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German Pages 416 [417] Year 2014
Elize Bisanz, Marlene Heidel (Hg.) Bildgespenster
Image | Band 61
Elize Bisanz, Marlene Heidel (Hg.)
Bildgespenster Künstlerische Archive aus der DDR und ihre Rolle heute
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern und des Kunstarchivs Beeskow. Mit herzlichem Dank an Sylvana Kaiser vom Kunstarchiv Beeskow für die große Unterstützung beim Lektorat.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld UmschlagabbildunG: © Margret Hoppe »Werner Tübke, Fünf Kontinente, 1959, Öl auf Holz, 5 Diptycha, jeweils 245 x 245 cm, Interhotel Astoria, Leipzig, 2006, Interhotel Astoria, Leipzig«, C-Print, 90 x 140 cm Lektorat: Marlene Heidel & Sylvana Kaiser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2461-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2461-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Grußwort | 7
Ilona Weser Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft
Elize Bisanz und Marlene Heidel | 9
DAS KUNSTARCHIV BEESKOW – EINE TOPOLOGIE Schlussakkord und Bildersturm – Auftragskunst der DDR in Zeiten des Übergangs
Herbert Schirmer | 21 Die Geschichte der Kunstgegenstände unter treuhänderischer Verwaltung
Anke Jenckel und Monika Flacke | 33 »We Need to Start Reflecting on the Archives before the Archive«
Christoph Tannert in an interview with Artur mijewski and Marlene Heidel | 45 Das Neue Kunstarchiv Beeskow. Ergänzen und Weiterbauen
Maike Schrader | 63
VOM DISTANZBEWUSSTSEIN ZUM BILDBEWUSSTSEIN Ansichten aus dem Bilderstau. Was bleibt?
Marlene Heidel | 73 Das Phaneron, die Arché und die Farben der Malerei
Elize Bisanz | 85 Warburg, Meskalin und die Sterne – Bildräume des Distanzbewusstseins
Karl Clausberg | 103
Vom Nutzen und Nachteil der DDR-Geschichte für das Leben
Joes Segal | 145
KÜNSTLERISCHE SINNSCHICHTEN IM GEDÄCHTNISARCHIV Die Nationalgalerie und die Kunst in der DDR
Fritz Jacobi | 161 »Die Kunst ist ein Phantom«
Yana Milev im Interview mit Stefan Fuchs | 179 Heidrun Hegewald and the Cold War Politics of the Family in East German Painting
April A. Eisman | 205 Künstlerische Gegenentwürfe zu weiblichen Geschlechtsnormativen in der DDR
Susanne Hessmann | 231 Industriearbeiterin als Motiv – Beispiele aus dem Kunstarchiv Beeskow
Claudia Jansen | 265 Ungeliebtes Erbe? Die Kunstbestände der ehemaligen Kombinate
Tanja Matthes | 287 Fließendes Archiv – Beeskow, die Oder und die Archenauts
Ursula M. Lücke | 305 Positionen zur Moderne in der DDR am Beispiel der Zeitschrift Bildende Kunst
Frederike Eschen | 327 Film als Seismograph. Jahrgang 45 im Kontext der europäischen Filmkultur der 1960er
Nina Waltemate | 367 Autorinnen und Autoren | 407
Grußwort I LONA W ESER
Dieser Band zeigt wie keine andere Publikation zuvor die aktuelle Bedeutung künstlerischer Archive aus der DDR und speziell des Kunstarchivs Beeskow. Bildgespenster wendet sich eindringlich an die historische Verantwortung der heutigen Entscheidungsträger. * Die Namen Herbert Schirmer, der letzte Kulturminister der DDR und Gründer des Kunstarchivs Beeskow, sowie Monika Flacke, Sammlungsleiterin am Deutschen Historischen Museum in Berlin, stehen für das wache und mühevolle Zusammentragen von staatlich finanzierter Kunst aus der DDR. Mit ihren unabhängig voneinander stattfindenden Initiativen inmitten der Wendewirren retteten sie diese Kunst vor Verfall oder Zerstörung. Dass sie damit einen Grundstock für das heutige Kunstarchiv Beeskow schufen, war vielen und sicher auch ihnen selbst damals noch gar nicht bewusst. Archive sind Träger kultureller Identität. Sie sind Voraussetzung dafür, dass wir unsere Vergangenheit verstehen und unsere Zukunft gestalten können. Archive leben nicht von sich aus, sie müssen mit Leben erfüllt werden. Doch das wissenschaftliche Arbeiten, mit welchem erst Wissen aus den gesammelten Dokumenten und Zeugnissen entstehen kann, ist uns aufgrund der eingeschränkten finanziellen Situation des Kunstarchivs Beeskow seit mehreren Jahren kaum mehr möglich. Daher bin ich sehr froh darüber, dass das dreijährige BMBF-Verbundprojekt Bildatlas. Kunst in der DDR – als Kooperation zwischen der Technischen Universität Dresden, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Kunstarchiv
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Beeskow – von 2009 bis 2012 gezielt Fachleute nach Beeskow führte und unser Archiv zu einem Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden ließ. Besonders froh bin ich auch darüber, dass der wissenschaftliche Nachwuchs auf das Kunstarchiv Beeskow aufmerksam wurde. So initiierte Marlene Heidel zusammen mit Elize Bisanz und Lüneburger Studierenden der Kulturwissenschaften1 im Jahr 2010 die erste Sommerschule im Kunstarchiv Beeskow mit dem Titel Das Kunstarchiv Beeskow im Spannungsfeld einer globalisierten Kultur. Im Mittelpunkt dieser Tagung stand, konkret am Beispiel des Beeskower Archivs zu diskutieren, wie lokale Archive vor dem Hintergrund des stetigen globalen Informationszuwachs und der rasanten kulturellen Neuordnung zu einem lebendigen Träger von Erfahrungen werden können. Diese wissenschaftliche Tagung wurde zum Ausgangspunkt für die Idee des vorliegenden Bandes. Als Kooperationspartner der Tagung fördert das Kunstarchiv Beeskow nun diese Publikation. Das Kunstarchiv Beeskow ist dringend auf den seit Langem geplanten Anbau, für den sogar ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben war und für den es bereits einen auf Realisierung wartenden Entwurf aus dem Büro Max Dudler gibt, angewiesen. Er soll an der Ostflanke der Burg Beeskow entstehen; passt damit hervorragend in das Gebilde der Burg insgesamt, und er soll neben den bekannten Aufgaben künftig vor allem zeitgemäßer Wissensschaffung und vermittlung dienen und nicht zuletzt eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit fördern, die den Menschen nachhaltig nützen und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch die Touristinnen und Touristen – warum nicht? – aus ganz Europa und sogar der ganzen Welt anziehen wird. Im ersten Anlauf hat es leider nicht geklappt, die notwendigen Finanzmittel für den Bau des neuen Kunstarchivs zu erhalten; aber wir geben nicht auf! Die erneute Beantragung von Fördermitteln ist in Vorbereitung, die Kooperation mit den polnischen Partnern in unserer gemeinsamen Grenzregion so gut wie nie und das Netzwerk der Befürworter unseres besonderen Archivs wird immer dichter. Ich bin bereit, auch weiterhin meine ganze Person für das Kunstarchiv Beeskow einzusetzen, »mein ganzes Gewicht in die Waagschale der Zeit zu werfen«, um mit Heinrich v. Kleist zu sprechen. Der Band Bildgespenster zeigt Gewicht und Bedeutung des Archivs für unsere Gegenwart und unsere Zukunft und er zeigt auf eindrückliche Weise, dass und wie es gelingen kann, seinen heutigen Herausforderungen und speziell den Herausforderungen des Kunstarchivs Beeskow zu begegnen.
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Sophie Dabbert, Kaya De Wolff, Kristin Drechsler, Frederike Eschen, Franziska Linke, Lena Felde, Lena Jöhnk, Elena Malzew und Nina Waltemate.
Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft1 E LIZE B ISANZ UND M ARLENE H EIDEL Ein lebendiges Bild seines Inneren muss sich jeder immer machen. Es ist gewissermaßen der Punkt, auf den er nachher alles andere bezieht. Man muss darum auch in diesen Selbstforschungen nicht streng bloß bei demjenigen stehen bleiben, was Pflicht und Moral angeht, sondern sein inneres Wesen in seinem ganzen Umfange und von allen Seiten nehmen. WILHELM VON HUMBOLDT, »IDEE UND ERFAHRUNG«
Mit dem Titel Bildgespenster soll der besondere Status der Bilder im Kunstarchiv Beeskow dokumentiert werden. Das Gespensthafte setzt stets eine Zäsur, einen Tod und damit auch einen Ausschluss voraus. Gleichzeitig sind Gespenster als Repräsentationen vor allem Kraft der Negation einer körperlichen Gegenwärtigkeit, das Leib-Werden eines Geistes, die Verkörperung einer Idee und – im konkreten Fall Beeskower Archivs – das Leib-Werden der verbannten Bildideen in Bildgespenstern. In seinem Werk Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale reflektiert Jacques Derrida die konstitutiven Elemente des Gespensthaften, mitunter auch die Eigenschaft des Gespenstes, ein »Vi-
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Wilhelm von Humboldt
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sier-Effekt« hervorzurufen;2 seine Erklärung dazu: das Gespenst nimmt uns ins Visier, es beobachtet uns. Die Leib gewordene Idee in der Gestalt vom Bildgespenst tritt uns entgegen, beobachtet uns und fordert uns heraus, auf das Beobachtet-Sein zu reagieren. Diesen Status des Leib-Werdens der Bildgespenster lässt sich auch unmittelbar an die von W.T. Mitchell eindringlich formulierte Frage knüpfen »What do pictures want?«.3 Auch diese Frage steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem gespensthaften Charakter von Bildern. Mitchell fasst sie mit den Begriffen Meta-Bilder und Wilde-Zeichen zusammen, verstanden als Bildzeichen, die uns erblicken, deren Ursprung der Beobachter niemals erfahren kann, die auch das Potenzial wittern, Signifikationssysteme zu sprengen und zum Wahnsinn zu überführen. Diese konstitutive Affinität zum Wahnsinn und dadurch auch zur Gespaltenheit und zur Schizophrenie – eine allem zugrunde liegende Kategorie in Mitchells Untersuchungen – ist ein weiteres Merkmal des Gespensthaften, sowohl in seiner Existenz wie auch in seiner Nicht-Präsenz. Kraft ihrer signifikatorischen Eigenschaft multiple und gegensätzliche Ideen zu verkörpern, weisen Bildgespenster Parallelen zur Schizophrenie auf, indem sie konkurrierende und nicht-regulierbare Brüche, entstanden zum Beispiel durch die Substitution von Sinnstrukturen, mit strukturfremden Signifikationen gleichzeitig und im Dissens manifestieren. Der spezifische Fall des Kunstarchiv Beeskow lässt sich auch durch einen weiteren Aspekt Derridas Marx’ Reflexion annähern: die Identifikation als Marx’ Erbe, die Frage nach der Schuld und Mitschuld, die Trauerarbeit, die nun geleistet werden muss, an der Schwelle einer neuen Internationalen. Wir sind in der Verantwortung zu fragen, was geschieht mit den Erfahrungen, Ideen und Wahrnehmungen einer verstummten Welt? Um diese mit Derrida zu formulieren: »Was aber geht zwischen den Generationen vor? Eine Auslassung, ein seltsamer Lapsus. Erst da, dann fort, exit Marx.« 4 * Das 80 Kilometer südöstlich von Berlin liegende Kunstarchiv Beeskow mag als Depot der Kunst der Parteien und Massenorganisationen sowie Staatsorgane der DDR ein mit vielen Vorurteilen beladenes Archiv sein. In diesem zunächst offi-
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Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die
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Mitchell, William J.T.: What Do Pictures Want?: The Lives and Loves of Images by
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J. Derrida: Marx’ Gespenster, S.17.
neue Internationale, Frankfurt am Main 2004, S. 21. W.J.T. Mitchell. University of Chicago Press, 2006.
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ziell Mitte der 1990er Jahre unter dem Namen Sammlungs- und Dokumentationszentrum Kunst der DDR eingerichteten Archiv befinden sich ca. 23.000 Kunstwerke und Objekte, die nach der Wende aus den Zentren der kulturellen Selbstbeschreibung an deren Rand gelangten. Doch zeigen sich in diesem Zustand der Exklusion besonders deutlich die Mechanismen der Kultur und die damit verbundene Archivierungsarbeit. In den letzten Jahren sind wichtige und erkenntnisreiche Publikationen zur Kunst aus der DDR erschienen. Die Besonderheit dieses Bandes ist, dass es sich an einen konkreten Ort des Archivs begibt, sich im Kunstarchiv Beeskow zur Beobachtung einfindet, nicht um bereits bestehende Theorien zu bestätigen, sondern um erstens aus den dort vorzufindenden Formen, Bewegungen und Stauungen Erkenntnisse zu gewinnen und von diesem Ausgangspunkt aus künstlerische Archive aus der DDR sowie den Umgang mit ihnen zu untersuchen. Der Band legt damit seinen Schwerpunkt nicht auf die Erklärung einer DDR-Gesellschaft, sondern auf die aktuelle Rolle und Bedeutung künstlerischer Archive aus der DDR, denn sie gehen über die zeitlichen und räumlichen Grenzen der staatssozialistischen Gesellschaft hinaus. Zweitens versteht sich der Band als ein Beitrag, die Perspektiven auf künstlerische Archive aus der DDR zu erweitern und liefert Argumente für eine Archivierung der Werke sowohl als ästhetisches als auch zeithistorisches Dokument. Vor allem die Perspektive, Kunst aus der DDR auch als ästhetisches Zeugnis wahrzunehmen und zu sammeln, zu ordnen und zu deuten, wird zu einer äußerst wichtigen Frage des Archivs: Denn mit ihr entscheidet sich, ob Kunst aus der DDR eine entsprechende Aufnahme in das Archiv der Kunstgeschichte und damit einhergehend in die jeweiligen musealen Präsentationen und Repräsentationen erhält, oder als randständiger verfemter Teil der Auflösung überlassen wird. Drittens, die Publikation knüpft an die kulturwissenschaftliche Arbeit an, die mit dem Projekt pOst-West5 angesetzte Reflexion einer kulturellen Synchronisation fortzuführen. Die drei Zielhorizonte bestimmen auch die Struktur des Bandes: eine Analyse der topologischen und strukturellen Beschaffenheit des Ortes, eine theoretische Reflektion zur Idee des Archivierens und des Beobachtens und schließlich die Öffnung des Archivs als Erfahrungs-, Informations- und Wissensquelle. Das Kunstarchiv Beeskow gilt heute als Depot für DDR-Auftragskunst. Doch ist es nicht möglich, ihm einen Ursprung zuzuschreiben, es auf einen Ursprung festzulegen. Vielmehr konkretisieren sich in seinem Korpus mehrere Initiativen des Sammelns und Ordnens, denen jedoch im Laufe der Archivgenese unter-
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Elize Bisanz (Hg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland, Münster 2005.
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schiedliche Wertigkeiten zuteil kamen, so dass heute sowohl eine Fixierung auf DDR-Auftragskunst als auch die Abspaltung und Stilllegungen einer nach 1989 begonnenen Sammlung zeitgenössischer Kunst zu beobachten ist. Die Hinterlassenschaften der Parteien und Massenorganisationen sowie der Staatsorgane der DDR waren nicht die ersten Kunstwerke, die nach 1990 auf die Burg Beeskow kamen. Als damaliger Leiter der Burg kaufte Herbert Schirmer Werke von in der Region ansässigen Künstlerinnen und Künstlern, um eine zeitgenössische Kunstsammlung für den Raum Berlin/Brandenburg einzurichten. Im Zentrum der überlegten Ankäufe stand für ihn die Frage, was sich während des großen gesellschaftlichen Wandels in der Kunst ereignete, dabei interessierten die Kontinuitäten und Brüche. Doch auch vor 1990 hatte die zeitgenössische Kunst auf der Burg ihren festen Ort. Dort betrieb Waltraud Johne eine kleine Burg-Galerie des Kulturbundes, in der beispielsweise Sabina Grzimeks Arbeiten 1988 in einer Einzelausstellung zu sehen waren. Mit dem Um- und Ausbau der Wasserburg entstanden zudem nach 1990 ein Atelierhaus für Maler und Bildhauer, so dass Künstler und Künstlerinnen sogar direkt auf der Burg arbeiten konnten. Jedoch gehört nach institutionellen Umstrukturierungen die zeitgenössische Kunstsammlung nicht mehr zum Kunstarchiv Beeskow. Das Kunstarchiv Beeskow dokumentiert nicht nur die Aus- und Einrichtung der Archivlogik auf DDR-Auftragskunst, sondern ebenso verschiedene Archivierungsstrategien, die sich vor allem als ost- und westdeutsche Initiativen der Kunstbewahrung beschreiben lassen und für die die Namen Herbert Schirmer und Monika Flacke stehen. Mit diesen für das Kunstarchiv Beeskow konstitutiven An- und Einsätzen beginnt der erste Teil dieses Bandes. Gemeinsam ist beiden Perspektiven, so verschieden sie auch sein mögen, dass sie eine große Zahl von Werken vor der irreversiblen Zerstreuung bzw. vor dem zumeist unwiederbringlichen Verschwinden bewahrten, wichtige Voraussetzungen für deren Archivierung schufen und letztendlich den Hauptkorpus des Archivs formten. Bereits in seiner Funktion als letzter und erster frei gewählter Kulturminister der DDR ließ Herbert Schirmer Kunstwerke des Kulturfonds aus der gesamten Republik zusammentragen. Nach dem Ende der de Maizière-Regierung gründete er auf der Beeskower Burg ein Kultur- und Bildungszentrum und baute zu diesem Zwecke die alte Festungsanlage auf der Spreeinsel um und aus. Nach einem verhaltenden Interesse seitens der ostdeutschen Museen, die zusammengetragenen Kulturfondswerke in ihre Sammlung aufzunehmen, überführte Herbert Schirmer den Hauptteil der nun in Berlin einlagernden Kunst auf die Burg Beeskow. In seinem Beitrag dokumentiert Herbert Schirmer diese Bewahrung der Kunstbestände des Kulturfonds sowie die Genese des Kunstarchiv Beeskow in
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den neunziger Jahren. Dabei erklärt er die Funktion des Kulturfonds als wesentliches Instrument der Kunstförderung in der DDR und zeigt, wie die Bilder aus dem Bildersturm und dem politischen Schlussakkord in eine neue Kulturinstitution gelangten. Zudem gibt der Beitrag einen Einblick in die Archivstruktur, in die vor allem von Nicoletta Nelken verantwortete wissenschaftliche Katalogisierung der Kunstwerke und verdeutlicht die Schwerpunkte der Ausstellungsarbeit. Anke Jenckel und Monika Flacke dokumentieren die Geschichte der Kunstgegenstände unter treuhänderischer Verwaltung, die als Werke der Parteien und Massenorganisationen der DDR einen weiteren wichtigen Bestandteil des Kunstarchiv Beeskow bilden. Der Beitrag erläutert die im Auftrag des Deutschen Historischen Museums in Berlin vorgenommene Sicherung sowie die Inventarisierung und Registrierung der Kunst der Parteien und Massenorganisation der DDR sowie die gesamtdeutschen Debatten über den Umgang mit dieser Kunst, in deren Folge letztendlich 1994 die Gründung des Beeskower Sammlungs- und Dokumentationszentrum Kunst der DDR veranlasst wurde. Zudem wird die Frage diskutiert, warum sich kaum etwas in der aktuellen Debatte zur Kunst aus der DDR geändert hat und auch zwanzig Jahre später die gleichen Argumente vorgetragen werden. Archivierungsprozesse der Auslagerung wurden zu einem Auslöser für Margret Hoppes Fotoserie Die verschwundenen Bilder, von denen eine Auswahl in diesem Band zu sehen ist. Doch dokumentieren die Werke der Leipziger Fotografin nicht nur die Abnahme der Werke, das gesellschaftliche Vergessen der Bilder, sondern weisen ebenfalls auf die Möglichkeit hin, diesem Vergessen und 6 Verschwinden zu begegnen. Die Architektin Maike Schrader präsentiert den gelungenen Entwurf des geplanten Archiv-An- und Ausbaus. Mit ihrem Beitrag ergänzt sie die künstlerischen und politischen Auseinandersetzungen mit einem topologisch architektonischen. Der Beitrag macht die Funktionswandlungen der Burganlage bis zur aktuellen Nutzung als Sitz des Bildungs-, Kultur- und Musikschulzentrums sowie des Kunstarchiv Beeskow mitsamt der Ausstellungsräume sichtbar. Es ist zu hoffen, dass beide Archivstrategien, sowohl die von Herbert Schirmer als auch die von Monika Flacke und Anke Jenckel, in den Neubau des Kunstarchiv Beeskow und somit in dessen Zukunft eingehen; eine Zukunft für die sich vor allem Ilona Weser als heutige Leiterin des Archivs einsetzt. Weitere wichtige Archivperspektiven zeigen sich in dem Interview We need to start reflecting on the archives before the archive, in dem Artur mijewski
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SPINNEREI archiv massiv (Hg.): Margret Hoppe. Die verschwundenen Bilder, Dresden 2007.
