auch die realistische Literatur dafür kritisierten, dass sie bloße Reproduktionen der Wirklichkeit liefere. Indem sein Anspruch auf Realismus auf diese Weise entwertet wird, scheint das Narrativ des Totalen Kinos in La invención de Morel endgültig demontiert und zumindest aus ästhetischer Sicht keine Option mehr, um die Potenziale des Mediums Film zu reflektieren. Das Narrativ scheint obsolet geworden, als zu Beginn der 1940er Jahre das Fernsehen aufkommt und farbige, sprechende Livebilder in jedes Wohnzimmer projiziert. Und doch schreibt es sich fort: Bazin hat seinen Essay über den Mythe du Cinéma total erst sechs Jahre nach Bioys Roman geschrieben, in dem er in Worte fasst, was in literarischen Werken bereits vielgestaltig ausformuliert worden war. Und auch nachdem das Narrativ von Bazin in die Filmtheorie eingetragen worden ist, lebt es fort, wie oft es von Romanciers auch denunziert, demontiert und dekonstruiert wird. Vielmehr reproduziert es sich gerade in den literarischen Demontagen und erweist sich damit als äußerst langlebig. Auch wenn diese Fortschreibungen nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Studie sind, zeigt sich doch, dass das Narrativ des Totalen Kinos weiterhin sowohl durch Innovationen als auch durch Imagination vorangetrieben wird. So schreibt Paul Virilio, der insofern auch zu den Apologeten der Totalkinematographie zu zählen ist, noch 1990 über ein Simulationssystem, das dereinst die Projektion auf die Augäpfel des Rezipienten verlagern wird, „[p]our accentuer encore le réalisme de la scène“: Mais l’essentiel est encore à venir, puisque l’on teste déjà un système de simulation dérivé de l’oculomètre, qui s’affranchira définitivement de la sphère-écran : la projection des images du combat aérien s’effectuant directement dans les globes oculaires du pilote, grâce à l’utilisation d’un casque muni de fibres optiques.313

Von dieser Vision ist es nicht mehr weit bis zu derjenigen, die Ray Kurzweil 15 Jahre nach Virilio entwirft: Demnach soll in der nahen Zukunft Virtuelle Realität im Körper des Rezipienten selbst entstehen.314 Kurzweils Einlassungen zeigen, dass das Narrativ des Totalen Kinos bis in die Gegenwart höchst virulent ist, und bilden damit den Ausgangspunkt für das folgende Schluss-

313  314 

Virilio: Le dernier véhicule, S. 52 (Herv. i. O.). Vgl. Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 28.

381

Der Traum vom Totalen Kino

382

kapitel. Dieses erweitert den Blick auf Virtuelle Realitäten und sucht der Frage nachzugehen, inwieweit die Höhlenausgänge, die das Narrativ des Totalen Kinos erzählt, sich im Zuge eines Paradigmenwandels als Eingänge in neue Erfahrungswelten erweisen können. *

Quelle: Institut Lumière

IV

Schluss: Höhlenausgänge oder Höhleneingänge – Vom Totalen Kino zur Virtuellen Realität

Der Traum vom Totalen Kino

386

Die in dieser Arbeit zusammengeführten Lektüren von sechs Romanen aus der Vorzeit und frühen Phase des Kinos haben versucht, das Narrativ des Totalen Kinos nicht nur abzubilden, sondern auch zu zeigen, aus welchen Mythen und Diskursen es sich speist und wo seine Ränder, Unschärfen und Aporien liegen. Am Ende kehrt diese Studie nun gewissermaßen zu ihrem Ausgangspunkt, dem Wunder im Fluchtpunkt des Kinos, zurück und damit zu Kurzweils Prophezeiung, dass mit dem Eintritt in die „2030s there won’t be clear distinctions between human and machine, between real and virtual reality, or between work and play“.1 Das Schlusskapitel bietet einen Ausblick auf Fortschreibungen des Narrativs vom Totalen Kino, die nun nicht mehr ausschließlich in der Literatur stattfinden, und zeigt zugleich, inwiefern gegenwärtige Diskurse zu Virtueller Realität und Cyberspace aus der Perspektive, die diese Studie eröffnet hat, zu hinterfragen sind. Der Traum vom Totalen Kino ist, auch wenn dies nicht im Fokus der vorliegenden Studie liegt, auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht ausgeträumt. Er prägt den Kino-Diskurs bis in die Gegenwart und nahe Zukunft.2 Allerdings mit veränderten Vorzeichen: Im ausgehenden 20. Jahrhundert setzt sich zunehmend der Film selbst mit Virtueller Realität und totaler Immersion auseinander, wobei sich im Zuge dessen die epistemologische Deutung des Narrativs verschiebt.3 Das Kino reflektiert zunehmend sein totalkinematographisches Potenzial und übernimmt dabei zahlreiche Mythologeme, die ihm zunächst von der Literatur zugeschrieben und in den vorliegenden Lektüren herausgearbeitet wurden. Dabei subsumiert der Begriff der ‚Virtuellen Realität‘ Phänomene wie etwa jene Ununterscheidbarkeit zwischen Film und Leben, von der das Narrativ des Totalen Kinos erzählt. Als Fortschreibung einer Auseinandersetzung mit der Macht von Bildern bedeutet Virtuelle Realität heute „the most radical assertion of the seductive power of images“.4 Für die Filmwissenschaft stellt die autoreflexive Auseinandersetzung damit einen attraktiven Untersuchungsgegenstand dar, bieten doch Filme, die den Topos

