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German Pages [121] Year 2018
Jörg Bernardy
Der Traum vom neutralen Blick Parmenides und Wittgenstein als radikale Realisten
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813669
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B
Jörg Bernardy Der Traum vom neutralen Blick
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Jörg Bernardy
Der Traum vom neutralen Blick Parmenides und Wittgenstein als radikale Realisten
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Jörg Bernardy Dreaming of the neutral view Parmenides and Wittgenstein as radical realists
This essay describes the birth of factual reason and tells of the origin of the factual age from Parmenides and Wittgenstein up unto the present day. 2500 years separate Parmenides and Wittgenstein and yet both stand for radical realism and timeless ontology in the history of thought: they share a neutral and unobstructed view. Every neutral realism is an attempt to counteract the futility of life. Whether it be an imperturbable ball of being or a philosophical ladder that need to be overcome time and again – both represent a dream of an indestructible objective world of facts. Neutral realism thus signifies the formation of a timeless ontological truth in both antiquity and the 20th century which puts an end to the inexplicable paradox of the world. The Author: Jörg Bernardy, born in 1982, completed his PhD in philosophy and was research associate at the Staatliche Hochschule für Gestaltung (state college of design) Karlsruhe as well as at University Hildesheim. He lives in Hamburg as an independent author and has until recently worked for the weekly newspaper ZEIT’s »Akademie«. His illustrated book Philosophical Mental Leaps (Philosophische Gedankensprünge) has been published 2017 by the renowned youth book publisher Beltz & Gelberg.
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Jörg Bernardy Der Traum vom neutralen Blick Parmenides und Wittgenstein als radikale Realisten
Dieser Essay beschreibt die Geburt der faktischen Vernunft und erzählt vom Ursprung des faktischen Zeitalters bei Parmenides und Wittgenstein bis in unsere Gegenwart hinein. Parmenides und Wittgenstein trennen ganze 2500 Jahre und doch stehen beide für einen radikalen Realismus und eine zeitlose Ontologie in der Geschichte des Denkens: gemeinsam ist ihnen ein neutraler Blick von oben. Jeder neutrale Realismus ist ein Versuch, gegen die Sinnlosigkeit des Lebens anzugehen. Ob unerschütterliche Seinskugel oder philosophische Leiter, die immer wieder überwunden werden muss, beides verkörpert den Traum von einer unzerstörbaren, objektiven Welt der Tatsachen. Neutraler Realismus bedeutet daher in der Antike wie im 20. Jahrhundert die Errichtung einer zeitlosen ontologischen Wahrheit, um der unerklärbaren Paradoxie der Welt einen Riegel vorzuschieben. Der Autor: Jörg Bernardy, geboren 1982, hat in Philosophie promoviert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe sowie an der Universität Hildesheim. Er lebt als freier Autor in Hamburg und war zuletzt als Redakteur für die ZEIT Akademie tätig. Bei dem renommierten Kinder- und Jugendbuchverlag Beltz & Gelberg erschien 2017 sein illustriertes Buch Philosophische Gedankensprünge. Denk selbst.
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2. Auflage 2018 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48887-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81366-9
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Inhalt
I. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie . Ein Gedicht für den europäischen Wahrheitsdiskurs . Eine neue Ontologie der Wahrheit . . . . . . . . . . Ein Bildungsroman avant la lettre . . . . . . . . . . Das Gedicht als Form und Gedanke . . . . . . . . . . Wahrheit als Nicht-Ort und Umfunktionierung . . . Geburt der Zentralperspektive im Denken . . . . . . Die ästhetische, religiöse und genealogische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Opferung der Ontologie: Exkurs zu Bataille . . . Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht unter luhmannschen Beobachterordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Wiederholbarkeit zur Herrschaftsperspektive Der parmenideische Blick als Herrschaftsperspektive . Der Blick von oben als Traum vom neutralen Blick .
9 9 13 17 21 26 29
II. Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts . 1. Die literarische Form des Tractatus . . . . . . . . . . 2. Der Tractatus als Mythos und Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wittgensteins Neuformulierung des parmenideischen Diktums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Logische und ästhetische Undarstellbarkeit der Kugel
77 77
8. 9. 10. 11. 12. 13.
37 40 49 53 59 62 67
80 85 90 7
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Inhalt
5. 6.
Das Problem der Subjektpositionen . . . . . . . . . . Von der Ontologie zur Selbsterkenntnis . . . . . . .
94 98
III. Verachtung der postfaktischen Vernunft: Keine Angst vor der Postmoderne! . . . . . . . . . . 101 Bibliografie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
8 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
I.
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
»Man darf und muss das Bildliche mit dem Gedanklichen zusammenbringen und ineins setzen. In Versen wird auch der Gedanke selber mitgeteilt, nicht künstlich und äußerlich, sondern wesentlich. Mehr als sonst ist hier der Gedanke, wenn überhaupt, nur in der Form, in der der Philosoph ihn gab, verständlich.« Karl Jaspers
1. Ein Gedicht für den europäischen Wahrheitsdiskurs Die überlieferten Fragmente von Parmenides sind in mehrfacher Hinsicht Zeugen einer Schwellenzeit. Will man Karl Popper Glauben schenken, verdanken wir sie einer »neuartigen, […] kritischen Geisteshaltung, die einen erklärenden Mythos ins Licht der Kritik stellt«. 1 Parmenides bringt nicht nur die Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung auf unwiderrufliche Weise in den abendländischen Diskurs. Der Unterschied zwischen menschlicher Meinung und göttlicher Wahrheit hat zwar eine lange Tradition, jedoch wurde die Unterscheidung zwischen doxa und aletheia nie zuvor in einen so streng logischen Raum gestellt wie in Parmenides’ Gedicht über das Seiende. Darüber hinaus wird erstmals die bahnbrechende Trennung von Sinnlichkeit und Denken explizit, die erst in Platons Wirklichkeitskonzeption zur vollen Entfaltung kommen soll. Wie wir heute wissen, entwickelt sich diese parmenideisch-platonische Trennung von Sinnlichkeit und Denken mithilfe von Plotin und 1
Popper 2001, Die Welt des Parmenides, 182.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Augustinus zu einem Grundelement des abendländischen Diskurses. Kein Zweiter hat die ›Sinnenfeindlichkeit‹ dieser prägenden Unterscheidung so deutlich hervorgehoben wie Friedrich Nietzsche: »Damit vollzog er [Parmenides] die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren Folgen verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnisapparats: dadurch daß er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von ›Geist‹ und ›Körper‹ aufgemuntert, die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.« 2
Hans Blumenberg erkennt in dieser Hinsicht eine direkte Verbindungslinie von Parmenides und Heraklit zum Jenseitsdenken des Christentums. Damit aber nicht genug. Die Aussagen des Parmenides sind Urheber und Zeugen einer bis heute nachwirkenden Wahrheitsschau, mit der sich das Wissen des Weisen von den Meinungen der Sterblichen abgrenzen lässt. Nicht umsonst sieht Hans Blumenberg die Entstehung der »Philosophie mit der Entdeckung des Hiatus von Erscheinung und Sein, von Wahrnehmung und Denken«. Unter dieser Entdeckung werden die Menschen bereits in den Zeiten von Heraklit und Parmenides in zwei verschiedene Parteien eingeteilt: »in die unreflektiert der Erscheinung Hingegebenen und die auf das dahinterstehende eigentlich Wahre Durchdringenden, die nicht einmal aus eigenem Vermögen den Zugang zur Wahrheit finden, sondern der Einweihung wie in ein Mysterium bedürftig sind«. 3 Die Wahrheitsschau bei Parmenides trägt die unverkennbaren Züge einer solchen Einweihung. Sie ist eine Offenbarung für diejenigen, die hinter den Erscheinungen der Welt und hinter dem Schleier des Sinnlichen das wahre Sein erblicken.
2 3
Nietzsche 1988, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, 843. Vgl. Blumenberg 1973, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, 24 f.
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Ein Gedicht für den europäischen Wahrheitsdiskurs
Trotz dieser mystischen Züge ist Parmenides’ Gedicht Teil der Schwellenepoche, die in der Literatur vom Mythos zum Logos bezeichnet wird und die sich von Hesiod bis Platon zieht. Michel Foucault spricht hierbei von einer historischen Grenzziehung, die »unserem Willen zum Wissen zweifellos seine allgemeine Form gegeben« 4 hat. Er diagnostiziert die historische Entwicklung von einem wahren, rechtsprechenden Diskurs, »vor dem man Achtung und Ehrfurcht hatte und dem man sich unterwerfen musste, weil er der herrschende war«, zu einem wahren Diskurs, der seine Legitimation in seiner Aussagekraft hat. Der Wahrheitsanspruch des Diskurses liegt nicht mehr in seinem ritualisierten und praktischen Herrschaftsanspruch, sondern in seinem Aussagewert, in seiner Bedeutung. In Foucaults philosophischer Erzählung klingt das so: In der neuen Diskursart lag die »höchste Wahrheit nicht mehr in dem, was der Diskurs war, oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte: eines Tages hatte sich die Wahrheit von einem ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug. Zwischen Hesiod und Platon hat sich eine Teilung durchgesetzt, die den wahren Diskurs und den falschen trennte«. 5 Versucht man nun dieser historischen Diagnose einen konkreten Anfang zu geben, so kann man mit Blick auf das einzigartige Lehrgedicht aus der Antike sagen: Mit Parmenides artikuliert die faktische Vernunft zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte ihren ontologischen Wahrheitsanspruch. So gesehen steht das Gedicht von Parmenides nicht nur für die Begründung der faktischen Vernunft, es markiert auch den Beginn des faktischen Zeitalters in der europäischen Geistesgeschichte. Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass mit Sokrates und Platon der Mythos überwunden oder durch den Logos ersetzt 4 5
Foucault 2007, Die Ordnung des Diskurses, 14. Ebd.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
worden ist. Sei es beim existentialistischen Ethos des kurz vor dem Sterben begriffenen Sokrates, »dass man ein bestimmtes angemessenes Schicksal der Seele zu glauben riskieren könne« 6 , oder auch beim Demiurgenmythos des Timaios-Dialogs. Der Mythos taucht bei Sokrates und Platon nachhaltig wieder auf. Er wird vom Logos nicht aus der Philosophie verdrängt. Mit der Einführung des Logos partizipiert das Gedicht auch am Verschriftlichungsprozess der Philosophie. Es verkörpert die Grenzziehung zwischen wahrem und falschem Diskurs, da Schrift als menschliches Produkt nicht als göttliche Offenbarung gelten kann. Durch Verschriftlichung büßen Überlieferungen ihren göttlichen Charakter ein. 7 Diese Wirkung lässt sich mit der platonischen Schriftkritik erläutern. Nach Platon ist das geschriebene Wort unbelebt und vaterlos, da es, von der Autorität des Sprechers gelöst, beliebig gewendet werden kann. Dies führt vor allem dazu, dass das geschriebene Wort geprüft, Anfang und Ende eines Textes verglichen werden können. Diese Wiederholbarkeit, Manipulation und Transparenz, denen der Text ausgeliefert ist, verträgt sich kaum mit göttlicher Autorität oder Logik. Daher hat Parmenides mit seinem Gedicht an der schriftlichen Materialisierung von philosophischen Gedanken mitgewirkt, anders als sein Lehrer Xenophanes, der die Kritik an mythologischen Göttervorstellungen vor allem mündlich unters Volk gebracht hat. In dritter Hinsicht steht die parmenideische Poetik für eine einzigartige Verbindung von Ästhetik und Wahrheit, in der Erhabenheit und genealogischer Blick auseinander hervorgehen und einander bedingen. Dies geht aus dem Aufbau des Gedichts und seiner Darstellungsweise hervor, die sich nur in Verbindung mit dessen Wirkung auf den Leser zeigen lässt. Durch vermeintlich abrupte Trennung von Mythologisch-Ästhetischem, Ontologisch-Philosophischem und Kosmologisch-Wis6 7
Blumenberg 1973, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, 33. Schlaffer 2005, Poesie und Wissen, 52.
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Eine neue Ontologie der Wahrheit
senschaftlichem auf der Inhaltsebene macht Parmenides etwas sichtbar, was in heutiger philosophischer Literatur kaum noch zu leisten ist: die unterschiedlichen formalästhetischen Perspektiven, die die jeweiligen Inhalte voraussetzen. Auf diese Weise zeigt er Reduktionsprozesse, die im anschauenden Denken vollzogen werden. Die parmenideische Vorstellung des Seienden als Kugel kann man vielleicht mit dem vergleichen, was Brunelleschis Erfindungsexperiment der Zentralperspektive entspricht. Parmenides entwirft in seinem Gedicht die Zentralperspektive im anschauenden Denken, in dessen Zentrum die Kugelgestalt zum Diagramm des Seins projiziert wird. Diese Zentralperspektive wird möglich durch den Blick von oben – »sub specie aeterni«, wie Wittgenstein sagen würde. Im Folgenden möchte ich das Funktionieren des Textes in seiner literarischen Form aus Sicht eines gegenwärtigen Lesers nachvollziehen. Ausgehend von der literarischen Dimension wird die wirkmächtige Urszene beschrieben, die sich in dem Gedicht von Parmenides verbirgt. Es handelt sich um das erste Seinsdiagramm in der abendländischen Geistesgeschichte: ein historisches Erfindungsexperiment, dessen Versuchsanordnung und Experimentalsystem aus einer heutigen Lese- und Denkerfahrung heraus sichtbar gemacht werden soll.
2. Eine neue Ontologie der Wahrheit Im Allgemeinen wird die poetische Form des parmenideischen Gedichts nicht als sonderlich kunstvoll oder originell bewertet. Nur wenige Autoren loben die Einzigartigkeit oder Besonderheit des parmenideischen Stils. Ganz im Gegensatz zu Heraklits Weisheitssprüchen, die eine lange Tradition von Verehrern hervorgerufen haben. Hervorgehoben wird oft der nachhaltig irritierende Gedanke, den Parmenides der abendländischen Denktradition hinterlassen hat. Insbesondere Heidegger hat trotz seiner Kritik an einer geläufigen Betrachtung des parmenidei13 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
schen Textes als Lehrgedicht dazu beigetragen, dass die poetische Form in ihren einzelnen Facetten zugunsten einer Idee des anfänglich Gedachten unberücksichtigt bleibt. Stilistisch inspiriert von Hesiod und Homer, steht Parmenides gemeinsam mit Heraklit für einen Fortschritt in der Form, der sich nach einer These Nietzsches im Medium älterer Formen vollzogen hat. 8 Sowohl Heraklit als auch Parmenides weichen in der literarischen Artikulationsform von der Prosa der milesischen Naturphilosophie ab, die auf epische Form und die damit verbundenen Konventionen verzichtete. Heraklit wählt die Form der aphoristischen Weisheitssprüche, Parmenides den mythologisch-poetischen Vers aus der Tradition der epischen Dichter, meist Hexameter. Sowohl Empedokles als auch Lukrez folgen Parmenides in dieser Form und verfassen Lehrgedichte in epischer Form. 9 Was das parmenideische Gedicht vor allen anderen auszeichnet, ist eine spezifische Verbindung von Form und Inhalt, welche Epik, Offenbarung mit Wahrheitsanspruch und rationalistische Kosmologie zusammenführt. Damit finden sich einerseits gedankliche Anlehnungen an Hesiod und Xenophanes, andererseits Bezüge zu Topoi aus der Dichtung Homers. Nicht zuletzt scheint Parmenides mit seinem zweiten Hauptteil zur Natur in der Tradition der milesischen Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes zu stehen, wenngleich er nicht wie diese nach dem materiellen Ursprung (arché) aller Dinge im Sinne eines Ur-Stoffes fragt. Mit dem religiösen Charakter rückt das parmenideische Lehrgedicht wiederum in engste Verwandtschaft zur Theogonie von Hesiod. Allerdings täuschen inhaltliche und formale Ähnlichkeiten nicht über einen fundamentalen Unterschied hinweg: Während bei Hesiod der Anspruch auf Wahrheit darauf beruht, dass die Göttinnen diese ausgesprochen haben, beruht die Autorität der parmenideischen Göttin auf dem Logos, dem richtigen Reden und Denken, das 8 9
Vgl. hierzu Niehues-Pröbsting 2004, Die antike Philosophie, 46. Hölscher 1969, Vom Wesen des Seienden, 65.
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Eine neue Ontologie der Wahrheit
der Jüngling selbst beurteilen und erlernen soll. Sie fordert den Jüngling auf, ihr Argument mit eigenem Denken zu beurteilen und zu überprüfen: »(…) sondern beurteile mit dem Denken die hart bestreitbare Widerlegung, die von mir vorgebracht worden ist«. 10 So apodiktisch und bestimmt dieser monologische Wahrheitsbefehl auch auftritt, er verlangt von seinem Zuhörer, seine Entscheidung selbst zu treffen. Die Autorität der Aussage wird in der Entscheidung und im urteilenden Denken des Jünglings (und Lesers) verortet, nicht in einer äußeren Wahrheitsinstanz. Die göttliche Stimme ist lediglich der Garant dafür, dass etwas ausgesagt wurde. Sie ist keine Gewährleistung für die Wahrheit der Aussage. Form und Inhalt des Gedichts zeigen damit die Verschiebung von einem ritualisierten Diskursakt, dessen Wahrheit in ihm selbst liegt, hin zu einer Ritualisierung der Aussage, deren Wahrheit erst überprüft werden muss. Der parmenideische Text ist in dieser Hinsicht ein außergewöhnlicher Repräsentant der ›historischen Grenzziehung‹, die Foucault für die europäische Rationalität diagnostiziert hat. Das Gedicht ist, wie oben bereits beschrieben, das historische Gründungsdokument der faktischen Vernunft mit ihrem für die abendländische Geschichte so typischen ontologischen Wahrheitsanspruch. Vor allem für den modernen Leser stellt es aber eine Herausforderung dar, dass dieser scharfe Wahrheitsanspruch zusammen mit einer so poetisch-ästhetischen Form, Offenbarung und Kosmologie artikuliert wurde. Und gerade deswegen ist es interessant zu sehen, wie Ästhetik, Wahrheit und Offenbarung auf genealogische Weise im Gedicht zusammenhängen. Im Zentrum dieser Betrachtungsweise steht die literarische und visuelle Funktionsweise des Gedichts. Form und Inhalt des parmenideischen Gedichts dienen einer Erprobung und Aneignung der Methode, einen philosophischen Text ausgehend von seiner literarischen Form und funktionalen Wenn nicht anders angegeben, sind alle folgenden Parmenides-Zitate aus der Übersetzung von Uvo Hölscher entnommen.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Materialitätsgebundenheit – im poststrukturalistischen Sinne – zu lesen. Diesem textästhetischen Ansatz liegt die These zugrunde, dass sich der Zusammenhang von Wahrheit und ästhetischer Erfahrung nicht nur auf der Ebene der Form zeigt, sondern Wahrheit und Ästhetik auch inhaltlich unzertrennlich miteinander verwoben sind. Die Verwendung des Begriffs der Ästhetik impliziert in diesem Fall die poetische Form und das Erhabene in seiner Erfahrungsdimension. Das Erhabene ist nicht nur Gegenstand ästhetischer Überlegungen von Aristoteles bis zur Gegenwart, es ist fundamental für das literarische Funktionieren des Gedichts und die daran gebundene Wahrheitsschau. Vor allem das Erhabene als Erfahrung der Erhebung über das Sinnliche zeigt sich in dem von Parmenides offenbarten Erkenntnisprozess. So findet die Form ihren Niederschlag im Inhalt und der Inhalt ist umgekehrt in der Form manifest. Eine weitere These lautet, dass die poetische Form des Gedichts die Eigenschaft bereithält, dem Leser die Stimme der Göttin auf besondere Weise einzuverleiben. Ein derartiger rezeptionsästhetischer Deutungsansatz versucht zugleich, die nietzscheanische Dekonstruktion von der Einverleibung der Wahrheit ins Positive umzukehren. Eine Umkehrung würde zeigen, dass die Einverleibung der ausgesagten ›Wahrheit‹ (besser: Perspektive) nur mittels kognitiver Einbeziehung der Gedichtform funktioniert und diese auch für heutige Leser erfahrbar ist. Das radikale Scheitern, das Karl Jaspers der Begegnung zwischen dem Jüngling und der Göttin an einem Nicht-Ort in Rechnung stellt, kann zwischen ontologischer (Heidegger) und kosmologischer Lektüre (Popper) vermitteln. Mit Berücksichtigung einer genuinen Verbindung von Wort und Bild soll der vorliegende Auslegungsversuch ein neues Verständnis von Darstellungsform und Dargestelltem im parmenideischen Gedicht leisten.
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Ein Bildungsroman avant la lettre
3. Ein Bildungsroman avant la lettre In der Übersetzung von Uvo Hölscher beginnt das Gedicht folgendermaßen: »Die Stuten, die mich fahren so weit nur mein Wille dringt, trugen mich voran, da sie mich auf den Kunde-reichen Weg der Göttin gebracht hatten, der den wissenden Mann durch alle Städte führt. Darauf fuhr ich: da nämlich fuhren mich die aufmerksamen Stuten, die den Wagen zogen; und Mädchen lenkten die Fahrt.«
Mit diesem Einstieg sind wesentliche Rahmenbedingungen der poetischen Situation eingeführt: Es geht um einen Ich-Erzähler, der sich mithilfe eines von Stuten gezogenen Wagens auf einer Reise befindet, die normalerweise dem wissenden oder weisen Mann vorbehalten ist. Der Reiseweg, der offenbar in einem Zusammenhang mit dem Göttlichen steht, führt durch alle Städte. Das heißt, er durchmisst den gesamten und bis dato bekannten Bevölkerungsraum der Menschheit. Weg, Raum und Wissen bilden im ersten Vers eine Einheit, die den bekannten Lebensraum der Menschen umfasst. Zunächst fällt die konkrete Anschaulichkeit auf, mit der uns der Jüngling von der Reise erzählt. Er berichtet von der »Achse« des Wagens, die »den Kreischton einer Rohrpfeife von sich (gab) vor Hitze«, da diese getrieben wurde »von den zwei gedrehten Rädern zu beiden Seiten«. Die Anschaulichkeit wird noch gesteigert, wenn das Sich-Öffnen der Torflügel beschrieben wird: »Und das, im Aufspringen, ließ einen gähnenden Schlund aus den Türflügeln erscheinen, während es seine bronzebeschlagenen Pfosten, mit Nägeln und Nieten gezimmert, einen nach dem andern in die Pfannen drehten.« Diese Ästhetik des Konkreten mit einer homerischen Liebe zum Detail steht im Kontrast zur metaphorischen Ebene, die an gleicher Stelle eröffnet wird. Zunächst verweist die Beschreibung des wissenden Mannes, der »durch alle Städte« geführt wird, auf eine konkrete Ebene. Man 17 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
kann real oder imaginativ reisen und Wissen, das ein vielgereister Mensch anreichert, kann seinen Horizont erweitern, ihn in Menschenkenntnis und Lebenserfahrung auszeichnen. Die Verbindung des ›Weitgereisten‹ mit der ›Weisheit‹ findet ihr Vorbild in der Dichtung Homers, ebenso wie die Wagenfahrt bei Homer ihren prominenten Ursprung hat. Es liegt nahe, in der Wagenfahrt eine Metapher für das Denken zu sehen: »Der Welterfahrene, der beliebig im Geiste sich hierhin oder dorthin versetzt, ist auch das Motiv des Parmenides«, schreibt Uvo Hölscher. »Der Weg des Dichtens wird zum Weg des Denkens: (der Weg seines guten ›Dämons‹).« 11 Allerdings geht das Proömium nicht ganz in der metaphorischen Auslegung auf, so dass man die Wagenfahrt nicht wie Sextus Empiricus auf eine Allegorie für die philosophische Kontemplation reduzieren kann. Indem Parmenides sich poetischer Vorbilder bedient und auf die Autorität der Dichter anspielt, bleibt ein poetisch-konkreter Rest, der auch durch die spätere Lehre der Göttin nicht ausgelöscht wird. Zudem verdeutlicht die weitere Verwendung einschlägiger Metaphern von Licht und Dunkelheit, dass die poetische Form einen konkreten Bezug zum Leben der Menschen aufweist. Die Hell-Dunkel-Dichotomie wird auch von den Personen im Gedicht getragen. So sind es die »Sonnenmädchen«, die sich beeilen, den Jüngling »voranzufahren, hinter sich das Haus der Nacht, dem Lichte zu (…)«. Wir müssen uns also einen Wagen vorstellen, der auf ein helles Licht zufährt und zugleich das »Haus der Nacht« hinter sich lässt. Diese Metapher taucht in Gestalt der Tag-Nacht-Entgegensetzung wieder auf: »Da ist das Tor der Straßen von Nacht und Tag, und ein Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle. Das Tor selber, aus Ätherlicht, ist ausgefüllt von großen Türflügeln.«
Das beschriebene Tor trennt Tag und Nacht oder, genauer gesagt, die Straßen und Wege, die hell erleuchtet sind von den 11
Hölscher 1969, Vom Wesen des Seienden, 70.
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Ein Bildungsroman avant la lettre
dunklen Straßen. Das Tor fungiert als Schwelle zwischen Nacht und Tag, Dunkelheit und Licht, und besteht selbst aus Helligkeit, nämlich aus Ätherlicht. Es ist in keiner Weise angedeutet, ob es sich um einen Auf- oder Abstieg handelt, daher ist es nicht plausibel, bereits eine Aufstiegsbewegung in die Hell-DunkelMetapher hineinzulesen. Diese »Metapher des Schattens und des Lichts« hat Derrida zu Recht als »jene begründende Metapher der okzidentalen Metaphysik« 12 bezeichnet: bei Parmenides steht die philosophische Geburt von Licht und Wahrheit im Namen eines durch und durch positivistischen wie sinnstiftenden Seins. Es ist diese altorientalische Entsprechung zwischen Dunkelheit und Unwissenheit, Licht und Erkenntnis, die analog zur Unterscheidung von Sinnlichkeit und Denken bei Platon endgültig in die Diskursformation der abendländischen Ontologie eingeht. An diese Differenz zwischen erkenntnisloser Nacht und erhellendem Tag schließt die Unterscheidung von Meinung (doxa) und Wahrheit (aletheia) an, die bei Parmenides mit zwei verschiedenen Wegen der Erkenntnis identifiziert wird. Der Weg der Wahrheit, von dem die Göttin spricht, ist wiederum an einen anderen bekannten Topos des Denkens gebunden. Die Wahrheit ist nur erkennbar in der Einsamkeit und in der Distanz zum alltäglichen Geschäft der Menschen: »Heil dir! Denn es war kein schlechtes Geschick das dich leitete, diese Reise zu machen – sie liegt ja wahrlich fernab vom Verkehr der Menschen.«
Auffällig ist zudem, dass es sich um Stuten handelt. Das Weibliche spielt auch im weiteren Verlauf eine dominante Rolle, wenn es heißt: »und Mädchen lenkten die Fahrt«. Das Auftreten weiblicher Personen wird erweitert durch die Göttin »Dike, die genau vergeltende«, die dem Ich-Erzähler nach »sanften Reden« der Mädchen ein Tor öffnet, zu dem nur sie den Schlüssel hat. Dass es sich bei dem Erzähler um einen Jüngling handelt, erfährt 12
Derrida 2000, Die Schrift und die Differenz, 47 f.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
man erst, nachdem die Göttin, zu der die Mädchen den Wagen führen, zu ihm spricht: »Und die Göttin empfing mich freundlich, sie ergriff mit ihrer Hand meine Rechte und redete mich an und sprach diese Worte: Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen!«
Erst diese Stelle lässt erkennen, dass sich ein Jüngling auf dem Weg zu einer namenlosen Göttin befindet. Um dorthin zu gelangen, muss er durch ein Tor, von dem die Göttin Dike die Schlüssel besitzt. Die weiblichen Figuren sind vielfältig und stehen in einem überproportionalen Verhältnis zu dem einen männlichen Pol. Da die Göttin die rechte Hand des Jünglings ergreift und dieser sich auf dem Weg des wissenden Mannes befindet, lässt sich folgern, dass es sich um ein Initiationserlebnis handelt, bei welchem der junge Mann zum erwachsenen Mann wird. Die Topologie der Weiblichkeit im ersten Teil des Gedichts legt eine solche Interpretation nahe, in der Reise des Parmenides ein Initiationsritus mit schamanistischen Elementen zu sehen. Für Martin Heidegger wiederum steht die Anrufung der Musen dafür, dass der anrufende Dichter immer schon der Angerufene ist und »im Anspruch des Seins« steht. Die Musen markieren damit den Ort, »an dem der Denker als Denker steht. Der Ort ist daimonios topos.« 13 In der griechischen Kultur hat die Rolle der weiblichen Inspiration von jeher Tradition, etwa die Musen bei Homer oder die Kalliope bei Empedokles. Wir werden sehen, dass sich der parmenideische Jüngling in einem Schüler-Lehrer-Verhältnis zur Göttin befindet und sich im Verlauf des Gedichts vom Lernenden zum Lehrenden entwickelt. Wir haben es hier mit einem Bildungsroman avant la lettre zu tun.