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und Marlene Heidel Christoph Tannert begegnen. Diese Form des Gesprächs knüpft an Artur mijewskis Körper in Aufruhr an, welches zum meistdiskutierten Buch über polnische Gegenwartskunst und zum Dokument des Wandels in Polen nach 1989 wurde,7 ist zudem im Zusammenhang mit seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit verschmähten, verdrängten und ignorierten Teilen der Gesellschaft zu sehen und entstand im Rahmen von mijewskis kuratorischen und künstlerischen Arbeiten zur 7. Berlin Biennale. Christoph Tannert erinnert an die Produktionssituationen von Kunst aus der DDR, an Grauzonen und Zwischentöne sowie die verschiedenen Künstlergenerationen, die mit Fragen der Archivierung einhergehen. Die Logik des Archivs, wie z.B. des Kunstarchiv Beeskow, verweist auch immer auf das Abwesende, das nicht Bedachte. Die sowohl aktuellste als auch dringlichste und schwierigste Frage ist für Christoph Tannert, die Frage nach einem neuen Kanon der zeitgenössischen Künstlergeneration, welche aus der Kunst in der DDR hervorging. Verbunden ist damit ein Blick in die ostdeutsche Geschichte, der Perspektiven, Formen und Bewegungen zusammenbringt, die zuvor noch nicht verknüpft und verglichen wurden. Im Kunstarchiv Beeskow lagert eine gewaltige Menge dicht aneinandergedrängte abgesonderter Kunstwerke, deren Zugang zum kollektiven Gedächtnis höchst verengt ist und denen gegenüber ein gewisser Mangel an Distanzbewusstsein und eine gewisse überausgeprägte persönliche Identifikation bzw. Ablehnung innerhalb des öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurses besteht. Der Kunsthistoriker Karl Clausberg zeichnet ein Panorama von Denk- und Wahrnehmungshorizonten, vor deren Kulisse die Tiefenstrukturen kulturhistorisch gewachsener Mentefakte wachgerufen werden. Ausgangspunkt bildet Aby Warburgs langjähriges Interesse für Astrologie und Kosmologie, festgehalten in seinen Thesen zur Rolle des Distanzbewusstseins als soziale Dauerfunktion, mit denen der Autor Ausblicke auf die »beklemmenden Bildwelten jüngerer deutscher Geschichte« öffnen möchte. Clausbergs detaillierte Milieuanalysen der kunst- und naturwissenschaftlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts um die Dialektik zwischen Distanzgewinn durch nüchterne Wissenschaftlichkeit und Distanzverlust als die Verschmelzung von Objekt-Subjekt dokumentieren zugleich die Seelenzustände der modernen Geistes- und Naturwissenschaften. Die Spurensicherung der Gedankenwelt bewegt sich von Warburgs Mnemosyne-Atlas über Berichte zu ethnographischen Feldforschungen zum Rauschmittel Meskalin bis hin zu Ornamentik-Untersuchungen von Alois Riegel, zur Sinnesphysiologie
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Ruksza, Stanisaw: »Körper in Aufruhr – was tun?«, in: Beyn, Ariane/ Ruksza, Stanisaw (Hg.): Artur mijewski, Körper in Aufruhr. Gespräche mit Künstlern, Berlin/Bytom 2010, S. 13.
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Herbarts, zur Mikroharmonik des Musikwissenschaftlers und Psychologen Heinz Werner sowie zu den Reflexionen über Sternbilder, Sphärenordnung und synästhetische Erfahrungen; all diese werden exemplarisch für die Auseinandersetzung zwischen dem Versuch einer nüchternen formanalytischen Bilderfixierung und einer Perspektive der fließenden Bilderwelt der Rauschzustände verglichen und erklärt. Die entgegengesetzten Erlebniswelten im Meskalinrausch, zwischen einem abnormen Abstandserleben zwischen dem Ich und dem augenblicklich Wahrgenommenem und einem abnormen Verschmelzungserlebnis von Subjekt und Objekt, sowie Warburgs Bestreben nach Distanzschaffen als zivilisatorischen Grundakt bis an die Grenzen des kulturell etablierten Sehvermögens führen schließlich zu Bildkonstellationen des Mnemosyne-Atlas, den Clausberg als Vorzeichen von Warburgs Position zur Durchbrechung einer konzentrischen Sphärenordnung erklärt. Gewiss ist, so Clausbergs Fazit, dass Warburg »nicht nur den mnemotechnischen Fortbestand der Kultur, sondern auch deren besorgniserregende Veränderungen zu begreifen versuchte«. Auch Joes Segal öffnet eine geschichtliche Perspektive und stellt die Frage nach Nutzen und Nachteil von historischen Informationen. Deutlich wird mit seinem Beitrag, dass nicht die allseitige Verfügbarkeit und das unbeschränkte Anhäufen von Dokumenten und Wissen, sondern die lebendige Nutzung und das damit verbundene spezifische Fragen zu Erkenntnissen und Einsichten führen. Im Umgang mit der Geschichte weist er auf strukturimmanente Fehlentwicklungen hin, wie zum Beispiel die Entmündigung durch Verfälschung bzw. Fremdinterpretation der Geschichte. Sein geschichtswissenschaftlich distanziertes Plädoyer fällt sehr deutlich aus: auch die DDR-Geschichte als eine historische Erfahrung zu betrachten. Authentisch künstlerische Erfahrungen vermitteln die Beiträge der Künstlerin Yana Milev und des Kunsthistorikers und Kustos der Neuen Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin a.D., Fritz Jacobi. In ihrem Interview öffnet Milev Einblicke in die Seelenzustände von Künstler-Biographien in Umbruchzeiten und beschreibt ihre künstlerischen Strategien, einer biographischen Defragmentierung entgegenzuwirken. In Zeiten historischen Strukturwandels, kategorischer Orientierungslosigkeit und systemimmanenten Misstrauens rettet sich die Künstlerin Milev in eine Black Box, in eine abstrakte und entkörperte Kunst, in der das System zugleich sowohl zum künstlerischen Medium wie auch zum Sujet aufgearbeitet wird. Was jenseits entmündigter Identitäten des urbanisierten Körpers bleibt, ist die Kunst als ein Experimentierfeld für neue Lebensformen. Fritz Jacobi dagegen präsentiert die Außenperspektive im Umgang mit Kunstwerken. Sein Beitrag dokumentiert ein Stück Zeitgeschichte kuratorischen
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Handelns in Zeiten eines regulierten und hochgradig politisierten Umgangs mit Kunstwerken und bietet ein lebendiges Porträt des nationalen Kunstgedächtnisses von Sammlungen, Ausstellungen und Persönlichkeiten. Im Mittelpunkt von April Eismans kunsthistorischer Auseinandersetzung stehen Gemälde von Heidrun Hegewald, darunter Arbeiten aus dem Kunstarchiv Beeskow, sowie deren Rezeption in Ostdeutschland. Damit zeigt sie die Bedeutung von Hegewalds Arbeiten für die Forschung zur ostdeutschen Kunst und zu Künstlerinnen. Eismans Untersuchung setzt an der doppelten Marginalisierung der Künstlerin an; die sie zum einen über Hegewalds Existenz als Frau und zum anderen über Hegewalds politische Position erklärt. Am Beispiel des Themas und Motivs Familie erforscht sie, wie über Bilder politische Angelegenheiten diskutiert wurden bzw. werden. Der Beitrag argumentiert schließlich für eine Aufnahme des zukünftigen Nachlasses von Heidrun Hegewald in das Kunstarchiv Beeskow, damit die Werke für spätere Forschungen bewahrt bleiben. Susanne Hessmann erforscht künstlerische Gegenentwürfe zu weiblichen Geschlechtsnormativen in der DDR. Sie zeigt Genese und Charakteristika feministischer Ansätze in der DDR, indem sie zum Beispiel diese vor der Folie der gesellschaftlichen Frauenleitbilder und Emanzipation von oben betrachtet und mit angloamerikanischen feministischen Ansätzen vergleicht. Vor diesem Hintergrund untersucht sie Repräsentationen von Weiblichkeit in der ostdeutschen Kunst und konzentriert sich hier spezifisch auf »Frau und Technik«, »Problembilder«, »mythologische Frauenbilder« sowie »Künstlerinnengruppen«. Hessmann fragt nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen, die gesellschaftliche Geschlechternormative unterlaufen und lässt ihre Untersuchung in alternative Geschlechterbilder münden. Vor allem vor dem Hintergrund der nun fast 25-jährigen Vernachlässigung hebt Claudia Jansen die Bedeutung der kunsthistorischen Methode und des kunsthistorischen Vergleichs für den Zugang zur Kunst aus der DDR und damit auch zu Werken aus dem Kunstarchiv Beeskow hervor. Ihr Beitrag erforscht, welche künstlerischen Repräsentationen von Industriearbeiterinnen in den Bildwerken im Kunstarchiv Beeskow auszumachen sind und in welchem Verhältnis sie zur gesellschaftlichen Realität stehen. Dabei zeigt sie, dass Kunst aus der DDR nicht ausschließlich als Illustration bzw. Bestätigung von Sozialstrukturen bzw. damit verbundenen Normen verstanden werden kann, sondern sich als künstlerisches Erzeugnis maximal auf Aspekte der gesellschaftlichen Realität, jedoch nicht auf die Realität bezieht. Tanja Matthes dokumentiert und erforscht Kunstbestände der ehemaligen Kombinate der DDR, welche sich zum Großteil auch heute noch »zumeist verborgen in Werksarchiven der Nachfolgeunternehmen oder in den Sonderdepots
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der Länder« befinden. Mit ihrer profunden Untersuchung legt sie auf den Ebenen »betriebliches Auftrags- und Sammlungswesen«, »Ausgangssituation nach 1990« und »Versuche der Systematisierung und Erfassung« der noch vorhandenen Bestände an. Der Beitrag arbeitet Faktoren heraus, die einen entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit diesem Kunsterbe haben, und öffnet die Perspektive in die Zukunft. Für letztere hebt sie vor allem die Bedeutung dieser spezifischen Werkbestände als regionale Bezugspunkte hervor. Ursula M. Lücke stellt das Archenauts-Projekt vor, ein Archivschiff, welches als Ausstellungs-, Kultur-, und Forschungsschiff auf den Wasserstraßen reist. Über die Anbindung Beeskows an das Wassernetz, das prinzipiell mit allen Meeren und Flüssen in Verbindung steht, sowie die Situation des Bilderspeichers – das Verdrängen und Aufstauen der Bilder – lässt sich das Archenauts-Vorhaben mit dem Kunstarchiv Beeskow verbinden. Bereits realisiert wurde die Idee, indem das Archenauts-Projekt als Vermittlungsform der Schiffkonferenz Modernity, Socialism and Visual Arts wirkte. Lücke zeigt am Beispiel dieser Schiffskonferenz die Einzigartigkeit der Bewegungs-, Erfahrungs-, Denk- und Wissensformen, die durch fließende Archive möglich werden. Zudem konkretisiert sie die Zukunft für das Archivschiff Archenauts. Frederike Eschen wendet sich der Kontroverse um die Positionen der Moderne in der DDR, ausgetragen in der Zeitschrift Bildende Kunst, zu, um die besondere Stellung der Kunst in der DDR zwischen verordneter Utopie und ästhetischer Selbstbehauptung auszuloten. Herausgegeben von 1953 bis 1991 als Medium des Verbands Bildender Künstler Deutschlands (VBKD) war die Zeitschrift ein Forum, in dem das Kunstkonzept der SED vermittelt werden sollte. Gleichzeitig bildete sie auch ein Feld, auf dem Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne und mit den damals aktuellen westdeutschen und westeuropäischen Kunstströmungen Platz fanden. Mit den in der Zeitschrift ausgetragenen Diskussionen, so ihr Fazit, lassen sich Auffassungen unterstützen, nach denen sich das Kunstschaffen in der DDR in einem Prozess zwischen dem verordneten sozialistischen Realismus nach stalinistischem Vorbild und einer selbstbestimmten Kunst, in der Elemente der Moderne Platz fanden, bewegte. Somit waren, vor dem Hintergrund der Entwicklung der Moderne, beide Teile Deutschlands auch in ihrer Trennung miteinander verwoben und bedingten sich gegenseitig. Ähnliche Merkmale sieht Nina Waltemate in der Entwicklung der filmischen Darstellung in der DDR. Mit ihrem Vergleich zwischen ausgewählten DEFAFilmen mit westdeutschen und osteuropäischen Filmbeispielen spürt sie die seismographisch dokumentierten Filmbotschaften auf und macht »[a]uf diese Weise […] einen kulturellen Gedächtnisspeicher der Geisteshaltungen […] für
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den Zuschauer von heute zugänglich.« Durch ihre mit Warburgs und Adornos Thesen unterstützte werkimmanente Diskursanalyse öffnet Waltemate eine differenzierte Perspektive auf die Stimmungen und Mentalitäten in der DDR. Die Beiträge öffnen multiple Horizonte des Umgangs mit kulturellen Lagerungen, Ablagerungen, Sedimentierungen und Erosionen unter dem Einfluss politischer, zivilisatorischer und ästhetischer Prägungen. Vor allem führen sie modelhaft vor, mit welchen Instrumenten die kulturwissenschaftliche Forschung die Dokumente kultureller Produktion, von konkreten künstlerischen Arbeiten bis hin zu Diskursen, zu Wissens- und Erkenntnisquellen umwandeln kann. Der Umgang mit gesellschaftlich-kulturellen bis hin zur technisch- zivilisatorischen und allgemeinen Informationsproduktion gehört zu den essenziellen Fragestellungen unserer Zeit; wir leben und agieren in dem Bewusstsein, dass jegliche Entscheidung über deren Nutzen und Unnutzen eine unmittelbare Auswirkung sowohl auf die geistig-kulturelle Welt wie auch auf die Umwelt der kommenden Generationen haben wird. Auch in dieser Hinsicht bedarf es eines verantwortungsvollen Umgangs mit dem Kunstarchiv Beeskow.
Das Kunstarchiv Beeskow – Eine Topologie
Margret Hoppe, Thomas Ziegler, Sowjetische Soldaten, 1987, Öl auf Leinwand, vierteiliges Bild, je 158 x 127 cm, Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Bezirksleitung Berlin, 2004, Kunstarchiv Beeskow, Quelle: © Margret Hoppe
Schlussakkord und Bildersturm – Auftragskunst der DDR in Zeiten des Übergangs1 H ERBERT S CHIRMER
Gestatten Sie eingangs einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Stiftung Kulturfonds in Berlin, mit deren Sammlung eigentlich alles begann. Ohne diese Stiftung, ohne den Deal, den wir seinerzeit mit der Geschäftsführung eingefädelt hatten und ohne persönliche Verbindungen würde es das Kunstarchiv in Beeskow mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geben. Deswegen möchte ich mit einem Rückblick im Zeitraffer diesen ersten großen Spender für Beeskow etwas deutlicher zeichnen. Der 1949 von der Deutschen Wirtschaftskommission für die sowjetische Besatzungszone gegründete Staatliche Kulturfonds gehörte zum Instrumentarium der SED, mit dem sie ihre Kulturpolitik wirkungsvoll zur Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse zu handhaben gedachte. Und er gehörte zu den zentralen Geldgebern für Auftragswerke der bildenden Kunst. Daneben wurden Kunstankäufe finanziert, Absolventenförderung nach dem Hochschulabschluss betrieben, Ehrenrenten, Ehrengagen, Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen, Kuren und monatliche Beihilfen verabreicht. Im Wesentlichen wachten vier Instrumente über die Kunstförderung der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts nach 1945:
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Dieser Text basiert auf einem Vortrag, gehalten während der vom Kunstarchiv Beeskow und den Studierenden der Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg veranstalteten Sommerschule Das Kunstarchiv Beeskow im Spannungsfeld einer globalisierten Kultur in Beeskow (9.07.-11.07.2010).
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1. Die Zentrale Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, die 1951 gebildet worden war und die Aufgabe hatte, die Künstler auf die Leitlinien des sozialistischen Realismus einzuschwören. In der Kommission, die nach dem 17. Juni 1953 aufgelöst wurde, hatte der Philosoph Wolfgang Harich ein Werkzeug gesehen, mit dessen Hilfe »Duckmäuserei und das Taktieren mit den Mächtigen gefördert wurden«2. In seiner Kritik warf er der Kommission »dirigistisches Verhalten« vor und dass ihre Mitglieder »einen Geist der Furcht, der Unaufrichtigkeit und der Kriecherei groß gezüchtet haben«3. 2. Die Zentrale Staatliche Auftragskommission, die 1952 zwecks künstlerischer Ausgestaltung von Verwaltungsbauten gegründet worden war, vergab ausschließlich Aufträge für Kunst im öffentlichen Raum. Nach 1953 und der Entmündigung und Degradierung des Kulturfonds zum Erfüllungsgehilfen vergaben die Mitglieder Aufträge an Tafelmaler und tätigten Ankäufe nach Gutdünken und Wohlverhalten. 3. Das Zentralhaus für Laienkunst in Leipzig, welches 1952 gegründet und später in Zentralhaus für Kulturarbeit umbenannt wurde, war zuständig für die politisch-methodische Arbeit in der Freizeitkultur. 4. Der Kulturfonds bezeichnete die Gesamtheit der Mittel, die von den Bürgern der DDR durch die Kulturabgabe aufgebracht wurden und ist zugleich der Name der Einrichtung, die diese Mittel verwaltete. Zentral erfasst wurden 5 Pfennige für jeden Radio- und Fernsehempfänger und 10 Pfennige für jede Schallplatte; dazu kamen Einnahmen der 14 Bezirke, die auch in der jeweiligen Verwaltungseinheit verblieben: das waren 5 Pfennige pro Ticket für Theater, Variété, Zirkus, Ausstellungen, Museen oder Kino; 10 Pfennige für Tanz und ähnliche Vergnügungen im Gaststättengewerbe. Wie im Bereich des Sports beabsichtigte die SED auch mit der Kulturpolitik innen und außenpolitische Legitimationsdefizite der DDR zu kompensieren. Darum investierte sie großzügig in die Kunstproduktion, wofür sie den Kulturfonds benötigte. Die wichtigste Aufgabe dieses zentralen Fonds bestand darin, die ideelle und materielle Sicherheit der für den Sozialismus schaffenden Künstler zu gewährleisten. Mit der flächendeckenden Bereitstellung von Geldern wurde die Produktion neuer Werke der Literatur, der Musik, des Theaters, der bildenden und angewandten Kunst forciert, kulturelle Großveranstaltungen finanziell
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Harich, Wolfgang: Es geht um den Realismus. Die bildenden Künste und die Kunstkommission, in: Berliner Zeitung 14.7.1953, zit. n.: Schubbe, Dokumente 1972, S. 293f.
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Ebd.
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gewährleistet und von den Mitarbeitern die Kontrolle der rechtmäßigen Mittelvergabe durchgeführt. Jährlich verfügte der Kulturfonds über 25 Millionen Mark, davon wurden 10% für den so genannten Ministerfonds zur Soforthilfe oder für Sonderausgaben abgeführt, die nur der Minister, der gleichzeitig Kuratoriumsvorsitzender war, bewilligen konnte. Von 1980 bis 1989 standen für die Förderarbeit des Kulturfonds einschließlich Zuführung aus dem Staatshaushalt ca. 433 Millionen Mark bereit. Wurden 1974 noch 900.000 Mark für Aufträge bereitgestellt, waren es 1988 schon 2,2 Millionen Mark. Die Kunstankäufe erhöhten sich im selben Zeitraum von 400.000 Mark auf 1,3 Millionen Mark. Die Kunstwerke gingen in das so genannte Volkseigentum über. Zentrale Kunstankäufe erfolgten hauptsächlich während der Kunstausstellungen der DDR in Dresden durch den zuständigen Abteilungsleiter für bildende Kunst im Ministerium für Kultur und eine zuvor von ihm erstellte Liste. Nach Abschluss der Schau wurden die Werke an das Zentrum für Kunstausstellungen der DDR in Berlin zwecks Präsentation in West- und Südwesteuropa gegeben oder Kunstmuseen übereignet oder sie fanden als Leihgabe den Weg zu verdienstvollen Parteifunktionären. Zudem erfolgten Ankäufe bei anderen Ausstellungsgelegenheiten sowie direkt aus dem Atelier. Vor allem seit Mitte der 1970er Jahre, mehr noch in den 1980er Jahren wichen die politisch-erzieherischen Maßnahmen zunehmend künstlerischen Ankaufskriterien. Noch im November 1990 gelang es, den Ankauf der bis dahin kontinuierlich erworbenen 100 ausgewählten Grafiken aus dem Staatlichen Kunsthandel zu finanzieren, die bis heute in den Brandenburgischen Kunstsammlungen Cottbus versammelt sind. Das Jahr 1990 verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung, weil mit der bevorstehenden Auflösung der Verwaltungsstrukturen der DDR auch die Aufbewahrungsorte der Kunstwerke zur Disposition standen. Einen Monat nach der Wahl zum Minister für Kultur der DDR lud ich den Generaldirektor des Kulturfonds Wolfgang Patig Mitte Mai zum Gespräch, um mit ihm über den weiteren Umgang respektive den Verbleib der demnächst herrenlos werdenden Kunstwerke zu befinden. Als ob mir der Umstand, das ungeliebte System als oberster Kulturpolitiker zu repräsentieren, nicht schon aufreibend genug erschienen wäre, musste nun auch noch über so scheinbare Nebensächlichkeiten im anlaufenden Einigungsprozess befunden und entschieden werden. Nach kurzen Überlegungen setzte sich der Museumsmensch durch. Sammeln, bewahren, inventarisieren und forschen – diese Viereinigkeit hat sich schließlich allen Anfechtungen zum Trotz behauptet.