1 

Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 341f. Vgl. Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 144. 3  Dies bedeutet indes nicht, dass seitdem keine literarische Auseinandersetzung mit diesem Narrativ mehr stattfinden würde. Allerdings hat diese an Intensität verloren im Vergleich zu dem Zeitraum, den die vorliegende Studie betrachtet hat. 4  Žižek, Slavoj: The Matrix, Or, the Two Sides of Perversion. In: Ders.: Enjoy your Symptom! Jacques Lacan in Hollywood and Out. New York: Routledge 2008, S. 242–266, hier S. 244. 2 

HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE

der totalen Immersion beziehungsweise der totalen Infiltration aufgreifen, das Potenzial zur Selbstbefragung des Mediums.5 So widmet sich etwa Jörg Schweinitz in einem materialreichen Aufsatz filmischen Utopien Virtueller Realität, die in unmittelbarem Bezug zum hier herausgearbeiteten Narrativ des Totalen Kinos stehen, inszenieren sie doch, wie Figuren das Bewusstsein darüber verlieren, „ob sie unmittelbare Realität oder lediglich Simulationen einer virtuellen Welt auf dem Niveau totaler Immersion erleben“.6 Schweinitz untersucht nicht nur filmische Werke, die diesen Topos aufgreifen,7 sondern begibt sich außerdem in der Filmtheoriegeschichte (unter anderem bei Bazin, Baudry, Münsterberg und Metz) auf die Suche nach den Wurzeln des Topos der „Nicht-Unterscheidbarkeit“.8 Allerdings findet er dort keine zufriedenstellenden Referenzen, seine Recherche bleibt seltsam ergebnislos.9 Dabei hätte er die Wurzeln jenes Narrativs leicht freilegen können, hätte er literarische Imaginationen in seine Untersuchung einbezogen; dort wäre er, so kann man am Ende der vorliegenden Studie kon­statieren, fündig geworden. Schweinitz’ Aufsatz belegt allerdings nicht nur, dass ein interdisziplinärer Blick auf Topoi der Filmgeschichte fruchtbringend sein kann, er wirft auch Fragen danach auf, wie die ursprünglich intermediale Reflexion im Narrativ des Totalen Kinos sich in der monomedialen Autoreflexion des Kinos darstellt. Schließlich ist der Präfiguration der Totalkinematographie ein ikonoklastisches und filmskeptisches Moment eingeschrieben, das nicht ohne weiteres auf die filmische Auseinandersetzung mit dem Topos der totalen Immersion übertragen werden kann. So zeigt sich im Rückblick auf die untersuchten Romane, dass diese sich selbst als Ausgänge aus der „Traumhöhle“10 Kino inszenieren: Sei es, weil die Literatur demonstriert, dass sie ihre eigenen Unschärfen und Potenziale besser reflektiert (wie in La invención de Morel und Le Château des Carpathes), oder indem sie die Aporie des Narra-

5 

Siehe aus der jüngsten filmwissenschaftlichen und medienphilosophischen Forschung exemplarisch Liptay, Fabienne / ​Dogramaci, Burcu (Hg.): Immersion in the Visual Arts and Media. Leiden: Brill Rodopi 2016; sowie Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München: Fink 2013. 6  Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 136. 7  Zu den Filmen, die Schweinitz betrachtet, gehören Welt am Draht (Fassbinder, 1973), Total Recall (Verhoeven, 1990), Strange Days (Bigelow, 1995), Abre los Ojos (Amenábar, 1997), EXistenZ (Cronenberg, 1999) und The Matrix (Wachowskis, 1999). 8  Schweinitz: Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität, S. 137. 9  Vgl. ebd., S. 146. 10  Paech: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, S. 405.