13
Heidegger 1992, Parmenides, 188.
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Das Gedicht als Form und Gedanke
4. Das Gedicht als Form und Gedanke Im Prinzip beruht die neue Ontologie der Wahrheit auf folgender Aussage: »Richtig ist, das zu sagen und zu denken, dass Seiendes ist; denn das kann sein; Nichts ist nicht: das, sage ich dir, sollst du dir klarmachen.« Man kann diesen einen Gedanken in zwei Sätzen ausdrücken, die sich wie zwei Tautologien lesen. 1. Das Sein ist. 2. Das Nichts ist nicht. Daher kommt die scheinbar tautologische Wahrheit auch in der Form einer Offenbarung daher. Sie will sich gegen das abgrenzen, was nicht existiert. Götter, Dämonen, Wunder, Mythen und andere Vorstellungen, die auf Aberglauben beruhen, existieren nicht. Und dass diese Dinge nicht existieren, bedeutet in diesem Fall, dass sie nicht denkbar sind. Wie sein Lehrer Xenophanes steht Parmenides jeder Anthropomorphisierung des Göttlichen kritisch gegenüber. 14 Umso erstaunlicher ist es, dass eine Göttin die Hauptrolle im Gedicht spielt. Die parmenideische Göttin unterscheidet sich allerdings von den Göttern aus den griechischen Mythen. So erfährt man nichts über ihre äußere Gestalt. Es gibt keine Möglichkeit, sich ein Bild von ihr zu machen. Die Göttin wird auf ihr Wort, ihre Aussagen reduziert. Ihr wird keine bestimmte Form, kein bestimmter Ort gegeben. Sie ist »reichlich abstrakt« 15 , wie Martin Heidegger lakonisch anmerkt. Heidegger interpretiert die Göttin als Botin und Übermittlerin des Gedankens: »Die Göttin begrüßt den bei ihrem Haus angekommenen Denker und eröffnet ihm zugleich das, was er inskünftig erfahren muss. Es ist das, was für diesen Denker das zu Denkende sein wird und fortan in der Geschichte der Wahrheit das anfänglich zu Denkende bleibt. Hieraus erkennen wir leicht, obzwar nur erst im groben, dass das Wesen dieser Göttin ›Wahrheit‹ alles über den Denker und das zu Denkende entscheidet.« 16 Zur Kritik an der Anthropomorphisierung bei Xenophanes und Heraklit siehe Popper 2001, Die Welt des Parmenides, 60 f. und 89–92. 15 Heidegger 1992, Parmenides, 7. 16 Ebd., 21. 14
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Heidegger begreift die Göttin gerade nicht als Personifizierung von Wahrheit, sondern »die Göttin ist die Göttin ›Wahrheit‹. Sie selbst – ›die Wahrheit‹ – ist die Göttin.« 17 Er vermeidet die Redewendung »Göttin der Wahrheit«, die signalisieren könnte, dass Göttin und Wahrheit getrennte Wesen seien: Eine Göttin auf der einen Seite und eine Wahrheit auf der anderen Seite, die unter göttlichem Schutz steht. Heidegger meint hingegen, dass weder die Wahrheit als Person auftritt noch die Göttin als Wahrheit. Wenn überhaupt, ist es die Wahrheit selbst, das anfänglich Gedachte, das, durch die namenlose und reichlich abstrakte Göttin verkörpert, die Stimme erhebt. Dennoch muss man feststellen, dass sich Parmenides mythologischer Verkleidung bedient, um seiner Vernunftoffenbarung eine literarische und ästhetische Gestalt zu geben. Literarisch gesehen handelt es sich um ein Gedicht, auf der inhaltlichen Ebene zeigt sich die Schilderung eines Offenbarungserlebnisses, das sich im zweiten Teil zu einer Kosmologie entwickelt. Steht die Versform für formale Kontinuität, scheint der Inhalt mehrfach gebrochen. Die inhaltliche Diskontinuität bedeutet jedoch nicht, dass das Auftauchen der Göttin lediglich poetisches Hilfsmittel wäre, um den philosophischen Gedanken vorzubereiten. »Der Bericht der Himmelfahrt aus dem Dunkeln ins Helle ist nicht poetische Beigabe des Gedankens«, so Karl Jaspers in seiner Lesart des Parmenides, »sondern sinnlich-bildliche Gestalt des Gedankens selbst: Die Wahrheit wird zuteil, göttliche Mächte helfen, den Weg zur Göttin zu führen, die die reine Wahrheit mitteilt, der eigene Wille zur Wahrheit ist selber diesen göttlichen Charakters. Es ist kein langsamer, langer Weg, sondern eine schnelle und plötzliche Fahrt.« 18 Die mythologische Form, ebenso wie die poetische, ist mehr als Einkleidung eines rationalistischen Denkens. Wer wie Martin Heidegger nur den logischen Gedanken des »es ist, und Sein 17 18
Ebd., 6 f. Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 643.
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Das Gedicht als Form und Gedanke
ist notwendig« als Errungenschaft von Parmenides betont, kann dies nur unter Ausblendung des mehrfach gebrochenen Kontexts des gesamten Gedichts tun. In dieser Hinsicht bemerkt Heinrich Niehues-Pröbsting zu Recht, der »Mangel an ästhetischer Geschlossenheit und Harmonie von Form und Inhalt bestärkt die Tendenz, einseitig den Gedanken des Parmenides zu favorisieren und gegen die unbefriedigende Gestalt, in der er sich präsentiert, auszuspielen«. 19 Allerdings wird dabei nicht nur die poetische Form verfehlt, sondern der Gedanke selbst, der untrennbar mit seiner ästhetischen Gestalt verbunden ist. Eine integrative Lesart des Parmenides, wie ich sie unter Einbeziehung der literarischen Form verteidigen möchte, endet nicht in einem radikalen Rationalismus oder in der Geburt der Ontologie. Die vorhandenen Widersprüche in den drei unterschiedlichen Teilen des Gedichts und das Scheitern der Wahrheitsschau relativieren eine solche Lesart. Dies ist es, was Heidegger in seiner Bestimmung der Wahrheit als in sich strittiges und in sich streitendes Wesen übersieht: dass das entbergende Anblicken der Unverborgenheit scheitert. Mitten im Gedicht ereignet sich ein Bruch und unterbricht zugleich die Einübung in die Seinserkenntnis, in dem Moment nämlich, als die Göttin (wider)spricht: »Hier beendige ich dir die zuverlässige Überlegung und das Denken um die Wahrheit. Sterbliches Wähnen lerne von hier an verstehen, wenn du das trügerische Gefüge meiner Worte hörst. Zwei Erscheinungsformen nämlich haben sie entschieden zu nennen, von denen eine allein (zu nennen) nicht angeht. Hier sind sie auf dem Irrweg. Und sie haben die Gestalt nach entgegengesetzten Richtungen geschieden und ihre Erkenntniszeichen voneinander getrennt gesetzt: hierin das ätherische Feuer der Flamme, als das milde, ganz leichte sich selber überall gleiche, dem anderen ungleiche; aber auch jene (andere) für sich 19
Niehues-Pröbsting 2004, Die antike Philosophie, 47.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
auf die entgegengesetzte Seite, die unbewusste Nacht, als dichte, schwere Gestalt. Diese ganz und gar passend erscheinende Welteinrichtung verkündige ich dir, so wird gewißlich niemals irgendeine Ansicht von Sterblichen dich überholen.«
Dem kritischen Leser wird klar, dass die Gegenüberstellung von Hell und Dunkel nicht mehr den Ort der göttlichen Wahrheit charakterisieren kann. Die Gegenüberstellung ist durch das Ausgesagte selbst undenkbar. Das helle Haus der Göttin, das dem Haus der Nacht gegenübersteht, muss sich als Offenbarungsillusion sterblicher Vorstellungskraft entpuppen. Die Charakterisierung ist widersprüchlich, da der Ort im ambivalenten Schein der Gegensätze situiert ist. Karl Jaspers formuliert dies so: »Was ihm (dem Jüngling) offenbar wurde, das Licht, der Tag gehört zu Wahrheit und Sein, was er hinter sich ließ, das Dunkel, die Nacht gehört zum Meinen und Schein, zum Nichtsein. Aber mehr noch: der Unterschied von Licht und Nacht ist selber zum Schein gehörig. Aus dem Kreise des Scheins, im Schein bleibend, hört er, was auch diesen Aufschwung ins Licht zum Schein macht.« 20 Tatsächlich befindet sich der Jüngling mit der Göttin innerhalb desjenigen Raums, der vorher als Schein und Meinung abgetan wurde. Es ist aus purer Unwissenheit, dass die Sterblichen zwischen hell und dunkel unterscheiden. Das Haus im Licht, in dem die Göttin den Jüngling empfängt, muss aber nun selbst als Teil der Scheinwelt erkannt werden. Dies berührt den Kern der Topologie des Gedichts. Wird die Auseinandersetzung mit der Wahrheit selbst als Teil der Scheinwelt entlarvt, hat die Aussage »dass Seiendes ist« keine Exklusivität mehr. Während die Wahrheit im Sagbaren jenseits aller menschlichen Gegensätze behauptet wird, geschieht die Sichtbarmachung des Raums dieser Wahrheit durch die Dichotomie von Licht und Dunkelheit. Das 20
Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 646 f.
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Das Gedicht als Form und Gedanke
Haus der Göttin ist in zweifacher Sicht problematisch. Zunächst als Ort des Lichts, zu dem nur wenige Menschen Zugang haben. Dann als Ort der Wahrheit, da er selbst auf dem Hell-DunkelGegensatz beruht, dessen Wahrheit zuvor bestritten wurde. Der Raum der Wahrheit impliziert damit seine eigene Unmöglichkeit in der Darstellung seiner Räumlichkeit. Diese Interpretation ist aber nicht zwingend. Es ist möglich, sich den Ort der Göttin als transzendenten Raum jenseits von Tag und Nacht vorzustellen. Das Tor wäre dann diejenige Instanz, die den Ort der Sterblichen vom Ort der Transzendenz trennt und zugleich verbindet. Allerdings entstünden hier andersartige Probleme, zum Beispiel die metaphysische Frage nach der Möglichkeit von Transzendenz und Erkenntnis derselben. Wie sollen Standpunkt und Ort der Erkenntnis in einem Raum jenseits aller Gegensätze möglich sein und dennoch auf diese zurückgreifen und verweisen können? Wie ist der Übergang von einer Erkenntnis im transzendenten Raum in die Welt der Gegensätze zu erklären? Wie kann die göttliche Perspektive die einzelnen menschlichen Standpunkte des Scheins wissen? Und wie könnte es einem menschlichen Subjekt möglich sein, die göttliche Perspektive jenseits räumlich-zeitlicher Erkenntnisbedingungen zu erkennen? Man kommt nicht umhin zuzugeben, dass die Göttin bei Parmenides als höchst ambivalente Figur angelegt ist. Sie ist Herrin beider Welten und kennt sowohl die göttlich-vernünftige als auch die sterblich-sinnliche Perspektive. Nicht zuletzt betont sie selbst, dass der Jüngling Einsicht in die menschliche Scheinwelt erhalten soll, allerdings in einem Bewusstsein, das zwischen beiden unterscheidet. Diese Unterscheidungskompetenz macht die göttliche Perspektive zu einer schillernden Position. Ihr lässt sich mit der bloßen Frage nach Wahrheit und Logik ohne Widerspruch nicht – schon gar nicht mit Aristoteles’ Satz vom Widerspruch – beikommen. Es kann demnach im Folgenden weniger darum gehen, das Gedicht unter dem Aspekt von Wahrheit versus Widersprüchlichkeit zu betrachten, als darum, 25 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
die literarische Ausgestaltung der in der Widersprüchlichkeit entstehenden Spannung zu beobachten.
5. Wahrheit als Nicht-Ort und Umfunktionierung Wie gesehen sind Ort und Figur der Göttin höchst widersprüchlich und ambivalent. Mit dem japanischen Philosophen Ryôsuke Ohashi lässt sich sagen, »dass die Grundbedeutung aller Logik die Negativität ist«. 21 Ohashi bezieht sich mit dieser Aussage auf seinen Kollegen Iwao Kôyama, der den Ort des Denkens vor allem als Logik der Entsprechung begriffen hat. 22 Während die Seinslogik von Parmenides selbst einem radikalen Prinzip ontologischer Entsprechung folgt, hat der Ort der Göttin selbst keine Entsprechung in der empirischen Wirklichkeit. Es sind Widerspruch und Paradoxie, die den Aussageraum der Göttin als Nicht-Ort charakterisieren. Der Ort der parmenideischen Wahrheit ist die Zuspitzung einer hyperrealen Utopie. Er ist ein fiktiver Durchgangsort, der die Welt der Sterblichen und das Denken der Göttin miteinander verbindet. Dies macht den Ort des Gedichts zu einem Nicht-Ort 23 und offenbart die Nega-
Ohashi 2016, Die Philosophie der Kyoto-Schule, 284. Iwao Kôyama zufolge gibt es keine Entsprechung ohne Identität: »Wo es aber Entsprechung gibt, da gibt es stets auch deren Identität. Bei der Verwendung des Begriffs der Entsprechungsidentität sollten wir uns allerdings stets bewusst sein, dass es außer der Entsprechung keine andere identische Wesenheit, überhaupt keine Identität gibt. Entsprechung ist stets notwendig Entsprechungsidentität«, vgl. Kôyama 2016, Die Philosophie der KyotoSchule, 287. 23 Der Begriff des Nicht-Ortes wurde zunächst von dem französischen Kulturanthropologen und Theoretiker Marc Augé geprägt und bezeichnet monofunktionale Orte wie Einkaufszentren, Autobahnen, Flughäfen und Bahnhöfe. Nicht-Orte sind in ihrer Monofunktionalität negativ charakterisiert, durch fehlende Geschichte, kulturelle Werte, Relationen und Identität. Es sind klassische Transitorte und Schnittstellen, die Augé vor Augen hat, wenn er schreibt: »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere 21 22
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Wahrheit als Nicht-Ort und Umfunktionierung
tivität, auf der die parmenideische Logik letztlich beruht. Die Göttin existiert nicht in ihrer präsentierten Gestalt, sie entpuppt sich als Fiktion, deren Ort von einer Sichtbarkeit im Text und von der Wahrnehmung des Lesers durchdrungen wird. Als Fiktion muss der Nicht-Ort der Wahrheit aber erst erkannt werden. Mit Foucault gesprochen impliziert ein solcher Nicht-Ort als das Undenkbare eine Distanz, eine Wesensdifferenz zwischen Sichtbarem und Sagbarem. Ein Nicht-Ort ist in diesem Sinne ein Beleg dafür, dass Sicht- und Sagbares nicht dem gleichen Raum angehören und nicht von derselben Form abhängen. 24 Der französische Philosoph Michel de Certeau hat im Nicht-Ort eine Bewegung der Umkehrung entdeckt und die fehlende Identität zum Prinzip einer möglichen Umfunktionierung erklärt. 25 Diese Denkfigur der Umfunktionierung, die eine umkehrende Verschiebung ist, soll auf die weitere Lektüre übertragen werden. Im Folgenden wird der Ort der Wahrheit umfunktioniert, so dass er nicht mehr darauf reduziert wird, die eine Wahrheit bedeuten zu müssen. Angenommen, das Gedicht sei in seiner literarischen Form einerseits ein Beleg für die Unterschiedlichkeit der Regime des Sehens und des Aussagens, so müsste man andererseits das Sichtbare ignorieren, um das Sagbare als unbestreitbare Wahrheit zu akzeptieren. Kann aber der Erkennende das Sichtbare ausblenden bei einem Gedankengang, in dem Sichtbares und Sagbares auf engste Weise aufeinander bezogen sind? Besteht darin nicht sogar der höchste Befehl der Göttin, auf die gesamte sinnliche Wahrnehmung zu verzichten und das Wesen des Seienden nur über das Denken zu erkennen? Dies widerspricht der göttlichen Aussage, dass gerade die Sprache keine Erkenntnis-
Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit«, vgl. Augé 1994, Orte und Nicht-Orte, 120 f. 24 Deleuze 1992, Foucault, 98. Zur Disjunktion von Sprechen und Sehen bei Foucault vgl. ebd., 87–98. 25 Certeau 1989, Kunst des Handelns, 197 f. und 342.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
funktion hat und nur der Benennung der Gegensätze dient. Denken im parmenideischen Logos ist nicht an seinen sprachlichen Ausdruck gebunden. Eine Trennung zwischen Sichtbarem und Sagbarem ist also ebenso problematisch wie eine Loslösung des Gedachten vom Sichtbaren. Was das Gedicht sehen lässt, ist etwas anderes als das, was es sagt. Dieser im Kern des Gedichts angelegten Paradoxie muss sich jede Interpretation stellen. Es ist der existenzphilosophischen Ausrichtung Jaspers geschuldet, dass er dem Scheitern eine große Bedeutung beimisst, und darum verwundert es auch nicht, wenn er aus diesem Widerspruch ein Scheitern der parmenideischen Wahrheit diagnostiziert: »Am Anfang der spekulativen Philosophie steht sogleich die Unmöglichkeit: das eigene Unternehmen wird in den Bahnen, auf denen es sich vollzieht, durch den Sinn der erlangten Wahrheit vernichtet. Die Philosophie scheitert und verschwindet, indem sie zu ihrer Wahrheit gelangt. Sie spricht sich aus um den Preis, ihre schon erlangte Wahrheit wieder zu verlassen.« 26 Eine ähnliche Interpretation, wenn auch mit anderen Motiven, schlägt Popper vor, wenn er schreibt, dass sich »die Reise zum blendenden Licht der Wahrheit […] als Illusion heraus[stellte] – eine Vor-Offenbarungsillusion«. 27 Ich möchte die Idee des Scheiterns (Jaspers) und den Vorschlag der Illusionsgeschichte (Popper) in meiner Analyse aufnehmen, nicht um der Philosophie des Parmenides ein allgemeines Scheitern zu attestieren, sondern um das Gedachte in seiner Form zu retten. Dafür müssen einige Dimensionen erläutert werden, die für das Funktionieren des Gedichts bedeutend sind. Entscheidend ist die bildliche Ebene samt dazugehöriger Perspektive und Blickführung, die sich im Verlauf des Gedichts ändert. Diese Formanalyse beeinflusst den Inhalt derart, dass das Gedicht unter ihren Vorzeichen weder als reine 26 27
Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 647. Popper 2001, Die Welt des Parmenides, 374.
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Geburt der Zentralperspektive im Denken
Ontologie noch als reine Kosmologie gelesen werden kann. Die Form des Gedichts, die für die Lektüre wie für das Verständnis wesentlich ist, deutet auf andere Schlüsse und Erkenntnismöglichkeiten. Ausgehend von Heideggers räumlicher Bestimmung des »Wesensortes« der Wahrheit bei Parmenides soll nun der ambivalente und widerstreitende Kern des parmenideischen Gedichts in seiner Eigenschaft als Nicht-Ort umfunktioniert werden. An die Stelle der Wahrheitsfrage tritt die Frage nach der ästhetischen Darstellungsweise des Gesagten. Einen prominenten Platz nimmt die ästhetische Erfahrung des Erhabenen ein. Der Eindruck des Erhabenen ist für den Erkenntnisprozess des Seienden im Gedicht wesentlich. Als dessen primäre Voraussetzung lässt sich im Anschluss an Heidegger eine spezifische Distanz, ein Zurücktreten vor dem Sein auf der Seite des Erkennenden ausfindig machen. Durch diese Art der Umfunktionierung des Nicht-Ortes wird nicht die Frage nach der Wahrheit aufgegeben. Vorgenommen wird lediglich eine Verschiebung der Analyse, die mehr auf das Wie der Wahrheit achtet als auf ihr Was: Zu klären ist nicht primär die Frage, was etwas ist, sondern wie etwas dargestellt wird: Wie wird der Nicht-Ort der Wahrheitsoffenbarung sichtbar und wahrnehmbar gemacht? Wie wird das Gesagte visualisiert, das Sichtbare dargestellt? Welche Perspektive wird eingenommen? Wie lassen sich sowohl das Sichtbare als auch das Sagbare in dem Wie ihrer literarischen Darstellung und Verfahrensweise beschreiben?
6. Geburt der Zentralperspektive im Denken In seiner Parmenides-Vorlesung beginnt Heidegger mit dem unverwechselbaren Anfang des philosophischen Denkens: Heraklit und Parmenides. Der Anfang des griechischen Denkens ist keine zeitlose Wahrheit, »vielmehr ist das Gedachte dieses Denkens gerade das eigentlich Geschichtliche, was aller nachfol29 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
genden Geschichte vorauf- und d. h. vorausgeht«. 28 Sichtbar wird hier Heideggers topologisches Denken, das dem geschichtlich Gedachten räumlich-zeitliche Struktur verleiht. Der geschichtliche Anfang von Parmenides und Heraklit liegt nicht in einer Vergangenheit, sondern er liegt dem Zukünftigen voraus. Der Anfang des Denkens ist ein künftiger Moment nach der uns bevorstehenden Zukunft. Daher ist er für Heidegger das »Voraufgehende und alle Geschichte Bestimmende«. 29 Die Zeit der Geschichte wird zwar punktuell gedacht, dies jedoch in der Räumlichkeit seiner in jedem zukünftigen Moment wiederkehrenden und vorausgehenden Anfänglichkeit. Im weiteren Verlauf dekonstruiert Heidegger die gängigen Parmenides-Interpretationen. Seine zentralen Kritikpunkte betreffen die poetische Form, die Figur der Göttin und die geläufige Vorstellung einer Ablösung des Logos vom Mythos. Parmenides’ Text sei weder eine Lehre noch ein Gedicht. 30 Auch Poetisches lässt sich Heidegger zufolge nicht in dem vermeintlichen Lehrgedicht finden. Begründet werden diese ästhetischen Urteile nicht. Heidegger erblickt in der Artikulationsform von Parmenides – ebenso in den Formen von Anaximander und Heraklit – einen Spruch. 31 Ein Spruch hat für Heidegger einen Ganzheitsanspruch, der sich nicht mehr in verschiedene Aussagen aufgliedern lässt: »Der Spruch meint das Ganze ihres [der Göttin] Sagens, nicht nur einzelne Sätze und Aussprüche.« 32 Die Anfänge des griechischen Denkens ereignen sich in monolithischen Sprüchen. Eine Antwort auf die Frage nach der parmenideischen Göttin kann man Heidegger zufolge erst geben, wenn man wagt, das Ganze des Spruchs vorwegzunehmen. Alternativ spricht Heidegger auch von der Sage. Zur wesentlichen Erkenntnis, die den parmenideischen Spruch nicht inner28 29 30 31 32
Heidegger 1992, Parmenides, 1. Ebd. Ebd., 3 f. Ebd., 4. Ebd.
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Geburt der Zentralperspektive im Denken
halb einer Entwicklung vom primitiven zum reiferen (wissenschaftlichen) Denken sieht, gehört folgende: »Im Unterschied zur Meisterung des Seienden ist das Denken der Denker das Denken des Seins. Ihr Denken ist das Zurücktreten vor dem Sein.« 33 Diesem Gedanken entspricht Heideggers konsequente Behauptung, dass die Göttin nicht nur als poetisches Vehikel zu betrachten sei. Ihr Sein erschöpft sich nicht in ihrer Darstellungsfunktion. Es geht nicht um die Repräsentation einer Form, sondern um das Wesen der Wahrheit selbst. Denn, »wenn wir ohne Beweis vorwegnehmen, dass die Göttin Aletheia im ›Lehrgedicht‹ des Parmenides nicht nur zum Zweck der ›poetischen‹ Ausschmückung erscheint, dass vielmehr ›das Wesen‹ ›Wahrheit‹ das Wort des Denkers überall durchwaltet, dann ist es nötig, im voraus das Wesen der aletheia zu klären.« 34 Leider geht Heidegger im weiteren Verlauf kaum noch auf die parmenideische Sage ein. Das Gedicht wird nur bis zum Begriff der aletheia zitiert und besprochen. Danach folgt eine historische, nicht chronologische Genealogie des Wahrheitsbegriffs von den griechischen Anfängen Homers und Platons über römische und mittelalterliche Latinisierungen bis hin zu Kant, Nietzsche und Spengler. Letztlich entwickelt Heidegger zwar seine eigene Philosophie, das Ganze des parmenideischen Spruchs denkt er allerdings nicht zu Ende. Das »Zurücktreten besonderer Art« wird nicht in seiner ganzen Auswirkung und Breite erfasst. Wir erfahren von Heidegger noch weitere interessante Details: dass zum Erscheinen des Seins das Ungeheure und das Gotthafte gehören, das dem Sein nicht nachträglich zugesprochen wird. 35 Und dass die Göttin in Parmenides’ Proömium Aletheia heißt, weil sie »die Nennung des Wesensortes« ist, »an dem der Denker als Denker steht«. 36 Die philosophische Be33 34 35 36
Ebd., 10. Ebd., 15 f. Ebd., 182. Ebd., 188.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
stimmung dieses Ortes, mit allen philologischen und seinsgeschichtlichen Beziehungen, spielt Heidegger in zahlreichen Varianten, Neuformulierungen und philologischen Raffinessen durch. Wie bereits bei der Interpretation des Höhlengleichnisses läuft die heideggersche Wahrheitsanalyse auf ihre Unverborgenheit hinaus. Für unseren Kontext ist davon vor allem eine Sinngebung von Bedeutung, die Heidegger eher am Rande erwähnt. »Die Unverborgenheit liegt, so scheint es doch, mit der Verborgenheit in einem ›Streit‹, dessen Wesen strittig bleibt« 37 , so schreibt er. Allerdings geht es ihm nicht nur um eine in ihrem Wesen mit der Verborgenheit streitenden Unverborgenheit, sondern um eine erstrittene Wahrheit, um die auch unter Menschen gerungen wird. Die gesuchte Wahrheit ist nämlich vor allem selbst das »Umkämpfte« und »abgesehen vom Kampf des Menschen um es, in seinem Wesen ein Streit: ›Unverborgenheit‹.« 38 Wenn wir diese Dimension des Streits dem »Zurücktreten besonderer Art« gegenüberstellen und dieses Zurücktreten in seinem Wesen als strittig annehmen, kommt es zu einer anderen und nietzeanischen Streitsituation, die bei Heidegger unbemerkt geblieben ist. Es geht um die Aussage der Göttin, dass der Mensch die Wahrheit nur fernab menschlicher Gemeinschaft finden kann. Diese Aussage wird mit dem Zurücktreten vor dem Sein zum Streitfall. Der Mensch, der Wahrheit spricht, erhebt sich mit seiner Stimme abseits der üblichen Sichtweise der gewöhnlichen Menschen. Er tritt zurück und erblickt eine Aussicht besonderer Art. Der wahrschauende Mensch blickt aus einer erhabenen Position heraus. Er überschaut das Ganze des Seins und erhebt sich über das Nichtsein. In dieser Erfahrung der Erhabenheit überblickt er das Unverborgene und treibt das Verborgene aus seinem Sichtfeld. Die Erfahrung des Erhabenen, bei welcher der Jüngling vor dem Sein zurücktritt, hat zwei zentrale Dimensio37 38
Ebd., 23. Ebd., 25.