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In dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal von zerstörerischen Übergriffen. Porträtbüsten politischer Repräsentanten wie Marx, Engels, Lenin oder bedeutender Persönlichkeiten des wissenschaftlichen oder kulturellen Lebens erwiesen sich oftmals – so sie nicht, wie die meisten Vertreter der großen Denkmalkunst in Bronze gegossen und für die Ewigkeit gedacht waren – als mit Goldlack verzierte Gipsköpfe, die in Serie produziert, seit Jahren als Staubfänger in Abstellkammern verkamen. Und weil man der Originale aus unterschiedlichen Gründen nicht habhaft werden konnte, erfolgte das Abreagieren in einer Art Stellvertreterkrieg. Aufgestaute Abneigung, jahrelange Demütigungen oder stetig gewachsener Frust im Zeichen der Köpfe reduzierten den Bestand in etlichen Einrichtungen, wozu auch Souvenirhascherei mit unbestimmter Absicht beitrug. Wie in anderen Zusammenhängen des öffentlichen Lebens auch, gab es mancherorts eine Art Endzeitstimmung, bei der die Vernunft ins Glied zurückkommandiert, einer Lust zu zerstören Platz machte, einer Lust, bei der man sich kurzerhand von ungeliebten Götzenbildern der Noch-Gegenwart zu befreien suchte. Wir haben später Bilder nach Beeskow bekommen, die viele Jahre unbemerkt hinter Büroschränken ihr staubiges Dasein gefristet hatten und die nun von Messern zerschlitzt waren. Andere wiesen Bruchstellen in der Leinwand auf, die von der Form her eher an kräftige Fußtritte erinnerten. Zertrümmerte Rahmen, Spuren von nicht mehr genau definierbaren Flüssigkeiten auf der Malschicht waren keine Seltenheit. Achtung im Umgang mit der Kunst (Kunstwerken) sieht in aller Regel anders aus. Mir wurde berichtet, dass Offiziere der Nationalen Volksarmee am helllichten Tag mit Bildern unter dem Arm das Kasernengelände in Richtung ihrer Wohnung verlassen hätten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich möglicherweise schon herumgesprochen, dass der kommende Kunstmarkt ungeahnte Chancen in sich birgt und dass, wer rechtzeitig mitmischen will, etwas zum Anbieten braucht. Auch aus anderen Amtsstuben wurden Vermisstenmeldungen ins Ministerium geschickt. Rasch wurde uns klar, dass wir mit den Forderungen gegenüber Institutionsdirektoren oder Verwaltungsleitern, denen wir unsere Rückholabsichten deutlich machten, mehr als einmal schlafende Hunde geweckt haben mussten, weil durch unsere Recherchen die jahrelange Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit plötzlich umschlug und die mögliche Bedeutung der Kunstwerke plötzlich interessant wurde. Nicht selten hatte sich der Bestand bei der Abholung dann schon dezimiert. Da die Aufmerksamkeit in unserer kurzen Amtszeit noch anderen Dingen zu gelten hatte, wurde in keinem einzigen Falle nachgeprüft, ob, wer, wie viel und wohin verbracht hat. Besser stehlen und privatisieren als zerstören, lautete unsere lakonische Devise.
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Rückblickend muss ich konstatieren, dass, im Verhältnis zum Kunstbestand gesetzt, das wohl eher Ausnahmeerscheinungen waren. Immerhin schieden sich die DDR-Bürger, die mit diesen Bildern aufgewachsen und vertraut waren, schon 1990 in zwei Lager. Die einen ließen mit ihrer Zerstörungswut die ersten Vorboten bereits einsetzender Verdrängung erkennen, während andere mehr auf den Bewahrungseffekt setzten. Aus der zweiten Gruppe dürften all jene stammen, die ein inniges Verhältnis zu ihrem Bild entwickelt hatten und die nun angesichts der drohenden Gefahr die Kunstwerke in Sicherheit zu bringen bestrebt waren. Als ich Ende Mai der ersten Kuratoriumssitzung des Kulturfonds im OttoNagel-Haus in Berlin vorsaß, lautete einer der wichtigen Tagesordnungspunkte: Was soll mit der Kunst nach einem Beitritt und der Auflösung des Kulturministeriums geschehen? Es fand sich eine überzeugende Mehrheit für meinen Vorschlag, alle Objekte zunächst zurückzurufen, Bestandslisten anzufertigen und die Objekte an einem dafür geeigneten Ort zu deponieren. Alle offiziellen Stellen im In- und Ausland wie demnächst aufzulösende Botschaftsgebäude, Kulturzentren der Liga für Völkerfreundschaft, aber auch die SED-Zentralen, der Zentralrat des Jugendverbandes im Inland oder die fünf Erholungsheime des Kulturfonds (Schloss Wiepersdorf, Haus Lukas in Ahrenshoop, Groß Kochberg bei Jena, Haus Klinger bei Naumburg und das Schriftstellern vorbehaltene Heim in Petzow bei Potsdam) erhielten zwecks Rückführung eine Auflistung ihres Kunstbestandes. Die Institutionen waren aufgefordert, ihre Werke im Ministerium abzuliefern oder abholen zu lassen. Für die Aktion wurden kurzfristig Mitarbeiter abgestellt, die nur damit beschäftigt waren, mit geeigneten Fahrzeugen das kleine Land abzufahren und die eingesammelten Werke ins Ministerium zu bringen. Dort wuchs der Bestand schon sehr bald von einem in den nächsten Kellerraum. Von dieser Kellersammlung muss damals ein Amerikaner erfahren haben, der in Ostberlin aus Gründen unterwegs war, die nur zu vermuten waren. Prompt meldete er sein Interesse an, lockte mit einer Summe von ca. einer Million Dollar, wenn wir ihm die Sammlung in Gänze überließen. Ich gebe zu, dass eine Million Dollar aus der DDR-Perspektive betrachtet eine verführerische Vorstellung war, gleichwohl lehnte ich ohne weitere Erklärungen ab. Die Vorstellung, aus diesen Bildern und Plastiken würde jenseits des Atlantiks ein Panoptikum entstehen, eine Art Kunst-Zoo, in der unser Held etwas ausstellte, was außer ihm keiner vorzeigen konnte, ließ die Attraktivität des Angebotes und die Anziehungskraft des Dollarsegens schlagartig schrumpfen. Wenig Beachtung fand bisher ein Umstand, den ich kurz schildern will. Bis 1990 hatten die Kulturminister an die Bezirkssekretäre der SED, an die ranghöchsten Genossen, Bilder zur Verschönerung der Parteizentralen verschenkt, die der Kulturfonds bezahlt hatte. Zum Zeitpunkt unserer Sammelaktion wurde
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bei mehreren Inspektionsreisen des Generaldirektors vom Kulturfonds festgestellt, dass sich von den dafür vorgesehenen Bildern und Plastiken die wenigsten in Dienstgebäuden befanden. Ein Appell an die zuständigen Genossen lief ins Leere, doch Dank der sorgsamen Registrierung im Archiv des Kulturfonds konnte ziemlich genau nachgewiesen werden, wer wann welches Kunstwerk zur treuhänderischen Verwaltung erhalten hatte. Und da die Räson vor der zuvor allmächtigen Partei erkennbar im Schwinden begriffen war, schalteten wir die Prüfer von der so genannten Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI) ein, die dafür sorgten, dass Bilder aus den Privatgemächern der Kunst liebenden Herren zurückgeführt wurden. So geschehen in Halle an der Saale und in Rostock. Nachdem eine Woche vor dem Ableben der DDR aus dem Zentralen Kulturfonds die Stiftung Kulturfonds für die ostdeutschen Länder gegründet wurde, ging die Sammlung sozusagen in den Besitz der Stiftung über. Ein Jahr später gab es eine Ausstellung im Bundesministerium des Innern in Bonn und in den langen Fluren des früheren Ministeriums für Kultur, das inzwischen eine Abteilung des Innenministeriums geworden war. Das Schlossmuseum in Gotha meldete Interesse an zwei Bildern von Bernhard Heisig an, die aus dem Kellerverlies dorthin wechselten. Und als aus dem Harzstädtchen Wernigerode ein Angebot zur Komplettübernahme kam, beschloss der Stiftungsrat allen Kunstmuseen der neuen Länder Gelegenheit zu geben, die Ansammlung zu besichtigen und eventuell Werke auszuwählen und kostenfrei in den jeweiligen Bestand zu übernehmen. Von den angeschriebenen Museen haben nur einige reagiert: ich erinnere Neubrandenburg, Cottbus, Frankfurt (Oder), Rostock und Magdeburg. Im Ergebnis der Vergabe wechselten nur wenige Arbeiten den Besitzer. Der große Rest blieb zurück. »Ich nehme alles«, hatte ich als Direktor der Burg Beeskow vor dem verbleibenden Berg vollmundig verkündet, wohl wissend, dass dieses Angebot einmalig und konkurrenzlos bleiben würde. In kurzen Nachfolgeverhandlungen mit dem Geschäftsführer der Stiftung wurde also die bald mögliche Umsetzung nach Beeskow bestimmt. Auf der Burg war damit begonnen worden, eine Kunstsammlung einzurichten, deren Profil sich an Kunst aus 40 Jahren DDR, der politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit und der darauf folgenden Jahrzehnte orientieren sollte. Angekauft waren bereits Werke von Ernst Schröder, Harald Metzkes, Dieter Zimmermann, Sabina Grzimek, Harald Schulze, Sophie Natuschke und Matthias Körner. Für den Konzertsaal der Burg realisierte der Cottbuser Maler Hans Scheuerecker zwei Auftragswerke zum Thema HörenZuhören, die noch heute zu sehen sind. Hinzu kamen nun Affirmationen und Gefälligkeitsmalerei aus der Frühzeit, aber auch die so genannten Problembilder aus der jüngeren Kunstproduktion und
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vor allem grafische Arbeiten, manche als komplette Auflage, sowie die vom Kulturbund produzierten Grafikmappen zu besonderen Anlässen im kulturellen Leben der DDR. Die grafischen Werke zeigten durchgehend das gesamte Leistungsspektrum der Drucktechniken und der technischen wie künstlerischen Versiertheit der Künstler. Wie aber sollten die Objekte von Berlin nach Beeskow gelangen? An Kunsttransporte war dabei aus Kostengründen nicht zu denken – wir mieteten einen Lastkraftwagen, der schon bessere Zeiten gesehen hatte und den der Hausmeister der Burg nach Berlin steuerte. Als bei der zweiten Fuhre im Motorraum Feuer ausbrach, sind wir praktischerweise gleich auf ein Fahrzeug der Feuerwehr umgestiegen. Auf diese Weise kamen etwa 200 Gemälde, 400 grafische Blätter und einige Skulpturen und kunsthandwerkliche Objekte nach Beeskow. Eingelagert wurden die Bilder, nachdem wir sie kurzzeitig und entgegen aller konservatorischen Vorschriften für die Fernsehkameras im Burghof ausgestellt hatten, im Dachgeschoss des Atelierhauses. Nach der Gründung des Sammlungs- und Dokumentationszentrums Kunst der DDR wurden sie inventarisiert und in den Bestand mit Rückverweis auf den Vorbesitzer eingegliedert. Das geschah ab 1995. Dank des übermäßigen Interesses der Medien hatte das Thema Umgang mit der staatlichen Auftragskunst plötzlich Konjunktur. Aus Schweden und den Niederlanden – letztere hatten mit einer unvorstellbaren Menge an Auftragskunst und mit deren Aufbewahrung ein massives Problem – reisten Journalisten an und ließen sich das Beeskower Modell erklären. Noch stärker wurde das Interesse, als auf Beschluss der Länder Brandenburg, Berlin und MecklenburgVorpommern mit dem Landkreis Oder-Spree der Bestand der Parteien und Massenorganisationen hinzukam. Im Gegensatz zu den waghalsigen Kunsttransporten aus der Stiftung Kulturfonds übernahm nun mit der Firma Borkowski ein einschlägiges und hochqualifiziertes Unternehmen diese Aufgabe. Die überwiegende Zahl der Kunstwerke aus dem Besitz von Parteien und Massenorganisationen, die von Mitarbeitern des Deutschen Historischen Museums im Auftrag der Treuhandanstalt von 1991 bis 1995 eingesammelt worden waren und im Dezember 1995 nach Beeskow gelangten, war ordnungsgemäß in Luftpolsterfolie verpackt. In gerundeten Zahlen handelte es sich hierbei um 1.200 Gemälde, 9.000 Blatt Druckgrafik, 1.500 Zeichnungen und Aquarelle, 200 Plastiken, 1.000 Fotografien, 300 Arbeiten des Kunsthandwerks aus Textil, Keramik, Glas sowie 4.000 künstlerisch gestaltete Medaillen. Zum Bestand zählten darüber hinaus ca. 1.500 Arbeiten von Laienkünstlern und Schülern. Aufnahme fanden auch so genannte Devotionalien aus den staatsoffiziellen Schreckenskammern wie beispielsweise Erich Honeckers Porträt auf Wildschweinfell oder
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Leninbüsten als Briefbeschwerer sowie andere Positionen aus dem Bereich des zwei- und dreidimensionalen Politkitsches. Mit 2,1 Millionen DM aus dem Parteienvermögen der DDR wurden der Aufbau und die technisch-organisatorische Inbetriebnahme (zuzüglich des Einbaus einer Klimaanlage im Speicher) des Sammlungs- und Dokumentationszentrums mit Personalkosten für drei Mitarbeiter auf drei Jahre gewährleistet. Danach und zur Weiterführung des Zentrums wollten die Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, denen die aus Treuhandbesitz nach Beeskow gekommenen Werke nach wie vor gehörten, die Finanzierung paritätisch übernehmen. Erfasst wurden die Kunstobjekte mit dem in Deutschland weit verbreiteten Datenbanksystem HiDA/MIDAS (Hierarchischer Dokument Administrator/Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrationssystem). Dieses System diente der Inventarisierung und Katalogisierung und war für die Beschreibung von Kunstwerken gut geeignet. Dabei kam es uns bei der Erfassung nicht nur auf Detailgenauigkeit an, sondern auch auf eine ikonografische Verschlagwortung, gerade um bildhafte Objekte in politisch-ikonografische Zusammenhänge zu setzen. Parallel hierzu wurden im Speicher Regale zusammengeschraubt und die einzelnen Arbeiten Blatt für Blatt ausgepackt, fotografiert, gemessen, beschrieben und in Regale und Grafikschränke (aus dem Nachlass des Staatlichen Kunsthandels der DDR kostenfrei erworben) sortiert. In vielen Fällen wurden die Informationslücken über Autorenschaften, Provenienzen oder Entstehungszusammenhänge recherchiert und nachgetragen. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass diese zufällig zusammengekommene Sammlung nicht mit einem systematisch gewachsenen und profilierten Museumsbestand zu vergleichen war. Der Wert lag erkennbar in der Symbiose von Kulturpolitik und Kunstschaffen, ihrer Entwicklung und wechselseitigen Beeinflussung, in der sowohl ideologischen wie materiellen Grundlage, auf der tausende von Künstlern, Kunsthandwerkern und Laien an einem Bild von und für die DDR gearbeitet hatten. Die Liste der Namen zeigte, dass sich die Mehrheit der Künstler beteiligt hatte und dabei Auskommen, Anerkennung und Auszeichnung bis zum Ende der DDR gefunden hatte. Michael Freitag, Kunstkritiker und Mitglied des Vereins neue bildende kunst e. V. und wissenschaftlicher Berater des damaligen Beeskower Sammlungs- und Dokumentationszentrums, kam angesichts des Konvoluts der Parteien und Massenorganisationen im Vergleich zur viel kleineren Sammlung des Kulturfonds 1996 zu einer wenig schmeichelhaften Einschätzung, als er von der »definitiven geistigen Unbedarftheit« schrieb, »die gerade durch die Visualisierung einer illusionsbedürftigen Politik entstanden war, und wegen jener definitiven künstleri-
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schen Harmlosigkeit, die diese Werke überhaupt erst würdig machte, an Orte und in den Besitz von politischen Massenorganisationen zu gelangen.«4 Mit der Inventarisierung setzte die Ausstellungstätigkeit ein. Querformat 1 suchte die Vorurteile über die Qualität der hier versammelten Kunst zu relativieren. Querformat 2 gestattete einen repräsentativen Einblick in den Bestand. Die dritte Ausstellung unter dem Titel Die Schönheit der Macht und die vierte »…und der Zukunft zugewandt« konfrontierten die Besucher erstmals mit nur einem Geschichtspunkt aus dem Kunstschaffen und der ideologischen Verfügbarkeit. In Die Schönheit der Macht wurden Arbeiten aus der Zeit zwischen 1948 und 1988 vorgestellt, die alle als Beispiele für einen einzigen Aspekt standen, nämlich den der Beziehung zwischen Kunst und Macht im Zustand der Harmonie. Mit der Ausstellung »…und der Zukunft zugewandt« wurden neben politischen Grafiken und Plakaten mehrheitlich grafische Illustrationen zur Literatur gezeigt, die der Kulturbund über Jahrzehnte zu kulturpolitischen Höhepunkten in Auftrag gegeben und in Mappenwerken veröffentlicht hatte. Dabei wurden drei Dinge zur Anschauung gebracht: 1. Ansprüche der Macht an ihr Erscheinungsbild; 2. Aussagen über die Produzenten und die Entstehungsbedingungen; 3. ein sehr begrenzter Einblick in die Kunstgeschichte der DDR. Was wollten wir damals erreichen? Rolf Lindemann, heute Beigeordneter des Landkreises Oder-Spree und damals als Dezernent in die rechtlichen Verfahren des Abkommens zwischen dem Landkreis Oder-Spree und den beteiligten Ländern involviert, hat es in einem Fernsehinterview trefflich auf den Punkt gebracht: »Wir wollen kein Mekka für Meckerer sein, aber wir wollen auch nichts verstecken«. Dass wir mit unseren kleinen Kontrastausstellungen zu den repräsentativen Schauen zweifelhafter Ernsthaftigkeit (z. B. Weimar ’99 – Aufstieg und Fall der Moderne) in die Sturmböen des deutsch-deutschen Bilderstreites gerieten, hat uns überregional zwar mehr Aufmerksamkeit eingebracht, innerhalb des Landkreises mehrten sich hingegen kritische Stimmen, ob denn da alles mit rechten Dingen zugehe. Wenn ich in diesem Zusammenhang aus dem Besucherbuch der Ausstellung Querformat 2 zitiere, dann befallen mich, offen gesagt,
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Freitag, Michael: »Wann wird ein Kunstwerk Dokument. Kunst aus der DDR – Fragen an die Rezeption«, in: Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow, Interessengemeinschaft neue bildende Kunst e.V. (Hrsg.): Die Depots der Kunst. Symposium 13. bis 15. November 1996 Burg Beeskow, o.O. o.J., S. 70f.
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heute auch Zweifel. Schrieb doch jemand aus Ostberlin einen Nachruf auf die verblichene DDR: »Der Mensch stand in der ehemaligen DDR stets im Mittelpunkt. Die Ausstellung bringt es auch im vollen Maße zum Ausdruck. Schade, dass es die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr gibt; das Leben in diesem Staat, die Tiefen und das Schöne im Leben, voll Arbeit und Geborgenheit, bleibt unvergessen.«5
Ein Bayer entgegnete: »Du dummes Schwein! Denke an die Stasi!« Ein anderer Beitrag vermittelte eher: »Erstaunlich – noch vor sieben Jahren habe ich diese Art Kunst für ganz normal gehalten. Und über jede kleine Kritik konnte ich mich diebisch freuen. Heute ist es ziemlich lächerlich und peinlich«6. Diese kurzen Statements stehen für viele weitere ähnlichen Wortlauts und verdeutlichen tendenziell eine Gleichsetzung der Bilder mit dem Leben des Rezipienten sowie Bekundungen, die aus persönlichem Dialog mit den Bildern erwachsen sind. All das skizziert zumindest auch die Schwierigkeiten unseres Vorhabens. Dass wir es nicht dabei belassen wollten, wurde mit dem Symposium Die Depots der Kunst von 1996 deutlich, das wir mit dem Verein neue bildende Kunst e.V., Wissenschaftlern aus Polen und Tschechien und Deutschland sowie Künstlern durchführten und das der Funktionalisierung von Kunst und dem Schicksal entfunktionalisierter Kunst gewidmet war. Im Vorwort des Dokumentationsbandes steht geschrieben, dass, um dieses System der Funktionalisierung zu untersuchen, es eines gleichzeitig behutsamen und rücksichtslosen Blickes bedarf. Und dass die Dokumentationsstellen in der Burg Beeskow und der Festung Königstein aufschlussreiches Material enthalten, wenngleich keine bedeutenden Werke enthalten sind.7 Wie und auf welche Weise der Bestand an Werken sich in den 1990er Jahren erweiterte, soll an zwei Beispielen gezeigt werden. Der Kunstkritiker Christoph Tannert aus dem Künstlerhaus Bethanien in Berlin rief mich eines Tages an und bat darum, den Bildern von Christine Schlegel Asyl zu gewähren, die als eine der wenigen Nachfahren des Surrealismus in der DDR gegolten habe. Nun sei
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Eintrag aus dem Besucherbuch der Ausstellung Querformat 2 (Burg Beeskow,
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Eintrag aus dem Besucherbuch der Ausstellung Querformat 2 (Burg Beeskow,
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Hüneke, Andreas/Schirmer, Herbert: »Vorwort«, in: Dokumentationszentrum der
30.09.1995-26.09.1996). 30.09.1995-26.09.1996). DDR, Burg Beeskow, Interessengemeinschaft neue bildende Kunst e.V. (Hrsg.): Die Depots der Kunst, o.O. o.J., S. 5.