387

Der Traum vom Totalen Kino

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tivs offenlegt (­Brave New World), die totalkinematographische Illusion überbietet (L’Ève future) oder das Medium Film zur Spielfläche ihrer epistemologischen Reflexionen macht (Quaderni di Serafino Gubbio operatore und Graue Magie). Die hier untersuchten Romane lassen sich als Re-Lektüren des platonischen Höhlenmythos interpretieren, führen doch auch sie „einen verdorbenen Wirklichkeitssinn sowie dessen Therapie […] vor“.11 Die wirksamste Therapie, der Höhlenausgang im Sinne Blumenbergs, scheint dabei jeweils in der Literatur und ihren Möglichkeiten des figurativen Sprechens und der Medienreflexion zu liegen. Der jeweilige Text inszeniert sich selbst als eine Möglichkeit für den „Aufstieg zum Licht“12 – wenn auch nicht für den Protagonisten, an dem die fatalen Folgen des Totalen Kinos exemplifiziert werden, so doch für die Leserinnen und Leser. Die Protagonisten dagegen werden in den hier untersuchten Werken in Rezeptionssituationen geführt, in denen ihnen die Fähigkeit, zwischen Realität und Simulation zu unterscheiden, abhanden kommt. Entweder stehen sie den illusionistischen Erscheinungen buchstäblich in Höhlen, Kellern oder Katakomben gegenüber, in die sie durch immersive Dynamiken hineingezogen wurden (etwa bei Villiers, Verne und Mynona), oder aber sie befinden sich ohnehin schon an heterotopischen Orten (wie bei Pirandello, Huxley und Bioy). Damit entwerfen die Texte das Totale Kino als „un espace d’illusion qui dénonce comme plus illusoire encore tout l’espace réel“.13 Indem sie dieses Potenzial der Heterotopie vor Augen führen, bieten sich die Romane ihren Leserinnen und Lesern als Ausgänge aus der platonischen Höhle an: Im Narrativ des Totalen Kinos ist die Literatur der Weg nach oben, zum Licht. Gleichzeitig führt das Setting der Romane dazu, dass das Sichtfeld der Erzähler wie der Protagonisten durch die Abgeschlossenheit des Ortes eingeschränkt ist: Der Traum vom Totalen Kino verwirklicht sich in einer begrenzten Welt, meist an einem abgeschiedenen oder von der restlichen Welt abgeschnittenen Ort. Die untersuchten Romane spielen fast ausnahmslos auf Inseln, Schlössern und ähnlich isolierten Orten.14 Das Totale wird nicht glo-

11  12 

Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 109. Vgl. dazu außerdem Platon: Politeia, S. 420ff. Kiening / ​Beil: Urszenen des Medialen, S. 74. 13  Foucault: Des espaces autres, S. 761. 14  Nicht nur Bioys tatsächliche Inselfiktion fällt in diese Kategorie, auch Villiers’ Höhlenlabor, Vernes Spukschloss und Pirandellos Filmunternehmen Cosmograph bilden eigene, vom Rest der Welt abgeschnittene Welten. Mynonas Berlin wird durch Morvitius’ Umtriebe ebenfalls in eine heterotopische Filmstadt verwandelt; in Brave New World hin-

HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE

bal; insofern trägt das Narrativ des Totalen Kinos auch seine eigene Begrenzung nach außen. Ohnehin ist am Ende dieser Studie festzuhalten, dass die Texte, die das Narrativ fortschreiben, nicht auf eine bloße Denunziation des Kinos abzielen. Schließlich gehört „das Interesse am Betrug zur Lebensbedingung des Aufklärers“.15 So begeben sich die Romane gerade dadurch, dass sie die Visualität des filmischen Mediums selbst hervorbringen, auf denselben schmalen Grat zwischen „diskreter Verwendung von Bildern und expliziter Denunziation“ wie Platons Höhlenmythos.16 Wie Blumenberg treffend konstatiert, mag dieser „noch so oft gegen Schatten, Bilder, Mythen, mimetische Künste polemisieren: Ohne sie […] stünde seine eigene Existenz als Text in Frage.“17 Die Lektüren dieser Studie offenbaren dieselbe paradoxale Verschränkung von Text und (Film‑)Bild. Noch deutlicher tritt jenes Paradox zu Tage, wenn man das Narrativ des Totalen Kinos nun in seinen filmischen Fortschreibungen weiterverfolgt. Angesichts von Filmen wie Welt am Draht (Fassbinder, 1973) oder The Matrix (Wachowskis, 1999) stellt sich das von Kittler aufgeworfene Problem, ob Film durch Film überhaupt hinterfragbar ist.18 Im Hinblick auf das Narrativ des Totalen Kinos kommt vor allem The Matrix besondere Bedeutung zu, als einem Film, der „im Medium Kino die Konditionen des aktuellen Kinos zugleich bestätigt und unterminiert“.19 Dabei ruft die Matrix (lat.: ‚Gebärmutter‘)20 zahl-