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Geburt der Zentralperspektive im Denken
nen, die in der Unterscheidung von Sein und Nichtsein ihren Höhepunkt finden. Die erste Dimension liegt in der Ansprache durch die Göttin ›Wahrheit‹, die ein Ausgewähltsein vor allen anderen ist. Diese Dimension sei hier aufgrund ihrer distanzschaffenden Bewegung genealogisch genannt. Die zweite Dimension zeichnet sich durch Offenbarung einer (tautologischen) Aussage aus, die folgendermaßen lautet: »Richtig ist, das zu sagen und zu denken, dass Seiendes ist; denn das kann sein; Nichts ist nicht: das, sage ich dir, sollst du dir klarmachen.« An diesem Punkt entsteht die Auseinander-Setzung, der Streit der Wahrheit als Unverborgenheit. Die Auseinandersetzung ereignet sich als ausschließende Bewegung unter Ausschluss des Nichtseins. Die strittige Auseinander-Setzung geht mit einer Unterscheidung zweier scheinbar unvereinbarer Wege einher: »So komm denn, ich will dir sagen – und du nimm die Rede auf, die du hörst – welche Wege des Suchens allein zu denken sind. Der eine: dass (etwas) ist, und dass nicht zu sein unmöglich ist, ist der Weg der Überzeugung, denn die geht mit der Wahrheit. Der andere: dass (etwas) nicht ist, und dass nicht zu sein richtig ist, der, zeige ich dir, ist ein Pfad, von dem keinerlei Kunde kommt.«
Der Preis der Unverborgenheit ist eine Vertreibung des Verborgenen in die Welt des Undenkbaren. Damit wird die Dichotomie von Sein und Nichtsein auseinandergerissen und zugunsten eines lückenlosen Seienden aufgelöst. Die Dichotomie von Sein und Nichtsein ist eine primary distinction 39 , die ihre eigene Logik generiert. Auf dieser begründet das Gedicht seine rätselhafte und zugleich tautologische Logik der unverborgenen Wahrheit: »So bleibt einzig noch übrig die Rede von dem Weg, dass (etwas) ist«, spricht die Göttin. Dabei gibt es »viele Kennzeichen« (Fr. 8, Vgl. hierzu Luhmann 1997, Die Kunst der Gesellschaft, 150. Luhmann bezieht sich auf die primary distinction von außen/innen, verweist aber auch auf die ontologische Dimension von Sein und Nichtsein.
39
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Z. 2), die das wahre Seiende ausmachen. Dazu gehören zahlreiche Eigenschaften wie z. B. »ungeworden«, »unvergänglich«, »ganz und einheitlich«, »unerschütterlich«, »vollendet«, »eins«, »zusammenhängend«, »als ganzes gleichmäßig«, »unbeweglich«, »anfanglos«, »endelos«, »vollkommen«, »unverletzlich« und »gleich der Masse eines wohlgerundeten Balls« (vgl. Fr. 8, Z. 3–48). Bei der letzten Eigenschaft kommt ein besonderes visuelles Vorstellungsvermögen ins Spiel. Der aufmerksam zuhörende Jüngling wird von der göttlichen Stimme dazu angeleitet, sich das Sein als einen runden Ball vorzustellen. Nun ist die Visualisierung des Seins als Kugel im Denken zwar möglich, allerdings definiert Parmenides seine Kugel als etwas, das man nicht quantitativ bestimmen kann. Wenn das Sein das Ganze ist und die Kugel dieses Ganze darstellt, dann kann es kein »Größer oder Kleiner« geben und auch kein »Da oder Dort«. 40 Dies bringt Helmuth Vetter in seiner Neuübersetzung des Gedichts und in seinem Kommentar zu Parmenides folgendermaßen auf den Punkt: »Verneint werden hier quantitative Bestimmungen und in Verbindung mit ihnen solche des Ortes.« 41 Bereits Friedrich Nietzsche hatte diesen Widerspruch bei Parmenides entdeckt und vehement kritisiert. So schreibt er über die ortlose Einheit von Denken und Sein, die ihm zufolge nur mit dem Verlust jedweder Versinnlichungsmöglichkeit, Phantasie und Vorstellungskraft möglich ist: »So war der überverwegene Einfall nothwendig geworden, Denken und Sein für identisch zu erklären; keine Form der Anschaulichkeit, kein Symbol, kein Gleichniß konnte hier zu Hülfe kommen; der Einfall war völlig unvorstellbar, aber er war nothwendig, ja er feierte in dem Mangel an jeder Versinnlichungsmöglichkeit den höchsten Triumph über die Welt und die Forderungen der Sinne. Das Denken und jenes knollig-kugelrunde, durch und durch todt-massive und starr-unbewegliche
40 41
Vetter 2016, Parmenides: Sein und Welt, 181 Ebd.
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Geburt der Zentralperspektive im Denken
Sein müssen, nach dem Parmenideischen Imperativ, zum Schrecken aller Phantasie, in Eins zusammenfallen und ganz und gar dasselbe sein.« 42
Entgegen Nietzsches Position soll hier auf das imaginative und kognitive Versinnlichungsmoment aufmerksam gemacht werden, mit dem Parmenides’ Darstellung den Jüngling und den Leser in Anspruch nimmt. Wie gesagt steht in diesem Lektüreansatz weniger das Was der Aussage im Fokus, also die von Nietzsche verurteilte Einheit von Denken und Sein, sondern das Erkenntnisinteresse richtet sich auf das Wie der Darstellung. Wenn auch für Nietzsche gerade die Darstellung der Kugel Beleg dafür ist, »daß sie nicht von den Sinnen entlehnt ist« 43 , so übersieht er die kognitive Dimension und damit die Ästhetik der Perspektive, die in der anschaulichen Darstellung der Kugel impliziert ist. Dabei hebt Nietzsche sehr wohl die Besonderheit an der parmenideischen Erkenntnisform hervor, wenn er das Sein ohne äußeren Raum beschreibt: »So schwebt es, begrenzt, vollendet, unbeweglich, überall im Gleichgewicht, in jedem Punkte gleich vollkommen, wie eine Kugel, aber nicht in einem Raume: denn sonst wäre dieser Raum ein zweites Seiendes.« 44 Tatsächlich besteht das Problem analog zum oben dargelegten Problem des Ortes darin, dass die Kugel nicht in einem Raum vorgestellt werden darf. Vielmehr ist der Raum, in dem diese schwebt, Teil der Perspektive des Erkennenden. Die Szene, die mittels Visualisierung der Kugel dargestellt wird, ist die Manifestation der Zentralperspektive im Denken. Dabei überrascht analog zu Brunelleschi die Einfachheit der äußeren Anordnung des Experiments. 45 Zudem verweist die von Nietzsche verurteilte Unvorstellbarkeit und Unmöglichkeit des parmenideischen Experiments auf einen Erfahrungshorizont, der nicht explizit 42 43 44 45
Nietzsche 1988, KSA 1, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, 850. Ebd. Ebd., 843. Haß 2005, Das Drama des Sehens, 83.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
im Gedicht ausgesprochen wird. »Es ist, als ob sich in diesem Experiment ein bestimmter Erfahrungshorizont konzentrierte, der selbst strikt außersprachlich bleibt und der dennoch genau mit der Banalität dieses Experiments verschwistert ist« 46 , schreibt Ulrike Haß über Brunelleschis Experiment. Auf das Gedicht übertragen heißt dies: Die Banalität der parmenideischen Einheit enthält »eine Stelle der absoluten und nachhaltigen Sprachlosigkeit« 47 , von der eine paradigmatische Wirkung ausgeht. Es ist die Frage nach dem erkennenden Subjekt, dessen Position im textuellen Visualisierungsprozess des Seins weder angegeben noch thematisiert wird. Die Perspektive der Seinserkenntnis wird auf der Aussageebene als neutral und objektiv postuliert. In seiner zentralperspektivischen Einstellung der Totalen ist der Blick auf das Seiende als Ganzes gerichtet, in der das Subjekt jedoch impliziter Teil des Erkenntnisraums ist. Die Perspektive steht nicht unabhängig vom Subjekt als symbolische Form im optischen Raum. In dieser Perspektive ist es der subjektivierte Blick von oben par excellence, dessen räumliche Konfiguration sich als Diagramm des Denkens abendländischer Philosophie identifizieren lässt. Mit der visuellen und diagrammatischen Dimension wird das Gedicht von Parmenides zu einer Blickschule für das philosophische Denken. In seiner Zentralperspektive zeigt das parmenideische Gedicht die ästhetische, religiöse und genealogische Dimension des Denkens und konstituiert ein Kräfteverhältnis, dessen Form sich als Diagramm des Denkens verallgemeinern lässt. Die anschauliche Figur der diagrammatischen Darstellungsform ist die Kugel – nicht als geometrisches Objekt, sondern als intuitive Gestalt aus der subjektivierten Zentralperspektive des Denkens.
46 47
Ebd. Ebd.
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Die ästhetische, religiöse und genealogische Dimension
7. Die ästhetische, religiöse und genealogische Dimension Denker wie Nietzsche und Heidegger haben nicht nur übersehen, dass die Form intuitiver Anschaulichkeit in der Gestalt der Kugel als diagrammatische Form des Denkens bereits enthalten ist. Sie haben auch die kommunikative Leistung der diagrammatischen Inszenierung zu wenig gewürdigt. Die Worte der Göttin, die den Jüngling zur intuitiven Imagination der Kugel anleiten, versetzen ihn zugleich in einen Zustand ästhetischer Erfahrung. Die ästhetische Erfahrung des Erhabenen kommt dadurch zustande, dass diese Attribute auch dem Betrachter zukommen, indem er sich mit ihnen aus der Distanz des Anblickens identifiziert. In diesem Prozess kommunikativ vermittelter Identifikationsleistung entspricht der Jüngling dem Funktionsmuster des Helden im literarischen Kontext. 48 Das hierbei zu Grunde liegende heuristische Modell umgreift nach Hans Robert Jauß »den Spielraum der ästhetischen Erfahrung zwischen kultischer Partizipation und ästhetischer Reflexion«. 49 Andererseits sind aber Identifikationsvorgänge nicht auf Beziehungen zwischen Personen beschränkt. »Die Identifikation mit dem Dargestellten kann sich an anderen Relevanzfiguren, aber auch an einer paradigmatischen Situation vollziehen, was im besonderen eine primäre Ebene der lyrischen Erfahrung charakterisiert.« 50 So gibt es nicht nur die Möglichkeit, dass sich der Leser mit dem Jüngling identifiziert. Das Wesentliche ist, dass der Betrachter sich mit dem Erkenntnisobjekt identifiziert. Alle genannten Attribute gehen auf Beobachter und Zuhörer über, der vor dem Sein zurücktritt und mittels der blickführenden Stimme das wohlgeformte Seiende in seiner Kugelgestalt betrachtet. Vor diesem Hintergrund wird in einer weiZum Prozess kommunikativ vermittelter Identifikation im Akt des Lesens vgl. Jauß 1991, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 244–292. 49 Ebd., 246 f. 50 Ebd., 245. 48
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
teren Hinsicht deutlich, dass das Erkenntnissubjekt Teil der Perspektive ist. So bildet der geschilderte Übertragungsprozess die wichtigste kognitive Dimension der Erfahrung des Erhabenen und markiert zugleich deren Höhepunkt, indem sie die paradigmatische Situation der Seinserkenntnis schlechthin repräsentiert. Es sind all jene Vollkommenheitsattribute des unverborgenen Seienden, die das Gefühl des Erhabenen bis zu seinem Höhepunkt treiben. Das Gedicht stellt einen unwiderruflichen Konflikt dar, in den sich das Denken beim sehenden Erkennen begibt. Es zeigt die Synchronizität der verschiedenen Erfahrungs- und Einstellungsebenen, die sich bei der Schwelle vom religiösen zum ästhetischen Zustand des Denkens ergeben. Man kann mit Hans Robert Jauß sagen, dass sich an dem Gedicht »der Übergang von kultischer Partizipation zu assoziativer Identifikation« zeigt, der »an einer historischen Schwelle zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung erläutert werden (kann)«. 51 Parmenides thematisiert das Experiment, das der wissende Mensch mit sich eingeht, wenn er auf eine höhere Ebene vertraut, die nicht mehr letztbegründet werden kann. Er zeigt die Widersprüchlichkeit des logischen Denkens, indem dessen ästhetische, religiöse und genealogische Dimensionen sichtbar werden. Diese Dimensionen können nicht historisch getrennt gesehen und in einer Stufenabfolge dargestellt werden. Parmenides zeigt das Gegenteil, nämlich wie sehr der Anspruch des logischen Raums mit religiösen, ästhetischen und genealogischen Perspektiven verwoben ist. Analog zu Odysseus als »Urbild (…) des bürgerlichen Individuums« 52 bei Horkheimer und Adorno tritt der Jüngling in Parmenides’ Gedicht als Urbild des erhabenen Weisen auf. In Parmenides’ Dichtung tritt der erhabene Weise von der Welt zurück und stellt sie sich zugleich im reinen Denken als Objekt vor. Es ist die Geburt des autonomen Individuums, das sich von 51 52
Jauß 1991, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 248. Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, 50.
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Die ästhetische, religiöse und genealogische Dimension
der Rolle des passiven Hörenden und Lernenden zur Rolle des selbstbestimmten Erkennenden und Lehrenden entwickelt und sich damit von der göttlichen Stimme emanzipiert. Die isolierte Welt als Objekt ist zugleich die Emanzipation vom Göttlichen. Wie gesagt fordert die Göttin den Jüngling im Anschluss an die wahre Seinserkenntnis dazu auf, das »Wähnen« der Sterblichen zu verstehen und die Genese der »ganz und gar passend erscheinenden Welteinrichtung« nachzuvollziehen. In ihrer Abgrenzungsbewegung enthält die genealogische Distanz also eine Hinwendung zu den Sterblichen. Die Göttin warnt den Jüngling, er solle auf »das trügerische Gefüge« ihrer Worte achten, um den Irrweg der Menschen zu durchschauen. Helmuth Vetter zufolge unterscheidet Parmenides zwischen zwei Irrwegen: der Erkenntnis der milesischen Kosmologen auf der einen Seite und der Erkenntnis der sterblichen »Doppelköpfe« 53 auf der anderen Seite. Beide Gruppen landen im Nichts, denn den einen »fehlt der Blick, der das Eine vorwegnimmt«, und den anderen fehlt das »wahre Vertrauen« in das Sein. 54 Nach dieser Offenbarung der »runden Wahrheit unerschütterliches Herz« soll der Jüngling die vermeintlichen Unterschiede und Gegensätze der Welt kennenlernen. Es geht dabei um die kosmologische Entstehung und den Aufbau des Planetensystems, wie es durch die Wahrnehmungen und Benennungen der Sterblichen ausdifferenziert wurde. Bei der aufzählenden Betrachtung der Genese und der einzelnen Komponenten des Kosmos wird die Zentralperspektive aufrechterhalten. Der Raum der Kugel wird mit verschiedenen Farben, Formen und Entstehungsgeschichten von Himmelskörpern und Weltschauspielen gefüllt. Doch dieser genealogische Einblick in die Kosmologie der Welt verlangt ein Opfer. Der sich emanzipierende Jüngling erleidet Schiffbruch in dem Moment, als er das eigene Scheitern – und nicht nur das Scheitern der göttlichen Wahrheit – er53 54
Vetter 2016, Parmenides: Sein und Welt, 172. Ebd.
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kennt. Es ist der oben erwähnte Akt der Emanzipation, der in einem impliziten Bruch zwischen Offenbarung und kosmologischer Weltbeschreibung stattfindet und in seiner dialektischen Bewegung zugleich zwischen einer rein ontologischen oder rein kosmologischen Lesart vermitteln kann.
8. Die Opferung der Ontologie: Exkurs zu Bataille Mit der Warnung, auf das ›trügerische Gefüge‹ ihrer ›Worte‹ zu achten, ereignet sich in der Rede der Göttin ein zweifacher Bruch, der bereits mithilfe von Heideggers Überlegungen zur Unverborgenheit als Streit bestimmt worden ist. Dieser zweifache Bruch schlägt sowohl auf die Göttin als Sprecherin zurück als auch auf den Jüngling in seiner Rezipientenrolle. Er geschieht unauffällig, lässt aber aufhorchen und bereitet die Möglichkeit einer Umfunktionierung der Wahrheit vor. Die göttliche Offenbarung der Regeln und Gesetze, mit denen die Sterblichen die Ordnung der Welt wahrnehmen, führt die Begegnung zwischen Göttin und Jüngling in ein Dilemma. Ein verräterisches Licht fällt auf den Ort der Göttin, da er sich in den Entgegensetzungen von Tag und Nacht befindet. Der Gegensatz Tag/ Nacht steht aber auf der Seite der Sterblichen, er entspricht nicht dem göttlich-logischen Blick auf die Welt. Der Raum der Göttin stellt sich somit als Unding heraus. Gemäß der göttlichen Lehre ist er undenkbar. Jaspers interpretiert diesen Umstand als Scheitern der gesamten Lehre der Göttin, was für sich genommen plausibel ist. Es lässt jedoch unberücksichtigt, dass sich der Bruch nicht nur im Sprechen der Göttin vollzieht, sondern dass sich dieser auch auf den Jüngling auswirkt. Letzterer erleidet Schiffbruch und muss schwimmen zwischen allen sterblichen Behelfseinrichtungen, die als Trümmerhaufen des Scheins – als »passend erscheinende Welteinrichtung« – entlarvt wurden. Nicht primär eine göttliche Lehre scheitert, sondern der dargestellte Erkenntnisgang des Jünglings erfährt einen Bruch. 40 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Die Opferung der Ontologie: Exkurs zu Bataille
Das Scheitern der Erkenntnis der Welt führt zu einer tiefsinnigen Selbsterkenntnis, die im Gedicht nur als Bruch der göttlichen Wahrheit dargestellt ist. An der Bruchstelle ereignet sich ein Wechsel von der göttlichen Perspektive in die menschliche Perspektive. Von der Erkenntnis des Seins zur Selbsterkenntnis. Die Stimme der Wahrheit wird zur eigenen. Der Wahrsprechende ist nun Parmenides, der sich an den Rezipienten richtet. So nimmt auch Popper an, dass es sich bei dem zweiten Weg der sogenannten Meinung (doxa) um Parmenides’ Kosmologie handelt. 55 Es spricht nichts gegen eine solche Interpretation, wenngleich sie keine Kontinuität in den sprechenden Stimmen unterstellt. Das Lehrgedicht ist keine Offenbarung, bei der die Göttin von Anfang bis Ende über das Gesagte entscheidet. Vielmehr spricht zunächst, nach der einleitenden Erzählung des Parmenides (Proömium), die Göttin als Wahrheit selbst und anschließend wieder Parmenides, der zur wahrsprechenden Stimme wird. Diesen Sprecherwechsel, so meine These, macht allein die Form des Gedichts möglich. Die Sprechersubjekte können wechseln und sich verändern, ohne dass dies eigens angegeben wird. Der Sprecherwechsel wird zudem von der inhaltlichen Ebene gestützt. Auffällig ist, dass Autorität und Legitimation der Göttin von Beginn an relativiert werden. Es wird gesagt, dass die Stuten den Jüngling fahren, so weit sein »Wille« reicht, d. h., bereits im ersten Satz werden eigene Willens- und Erkenntniskraft des Wissenden hervorgehoben. Dass die Göttin keinen Namen hat, deutet an, dass keine Figur aus bekannten Mythen die Wahrheit überbringen soll, sondern die namenlose Göttin eine Neuschöpfung des Berichterstatters ist. Die Göttin ist möglicherweise Produkt einer individual-ethischen Erfahrung, die Vgl. dazu auch die Ausführungen von Friedrich Nietzsche, der die parmenideische Kosmologie auf die Naturphilosophie von Anaximander zurückführt. Nietzsche 1988, KSA 1, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, 836–838.
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keiner kollektiven Bestätigung bedarf, sei es seitens anderer Götter oder Menschen. In diesem Fall wären die Aussagen der Göttin aber höchst bestreitbar. Zunächst wird ihre eigene Existenz in Zweifel gezogen, da sie die höchste Wahrheit in einen strengen logischen Raum stellt, in dem es keinen Platz für Götter zu geben scheint. Alles, was existieren und wahr sein kann, muss wahrnehmbar und denkbar sein: »Denn was eben nicht ist, kannst du wohl weder wahrnehmen – denn das ist unvollziehbar – noch aufzeigen.« Die Göttin eröffnet damit einen rästelhaften Nicht-Ort, da ihre eigene Stimme dem strengen Postulat des Logischen zum Opfer fallen muss. Dieses Zum-Opfer-fallen ist allerdings keine Negation der göttlichen Stimme als vielmehr ein stillschweigender und unhintergehbarer Rest an Nicht-Ort, auf den die höchste Wahrheit bezogen bleibt. Das Zum-Opferfallen innerhalb der eigenen und für die eigene Wahrheit ist somit der Bezug des Opfers zur Wahrheit. Fällt aber die Form dem Inhalt zum Opfer, muss sich auch der Inhalt verändern, so dass verständlich ist, warum der logische Raum des Parmenides, der uns durch die Göttin offenbar wird, bis heute ein paradoxes Rätsel darstellt. Hier ist entscheidend, wie sich dieser Bruch auf den beobachtenden Jüngling auswirkt. Im Übergang von Fragment 8 zu Fragment 10 des Gedichts gibt es eine Leerstelle zwischen der Stimme der Göttin und der Stimme des Jünglings. Als Kuros steht der Jüngling in einem Schüler-Lehrer-Verhältnis zur Göttin und mutiert im Verlauf des Gedichts vom Lernenden zum Lehrenden. 56 Die Parmenides-Forscherin Martina Stemich Im griechischen Text bezeichnet Parmenides den Jüngling als Kuros, ein Begriff, der aus der Mysterienliteratur stammt und dort einen einzuweihenden Jüngling meint. Im heutigen Sprachgebrauch versteht man darunter meist die antike Statue eines jungen Mannes. Parmenides ist der erste Philosoph, der diesen Begriff verwendet und damit seine eigene Entwicklung vom Jüngling zum wissenden Mann und eingeweihten Philosophen beschreibt. Vgl. hierzu Vetter 2016, Sein und Welt, 84 f. und vor allem Stemich 2008, Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis, 52 ff.
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nimmt die Leerstelle wahr, deutet diese aber lediglich als Emanzipationsakt des Jünglings: »Nun kündigt sich eine verwirrende Anleitung beim Anschluss der Rede über die Wahrheit an. Beim Übergang im Lehrgedicht vom ersten zum zweiten Teil bemerkt die Göttin, der Kuros solle ihrer nicht vertrauenswürdigen Rede über sterbliche Dinge zuhören, damit er unübertrefflicher Bester sei. Auf diese Zeilen folgt eine Lehre, die nicht mehr in der Anredeform formuliert ist, sondern als unpersönliche Anreihung von Tatsachenwissen. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um die wissenschaftliche Erkenntnis des Parmenides handelt.« 57
Der Übergang von den letzten Worten der Göttin zu den ersten Worten der wissenschaftlichen Lehre ist nicht erhalten, daher müssen wir ihn füllen. Was passiert an dieser Stelle? Vielleicht stürzt der Jüngling in einen Zustand der Verzweiflung. Vielleicht wird aber auch erst durch die Infragestellung des göttlichen Logos der Zugang zum eigenen Logos möglich. Vielleicht muss die Stimme der Göttin in der Unmöglichkeit ihres eigenen Nicht-Ortes zusammenbrechen, damit der Jüngling selbst zum eingeweihten Weisen, der Lernende zum Lehrenden werden kann. Man könnte sich den Schiffbruch als innere Erfahrung ausmalen, ihm die Stimme von Georges Bataille leihen, damit der Bruch als Zusammenbruch der Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Stimme hörbar wird. Der Übergang von Fragment 8 zu Fragment 10 könnte folgendermaßen aussehen. Die parmenideische Göttin spricht: »Diese ganz und gar passend erscheinende Welteinrichtung verkündige ich dir, so wird gewißlich niemals irgendeine Ansicht von Sterblichen dich überholen.«
Die innere Erfahrung des Jünglings mit den Worten von Bataille:
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Ebd., 63.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
»(Vergessen von allem. Tiefes Hinabsteigen in die Nacht der Existenz. Unendliches Flehen der Unwissenheit, Ertrinken in der Angst. Über den Abgrund hingleiten und in der vollständigen Dunkelheit das Entsetzen spüren, das von ihm ausgeht. Erzittern, verzweifeln in der Kälte der Einsamkeit, im ewigen Schweigen des Menschen (Torheit eines jeden Satzes, trügerische Antworten der Sätze, nur das verrückte Schweigen der Nacht antwortet). Das Wort Gott, sich seiner bedient haben, um den Grund der Einsamkeit zu erreichen, aber seine Stimme nicht mehr kennen und hören. Sie ignorieren. Gott letztes Wort, das sagen will, dass kurz darauf jedes Wort fehlen wird: die eigene Beredtheit bemerken (sie ist nicht zu vermeiden), darüber lachen bis zum blöden Stumpfsinn (das Lachen braucht nicht mehr zu lachen, das Schluchzen nicht mehr zu schluchzen). Noch weiter, und der Kopf zerspringt: der Mensch ist nicht Kontemplation (er findet Frieden nur, indem er ausweicht), er ist Flehen, Krieg, Angst, Wahnsinn.)« 58
Es sollte klar sein, dass dieser eingeschobene Bericht der inneren Erfahrung Batailles nur ein subtextuelles Supplement und kurzfristiger Ersatz sein kann, um die simulierte Leerstelle zu füllen. Das Supplement dekonstruiert das Gedicht nicht. Es steigert das Drama, das der Jüngling in seiner Enttäuschung über die Illusion der Göttin erlebt, bis zu einem Maximum und sprengt den Erfahrungshorizont des Gedichts. Durch das Supplement wird im parmenideischen Text eine unüberbrückbare Differenz sichtbar, die sich nur durch ständige Wiederholung und stimmliche Dramatisierung zwischen Haupt- und Subtext, zwischen Stimme und Supplement zeigt. 59 Noch besser zeigt dies der folgende Einschub, der den Ganzheitsanspruch der parmenideischen Seinserkenntnis in seinen Relationen zum Selbst der Erkenntnis und dessen Willensregungen auf den Punkt bringt: »Die Angst ist in der Thematik des Wissens selbst angelegt: ipse möchte ich durch das Wissen das Ganze sein, also kommunizieren, mich verlieren, möchte aber dennoch ipse bleiben. Für die Kommunikation sind
Bataille 1999, Die innere Erfahrung, 54. Zum Zusammenhang von Supplementarität, Ursprung und Differenz vgl. Derrida 2003, Die Stimme und das Phänomen, 118 f.
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vor ihrem Beginn gesetzt das Subjekt (ich, ipse) und das Objekt (das zum Teil unbestimmt bleibt, solange es nicht vollständig ergriffen ist). Das Subjekt will sich des Objekts bemächtigen, um es zu besitzen (dieser Wille geht auf das Sein zurück, das im Spiel seiner Kompositionen befangen ist, vgl. ›Das Labyrinth‹), es kann sich jedoch nur verlieren: die Sinnlosigkeit des Willens zum Wissen tritt zutage, eine Sinnlosigkeit alles Möglichen, die dem Ipse zu erkennen gibt, daß es sich verlieren wird und das Wissen mit ihm. Solange das Ipse an seinem Willen zum Wissen und zum Ipsesein festhält, währt auch die Angst, doch wenn das Ipse sich aufgibt und mit ihm selbst das Wissen, wenn es sich in dieser Selbstaufgabe dem Nichtwissen hingibt, beginnt das Entzücken. Im Entzücken findet meine Existenz wieder einen Sinn, aber dieser Sinn wird sofort dem Ipse zugeschrieben, er wird zu meinem Entzücken, zu einem Entzücken, das ich als ipse besitze, das meinem Willen, das Ganze zu sein, Befriedigung verschafft. Sobald ich darauf zurückkomme, hört die Kommunikation auf, der Verlust meiner selbst, ich gebe mich nicht mehr auf, ich bleibe, wo ich bin, jedoch mit einem neuen Wissen.« 60
Wenn dieser Ausschnitt auf die vielfältige Reaktion und Auseinandersetzung Batailles mit Hegel zurückgeht, bringt er zugleich den bei Parmenides unausgesprochenen Konflikt auf den Punkt. Wie kann der Jüngling nach der Enttäuschung durch die göttliche Illusion seine eigene Subjektivität zurückerobern? Wie kann das Subjekt der Erkenntnis sich mit der Kugel als Ganzer identifizieren und zugleich seine Identität beibehalten? Liegen in dem Willen, das Ganze zu sein, nicht Angst und Entzücken sehr nah beieinander? Und hat die Gedichtanalyse bis hierhin nicht gezeigt, dass diese Dimension bei Parmenides zwar nicht explizit thematisiert wird, aber dennoch in der literarischen Form steckt? Diese Lesart stellt sich ein, vergleicht man die Stationen des Wissens bei Bataille mit dem Verlust der göttlichen Stimme bei Parmenides. Zunächst identifiziert sich der Jüngling mit der Stimme der Göttin und lauscht ihrer unverrückbaren Seinsvorstellung.
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Bataille 1999, Die innere Erfahrung, 79.