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sie ob ihrer derzeitigen sozialen Situation so verzweifelt, dass sie damit gedroht habe, ihr gesamtes Werk zu verbrennen. Wir haben kurzfristig reagiert und die Bilder in den Beeskower Speicher gebracht. Ein anderer Hilferuf kam von einem Künstler aus dem Cottbuser Umland, der 1986 in expressiver Manier eine sozialistische Feldbaubrigade in einer Pausensituation als Ausdruck des Stillstandes in der DDR gemalt hatte. Dieses Bild, in einem Verwaltungsgebäude eines landwirtschaftlichen Betriebes hängend, sei mit dem Haus an einen Investor verkauft. Nachdem er mit dem neuen Besitzer in Kontakt gekommen war, zog es der Maler vor, einen Hilferuf nach Beeskow abzusetzen. Wir brauchten genau einen Tag, um den Sprinter zu besorgen. Am nächsten Tag traf sich unser Hausmeister mit dem Künstler vor Ort. Binnen kurzem und völlig unbemerkt verschwand das großformatige Bild im Laderaum und eine Stunde später war es bereits in der Burg. Wer nun vermutet, dass wir wegen illegalen Entwendens eines Kunstwerkes oder gar Hausfriedensbruchs mit Schadensfolge für den Besitzer belangt worden wären, der irrt. Die schläfrige Feldbaubrigade geriet durch diese Umstände in die Ausstellung Querformat 2 und danach auf kurzem Weg in den Bestand des Sammlungs- und Dokumentationszentrums. Zurückblickend auf diese Anfangsjahre erinnere ich vier wesentliche Punkte, woran uns besonders gelegen war: 1. Wir wollten die Strukturen eines wesentlichen Teils der Kunstproduktion und Rezeption sichtbar halten, den Zugriff darauf und den Umgang damit jederzeit gewährleisten und am Gegenstand selbst forschen. Neben den Aussagen über die Produzenten und die Entstehungsbedingungen sollten die Qualitätskriterien auch nach dem Verschwinden des politischen und gesellschaftlichen Systems jederzeit am Objekt als Dokument ablesbar bleiben (eben: die Ansprüche der Macht an ihr Erscheinungsbild). 2. Es gab bereits neben der Euphorie über das Ende der Agonie einen unbestimmbaren Phantomschmerz, der insbesondere unter der Künstlerschaft Verlustängste hervorrief, die in einer Art Bewahrungshysterie mündete und die ersten Beschönigungsversuche nach sich zog. Dem galt es mit Objektivität zu begegnen. 3. Uns war klar, dass es sich bei den nach dem Fundortprinzip verteilten Beständen der Parteien und Massenorganisationen um einen sehr begrenzten Einblick in die Kunstgeschichte der DDR handelte. 4. Wegen der vorzüglich dokumentierten Kunstgeschichte der DDR sollte neben den Kunstwerken für zukünftige Forschungsarbeit eine Bibliothek aufgebaut werden.
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Letzteres wurde erleichtert durch die Auflösung des Staatlichen Kunsthandels in Berlin, durch die Übernahme einer repräsentativen privaten Kunstbibliothek eines Museumsdirektors aus Freital in Sachsen sowie von Doubletten und durch Gaben unzähliger privater Spender. Eine wissenschaftliche Bibliothekarin inventarisierte zügig, um den Zugriff auf die Medien zu ermöglichen. Dafür wurden zwei Arbeitsplätze im Speicher eingerichtet und es gab erste Versuche der Zusammenarbeit mit der Viadrina Universität in Frankfurt (Oder). Es wurden Werke an andere Museen und Ausstellungen ausgeliehen und es gab Vorträge im Mannheimer Kunstverein oder in der Akademie Solitude in Stuttgart. Und es gab das Jahr 1998, als ich eine vorläufige Dauerausstellung mit Leihgaben signifikanter Werke aus Museen konzipierte, vor deren Realisierung ich aber die Burg und das Kunstarchiv wegen Zoffs mit dem Landkreis Oder-Spree verließ.
L ITERATUR Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow, Interessengemeinschaft neue bildende Kunst e.V. (Hrsg.): Die Depots der Kunst. Symposium 13. bis 15. November 1996 Burg Beeskow, o.O. o.J. Schubbe, Elimar (Hrsg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1945-1969, Stuttgart 1972.
Die Geschichte der Kunstgegenstände unter treuhänderischer Verwaltung1 A NKE J ENCKEL UND M ONIKA F LACKE
R ECHTLICHE A USGANGSSITUATION FÜR DEN U MGANG MIT DEN K UNSTWERKEN AUS DEM B ESITZ DER P ARTEIEN UND M ASSENORGANISATIONEN DER DDR Das gesamte Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR war bereits am 1. Juni 1990 von der Volkskammer der DDR unter treuhänderische Verwaltung gestellt worden. Hierzu gehörten neben den Vermögenswerten der SED auch die der Blockparteien, des FDGB, der DSF, der FDJ und andere. Zu deren Verwaltung berief der Ministerpräsident der DDR eine Unabhängige Kommission Parteivermögen (kurz: UKPV), die zur Ermittlung des Vermögensbestandes mit Rechten ausgestattet wurde, die dem Strafprozessrecht entsprachen. Nach der vollzogenen deutschen Einheit übernahm die Treuhandanstalt die tatsächliche Verwaltung, während es weiter Aufgabe der UKPV war, den Bestand des Vermögens zu ermitteln und über dessen Verwendung zu entscheiden. Nach den Maßgaben des Einigungsvertrages war zu entscheiden, welche Vermögensteile mit rechtsstaatlichen Mitteln erworben und daher den Parteien bzw. Massenorganisation oder ihren Nachfolgern herauszugeben waren und welche an Alteigentümer restituiert werden mussten. Soweit weder der eine noch der andere Sachverhalt zutraf, war das Vermögen zu verwerten und der Erlös den fünf
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Der Text ist bereits erschienen unter: Jenckel, Anke/Flacke, Monika: Die Geschichte der Kunstgegenstände unter treuhänderischer Verwaltung. In: Kunst in der DDR, URL: http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/education.php?pn=knowledge&id=1098 vom 16.12.2013.
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neuen Ländern und Berlin zur gemeinnützigen Verwendung zur Verfügung zu stellen. Josef Dierdorf, Direktor für das Sondervermögen der Treuhandanstalt, der mit der treuhänderischen Verwaltung des Vermögens der Parteien und Massenorganisation betraut war, beschäftigte schnell die Frage, wie mit Gegenständen richtig umzugehen sei, die sich in den einstigen Parteigebäuden, Unternehmen, Schulungs- und Ferienheimen, Häusern etc. befanden und als Kunst betrachtet werden können. Es war für ihn offenkundig, dass diese Objekte nicht ohne Weiteres als Inventar dort bleiben konnten, um nicht mit der Immobilie bzw. dem Unternehmen verkauft oder ohne Dokumentation gar entsorgt zu werden. Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit, dass es sich in großem Maße um Staats- bzw. Parteikunst handeln könnte, waren wirtschaftlicher Wert einerseits sowie historische und künstlerische Bedeutung andererseits zunächst nicht einzuschätzen. Ganz unabhängig davon gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie viele solcher Gegenstände sich tatsächlich in den Objekten befanden. Nach der aufsehenerregenden Aktion zur Sicherung der Leuchtschrift Plaste und Elaste aus Schkopau an der Elbebrücke, die Monika Flacke, Sammlungsleiterin für die Kunst des 20. Jahrhunderts im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) vorgenommen hatte, wurde sie um die Jahreswende 1992/93 als Ratgeberin gefragt. Ein von ihr zusammengestelltes Team aus Kunsthistorikern und Historikern2 und zwei ehemaligen Mitarbeiterinnen des FDGB3, wurde damit beauftragt, den Bestand an Bildern und Plastiken und was sonst noch als Kunst betrachtet werden konnte, in den Objekten, die unter treuhänderischer Verwaltung standen, zu sichten, zu inventarisieren und schließlich vor Verwertung der Objekte einzulagern. Dafür, dass das Deutsche Historische Museum das entsprechende Inventarisierungsprogramm (GOS) kostenlos zur Verfügung stellte, wurde ihm das Recht eingeräumt, den so zu erstellenden Bestandskatalog auch für sich zu nutzen.
D IE S ICHERUNG
DES
B ESTANDES
Dem Direktorat Sondervermögen wie dem Team war es gleichermaßen wichtig, die Bestände nicht einfach zu sichern, sondern eine genaue Dokumentation darüber zu führen, wie sich die Sicherung seit der Überführung in treuhänderische
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Dörte Döhl, Barbara Naumann-Mihm, Wiebke Ratzeburg, Arnulf Siebeneicker, Katja
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Ursula Löffler und Christa-Maria Mosch.
Widmann.
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Verwaltung vollzog. Es kam also darauf an, jederzeit den Nachweis darüber führen zu können, welche Kunstwerke zu welchem Zeitpunkt von wo nach wo transportiert worden waren, wo sie sich augenblicklich befanden und, vor allem, um welche Kunstwerke es sich handelte. Es sollte sichergestellt sein, dass zweifelsfrei für eine beliebig lange Zeit nachvollzogen werden konnte, welche Werke in treuhänderische Verwaltung übernommen worden waren, woher sie stammten und wo sie sich von der Übernahme aus den Immobilien bis zur endgültigen Übergabe an den Rechtsnachfolger befunden hatten. Die vom DHM zur Verfügung gestellte Datenbank ermöglichte die Inventarisierung bzw. Registrierung der Bestände. Mit einigen Ergänzungen bezüglich der Eingabeanforderungen war die Datenbank ein wichtiges Instrument, nicht nur den Nachweis über die Werke zu führen, sondern auch deren Verbleib zu dokumentieren, ihre Provenienz einzugeben usw. Wie bei jeder musealen Inventarisierungsanforderung üblich, gab es auch hier Felder für die Namen und Vornamen der Künstlerinnen und Künstler, für Titel, Entstehungsjahr, Maße, Technik, Größe und für alle weiteren Angaben, die irgendwie greifbar waren – z.B. überlieferte Angaben darüber, ob es sich bei einem Objekt um einen Auftrag, einen Ankauf oder ein Geschenk gehandelt hatte, wie hoch die Kosten für den Erwerb gewesen waren usw. Auch biografische Informationen über die Künstler konnten eingetragen werden oder Wissenswertes über die Arbeiten: etwa ob sie auf Ausstellungen gezeigt oder in kunsthistorischen Werken zitiert worden waren. Von zentraler Bedeutung sollte jedoch die Möglichkeit werden, die Provenienz einzutragen, d.h. festzuhalten, zu welchem Bestand sie gehörten (FDGB, SED usw.), aus welchem der neuen Bundesländer sie stammten und wo und zu welchem Zeitpunkt die Werke abgeholt worden waren. Allen Beteiligten war klar, dass irgendwann niemand mehr würde nachvollziehen können, woher die Werke stammten, wenn dieser Eintrag nicht akribisch für jedes einzelne Objekt und in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Übergabe erfolgte. Jedes Kunstwerk erhielt ein eigenes Datenblatt mit Inventarnummer, mit nur wenigen Ausnahmen wurde auch jede Arbeit fotografiert. Die fortlaufende Nummer wurde vom System vergeben. Diese automatische fortlaufende Nummerierung in der Datenbank stellte sicher, dass keine einzelnen Einträge gelöscht werden konnten, ohne dass dies langfristig auffallen würde. Es gab damals noch keine Möglichkeit, Abbildungen ohne großen Aufwand in die Dateien einfließen zu lassen. Deshalb wurde von jeder Fotografie ein Abzug in Auftrag gegeben, jedes ausgefüllte Datenblatt ausgedruckt, numerisch abgelegt und mit einem Foto des entsprechenden Objekts versehen. Im Wesentlichen wurden alle Werke auf diese Weise inventarisiert. So entstand ein Inventar, in dem über jedes Ob-
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jekt, das unter treuhänderische Verwaltung gestellt worden war, Nachweis geführt werden konnte. Neben den juristischen Fragen war auch die Frage der Einlagerung von Bedeutung. Wohin also mit all den Werken, die aus Ferienheimen, Parteizentralen usw. kamen? Bevor die Sicherstellung beginnen konnte, musste ein Depot gefunden werden, in dem die Bestände eingelagert werden konnten. Auch dieses Problem konnte das Direktorat schnell lösen. Es stellte den Keller des Gebäudes der LDPD und NDPD (heute Haus des Handwerks) in der Berliner Mohrenstraße 20/21 zur Verfügung. Dieser Keller des 1908 erbauten Geschäftshauses war zum Tresor ausgebaut worden, als 1920 die Deutsch-Südamerikanische Bank einzog. Der Tresor war geeignet, die Werke aufzunehmen, er war von ausreichender Größe, gut klimatisiert und mit tragfähigen Regalen eingerichtet. Hierher wurden fast alle Werke der Parteien und Massenorganisationen gebracht, die nicht zu dem Bestand des FDGB gehört hatten. Die Werke aus dem Besitz des FDGB wurden in dessen ehemaligem Hauptgebäude an der Jannowitzbrücke zusammengezogen. Das Team begann im März 1993 mit seiner Arbeit. Bis 1996 erhielt es jeweils direkt vor der Verwertung von Immobilien (Ferienhäuser, Hotels, Gästehäuser, Parteizentralen usw.) Nachricht, sicherte die dort vorhandenen kunstgewerblichen und Kunstbestände und beräumte die Häuser. Wann immer es möglich war, wurde die Erstinventarisierung mithilfe der auf einem Notebook installierten Datenbank bereits an Ort und Stelle vorgenommen. Alle Gegenstände wurden in das zentrale Depot in der Mohrenstraße bzw. in das Gebäude des FDGB an der Jannowitzbrücke gebracht. Insgesamt wurden auf diese Weise an ca. 200 Orten von Aken bis Zörbig, von Angermünde bis Reichenbach mehr als 12.000 Objekte aus den fünf neuen Bundesländern gesichert. Dabei kamen fast 6.000 Objekte aus Berlin, fast 1.600 aus Brandenburg, nicht ganz 1.500 aus Mecklenburg-Vorpommern, über 2.300 aus Sachsen und mehr als 1.000 aus Sachsen-Anhalt. Nur selten waren die Werke bereits registriert. Gelegentlich gab es Listen, die aber unvollständig waren oder mehrfach überarbeitet und oft nicht den aktuellen Stand widerspiegelten. In den meisten Fällen wurden die Arbeiten mit der Sicherstellung durch die Treuhand erstmals inventarisiert. Anders war dies bei den Beständen des FDGB, dem Gewerkschaftsbund der DDR, der ein großer Auftraggeber für Kunst gewesen war. Die Werke waren zumeist erfasst, allerdings nur auf Karteikarten. Sie wurden deshalb für die Treuhandanstalt in der Datenbank noch einmal inventarisiert. Hier halfen zwei ehemalige Mitarbeiterinnen dieser Organisation, die diesen wichtigen Bestand gut kannten. Sie hatten selbst Aufträge an Künstler vergeben und waren bestens mit den Bildern und
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Werken vertraut. Ihre Kenntnisse und ihr Wissen sind in die Datenbank eingeflossen und damit überliefert. Zwischen 1993 und 1996 wurden Arbeiten verschiedener Gattungen und von höchst unterschiedlicher Qualität erfasst. Darunter befanden sich Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Kunstgewerbe, Medaillen, aber auch Kunstmappen.4 Die Arbeitsgruppe verwahrte und inventarisierte jedes übernommene Stück mit derselben Sorgfalt, ohne über dessen künstlerische oder historische Bedeutung zu urteilen.
D IE F RAGE
NACH DER
Z UKUNFT
DER
G EGENSTÄNDE
Nachdem ca. ein halbes Jahr lang eingesammelt und inventarisiert worden war, stand die Frage auf der Tagesordnung, was mit diesem Bestand zukünftig passieren solle. Josef Dierdorf vom Direktorat Sondervermögen wollte diese Frage so klären, dass der Umgang der Treuhandanstalt mit diesem Problem auch in Zukunft Bestand vor der Kritik aus den Reihen der Kunsthistoriker und der interessierten Öffentlichkeit haben würde. Entsprechend einem Vorschlag von Monika Flacke sollte hierüber öffentlich debattiert werden. Aus diesem Grunde entschloss sich das Direktorat Sondervermögen, zusammen mit dem Deutschen Historischen Museum ein Symposium zu veranstalten, das die Frage über die Zukunft dieses Bestandes mit Experten und der Öffentlichkeit diskutieren sollte. Unter dem Titel Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR fand das Symposium im Kinosaal des Deutschen Historischen Museums am 13. und 14. Dezember 1993 statt. Dieses Symposium war zugleich ein erster Beitrag zur Aufarbeitung dieses inzwischen sehr kontrovers diskutierten Themas. Das Programm war so aufgebaut, dass sowohl übergeordnete Themen wie auch Fragen zum Bestand selbst behandelt wurden. Eingeladen waren Kunsthistoriker und Historiker aus den neuen wie den alten Bundesländern. Zu den Sachverständigen gehörten Dr. Bruno Flierl, Prof. Dr. Detlef Hoffmann, Prof. Dr. Heinz-Dieter Kittsteiner, Dr. Siegfried Lokatis, Prof. Dr. Harald Olbrich, Prof. Dr. Jörn Rüsen und Prof. Dr. Martin Warnke. Es gab Vorträge und eine Podiumsdiskussion. Der Kinosaal des Deutschen Historischen Museums war bis zum letzten Platz besetzt, die zahlreich anwesenden
4
Das Direktorat Sondervermögen hatte nicht die treuhänderische Verwaltung über die Werke der NVA, der Betriebe in der DDR oder der Ministerien inne. Diese unterstanden dem jeweiligen Rechtsnachfolger.
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Fernseh-, Radio- und Pressevertreter verfolgten die zu jener Zeit angeheizte Debatte mit großem Interesse. Kaum ein Fernseh- bzw. Radiosender, kaum eine Zeitung oder Magazin, das nicht über dieses Symposium berichtet hätte.5 Um Ruhe für die Expertenrunde zu haben, wurde am letzten Tag die Öffentlichkeit ausgeschlossen. In der Bibliothek des Museums erarbeitete die Expertenrunde aufgrund der während des Symposiums gewonnenen Erkenntnisse eine Empfehlung zur gemeinnützigen Verwendung des Kunstbestandes der Parteien und Massenorganisationen.6 Sie empfahl der Treuhandanstalt in einem einstimmig gefassten Beschluss, »eine Forschungsstelle zur ›Kunst der Diktaturen des 20. Jahrhunderts‹ « einzurichten. Sie hielt es für »unerlässlich, den Kunstbestand [...] zunächst zusammenzuhalten«. Die Forschungsstelle solle in »vergleichender Perspektive das Thema ›Kunst in der Diktatur‹ « bearbeiten, dabei insbesondere »die Kunst des Nationalsozialismus und des Stalinismus berücksichtigen«, aber auch auf die internationale Kunstentwicklung Bezug nehmen. Die Arbeit der Forschungsstelle solle auf zehn Jahre begrenzt werden. Außerdem solle diese Forschungsstelle einen Vorschlag über den endgültigen Verbleib der Bestände nach dieser Zeit vorlegen. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass interdisziplinär gearbeitet werde solle und auch andere Sammlungsbestände in die Forschung mit einbezogen werden sollten – genannt wurden die Museen in den neuen Bundesländern, aber auch die Sammlungen der NVA. Kooperationen, etwa mit dem »Forschungsschwerpunkt zeithistorische Studien«, heute Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) wurden ebenfalls auf die Agenda gesetzt.7
D IE
POLITISCHE
E NTSCHEIDUNGSFINDUNG
Für die UKPV war es zwar nicht schwierig gewesen festzustellen, dass diese Kunstwerke fast ausschließlich den fünf neuen Ländern und Berlin zur gemeinnützigen Verwendung zur Verfügung zu stellen seien – also weder zu restituie-
5
Eine Dokumentation der Presseberichte befindet sich in: Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/Abt. ÖVA/Pressearchiv 1994.