gegen umfasst die Heterotopie fast die ganze Welt; hier ist die Realität in Reservate verbannt. In allen sechs Werken zeigt sich, wie eng das Heterotopische zum totalkinematographischen Dispositiv gehört. 15  Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 38. 16  Kiening / ​Beil: Urszenen des Medialen, S. 59. Die Autoren betonen, dass Platon selbst das Gleichnis ein „eikon“ nennt (ebd., S. 61). 17  Ebd., S. 75. 18  Vgl. Kittler, Friedrich: Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgänger­ geschichte. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 81–104, hier S. 100. Kittlers Antwort fällt negativ aus, ihm zufolge ist Film im Film „ein Simulakrum des Zentralnervensystems“ (ebd.). 19  Ellrich, Lutz: Tricks in der Matrix oder der abgefilmte Cyberspace. In: Liebrand, Claudia / ​Schneider, Irmela (Hg.): Medien in Medien. Köln: DuMont 2002, S. 251–275, hier S. 264. Indem The Matrix den Anspruch erhebt, von der Aufklärung eines dem Film inhärenten Illusionspotenzials zu erzählen, kann er dem Paradox nicht entrinnen, dass die Zuschauer, die hier einen Höhlenausgang vorgeführt bekommen, sich am Ende noch immer in einer Höhle befinden. 20  Inwiefern in die Assoziation der Illusionsmaschine mit den weiblichen Geburtsorganen eine misogyne Strategie liegt – bei Huxley wird der weibliche Uturus sogar unfruchtbar gemacht –, erscheint zwar interessant und untersuchenswert, kann aber an dieser

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Der Traum vom Totalen Kino

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reiche Aspekte der hier versammelten Lektüren wieder auf: Nicht nur die warme, duftende Höhle in L’Ève future und der rot beleuchtete monströse Uterus der Dunkelkammer in Pirandellos Quaderni kehren wieder, sondern auch die (tha)natale Wirkung von Faustines krötenfarbenem Inkarnat.21 Die somatogene Macht der Matrix, die sich die Körper der Rezipienten buchstäblich einverleibt hat, sowie der totalitäre Staatsapparat, in dem die Künstliche Intelligenz regiert, erinnern an Huxleys Brave New World, während die brutalen Folgen der Immersion an Mynonas Graue Magie denken lassen, wo das Dispositiv ebenfalls Menschenleben fordert. Der Hacker Neo ist als Protagonist sowohl dem Erzähler in La invención de Morel als auch John, the Savage, verwandt; auch er befindet sich als einziger Sehender in einer Welt des Scheins.22 Dieser Messiasfigur kommt in The Matrix die Rolle zu, den heimeligen Uterus verlassen zu müssen. Neo soll hinaufsteigen ans Licht, um den Menschen, die von den Maschinen unterjocht und in eine Virtuelle Realität gebannt sind, die Freiheit zu bringen. Allerdings gibt es in der Welt außerhalb der platonischen Höhle buchstäblich kein Licht mehr. Die Menschen haben den Himmel verdunkelt, vermeintlich um den solarbetriebenen Maschinen die Energie abzuschneiden. Die ganze Erde ist düster, einzig in der totalkinematographischen Simulation der Matrix erscheint das Leben noch lebenswert. Dabei ist an The Matrix gerade diese Orientierungslosigkeit bemerkenswert, in der plötzlich Zweifel daran aufkommen, welche Richtung einzuschlagen ist: hinaus in die reale Ödnis oder doch zurück die totale Immersion? Explizit wird diese Orientierungslosigkeit darüber, welcher Weg nun zum Licht führt, in der Figur des Verräters Cypher, der in einem faustischen Pakt seine Rückkehr in die virtuelle Welt der Matrix mit den Worten „Ignorance is bliss“ besiegelt. The Matrix problematisiert als Neu-Interpretation des platonischen Höhlenmythos ebenjene Frage, deren Antwort im Narrativ des Totalen Kinos bislang eindeutig schien; die Frage nach dem Weg, der zum Licht führt:

Stelle nicht ausführlicher behandelt werden. Festgehalten sei jedoch die Beobachtung, dass das Totale Kino in den untersuchten Romanen nicht nur als Neuinterpretation der platonischen Höhle, sondern auch im Zusammenhang mit Weiblichkeit und einer Usurpation der Fruchtbarkeit imaginiert wird. 21  Zum Zusammenhang zwischen Gebärmutter, Erdkröte und Faustines braunem Inkarnat siehe die zitierte Studie von Borinski: Nochmals die Farbe Braun. 22  So zeigt sich Neos Berufung als „The One“ gerade dann bestätigt, als er den Code der Matrix lesen kann, also hinter der Simulation den Code aus Einsen und Nullen erkennt und diesen zu deuten weiß.

HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE […] does The Matrix not repeat exactly Plato’s dispositif of the cave (ordinary humans as prisoners, tied firmly to their seats and compelled to watch the shadowy performance of what they falsely consider to be reality)? The important difference, of course, is that when some individuals escape their cave predicament and step out to the surface of the Earth, what they find there is no longer the bright surface illuminated by the rays of the Sun, the supreme Good, but the desolate “desert of the real.”23

Mit dieser Umdeutung weist der Film subtil in die Richtung, die das Narrativ des Totalen Kinos inzwischen eingeschlagen hat. Wie Žižek richtig darlegt, ist The Matrix nicht bloß eine filmische Umsetzung von Platons Höhlengleichnis; vielmehr reflektiert er einen gegenwärtig stattfindenden Paradigmenwechsel im Hinblick auf den Status von Virtueller Realität, der am Schluss dieser Studie kurz beleuchtet werden soll. Die neue Verlockung der perfektionierten Totalkinematographie, auf die The Matrix hindeutet, liegt nämlich nicht länger darin, dass physische und virtuelle Realität nicht mehr voneinander zu unterscheiden wären, sondern vielmehr darin, dass die Virtuelle Realität als bessere Alternative erscheinen könnte. Es geht also nicht mehr um die ontologische Frage nach dem Status von Film, sondern um eine ethische Frage nach dem adäquaten Umgang mit Virtueller Realität, die nun tatsächlich umsetzbar scheint. Im Angesicht neuester Technologien droht der Höhlenausgang zum Höhleneingang zu werden. Es zeigt sich: Der Weg hinauf und hinunter war in Wahrheit immer derselbe, nur ist er inzwischen in beide Richtungen leichter passierbar.24 So scheint sich die epistemologische Perspektive auf die Totalkinematographie im gegenwärtigen Diskurs umzukehren: Virtuelle Realität gilt nicht mehr nur als illusionistische Technologie, sondern im Gegenteil als Technik, um bislang unbeantwortete Fragen zum Menschen, etwa zu seinen (neuro‑) psychologischen oder kognitiven Fähigkeiten, zu beantworten. Mit der Hirnforschung wächst nicht nur das Begehren, die Produktion der totalkinematographischen Simulation in den menschlichen Körper hinein zu verlagern – „creating virtual reality from within the nervous system“25 –, sondern auch die Hoffnung, dass gerade die totalkinematographische Reproduktion der Realität neue Erkenntnishorizonte eröffnet: Wenn Virtuelle Realität „becomes competitive with real reality in terms of resolution and believability“,26 erge23  24 

Žižek: The Matrix, Or, the Two Sides of Perversion, S. 243. Vgl. Kiening / ​Beil: Urszenen des Medialen, S. 74. 25  Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 28. 26  Kurzweil: The Singularity Is Near, S. 29.