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Unerschütterlichkeit und Vollkommenheit in der Selbstaufgabe des Selbst währen jedoch nicht lange. Es kommt zum Moment des Umschlags, in dem die Stimme der Göttin verstummt und der Jüngling sich verlieren muss, um der soeben gehörten Erkenntnis gerecht zu werden. Das erkennende Selbst erfährt das ›Vergessen von allem‹ und taucht in die ›Nacht der Existenz‹ ein. Erst wenn es sich selbst und damit den ›Willen zum Wissen‹ und sein ›Ipsesein‹ aufgibt, kann es das Entzücken der parmenideischen Erkenntnis erfahren. Dieser Umschlag ist und bleibt im Lehrgedicht unausgesprochen. Das erste Entzücken, das mit Jauß in der Identifikation des erkennenden Helden mit dem Ganzen des Seins entdeckt wurde, ist mit Bataille im ersten und zweiten Teil des Gedichts an zwei Dinge gebunden: der Wille, das Ganze zu sein und das Ganze zu kommunizieren, und die Angst, sich zu verlieren. Ein nachhaltiges Entzücken kann sich nur einstellen, wenn der Erkennende zu sich zurückfindet und mit eigener Stimme die Namen der Dinge ausspricht und wenn er die göttliche Stimme und deren streitbare Wahrheit verinnerlicht hat. Daher kann man mit Bataille im dritten Teil des Gedichts von neuem Wissen sprechen, das die Erkenntnis der ersten beiden Szenen impliziert. Diese dialektische Lesart des parmenideischen Lehrgedichts entspricht nicht nur den äußeren und inneren Mitteln der literarischen Form. Es kommt auch der auf eine potentiell unendliche Wiederholung angelegte Dynamik des Gedichts entgegen, in der kein Teil für sich steht, sondern die sich immer im Rahmen eines sich stets neu eröffnenden Erkenntnisgangs ergibt. Unüberhörbar in Batailles innerer Erfahrung ist zudem der Tod Gottes und die Verzweiflung des großen Rufenden, der in seiner Geschichte der Irrtümer erkannt hat, warum der Eleate seinen Frieden finden musste, warum er weiterreden musste, um seine Lehre zu verkünden. Denn so schreibt Nietzsche über »jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten«, dass sie daran glaubten, es sei möglich, »dieses Gegentheil auch zu leben: sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als Eins und Alles 46 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
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zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss zugleich das Princip des Lebens sei.« 61 In der nietzscheanischen Genealogie hat das Verkennen von Leben und Erkennen natürlich seinen Preis: »Um dies alles aber behaupten zu können, mussten sie sich über ihren eigenen Zustand täuschen: sie mussten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig freie, sich selbst entsprungene Activität fassen; sie hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren.« 62
Für Nietzsche ist demnach der Frieden, den der Jüngling über die Identifikation mit dem unerschütterlichen Seienden erhält, »abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins«. 63 Wie Nietzsche rebelliert auch George Bataille in seinem gebetsartigen Erfahrungsmonolog gegen die Möglichkeit eines inneren Friedens durch Kontemplation. Das Erkennen des Seienden kann nicht als friedlicher Akt und ästhetische Kontemplation eines Ur-Prinzips aufgefasst werden. Die vollkommene Ruhe und der Frieden, mit dem der Wissende seine Lehre vorträgt, lassen keinen Raum für die Unruhe der Nacht von Bataille. Mit der Verschiebung vom göttlichen zum menschlichen Sprechen zeigt das Gedicht die Anthropomorphismus-Kritik von Xenophanes, indem es die Unmöglichkeit einer Beschreibung des Göttlichen vor Augen führt. Hierin sagt es aber mehr aus als die ausgesprochene Kritik, da es die Begegnung zwischen Göttin und Wissendem in einem Nicht-Ort darstellt, an dem Nietzsche 1988, KSA 3, Die Fröhliche Wissenschaft, III. Buch, § 110, 469 f. 62 Ebd., 470. 63 Ebd. 61
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Brüche und Umfunktionierungen in verschiedene Richtungen möglich sind. Während die Perspektive des Erzählers zunächst mit dem Proömium in den Nicht-Ort des Tors zur Göttin einführt, dient dieser zunächst als Ort der Umfunktionierung, um der Göttin eine Stimme zu verleihen, die sich von der Stimme des Erzählers abhebt. Erneut dient der Nicht-Ort als umfunktionalisierende Instanz, wenn sich die göttliche Stimme als unmöglicher Nicht-Ort offenbart und in die Perspektive der Sterblichen überführt wird. Damit wird die ästhetische Erfahrung des Erhabenen in ihren verschiedenen Dimensionen nicht annulliert, jedoch wird die Möglichkeit einer Durchdringung von menschlicher und göttlicher Stimme gezeigt. Über ein Offenbarungserlebnis kann der Jüngling zur göttlichen Perspektive und zum logischen Raum des Seienden gelangen; allerdings um den Preis, dass er sich über andere erhebt und sich als beobachtendes Subjekt erfährt, das sich in Distanz zu den Sterblichen und zum Sein als abstraktes Ganzes setzt. Der Weise weiß, dass die göttliche Perspektive, innerhalb derer er das Sein in seinem Denken vorgestellt hat, letztlich wieder in seiner eigenen enden wird, wenn auch durch den logischen Nicht-Ort in ein dialektisches Verhältnis zu einer fremden Stimme gesetzt: die unerschütterliche Logik des Seins. Was die Gottesebenbildlichkeit angeht, ist auch hier zu bemerken, dass die Göttin selbst auf der Erkenntnis der irrtümlichen Ansichten der Sterblichen besteht. So fordert die Göttin den Jüngling auf, den Weg des Erkennens zu wählen und mit seinem eigenen Denken ihre Worte zu beurteilen. Letztlich muss sich der Wissende also selbst eine Meinung von der Wahrheit bilden und davon, was der logische Raum der Göttin alles in Frage gestellt hat. Er muss selbst entscheiden, wie er die »hart bestreitende Widerlegung« der gegensätzlichen Meinungen der Sterblichen zu bewerten hat. Daher ist es nicht notwendig, dass es sich die gesamte Zeit um die Stimme der Göttin handelt. Sie kann sich vermischen mit der zum eigenen Denken aufgeforderten Stimme des Jünglings. Natürlich muss man in diesem Kon48 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart
text den historischen Hinweis beachten, dass »der archaische Mensch […] die Mächte des Inneren als äußere Mächte [erfährt]«. 64 Gerade deshalb sind die äußere und die innere Stimme ineinander verwoben, die eine kann die andere übertönen oder ersetzen. Es ist daher wahrscheinlich, dass der kosmologische Teil vom Jüngling gesprochen wird, der sich wiederum an die Menschen richtet, um seine Lehre von der Entstehung der kosmologischen Weltordnung zu verbreiten. Eine solche Lesart im Sinne Poppers ist möglich, allerdings nicht hinreichend, um Parmenides als kritischen Rationalisten zu identifizieren, der anstelle von Ontologie eigentlich nur Kosmologie betreiben wollte. Die wissenschaftliche Perspektive, in die sich eine solche genealogische Betrachtungsweise des Kosmos verwandelt, wird niemals die Vielfalt ihrer ursprünglichen Erfahrungsdimensionen verdrängen können, bleibt doch gerade die wissenschaftliche Perspektive auf Momente genealogischen, religiösen und ästhetischen Blickens im Denken, mithin auf die gesamte Dimension der Erhabenheit angewiesen. Am Nicht-Ort der göttlichen Logik zählt letztlich die subjektive Erfahrung, dass zu denken und zu sein dasselbe ist. Das ist es, was uns Parmenides’ Gedicht auch heute noch zu denken aufgibt, dass jegliche wissenschaftliche und kosmologische Erkenntnis nur vor dem Hintergrund dieser ontologischen Grunderfahrung möglich ist.
9. Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart Die Exklusivität des Gedichts zeigt sich vor allem an der besonderen Sprechersituation und am Sprecherwechsel. Die Göttin richtet ihre Worte in direkter Rede an den Jüngling, der Leser wird implizit adressiert. Eine wesentliche Frage der Sprecherkonstellation lautet, ob und an welcher Stelle der Sprecher umschlägt, ob und wann die Stimme der Göttin in die des Jünglings 64
Hölscher 1969, Vom Wesen des Seienden, 2 f.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
wechselt. Heidegger zufolge wird hier ein Spruch gefällt, ein regelrechter Ausspruch, bei dem Wort und Sage zusammenhängen. Dadurch erhält der Ausspruch eine hohe Form von Autonomie und kann vom Sprecher abgelöst werden – der Ort des Sprecherwechsels ist zugleich ein Bruch im Gedicht, der nicht als solcher markiert ist. Die Dichte der Sprache erzeugt eine Folge von Bildern, die in anderer Textform nicht ohne weiteres möglich wären. Das Proömium erfüllt damit nicht nur die didaktische Funktion von Aufmerksamkeitsattraktion des Lesers, es ist auch nicht nur einfach auf der Grundlage traditioneller Vorbilder zu erklären, wenn auch die historische Dimension wichtig ist. Das Proömium hat formimmanenten Wert und kann nicht auf ein theatralisches Vorspiel reduziert werden. Die Bildhaftigkeit des Anfangs gehört zur wesentlichen Einführung in die Seinserkenntnis, die jederzeit wiederholbar ist. Die Techniken sprachlicher Visualisierung und die Einübung in die genealogische Distanz bedingen einander. Das Proömium ist unerlässlich, um zur Erfahrung des Erhabenen und zum Blick von oben zu kommen. Die poetische Sprache von Parmenides besticht vor allem durch seine feierliche Stimmung und die für seine Zeit ungewöhnliche Abstraktion. Auf den letzten Aspekt hat vor allem Martin Heidegger aufmerksam gemacht und das Gedicht daher als Lehrgedicht bezeichnet. 65 Heideggers Verteidigung der poetischen Form hat ironische Züge. Er kann der Bezeichnung Lehrgedicht eigentlich nichts abgewinnen und referiert an dieser Stelle eine allgemeine Ansicht, um verständlich zu machen, wie man auf die Bezeichnung Lehrgedicht gekommen sein muss. Während Martin Heidegger auf der einen Seite die poetische Form des Gedankens für dessen ganzheitliches Verständnis hervorhebt, verfällt er zugleich in eine Missachtung derselben, wenn er den parmenideischen Ausspruch auf die Frage nach dem Sein reduziert. Er ignoriert damit die Gesamtanlage der Form sowie einzelne Brüche im Gedicht. 65
Heidegger 1992, Parmenides, 3.
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Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart
Das Gedicht ist sowohl in der Form als auch auf der Ebene der Aussagen mehrfach gebrochen. Dies bedeutet nicht, dass man die Teile isoliert voneinander betrachten könnte. Nur hierdurch kann eine einseitige Lesart des parmenideischen Lehrgedichts zustande kommen, sei es in Form einer ontologischen (Heidegger) oder einer kosmologischen (Popper) Verabsolutierung. In beiden Fällen wird ein vorgegebener Sinn an den Text herangetragen: Heidegger setzt die Frage nach dem Sein, Popper die Möglichkeit einer rationalistischen Wahrheitssuche voraus. Beides wird weder der literarischen Form noch deren ästhetischer Brüchigkeit und Wirkung gerecht. Steht bei Heidegger das Proömium im Zentrum, wird es bei Popper als visionäres Erlebnis abgetan. Zwar kann man den ersten Teil als Mythologie, den zweiten als Ontologie und den dritten als Kosmologie lesen und das jeweils philosophisch Relevante daraus ziehen, jedoch legt das Gedicht anderes nahe. Mit Blick auf die literarische Form und deren visuelle Verfahrensweisen geht es nicht mehr um das philosophisch Relevante, um den philosophischen Gedanken im strengen Sinne. Parmenides lässt die verschiedenen Blicke und Perspektiven nachvollziehen und zeigt, wie eng verwoben die Erfahrung des Erhabenen mit der genealogischen und wissenschaftlichen Perspektive ist. Die drei Teile des Gedichts stellen somit grundlegende Erfahrungen des Denkens in Bildern dar. In einer Einheit lassen sich die drei Teile des parmenideischen Gedichts nicht denken. Dies liegt nicht daran, dass sie nicht zusammengehörten oder gar inkompatibel wären, vielmehr sind sie nicht als reiner Gedanke zu erfahren. Ihre Wahrheit liegt in den verschiedenen Erfahrungen des Erhabenen und im Blick von oben. Daher spielt das Bildhafte bei Parmenides eine so wesentliche Rolle. Das anfängliche Denken des Seins, wenn man es mit Heidegger und Jaspers so formulieren will, ist ohne Visualisierungsprozesse und Blickführung undenkbar. Der Gedanke ist nur im Bild und das Bild ist an den Gedanken gebunden oder wie Arthur Schopenhauer geschrieben hat: »Alles Ur-Denken ge51 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
schieht in Bildern«. 66 Ob man mit Heidegger die Ontologie oder mit Popper die Kosmologie als Kern des parmenideischen Unternehmens hervorhebt, man muss die bildhafte Ebene mit den dazugehörigen Brüchen durch Perspektiven- und Sprecherwechsel reflektieren, will man dem Gedicht in seiner Form gerecht werden. Mit Heidegger und Popper stehen sich nicht nur eine ontologische und eine kosmologische Lesart gegenüber, auch die Einschätzung der poetischen Sprache des Gedichts ist verschieden. Mit Blick auf ihre Urteile scheint es nicht ausgemacht zu sein, wie die poetische Form des Gedichts letztlich zu bewerten ist. So schreibt Popper ekstatisch: »Als ich als 16jähriger Student Parmenides’ wunderbares Gedicht zum ersten Mal las, lernte ich, Selene (Mond) und Helios (Sonne) mit neuen Augen zu betrachten – mit Augen, die von seiner poetischen Kraft erleuchtet worden waren. Parmenides öffnete mir die Augen für die poetische Schönheit der Erde und des gestirnten Himmels.« 67 Auch Karl Jaspers unterstreicht die Stimmung der abstrakten Poesie von Parmenides, dem er neben Heraklit einen eigenen, neuen Stil zuschreibt. Er lobt die parmenideische Dichtung in ihrer Einzigartigkeit: »Die Feierlichkeit der Dichtung des Parmenides entspricht der Würde der Prosa Heraklits. Beide fanden darin einen neuen Stil. Sie wählten nicht nur ein überliefertes Kleid. Nie gab es Dichtung wie die des Parmenides. Keine Spruchweisheit ist schon die Form Heraklits.« 68 Der Unterschied zwischen Parmenides’ Gedicht und Heraklits Weisheitsspruch besteht auf der inhaltlichen Ebene auch darin, dass alle Aussagen in einem konkreten Erzählkontext stehen, nämlich in der Begegnung zwischen einem Jüngling und einer göttlichen Wahrheit. Das Gedicht offenbart mit der Darstellung der Kugel nicht nur das erste Diagramm des Seins in der Geschichte des Den66 67 68
Schopenhauer 1988, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 7, 77. Popper 2001, Die Welt des Parmenides, 20. Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 651.
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Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart
kens. Als vollkommene und geschlossene Sphäre bildet es die Grundlage für den von den Sterblichen imaginierten Kosmos der Gegensätze. Das Gedicht verkörpert zudem eine Urszene für die verschiedenen Kräfteverhältnisse des Denkens, indem in ihm die unterschiedlichen Akte des Blickens in ihrer kognitiven Erfahrung sichtbar werden. In dieser Lesart ist die Kugel die grundlegende diagrammatische Form in Parmenides’ Gedicht. In ihr findet man ein Diagramm des Denkens, in der sich die Kräfteverhältnisse des Denkens zeigen. Das Diagramm ist der Ausdruck eines bestimmten Typs visuellen Denkens aus der griechischen Antike. Es ist die Form der Kräfteverhältnisse, die sich weder auf mythologische, ontologische oder kosmologische Aspekte reduzieren lässt. Die Kugel ist diagrammatischer Ausdruck einer Art zu denken und verweist auf eine eigene Form des Denkens. Sie ist visuell-ästhetischer Ausdruck für die philosophische Grunderfahrung, dass zu denken und zu sein dasselbe ist. Eine solche Lesart, die von der philosophischen Grunderfahrung und von den dargestellten Kräfteverhältnissen des Denkens im Gedicht ausgeht, lässt sich vielleicht am ehesten als existentialistisch begreifen.
10. Das Gedicht unter luhmannschen Beobachterordnungen Einen erweiterten Blick auf die Topologie und Funktionsweise des Gedichts bringt die Unterscheidung von Beobachter erster und zweiter Ordnung. Bisher wurde der Übergang von der ersten, menschlichen Stimme zur zweiten, göttlichen Stimme als Bruch gekennzeichnet, der über die Möglichkeit von Stimmenwechsel und Subjektpluralität bestimmt worden ist. Ein mögliches und lohnendes Experiment ist es, die beiden Stimmen als Beobachter in Beziehung zu setzen. Bekanntlich expliziert Luhmann die Unterscheidung zwischen dem Beobachter erster und zweiter Ordnung anhand von Unterscheidungen, die ihrerseits einer bestimmten Formalisierungslogik unterstehen. Die Bil53 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
dung des Beobachters zweiter Ordnung impliziert eine resolute und zersetzende Umstellung »von einer Was-Perspektive auf eine Wie-Perspektive«. 69 Der Beobachter erster Ordnung bezeichnet etwas, während er die dabei zugrunde liegende Unterscheidung nicht beobachtet, also sich beim Akt des Bezeichnens nicht wiederum selbst beobachtet, d. h. mit Luhmann: »die Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung wird nicht zum Thema gemacht.« 70 Er bleibt »an der Sache haften« und »es ist auch nicht nötig, dass der Beobachter sich selbst von dem unterscheidet, was er beobachtet.« 71 Dem Beobachter erster Ordnung ist die Welt daher immer eine »wahr-scheinliche Welt«. Der Beobachter zweiter Ordnung hingegen setzt sich explizit in eine Distanz zur Welt, d. h., sein eigenes Beobachten wird beobachtbar, sei es durch ihn selbst oder durch Fremdbeobachtung. Allerdings bedeutet dies nicht, dass das Beobachten zweiter Ordnung zu einer Totalbeobachtung von Welt und Beobachter führt. Denn sobald der Beobachter zweiter Ordnung den Beobachter erster Ordnung und dessen Unbeobachtbarkeit beobachtet, kann er, der Beobachter zweiter Ordnung, dies wiederum selbst nur als Beobachter erster Ordnung tun. Mit Luhmanns Worten hört sich diese dialektische Reflexivitätsfigur folgendermaßen an: »Für das Beobachten zweiter Ordnung wird mithin die Unbeobachtbarkeit des Beobachtens erster Ordnung beobachtbar – aber nur unter der Bedingung, dass nun der Beobachter zweiter Ordnung als Beobachter erster Ordnung seinerseits sein Beobachten und sich als Beobachter nicht beobachten kann.« 72 Luhmann zufolge stehen Beobachter erster und zweiter Ordnung in einem dialektiLuhmann 1997, Die Kunst der Gesellschaft, 163. Diese Umstellung hat Luhmann zufolge eine »toxische Qualität«, die er auch als metaphysikkritische Instanz bezeichnet und mit der Dekonstruktion vergleicht. Vgl. ebd., 156 ff. 70 Ebd., 102. 71 Ebd. 72 Ebd., 102. 69
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Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart
schen Verhältnis, innerhalb dessen sich die Konstellation zwar je nach Beobachtungsoperation ändern kann, ohne dass jedoch der eine Beobachter den anderen ausschließt. Die luhmannsche Grenze besteht darin, dass kein Beobachter sein eigenes Beobachten beobachtend einfangen kann, solange er etwas anderes bezeichnet oder anderes Beobachten beobachtet. Der Übergang von der wahrsprechenden Göttin zum wahrsprechenden Parmenides kann vor diesem systemtheoretischen Hintergrund mit Luhmann als der Übergang von der Wahrheit des Seienden (Weg der Wahrheit) zur Wahrheit der Sterblichen (Weg des Scheins) gesehen werden. Allerdings fallen einige Unstimmigkeiten ins Auge. Zunächst haben wir es bei Luhmann mit einer Umkehrung der Welten zu tun, denn seine Beobachterordnung verläuft von der »wahr-scheinlichen Welt« 73 zur Unwahrscheinlichkeit des Beobachters erster Ordnung. Während der Beobachter erster Ordnung in einer wahr-scheinlichen Welt lebt, hat der Beobachter zweiter Ordnung »die Unwahrscheinlichkeit des Beobachtens erster Ordnung« 74 zum Gegenstand. Wir haben es hierbei mit einem klaren Verhältnis von relativierender Reflexivität zu tun, die sich in Idealform auf die Erkenntnismetaphysik von Parmenides anwenden lässt. Die brachiale Erkenntnismetaphysik von Parmenides findet in der luhmannschen Metaphysikkritik ihre synergetische Ergänzung. Der parmenideische Beobachter erster Ordnung hat den Eindruck, »vom Schein zum Sein vordringen zu können« 75 . Dies wiederum erscheint dem Beobachter zweiter Ordnung suspekt, da das Sein für ihn ein »Ontologie produzierendes Beobachtungsschema« geworden ist, von dem es beobachtenden Abstand zu nehmen gilt. Wer sich die Dinge und damit die Unterscheidungen beim Bezeichnen derselben auf Distanz hält, gerät in einen Umschaltungsprozess von Einheit auf Differenz. Die me73 74 75
Ebd., 103. Ebd. Ebd., 157.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
taphysikkritische Konsequenzen dieses Prozesses artikuliert Luhmann folgendermaßen: »Sie ersetzen zum Beispiel die Voraussetzung der ontologischen Metaphysik: dass die Welt eine Seinswelt sei, durch die Annahme, dass es immer möglich (wenngleich nur begrenzt sinnvoll) ist, Beobachtungen an der Unterscheidung von Sein und Nichtsein zu orientieren.« 76 Die vollzogene Umkehrung kann nicht deutlicher dargestellt werden: Was nach Luhmann die wahr-scheinliche Welt des Beobachters erster Ordnung ist, gilt bei Parmenides als die Erkenntnis der wahren Welt des Seins. Und die unwahrscheinliche Welt der beobachteten Unterscheidungen des Beobachters zweiter Ordnung ist in der luhmannschen Umkehrbewegung nicht nur eine Rehabilitierung der Meinungen der Sterblichen, sondern die Umschaltung von Einheit auf Differenz und damit der Versuch eines Beobachtens der Welt ohne die vereinfachende Komplexitätsreduktion des Beobachters erster Ordnung. Die ontologische Wahrheitsdimension wird hier umgekehrt, da der Beobachter erster Ordnung nicht das Sein erkennt, sondern den bezeichneten Schein. Demgegenüber beobachtet der Beobachter zweiter Ordnung die Unterscheidungen, die keinesfalls – wie bei Parmenides – als trügerische Worte angesehen werden. Die damit einhergehende Verschiebung der Distanzverhältnisse besteht in der Differenz, dass der parmenideische Beobachter erster Ordnung in eine unbedingte Distanz zum Sein tritt, während sein luhmannsches Pendant über diese Distanz nicht mehr verfügt. Diese wird vielmehr dem Beobachten zweiter Ordnung zugeordnet, wenn auch nicht auf absolute Weise. In einer zweiten Hinsicht verändern sich die Distanzverhältnisse. Bestimmt man den zweiten Teil des Gedichts – die Stimme der Göttin – als einen Beobachter erster Ordnung, der auf der Basis der Unterscheidung von Sein und Nichtsein die runde Wahrheit des Seienden erblickt, stellt man einige Asymmetrien fest. Bei Luhmann impliziert das Beobachten erster Ordnung, 76
Ebd., 159.
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Mythologische, ontologische und kosmologische Lesart
dass der Beobachter Teil des Geschehens und die Distanz zur Welt nicht erforderlich ist. Die Welt nimmt er als eine »universitas rerum« wahr. Anders beim Beobachten zweiter Ordnung, das eine Distanz zur Welt voraussetzt. Diese ist jedoch nicht konstant. »Das Beobachten zweiter Ordnung geht« zwar »auf Distanz zur Welt«, aber nur »bis es schließlich die Welt in ihrer Einheit (Ganzheit, Gesamtheit) weglassen kann und sich dem überläßt, was im dynamisch-rekursiven Prozeß des fortgesetzten Beobachtens von Beobachtungen als ›Eigenwert‹ dieses Prozesses herauskommt.« 77 Beim Beobachter zweiter Ordnung wirkt sich die Distanz als auflösender Prozess auf die beobachtete Welt aus, die ihrerseits ins Unbeobachtbare verlagert wird. Luhmann spricht daher von einer »Zwei-Seiten-Form, die nicht als Einheit beobachtet werden kann (es sei denn: mit Hilfe einer anderen Unterscheidung) und in der Operation des Beobachtens selbst unbeobachtbar bleibt.« 78 Luhmanns Beobachtersituation lässt sich mit ihrer ontologischen Umkehrung und den verschobenen Distanzverhältnissen ziemlich passgenau auf die zwei Stimmen des Gedichts übertragen: Die erste Stimme (Göttin) leitet dazu an, vor dem Sein zurückzutreten und eröffnet den Blick auf eine kugelförmige, lückenlose universitas rerum, in der »Seiendes an Seiendes stößt«. Im parmenideischen Gedicht ist gerade die Distanz beim Beobachter erster Ordnung als wesentlich herausgearbeitet worden. Die zweite Stimme (Jüngling) hingegen nimmt die Unterscheidungen der Sterblichen – und damit auch ihre eigenen – in ihr Blickfeld. Sie lässt sich nach Luhmanns Modell eindeutig als ein Beobachten zweiter Ordnung identifizieren. Auch scheint in diesem Fall die Rolle der Distanz im luhmannschen und parmenideischen Modell ähnlich. Die zweite Stimme, die die Unterscheidungen der Sterblichen beobachtet und ausspricht, widmet sich ganz dem, was sie als Unterscheidungen der Sterblichen 77 78
Ebd., 97. Ebd., 150.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
sichtbar macht. Im Verlauf des Beobachtens geht es der zweiten Stimme vor allem um den Wert, die Richtigkeit und die Nützlichkeit der Unterscheidungen selbst, nicht um ein beständiges Entlarven sterblicher Scheinprodukte. Allerdings, und dies macht die luhmannsche Unterscheidung von Beobachter erster und zweiter Ordnung für das Gedicht so wertvoll, behält der Beobachter zweiter Ordnung das Bewusstsein darüber, dass er die Unterscheidungen eines anderen Beobachters beobachtet. Mit exakt diesem Bewusstsein beobachtet auch die zweite Stimme die Meinungen der Sterblichen. Sie ist Beobachterin ihrer selbst und schaut dabei auf ihre eigene Beobachtung erster Ordnung. Der Übergang von der ersten zur zweiten Stimme, anders ausgedrückt vom ontologischen zum kosmologischen Teil, kann daher auch als Übergang vom Beobachter erster Ordnung zum Beobachter zweiter Ordnung bezeichnet werden. Auch das, was Luhmann das Unbeobachtbare der Welt nennt, taucht im parmenideischen Gedicht auf. Es handelt sich hierbei um den schlichten Effekt, dass im kosmologischen Teil das Weltganze wieder unter den Namen, begrifflichen Einteilungen und sinnlichen Entgegensetzungen der Sterblichen aus dem Blick zu verschwinden droht. Es ist schwierig, das Seiende als Eins zu sehen (Beobachter erster Ordnung) und zugleich die im Nachhinein eingeführten Unterscheidungen (Beobachter zweiter Ordnung). Der Beobachter zweiter Ordnung kann seine eigene Beschränktheit als Beobachter erster Ordnung nicht überwinden. In dieser Hinsicht ist die Aussage der Göttin: »Es ist für mich das Gleiche, von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder« auch für die Formebene interessant. Denn so wäre es möglich, dass man nach dem Ende des Gedichts wieder den Anfang lesen muss, um sich an das anfänglich Gesagte und Gedachte der Göttin erneut zu erinnern. Die in ihrer Bedeutung so herausragende Distanz der Erhabenheit im Beobachten erster Ordnung muss im parmenideischen Kontext immer wieder neu erlebt und belebt werden, damit sie nicht im Beobachten zweiter Ordnung untergeht. Die58 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Von der Wiederholbarkeit zur Herrschaftsperspektive
ser Aspekt führt uns zur Frage nach der Wiederholbarkeit der parmenideischen Seinserkenntnis.