6
Siehe Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/ Abt. Ausstellungen/ Projektakten Auftrag: Kunst – Tagung der Treuhandanstalt Auf der Suche nach dem verlorenen Staat 1994.
7
Vgl. hierzu: Flacke, Monika (Hrsg.): Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen, Berlin 1994.
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ren noch an die Rechtsnachfolger der Parteien oder Massenorganisation herauszugeben waren. Nun stellte sich jedoch die Frage, wie dies zu geschehen habe, wie also diese Gegenstände »gemeinnützig verwandt« werden könnten. Eine wirtschaftliche Verwertung der Objekte kam wegen deren zeitgeschichtlicher Bedeutung ganz offensichtlich nicht in Frage. Die Treuhandanstalt befürwortete den Vorschlag der Wissenschaftler und erstellte schon im Februar 1994 ein detailliertes Konzept, wie eine solche Forschungsstelle auf zehn Jahre auszustatten sei und welche Kosten dadurch entstehen würden. Sie hätte aus dem Erlös von Verwertung anderen Vermögens bezahlt werden können. Die Forschungsstelle, die dem DHM angegliedert werden sollte, hätte mit einem Leiter, einem Fellowship, vier Stipendiaten, zwei Restaurateuren, Sachbearbeiter, Depotwart und Hausmeister ausgerüstet werden sollen. Es war in Aussicht genommen worden, über die Zusammenführung der Kunst in ein einheitliches Depot unter der Federführung des Bundesministeriums der Finanzen, das bereits die Sammelstelle DDR-Kunst, die Auftragskunst der NVA und schließlich auch die Kunst der NS-Zeit verwaltete, zu sprechen. Konkrete Grundstücke mit vorhandenen Hallen kamen hierfür in Betracht. Die Gesamtkosten des Projektes wurden auf ca. 20 Millionen DM geschätzt. In der Sitzung der UKPV im März 1994 stellte die Treuhandanstalt das Konzept den Mitgliedern vor. Dabei war auch das DHM durch seinen damaligen Generaldirektor Christoph Stölzl und Monika Flacke vertreten. Es wurde beschlossen, die neuen Länder und Berlin direkt an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Daraufhin luden UKPV und Treuhandanstalt zu einem Gespräch, das Ende April 1994 stattfand. In diesem Gespräch wies der Vorsitzende der UKPV, Herr Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, darauf hin, dass die UKPV über die Verwendung der Kunstgegenstände des Sondervermögens nicht ohne Zustimmung der betroffenen Länder entscheiden wolle. Zugleich stellte er klar, dass ein für das Forschungsprojekt gegebenenfalls zur Verfügung zu stellender Geldbetrag von der jeweiligen Landesquote an dem für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung gestellten Sondervermögen abgezogen werden müsste, wobei der Anteil des für kulturelle Zwecke zu verwendenden Sondervermögens wahrscheinlich schon erschöpft sei. Die Vertreter der Länder reagierten überwiegend skeptisch auf den Vorschlag, das Forschungsvorhaben in Verbindung mit dem DHM zu organisieren. Die Vertreterin des Landes Thüringen äußerte den Wunsch, die Kunstgegenstände auf die Länder zu verteilen. Insoweit sei eine Arbeitsgruppe unter der Federführung Sachsens mit dem Auftrag gegründet worden, einen gemeinsamen Vorschlag zu erarbeiten. Der Leiter des Direktorats Sondervermögen der Treuhandanstalt, Josef Dierdorf, wies darauf hin, dass es bei der Verteilung der ge-
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samten Kunstwerke auf die Länder bleibe, wenn sich die Länder nicht einstimmig zu einem Verwendungsvorschlag durchringen könnten. Eine daraufhin eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeitete einen Vertrag, wonach die Werke den fünf neuen Ländern zu Eigentum bzw. zunächst leihweise überlassen wurden, soweit noch nicht über den rechtmäßigen Erwerb durch die Unabhängige Kommission entschieden worden war. Er beinhaltete, dass jedes Land die Kunstgegenstände erhielt, die auf seinem Gebiet aufgefunden worden waren. Einige Gegenstände wurden dem DHM bis einschließlich Mai 1995 für die Ausstellung Auftrag: Kunst als Leihgaben überlassen. Zudem hatten die betroffenen Länder errechnet, dass sie einen Finanzierungsbedarf von rund 3,3 Millionen DM für die Übernahme der Kunstgegenstände für die Zeit von Oktober 1994 bis Ende 1997 haben würden. In der Sitzung der UKPV im September 1994, in der auch die Vertreter der Länder zugegen waren, beschloss die UKPV einstimmig, der Treuhandanstalt ihr Einvernehmen zur Übertragung der Kunstgegenstände an und zur Zuweisung von DM 3.321.185,008 auf die neuen Bundesländer und Berlin zu erteilen. Das Geld wurde zweckgebunden für Maßnahmen im Zuge der Übernahme und Aufbewahrung der Kunstgegenstände zugewiesen und auf die Gesamtsumme des den jeweiligen Ländern zustehenden Anteils angerechnet.
D IE Ü BERGABE
AN DIE
S ONDERDEPOTS
Als Voraussetzung der Auslieferung der Werke nach dem Vertrag zwischen Treuhandanstalt und den neuen Bundesländern war vorgesehen, dass die Länder bis zum 30. September 1994 einen Ort benennen wollten, an dem die Werke nach Übergabe deponiert werden sollten. Die Treuhandanstalt würde dann bis zum 31. Dezember 1994 die Bilder übergeben. Das Direktorat Sondervermögen der Treuhandanstalt setzte die Länder mit ihrem Millionenbetrag in den Stand, die bis dahin nach musealen Gesichtspunkten ordnungsgemäß verwalteten Bestände zu übernehmen. Allerdings hatte es auch Verhandlungen innerhalb der Länder gegeben. So einigten sich die Länder Thüringen und Sachsen darauf, die Bestände gemeinsam zu verwalten und ein gemeinsames Depot auf der Festung Königstein einzurichten. In Beeskow übernahm der ehemalige Kulturminister der DDR, Herbert Schirmer, der nun Direktor des Burgmuseums in Beeskow
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Vgl. Beschluss der UKPV BU 578 in der 52. Sitzung am 12. September 1994, Bundesarchiv-Signatur B 441/3425.
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geworden war, die Werke nicht nur aus Brandenburg, sondern auch aus Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Damit war das territoriale Prinzip, das so vehement verteidigt worden war, durchbrochen. Ab Anfang 1995 wurde der größte Teil aus der treuhänderischen in die Verwaltung der neuen Bundesländer in Beeskow in Brandenburg und auf der Festung Königstein in Sachsen übergeben (vgl. Zeitungsartikel Sächsische Zeitung Dresden 10.05.1995). Die Übergabe erfolgte nach strengen Regeln. Alle Werke wurden in der Mohrenstraße bzw. im Gebäude des ehemaligen FDGB mit Unterstützung durch Restauratoren, wie für Kunstwerke üblich, verpackt, um dann in ihre Bestimmungsorte gebracht zu werden. Für jedes zu übergebende Werk wurde das zugehörige Datenblatt dreimal ausgedruckt. Bei der Übergabe bestätigten mit ihrer Unterschrift die übernehmenden wie die übergebenden Beauftragten der neuen Bundesländer wie der Treuhandanstalt die ordnungsgemäße Übernahme. Mit diesen Unterschriften wurden die Werke aus der treuhänderischen Verwaltung entlassen und gingen ordnungsgemäß in das Eigentum der neuen Bundesländer über.
Z WANZIG J AHRE
SPÄTER
Heute – mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – lassen sich die damaligen Vorgänge mit einer gewissen historischen Distanz betrachten. Die Debatte um die Kunst in der oder aus der DDR hat sich seitdem kaum verändert. Zu hören sind nach wie vor die gleichen Argumente, wenn sie auch nicht mehr so vehement vorgetragen werden. Daraus könnte man schließen, dass am Ende die Ablehnung des Vorschlags der Wissenschaftler auf dem Symposium im Dezember 1994 durch die fünf neuen Länder und Berlin die falsche Entscheidung gewesen sei. Ganz sicher hätte die Erforschung der Kunst in der Diktatur neue Kenntnisse, neue Argumente, eine vergleichende Perspektive zur Bundesrepublik Deutschland, zum Nationalsozialismus, zur internationalen Kunstszene und zur DDR-Kunst mit sich gebracht. Aber zur damaligen Zeit bestand bei den fünf neuen Ländern keine Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung. So ist eine Situation entstanden, die als ambivalent bezeichnet werden kann. Einerseits gibt es in den neuen Bundesländern (die so neu ja längst nicht mehr sind) ein großes Bedauern darüber, dass die Kunst der DDR in den alten Bundesländern seit 1989 kaum noch wahrgenommen wird. Andererseits wurde ja gerade durch den Anspruch, nur Beauftragte der neuen Bundesländer hätten die Deutungshoheit, der Diskurs zu dieser Kunst unterbunden, wie die Ablehnung der Forschungsstelle und die Auseinandersetzung um die Kunst in der Diktatur gezeigt hat. So haben
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sich die neuen Bundesländer ihrer Möglichkeiten im Umgang mit ihrer Kunst selbst beraubt. Damals mag ein Problem darin bestanden haben, dass die neuen Länder das Gefühl hatten, vom Westen dominiert zu werden. Dass sie selbst hätten handeln können, war ihnen offenbar nicht in den Sinn gekommen. Niemand hatte den neuen Ländern untersagt, selbst Forschung und Aufklärung zu betreiben. Dem Gefühl, dominiert zu werden, stand bedauerlicherweise keinerlei eigene konstruktive Handlungsbereitschaft entgegen. Eine Möglichkeit, wie die Forschung um die bildlichen Hinterlassenschaften und der Kunst der DDR hätte geführt werden können, zeigte paradigmatisch die Ausstellung Auftrag: Kunst: Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. 1949-1990,9 die vom 27. Januar bis zum 18. April 1995 im Deutschen Historischen Museum gezeigt wurde (vgl. Berliner Morgenpost 10.01.1995). In dieser Ausstellung waren auch viele Werke aus dem Bestand der Parteien und Massenorganisationen zu sehen. Diskutiert wurden hier nicht allein die Werke, vorgelegt wurden in gut sichtbaren Aktenordnern auch Kopien der Akten aus den Archiven, die die Entstehungsbedingungen, die Kosten, aber auch die Diskussionen um die Werke dokumentierten. Mit dieser Ausstellung wurde sichtbar, welche Möglichkeiten die Forschungsstelle gehabt hätte, welche Diskussionen hätten geführt werden können. Der begleitend erschienene Katalog ist bis heute ein Standardwerk für jeden, der sich mit dieser Thematik beschäftigen möchte. »Die wissenschaftliche Bearbeitung und Präsentation des Bestandes soll dazu dienen, eingefahrene Klischees der Selbst- und Außenwahrnehmung der DDR zugunsten einer kritisch differenzierten Urteilsbildung aufzulösen. Auf diese Weise kann zur Überwindung der kulturellen Folgen der Teilung der Deutschlands beigetragen werden.«10
Doch diese Art des wissenschaftlichen Umgangs mit den Beständen der Parteien und Massenorganisationen war 1995 offenbar nicht gewollt und wurde von den neuen Bundesländern nicht akzeptiert. Vielleicht war dies eine Folge der Aus-
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Vgl. Flacke, Monika (Hg.): Auftrag: Kunst. 1949 – 1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 27. Januar bis 14. April 1995.
10 In: Empfehlung zur gemeinnützigen Verwendung des Kunstbestandes der Parteien und Massenorganisationen. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/Abt. Ausstellungen/Projektakten Auftrag: Kunst – Tagung der Treuhandanstalt Auf der Suche nach dem verlorenen Staat 1994.
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einandersetzung um die Deutungshoheit, denn die in der Empfehlung geforderte vergleichende Perspektive hätte diese Hoheit in Frage gestellt.
L ITERATUR Beschluss der UKPV BU 578 in der 52. Sitzung am 12. September 1994, Bundesarchiv-Signatur B 441/3425. Dokumentation der Presseberichte zum Symposium »Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR« (13.-14.12.1993) in: Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/ Abt. ÖVA/ Pressearchiv 1994. Empfehlung zur gemeinnützigen Verwendung des Kunstbestandes der Parteien und Massenorganisationen. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/ Abt. Ausstellungen/ Projektakten »Auftrag: Kunst« – Tagung der Treuhandanstalt »Auf der Suche nach dem verlorenen Staat« 1994. Flacke, Monika (Hg.): Auftrag: Kunst. 1949 – 1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 27. Januar bis 14. April 1995. Flacke, Monika (Hg.): Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen, Berlin 1994. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Hausarchiv/ Abt. Ausstellungen/ Projektakten »Auftrag: Kunst« – Tagung der Treuhandanstalt »Auf der Suche nach dem verlorenen Staat« 1994.
»We Need to Start Reflecting on the Archives before the Archive«1 C HRISTOPH T ANNERT IN AN INTERVIEW WITH A RTUR MIJEWSKI AND M ARLENE H EIDEL
MH: We are interested in archiving methods; how artistic and social forms are archived to give coming generations the possibility to reform, even rewrite the archives. We would like to start with a specific art archive, which is located at the periphery of Berlin. A: You know the story of this archive in Beeskow. It’s a collection of GDR art and objects. When we were there we saw that things are stored in rather bad conditions. You say that is a political statement. That it’s our abandoned or forgotten heritage. Not welcome and therefore suppressed. CT: I think we need to start reflecting on the archives before the archive. We have to realize that all these works were collected, stored or shown in official East German institutions. Also, when we talk about art that was produced in East Germany under GDR conditions, we have to think about different fields of art. It’s not enough to say that this is art from East Germany. We have to understand that there are various grey areas or statements, that we had 3-4 generations of artists working under different conditions. Those artists had varying orientations, reflecting their political situation: some of them worked more in subcultural fields; others were more interested in working directly for state institutions.
1
15-11-2011, Künstlerhaus Bethanien, Berlin. Special thanks to Isabel Bredenbröker for transcribing the interview.
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There were also a lot of artists who were not interested in working within state structures and many who left the country. So, what about those artists who left the country? Are they still part of East German art? We need to look at the whole subject in a more differentiated way. A: Hmm. Yes, it’s complicated. But actually, the most interesting artists are those who were working within the GDR. They accepted the conditions somehow, or they were trying to play the game: with the art institutions, with the state. They were trying to survive somehow. CT: Yes, that’s right. I think we need to point out that the social, political and ideological conditions in East Germany changed from one decade to the next over a period of 40 years. The 50s were not like the 80s, any more than the 70s were like the 80s. In the 50s, for example, you could be sent to prison because you produced a painting in the wrong formal style. In the 80s, well, I never heard that anything like that happened! A: So, how did you begin your career? CT: I studied art history and classical archaeology in East Berlin from 1976 to 1981. Under those circumstances, it was quite clear to me that I would have to work in the GDR and that East Germany was a ghetto I would have no chance to escape. So I accepted my circumstances and started to work in a state institution, the artists’ union. I began working there directly after my studies in 1981 and stayed until 1984. So, I was part of the official system until they threw me out in autumn 1984. Then I started my career as a freelancer. A: So what were you doing in the artists’ union? CT: When I was working in the artists’ union, I was responsible for the young artists section. It was a new initiative (by the East German government) to find ways of supporting young artists after their studies, especially in the first three years of their career. A: Hmm. Scholarships? CT: Scholarships and workshops, special group shows and support for female artists, special catalogue productions. A kind of social engagement for young artists to help them find their way into society. But it was ideological, aiming to
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show them that the state and the socialist community were interested in what they were doing. A: So what were they doing? How did artists try to deal with the situation? What do you mean by a kind of social engagement? Was there social criticism? CT: It’s complicated to describe. You need to realize that every artist went his or her own way and some artists were closer to the system than others. Some artists had socialist dreams, socialist utopian ideas; they supported the state and its structures emphatically, while others were more distanced. But the situation changed in the 80s, when it became possible to work outside the artists’ union as well. Before that it was more difficult: the artists’ union gave you a registration number, which meant you were accepted as a freelancer. This was necessary to be accepted as a registered part of society; Germans are very strict about that sort of thing. Having no number, having no passport is like denying you exist. There were also paragraphs in law against asocial existences, and a person without a number was an asocial existence. A: So were there any asocial existences? CT: Well, not really. The question is: who is an artist? If you produce a drawing at home after work, I’m not sure this is a life of artistic practice. But if you are interested in working permanently and predominantly in the field of artistic practice, I guess you are also interested in showing your works. And this combination of producing and showing, being part of the art system, forced you onto the official track. The state and its institutions tried to get you onto that track, accepting the rules, the paragraphs and the law. And without registration, I think life as an artist was not permitted. But since the 80s there were some artists outside the system; especially young artists said that they were no longer interested in being part of the system or showing their works within its structures. They started to create their own spaces to show things, working together with others. In the 80s, the youngest generation, born after the construction of the wall around 1960, started out with a new identity, I would say. A: So what were you doing? Were you a curator, an organizer? CT: Yes, when I was working for the institution, I was organizing exhibitions and meetings. Everything in East Germany was planned in some way, so there were plans for things promoted by the cultural ministry as well. Art production
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was part of socialist production, you see. Every year, every group, every workshop, every initiative had to make a plan about what it would do, and what it proposed, so that there would be a chance to evaluate production at the end of the year. A: Were you responsible for making those plans? CT: No, I was further down the hierarchy of organizing and managing. A: Would you say that everything was over-structured at that time? Was it good for artists to plan everything for the next year? CT: No. I would say that every artist could decide whether to be part of the structure or not. A: To be social or asocial. CT: In the structure you were inevitably social; you were only asocial outside of the structure. And I would say that from the 80s onwards the situation became much easier than it had been during the previous decades. I had contact, for example, with artists that were members of the artists’ union and others that weren’t. This became my personal problem; the artists’ union threw me out in the end because I had too much contact with the subcultural scene. A: Aha. So was it a subculture, or a kind of opposition? CT: It was background, underground, subculture – groups that were not following the plans, that were putting on exhibitions in clubs, in churches, in the countryside, or in the streets. Producing leaflets and posters, objects and initiatives, performances, body art and intermedia together with writers, or giving performances with rock musicians. There was an open field of diverse activities involving 500 to 800 artists. A: Quite big group of asocial people, then. CT: It was a kind of grey area: some of them were part of the official artists’ union, some were not. Some were trained at universities, others were not. Some of those who were not trained tried to get a number from the artist union and some were accepted, but others were not. It was a permanent process of drawing closer
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to the system and then distancing oneself from the system. At universities, too, the professors and the system’s functionaries changed. In the 80s, they were much younger than before. And these younger people took different routes through the system to their predecessors. The generation of Brecht and Eisler and Fritz Cremer were there in the 50s and 60s. Later, they no longer held positions. But until the 80s, the whole system was really strict as a consequence. A: So did the subculture represent opposition to the system? Or was it really a subculture where people were trying to avoid control but not disturb the function of the state? CT: No, nobody avoided control. The state controlled everything, including the subculture. A: So how was it controlled? CT: The subculture was controlled from inside, by spies who were also artists. Some of them were sent into the scene, some switched sides, and some were spies and resigned later. But the whole scene was observed. A: And did you know who was a spy? CT: No, it was difficult to find out. I got more information about such things after the wall came down. A: Are there any testimonies from the people who were spies? And is there a way to find out about this today? CT: One possibility is to check the files of the Stasi, the secret service agency. There are also a lot of books being written now, by the officials as well as the victims. But the officials are also beginning to seek the status of victims. And that’s the problem. MH: In a certain sense, the Stasi has won the game. A: What was the role of GDR art in the 80s? What were artists doing? Were they thinking about the human condition? About human life? CT: Yes…yes…everything…
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A: …what it means to be born, what it means to die… [break] Was there also a kind of ideological art? A kind of state art? CT: It’s very complicated to explain in black and white. All of the artists in East Germany adopted different approaches. Sometimes they were closer to the system, sometimes they drew away. Some of them developed very interesting works early on, but later they began working in popular styles and forms. If you wanted to write the history of art in the GDR, there would be several possible ways to do it. You could do it in the formal context of art history, or by contextualizing the situation, or you could do it to accentuate either the subcultures or the official state perspective. For more than 40 years, we only had publications that reflected on the situation from the official state angle. After the wall came down, smaller activities, subcultural movements or forgotten artists came back to into discourse, step by step. So today we have a wider perspective on what was produced. But not everything that was produced actually fits under the heading of art. Some works are art, others are not; they are more a kind of documentary appendix to the historic process. Or you could say they are bad art. But what does bad art mean? Is Socialist Realism bad art per se? – I don’t think so. But the term is very open. In the 50s, Socialist Realism was very close to tendencies from the Soviet Union, but from the 60s until the 80s it developed into an open ideological phrase that incorporated different styles. A: So, was there freedom … or not? CT: Well, there was freedom in the ghetto, like the freedom a bird has in a cage. Two centimeters this way and three centimeters that. And if you accept that, A: … you are free. CT: …you are free. And when you realize that everyone, all over the world, is limited in his or her resources and that freedom is perhaps not connected to the material aspects of life, you can be free anywhere. A: Were there artists trying to discredit the system? CT: Yes, sometimes artists tried to explain that this limited freedom in East Germany should be opened up. They started with discussions of daily living conditions under socialism. You know, there were a lot of initiatives for a better
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form of socialism. People believed in socialism, but they were trying to make the system better. On the other hand, there was a minority that ignored everything and another minority that fought against socialism. But the situation was definitely different to all the other socialist countries in the East, because our orientation was westwards, not towards the East. East Germany was cut off, and lots of people had families in the West. So their daily life and everything else was directed towards West Germany, not Hungary or Czechoslovakia. And that’s why language, books and other objects produced in the West were also the standard by which things were judged and valued. Some people were more interested in consumer goods coming from the West; others were more interested in immaterial ideas and attitudes or in cultural products like books and films. A: Did the state structures intend to use artists for anything specific? CT: Yes, the artists’ union’s functionaries were especially interested in stabilizing artists in their positions and showing them as representatives of the system. Some of them accepted this role, like the president of the artists’ union. Some artists were also members of the SED and worked as party members inside the artists’ union. The SED was the so-called avant-garde of the socialist system. We called them the 150-percenters, the red socks. A: Were artists expected to offer services to the state? CT: Not really. Some of them were spies; some represented the state with their works in big exhibitions, publications, statements or interviews. Some of them were also sent to the West as propagandists for the system. They were also invited to the documenta 6 (1977) in Kassel because of that. A: And how did the artists themselves define their role in society? CT: Hard to say. Writers and actors were better known than artists from the visual arts scene. And when we talk about the arts, most proponents were not known, but they still were part of the system under these conditions, which meant accepting the system. They were inside the system, not in opposition. They did not ask questions but tried to find a way through the daily jungle. I would say that 90 per cent of the artists’ union artists worked in that way. Only a small percentage were the system’s clowns and only a very small percentage were in opposition. But I would say that 90 per cent were inside the structures in a very … slippery way.