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Der Traum vom Totalen Kino

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ben sich neue Anwendungsbereiche, die über jene der bloßen Unterhaltung hinausgehen.27 So wird inzwischen Virtuelle Realität für experimentelle Forschung in Neurowissenschaften und Psychologie herangezogen. Es gibt Versuche, Phobien mit Hilfe von VR-Settings zu kurieren28 oder Gewalttäter umzuerziehen, indem sie in die Rolle ihrer Opfer versetzt werden;29 endo­ skopische Operationen vertrauen zunehmend auf die Technik, ebenso wie die Hirnforschung, die mittels VR scheinbar lebensechte Modelle des Gehirns erstellt.30 Historiker wollen Holocaust-Zeitzeugen als sprechende Hologramme für kommende Generationen als Gesprächspartner erhalten31 und Ökologen hoffen darauf, dass VR-Simulationen Menschen zu einem umweltfreundlicheren Verhalten bewegen.32 Piloten und Soldaten werden mittels VR ausgebildet, Drohnen mit Hilfe der Technologie gesteuert und Autos in der sogenannten „Cave“ designt.33 Die Anwendungsbereiche sind vielfältig und wachsen stetig; gemeinsam ist ihnen die zugrundeliegende Annahme, dass Virtuelle Realität ein Äquivalent der physischen Realität darstellt. Die Brisanz dieser Annahme zeigt sich weniger beim Autobau als dort, wo die Humanwissenschaften auf die Technologie zugreifen. Kognitionswissenschaftler „have created virtual reality laboratories to investigate how humans

27 

Wobei Unterhaltung selbstverständlich nach wie vor ein vielversprechender Bereich auch in der Erforschung immersiver Technologien ist, wie etwa das Interview mit Jessica Brillhart, bei Google für die Entwicklung von VR-Technologien zuständig, zeigt: „Der Zuschauer ist schlicht mittendrin in meinen Filmen, nicht nur Betrachter von außen.“ Siehe Graff, Bernd: Die Rebellion gegen die Regie. Interview mit ­Jessica Brillhart. In: Süddeutsche Zeitung (12.07.2017); http://www.sueddeutsche.de/kultur/ jessica-brillhart-ueber-virtual-reality-die-rebellion-gegen-die-regie-1.3582591. 28  Vgl. Weber, Christian: Blauwal in der Turnhalle. In: Süddeutsche Zeitung (4./5.2.2017); http://www.sueddeutsche.de/wissen/virtual-reality-ich-war-so-erschoepftwie-nach-einem-langstreckenflug-1.3361858. 29  Vgl. Wolfangel, Eva: Verdammt echt. In: Die Zeit (25.2.2016); http://www.zeit.de / ​ 2016/10/virtuelle-realitaet-psychologie-ethikkodex. 30  Vgl. Bowman, Doug A. / ​McMahan, Ryan P.: Virtual Reality: How much ­immersion is enough? In: IEEE, July (2007), S. 36–43, hier S. 37. 31  Vgl. Hänssler, Boris: Auf Zeitreise. In: Süddeutsche Zeitung (29.5.2016); http://www. sueddeutsche.de/digital/virtuelle-realitaet-auf-zeitreise-1.3522125. 32  Vgl. Pines, Sarah: Wie fühlt sich ein Korallenriff? In: Neue Zürcher Zeitung (7.10.16); https://www.nzz.ch/feuilleton/virtuelle-realitaet-wie-fuehlt-sich-ein-korallenriffld.120449. 33  Vgl. Schmundt, Hilmar: Nicht übel. In: Der Spiegel (30.1.2016); http://www.­spiegel. de / ​spiegel/print/d-142149862.html.

HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE

interact with their surroundings under more realistic conditions“.34 Menschliches Verhalten in virtueller Umgebung zu untersuchen, ist kostengünstiger und sicherer als Versuchsanordnungen in realer Umgebung und hat gleichzeitig den Vorteil, dass sich einzelne Parameter leichter kontrollieren und modifizieren lassen. Dabei gilt gerade in diesem Bereich das Ziel „to create a controlled environment that is as life-like as possible“, wie Tarr und Warren schreiben,35 denn nur so lassen sich die Versuchsergebnisse auf Verhalten in der realen Welt übertragen. Man kann insofern konstatieren, dass die Neurowissenschaften den Traum vom Totalen Kino nicht nur aufgegriffen haben, sondern beginnen, seine epistemologische Aussage umzudeuten; ähnliches gilt für Anwendungen in Militär und Medizin. Die neuen Anwendungsmöglichkeiten von VR-Technologien, die sich dort abzeichnen, beruhren auf der Zuschreibung, die die in dieser Studie untersuchten Texte über das Kino treffen: dass angesichts eines Totalmediums virtuelle und physische Realität ununterscheidbar werden. Dass es sich dabei allerdings um eine Zuschreibung handelt, die damals wie heute phantasmatisch ist, entlarvt der Blick auf ihre Wurzeln: Sie kam auf, als das Kino noch schwarz-weiß und stumm war oder noch gar nicht existierte. Trotzdem vertrauen Wissenschaftler inzwischen auch dort, wo es um Leben oder Tod geht, zunehmend auf Simulationen. Virtuelle Realität erscheint hier nicht mehr als illusionistische Täuschung, die den Zugang zu Wahrheit und Wissen verstellt, sondern soll vielmehr selbst Zugang verschaffen zu neuen Erkenntnissen über den Menschen: „As such, virtual reality offers a unique research tool that allows the behavioral neuroscientist an opportunity to address heretofore unanswerable questions.“36 Das Simulakrum hat sich eingenistet in den Humanwissenschaften. Allerdings, und mit diesem retrospektiven Ausblick schließt diese Studie, zeigen gerade die vorliegenden Lektüren, dass der Annahme, die Simula­tion sei ein adäquates Äquivalent für die Realität, grundsätzlich zu misstrauen ist.37 Schließlich affirmiert diese Zuschreibung ikonoklastische und phantas34 