11. Von der Wiederholbarkeit zur Herrschaftsperspektive Sind der parmenideische Mythos und die darin vorgeführte Seinserkenntnis wiederholbar? Ist die Erfahrung des Jünglings als Experiment zu betrachten, das der Leser wiederholen kann? Und wäre eine Wiederholung ebenso eine Einverleibung der Erkenntnis? Eine klare Position bezieht Karl Jaspers, der dem aktuellen Leser eine Wiederholung einerseits zuspricht und andererseits verwehrt: »Es ist ein denkendes Tun, das in der Naivität (nicht Primitivität) schaffenden Anfangs damals wie heute möglich, aber nicht in der gleichen Grundverfassung wiederholbar ist.« 79 Selbstverständlich ist es dem Leser nicht möglich, die Erfahrung des Autors mit dessen Gefühlen und Erlebnissen identisch zu wiederholen. Dies gilt jedoch für alle Texte. Worauf Jaspers’ Hinweis vor allem aufmerksam macht, ist ein historischer Aspekt: Da die Welt damals eine andere ist als heute, ist auch die Grundverfassung des damaligen Lesers eine andere. Es ist dem heutigen Leser nicht möglich, in der gleichen Grundverfassung auf die Welt zu schauen. Welt und Grundverfassung des Daseins bedingen sich und daher muss Jaspers behaupten, dass die heutige Welt von der damaligen Welt so verschieden ist, dass die denkende Tätigkeit, die im parmenideischen Gedicht zum Ausdruck kommt, nicht in gleicher Grundverfassung wiederholbar ist. Übersieht Jaspers dabei aber nicht eine fundamentale Dimension von mythologischen und poetischen Erzählungen? Was ist mit der idealen Gegenwart, die im Gedicht aufgebaut wird, und könnte der Sinn nicht der Zeit widerstehen? Erinnert sei an die für mythologische Darstellungsmuster typische ideale Gegenwart, für die der Sinn jederzeit wiederholbar ist: 79
Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 642.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
»Wie Mythen haben Dichtungen ein zweifaches Verhältnis zur Zeit: Ihre Darstellung unterliegt dem Gesetz der Sukzession, aber die Konstellation der bedeutenden Elemente in dieser Sukzession spiegelt einen Sinn außerhalb der Zeit, der grammatischen so gut wie der physikalischen und der historischen. Weil solcher Sinn der Zeit widersteht, ist er zu jeder Zeit wiederholbar; die ideale Gegenwart auch der vergangenen Kunstwerke lebt vom Einst und Immer der Mythen.« 80
So gesehen bedient sich der Mythos derselben Vorstellung idealer Wiederholbarkeit wie das wissenschaftliche Experiment. In diesem Sinne kritisieren auch Horkheimer und Adorno die falsche Entgegensetzung von Mythos und Aufklärung, die auf dem Missverständnis beruht, dass sich nur die Aufklärung mit ihren wissenschaftlichen Methoden auf die Beweiskraft der Wiederholung stützt: »Das Prinzip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos selber.« 81 Allerdings kann Wiederholung von überzeitlichen Sinnmustern im Sinne Derridas so aufgefasst werden, dass »die Wiederholung mit der Andersheit verknüpft« 82 ist. Wiederholung im Medium der Schrift ist nicht durch Identität charakterisiert, sondern durch Differenzen, die in der Lektüre und im daran gebundenen kognitiven Erleben des Lesers entstehen. So betrachtet kann man eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen, dass die Seinserfahrung des Parmenides auch heute wiederholbar ist. Vielleicht gilt immer noch die Einschränkung von Jaspers, dass dies nicht in seiner ursprünglichen Erfahrung und Grundverfassung geschehen kann, wenn man darunter die situative Gestimmtheit des einzigartigen und unwiederholbaren historischen Moments versteht. Es mag sein, dass durch die historische Distanz epistemologische Evidenzen unsichtbar geworden sind, dass wir gar eine fundamentale Dimension des parme80 81 82
Schlaffer 2005, Poesie und Wissen, 111. Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, 18. Derrida 2008, Signatur, Ereignis, Kontext, 80.
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Von der Wiederholbarkeit zur Herrschaftsperspektive
nideischen Denkens nicht mehr nachvollziehen können. In diese Richtung geht Gilles Deleuzes Behauptung von der Unzugänglichkeit anderer Epochen: »Und wenn die Dinge sich verschließen, so verschwimmen die Sichtbarkeiten oder trüben sich bis zu dem Punkt, an dem die ›Evidenzen‹ für eine andere Epoche unzugänglich werden«. 83 Aber selbst in einem solchen Fall, in dem man sich ohne Zweifel an einen Historiker wenden müsste, wären noch Spuren dieser Evidenzen zu erkennen. In der Analyse des Gedichts hat sich aber viel mehr als eine Spur gezeigt. Die einzelnen Blicke des Denkens lassen sich rekonstruieren und damit in ihrer Erfahrungsdimension nachvollziehen. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass sie sich in einer heutigen Variante wiederholen. In der Wiederholung als Variation ist es für unseren Kontext unerheblich, ob die gemachte Erfahrung mit der des Parmenides identisch ist, da es darum geht, das Funktionieren des Textes nachzuvollziehen. Der Ansatz der blicktheoretischen Geschichte, die ausgehend von der literarischen Form und Visualität von Parmenides’ Gedicht entwickelt wurde, ist sich seiner poststrukturalistischen und gegenwartsbezogenen Färbung bewusst. Mit Tilman Borsche gesprochen kann »die Antwort […] nicht in der Weise der Geschichte selbst ansetzen, sie muß deren Verlauf vielmehr umgekehrt aus einem Entwurf von hier und heute her zu verstehen versuchen«. 84 Was Jaspers zufolge in seiner Grundverfassung nicht wiederholbar ist, hat etwas mit der Herrschaftsperspektive zu tun, die in der Erhabenheit zum Ausdruck kommt und die Jaspers im Ausgang von Nietzsche bei Parmenides und Heraklit verortet. »In der Erscheinung dieser beiden Großen scheint ein ihnen gemeinsamer Zug uns zu verwehren, die Wahrheit, die sie fanden, für mehr zu halten als einen außerordentlichen, aber in dieser Gestalt unwiederholbaren und durchaus unvorbildlichen Ansatz. Der gemeinsame Zug ist: ihre Selbstgewissheit tritt pro83 84
Deleuze 1992, Foucault, 81 f. Borsche 1990, Was etwas ist, 29.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
phetisch auf.« 85 Jaspers nennt weitere für moderne Ohren gefährlich klingende Eigenschaften, die dem Denken von Parmenides und Heraklit anhaften. Sie setzen sich in eine unüberbrückbare Distanz zu den Menschen, auf die sie mit maßlosem Stolz, Befangenheit und Ausschließlichkeit blicken. Anstelle von Freundschaft verlangen sie Gehorsam. Es ist die Geburt der philosophischen Herrschaftsperspektive, die hier ihren irreversiblen Anfang nimmt und dem platonischen Philosophenstaat den Boden bereitet. Wenn die Herrschaftsperspektive in ihrer historischen Ursprünglichkeit nicht wiederholbar ist, so stellt sie doch eine anthropologische und philosophische Konstante im abendländischen Denke dar. Das Gedicht des Parmenides ist ebenso wie die Sprüche des Heraklit eine der ersten überlieferten Einübungen in die Herrschaftsperspektive des Geistes.
12. Der parmenideische Blick als Herrschaftsperspektive Im Proömium verlangt der Weg zur Wahrheitserkenntnis eine radikale Abgrenzung von den Ansichten der gewöhnlichen Menschen. Für die Sterblichen verwendet Parmenides den Begriff anthrôpôn, der diametral dem Wissenden gegenübersteht. Interessanterweise bedeutet der Begriff anthrôpôn auch Stamm und Horde, so dass die unwissende Masse von dem wissenden Einzelnen abgegrenzt wird. 86 Der Moment der Erhebung schließt die Möglichkeit des Nichtseins aus. Die Einnahme der göttlichen Perspektive impliziert eine Annäherung an das göttliche Wesen und die eigene Sterblichkeit gerät in den Hintergrund. Im Moment der größten Erhabenheit über das Verborgene allerdings, also auf dem Höhepunkt der Sichtung des Seienden als vollkommene Kugel, wird der zuhörende BeobachJaspers 1992, Die großen Philosophen, 653. Vgl. hierzu Stemich 2008, Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis, 94.
85 86
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Der parmenideische Blick als Herrschaftsperspektive
ter wieder zur Erkenntnis der Welt des Scheins geführt. Er durchblickt die Welt der Meinungen und Gegensätze in einer Totalperspektive, indem die Meinungen der Sterblichen wie von außen betrachtet sichtbar werden. Diese allumfassende Perspektive wird von der Göttin am Ende des ersten Fragments angekündigt: »(…) Du darfst alles erfahren, sowohl der runden Wahrheit unerschütterliches Herz wie auch das Dünken der Sterblichen, worin keine wahre Verläßlichkeit ist. Aber gleichwohl wirst du auch dies verstehen lernen, wie das ihnen Dünkende gültig sein musste und alles durchaus durchdringen.«
In diesem genealogischen Moment richtet sich der Blick von oben nicht nur auf die sterblichen Menschen. Der genealogische Aspekt zeigt sich auch in der Aufforderung der Göttin, die Genese und Entwicklung der Irrtümer der Sterblichen nachzuvollziehen. Der Blick von oben zeichnet sich also dadurch aus, dass er Distanz schafft zwischen dem Denkenden und den Anderen. Hierin ist der Blick von oben in der Erfahrung des Erhabenen abwertend, exklusiv und verdinglichend. Diese Beobachtung hat auf überspitzte Weise erstmals Friedrich Nietzsche ausgedrückt. So schreibt er zu Heraklits abwertender Haltung gegenüber den gewöhnlichen Menschen: »Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich; (…) Er brauchte die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnisse; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht gewesen waren, lag ihm nicht. Er sprach mit Geringschätzung von solchen fragenden sammelnden, kurz ›historischen‹ Menschen.« 87 Nach Nietzsche steht der Philosophie Heraklits die Position von Parmenides auf unversöhnliche Weise gegenüber. Wenn auch beide dem »Typus eines Propheten der Wahrheit« entsprechen, so ist der parmeni87
Nietzsche 1988, KSA 1, Die Philosophie im tragischen Zeitalter, 834 f.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
deische Prophet andersartig. Er strahlt etwas aus, das ihn von den Sterblichen ebenso trennt wie der Stolz von Heraklit. Im Originalton Nietzsches heißt es dazu: »Während in jedem Worte Heraklit’s der Stolz und die Majestät der Wahrheit, aber der in Intuitionen erfaßten, nicht der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit, sich ausspricht, während er, in sibyllenhafter Verzückung schaut, aber nicht späht, erkennt, aber nicht rechnet: ist ihm in seinem Zeitgenossen Parmenides ein Gegenbild an die Seite gestellt, ebenfalls mit dem Typus eines Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt und kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend.« 88
Karl Jaspers, der Nietzsches radikale Ausführungen zu Heraklit und Parmenides sicherlich im Hinterkopf hatte, spricht von einem »despotischen Geist«, der sich in Parmenides’ und Heraklits Haltungen ausdrücke. 89 Eine solche Verbindung zwischen Abstraktion im Denken und Herrschaft deckt sich mit der Diagnose, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung gestellt haben: »Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt.« 90 Abstraktion wird in diesem Sinne als Souveränität und Kontrolle über das Dasein aufgefasst, wie bereits die homerische Dichtung ein erstes Beispiel für den Umschlag von der Aufklärung in den Herrscherwillen über die Natur sein soll. 91 Das parmenideische Gedicht kann als produktive Einübung in den Blick von oben, in die geistige Souveränität über das Dasein interpretiert werden, in der der Blick auf die Kugel zum Blick eines gottähnlichen Herrschers wird: »Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.« 92 Der Unterschied zur home88 89 90 91 92
Ebd., 835 f. Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 653 f. Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, 19. Ebd., 9–87. Ebd., 15.
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Der parmenideische Blick als Herrschaftsperspektive
rischen Herrscherperspektive besteht darin, dass dort die Beherrschung der Natur im Vordergrund steht. Bei Parmenides wird die Welt des Seienden zunächst als abstrakte Kugel vorgestellt, die nur über reines Denken erkennbar ist. Was diesen Aspekt betrifft, haben wir es mit der Urszene des genealogischen Herrscherblicks von oben zu tun, der auf diese direkte Weise das erste Mal in der Geschichte der Philosophie auftritt. Es ist dieser Aspekt des Genealogischen und Erhabenen, die stillschweigende Allianz zwischen Blick von oben, Zentralperspektive, ästhetischer Erfahrung und Herrschaft, die Heidegger in der Betonung des Zurücktretens vor dem Sein nicht thematisiert und die auch Nietzsche in seiner Verurteilung des parmenideischen Einheitsdenkens nicht gesehen hat. Voraussetzung für den zentralperspektivischen Blick von oben ist aber gerade die erhabene Distanz gegenüber den gewöhnlichen Sterblichen und die damit verbundene Herrschaftsperspektive. Bei Parmenides ist der Blick von oben durchgängig global, er behält seine Einstellung der Totalen von Anfang bis Ende. Die konsequent eingesetzte Zentralperspektive macht Parmenides zum Denker mit dem Blick von oben. Der Blick von oben kann selbstverständlich nur vorläufig charakterisiert werden, ohne dass eine vollständige Typologie oder definitive Beschreibung beansprucht wird. Zu ihm gehören die grundlegende Distanz zwischen Subjekt und Objekt, das beschriebene Zurücktreten vor dem Sein, Teilhabe an einer Offenbarungssituation, Abgrenzung von den Sterblichen und die Herrschaftsperspektive. Hinzu kommt die Zentralperspektive, deren genealogischer Blickwinkel als wesentliches Merkmal für den Blick von oben genannt wurde. Der genealogische Aspekt ist in einem zweifachen Sinne zu verstehen. Erstens in Abgrenzungsfunktion von den Sterblichen, die überhaupt erst einen Blick von außen auf dieselben ermöglicht. Zweitens erhält er in der Betrachtung der kosmischen Dinge eine genealogische Dimension, indem er die Dinge in ihrer scheinbaren Genese anschaut. Bei Parmenides tritt neben das Staunen und Sichwun65 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
dern am Anfang aller Philosophie die Erhabenheit, die wiederum religiöse, ästhetische und genealogische Züge trägt. Diese im parmenideischen Gedicht sichtbar gemachten Dimensionen sind axiomatische Voraussetzungen, ohne die das Gedicht nicht in seinen Erfahrungs- und Erkenntnisdimensionen funktionieren würde. Diese Züge sind Bedingungen der Möglichkeit des parmenideischen Denkens. Der religiöse Aspekt der Erhabenheit besteht in der auserwählten Teilnahme an einer Offenbarung, in der konkreten Begegnung mit der Göttin. Der ästhetische Aspekt wird vor allem sichtbar, wenn das Seiende als Kugel visualisiert, d. h. zugleich ästhetisch als geometrische Figur der Vollkommenheit dargestellt wird. Nicht nur ist die Erhabenheit eine ästhetische Erfahrung, in ihr werden wiederum auch ästhetische Verfahren generiert, wie die Visualisierung des Balls. Der genealogische Aspekt wiederum zeigt sich vor allem in der abgrenzenden Geste gegenüber den Sterblichen, die erforderlich ist, um die Reise zur Göttin anzutreten. Die parmenideische Erkenntnisszene kann also als paradigmatische Schlüsselsituation für das Erhabene im Denken bezeichnet werden. Verbindendes Element ist die Distanz, die sowohl für den ästhetischen als auch für den genealogischen Aspekt von Bedeutung ist. Andererseits kann das gesamte Gedicht aber vor diesem Hintergrund auch als Form praktischer Einübung in die Erhabenheit und damit in die Voraussetzungen des vermeintlich reinen Denkens gesehen werden. Denn die Beobachterposition des Jünglings im Gedicht ist alles andere als voraussetzungslos. Eine Formanalyse des Gedichts bringt die einzelnen Voraussetzungen und Grundannahmen in ihrem visuellen Charakter ans Licht. Das Gedicht ist gewissermaßen die Sichtbarmachung par excellence eines Ideals voraussetzungsloser Beobachtung, das natürlich nicht erfüllen kann, was es vorgibt zu sein. Die eigene Darstellungsform widerspricht der inhaltlichen Behauptung, ihre Erkenntnis sei voraussetzungslos. Die Unterscheidung von Sein und Nichts hat als ihre Voraussetzungen die Erhabenheit und 66 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Der Blick von oben als Traum vom neutralen Blick
den an diese gebundenen Blick von oben. Der Ort des Experiments ist das Proömium des Gedichts, das sich als Nicht-Ort entpuppt und zum Scheitern der Wahrheit führt. Dies bedeutet aber auch, dass die Kritik an der Voraussetzungslosigkeit bereits im Gedicht selbst enthalten ist, da auch die Voraussetzungen selbst aus dem Gedicht herausgelesen werden können. Das parmenideische Gedicht benötigt nicht die Kritik des 20. Jahrhunderts, da die kritische Perspektive in der Form des Gedichts existent ist.
13. Der Blick von oben als Traum vom neutralen Blick Der Blick von oben auf das Sein als Kugel in seinem diagrammatischen Kräfteverhältnis ist etwas, das sich als Prototyp des Traums vom neutralen Blick charakterisieren lässt. Dieser Traum zieht sich in den verschiedensten Varianten, Formen und Spielarten durch die gesamte Geschichte des Denkens – vor und vor allem nach Parmenides. Nicht, dass sich bei Parmenides diese Art des neutralen Blicks das erste Mal feststellen ließe oder zum ersten Mal in der diskursiven Formation der griechischen Philosophie und Literatur aufgetaucht wäre. Bereits Horkheimer und Adorno verweisen auf die »Voraussetzung der Abstraktion« als Begründung eines Herrschaftsverhältnisses zur Natur in der Odyssee Homers. 93 Der Blick von oben taucht aber das erste Mal in der Geschichte des Denkens im Zusammenhang mit dem logischen Unterschied zwischen Sein und Nichtsein auf. Dies macht den distanzierten Blick und dessen Aspekte des Erhabenen, Ästhetischen und Genealogischen so einzigartig in seiner Konstellation, die als zu Recht als Ursprung des abendländischen Denkens gelten kann – ob nun als Denken des Seins oder des Kosmos. Die Erhabenheit im parmenideischen Blick von oben hat an der Produktion zweier My93
Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, 19 ff.
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
then mitgewirkt: dem von der Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein und jenem von der Voraussetzungslosigkeit, die spezifisch ist für den neutralen und interesselosen Blick. Der bei Parmenides entdeckte und herausgearbeitete Blick ist nichts Geringeres als die ursprüngliche Version eines Topos der abendländischen Philosophie, der zahlreiche Varianten und Erscheinungsformen durchlaufen hat. Die Entwicklung und thematisch-historische Verortung dieses Topos haben mehrere Denker des 20. Jahrhunderts untersucht, sei es als romantischer Blick von oben, als stoisches und kynisches Zurücktreten von sich selbst, als voraussetzungsloser Zuschauer, neutraler Beobachter oder als platonischer Scheintod. Es ist die Rede von Pierre Hadot, Michel Foucault, Ludwig Wittgenstein, Hans Blumenberg, Richard Rorty, Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas, die den wirkmächtigen Topos in ihren Schriften auf je eigene Weise reflektiert und verortet haben. So spricht Pierre Hadot vom »Blick von oben«, den er als geistige Übung zwischen Seelenflug und lyrischem Erleben bei Goethe und Baudelaire verortet. 94 Hadot unterscheidet zwischen Seelenflug und Blick von oben, zwei Themen, die eng miteinander verwandt sind: »Blick von oben und Seelenflug: Diese beiden eng miteinander verbundenen Themen haben eine lange und komplexe Geschichte«. 95 Hadot macht darauf aufmerksam, dass der Seelenflug in der modernen Romantik mit dem Traum vom Fliegenkönnen zusammengeführt wird. Im antiken Sinne geht es allerdings um die besondere Macht des Denkens, genauer gesagt um eine »göttliche Natur der Seele, die befähigt ist, sich über Raum und Zeit zu erheben«. 96 Wird die Vorstellung einer Trennung von Körper und Seele dabei unhinterfragt vorausgesetzt, so stellt Hadot vor allem fest, dass die Unabhängigkeit des Denkens, ob als Seelenflug oder Blick von oben, in fast 94 95 96
Hadot 2005, Philosophie als Lebensform, insbes. 123–135. Ebd., 124. Ebd., 125.
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Der Blick von oben als Traum vom neutralen Blick
allen Philosophenschulen als »praktische Übung der Physik« vorkommt – erstmals im platonischen Timaios angedeutet. 97 In Anlehnung an Hadots Thematisierung des Blicks von oben als geistige Übung in der Antike hat auch Michel Foucault diese selbstbefreiende Tätigkeit als erhabenes »Sich-von-sich-selbstLosreißen«, als »Zurücktreten von unserem Standort« und als »Blick von hoch oben hinab auf sich selbst« 98 herausgearbeitet. In der Tradition der Stoiker soll der Blick von oben vor allem zur Seelenruhe führen. 99 Für Hadot kann sich dieser Blick zudem »erbarmungslos auf die menschlichen Unzulänglichkeiten und Schwächen richten« und ist »von allen Philosophieschulen behandelt worden, aber in ganz besonderem Maße […] von der kynischen Tradition«. 100 Wenn der amerikanische Philosoph Richard Rorty in seinem Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität die beiden Begriffe Entfernung und Ironie zusammenbringt, steht auch er in der Tradition des kynischen Distanzhaltens zur Welt. In derselben Haltung setzt er sich mit den Antimetaphysikern Nietzsche, Heidegger und Derrida auseinander. Die Behauptung, dass sich gerade metaphysikkritische Denker wie Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger, Adorno, Foucault, Luhmann und Derrida mit ihrem erhabenen Blick und Ton im Herzen metaphysischer Denkart befinden, ist keine Übertreibung. Allerdings kann der Beobachter im philosophischen Diskurs der Moderne nicht mehr einfach als fliegende Seelenaktivität bezeichnet werden. Vielmehr muss im 20. Jahrhundert die Möglichkeit eines reinen Blicks von oben, eines Seelenflugs hin zur Perspektive des Alls vehement bestritten und kritisiert werden. Es ist an dieser Stelle des metaphysikkritischen Denkens der Moderne, an dem der Blick von oben in den genealogischen Blick umschlägt. Besonders prägnant dafür ist die Philosophie WittEbd., 128. Foucault 2009, Hermeneutik des Subjekts, 341, 343 und 351. 99 Vgl. hierzu auch Sommer 2009, Die Kunst der Seelenruhe. 100 Hadot 2005, Philosophie als Lebensform, 130. Zum spezifischen Blick im Kynismus siehe ebenda 131–133. 97 98
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
gensteins, deren Einteilung in Früh- und Spätphilosophie für den Blick von oben und zugleich für dessen Verabschiedung steht. Ist der Tractatus vor allem an den Blick von oben gebunden, muss man in den Philosophischen Untersuchungen den Blick differenzieren und die genealogischen Aspekte beachten, um Wittgensteins Perspektivwechsel nachzuvollziehen. Mit Markus Gabriel lässt sich in Bezug auf Wittgensteins Tractatus von einem »ästhetischen Äternismus« 101 sprechen. Ihm zufolge ist der ästhetische Äternismus Ausdruck von Metaphysik, die sich primär daran zeigt, dass Wittgenstein »das Kunstwerk als ein Ding sub specie aeterni und damit metaphysisch bestimmt hatte«. 102 Interessanterweise spricht Gabriel von einem Blick auf die Welt, ohne dabei die visuelle Funktion des Blicks im Denken oder in der literarischen Form weiter zu thematisieren. 103 Auch Frédéric Gros spricht in einem Atemzug von »Blick sub specie aeterni oder Vogelschau«, um die »Art und Weise« zu beschreiben, wie die Welt bei Wittgenstein und Foucault »ins Auge gefasst« 104 wird: »Jedenfalls findet sich, was diese Gedankenübung angeht, bei unseren beiden Autoren die gleiche Beschreibung der Erfahrung eines die Welt von oben erfassenden Blicks, durch den sie sich als Notwendigkeit denken lässt, aber eben als eine – unter diesem ethischen Blick – kontingente Notwendigkeit. Ob Blick sub specie aeterni oder Vogelschau, imGabriel 2009, »Der ästhetische Wert des Skeptizismus beim späten Wittgenstein«, 212. 102 Ebd., 207. 103 Weder Gabriel noch Gros stellen eine Verbindung zu Nietzsche her oder bringen die visuelle Ästhetik des Blicks in Zusammenhang mit ihrer literarischen Form oder ihres genealogischen Einschlags. Während Gabriel eine Kontinuität zwischen Wittgensteins Früh- und Spätwerk in Bezug auf den ästhetischen Äternismus feststellt, mache ich vor allem auf die neue Dimension des Genealogischen in den Philosophischen Untersuchungen aufmerksam. Vgl. hierzu Bernardy 2014, Warum Macht produktiv ist, bes. 198–204. 104 Gros 2009, »Bemerkungen zum Verhältnis Wittgenstein/Foucault«, 106. 101
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mer wird die Welt auf eine Art und Weise ins Auge gefasst, die weit entfernt von jedem Erkenntnisanspruch ist. Tatsächlich könnte man bei diesem totalen Blick auf die Welt an Kontemplation denken, an theoria, an den Traum von der absoluten, erkennenden Durchdringung, aber hier steht er eben für die ethische Erfahrung der Freiheit.« 105
In ähnlicher Perspektive hat Hans Blumenberg die Metapher des Schiffbruchs auf die Möglichkeit des Zuschauers hin untersucht und den Positionsverlust des Zuschauers von Lukrez über Schopenhauer bis in die Gegenwart nachgezeichnet. 106 Bemerkenswerterweise bringt Blumenberg die Schiffbruchmetapher in ihrer Zuschauerrelation am Ende mit »Carnaps Fiktion einer aus sauberen Atomsätzen aufgebauten idealen Sprache« 107 in Verbindung. Das Nachdenken über die Möglichkeit reiner, voraussetzungsloser Zuschauertätigkeit habe Carnap zur Frage nach einer idealen Aussagbarkeit im Medium der Sprache geführt. Ebenso hat Foucault in Die Geburt der Klinik mit seiner Zusammenführung von Sprechen und Sehen die Metapher vom sprechenden Auge für ein wissenschaftliches Beobachtungsideal fruchtbar gemacht: »Über alle Bemühungen, die das klinische Denken zur Definition seiner wissenschaftlichen Methoden und Normen unternimmt, schwebt erhaben der große Mythos eines reinen Blicks, der reine Sprache ist: der Mythos eines sprechenden Auges. Dieses Auge blickt auf die Gesamtheit des Spitalfeldes, es sammelt alle einzelnen Ereignisse, die sich in ihm abspielen; und je mehr und je besser es sieht, umso mehr wird es Wort, das aussagt und lehrt; die Wahrheit, die sich in den Wiederholungen und Konvergenzen der Ereignisse unter seinem Blick abzeichnet, ist durch diesen Blick und gerade durch ihre Anordnung als Lehre denen vorbehalten, die nicht wissen und noch nicht gesehen haben. Dieses sprechende Auge ist Diener der Dinge und Herr der Wahrheit.« 108 Ebd. Blumenberg 1979, Schiffbruch mit Zuschauer. 107 Ebd., 73. 108 Foucault 1988, Die Geburt der Klinik, 128. Das Motiv des allsehenden Auges zieht sich auch durch andere zentrale Werke Foucaults; etwa als Au105 106
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
Ein ähnliches Postulat wendet Hadot auf den Historiker an: »Der Blick des Historikers muss der gleiche sein wie der des Philosophen, nämlich mutig, unparteiisch, vorbehaltlos keinem Lande zugehörig, allen gegenüber wohlwollend, weder der Freundschaft noch dem Hass Zugeständnisse machend. Und diese Haltung muss in seiner Darstellungsweise zum Ausdruck kommen.« 109 Es wäre leicht, zahllose weitere Beispiele für das Ineinsfallen von reinem Blick und wissenschaftlicher Haltung zu finden, etwa bei Husserls Begriff der epoché oder auch der von Habermas postulierten Einheit von Erkenntnis und Interesse in der Selbstreflexion. In jüngster Zeit hat sich insbesondere Peter Sloterdijk in seiner Schrift Scheintod im Denken als Analytiker des neutralen Beobachters hervorgetan, indem er analog zu Pierre Hadot die Funktion der Übung im geistigen Rückzug antiker Philosophieschulen betont. In seiner Tübinger Vorlesung führt Sloterdijk die epoché Husserls auf ihre platonischen Vorläufer zurück und spricht vom epoché-fähigen Menschen. In der sloterdijkschen Genealogie geht es dabei um nichts Geringeres als um die feierliche Geburt des homo theoreticus. Sloterdijk schließt seine Schrift mit einem Kapitel über die modernen Attentate gegen den neutralen Beobachter. 110 Hierin lässt sich leicht der Versuch einer Historisierung des neutralen Beobachters erkennen, dessen Kritik im 20. Jahrhundert von vielen Seiten geäußert und in gewisser Hinsicht auch abgeschlossen wurde. Ob in Wissen-
ge Gottes in »tropischen Hieroglyphen« in Die Ordnung der Dinge (Foucault 1974, 154) und als überwachendes Auge der Disziplinarmacht in Überwachen und Strafen (Foucault 1976, 224): »Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewusst werden muss: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären.« 109 Hadot 2005, Philosophie als Lebensform, 134. 110 Sloterdijk 2010, Scheintod im Denken, 132.