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A: I would like to ask once again: was the subculture in opposition? CT: There can be no opposition if the Stasi controls the opposition. The subculture was spied on all the time. A: So was it just a case of opportunism? CT: No, that is not right, either. The subculture existed and it was not part of the representative system. The state did try to control parts of it and they even tried to give visas and passports to artists belonging to the subculture, or they were sent to prison. So there were three possibilities: being sent out of the country, sent to prison, or being invited to a police department in order to shock you. A: Was it a good way to escape from the GDR, to get such a visa? CT: You know, Georg Baselitz, the famous German painter who came from Saxony in East Germany and went to East Berlin, later emigrated to the West. He said »There were no artists in East Berlin, only assholes«. And that there was no chance to produce art under such conditions. All the artists he knew emigrated. On the other hand, we have to accept that there were around 6000 members of the artists’ union in East Germany. And if we think of Beeskow, we are talking about 99.9 per cent of artists from the official level. I would say a hundred per cent even. MH: I would like to talk about the opposition. You said you had no chance to be in opposition within the system. But there were people like Lutz Dammbeck who were in opposition and both in- and outside of this system. CT: Lutz Dammbeck was a member of the artists union. Later, he founded the Leipzig Herbstsalon and tried to distance himself totally from the system, and later he emigrated. This was a typical way of leaving the official structures. In my generation, most of the artists with innovative ideas left and headed for the West. This emigration had started by the end of the 70s. A: But you survived in the East. CT: Yes. There have been also some other exotic underground dwellers.
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Abbildung 1: Erasmus Schröter, Mann mit Falke, Leipzig 1982, Silbergelatineprint, ca. 43 x 34 cm
Quelle: © Erasmus Schröter
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Abbildung 2: Erasmus Schröter, Tankstelle, Magdeburg 1985, Silbergelatineprint, 70 x 100 cm
Quelle: © Erasmus Schröter
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Abbildung 3: Erasmus Schröter, Wartende an einer Haltestelle in der Neujahrsnacht 1980/81, Leipzig, Infrarotfotografie, Silbergelantine, 30 x 43 cm
Quelle: © Erasmus Schröter
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A: But does it mean that the artists felt good with this system; can we assume that artists like structure, in general? They like institutional dependency? CT: Artists are not heroes. They are very normal people who like to have a family and keep their feet warm. The state offered a lot. Even though the living conditions were at a very low level, it was a kind of socialist paradise with your Trabant car and your apartment of maybe 25 square meters for 20 East German marks. It was all very easy. A: It was a paradise, aha. MH: What are the differences and similarities between the socialist state system and the system nowadays? CT: In East Germany, ideological pressure was omnipresent. And you do not feel that today. Today, pressure comes from the financial sector. And I can’t say which of the two is better. A: In the beginning, before you joined the system, what did you do? And what happened in this job at the artists’ union? CT: When I was fourteen, I bought my first record by an American singer and songwriter on the black market. That started a change in my life. There was no chance for that kind of opposition, as a protestor on stage, in East Germany or the Eastern Block. Protest was an underground gesture; there was no chance to protest in the streets. Think about Prague in 1968, when all the protesters were confronted by Russian tanks in Prague. And my parents told me about what they had seen in a similar situation in 1953. A very negative feeling was passed from one generation to the next, the sense that you had to accept the system or you would be shot down. But when I bought my first record of American music, when I listened to the songs and found out how musicians protested in the States, the ways they protested against the Vietnam War and their system, I started to think again. In the West, there was a possibility to protest against the system. But I think that we felt there was a huge difference between the two world systems under the conditions of the Cold War. And that rock music and art could be part of this system and try to change something. From that point on, I started to collect records and books and became more interested in cultural products from the West than I was in the bananas or oranges that we could not buy in the shops.
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And then, when I was sixteen, I went to Poland for the first time. And when I went to Poland, I suffered a huge cultural shock because I saw that it was possible to buy all those records that I had dreamt of. I went to Krakow market and bought all my dream records: Jimi Hendrix, Led Zeppelin and others. My resources were limited, so I went back to Dresden and came several times just to buy records. Later I made friends with artists, art historians and musicians from Poland and this was the beginning of a wonderful connection. I only went to Warsaw to read German books and news papers in the library, which I could not find in East Germany. A: Do you remember which ones? CT: Yes, Der Spiegel at first. Then the daily newspapers like Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung... A: How did it influence you? It started when you were fourteen… CT: Later, I started to bring people together for activities. When I was a student, I started subcultural exhibitions, played in a rock group, printed artist books, sold those books, produced films, started a business etc. Together with friends, we created a second market in the 80s. A: And that was during the time when you worked within the official structures? CT: Yes. A: So you led a kind of a double life. CT: Yes. And in the end the Stasi found out what I was doing and pushed me out. It was very easy to understand why. A: Why? CT: Well, they told me that they had been spying on my activities. That I had contact with person A and B etc. So they saw no chance to keep me in the system as a representative when I was dealing with the wrong side. It was all about ideology. If you are not on our side, you are on the wrong side.
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MH: Did they say that to you directly, face to face? CT: Yes. [silence] A: Is it possible to see similarities between the GDR system and the one we have right now? Regarding artistic activity and artistic productions? When we were in Beeskow, we talked about the artworks that we saw there and agreed that we could not really believe in what was painted. People were trying to find themselves in a situation in which they were not allowed to say what they really thought, and so they were trying to find a different approach. Do you think that all these images are a collection of lies? Because they are not really what people were thinking? CT: I’m not sure if they are lies. I think most of the works mirror the daily situation. I find most of them boring, depressive, grey or pointless, or they are ordinary still-lifes, dumb and dull landscapes ... I think we have to accept that these works were produced by provincial masters. These provincial masters were trained in East German academies to pass through the system – as workers, but with a brush. They belonged to the same category of workers that were found in other parts of society, in the collectives, for example. So the question is: what is an artist? I would say that among the 6000 members of the artists’ union, only a very small percentage were real artists. The others were members, and they worked and produced. But what they produced was provincial art. It could not achieve the quality being shown in world museums. So now the museums in East Germany are changing their collections. They are putting more works from that period into storage and showing others instead. We have no other way to evaluate those things, so I think we need all of those works. To show them and describe the works, to contextualize the works, to find out the conditions under which they were produced, who the artists were and their life stories. That could be interesting. But the works are simply not high-quality. MH: Yes, on the one hand you are right. But there is also this grey area. Some works are really interesting because they are part of the genesis, the development of an artist. And some of them have an aesthetic function and are not only historical documents. In Beeskow there are also early works from the so-called Leipziger Schule, which is sought-after on the international market now. I think it is really difficult to see all of these art works in the category of provincial,
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poor-quality art. It’s important for the next generation to find a fresh perspective, to be given the chance to rewrite and reevaluate the archive. But in Beeskow there is one big problem: no money. If this situation does not change, this archive will disappear. CT: I agree, but, the biggest question I have is which artists can be chosen to represent the tradition of GDR art. The most difficult thing is to find a new canon. A: …for the present or for the GDR generation? CT: …for the present generation, but looking back into East German history, bringing together things that were not connected before. We have to accept that society was split into different parts and that artists existed under a range of circumstances. It’s not possible to continue writing art history without the official documents from the artists’ union and the state etc. We have to check all the documents critically and then bring other things into context with these artworks, to start working on a new canon. A: Do you have any idea what it could be? You know the official history, but you are also well informed about the unofficial history of that time. CT: The biggest problem is to curate an exhibition that would bring together historical objects and works by artists that are still alive. A lot of these artists worked more in the underground and would never allow their works to be shown alongside official works. At the moment, therefore, we are not able to curate that kind of exhibition. There are votes by artists and they reject these things being brought together. Think of Lutz Dammbeck. He is developing his own career and does not need or want to take part in this historic GDR exhibition. Why should he take part in an East German retro exhibition? So it is impossible today, we will have to wait another 20 years and maybe then we will get a chance. Some years ago, however, there was an exhibition by Eugen Blume and his colleagues Roland März and Fritz Jacobi at the New National Gallery; they started with a very interesting, novel canonic orientation, bringing different things together. It was the most interesting exhibition in this field and nothing like it had been shown before. When that exhibition opened, the chapter of East German art was closed. It was a very interesting turning point.
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MH: And you went one step further with Berlin-Moscow/ Moscow-Berlin. You were co-curator of that exhibition in 2003. CT: That is another chapter, really complicated. More complicated than checking on the East German background, perhaps. MH: But those two exhibitions were really important for me because they set standards. Art in the GDR by Eugen Blume, Roland März and Fritz Jacobi showed art as artworks and not as historical documents to illustrate the political system. And Berlin-Moscow/Moscow-Berlin put East German art into an international context. But I think in the current so-called discourse we are far away from those standards. CT: I have to admit that I was really uneasy after the wall came down. But now it is easier for me to reflect, I am more relaxed. And it is also easier to accept other points of view or orientations. I am no longer involved in a class struggle. A: So what is your position? CT: [Laughs] This is also a very complicated question. Künstlerhaus Bethanien was removed from its original building, Bethanien hospital, because of political interventions by left-wing oriented squatters. That was a very difficult situation for me. A: But what happened? You didn’t want that kind of neighbor? CT: That’s it. On Mariannenplatz, in the former hospital Bethanien, where we started in 1975, there was a class struggle again. And the way I understood it, the squatters tried to establish a kind of communist system inside Bethanien. But they had no idea that I had lived under communist conditions in East Germany. And that I was happy that time was over. It was the most complicated time in my life after the fall of the wall, understanding that my own position could no longer be in harmony with left-wing political orientations. After the fight with those young communists, I found out that I was no longer a communist. A: So, what is your political position? How would you define it today?
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CT: I would say that I am at the center of art production. And under these production conditions, I am my own island. I am in a river, open to every side. I am no longer as inflexible as I was. A: So, were you a believer before? Did you accept only one point of view? CT: I am no longer a believer. By the way, I come from a very Christian background. A: Would you say that you are still a believer in art? CT: No, definitely not. There is too much pointless circus. A: What do you mean, pointless? CT: I mean that artists have no idea that they are being exploited as society’s clowns. They accept their role like a horse in the arena. And I think what they need is more identity, stability and vision. If you have no vision – I am not speaking of belief here – then how can you set your own benchmark? So I think you can’t be an artist. If you’re only part of society, the art market, a museum or somewhere else, dancing like a horse in the arena, it’s all pointless, arty-farty stuff. It has no form, either. You have to be very strict, very clear, very straightforward, and you have to reflect on aspects of quality all the time. And quality is always changing because our surroundings change. A: You are talking about the current situation… What remains interesting to me is trying to compare those two systems: the GDR and its dependence on artists and the artists’ union as an official tool, and the situation today. The dominant narrative that artists are free. I think that is not entirely true. There is still dependence, but it has a different tenor. CT: I think the difference can be found in the aspect of independence. There is a chance to be independent under the conditions we have today. This was not so under East German conditions. As I told you, even the subculture was controlled. Maybe we control it today, I am not sure, but I think that there is more independence. And there are also more opportunities for you to take different directions. You are permanently bombarded by new images and information, which makes it harder to celebrate your own way. I don’t want to speak of freedom because that’s the wrong term.
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A: What is the proper term? Independence? CT: Yes, that’s better. Because freedom is a lie. A: It’s a fairy-tale. It does not exist, I agree. MH: It’s a vision. Visions are important.
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Das Neue Kunstarchiv Beeskow. Ergänzen und Weiterbauen M AIKE S CHRADER
Im Frühjahr 2010 wurde dem Architekturbüro Max Dudler im Rahmen eines durch die Stadt Beeskow ausgelobten Planungswettbewerbs unter fünfzehn ausgewählten Teilnehmern die Aufgabe gestellt, ein Konzept für den Neubau und gleichzeitig das neue Zuhause des Kunstarchivs Beeskow zu entwickeln. Dieses soll im Kontext der mittelalterlichen Burg Beeskow errichtet werden.
D IE B URG B EESKOW Die Burganlage befindet sich am östlichen Ortseingang Beeskows, auf einer Spreeinsel gelegen. Sie wurde im 13. Jahrhundert als Wasserburg errichtet und durchlebte über die Jahrhunderte diverse Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen, Verfall und Zerstörung sowie eine sich wandelnde Zweckbestimmung. Sie diente zunächst als Wehranlage, später als Wirtschaftshof. Heute ist sie Sitz des Bildungs-, Kultur- und Musikschulzentrums des Landkreises Oder-Spree und beherbergt in ihren Räumlichkeiten unter anderem Büroräume des Kunstarchivs Beeskow sowie wechselnde Ausstellungen, die sich zum Großteil mit Kunst der ehemaligen DDR befassen. Die Burg Beeskow könnte kein besserer Standort für das Neue Kunstarchiv sein. Die bestehenden Gebäude des Burgensembles umfassen und gruppieren sich um einen Burghof, der von dem zentral gelegenen Bergfried dominiert wird. Großteile der Burgmauer sind erhalten und begrenzen das Areal vornehmlich in nordöstlicher und südöstlicher Richtung. An der südöstlichen Ecke der Anlage öffnet sich eine Lücke. Die Burgmauer ist stark zerstört, die Ruine des früheren
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Brauhauses in Form seiner noch bestehenden Grundmauern wird sichtbar. An diesem Ort soll der Neubau des Kunstarchivs entstehen. Abbildung 1: Neues Kunstarchiv Beeskow – Blick von der Frankfurter Straße
Abbildung 2: Ehemaliges Brauhaus um 1880
Quelle: © Max Dudler
Quelle: Archiv der Burg Beeskow
O BJEKT
UND
E NSEMBLE
Im Vordergrund des Konzeptes von Max Dudler für das Neue Kunstarchiv Beeskow steht, den Neubau als eigenständigen Baukörper in das bestehende Ensemble der Burg Beeskow im Sinne eines Weiterbauens der Anlage zu integrieren. Er soll zur Stärkung der Gesamtanlage beitragen – sowohl gestalterisch als deutlich ablesbare, in Material und Konstruktion aber zurückhaltend ausgeführte Zutat des 21. Jahrhunderts, als auch unter konservatorischen Aspekten zur Sicherung des historischen Bestandes. Das in Kubatur und Nutzung eigenständige Neue Kunstarchiv passt sich den bestehenden Strukturen an und unterstützt die nachhaltige Bestandssicherung der Burgmauer und der noch erhaltenen Grundmauern des Brauhauses. Als einfache Kubatur und Grundform bildet der lang gestreckte Baukörper mit Satteldach das neue Rückgrat für die Gesamtanlage entlang ihrer größtenteils zerstörten Südostgrenze. Diese ehemals wehrhaft ausgebildete Seite erhält eine neue Idee von Mauer und Abgrenzung dadurch, dass der Neubau die frühere Höhe der Burgmauer in Form seiner Trauflinie aufnimmt und seine Fassade ver-
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schlossen reagiert. Ausnahmen sind schon vorhandene Öffnungen in dem erhaltenen Mauerabschnitt sowie gezielt gesetzte Öffnungen, die die Fensteranordnung des Brauhauses nachempfinden und Ausblicke gewähren sollen. Die frühere Kubatur des Brauhauses lässt sich insbesondere an der südlichen Ecke nachempfinden, an der sich das Neue Kunstarchiv mit seiner Giebelfront auf die erhaltene Burgmauer schiebt, genauso wie sich ehemals das Brauhaus mit seinem Dach auf die Burgmauer aufgesetzt hat. Von hier aus verläuft der neue Baukörper nach Nordosten bis er an die Innenseite der nördlichen Burgmauer trifft und dort stoppt. Der Neubau wird nicht als Nachbau des Brauhauses empfunden, sondern als neuer Bestandteil des Gesamtensembles, der seine eigene Nutzung und somit seine eigene Ausbildung erfährt. Abbildung 3: Modell Neues Kunstarchiv Abbildung 4: Hubert Kiecol: Hof
Quelle: [phase eins]: http://www.phase1.de/-
Quelle: http://www.art-
projects_neues-kunstarchiv-beeskow_-