Tarr, Michael J. / ​Warren, William H.: Virtual reality in behavioral neuroscience and beyond. In: Nature, Neuroscience Supplement, Vol 5, Nov 2002, S. 1089–1092. 35  Ebd., S. 1090. Die Autoren forschten zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels am Department of Cognitive & Linguistic Sciences and Brain Science Program der Brown University. Tarr leitet inzwischen das Department of Psychology der Carnegie Mellon University. 36 Ebd. 37  Es gibt auch neurowissenschaftliche Arbeiten, die in diese Richtung weisen. So zitiert etwa Die Zeit eine Studie, in der der Einfluss von VR auf Laborratten ge-

393

Der Traum vom Totalen Kino

394

matische Mythologeme, die die Bildlichkeit des Bildes verschleiern und denen insofern zu misstrauen ist.38 So wurde vom Totalen Kino ursprünglich erzählt, um die künstlerische Überlegenheit der Literatur auszustellen und das neue Medium Kino zu denunzieren. Es war selbst ein Phantasma. Die vermeintlich exakten Wissenschaften drohen diesen phantasmatischen Charakter zu negieren, wenn sie Virtuelle Realität zum Wissenserwerb nutzen, ohne das dahinterstehende Narrativ zu reflektieren. Damit hält die „Pest der Phantasmen“ Einzug, von der Žižek spricht und gegen die er eine konservative, eine „chaplineske Haltung“ empfiehlt.39 Länger noch als Chaplin, der als einer der letzten Verfechter des Stummfilms „außergewöhnliche Angst vor der traumatischen Wucht der Stimme“ hatte, übernimmt jedoch bereits die Literatur die Rolle eines „schwindenden Mediators“, indem sie die Wahrnehmung auf die Brüche und Aporien von Narrativen lenkt – eine Wahrnehmung, die verloren ginge, „sobald wir uns in den neuen Technologien völlig eingebettet und zu Hause fühlten“.40 Vielleicht ist die angemessene Haltung gegenüber „dem verführerischen Charme“ neuer Technologien also weniger chaplinesk als vielmehr literarisch.41 Denn die Literatur bringt das Narrativ des Totalen Kinos nicht nur hervor, sondern reflektiert gleichzeitig dessen phantasmatischen Charakter, wie diese Studie zeigen konnte. So erweist sich der Traum vom Totalen Kino, auch und insbesondere dann, wenn er von Tech-Konzernen aus dem Silicon Valley geträumt wird, als Fortschreibung einer ursprünglich literarischen Präfiguration und getrieben von paragone-Argumenten, die bis zu antiken Bild- und Blickmythen zurückreichen. Dieser Hintergrund, den die hier versammelten Lektüren zu Tage treten ließen, lässt eine gewisse Skepsis gegenüber der (human‑)wissenschaftlichen Anwendung von Virtueller Realität gerechtfertigt erscheinen. Einer bildwissenschaftlich und medienhistorisch aufgeschlossenen Literaturwissenschaft kommt daher auch in Zeiten der anbrechenden Weltherrschaft von Google und Co. die Aufgabe zu, die Narrative hinter den Instrumenten des Erkennttestet wurde, wobei sich demnach „die neuronalen Muster […] bei virtueller Realität substanziell von jenen in der echten Welt“ unterscheiden. Siehe Albrecht, Harro / ​Schmitt, Stefan: Wie echt! In: Die Zeit (2.12.2015); http://www.zeit.de/2015 / ​49/ virtuelle-realitaet-technik-alltag. 38  Vgl. Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35; sowie außerdem das Einleitungskapitel. 39  Žižek: Die Pest der Phantasmen, S. 12 und S. 90. 40  Ebd., S. 90. 41 Ebd.