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schaft, Philosophie oder Kunst, die Möglichkeit voraussetzungsloser Beobachtung von Natur ist im 20. Jahrhundert gründlichst widerlegt worden. In der Kunstwissenschaft ist hier an prominenter Stelle Ernst Gombrich mit seiner Geschichte der Kunst zu erwähnen, in welcher er unter Rückgriff auf Popper und Malraux die Unmöglichkeit voraussetzungsloser Beobachtung darlegt. Repräsentativ in der gleichen Sache, wenngleich auf anderem Gebiet, ist Karl Popper, der als prominenter Wissenschaftsphilosoph des 20. Jahrhunderts das Ideal voraussetzungsloser Beobachtung kritisiert und widerlegt hat. Von der junghegelianischen »Zurückbettung der Theorie in die Praxis« zu Nietzsches »Abkehr des modernen Denkens von den Fiktionen des epistemischen Souveränismus«, von Lukács, Heidegger und Sartre bis zu den Unterwanderungen des Wissenschaftsbetriebs durch wissenssoziologische, feministische und neurowissenschaftliche Forschungen. Für Sloterdijk münden all diese Positionen in die »Forderung, den Traum von einer reinen apathisch-noetischen Theorie ad acta zu legen«. 111 Mit Sloterdijks Position stimmt auch die philosophiehistorische Diagnose und Einteilung von Jürgen Habermas überein, wenn er eine antike Variante des neutralen Beobachters in der theoretischen Einstellung im aristotelischen Denken ausmacht und diese von modernen Erfahrungswissenschaften abgeschafft sieht: »Die theoretische Einstellung des interesselosen Naturbeobachters setzt Aristoteles von zwei anderen Einstellungen ab. Er unterscheidet sie einerseits von der technischen Einstellung des produzierenden und zielgerichtet handelnden Subjekts (…) und andererseits unterscheidet er sie von der praktischen Einstellung der klug oder sittlich handelnden Personen (…). Die ›Logik‹ dieser Handlungsformen, die bei Aristoteles noch auf bestimmte Regionen des Seienden zugeschnitten waren, hat die ontologische Dignität der Erschließung eines jeweils spezifischen Weltausschnitts verloren. Dabei spielen die modernen Erfahrungswissenschaften eine wichtige Rolle. Sie haben die objektivierende Einstel-
111
Ebd., 143.
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lung des interesselosen Beobachters zusammengeführt, der experimentelle Effekte erzielt.« 112
Die Geschichte der Transformation des neutralen Blicks bzw. des Blicks von oben kann hier nur angedeutet werden. An dieser Stelle gilt das, was Peter Sloterdijk für seine »Hinweise auf Variationen und Entfaltungsstufen des platonischen ScheintodThemas« bemerkt hat: »(…) jede einzelne von ihnen dürfte angesichts der Fülle der Überlieferung als beinahe beliebig gelten.« 113 Dennoch fällt der Blick von oben in das riesige Feld, das Sloterdijk folgendermaßen umschreibt: »Das alteuropäische Abenteuer der Mortifikation zugunsten reiner Erkenntnis überspannt inzwischen eine Ära von nahezu zweieinhalb Jahrtausenden.« 114 In dieser Hinsicht eröffnet also die aus dem parmenideischen Gedicht heraus entwickelte Frage letztlich einen Horizont, der mit dem Gesamtprojekt Philosophie grundlegend verbunden ist. Bei allen Variationen des platonischen Scheintod-Themas stellt Sloterdijk drei Konstanten heraus: »(…) den Rückzug vom profanen Leben; zum zweiten die Stärkung des exzentrischen Zeugen; zum dritten den Tausch der kleinen Subjektivität gegen die große Seele.« 115 In Bezug auf das parmenideische Lehrgedicht sind vor allem die ersten beiden relevant, da sie darin auf prägnante und reine Weise zum Ausdruck kommen. Als vierte Konstante muss in Bezug auf Parmenides die Voraussetzungslosigkeit des Scheintods hinzugefügt werden, von der aus der neutrale Blick die Position seiner Aussagen im Diskursraum zu platzieren versucht. Mit Platon und Aristoteles differenziert sich der bei Parmenides angelegte Blick und schafft zugleich die konkrete Umsetzung für einen neutralen Beobachter von Natur und Wahrheit des Seienden: Platon im Akt einer
112 113 114 115
Habermas 2001, Die Zukunft der menschlichen Natur, 80 f. Sloterdijk 2010, Scheintod im Denken, 125. Ebd., 125. Ebd., 126.
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Wahrheitsschau reiner Ideen, Aristoteles in der dem interesselosen Naturbeobachter vorbehaltenen theoretischen Einstellung. Aber sind die Möglichkeiten des neutralen Beobachters und der theoretischen Einstellung tatsächlich ad acta gelegt? Ist der Blick von oben vollends aus dem philosophischen Diskurs verschwunden? Gibt es nicht auch moderne Denkansätze – speziell im 20. Jahrhundert –, die ähnliche Strategien angewandt haben und die innerhalb einer Transformationsgeschichte dieses Blicktyps zu sehen sind? So verweist Sloterdijk auf die moderne Aktualisierung des Zeugen-Mythos und den darin eingebundenen exzentrischen Beobachter bei Luhmann, um nur ein Beispiel zu nennen: »In der jüngsten Redaktion des Zeugen-Mythos durch die Luhmannsche Systemtheorie ist von einem Beobachter die Rede, der die Tätigkeiten anderer Beobachter intelligent beobachtet – wobei das Denken, ohne Bezug auf externe Ankerpunkte von ›Wahrheit‹, als Differential zwischen Beobachtungen erster und zweiter (oder höherer) Ordnung gilt. In allen Varianten des Zeugenbewußtseins wird eine mehr oder weniger exzentrische (stets nach innen exzentrierte) Intelligenz postuliert, die aus ihrem methodisch erworbenen Abseits ein gewisses Maß an Übersicht und Einsicht zu gewinnen vermag.« 116
Eine weitere Variante des Blicks von oben taucht überraschenderweise in einer der ambitioniertesten Theorien zur kognitionspsychologischen und evolutionären Verhaltensforschung unserer Gegenwart auf. In seiner Naturgeschichte des menschlichen Denkens schreibt der US-amerikanische Kultur- und Gesellschaftsanthropologe Michael Tomasello den Urmenschen eine besondere Fähigkeit zu: gemeinsam zu handeln. Gemeinsames Handeln wiederum setzt eine geteilte Intentionalität voraus. Das dazugehörige kognitive Werkzeug besteht in der Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und aus einer Vogelperspektive 117 auf sich und den anderen zu 116 117
Sloterdijk 2010, Scheintod im Denken, 128 f. Vgl. hierzu Tomasello, 2014, Die Naturgeschichte des menschlichen
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Parmenides und das erste Gedicht der Philosophie
blicken. Der Traum vom neutralen Blick scheint sich also nicht nur in der gegenwärtigen Wissenschaft als spezifische kognitive Funktion materialisiert zu haben. Mit Blick auf die Forschungen von Michael Tomasello lässt sich sogar die Vermutung anstellen, dass sich der Blick von oben zu einem Mainstream-Topos der naturalistischen Theoriebildung entwickelt haben könnte.
Denkens. Für diese evolutionäre so entscheidende objektive Vogelperspektive, die auch für die historische Herausbildung der menschlichen Moral verantwortlich sein soll, stützt sich Tomasello u. a. auf den Philosophen Thomas Nagel und dessen Werk Der Blick von nirgendwo.
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II. Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
»Mein Traum war es, eine vollkommene, logische Sprache zu schaffen, die in der Lage ist, alles mit der äußersten Präzision darzustellen.« Ludwig Wittgenstein
1. Die literarische Form des Tractatus Die These, dass der Traum vom neutralen Blick zu einem Mainstream-Topos geworden ist, und zwar bereits im 20. Jahrhundert, möchte ich an einem anderen sehr einflussreichen Text aus der Philosophie belegen. Dieser Text teilt nicht nur ontologische Prämissen mit Parmenides, auch in der Form weist er charakteristische Gemeinsamkeiten mit dem parmenideischen Lehrgedicht auf. Die Rede ist von Ludwig Wittgensteins Traum einer Idealsprache im Tractatus logico-philosophicus, der zugleich den neutralen Blick in Anspruch nimmt. Zwar bilden auch hier inhaltlicher Gedanke und sprachliche Artikulation einen unentwirrbaren Gesamtkomplex, allerdings liefert der methodische Blick auf die Form Erkenntnisse, die beim Vergleich auf rein inhaltlicher Ebene verlorengingen. Zugleich zeigt der Tractatus, wie die ontologische Gedankenstruktur von Parmenides im 20. Jahrhundert nachvollziehbar ist, wenngleich in historisch angepasster Form. Kaum ein Werk des 20. Jahrhunderts hat die Produktion von Sekundärliteratur so angeregt wie der Tractatus. Der Beobachtung von Manfred Frank ist daher zuzustimmen, »die Fachliteratur« habe »sich mit der logischen Ordnung und der Kohärenz seiner Fragmente ähnlich abgemüht wie die Spezialisten der 77 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
Fichte-Studien oder der Enzyklopädistik des Novalis«. 118 Dies liegt wohl nicht zuletzt an Wittgensteins Mut zur radikalen Offenheit seiner Gedanken. Diese Offenheit spiegelt sich nicht nur in einer produktiven Unabgeschlossenheit oder in einem Mangel an Systematik wieder; in Wittgensteins Werk regiert nicht einfach nur die Abwesenheit eines systematischen Entwurfs. Während die einen Wittgenstein daher oftmals mit der deutschen Romantik in Verbindung bringen und an die Tradition des Fragments von Schlegel erinnern, heben andere vor allem den aphoristischen Charakter des wittgensteinschen Denkens hervor. In textpragmatischer Perspektive und aus heutiger Sicht ist es insbesondere das Fehlen von Zitaten und Quellenhinweisen, das den Tractatus zu einem offenen und an unterschiedlichste Interpretationen anschlussfähigen Werk macht. Im Vorwort bemerkt der Autor lakonisch: »Ja, was ich hier geschrieben habe macht im Einzelnen überhaupt nicht Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat.« 119 In diesem Sinne kann keine Sekundärliteratur an ihr Ende kommen, da sie die Quellen selbst an den Tractatus heranbringen und somit aus dem Unendlichen schöpfen muss. Die Form des Tractatus weist weitere Besonderheiten auf. Zum Beispiel der Abstraktionsgrad, der auch auf der formalen Ebene seinen Ausdruck findet. Wittgenstein philosophiert nicht explizit mit logischen Mitteln wie Prämissen, Schlüssen oder Beweisen. Einen solchen Mangel bezeichnet Holm Tetens als einen Umstand, der für ein philosophisches Buch schlichtweg paradox ist. 120 Man kann sogar behaupten, dass die Gedanken im Tractatus nicht in einem strengen argumentativen Modus vorgetragen werden. Die einzige Formalisierung besteht in der 118 119 120
Frank 1992, Stil in der Philosophie, 105. Wittgenstein 1999, Vorwort, 7. Tetens 2008, Wittgensteins Tractatus, 7.
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Die literarische Form des Tractatus
Nummerierung der Sätze. Verglichen mit der Ethik Spinozas beispielsweise bleibt diese Nummerierung sehr abstrakt und in logischer Hinsicht kaum aussagekräftig. Während Spinoza zwischen These und Beweis unterscheidet, indem er die jeweiligen Aussagen als solche kennzeichnet, findet sich bei Wittgenstein kein eindeutiger Hinweis solcher Art. Lediglich eine Andeutung wird gemacht, dass die »Nummern der einzelnen Sätze […] das logische Gewicht der Sätze an[deuten]«. Dieses logische Gewicht charakterisiert Wittgenstein in der Folge als »Nachdruck, der auf ihnen [den Sätzen] in meiner Darstellung liegt«. 121 Für Wittgenstein gibt es also sehr wohl eine Gewichtung, die durch Zahlen und deren logische Beziehung aufeinander abgebildet werden soll. Allerdings bleibt diese Gewichtung eine indirekte Andeutung. Der Nachdruck wird auf der ästhetischen Ebene zu einem Eindruck des Erhabenen, der sich vor allem in seiner Intensität fassen lässt, wie Gunter Gebauer betont: »Die visuelle Gestalt des Tractatus überträgt nicht so sehr das ›logische Gewicht‹, wie Wittgenstein meint, sondern die Intensität der vorgetragenen Gedanken in das Material des Textes.« 122 Die Zahlen wirken wie aneinandergereihte Wegmarken, die sich eher einer symbolischen Kraft und Magie von Zahlen bedienen, als dass sie eine logische Beziehung einzelner Satztypen unterschieden. Selbstverständlich kann jeder Satz n als Elementarsatz gelesen werden, auf den alle anderen Sätze n1, n2, etc. zurückgeführt werden können, allerdings befinden wir uns damit immer noch im Bereich der Andeutungen und es ist Tetens beizustimmen, dass der Tractatus paradoxerweise so gut wie gar nicht argumentiert. Auf die durch die Dezimalnotation lediglich suggerierte Systematik macht auch Gebauer aufmerksam, wenn er schreibt: »Der Tractatus besticht nur scheinbar durch Systematik – in Wahrheit gibt die Dezimalnotation eine strikte Ordnung vor; das darin ausgedrückte Denken besitzt eine solche 121 122
Wittgenstein 1999, Vorwort, 9. Gebauer 2009, Wittgensteins anthropologisches Denken, 53.
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
Ordnung gar nicht.« 123 Aufgrund dieser schwachen logischen Darstellungskraft der Zahlen ist wohl auch die positivistische Lesart so naheliegend, die aus dem Tractatus vor allem deskriptive Aussagen über die logische Beziehung von Sprache und Welt zieht. So hat eine gesamte Generation von Wissenschaftsphilosophen den Tractatus als eine wissenschaftliche Weltauffassung des Positivismus lesen können, obwohl sich Wittgenstein selbst von derselben distanziert hat.
2. Der Tractatus als Mythos und Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts Nach Gottfried Gabriel gibt es zwei große Deutungsrichtungen des Tractatus, die wissenschaftstheoretische und die existenzialistische. Während erstere zumeist auf Frege, Carnap und Russell Bezug nimmt, lässt sich die zweite Richtung von der Daseinsanalyse im Sinne Heideggers, aber auch von romantischen Dichtern und Denkern wie Schlegel und Novalis leiten. 124 Für Gottfried Gabriel ist die literarische Form das Scharnier, um weder der einen noch der anderen Seite in ihrer Einseitigkeit zu verfallen. Interessanterweise rechnet Gabriel den Tractatus in formaler Hinsicht zum Mythos. Auch andere Autoren wie Holm Tetens und Oswald Schwemmer beziehen die literarische Struktur ein. Während Tetens mit Verweis auf Tolstoi die religiöse Seite hervorhebt, interessiert sich Schwemmer für die im Tractatus aufgeworfenen wahrnehmungstheoretischen Zusammenhänge von sprachlicher Form und logischem Denken. Die literarische Form gilt Gabriel als wesentliches Mittel zur hermeneutischen Erschließung des Ausgesagten und zur formalen Bestimmung als Mythos. Während er unter Rückgriff auf Karl
123 124
Ebd., 106. Vgl. Walser 1995, Selbstbewusstsein und Ironie.
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Der Tractatus als Mythos und Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
Kraus insbesondere den Aphorismus hervorhebt, arbeitet Manfred Frank die Nähe zu Schlegels Fragment heraus. Keiner von beiden versucht allerdings die Form als Ganze zu analysieren. Vor diesem Hintergrund ist insbesondere Gabriels These interessant, dass der Tractatus formal zum Mythos zu rechnen sei: »Vom Tractatus könnte man meinen, dass sich hier der Logos des Sagens von Tatsachen in der sich zeigenden Form des Mythos präsentiert. Mit seiner literarischen Darstellung stellt sich dieser Text formal auf die Seite des Mythos.« 125 Es scheint jedoch, dass Gabriel in seiner literarischen Formanalyse nicht weit genug gegangen ist. Nicht nur den zeigenden Charakter kann man fortführen, auch der Vergleich mit der Form des Mythos kann Erkenntnis bringen, wenn eine konkrete mythische Form herangezogen wird. Ich möchte nun neben der in der Forschungsliteratur wirkmächtigen Form des schlegelschen Fragments auf eine neue Ähnlichkeit aufmerksam machen: auf die zwischen Wittgensteins Tractatus und Parmenides’ Lehrgedicht. Gottfried Gabriel hat recht, wenn er schreibt, dass weder der Tractatus noch die Philosophischen Untersuchungen Lehrbücher seien. 126 Aber ist damit ausgeschlossen, dass der Tractatus ein Lehrgedicht sein könnte, das strukturelle Ähnlichkeiten mit dem parmenideischen Gedicht aufweist? Könnte sich auf der Ebene der Form eine Poesie des Abstrakten in der Geschichte der Philosophie durchgesetzt haben, die zugleich zu einer Ästhetisierung und Poetisierung neigt? Wenn der Tractatus nach Gottfried Gabriel selbst (zumindest in formaler Hinsicht) auf der Seite des Mythos steht, ist die Behauptung Gabriels dann falsch, dass es für die akademische Philosophie keinen anderen Weg gibt als denjenigen, der auf direkte Weise argumentiert? In seiner Antrittsvorlesung bemerkt Gabriel:
125 126
Gabriel 1996, »Mythos und Logos«, 56. Gabriel 1991, Zwischen Logik und Literatur, 31.
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
»Wenn es nun aber richtig ist, dass Literatur Erkenntnis vermitteln kann, und zwar in einer eigentümlichen, durch Wissenschaft nicht ersetzbaren Weise, dann stehen für die Philosophie zwei Wege der Erkenntnis offen: der direkte, argumentierende (unterscheidende und behauptende) Weg, wie ihn die Wissenschaft vorzeichnet, und der indirekte, zeigende, wie ihn die Literatur weist. In meinem Vortrag habe ich den ersten Weg gewählt – und für die akademische Philosophie gibt es wohl auch keinen anderen.« 127
In gewisser Weise wiederholt Gabriel die Losung der parmenideischen Göttin, aber eben nicht für das, was gedacht werden kann, sondern für die Art und Weise, wie Philosophie artikuliert werden kann und soll. Nach diesem Diktum wäre der Tractatus Literatur und keine Philosophie mehr. Es würde sich die Frage stellen, inwiefern Gabriel ihn als einen philosophischen Text überhaupt rezipieren kann. Allerdings ist dies bei weitem nicht die Ansicht Gabriels, der einige Sätze später Wittgensteins Aussage zitiert, dass man Philosophie eigentlich nur dichten könne. Nach Gabriel wird Philosophie durch die Hinführung zur kontemplativen Weltauffassung »methodisch in die Nähe der Literatur gerückt«. 128 Dies bedeutet zugleich, dass die Unterscheidung zwischen behauptendem und zeigendem Philosophieren nicht aufrechtzuerhalten ist. Diese ist nicht nur zu allgemein und grob, sie setzt entgegen, was in ein und demselben Text gemeinsam, in einer einzigen Aussage zugleich auftreten kann. Die Lehrgedichte von Parmenides und Wittgenstein sind die besten Beispiele dafür, indem sie die abstrakte Performativität des anschauenden Denkens mit seinen Grundannahmen und Bedingungen zeigen. Zum Klarwerden von Sätzen gehört das Erkennen der visuellen Präsuppositionen und Voraussetzungen in ihrer ästhetischen Form. Ins Visier genommen wird der grundlegend zeigende Charakter des Literarischen in beiden Werken, den Fabian Gop-
127 128
Ebd., 18. Ebd.
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Der Tractatus als Mythos und Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
pelsröder für den Tractatus in einem »auf Aisthesis zielenden Umgang mit Sprache« 129 sieht. Ein weiteres Erkenntnisinteresse des Tractatus zielt damit auf eine Veränderung der Wahrnehmung, darauf, die Welt aus der richtigen Perspektive zu betrachten. Der ästhetische Nachdruck entsteht nicht nur durch die visuelle Gestaltung, er wird ebenso durch Rhythmus und musikalische Struktur erzeugt. Das Nummerierungsprinzip gibt den Rhythmus vor und lässt zugleich ein strukturbildendes System erkennen, das zwischen forte, decrescendo und crescendo unterscheidet. 130 So ist auch Oswald Schwemmers Bemerkung zu verstehen, wenn er »Wittgensteins eigene Sprache« als »musikalische Aufführung« bezeichnet, »mit der einer der schönsten, weil klingenden Texte der philosophischen Weltliteratur sich bleibend in die Philosophiegeschichte eingeschrieben hat«. 131 Die Dimension des ästhetischen Nachdrucks muss also in ihrer visuellen Anordnung, rhythmischen Struktur und aphoristischen Kürze gesehen werden, wenn sie in vollem Umfang berücksichtigt werden will. Dies aber macht sie in formaler Hinsicht mehr zu Poesie als zu Literatur. Vom Rhythmus der Zahlen als poetisches Merkmal des Tractatus führt ein direkter Weg zur Leiter, die dem Gedicht seinen moralischen und appellativen Charakter verleiht. Die berühmte Stelle im vorletzten Satz des Tractatus lautet: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)« Mit der Leitermetapher, die Wittgenstein höchstwahrscheinlich von dem Sprachkritiker Fritz Mauthner übernommen hat, wird der Leser Goppelsröder 2007, Zwischen Sagen und Zeigen, 31. Zum sagenden und zeigenden Charakter des Tractatus vgl. vor allem ebd., 13–34. 130 Dies vertritt Kienzler 2009, »Die Sprache des Tractatus«, 232–233. 131 Schwemmer 2011, Das Ereignis der Form, 53. 129
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
direkt angesprochen. Hier lässt sich die Frage aufspannen, ob Wittgensteins poetische Prosa nicht in der Tradition jener literarischen Form steht, die im Zeitalter der Aufklärung als Lehrgedicht bezeichnet wurde und sich in enger Nähe zur Fabel aufhielt. Der appellative Charakter der letzten Sätze endet in dem berühmten Schweigeappell an den Leser, in dem ethischer Auftrag und ästhetische Form zusammenlaufen. »Wittgensteins Sätze«, so Fabian Goppelsröder, »werden als Sprossen einer Leiter gebraucht, die nicht auf eine finale These hinführt, sondern zu einer veränderten, vielleicht überhaupt zur ernsthaften WeltSicht.« 132 Hierin gleicht der Leser nicht nur dem Jüngling in Parmenides’ Lehrgedicht, der von der Göttin zum eigenen Durchdenken und zur kritischen Überprüfung ihrer Worte aufgefordert wird. Während die parmenideische Göttin dies vor der eigentlichen Seinsoffenbarung tut, behält sich Wittgenstein seinen ethischen Auftrag für das Ende auf. Ganz wie in der Tradition der Fabel und des moralischen Lehrgedichts kommt die Moral zum Schluss. Mit der Leiter und dem Schweigen wird erneut »das Aisthetische grundlegend Bestandteil des Tractatus und macht ihn zum literarischen Werk«. 133 Die logische Form der Wirklichkeit verblasst, am Ende steht die Grenze der Sprache in ihrer ästhetischen Wahrnehmbarkeit. Wer so sehr auf die eigene Praxis des Lesers aus ist, der nimmt sich selbst zurück und fordert in stilistisch-hyperbolischer Manier die Überwindung des aufgebauten Gedankensystems. Wittgenstein lässt den Leser nicht mit der richtigen Weltsicht zurück. Beim Tractatus handelt es sich nicht um ein Lehrbuch. Aber es gibt gute Gründe, der Dimension des Zeigens und den auf die eigene Urteilskraft abzielenden Bewegungen ihren belehrenden und pädagogischen Aspekt nicht abzusprechen. Der ethische Appell an den Leser findet sich auch in der Form wieder. 132 133
Goppelsröder 2007, Zwischen Sagen und Zeigen, 34. Ebd.
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Wittgensteins Neuformulierung des parmenideischen Diktums
3. Wittgensteins Neuformulierung des parmenideischen Diktums Wird der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der parmenideischen Dichtung betrachtet, ist zunächst auf die Erhabenheit hinzuweisen, mit welcher er eröffnet wird: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Die Rede von der Welt als Ganzem ist nicht nur Gestus der Erhabenheit über das Ganze, in ihr machen sich eine feierliche Nüchternheit und ein nüchterner Blick auf die Welt bemerkbar. Der Ton ist hoch, die Sicht abstrakt. »Mein Ideal«, so Wittgenstein, »ist eine gewisse Kühle. Ein Tempel, der Leidenschaften als Umgebung dient, ohne in sie hineinzureden.« 134 Damit schließt er an einen ästhetischen und prophetischen Duktus an, den Jaspers im Ausgang von Nietzsche bei Parmenides und Heraklit verortet hat. In den ersten Sätzen des Tractatus vollzieht sich eine Wiederholung der parmenideischen Erhabenheit, formal wie inhaltlich. Im parmenideischen Gedicht muss sich der nach Erkenntnis strebende Jüngling über die Welt erheben, um das Wort der Göttin zu hören. In ähnlicher Manier erhebt sich der Anfang des Tractatus über die Welt und weist – selbstverständlich mit anderen literarischen Mitteln – einen mythologischen Beginn auf, der sich als »Schöpfungsmythos« charakterisieren lässt. 135 Die Welt zeigt sich mittels Gestus und Stimmung der Erhabenheit. Sie wird gesetzt, nicht hergeleitet. Die aus Tatsachen bestehende und durch Tatsachen bestimmte Welt bildet den logischen Raum, in dem »die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist«. Die Gesamtheit der Dies ist eine Bemerkung Wittgensteins aus dem Jahr 1930, zu finden in der Wiener Werkausgabe, Band II, 77. Hier zitiert aus Gebauer 2009, Wittgensteins anthropologisches Denken, 106 und 254. 135 Vgl. hierzu Goppelsröder 2007, Zwischen Sagen und Zeigen, 33. Goppelsröder übernimmt diese Idee von Brian F. McGuinness und meint damit, dass der Anfang des Tractatus eine setzende Behauptung ohne Herleitung und Begründung sei. 134
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
Tatsachen ist insofern wesentlich, als sie einerseits nur in ihrer Gesamtheit die Welt zu bestimmen vermag und andererseits unveränderlich ist. Der Tractatus ist ein einzigartiger Beweis dafür, dass die Möglichkeiten und erkenntnisstiftenden Dimensionen der mythologischen Erzählung in der Moderne keineswegs annulliert sind. So aktualisiert der Beginn des Tractatus die ontologische Konzeption des Parmenides, die in der wittgensteinschen Aktualisierung auf diesen Nenner gebracht werden kann: Nur das Seiende, nur die Tatsache ist; was nicht der Fall ist, ist nicht oder lässt sich zumindest nicht aussprechen. Die poetische Feierlichkeit im Tractatus geht einher mit einer gewissen Knappheit, Kompromisslosigkeit und Autorität, die sich in der formalen Ästhetik und im setzenden Befehlston widerspiegeln. Hiermit rückt der Tractatus in die Nähe der prophetischen Offenbarung, die sich bei Parmenides in der Stimme der Göttin artikuliert. Über den Zusammenhang von logischem Zwang und unbegründbarer Gewissheit schreibt Jaspers: »Es ist in ihm ein Ton, der im logischen Zwingen wie ein Befehl ist, und es ist darin der Jubel der Gewissheit im Grund aller Dinge. Die Begründung des Unbegründbaren ist die Form der prophetischen Offenbarung.« 136 Mit dieser Behauptung soll auf keinen Fall ignoriert werden, dass nicht wenige Sätze (sogar die Mehrzahl) im Tractatus über Logik handeln. Dieser Teil des Tractatus ist mehr Lehre als Gedicht, allerdings wird gerade an den Sätzen zur Sprachlogik deutlich, wie sehr die logische Darstellung, in der Form von Wahrheitstafeln etwa, auf einer Ästhetik der Klarheit gründet. Die Klarheit wiederum hat in ihrer operationalisierenden Funktion der Darstellung einen reduktiven, geschlossenen Charakter. Dies zeigt sich nicht nur an der Prägnanz der Sätze und an der Erhabenheit im Ton. Wie die mythologische Narration arbeitet auch der Tractatus mit Formen der Reduktion, die sich mit Kierkegaard gesprochen auf eine »sophistische Lust der 136
Jaspers 1992, Die großen Philosophen, 642.