net.de/ artwork/4247898-
results.htm
66/182265/hubert-kiecolhof.html
M ATERIAL
UND
K ONSTRUKTION
Der Neubau lehnt sich in Materialität und Konstruktion an das Original an. Das massive Mauerwerk der Außenwände, welches die bestehenden Fragmente der Burgmauer ergänzt, wird in einem dem historischen Mauerwerk entsprechenden und daher mit ihm korrespondierenden Ziegel und Fugenmörtel erstellt. Um die einfache monolithische Gebäudekubatur und seine Modernität zu unterstreichen, wird der Ziegel auch in der Dachfläche verwendet. Die hofseitigen Fassadenöffnungen reihen sich korrespondierend mit der inneren Tragstruktur aneinander. Die Fenster haben massive Eichenholzrahmen, die außen bündig mit der Fassade abschließen. Die inneren Fensterleibungen aus
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Betonrahmen sind gemäß altem Vorbild angeschrägt. Die Fenstergrößen variieren je nach dahinterliegender Nutzung. Büro- und Bibliotheksflächen erhalten große Fenster, da sie viel Tageslicht benötigen, Archiv- und Lagerflächen besitzen kleinere Fenster. Daraus ergibt sich ein Spiel aus Öffnungsgrößen in der Fassade, das die klare Wandscheibe belebt. Die Außenwände werden auch innenseitig aufgemauert, hell geschlämmt, so dass sie von innen als Außenwand wahrnehmbar sind und die bestehenden Fragmente der Burgmauer optimal ergänzen. Die sichtbare Tragstruktur aus Stützen und Trägern unterstreicht in ihrer Taktung die Länge des Gebäudes und ist eine Referenz an die frühere Tragkonstruktion des Brauhauses. Der helle Sichtbeton und die weißen Innenwände ergeben in Kombination mit einer Bodenoberfläche aus poliertem Estrich ein klares Ganzes, das sich zurücknimmt und sowohl die bestehende Burgmauer und die Grundmauern des Brauhauses als auch die ausgestellten und archivierten Kunstwerke zur Geltung bringen lässt. Die Tragkonstruktion ist vom historischen Bestand abgelöst. Sie belastet das bestehende Mauerwerk nicht, sondern trägt zu seiner Sicherung bei. Die neuen Stützen übernehmen die Funktion der vormals vorhandenen Strebepfeiler und stabilisieren die Mauern von innen. Neugründungen im Bereich des Brauhauses erfolgen durch Pfahlgründungen, die den Bestand möglichst gering beeinflussen. Ziel ist es, dass die bestehende Burgmauer und die bestehenden Grundmauern des Brauhauses vom Neubau des Kunstarchivs profitieren und ihr Erhalt dadurch gesichert wird. Abbildung 5: Neues Kunstarchiv mit Burghof-Terrasse
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E RSCHLIESSUNG
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F UNKTION
Der Zugang zum Neuen Kunstarchiv erfolgt über den Burghof, sowohl durch das Südtor als auch durch das Westtor. Die neu gestaltete Hoffläche wird durch einen Belag aus Feldsteinen ergänzt, der von Grünflächen durchzogen wird, wie er auch im bestehenden Burghof vorzufinden ist. Vor dem Neubau, über die Länge des früheren Brauhauses, erstreckt sich die neue Burghof-Terrasse, die NiveauUnterschiede ausgleicht und durch Sitzstufen Platz zum Verweilen bietet. Der hintere Hofbereich, der sich zwischen Neubau sowie Bergfried und Salzhaus aufspannt, dient als Anlieferungszone. Von der Burghof-Terrasse können Besucher ins Gebäude auf die BrauhausGalerie gelangen, die sich entlang der Brauhaus-Ruine erstreckt. Von dort aus können die früheren Räume durchschritten und ein Blick unter anderem auf die gut erhaltenen Ziegelböden geworfen werden. Die erhaltenen Grundmauern werden durch den Neubau des Kunstarchivs als Schutzdach nachhaltig gesichert. Sie werden vor äußeren Witterungseinflüssen und somit vor einem weiteren Verfall bewahrt. Die Veränderungsprozesse, Ergänzung und Abbruch des Brauhauses können anhand des Bestandes nachvollzogen werden. Ziel ist es, das gegenwärtige Erscheinungsbild mit seinen historischen Befunden so gut wie möglich zu erhalten und zu dokumentieren. Besucher der Burg Beeskow können die ursprünglichen Brauhaus-Ruinen erleben und erkunden. Den Zugang zur Dauerausstellung erhält der Besucher über das zentral angeordnete Foyer. Es erstreckt sich entlang der erhaltenen Brauhaus-Nordwand und hat so direkten Bezug zu den Brauhaus-Ruinen. Der Eingangsbereich bietet Raum für die Kasse/Information, die dahinterliegende Garderobe und eine Station zum Zugriff auf die Sammlungsdatenbank. Vom Foyer aus führt eine hölzerne Treppe entlang der bestehenden Brauhaus-Feldsteinwand zur Ausstellungsfläche im 1. Obergeschoss. Die Ausstellungsfläche versteht sich als Projektion der Grundfläche des Brauhauses ins darüberliegende Obergeschoss. Der Besucher nimmt auf seinem Rundgang Proportion und Ausmaß des früheren Gebäudes wahr. Die konzipierte Raumfolge bietet optimale Ausstellungsbedingungen für die gezeigten Kunstwerke. Sie ist flexibel bespielbar. Jeder Raum erhält indirektes Tageslicht über die Dachflächen, das entweder in den Raum gelenkt oder sich als Streiflicht an der gemauerten Außenwand zeigt. Atmosphärisch erhalten die Räume so einen direkten Bezug zu den äußeren Lichtverhältnissen. Die Möglichkeit zur Abdunkelung der Räume ist gegeben. Ergänzt wird das Tageslicht durch Kunstlicht in Form von Spots entlang einer in die Decke eingelassenen Stromschiene, das nach Wunsch eingesetzt werden kann, um die Kunstwerke optimal auszuleuchten. Gleichzeitig bieten sich den Besuchern über
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gezielt gesetzte Fensteröffnungen Blickbezüge sowohl auf die sich unter ihm befindenden Ruinen als auch in die Umgebung, sei es auf die Spree, zum Fischerkietz oder auf den Burghof. Die Bibliothek, die einen Teil der Ausstellungsfläche flankiert, öffnet sich zum Burghof. Entlang der Fensterfolge sind die Arbeitsplätze angeordnet, so dass sich optimale Arbeitsbedingungen bieten, geprägt durch Ruhe und Konzentration als auch durch Ausblick und Bezug zur Umgebung. In ihrem Rücken befinden sich Regale aus Eichenholz, die die Präsenzbibliothek aufnehmen. Der Mitarbeiterzugang sowie die Anlieferung erfolgen über den Gebäudeteil, der an den hinteren Hofbereich angrenzt. Hier reihen sich die Werkstatt, Lagerbereiche und sämtliche dienenden Funktionen aneinander. Der Bürobereich für die Mitarbeiter fungiert als Brücke zwischen internem, nicht-öffentlichen und dem öffentlichen Bereich des Foyers. Der Manipulationsraum ist Bindeglied zwischen Anlieferungstor und Lastenaufzug. Über den Lastenaufzug werden sowohl das Ausstellungsgeschoss als auch die Archivgeschosse bedient. Abbildung 6: Foyer
Abbildung 7: Ausstellungsraum
Quelle: © Max Dudler
Quelle: © Max Dudler
D AS K UNSTARCHIV Die Archivräume erstrecken sich über die Obergeschosse und das Untergeschoss. Die lang gestreckten Raumformen korrespondieren mit der Gebäudekubatur und eignen sich hervorragend für die Nutzung und Möblierung der Archivflächen. Die Taktung der ausziehbaren Gemälderahmen, der Stahlregale oder der Grafikschränke bilden eine Einheit mit der Grundstruktur des Gebäu-
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des, sei es der Tragkonstruktion oder der Reihung der Fenster. Die archivierten Kunstwerke können hier unter optimalen Bedingungen gelagert werden. Die massive Konstruktion des Neubaus bietet aus energetischer Sicht ausreichend Speichermasse für die Schaffung eines günstigen und möglichst konstanten Raumklimas. Für die Kunstwerke kritische Temperaturschwankungen können gut aufgefangen werden, eine konstante Raumluftfeuchte wird durch die Wahl passender Oberflächenmaterialien unterstützt. Die Geschossdecken aus Stahlbeton werden mit einer luftgeführten Bauteilaktivierung versehen, durch die die Archive angemessen temperiert werden können. In den neuen Räumlichkeiten kann auf diese Weise ein Ort für eine dauerhafte und sachgemäße Unterbringung sowohl der Bestände des Kunstarchivs Beeskow als auch der Bestände der Artothek Berlin entstehen. Ein Ort, der die dort in Zukunft aufbewahrten Exponate der Öffentlichkeit näherbringt, eine gute Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten bietet sowie eine Plattform für Kommunikation offeriert. Abbildung 8: Gemäldearchiv
Quelle: © Max Dudler
Vom Distanzbewusstsein zum Bildbewusstsein
Margret Hoppe, Bernhard Heisig, ohne Titel, 1969, Sgraffito, 400 x 1200 cm, Gästehaus des Ministerrates der DDR, Leipzig / 2006 Gästehaus am Park Leipzig, Quelle: © Margret Hoppe
Ansichten aus dem Bilderstau. Was bleibt?1 M ARLENE H EIDEL
W AS
BLEIBT
Mit Was bleibt – der Erzählung von Christa Wolf – begann 1990 der deutschdeutsche Literaturstreit, der wenige Jahre später als Bilderstreit seine Ausweitung fand. Doch in diesen Zankereien ging es gewiss weder um Kunst noch um Literatur, sondern um politische Positionierungskämpfe im Zuge der deutschen Wiedervereinigung. Dabei trafen vor allem selbstgefällige Moralurteile aus dem scheinbar überdauernden Westen auf nun ehrverletzte Gestrige im Osten, die sich zuweilen nicht weniger selbstgefällig in ihrer gesunkenen Bonität einrichten sollten. Doch auch unter den neuen Bundesbürgern war die Zeit der öffentlichen Zusammenstöße angebrochen, die zum Beispiel als Kontroversen zwischen sogenannten Inoffiziellen bzw. Nonkonformen und Offiziellen ausgetragen wurden. Zu bitteren Brüchen kam es ebenfalls unter Nonkonformen, da zum Beispiel so mancher Inoffizieller auch als inoffizieller Mitarbeiter tätig war. Diese heißen Positionierungskämpfe sind heutzutage ausgekühlt, nicht nur, weil sich in den vielen Jahren »nach dem Ende der deutschen Teilung die Wahrnehmungsbereitschaften verschoben«2 haben, sondern weil wir uns längst in einer Realität wiederfinden, die sowohl den Osten als auch den alten Westen hinter sich gelassen hat. Vielleicht ist es eine Ironie der Geschichte, vielleicht zeigen sich auch hier nur gewisse Regeln der feuilletonistischen Debatten, wenn ausgerechnet Frank Schirrmacher als einstiger Hauptinitiator des Literaturstreites 23
1
Teile dieses Textes sind erschienen in: Heidel, Marlene, unv. Diss., Leuphana Univer-
2
Rehberg, Karl-Siegbert: »Bilderstreit«, http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/-
sität Lüneburg 2013. de/mediathek/magazin/magazin06/Bilderstreit/, Zugriff: 16.12.2013.
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Jahre nach seiner moralischen Verurteilung von Christa Wolf Folgendes feststellen muss: »Die deutsche Öffentlichkeit, beschäftigt mit der Wiedervereinigung, schlug sich mit den Altlasten des Kommunismus herum. Die Frage, was vom Kalten Krieg blieb und was davon möglicherweise in anderer Gestalt weiterlebte, stellte sie sich merkwürdigerweise nicht. Sie merkte nicht, dass die Waffe des Kalten Krieges sich in etwas verwandelte, was man ›Neoliberalismus‹ und ›Informationsökonomie‹ nannte, und das sie gerade im Begriff war, sich gegen die großen Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu richten.«3
Der Osten kann gar nicht in seinem Gegenüber – dem Westen – angekommen sein, da sich beide gemeinsam in eine neue Ordnung begaben, deren Gestalt nun auch Frank Schirrmacher erkennt. Im Sinne dieser neuen Ordnung ist eine Vereinigung gelungen. Der diktatorische Staatssozialismus ist in Europa kollabiert bzw. aufgrund seiner Mangelwirtschaft und gebieterischen Einkapselung ausgedörrt. Doch hat die neoliberalistische Politik ein System mit zuverlässigen Reminiszenzen an den Osten eingerichtet, wie der aktuelle geschäftige Trieb zur totalen Überwachung und Konditionierung seiner Bürger, Mitarbeiter bzw. Kunden zeigt. Doch größere Proteste und Empörungen bleiben in Deutschland aus, trotz bestehender Traditionen wie die 68er- oder die ostdeutsche Bürgerbewegung. Unsere längst angebrochene Zukunft vergegenwärtigt Pierangelo Maset in seiner Zeitdiagnose Geistessterben wie folgt: »Die nächste Diktatur in unserem Land wird weder von links noch von rechts kommen, sondern vielmehr aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, aus den Beratungsbüros und Lehrgangscentern, die das Wirtschaften als kriegerisches Prinzip verfolgen [...] Eine neue Form der totalitären Herrschaft bahnt sich längst als ›Wirtschaftstotalitarismus‹ an, als übergriffige Verabsolutierung des betriebswirtschaftlichen Denkens, dessen Perspektive in alle Lebensbereiche übertragen wird [...] und das Denken selbst wird angegriffen, insofern das ökonomisch orientierte Nützlichkeitsdenken sich in allen wichtigen Institutionen als allgemeine Perspektive durchgesetzt und anderes verdrängt hat.«4
Die Ausrichtung jeglicher gesellschaftlichen Bereiche an dem Diktum der technologischen und ökonomischen Effizienz, wie sie mit enormer Beschleunigung seit den neunziger Jahren stattfindet, analysiert Geistessterben wach und auf-
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Schirrmacher, Frank: Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013, S. 73.
4
Pierangelo, Maset: Geistessterben. Eine Diagnose, Stuttgart 2010, S. 21.
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merksam.5 Diese »totale Beschleunigung, die natürlich in der Vernichtung endet«6 war neben Stalingrad – verstanden als Ende des sowjetischen Zeitalters – das einzige Thema, das Heiner Müller als Stoff für sein Schreiben nach 1989 interessierte. 7 Doch der Tod kam den Stücken zuvor. Mit dieser Beschleunigung und Neuordnung, das macht Geistessterben deutlich und daran erinnerte auch Heiner Müller, sind enorme Verdrängungen aus der nun neu ausgerichteten, gültigen Gegenwart verbunden. Solche Abspaltungen werden an Orten wie dem Kunstarchiv Beeskow besonders deutlich: In diesem Archiv sind nicht nur Kunstwerke aus der ehemaligen DDR, sondern vor allem ihre Verdrängung und somit die Verdrängung von Vergangenheit und Elementen der Gegenwart archiviert.8
B ILDERSTAU Betritt man das Kunstarchiv Beeskow, wird einem unmittelbar eine Atmosphäre der Stauung gewahr, hervorgerufen durch die gewaltige Menge dicht aneinandergedrängter abgesonderter Kunstwerke und ihrer Wirklichkeiten. Der Bilderspeicher erscheint so verdichtet, die Massen an Bildern so überwältigend, dass durchaus der Raum zum Denken abhanden und einen das Gefühl des völligen Ausgesetztseins überkommen kann. Selbst die Luft ist verdichtet; schwer und stickig. Bezeichnenderweise war für die Beeskower Region eine weitere Verdichtung des Abgesonderten – und zwar die Verpressung von Kohlendioxid – eingeplant. Das Umweltgift sollte in unterirdischen Speichern deponiert werden. Auch wenn Bürgerproteste und rechtliche Unsicherheiten die Einlagerung von Kohlendioxid für diese Region vorerst noch stoppen konnten, ökologische und kulturelle Mechanismen weisen mit Blick auf Beeskow eine bezeichnende Gemeinsamkeit auf: die verdichtende Einlagerung des aus den kulturellen und industriellen Zentren Ausgeschiedenen. Diese Parallele ist weniger ein Zufall,
5
Ebd. S. 10-11.
6
Heiner Müller in: Müller, Heiner/Klein, Ingrid/Blie Peter: »Stalingrad interessiert mich mehr als Bonn«, in: Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. 1987-1991, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008, S. 754.
7
Ebd. S. 759; Heiner Müller in: Müller, Heiner/Schaper, Rüdiger/Sucher, C. Bernd: »Ich bin kein Held, das ist nicht mein Job«, in: Heiner Müller. Werke 12. Gespräche 3. 1991-1995, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008, S. 63.
8
Vgl. dazu Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 25.
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sondern eher ein Phänomen, welches in kulturwissenschaftlichen Theorien seine Beschreibung findet. So weist Aleida Assmann in ihrer Untersuchung zu Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses darauf hin, dass »Schad- und Kulturstoff […] zueinander in einer paradoxen strukturellen Homologie«9 stehen. Wie das gefährliche Umweltgift so scheinen auch die staatlich finanzierten Kunstwerke aus der ehemaligen DDR nicht mehr zum Gebrauch geeignet, ihnen wurde die ästhetische und gesellschaftliche Funktion abgesprochen und ein Platz in der Abstellkammer der Kultur zugewiesen. In dieser stauen sie sich nun. Warum ist die in diesem Bilderstau befindliche Kunst ein Schadstoff innerhalb der Kultur? Warum stauen sich diese Bilder am Rand des kollektiven Gedächtnisses? Mit Ende der Ost/West-Konfrontation kam es zu enormen strukturellen Umschichtungen in der kulturellen Hierarchie. Solche rasanten Neuordnungen lassen nach Lotman und Uspenskij Krisenphänomene entstehen, »die bisweilen ganze von der Kultur eroberte Bereiche an die Grenze des völligen Herausfalls aus dem System des kollektiven Erinnerungsvermögens führen.«10 Ein solches Krisenphänomen ist das Kunstarchiv Beeskow. Staatlich finanzierte und subventionierte Kunst aus der DDR wurde in den öffentlichen Debatten nach 89 mit ihrem Förderer, dem untergegangenen Staatssozialismus gleichgesetzt. Die zentrale politische Narration im Post-89Deutschland beförderte diese Kunst in die Vergangenheit und gern in die direkte Nähe zum Nationalsozialismus. Aus den Institutionen der kulturellen Selbstbeschreibung wie Museen wird Kunst aus der DDR bis heute größtenteils erfolgreich herausgehalten. Unterstützt wird damit die politische Erzählung von einem überdauernden, sich bewährenden Westen. Doch auch dieser alte Westen ist bereits verschwunden – wenn auch weitaus unauffälliger als der Staatssozialismus.11 Für eine ganze internationale Forschungsgemeinschaft zur Kultur des Kalten Krieges ist es jedoch Konsens, dass der Osten und Westen sowie sein Kapitalismus und Kommunismus nur als voneinander abhängige Dreamworlds beschrie-
9
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 348.
10 Lotman, Juri M./Uspenskij Boris A.: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur (1971). In: Eimermacher, Karl (Hg.): Semiotica Sovietica: sowjet. Arbeiten d. Moskauer u. Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (19621973). Bd. 2, 1. Auflage, Aachen 1986, S. 875. 11 Vgl. dazu auch Segal, Joes: »Vom Nutzen und Nachteil der DDR-Geschichte für das Leben«, in diesem Band.
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ben und verstanden werden können.12 So weisen Joes Segal und Giles ScottSmith – völlig jenseits einer Block-Blockade – auf für die heutige Forschung interessante Perspektiven hin, wie »the everyday experience of modernity and consumerism in the East, the dynamics of modern and popular culture in their relation to cultural and political opposition and dissent in the East and West, and the various ways in which culture not only helped to define the Cold War, but also contributed to its ultimate disintegration on both sides of the political divide. The image of two monolithic blocs facing each other in a zero-sum game is increasingly – in more ways than one – being consigned to the past.«13
Nur dem deutschsprachigen Diskurs ist durchaus eine gewisse Resistenz gegenüber solchen Perspektiven eigen. Eine Rolle spielt hier durchaus ein vergleichbar geringeres Distanzbewusstsein, was mit der durch Beton und Todesstreifen konkretisierten Spaltung des Landes in einen östlichen und westlichen Teil und dadurch zutiefst geprägten persönlichen Lebenswelten und Erfahrungen zusammenhängt. Tiefere Schichten dieser Teilung lassen sich unter anderem mit HansJoachim Maaz verstehen. In seiner 1990 verfassten Bestandsaufnahme der ostdeutschen Gesellschaft macht er darauf aufmerksam, dass das kollektive Erinnerungsvermögen in Deutschland zutiefst auf Verdrängung und auf einer wechselseitigen Abspaltung basiert. Die Spaltung Deutschlands in Ost und West bot seiner Ansicht nach von »Anfang an die große Chance der Verdrängung«14 des pathologischen Ausnahmezustandes von 1933 bis 1945 und dem damit verbundenen Massenmord an den Juden. Sowohl für Ost als auch West habe die Mauer die Funktion gehabt, das Böse im jeweils Anderen zu sehen.15 Maaz beschreibt das
12 Romijn, Peter/Scott-Smith, Giles/Segal, Joes: Divided Dreamworlds? The Cultural War in East and West, Amsterdam 2012. 13 Scott-Smith, Giles/Segal, Joes: »Introduction. Divided Dreamworlds? The Cultural War in East and West«, in: P. Romijn/G. Scott-Smith/J. Segal: Divided Dreamworlds?, S. 9. 14 Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin 1991 [zuerst 1990], S. 174. 15 Vgl. ebd., S. 174, 176.