HÖHLENAUSGÄNGE ODER HÖHLENEINGÄNGE

nisgewinns offenzulegen und zu hinterfragen. Wie die Studie gezeigt hat, schließt das Sprechen über Totales Kino und Virtuelle Realität das Fehlgehen dieser Wirklichkeitssimulation ein und konzipiert damit ‚Realität‘ und ‚Wirklichkeit‘ als Begriffe, die sich der Erkenntnis als „unverfügbar, vielleicht auch unkontrollierbar“ entziehen.42 So warnt das Narrativ des Totalen Kinos in seinen vielschichtigen literarischen Narrationen, wie schon Platons Höhlenmythos, weniger davor, dass die Illusion den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, als vielmehr vor dem „demagogischen Realitätsentzug“.43

42 

Krämer: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun?, S. 15. Krämer formuliert dies in ihrem Text als Frage nach dem Erkenntnisgehalt der angeblich realitätsauflösenden Wirkung von Virtualität; diese Annahme kann am Ende dieser Studie indes bestätigt werden. 43  Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 117.

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(* Jene Filme, auf die im Verlauf der Arbeit hingewiesen wurde, weil in ihnen ein autoreflexiver Bezug zum Narrativ des Totalen Kinos aufscheint, werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit gesammelt und in chronologischer Reihe aufgeführt; wie bereits erläutert, sollen diese Schlaglichter auf filmische Imaginationen der Totalkinematographie keineswegs den Anspruch erheben, diesen Strang des Narrativs vollständig abzubilden, sondern vielmehr zu Folgearbeiten inspirieren oder zumindest aufzeigen, dass das Medium Film – anders als es ihm die untersuchten Romane mitunter unterstellen – durchaus eine autoreflexive Ebene besitzt und dass diese stark von literarischen Visionen des Totalen Kinos inspiriert ist.)

445

Dank Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Barbara Vinken, die meine Arbeit in zuvorkommender Weise und sowohl im persönlichen wie auch im fachlichen Gespräch anregend unterstützt und vorangebracht hat, sowie meinem Zweitgutachter Stephan Kammer, der durch seine ansteckende Begeisterung und seine kritischen Lektüren zum Gelingen des Projekts wesentlich beigetragen hat. Michael Rössner danke ich nicht nur dafür, dass er gerne das dritte Gutachten geschrieben hat, sondern auch für seine wohlwollende Ermunterung zwischendurch und den Austausch über mindestens zwei Autoren, die auch ihm besonders am Herzen liegen. Der Münchner Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft gewährte ein kollegiales und produktives Miteinander, finanzielle Unterstützung auf Reisen und Konferenzen sowie viele Stunden angeregter Diskussionen. Für Lektürehinweise, gute Gespräche und freundschaftliche Unterstützung danke ich meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen bei Pro-Lit und den beteiligten Professorinnen und Professoren. Als wissenschaftlich und persönlich besonders wertvoll werden mir die Monate in Erinnerung bleiben, die ich an der New York University forschen und lernen durfte. Und weil es während dieser ganzen Zeit jenseits der Dissertation auch noch ein journalistisches Leben gab, das die wissenschaftliche Arbeit bereichert und manchmal wohltuend durchkreuzt hat, gilt mein Dank auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung, insbesondere meinen Ressortleitern, dank deren Vertrauen und Flexibilität mir diese Jahre des halbierten beziehungsweise doppelten Arbeitens eher als Bereicherung denn als Anstrengung erscheinen.

Der Traum vom Totalen Kino

448

Für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Medien- und Gestaltungs­ ästhetik danke ich deren Herausgeber Oliver Ruf sowie außerdem Andreas Sieß und Kiron Patka, die Grafik und Satz besorgt haben. Dem Institut Lumière verdankt der vorliegende Band die Stills aus dem berüchtigten Zug-Film, die die Seiten zwischen den Kapiteln schmücken. Der VG Wort gilt mein Dank für die Übernahme der Druckkosten. Denen, die beim Korrekturlesen ihre Konzentration und ihre Augen bemüht haben, danke ich herzlich – allen voran meiner Mutter, die noch den kleinsten Tippfehler entdeckte und per Telefon durchgab. Meinen Eltern, Geschwistern und Freunden bin ich dankbar, weil sie mich auf je ihre Weise unterstützt haben, meinen Weg zu finden. Wolfgang schließlich danke ich, dass er diesen und viele weitere Wege mit mir geht. Ohne ihn wäre dieses Buch ein anderes und ich eine andere. *

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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