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Wittgensteins Neuformulierung des parmenideischen Diktums
Phantasie« zurückführen lassen, »auf solche Art die ganze Welt in einer Nußschale zu haben«. Auch hier wiederholt sich eine geometrische Form, die in der parmenideischen Kugel einen philosophischen Ursprungsmythos findet – bei Parmenides ist die Kugel das erste Mal zentraler Bestandteil der Wahrheitsoffenbarung. Sie ist nicht nur Symbol für eine pythagoreische Harmonie des Kosmos, sondern performativer Bestandteil des Erkenntnisprozesses zwischen Imagination und Denken. In Wittgensteins Tractatus impliziert die Reduktion zunächst die Tatsachen, denn die »Reduktion der Welt auf das Tatsächliche ist zu einer der Grundthesen des logischen Positivismus und Empirismus geworden«. 137 Die Bedeutung der reduktionistischen und kompakten Form der Kugel wird auch in neueren Kontexten der Evolutionsbiologie hervorgehoben: »Die Kugelform verbindet kleinste Außenfläche mit dichtester Packung von Material im Innern; sie minimiert den direkten Kontakt mit der Umwelt. Gleichzeitig ist und bleibt sie die am wenigsten bewegliche Form, weil sie sich eigentlich nur um sich selbst drehen kann und für Ortsveränderungen passiver Verdriftung bedarf.« 138 Das Kügelchen war daher nicht nur der erste Urorganismus, der sich gegen seine Umwelt abzugrenzen vermochte, die Kugel repräsentiert einen bestimmten Typ ästhetischer Schönheit: »Die aus der Kugelgestalt abzuleitende Radiärsymmetrie findet sich dementsprechend auch bei sehr vielen festsitzenden Tieren, die gemäß ihrer Form ›Blumentiere‹ genannt werden.« 139 Die Kugel ist in ihrer radiärsymmetrischen Form ein Ausdruck ästhetischer Vollkommenheit. Nicht zuletzt ist die Vollkommenheit auch ein Hauptmerkmal in Parmenides’ Beschreibung der Kugel. Analog zu den parmenideischen Reduktionsmechanismen entwirft Wittgenstein die Gegenstände Gabriel 1996, »Mythos und Logos«, 55. Reichholf 2011, Der Ursprung der Schönheit, 204. 139 Ebd., 204 f. Zur Bedeutung der Symmetrien und ihrer evolutionsbiologischen Funktionen im Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt vgl. ebd., 202–220. 137 138
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
der Welt in komprimierter Form und vor allem ohne innere Eigenschaften. In diesem Sinne betont auch Schwemmer die Besonderheit der »minimalistischen Sprachkonstruktion« Wittgensteins, die darin liegt, »dass die Gegenstände ohne Eigenschaften gedacht werden«. 140 Die Welt besteht aus Tatsachen, die auf Sachverhalte zurückzuführen sind, welche wiederum mit Namen versehen werden. Unter dem Blick von oben gerinnt die Welt zu einem Bild, in dem sich Sprache und Welt in ihren internen Strukturen entsprechen. Mit dieser ontologischen Konzeption, in der Welt und Sprache eine interne Struktur bilden, wiederholt Wittgenstein eine an Parmenides angelehnte Ontologie vollkommener Immanenz. Vollkommen, weil sie kein Außen besitzt. Die geschlossene Immanenz zeigt sich prägnant im folgenden Satz aus dem Tractatus, in dem der logische Raum als begrenztes Ganzes vorgestellt wird: »Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen.« Der Kontext dieser Aussage ist die solipsistische Annahme, dass die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Welt bedeuten, so dass Ich und Welt eine Einheit bilden und den gesamten logischen Raum ausfüllen. In diesem Kontext wiederholt sich im Tractatus tatsächlich die berühmte Aussage der parmenideischen Göttin: »Wir können also in der Logik nicht sagen: Das und das gibt es in der Welt, jenes nicht. […] Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können.« Von Wittgenstein in den Kontext des Solipsismus gestellt, ist diese Aussage eine Neuformulierung des Diktums der parmenideischen Göttin, das folgendermaßen lautet: »Denn was eben nicht ist, kannst du wohl weder wahrnehmen – denn das ist unvollziehbar – noch aufzeigen.« Darüber hinaus erweitert Wittgenstein den Spruch mit folgendem Argument: Die Logik kann nicht das Undenkbare denken oder aussprechen, weil sie sonst 140
Vgl. dazu auch Schwemmer 2011, Das Ereignis der Form, 35 und 47 f.
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Wittgensteins Neuformulierung des parmenideischen Diktums
ihre Grenzen und damit die Grenzen der Welt übertritt. Die Stimme im Tractatus hält es für unmöglich, dass die Logik »diese Grenzen auch von der anderen Seite betrachten könnte«. Allerdings scheint es, dass der Tractatus diese Perspektive von vornherein einnimmt und seine eigene Grenze von außen beschreibt. Die Kritik an der Unhaltbarkeit des Blicks von oben, der die Grenzen der Welt und der Sprache von außen betrachten kann, ist im Tractatus nur möglich, indem genau dieser Blickwinkel eingenommen wird. In diesem Sinne haben wir es mit einem Bruch zwischen Aussage und Darstellung zu tun, ein performativer Widerspruch, in dem die Perspektive zur Anwendung kommt, die diskursiv für unmöglich erklärt wird. Den Widerspruch bringt Fabian Goppelsröder auf den Punkt, wenn er schreibt, dass sich »auf einer anderen, transzendentalen Ebene […] die Möglichkeitsbedingung der Abbildung überhaupt [zeigt]. Wir sehen die logische Form der Wirklichkeit, die sich keiner Aussage fügt, weil kein Standpunkt außerhalb ihrer möglich ist.« 141 Diese These betrifft zwei Probleme, die im parmenideischen Lehrgedicht einen Bruch sichtbar werden ließen: die Frage nach der Subjektposition und die Darstellbarkeit der Welt als Kugel. 142 Die parmenideische Darstellung der denkbaren Welt als Kugel stellt ein Äquivalent zur Perspektive dar, die das Subjekt im Tractatus implizit auf die Gesamtheit der Tatsachen einnimmt. In einem Vergleich der literarischen Formen und der impliziten Perspektiven zeigt sich, dass die logische Form entgegen Wittgensteins Postulat der Undarstellbarkeit in der Kugel eine ursprüngliche Form der Darstellung findet. Die Kugelgestalt selbst zeigt dieses Problem. Im visuellen Denken kann Goppelsröder 2009, Zwischen Sagen und Zeigen, 28. Für Parmenides ist die Seinskugel undarstellbar, weil sie nicht quantitativ bestimmt werden kann und somit auch keinen Ort darstellt. Als das Ganze des Seienden gibt es für die parmenideische Kugel kein Größer oder Kleiner und auch keine räumliche Bestimmung als Ort. Vgl. hierzu Vetter 2016, Parmenides: Sein und Welt, 181.
141 142
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
man sich eine Kugel ohne Außen nicht vorstellen. Eine Kugel hat per definitionem ein Innen und ein Außen. Es ist unmöglich, sich eine Kugel ohne Innen oder ohne Außen vorzustellen. Ein Innen impliziert ein Außen und umgekehrt. Die Kugel markiert die Grenze zwischen ihrem inneren und einem äußeren Raum. Daher ist eine Kugel ohne Außen zwar undarstellbar, aber sie lässt sich behaupten. Damit kehrt sich zugleich das Problem von Sagen und Zeigen um. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen bezieht sich in der Regel auf Nichtsagbares, das sich nur zeigen lässt. Wittgenstein behauptet jedoch eine reine Immanenz ohne Außen, die sich nur aussagen lässt. So kann Wittgenstein nicht mehr zeigen und abbilden, was er sagt. Und dennoch zeigt die Kugel die Möglichkeit ihrer eigenen Abbildung und weist über das Problem der Undarstellbarkeit hinaus. Die Kugel ist die paradoxe und diagrammatische Grundfigur des Tractatus, die die Umkehrung von Sagen und Zeigen ermöglicht und die paradoxe Situation des schauenden Theorieagenten im Tractatus zeigt: Nur wer in der Kugel sitzt, kann sie für die logische Form der Wirklichkeit halten. Sobald ein externer Standpunkt eingenommen wird, befindet man sich nach parmenideischer und wittgensteinscher Logik im Bereich des Undenkbaren. Man sitzt und denkt im Nichts, das es nicht gibt. Die Kugelgestalt verdeutlicht in ihrer diagrammatischen Struktur das Problem, die Möglichkeitsbedingung einer Abbildung überhaupt denken und darzustellen zu können.
4. Logische und ästhetische Undarstellbarkeit der Kugel Selbstverständlich hat Wittgenstein jede Form von Visualisierbarkeit oder Darstellbarkeit der logischen Form strikt abgelehnt. Logik und visuelle Darstellbarkeit gehen nur in einem abstrakten Sinn zusammen. Wahre Logik lässt sich nicht visuell darstellen. Insbesondere ein übergeordneter Standpunkt ist in der modernen Logik ein Ding der Unmöglichkeit. Mit dem Darstel90 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Logische und ästhetische Undarstellbarkeit der Kugel
lungsverbot eines übergeordneten Standpunkts steht Wittgenstein in einer stillschweigenden Allianz mit dem parmenideischen Denken, auch wenn gerade die moderne Logik sich von der Ähnlichkeit mit antiken Formen der Logik abgrenzen will. Paradoxerweise begegnen sich antike und moderne Logik der Philosophie in der geometrischen Figur der Kugel. Ihre Ontologien der Welt gründen auf derselben Undarstellbarkeit. Das Problem der Undarstellbarkeit der logischen Form beschreibt Oswald Schwemmer folgendermaßen: »Nach Wittgenstein muss der Satz etwas mit der Welt gemeinsam haben, damit er die Welt beschreiben kann, er muss mit ihr die ›logische Form‹ teilen. […] Aber der Satz, so Wittgenstein, kann die logische Form, die er mit der Welt gemeinsam haben muss, um sie darstellen zu können, selber nicht darstellen.« 143 Hierfür müssten wir uns, mit Wittgenstein gesprochen, »mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt, außerhalb der Welt«. Dies ist für Wittgenstein allerdings nicht möglich. Vielmehr stehen der Satz und die logische Form in einer Spiegelkonstellation, in einem Verhältnis von Zeigen und Aufweisen – man beachte dazu nur die poetische Klarheit und Ästhetik der Knappheit der folgenden wittgensteinschen Sätze: »Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.«
Dadurch, dass Wittgenstein die interne Einheit zwischen Welt und Sprache als nicht abbildbar bezeichnet, gerät er in ein epistemisches Feld, das Foucault das Zeitalter der Ähnlichkeit genannt hat. Worte und Dinge stehen in einer Einheit, die durch ein dreigliedriges Verhältnis der Ähnlichkeit verbunden sind: 143
Schwemmer 2011, Das Ereignis der Form, 23.
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
»das, was markiert wurde, das, was markierend war, und das, was gestattete, im Einen die Markierung des Anderen zu sehen«. 144 Das letztgenannte »Element« nennt Foucault Ähnlichkeit, deren Unbestimmtheit folgendermaßen aufgefasst wird: »das Zeichen markierte insoweit, als es ›fast die gleiche Sache‹ war wie das, was es bezeichnete«. 145 Das Element der Ähnlichkeit in Foucaults Archäologie entspricht in seiner Funktion der internen Form bei Wittgenstein. Gerade weil die interne Identität zwischen Welt und Sprache in ihrer Abbildbarkeit unbestimmbar bleibt, wird sie zu einer leeren Figur der Ähnlichkeit, die in ihrer diagrammatischen Form der parmenideischen Kugel gleicht. Auffällig am obigen Zitat ist der Wechsel zwischen apodiktischer Rede, die kein menschliches Subjekt im Satz anführt, und dem Einfügen eines Wir. Die kursive Betonung des Wir legt den Fokus auf die Grenzen des Wir, innerhalb derer nicht ausgedrückt werden kann, was sich innerhalb der Sprache ausdrückt. Wer aber spricht im Tractatus? Und welchen Blick nimmt dieses Sprechen in Anspruch? Wer kann die Grenzen der menschlichen Erkenntnis sehen und aussprechen? Innerhalb eines Vergleichs mit der Stimme der Göttin bei Parmenides lassen sich klare Parallelen herstellen. Die Stimme, die den Tractatus eröffnet, entspricht der göttlichen Stimme im parmenideischen Lehrgedicht. Auch sie trägt keinen Namen und auch sie verkündet einen logischen Raum, in dem die logische Substanz der Welt als das Eine gedacht wird. In der wittgensteinschen Variante enthält die logische Form die Menge aller logisch möglichen Welten, 146 so dass »die Substanz der Welt […] die Menge aller logisch möglichen Welten« ist. 147 Interessant hieran ist vor allem, dass bei Wittgenstein die substantielle Ganzheit nicht dargestellt werden kann. Etwas später führt Wittgenstein das 144 145 146 147
Foucault 1974, Die Ordnung der Dinge, 98. Ebd. Tetens 2008, Wittgensteins Tractatus, 45. Ebd., 48.
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Logische und ästhetische Undarstellbarkeit der Kugel
Problem der Undarstellbarkeit ins Aporetische: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.« Die Kluft zwischen Zeigen und Sagen soll unüberbrückbar sein. Es gibt nach Wittgenstein keinen Weg, die vom Satz gezeigte logische Form der Wirklichkeit in Worte zu fassen, d. h. als Aussage zu kennzeichnen. Dennoch geht es im Tractatus darum, die Welt in ihrer Ganzheit richtig zu sehen: »Das Ziel seines Philosophierens ist also nicht die Erkenntnis der Welt, sofern sie als Gesamtheit der Tatsachen verstanden wird (dies ist die Aufgabe der Naturwissenschaft oder allgemeiner: der Wissenschaft), auch nicht die Analyse der Bedingungen dieser Erkenntnis (dies ist die Aufgabe der Wissenschaftstheorie), das Ziel seines Philosophierens ist vielmehr, die Welt, und das ist eben die Welt als Ganzes aufgefasst, richtig zu sehen (›Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig‹).« 148
Es geht Wittgenstein um das Wunder der Welt, um die Tatsache, dass die Welt in ihrer logischen Form eine wundersame Ganzheit ist. Gunter Gebauer betont die Rolle der ästhetischen Wahrnehmung, die einem Leser der Durchgang durch den in sich geschlossenen Tractatus abverlangt: »Kaum einmal erscheint ein Zitat oder ein Verweis auf andere Denker; fast nichts deutet nach außen. Der Text des Tractatus ruht in sich. […] Ein Textgeschehen, das vor dem inneren Auge des Lesers vorbeziehen würde, gibt es hier nicht. Der Text stellt fest, setzt Satz nach Satz; zwischen den Sätzen geschieht nichts, kein Argument wird fortlaufend entwickelt. Nicht nur ein Sinn für langsame Vorwärtsbewegung wird vom Leser verlangt, sondern auch eine ästhetische Wahrnehmung. Zum Verständnis des Tractatus gehört ein Sinn für die Schönheit des Textes und damit für die Schönheit der Welt.« 149
Es ist anzunehmen, dass diese Charakterisierung auf die Gattung des philosophischen Lehrgedichts im Allgemeinen zutrifft. Ein Lehrgedicht besitzt die Freiheit, ohne explizite Zitate und 148 149
Gabriel 1991, Zwischen Logik und Literatur, 23. Gebauer 2009, Wittgensteins anthropologisches Denken, 53.
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
Verweise auf andere Denker eine eigene Welt zu entwerfen. Das Besondere der gedanklichen Welt ist ihre formale und inhaltliche Autonomie, die eine ästhetische Wahrnehmung des Lesers erfordert. Im Fall des Tractatus ist die Wahrnehmung der Schlüssel für den Übergang von der Form des Textes zur Form der Welt. Die mythologisierende Reduktion von Wittgensteins Ontologie der Welt als Gesamtheit aller Tatsachen gründet letztlich in der Abhängigkeit von etwas anderem. Aus seinen Tagebüchern wissen wir, dass Wittgenstein damit einen fremden Willen oder auch Gott meint. Zwar wird bei Wittgenstein Gott nicht als Sprachrohr der Logik angeführt, jedoch ist die Sagbarkeit des logischen Raums ebenso an ein göttliches Prinzip gebunden wie die Denkbarkeit des Seienden bei Parmenides. Das Schweigen fungiert dabei als ethischer Auftrag und impliziert die göttliche Perspektive – am Ende wird offenbart, was am Beginn in der Erhabenheit zum Ausdruck kam: Der Blick auf die Gesamtheit aller Tatsachen, welche die Welt sind, ist nicht möglich. Wittgenstein behauptet, es sei unmöglich, von außen auf die Welt zu blicken, sich also außerhalb der Logik zu stellen. Jedoch impliziert sein erster Satz genau diese Unmöglichkeit: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Und es geht nicht nur um das Ineinsfallen von Welt und Tatsache, sondern darum, »dass es alle Tatsachen sind«. Wittgensteins widersprüchliche Aussagen führen zu einem regelrechten double bind, das sich im Postulat des Weltganzen zeigt und nicht aufzulösen ist. Es ist genau diese Grenze, die Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen verändern und neu ziehen wird.
5. Das Problem der Subjektpositionen Das zweite Problem, das mit dem Postulat der Undarstellbarkeit eng verbunden ist, betrifft die Position des Subjekts. Über das Ich, das Tilman Borsche zufolge in seiner Allgemeinheit beinahe 94 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Das Problem der Subjektpositionen
durchgängig durch ein Man oder ein entleertes Wir ersetzt werden könnte, 150 vermittelt Wittgenstein eine Position, von der aus die Welt in toto gekennzeichnet wird. Nach Wittgenstein ist das Subjekt nicht Teil der Welt, es ist deren Grenze. Von hier aus lässt sich der Ort des Standpunkts besser bestimmen. Die Subjektposition des Blicks von oben bzw. des Blicks ›sub specie aeterni‹ hat prinzipiell drei verschiedene Möglichkeiten, auf die Kugel zu schauen: Sie kann von innen, etwa aus dem Zentrum heraus auf die Kugel blicken. In dieser Version wäre das Subjekt Teil der Welt. Es könnte die Kugel als Ganze nicht überschauen. In einer zweiten Möglichkeit kann sie von der eigenen Grenze aus auf bzw. in die Kugel schauen. Sie entspricht der Aussage Wittgensteins, dass das Subjekt die Grenze der Welt sei. Auch von hier aus ist die Kugel als solche nicht überschaubar. Die dritte Variante besteht darin, dass das Subjekt tatsächlich von oben auf die Kugel schaut. Aus dieser Außenperspektive lässt sich die Kugel als Ganze am ehesten überschauen. Sie ist Prototyp des Blicks von oben und entspricht dem Blick, den der Theorieagent im Tractatus einnimmt, wie ein Tagebucheintrag Wittgensteins verrät: »Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb.« 151 Deshalb ist die Perspektive von außerhalb die für den Tractatus entscheidende, wenn man sich blicktheoretisch der visuellen Funktionsweise des literarischen Geschehens nähern will. Hiermit scheidet der Blick aus der Mitte und vom Rand aus. So macht auch Holm Tetens auf dieses Problem aufmerksam und bringt den Blick von außen fast beiläufig mit der Kugelansicht in einen Zusammenhang. »Allein, wie können wir die Welt als ein begrenztes Ganzes denken? Anschauen können wir Borsche 2013, »Die Grenzen unserer Sprache bedeuten auch die Grenzen unserer Ethik. Ethische Aspekte in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen«, 233–248. 151 Wittgenstein 1984, Tagebücher 1914–1918, 178. 150
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
ein begrenztes Ganzes nur von außen. Nichts demonstriert dies so eindrucksvoll wie die Tatsache, dass erst die Astronauten vom Weltraum aus der Erde als ein durch ihre Kugelgestalt begrenztes Ganzes ansichtig wurden. Gilt also auch vom Denken, was von der Wahrnehmung gilt?« 152 Hierin liegt nicht zuletzt ein performativer Widerspruch des Tractatus. Er vermittelt einen Blick von oben auf die Welt, während er die Unmöglichkeit dieses Blicks in seinen verschiedenen Paradoxien postuliert. Dabei unterscheidet auch Wittgenstein zwei Wege des Erkennens: auf dem logischen Standpunkt soll der Leser die beiden Wege des Erkennens zwischen dem Sagbaren und dem Unaussprechlichen unterscheiden lernen. Der Unterschied zwischen dem, was sich sagen lässt, und dem, was sich nur zeigt. Selbstverständlich handelt es sich bei den drei Subjektpositionen lediglich um ein provisorisches Gedankenexperiment, das letztlich nicht abschließbar ist, da Probleme der dreidimensionalen Wahrnehmung in den Raum des kognitiven Denkens getragen werden. Und doch wird erkennbar, dass sowohl Parmenides als auch Wittgenstein der Funktion nach die dritte Variante für sich in Anspruch genommen haben. Auch wenn beide die Möglichkeit einer Position außerhalb der Kugel negieren und die Darstellbarkeit des logischen Raums ausschließen. Das undarstellbare Ganze ist in beiden Konzeptionen Bedingung der Möglichkeit des Denkens überhaupt. Und trotzdem ist das große Bild, der Blick auf die Welt als Ganzes, faszinierender Horizont und unhintergehbare Voraussetzung von Wittgensteins abbildender Funktion der Sprache. Foucault hat den Glauben an die Möglichkeit vollständiger Abbildbarkeit der Sprache dem semiotischen Denksystem des klassischen Zeitalters zugeschrieben: »Der Sinn wird im vollständigen Tableau der Zeichen gegeben sein. […] Das Tableau der Zeichen wird das Bild der Dinge sein.« 153 Was Foucault dem 152 153
Tetens 2008, Wittgensteins Tractatus, 22. Foucault, Die Ordnung der Dinge, 101.
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Das Problem der Subjektpositionen
klassischen Zeitalter zuschreibt, verbindet sich in Wittgensteins Tractatus mit dem Ähnlichkeitsdenken eines anderen epistemischen Zeichensystems. Das ursprüngliche Vorbild und Ideal der wittgensteinschen Welt als Ganzes ist die parmenideische Kugel. Die auf ihre maximale Informationsdichte reduzierte Kugelgestalt des Seins bleibt das erkenntnisleitende Urbild in der ontologischen Konzeption des Tractatus. Als intuitive Hintergrundannahme bleibt die Form ihrer Abbildung allerdings undarstellbar und unsichtbar. Als Diagramm des Denkens wiederum ist sie unverzichtbar für die Erkenntnis der Einheit von Gegenstand und Welt. Was die parmenideische Kugel und das wittgensteinsche Bild gemein haben, ist ihre Form der Abbildung, auch wenn Wittgenstein betont, dass das Bild seine eigene Form der Abbildung selbst nicht mehr abbilden kann. Ebenso kann bei Parmenides das Sein seine eigene vollkommene Form im logischen Denken nicht mehr abbilden. Das Paradox bei Parmenides besteht analog zu Wittgenstein darin, dass nur das Gedachte existiert, dass aber gerade die vollkommene Form des Seins selbst im Denken nicht mehr darstellbar ist. Es bleibt der Verweis auf die diagrammatische Form der Kugel. Die Form der Abbildung des diagrammatischen Gedankens ist bei Parmenides und Wittgenstein identisch. So kann im Immanenzdenken von Wittgensteins Tractatus nicht nur die logische Form als Kugel wiedergefunden werden, ebenso findet sich die im parmenideischen Gedicht angeführte Problematik der göttlichen und menschlichen Perspektive. Auch im Tractatus befinden sich menschliche und göttliche Perspektive im Widerstreit und fordern den Leser heraus, das Gehörte in Frage zu stellen und über die verkündeten Wahrheiten hinauszugehen. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Am Ende steht aber nicht das Schweigen, sondern das Nachdenken und Sprechen über das Gesagte, indem die spezifischen Grundannahmen und Voraussetzungen der Welt von außen sichtbar gemacht wurden. Was sich zunächst als logische
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Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
und ästhetische Distanz zur Welt gezeigt hat, erweist sich bei Wittgenstein am Ende als ethische Aufgabe.
6. Von der Ontologie zur Selbsterkenntnis Ethische Fragen können nach Wittgenstein nicht wie Tatsachen erklärt werden. Die Leiter weist den Ausweg aus der Kugel. Die Leiter ist der Versuch, der Sinnlosigkeit des logischen Standpunktes und der daraus resultierenden Paradoxie der Welt zu entkommen. Damit ist am Ende eine weitere, vielleicht die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen Parmenides und Wittgenstein gefunden. Die parmenideische Kugel und die wittgensteinsche Ontologie zielen beide auf eine Selbsterkenntnis des Subjekts. An dieser Stelle geschieht die bataille’sche Opferung der Ontologie. Dies erst macht die Ontologie zur Philosophie im wahrsten Sinne ihrer Bedeutung. Sicherlich trifft auch für den Tractatus die allgemeine Kritik zu, die Horkheimer und Adorno am abendländischen Denken geübt haben: »Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell.« 154 Allerdings handelt es sich bei Parmenides nicht um eine Einheitserfahrung in dem Sinne, dass Denken und Sein ineinander fallen und in der Erfahrung eins werden. Das würde bedeuten, dass Denken und Sein zwei verschiedene Zustände sind. Parmenides meint aber: zu denken und zu sein ist der gleiche Zustand, die gleiche Tätigkeit. Zu denken und zu sein ist immer schon der gleiche Zustand, die gleiche Aktivität in der menschlichen Existenz. An dieser ursprünglichen und mystischen Einheit von Denken und Existenz treffen sich zugleich existentieller Sinn und bodenlose Sinnlosigkeit der Welt. Die Erfahrung, die Parmenides beschreibt, ist wie eine radikale Einkehr in sich selbst. Es ist so, als würde der allessehende Argos seine zahlreichen Augen schließen und
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Horkheimer/Adorno 2006, Dialektik der Aufklärung, 14.
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Von der Ontologie zur Selbsterkenntnis
nach innen richten. Erst dadurch kommen das denkende Sehen, die Imagination und die Erkenntnis der Welt als Kugel ins Spiel. Die Erfahrung der Seinskugel ist aber keine Erkenntnis der Welt oder des Universums. Sie zielt auf die Erkenntnis des Selbst. Das Philosophische an der parmenideischen Seinserkenntnis ist, dass sie auf radikale und immanente Selbsterkenntnis zielt. Das lückenlose Seiende ist nicht die Welt, es ist der Erkenntnisraum des Denkenden, in dem es dasselbe ist, zu denken und zu sein. Das lückenlose Sein ohne Außen ist die subjektive Erfahrung von diesem Raum, in dem der Erkennende von innen nach außen heraus expandiert. Die Erfahrung geht bis an die Grenzen der Erfahrbarkeit und genau deswegen hat diese Erfahrung auch kein Außen mehr. Sie ist eine von innen nach außen gerichtete Erfahrung, die an ihrem tiefsten Punkt keinen Blick von außen mehr zulässt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es die Außenperspektive nicht mehr gibt. Das gesamte Gedicht lebt geradezu von der Außenansicht. Voraussetzung für die Erfahrung reiner Innerlichkeit und Immanenz ist die Integration des Außen. Auf der Ebene der Perspektive bedeutet dies, dass das Bild der Kugel den Blick von außen impliziert. Das Bild der Kugel verrät, dass der Blick von außen in der innerlichen Erfahrung absorbiert und integriert ist. Um einen Raum des unerschütterlichen Seins ohne Außen zu erfahren, muss dieses Außen zuvor integriert und assoziiert werden. Die radikale Erfahrung eines subjektiven Innenraums der Immanenz erfordert eine kompromisslose Integration von allem, was außen ist. Wie gesehen wird die Kugel dieser Erfahrung eines lückenlosen Innenraums ohne Außen aber nicht gerecht. Der Schatten einer dissoziierenden Außenperspektive bleibt selbst in der ungeheuerlichen Erfahrung der parmenideischen Ewigkeitsperspektive erhalten. Wittgenstein nennt diese paradoxe Erfahrung von Parmenides das Mystische. Seine Leiter bildet den Ausweg aus der antiken wie modernen Kugelontologie, in der die Welt alles ist, was der Fall ist. In ihrem Zusammenspiel ermöglichen Kugel und Leiter den Traum vom neutralen Blick. Parmenides und Witt99 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
Der Tractatus als Lehrgedicht des 20. Jahrhunderts
genstein trennen ganze 2500 Jahre und doch stehen sie beide für einen radikalen Realismus und eine neue Ontologie in der Geschichte des Denkens. Jede Form von neuem oder radikalem Realismus ist ein Versuch, gegen die Sinnlosigkeit des Lebens anzugehen. Ob unerschütterliche Seinskugel oder philosophische Leiter, die immer wieder überwunden werden muss, beides verkörpert den Traum von einer unzerstörbaren, objektiven Welt der Tatsachen. Parmenides und Wittgenstein bauen eine Festung, um der Absurdität der Existenz und den Fallen des Skeptizismus zu entkommen. Radikaler Realismus bedeutet daher in der Antike wie heute Errichtung einer unverrückbaren Wahrheit, um der unerklärbaren Paradoxie der Welt einen Riegel vorzuschieben. Eine solche existentialistische Perspektive ist unverzichtbar, wenn man zum philosophischen Kern der parmenideischen Erkenntniserfahrung vordringen will. Ohne existentialistischen Zugang lässt sich das Gründungsdokument der abendländischen Ontologie leicht zugunsten einer kosmologischen oder ontologischen Lesart missverstehen. Im folgenden Ausblick möchte ich daher die Konsequenzen einer rein ontologischen Lesart des parmenideischen Lehrgedichts in einem zeitdiagnostischen Kontext unserer Gegenwart problematisieren.
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III. Verachtung der postfaktischen Vernunft: Keine Angst vor der Postmoderne!
»Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.« Walter Benjamin
Vom Vater der modernen Logik, Rudolf Carnap, stammt die Aussage: »In der Logik gibt es keine Moral.« Sie wird zu Recht in enger Beziehung mit zwei mysteriösen Sätzen von Ludwig Wittgenstein gesehen: »Das Rätsel gibt es nicht« und »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«. Nun haben die Geburt der faktischen Vernunft und damit die Logik selbst aber gerade nicht mit einem Schweigen begonnen, wohl aber mit einem Rätsel. Das Zeitalter der faktischen Vernunft und der damit verbundene ontologische Wahrheitsanspruch wurden vor 2500 Jahren eingeläutet und auf sehr redselige Weise von einer mysteriösen Göttin verkündet. Rätselhaft daran ist nicht nur die Göttin selbst, sondern das Sein als Ganzes, das ortlos sein soll. Mit Parmenides ist das Fundament der abendländischen Ontologie bis heute in einer mysteriösen Ortlosigkeit und Widersprüchlichkeit begründet. Eine substanzontologische Lesart des parmenideischen Augenblicks führt nicht nur in Widersprüche, sie verweist auch in ein konfliktreiches Kräfteverhältnis unserer gegenwärtigen Gesellschaft, und zwar direkt in das postfaktische Zeitalter hinein. Im Jahr 2016 wurde »post-truth« bzw. »postfaktisch« von den Oxford Dictionaries zum internationalen Wort des Jahres gekürt. Weltweit ist bereits seit längerem zu hören, dass wir in
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Verachtung der postfaktischen Vernunft: Keine Angst vor der Postmoderne!
postfaktischen Zeiten lebten. 155 Egal, wo man sich in diesen Tagen dem politischen und medialen Diskurs zuwendet, es wimmelt nur so von heterogenen Ansichten und Positionen, die sich widersprechen, ausschließen und gegenseitig verachten. Der öffentliche und mediale Diskurs hat sich selten so disparat und unversöhnlich gezeigt, niemals wurden Fakten so programmatisch übergangen und ignoriert, folgt man der Diagnose des Postfaktischen. Laut ihr verbreitet sich im öffentlichen Diskurs ein populistischer Zeitgeist mit einer ihr ganz eigenen postfaktischen Vernunft. Ein Hauptmerkmal des populistischen Zeitgeistes ist die Verachtung, womit die postfaktische Vernunft wiederum etwas Wesentliches mit dem Ursprung und der Geschichte der faktischen Vernunft teilt. Die Verachtung der Massen ist nämlich kein modernes Phänomen. 156 Sie beginnt viel früher und hat ihren Ursprung in der ontologischen Seinserkenntnis von Parmenides. Die thymotische Erkenntniskraft des Menschen agiert nicht nur im Guten, sondern auch im Affekt der Verachtung. Der Wille (thymos), von dem der Jüngling zur Göttin der Wahrheit geführt wird, darf nicht nur im platonischen Horizont als Selbstverachtung
Ursprünglich geht das Wort »postfaktisch« auf den englischen Begriff post-truth zurück und auf das Buch von Ralph Keyes, vgl. Keyes 2004, The Post-Truth Era: Dishonesty and Deception in Contemporary Life. Die erste einschlägige philosophische Untersuchung hierzu lieferte Paul Boghossian, der die Wahrheitsansprüche eines radikalen Konstruktivismus und die Auffassung postmoderner Relativität zurückwies und aus der Perspektive eines epistemischen Realismus entkräftete, hierzu Boghossian 2015, Angst vor der Wahrheit. Die Diagnose des Postfaktischen überschneidet sich in den letzten Jahren auf rasante und unüberschaubare Weise mit der Debatte um die Omnipräsenz eines populistischen Zeitgeistes im öffentlichen Diskurs. So fragt etwa Jan-Werner Müller, wer bei der inflationären Begriffsverwendung eigentlich heutzutage kein Populist sei, vgl. Müller 2016, Was ist Populismus?, 9 ff. 156 Peter Sloterdijk erkennt in der Figur Hitlers die banale und schicksalhafte Verbindung aus Massenkultur und Massenverachtung, Sloterdijk 2000, Die Verachtung der Massen, 28. 155
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Verachtung der postfaktischen Vernunft: Keine Angst vor der Postmoderne!
und »selbsttadelnder Monolog« 157 verstanden werden. Dieser Wille zur Erkenntnis muss auch in seiner Verachtung gegenüber den Sterblichen und gegenüber dem einzelnen Seienden gesehen werden. Indem die Verkündung der faktischen Vernunft mit einer Ausgrenzung der gewöhnlichen Sterblichen einhergeht, kann man in ihr die Geburtsstunde moderner Verachtung par excellence beobachten. Dieses Motiv der Verachtung wohnt nicht nur dem Anfang der Ontologie inne, man findet es auch und vor allem bei Martin Heidegger wieder, wenn dieser das faktische Seiende zugunsten einer Geschichte des Seins vernachlässigt. 158 Was das faktische mit dem postfaktischen Zeitalter verbindet, ist daher ein impliziter und expliziter Hang zur Verachtung. Jede Verachtung ist ihrem Wesen nach allerdings postfaktisch, denn es gibt keine durch Fakten begründete Verachtung. Auch wenn sich die Abwertung des einzelnen Seienden in der Geschichte des Denkens von Parmenides bis Heidegger nachverfolgen lässt, darf die Errungenschaft der faktischen Vernunft nicht ausgeblendet werden. Parmenides ist der erste philosophische Weise, der die bestehende Wahrheitsordnung nachhaltig herausgefordert hat, um eine neue Ontologie der Wahrheit zu etablieren. Ist er damit nicht der erste puer robustus 159 in der Vgl. zum platonischen Thymos Sloterdijk 2006, Zorn und Zeit, 41. Auch Heideggers Kritik der wissenschaftlich-technischen Rationalität beinhaltet eine Abwertung des einzelnen und faktischen Seienden, die in einer Verachtung der Ontologie als Ganzer, in der sogenannten Destruktion der Ontologie endet. Andererseits will Heidegger die Seinsgeschichte gerade von der Alltäglichkeit des Daseins her konzipieren, was die ambivalente und vielschichte Dimension seiner Verachtung des bloß ontisch Seienden (im Gegensatz zum ontologischen Sein) ausdrückt. Dass diese abwertende Geste in eine Verachtung gegenüber bestimmten Völkern, Menschengruppen und Personen mündet, darüber geben die in letzter Zeit vielfach diskutierten Schwarzen Hefte schonungslos Auskunft. 159 Den Begriff des puer robustus habe ich von Dieter Thomä übernommen. In seiner jüngst erschienenen Geschichte des puer robustus von der Neuzeit bis heute unterschiedet Thomä für unsere Gegenwart vier verschiedene Typen des Störenfrieds, den egozentrischen, exzentrischen, nomozentri157 158
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Geschichte der Philosophie, der sich mit seinem Manifest der faktischen Vernunft gegen die postfaktische Vernunft auflehnt? Und ist die Geburtsstunde des Philosophen als sonderbarer und exzentrischer Weiser nicht zugleich die Geburtsstunde ontologischer Verachtung? Stellen wir uns Parmenides also als einen exzentrischen Weisen und Störenfried mit einem ebenso verachtenden wie schöpferischen Geist vor, dessen Seinslogik bis heute nachwirkt. Denn wer heute vom postfaktischen Zeitalter spricht, träumt bewusst oder unbewusst den parmenideischen Traum vom neutralen Blick. Es ist der Mythos vom unschuldigen Philosophen, der in mysteriöser Erkenntnis zum Ganzen des Seins vorgedrungen ist und damit die abendländische Ontologie begründet hat. 160 Dass die Ontologie von Parmenides eine Haltung und Überzeugung voraussetzt, die über die Jahrtausende hinweg quasi zeitlos gültig sein konnte, zeigt der Vergleich mit Wittgensteins Tractatus im 20. Jahrhundert, in dem diese radikale Ontologie der Wahrheit erneut zur Sprache gekommen ist. Parmenides setzte Sein und Denken erstmalig in ein radikalontologisches Entsprechungsverhältnis. Bis heute ist er damit der Begründer eines radikalen Realismus. Wittgenstein entwickelte dann in seiner sprachanalytischen Wende eine Korrespondenztheorie von Welt und Sprache, in welcher die Übereinstimmung nicht als bildliche, sondern als rein strukturelle Abbildungsrelation gedeutet wird. Radikaler Realismus taucht in der Geschichte des
schen und massiven Störenfried, vgl. Thomä 2016, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, 491–539. 160 So reiht sich etwa Peter Sloterdijk in diese Tradition ein, wenn er die Erkenntnis des Parmenides als erhabenen »Tigersprung des Gedankens in die offene Mitte der Welt« bezeichnet, vgl. Sloterdijk 1999, Sphären II, 86. Der Begriff »Tigersprung« ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Anlehnung an Walter Benjamin und dessen messianische Ausdrucksweise in seinem Text »Über den Begriff der Geschichte«, in dem er die Mode als »Tigersprung ins Vergangene« bezeichnet. Vgl. Benjamin 2010, Über den Begriff der Geschichte, 259.
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Denkens einmal als die logische Äquivalenz von Sein und Denken auf, später dann als die logische Äquivalenz von Welt und Sprache. Parmenides und Wittgenstein träumen den gleichen Traum und es bleibt bis heute eine faszinierende Störung des historischen Denkens, dass ein anfänglicher Gedanke der Philosophie im 20. Jahrhundert auf so prägnante Weise wiederholt werden konnte. In beiden Fällen steht die Geburt der faktischen Vernunft für einen ontologischen Ausschluss postfaktischer Beliebigkeit. Wer auch immer heute Wahrheit für sich beansprucht, seien es Neue Realisten, Postmodernisten, Neurokonstruktivisten, Konservative oder Populisten, sie alle stehen im historischen Bann dieser ersten und grundlegenden ontologischen Unterscheidung, die bei Parmenides begann und über Platon und Aristoteles bis in das heutige Wissenschafts- und Politikverständnis reicht. Nun ist die Einteilung in faktisch und postfaktisch sowohl tagespolitisch als auch historisch und philosophisch betrachtet nicht unproblematisch. Impliziert der historische Einbruch des Postfaktischen zum Beispiel, dass wir vorher in faktischen Zeiten, gar in einem Zeitalter der faktischen Vernunft gelebt haben? Ein weiteres, viel tiefer sitzendes Problem stellt sich, wenn man sich die Einseitigkeit der Diagnose anschaut. Wer im postfaktischen Zeitalter den Massen und Populisten eine Verachtung von Fakten bescheinigt, sollte sich ebenso Gedanken darüber machen, wer oder was eigentlich unter faktischen Vorzeichen verachtet wird. Der artikulierte ontologische Wahrheitsanspruch tritt meist nicht ohne Überlegenheits- und Erhabenheitsgestus auf. Und so ist das geflügelte Wort vom postfaktischen Zeitalter nichts anderes als der Ausdruck eines Verachtungsgefälles in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Im Zentrum dieses Verachtungsgefälles steht die kurze, aber folgenreiche Geschichte der Postmoderne. Die heute oftmals demonstrativ ausgedrückte Verachtung der Postmoderne beruht auf einem Missverständnis, dessen Ursprung sich bis zu JeanFrançois Lyotard zurückverfolgen lässt, dem eher unfreiwilligen 105 https://doi.org/10.5771/9783495813669 .
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Vater und Begründer der Postmoderne. 161 Mit seinem Buch Das postmoderne Wissen aus dem Jahr 1979 erregte er weltweites Aufsehen, eine hellsichtige Analyse, die vom Ende der großen modernen Erzählungen berichtet. Vor allem das deutsch-französische Missverständnis, das sich rund um den Diskurs der Postmoderne entwickelte, steht vielleicht exemplarisch für die Verachtung in unserer Gesellschaft, die der Postmoderne heute mehr denn je entgegenschlägt. Lyotards Buch Der Widerstreit aus dem Jahr 1983, das seine philosophischen Untersuchungen zur Diagnose der Postmoderne liefern sollte, wurde von deutscher Seite nicht nur mit dem Argument der Selbstwidersprüchlichkeit abgetan. 162 Es folgte eine deutsch-französischen Kontroverse, die niemals ausgefochten wurde; ein echter Dialog hat niemals stattgefunden. Im Widerstreit standen sich eine konsensorientierte Position von Jürgen Habermas und eine dissensorientierte Position von Lyotard gegenüber. Zwei unterschiedliche Perspektiven auf den öffentlichen Diskurs also, die jeweils für sich in Anspruch nehmen zu argumentieren und mit der anderen Position in einen scheinbar unüberwindlichen Widerstreit geraten. Ideale Diskursbedingungen als präskriptive und normative Kategorien auf der einen Seite und postmoderne Relativität unterschiedlicher Positionen als deskriptive Kategorien auf der anderen Seite. Mit der heute allgemein als wahr akzeptierten Diagnose des Postfaktischen scheint sich Lyotards Analyse für den öffentlichen Diskurs mehr als je zuvor zu bewahrheiten. Im medialen und politischen Diskurs erleben wir immer wieder heterogene Positionen und sich wiederstreitende Ansichten, die sich nicht Vgl. zum Versuch einer Aufarbeitung dieses Missverständnisses und Konflikts den von Dietmar Köveker 2004 herausgegebenen Band Im Widerstreit der Diskurse. Jean-François Lyotard und die Idee der Verständigung im Zeitalter globaler Kommunikation. Die wohl wirkmächtigste Kritik der Postmoderne hat Jürgen Habermas mit seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne geliefert. 162 Vgl. hierzu Borsche 2004, »Mit dem Widerstreit leben«, 250 f. 161
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zugunsten einer übergeordneten Wahrheit auflösen lassen wollen. Das Problem der Verkettung der Sätze (Lyotard) und die Ordnung des Diskurses (Foucault) stellen sich in der postfaktischen Konstellation auf eine aktuelle und dringliche Weise. Am entschiedensten wird das Projekt einer Verabschiedung der Postmoderne vom Neuen Realismus 163 vorangetrieben, der einem übergeneralisierten Konstruktivismus der Postmoderne einen epistemischen und beobachterunabhängigen Tatsachenobjektivismus entgegenstellt. Der Neue Realismus geht dabei explizit von einer postmodernen (und postfaktischen) Problemlage aus, indem er den Kulturalismus der Postmoderne für das postfaktische Chaos im öffentlichen Diskurs verantwortlich macht. 164 Allerdings scheint diese Verurteilung voreilig, wenn damit diejenigen Theoretiker zur Rechenschaft gezogen werden, die frühzeitig auf erste Anzeichen für eine postfaktische Situation aufmerksam gemacht haben. Lyotards Bücher Das postmoderne Wissen und Der Widerstreit liefern die antizipierende Beschreibung des postfaktischen Diskurses und damit eine auch heute noch inspirierende Haltung, dem Postfaktischen zu begegnen. Ebenso findet sich in Foucaults Werk die erhellende Praxis für einen Umgang mit der postfaktischen Situation, in der der alleingültige Wahrheitsanspruch von Philosophie und Ontologie zumindest kurzfristig aufgegeben wird. Diesen me-
Beachte hierzu vor allem die im Philosophischen Jahrbuch abgedruckte Kontroverse um den Neuen Realismus in Gabriel 2016, Neutraler Realismus, in der sich Philosophen wie Volker Gerhardt, Claus Beisbart und Pirmin Stekeler-Weithofer mit den Thesen von Markus Gabriel auseinandersetzen. 164 So wendet sich Markus Gabriel gegen den in den Geisteswissenschaften vermeintlich so dominanten Kulturalismus. Vgl. Gabriels Replik auf Volker Gerhardt in Gabriel 2016, Neutraler Realismus, 131. Der italienische Philosoph Maurizio Ferraris geht sogar so weit zu behaupten, dass der heutige Populismus nur das verwirkliche, was die Postmoderne an Ungeist und Gedankengut hervorgebracht habe. Vgl. hierzu Ferraris 2014, Manifest des Neuen Realismus. 163
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thodischen Wertentzug nennt Foucault einen »systematischen Wertentzug, der die Legitimität von guter und schlechter Machtausübung, richtigen und falschen Wahrheitssätzen bewusst ignoriert«. 165 In dieser Hinsicht können Foucault und Lyotard den strategischen und methodischen Weg zeigen, wie man in postfaktischen Zeiten – und trotz Wahrheitsverlust – für bestimmte Positionen argumentieren kann. Methodischer Wertentzug, Widerstand und Kritik sind auch und gerade in postfaktischen Zeiten möglich. Denn das Ziel kann nicht sein, sich dem postfaktischen Regime einfach zu unterwerfen. Zu glauben, man sei dem postfaktischen Spiel mit Wahrheiten hilflos ausgeliefert, wäre genauso fatal wie die Annahme, man könne die faktische Vernunft mit ihren idealen Diskursbedingungen im öffentlichen und medialen Diskurs flächendeckend umsetzen. Im Alltag zählt oftmals das, was nützlich ist, was sich bewährt hat oder was als richtig empfunden wird. So schreibt Tilman Borsche in Bezug auf den postmodernen Empfänger bei Lyotard: »Der postmoderne Empfänger von Sätzen, Erbe des modernen Subjekts, versteht sich auf diese Weise als ein Ort der Wahrnehmung und Anerkennung des Widerstreits inkommensurabler Diskurse. Er weiß, dass er diesen Widerstreit nicht lösen und nicht versöhnen kann; er muss sich entscheiden im Bewusstsein, dass der Horizont seiner Entscheidung begrenzt ist; denn die Wahrheit ist unwiederbringlich regionalisiert.« 166
Foucault 1990, Was ist Kritik?, 32. Vgl. zur genealogischen Methode auch den Beitrag »Genealogische Kritik« von Martin Saar in Jaeggi/Welsch (Hrsg.) 2009, Was ist Kritik?, 247–265. Frieder Vogelmann interpretiert die foucaultsche Besonderheit des Wertentzugs als nihilistischen Ansatz. Der an dieser Stelle leicht irritierende Begriff des Nihilismus wird dabei nicht im Sinne von Nietzsche oder Heidegger verstanden, sondern als einer von drei methodologischen Imperativen (neben Nominalismus und Historizismus), die Foucaults Analysen anleiten. Vgl. Frieder Vogelmann: Foucault lesen. Wiesbaden 2016, S. 5–7. 166 Borsche 1998, »Orte der Wahrheit. Orte des Widerstreits«, 137. 165
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Nur weil die meisten Menschen in ihrem Alltag die Wahrheit wahrscheinlich für eine relative Instanz halten, heißt das allerdings nicht, dass die Mehrheit dieser Menschen per se dumm wäre. 167 Auch in dieser Hinsicht sind postmoderne Denker wie Lyotard und Foucault die besten Vordenker für das Phänomen, das wir heute unter dem Begriff des Postfaktischen kritisieren und diskutieren. Sie können unseren Blick für das Chaos im gegenwärtigen Diskurs schulen. Die Postmoderne für das postfaktische Zeitalter verantwortlich zu machen bedeutet nicht nur, das Kind mit dem Bade auszuschütten, sondern gleichzeitig sich der Chance zu entledigen, das Phänomen überhaupt erst mal angemessen zu verstehen. Denn in weiten Teilen bleibt die philosophische Perspektive mit ihrem privilegierten und ontologisch fundierten Wahrheitsanspruch dem öffentlichen und medialen Diskurs äußerlich und fremd. Das konsequente Durchdenken der Postmoderne ist eine Denkübung für postfaktische Zeiten und eine politische Hilfestellung, um mit der Fremdheit des Postfaktischen umzugehen und für das zu kämpfen, was man in einer traditionell philosophischen Perspektive seit Parmenides und Sokrates immer schon voraussetzt: Wahrheit. Auf der Suche nach Wahrheit schließen sich realistische und konstruktivistische Positionen nicht aus, sondern sie ergänzen sich. So gibt es beispielsweise einen Vorrang in Bezug auf die menschliche Existenz und auf die menschliche Fähigkeit, über sich selbst und ihre praktischen Existenzbedingungen zu reflektieren. Markus Gabriel, der wichtigste Vordenker des Neuen bzw. Neutralen Realismus, So berichtete der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur vom 19. 11. 2016: »… es gibt große Teile des Volkes, die sind nicht besonders informiert, geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau zu wissen, was der Fall ist. Also: sie sind dumm, wenn ich das mal so zusammenfassen darf.« Im Prinzip wiederholt Münkler hier die Geste der Verachtung, mit der bereits Parmenides die gewöhnlichen Sterblichen für minderwertig und unterlegen erklärt hat.
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schreibt hierzu: »Insofern stimme ich also abschließend dem Existenzialismus zu, der uns darauf hingewiesen hat, dass v. a. unsere Vorstellung dessen, was »Existenz« bedeutet, damit zusammenhängt, wie wir darüber nachdenken, was es bedeutet, dass wir existieren.« 168 Was aber sind die wichtigsten Seinsbereiche und Gegenstände der menschlichen Existenz? Es sind nicht zuletzt die menschliche Identität, der öffentliche Diskurs, das Geschlecht und die praktischen Werte einer Gesellschaft. So wie Axel Honneth einen Vorrang des Anerkennens vor dem Erkennen fordert 169 , so gibt es bei der menschlichen Existenz einen Vorrang der Praxis gegenüber der Ontologie. Denn bei den eben genannten Sinnfeldern und Seinsbereichen wie öffentlicher Diskurs, Geschlecht und Werte kommt kein Realismus ohne kulturalistische oder konstruktivistische Voraussetzungen aus. Es gehört zur menschlichen Existenz, mit der Beschreibung von Wirklichkeit auf die eigene und öffentliche Wirklichkeit einzuwirken. Ebenso ist es nur allzu menschlich, im diskursiven Denken, Sprechen und Handeln eine Welt im Ganzen vorauszusetzen. Es ist also eine Tatsache, dass wir mit Sprache auf unsere medialen, politischen und sozialen Seinsbereiche einwirken. Kein Realismus, sei er neu oder neutral, kann die Existenz und den Einfluss eines existenzialistischen Konstruktivismus auf unsere Wirklichkeit widerlegen. An genau diesen Stellen darf und muss eine ontologische Theorie den Ausgang in die praktische Philosophie und in die menschliche Praxis nehmen. Die 2500 Jahre alte Macht ontologischer Wahrheit darf nicht die einzige Richtschnur sein, mit der man sich durch den gegenwärtigen Diskurs bewegt, insbesondere nicht in Bezug auf Werte. Denn »Werte sind Fiktionen« 170 , schreibt Andreas Urs Sommer, und
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Gabriel 2016, »Neutraler Realismus«, 29. Honneth 2005, Verdinglichung, 46–61. Sommer 2016, Werte, 174.
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der Reiz von Werten liegt gerade in ihrer Vorläufigkeit und Flexibilität. 171 Wie aber steht es um den Wert von Wahrheit? Gibt es den Wahrheitsanspruch faktischer Vernunft auch ohne die von ihr ausgehende Verachtung? Nicht zuletzt geht es hier um einen praktischen Umgang mit den Formen impliziter und expliziter Verachtung, die sich am Beginn der abendländischen Ontologie bei Parmenides gezeigt haben und die auf untergründige Weise mit den gesellschaftlichen Verachtungsverhältnissen in postfaktischen Zeiten zusammenzuhängen scheinen. Nicht weniger dringlich wird diese Frage, wenn Verachtung nicht nur in der menschlichen Kultur, sondern ebenso im menschlichen Denken als grundlegender Antrieb angelegt ist. Es wird Zeit anzuerkennen, dass die abendländische Geschichte nicht mit den Vorsokratikern beginnt und dass der Gründungsmythos der unschuldigen Vernunftontologie auch eine dunkle Seite hat. Wer auch immer die faktische Vernunft für sich in Anspruch nimmt, übt ein bestimmtes Machtverhältnis der Verachtung auf andere aus. In der Verachtung des Postfaktischen liegt eine Wahrheit, die Aufklärer, Philosophen und Intellektuelle aller Couleur zu lange ignoriert und ausgeblendet haben. Die faktische Vernunft verachtet immer schon Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Wahrheitskompromisse. Unter ihrer Verachtung muss die Masse der Normalsterblichen, die nicht in das erhabene Mysterium abendländischer Ontologie eingeweiht sind, politisch gebildet und moralisch erzogen werden. Hierzu passt auch der Ansatz, in der Verachtung einen produktiven und notwendigen Gefühlsausdruck zu sehen, wie etwa der Psychoanalytiker Carlo Strenger, der für einen zivilisierten Umgang mit Verachtung plädiert. 172 Das sogenannte postfaktische Zeitalter steht daher nicht nur für eine neue Lust an der Unwahrheit, es ist auch eine Ebd. So lautet auch das Plädoyer von Carlo Strenger, der eine neue Haltung zur aktiven Verachtung fordert, vgl. Strenger 2015, Zivilisierte Verachtung.
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Abrechnung mit der Verachtung, die von der faktischen Vernunft ausgeht. In Zeiten, in denen das ostentative und öffentliche Verachten zu einem verlässlichen Mittel für die Erregung von medialer Aufmerksamkeit geworden ist, muss man sich nicht wundern, dass es tagtäglich und in den unterschiedlichsten Ausprägungen angewendet wird. 173 Im heutigen Diskurs setzen sowohl Vertreter der faktischen als auch der postfaktischen Vernunft Strategien der Verachtung ein. Verachtung ist eine kognitive Emotion, die soziale Zugehörigkeits- und Gruppenmechanismen bedient und deren Wirkung sich vor allem im Mentalen bemerkbar macht. Im Gegensatz zu den affektgeladenen Emotionen wie Hass und Wut, die sich nicht selten explosiv entladen, kann Verachtung eine dauerhafte und subtile Einstellung sein, die alle Gedanken und Handlungen begleitet. Der Zustand des Verachtens ist nicht nur eine kognitive Emotion, er ist auch subtiler Ausgangspunkt für eine aktive Haltung und ein Handeln gegenüber anderen Menschen. Wer zum Beispiel in der Öffentlichkeit behauptet, dass ein großer Teil der Menschen dumm ist, drückt Verachtung und moralische Überlegenheit aus. Verachtung dieser Art zielt einerseits auf Scham beim Gegenüber, der sich ausgeschlossen und minderwertig fühlen soll. Andererseits speist sich aus ihr ein kollektives Zusammengehörigkeitsgefühl, mit dem sich eine Gruppe überlegen fühlen kann. Der abendländischen Ontologie wohnt eine Verachtung inne, die für eine affektive Ökonomie und Kultur der Verachtung in unserer Gesellschaft steht. Statt über das Wesen oder die Bedeutung des postfaktischen Zeitalters zu diskutieren, wäre eine Auseinandersetzung mit dieser grundlegenden Dynamik affektiver Ökonomien in unserem sozialen und politischen AlltagsDieser Gedanke wäre bei der thymotischen Betrachtung unserer immer globaler wirkenden Ökonomie der Aufmerksamkeit noch hinzuzufügen. Vgl. zum platonischen Thymos auch Bernardy 2014, Aufmerksamkeit als Kapital, 52 und Sloterdijk 2006, Zorn und Zeit, 41.
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leben notwendig. Weniger verachten und mehr verstehen, so könnte ein Ansatz für das Problem des Postfaktischen lauten. Denn »postfaktisch« ist nichts anderes als ein Kampfbegriff, der die Verachtungsverhältnisse zum Ausdruck bringt, denen wir in gesellschaftlichen Beziehungen tagtäglich begegnen. Die effektvolle Verabschiedung der Postmoderne ist nur eines der Opfer, die bei diesem brisanten und globalen Kulturkampf auf dem Spiel stehen. Das bei weitem größere Opfer wäre die faktische Vernunft selbst, wenn sie den postfaktischen Status ihrer eigenen Verachtung nicht erkennt. Einerseits betrachten wir die Geschichte und das kulturelle Gedächtnis unserer Überlieferungen aus der eigenen, momentanen Gegenwart heraus. Andererseits geht jede überlieferte Vergangenheit über den persönlichen Jetzt-Horizont hinaus und muss gegenüber den Vorurteilen und Antimodernismen der eigenen Gegenwart verteidigt werden. Denn, so Walter Benjamin, »(i)n jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« 174
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Benjamin 2010, Über den Begriff der Geschichte, 253.
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