78 | M ARLENE H EIDEL »gespaltene Deutschland als ein kollusives Zusammenspiel! Unser gemeinsames Grundleiden war unterschiedlich kompensiert worden und hatte mit der Mauer polare Ausformulierungen mit wechselseitigen Abspaltungen und Projektionen ermöglicht.«16
»Erkenntnis und Veränderungen auf beiden Seiten«17 blieben nach Maaz aus, auch mit und nach der Wiedervereinigung. Der sogenannte Osten und auch Westen ist ohne dieses kollusive Zusammenspiel zwischen Ost und West nicht zu verstehen. Der deutschsprachige Wissenschaftsdiskurs ist – so kann behauptet werden – noch weit entfernt von einer solchen Perspektive. Zum einen ist ein entsprechendes Bewusstsein kaum ausgeprägt, zum anderen macht die Archivsituation eine vergleichende Perspektive zwischen Ost- und West recht schwierig: Erstens ist ein großer Teil der Kunst aus der DDR nicht über die arrivierten Museen, die Institutionen der kulturellen Selbstbeschreibung, zugänglich, sondern lagert in einer gewissen Unsichtbarkeit. Hier hat das BMBF-Verbundprojekt Bildatlas: Kunst in der DDR durchaus sinnvoll angesetzt, indem es sich zum Ziel machte, diese Kunst zu recherchieren und die verschiedenen Fundorte in einen kartographischen Atlas einzutragen und somit für die Forschungs- und Ausstellungswelt zugänglich bzw. sichtbar zu machen. Doch ist diesem Leuchtturmprojekt das Licht ausgegangen, da dieses Vorhaben ganz nach den Prinzipien der aktuellen Exzellenzprojekt-orientierten Forschungspolitik lediglich für 3 1/2 Jahre finanziell abgesichert war. Die Sichtbarkeit will sich nicht so recht einstellen. Zweitens ist der Forschende mit einer von Historikern häufig bemängelten Schieflage konfrontiert, die sich aus der geradezu gegensätzlich geregelten Zugänglichkeit der Akten ergibt: Eine Aufhebung der üblichen 30-jährigen Sperrfrist galt nur für die meisten Staatsakten der DDR und nicht für die der Bundesrepublik.18 Die allgemeine Annahme, die Geschichte der DDR sei überforscht, erweist sich daher als weitaus voreilig. Im Gegenteil: Eine neue Phase der Forschung wird mit der Öffnung der entsprechenden westdeutschen Akten beginnen. Voreilig scheint es auch, die prekäre Situation des Kunstarchiv Beeskow als reinen bzw. alleinigen Ausdruck einer westlichen Haltung zu lesen – einer Haltung, die alles ausschließt, was dem sogenannten westlichen Selbstbild nicht entspricht. Denn der Zustand des Kunstarchiv Beeskow, so hier die These, verweist auch auf das individuelle Gedächtnis eines großen Teils der Ostdeutschen. Die nach 1989 einsetzende Neuordnung der Kultur brachte schlagartig eine andere
16 Ebd., S. 177. 17 Ebd., S. 182. 18 Weber, Hermann: Die DDR 1945-1990, 5. Auflage, München 2012, S. 129.
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Bildwelt mit sich: Eine Flut an neuen Bildern kam auf – die das bereits vor allem aus dem Fernsehen Bekannte überstieg. Damit tauchte ein anderes, neues Weltbild auf, innerhalb dessen es sich einzufinden und neu zu orientieren galt. Das bedeutete einen tiefen Einschnitt, da mit Bildern auf das Engste sowohl Gefühle als auch das Denken und Handeln verbunden sind. Oft blieben Zeit, Möglichkeiten aber auch das Bedürfnis aus, die bis dahin existierenden Bild- und Lebenswelten durchzuarbeiten, kritisch zu reflektieren und mit dem sich rasant verändernden Alltag und auch Lebensentwürfen in Einklang zu bringen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit übernahmen Aufarbeitungsinstitutionen, die Individuen waren bereits mit der Anpassungsarbeit beschäftigt. Dabei wurden nicht unbeträchtliche Teile der bisherigen Identität und Bildwelt abgespalten, um Stress, Überforderung sowie auch Scham zu entgehen. Das Kunstarchiv Beeskow ist ein Ausdruck dieser speziellen Form der Abspaltung, die als eine Verdrängung von Bildern und überholten Sinnstrukturen aus dem kommunikativen Gedächtnis aufgrund von Anpassungsleistungen im Hinblick auf eine neue Gesellschaftsform beschrieben werden kann. Doch mit Blick auf das Kunstarchiv Beeskow und die politischen Entscheidungsträger sei hier an ein Zitat von Heiner Müller erinnert: »Es gehört zu unserer Konditionierung, daß es nur Gegenwart gibt und keine Vergangenheit, deswegen auch keine Zukunft. Das sehe ich als Gefahr, ohne Herkunft gibt es keine Zukunft.«19
Die vor allem von den Eigentümern der Werke – d.h. von Brandenburg, Berlin und Mecklenburg Vorpommern – verantwortete Wissensproduktion im Kunstarchiv Beeskow sieht seit nunmehr 13 Jahren wie folgt aus: Anstatt auf dauerhafte wissenschaftliche Stellen, deren Existenz Ende der Neunziger gestrichen und aus vertraglichen Verankerungen entfernt wurde, setzt man auf episodische, kurzfristige Projektstellen, Werkverträge und Praktikanten. Die Folge ist: Das in den kurzzeitig angelegten Projekten produzierte Wissen kann nicht aufbewahrt, in Strukturen gebracht, kontextualisiert und interpretiert werden; es verschwindet vor Ort und wiederholt damit das Verschwinden seines Bestandes aus dem kollektiven Gedächtnis. Zum einen zeigt sich darin ein spezifischer Umgang mit Kunst und Kultur, die auf der östlichen Seite des Kalten Krieges entstanden sind. Potenziert wird das Verschwinden jedoch durch die Wissenschafts- und Bildungspolitik der letzten Jahre: Anstatt auf Kontinuität und Qualität setzt sie im-
19 Müller, Heiner/Speicher, Stephan: »Das war fast unvermeidlich«, in: Heiner Müller. Werke 12, S. 100.
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mer mehr auf zeitlich begrenzte Programme und Arbeitsverträge, Leuchtturmprojekte, ökonomische Effizienz und Marktfähigkeit.20 Im Land Brandenburg befinden sich zwei weltweit einzigartige Archive, die für die Kultur-, Kunst- und Designgeschichte nicht nur von Interesse, sondern von Bedeutung sind: das Kunstarchiv Beeskow und das Dokumentationszentrum für Alltagskultur der DDR. Beiden ist nicht nur der einmalige Bestand und der einmalige Umfang gemein, beide befinden sich nach abgebrochenen Phasen der wissenschaftlichen Grundlagenarbeit aktuell in einer prekären und höchst unterfinanzierten Situation, in der es keinerlei wissenschaftliche Stellen gibt. Anstatt diesen Teil der Geschichte ebenfalls in adäquaten Museums- und Archivsituationen und somit im Speicher- und Funktionsgedächtnis für kommende Generationen aufzubewahren, wird die DDR vielmehr über Unterhaltungskultur (z.B. im Rahmen von Filmproduktionen und Stadt- und Tourismusmarketing) und somit eher innerhalb des kurzlebigen kommunikativen Gedächtnisses erinnert. Gilt aus diesem Blickwinkel für die Bewahrung und (Re)Konstruktion des sogenannten Westens noch das Prinzip der Dokumentation und folglich der fachmännische Erhalt der Artefakte, so kommt für die (Re)Konstruktion der DDR-Vergangenheit eher das Prinzip der Simulation zur Anwendung, welches nahezu ohne auf Bewahrung und Wissensproduktion spezialisierte Archive auszukommen scheint. Die konkreten Artefakte und ihre Bewahrung für folgende Generationen spielen in diesem Simulationsmechanismus keine Rolle mehr. Versuchte die sozialistische Staatsapparatur eine Simulation der kommunistischen Zukunft, so ist heutzutage eine Simulation der sozialistischen Vergangenheit zu beobachten. Ist das massenmediale Interesse an dieser Simulation zum Erliegen gekommen, bleibt das Vergessen. Als kurzes Resümee kann formuliert werden: Der Bilderstau lässt sich verstehen, wenn folgende Verdrängungen bzw. Abspaltungen nicht in Vergessenheit geraten: Erstens die Spaltung Deutschlands in Ost und West und die damit einhergehenden wechselseitigen und bis heute noch nicht entsprechend aufgearbeiteten Abspaltungen boten nach Maaz die große Chance, den pathologischen Ausnahmezustand von 1933-1945 zu verdrängen und das Böse in den jeweils anderen Teil zu verschieben. Zweitens versetzte die Annahme, dass der alte Westen mit seiner Marktwirtschaft das überdauernde System ist, den Osten in eine für Gegenwart und Zukunft kaum noch relevante Vergangenheit – bzw. in das Jenseits der Historie, wenn man die aktuelle Situation des Kunstarchiv Beeskow vor Augen hat. Drittens verdrängte ein großer Teil der Ostdeutschen im Zuge ih-
20 Vgl. Maset, Pierangelo/Steinert, Daniela: »Kein Hauch von 68«, in: Kultur & Gespenster, Nr. 13, Winter 2012, S. 65-83.
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rer Anpassungsleistung an die neue Gesellschaftsform überholte Sinnstrukturen, die mit ihrem Leben vor 1989 verbunden waren. Mit diesen Verdrängungen ist eine enorme Reduktion der Gegenwart verbunden. Reduktionen solcher Art gehen viertens konform mit der sich auf uneingeschränkte Gültigkeit sowie Alternativlosigkeit ausrichtenden neoliberalen Regulierung, in der Geschichte und die darin gespeicherten Erfahrungs- und Wissenswelten immer mehr zu einer Störung im System werden: Denn Geschichte ist immer auch ein Archiv von Argumenten und Alternativen für Gegenwart und Zukunft.21
Z UKUNFT Die Verdrängung von Kunst aus der DDR sowie die momentan auf Vergessen und Verfall eingestimmten Bedingungen des Kunstarchiv Beeskow gehören zu der anwachsenden Anzahl von Indizien, die auf einen höchst bedenklichen und bedenkenswerten Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft verweisen. 1971 schrieben Juri M. Lotman und Boris A. Uspenskij: »Während gesellschaftliche Formationen in der Periode des Aufschwungs biegsame und dynamische Modelle schaffen, die dem kollektiven Gedächtnis breite Möglichkeiten geben und auf seine Erweiterung hin angelegt sind, ist der soziale Niedergang in der Regel von einer Erstarrung der Mechanismen des kollektiven Erinnerungsvermögens begleitet und von der wachsenden Tendenz, seinen Umfang zu verringern.«22
Was damals auch als Hinweis auf die sowjetische Politik formuliert wurde, scheint für die heutige Lage nicht weniger aktuell zu sein. Der Neubau des Kunstarchiv Beeskow wäre ganz gewiss ein wesentlicher Beitrag dafür, dem heutigen und dem zukünftigen kollektiven Gedächtnis eine breitere Möglichkeit zu geben und es auf Erweiterung hin anzulegen. Der Neubau ist die Voraussetzung dafür, die Werke für eine Wiederbewertung – oder genauer überhaupt für eine Bewertung – vor allem durch die kommende Generation zugänglich zu machen. In jedem kulturpolitischen Urteil, das sich gegen den Neubau des Archivs und somit für den Verfall der Werke ausspricht, zeigt sich
21 Vgl. P. Maset: Geistessterben. 22 Lotman, Juri M./Uspenskij Boris A.: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur (1971). In: Eimermacher, Karl (Hg.): Semiotica Sovietica: sowjet. Arbeiten d. Moskauer u. Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (19621973). Bd. 2, 1. Auflage, Aachen 1986, S. 860.
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nicht nur eine Ignoranz gegenüber der Geschichte, sondern auch gegenüber der Zukunft, und es zeigt sich darin eine gewisse Erstarrung der Mechanismen des kollektiven Erinnerungsvermögens. Der folgenschwere Auswuchs letzterer hat bekanntlich in der nationalsozialistischen und staatssozialistischen Geschichte in unmenschliche Abgründe geführt. Die Frage, was vom Beeskower Kunstarchiv, von seinen Werken bleibt, wird sich ganz konkret damit entscheiden, ob es den Archivneubau geben wird oder nicht. So ist auch heute noch aktuell und dringlich, was Monika Flacke vom Deutschen Historischen Museum vor 16 Jahren forderte: »[V]or allem die Politik [ist] gefordert, über den weiteren Erhalt der Sammlung und deren Aufarbeitung nachzudenken.«23 Mit dem Neubau für das Kunstarchiv Beeskow ist auch die Möglichkeit gegeben, wieder einstige Elemente des Beeskower Archivs aufzunehmen, die infolge kulturpolitischer (Fehl-)Entscheidungen aus seiner momentanen Archivgestalt ausgeschlossen sind: So richtete zum Bespiel Herbert Schirmer in den 1990ern auf der Burg Beeskow eine zeitgenössische Kunstsammlung für den Raum Berlin/Brandenburg ein, die derzeit abgetrennt vom Archiv auf Eis gelegt ist. Auch gibt es interessante und dringende Nachlassanfragen von Künstlern und Künstlerinnen aus der DDR, für die sich die heutige Leiterin Ilona Weser – nicht ohne auf Hindernisse zu stoßen – besonders einsetzt. Aufgenommen werden können diese Werke im Kunstarchiv jedoch nur illegal, da die drei Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern 2001 rechtskräftig festhielten, in Beeskow nur »in der DDR geschaffene Kunstwerke« aufzunehmen, »die im Auftrag von Parteien, Massenorganisationen und Staatsorganen entstanden«24. Kunst, die schon in der DDR ohne Förderung auskommen musste, scheint auch heute – wenn es um die Frage ihrer Archivierung geht – besonders weit von kulturpolitischen Förderinteressen entfernt zu liegen. Auch wenn sich die Kulturpolitik noch nicht für eine entsprechende Archivierung der Werke entschieden hat, so wirkten und wirken jedoch einige KuratorInnen, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und ArchitektInnen – wie auch dieser Band zeigt – gegen das Vergessen: So entwickelte beispielsweise Ursula
23 O. V.: »Man kann jedes Kunstwerk diffamieren«, in: Märkische Oderzeitung vom 10.12.1998, S. 16. 24 Verwaltungsabkommen über den Betrieb des Archivs der Kunstsammlungen von Parteien, Massenorganisationen und Staatsorganen der DDR durch das Land Brandenburg vom 27.07.2001; § 4. In: Hausarchiv des Kunstarchiv Beeskow. Ordner: Rechtsgrundlagen, Aufgaben, Gliederung.
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Lücke ihr Vorhaben eines Archivschiffes25 und so brachte die Ausstellungsmacherin Claudia Jansen die Künstlerin Kirsten Klöckner in das Kunstarchiv Beeskow. Entstanden ist die Aquarell-Serie Beutekunst, in der Klöckner Bilddetails aus dem Kunstarchiv Beeskow zu Elementen ihrer eigenen Arbeiten werden ließ und diese dann in einer Einzelausstellung an die Wände der Akademie der Künste in Berlin überführte.26 Damit ist die Kunst (wieder einmal) dem Archiv und der Politik entscheidende Schritte voraus.
L ITERATUR Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997. Lücke, Ursula M.: »Fließendes Archiv – Beeskow, Oder und die Archenauts«, in diesem Band. Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1991 [zuerst 1990]. Maset, Pierangelo/Steinert, Daniela: »Kein Hauch von 68«, in: Kultur & Gespenster, Nr. 13, Winter 2012, S. 65-83. Maset, Pierangelo: Geistessterben. Eine Diagnose, Stuttgart 2010. Müller, Heiner/Speicher, Stephan: »Das war fast unvermeidlich«, in: Heiner Müller. Werke 12. Gespräche 3. 1991-1995, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008, S. 100-107. Müller, Heiner/Schaper, Rüdiger/Sucher, C. Bernd: »Ich bin kein Held, das ist nicht mein Job«, in: Heiner Müller. Werke 12. Gespräche 3. 1991-1995, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008, S. 60-68. Müller, Heiner/Klein, Ingrid/Blie, Peter: »Stalingrad interessiert mich mehr als Bonn«, in: Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. 1987-1991, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt am Main 2008, S. 748-765. Lotman, Juri M./Uspenskij, Boris A.: »Zum semiotischen Mechanismus der Kultur (1971)«, in: Eimermacher, Karl (Hg.): Semiotica Sovietica: sowjet. Ar-
25 Lücke, Ursula M.: »Fließendes Archiv – Beeskow, Oder und die Archenauts«, in diesem Band. 26 Kirsten Klöckner: BeuteKunst I und II, Einzelausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, 21.09.2013-03.11.2013.
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beiten d. Moskauer u. Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962-1973). Bd. 2, 1. Auflage, Aachen 1986, S. 853-880. O. V.: »Man kann jedes Kunstwerk diffamieren«, in: Märkische Oderzeitung vom 10.12.1998, S. 16. Rehberg, Karl-Siegbert: »Bilderstreit«, http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek/magazin/magazin06/Bilderstreit/, Zugriff: 16.12.2013. Romijn, Peter/Scott-Smith, Giles/Segal, Joes: Divided Dreamworlds? The Cultural War in East and West, Amsterdam 2012. Schirrmacher, Frank: Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013, S. 73. Scott-Smith, Giles/Segal, Joes: »Introduction. Divided Dreamworlds? The Cultural War in East and West«, in: P. Romijn/G. Scott-Smith/J. Segal: Divided Dreamworlds?, S. 1-9. Segal, Joes: »Vom Nutzen und Nachteil der DDR-Geschichte für das Leben«, in diesem Band. Verwaltungsabkommen über den Betrieb des Archivs der Kunstsammlungen von Parteien, Massenorganisationen und Staatsorganen der DDR durch das Land Brandenburg vom 27.07.2001; § 4. In: Hausarchiv des Kunstarchiv Beeskow. Ordner: Rechtsgrundlagen, Aufgaben, Gliederung. Weber, Hermann: Die DDR 1945-1990, 5. Auflage, München 2012. Wolf, Christa: Was bleibt, Frankfurt am Main 1990.
Das Phaneron, die Arché und die Farben der Malerei E LIZE B ISANZ What we see is an image; what we say is a judgment, and is as utterly disparate to any image as can be. But we have a sense that it is the perceptual image that determines the judgment somewhat as the real object determines the percept. CHARLES S. PEIRCE1 Was nach den Kriterien herrschender Rationalität am ästhetischen Verhalten für irrational gilt, denunziert das partikulare Wesen jener ratio, die auf Mittel geht anstatt auf Zwecke. An diese und eine dem kategorialen Gefüge enthobene Objektivität erinnert Kunst. Daran hat sie ihre Rationalität, ihren Erkenntnischarakter. Ästhetische Verhaltensweise ist die Fähigkeit, mehr an den Dingen wahrzunehmen, als sie sind; der Blick, unter dem, was ist, in Bild sich verwandelt. THEODOR W. ADORNO2
1
Peirce, Charles S.: Manuskript 337, S. 10.
2
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 488.
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Ich schreibe über das Phaneron, um zu zeigen. Wie kann das geschehen? Wie kann ich zeigen, indem ich schreibe? Ich nähere mich dieser möglicherweise unmöglichen Aufgabe, in dem ich mich auf Peirce beziehe. Was wollte uns Peirce mit dem Begriff Phaneron zeigen? Was sah er im Begriff des Zeigens und wie bewältigte er dieses unmögliche Unternehmen? Das Schreiben über das Phaneron ist eine indexikalische Handlung, sie ist niemals bei sich, sie verweist auf etwas, was sie nicht ist und nicht sein kann. Das Phaneron kann nicht fest-geschrieben werden. Es verschwindet im Moment seiner Objektivation. Denn es ist einmalig, blitzartig zeigt es sich im Prozess seines Verschwindens. Als eine einmalige Erscheinung kann das Phaneron nicht wiederholt werden. Dennoch lässt Peirce keinen Zweifel daran, dass das Phaneron aus einer konkreten Motivation hervorgeht, etwas ans Licht bringen, öffnen zur öffentlichen Inspektion. Beobachten, Durchleuchten, Begreifen und Bestimmen sind einige Folgen der Arbeit mit dem Phaneron. Das Phaneron zeigt sich, zwingt uns zum Zugeständnis, noch bevor wir mit einer Erklärung umworben werden. Es bindet ohne Mediation das Subjekt an das Objekt, verursacht Reibungen, Abnutzungen, Kräftefelder. Das Wesen des Phanerons ist gegen eine Arché gerichtet; es negiert, widerlegt, bekämpft jeglichen Ursprung, jegliches Prinzip. Es ist sogar fraglich, ob sich das Phaneron als Zustand in physikalischen Dimensionen von Zeit und Raum einordnen lässt. Das Aufblitzen des Phanerons weist auf keine Vergangenheit und keine Zukunft hin, seine Logik folgt keiner Normativität des Linearen und ist gegen den Logos gerichtet. Demgegenüber bejaht die Arché den Ursprung, den Ort wo Mythen und Erzählungen ihren Anfang und ihre Legitimation finden. Als zeitliche Ausdehnung zelebriert die Arché die retro-Vektorialität, eine sich zurückziehende Linie, eine verdrehte Bewegung in Richtung einer ursprünglichen und diffusen Urheberschaft. Arché, der Ort der Urheberschaft, verbietet die Erfahrung des Sehens; sie verwandelt das Sichtbare zum bloßen Medium, zur ikonischen Legitimation des nicht Erfahrbaren. Die Arché signiert die ikonische Fälschung mit einem Interpretanten, der auf Überreden ausgerichtet ist. Die Arché, das Kraftzentrum des Archivs, umarmt in großzügigen Gesten das kulturelle Gedächtnis, dessen Einverleibung zum legitimierten Ganzen sie zugleich mit einem Versprechen des ewigen Lebens und Ruhms zelebriert. Dort, im rühmlichen Kollektiv angekommen, weit entfernt vom Ort des Beobachtens, dem Ort des Sehens und sich Zeigens, verstummen ihre Botschaften in der Uniformität des kollektiven Gedächtnisses.
D AS P HANERON , DIE A RCHÉ UND DIE F ARBEN DER M ALEREI
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Anders als Peirce scheut sich Jacques Derrida, der Denker des Archivs vor einer vollständigen de-Archivierung, mit Freud zeigt er lediglich auf eine strukturelle Gespaltenheit in der archivalen Logik, die durch eine Eindeutigkeit und Verwirrung erzeugt wird. Anlehnend an Freud inszeniert Derrida eine mögliche Versöhnung zwischen der Zeichenerfahrung und der kollektiven Sinnverschmelzung im Archiv;3 er rettet das Archiv in einer Verräumlichung und sieht sein Potenzial darin, Schaubühne archäologischer Ausgrabungen zu werden, an deren Ende die Entarchivierung steht. So werden die Geister und Gespenster vertrieben, Aufklärung geleistet, und schließlich das Legitime benannt. Doch was geschieht, wenn das Archiv künstlerische Zeichen beherbergt, Zeichen, deren Objektbezug sich nicht unbedingt auf existente Wirklichkeiten bezieht, sondern abgekoppelt von Algorithmen der Identifikation mit ihren Archiven in gespenstischen Zügen im Archiv spuken und es zugleich beseelen? Was geschieht, wenn diese Zeichen revolutionieren und das Archiv samt seiner Triebe und Antriebe des kollektiven Gedächtnisses in einen pathischen Zustand versetzen? Das Wesen des Kunstwerks ist gegen die Arché gerichtet, denn die Kunst tritt für die gegenwärtige Einbildungskraft ein; mit diesem Anspruch befindet sie sich im permanenten, sogar strukturbedingten Konkurrenzkampf mit dem Archiv. Kunstwerke verkörpern die Relationen zwischen dem Phaneron und der Arché, sie sind Modelle, in denen das Phaneron und die Arché zu einem Dialog eingeladen werden. Während das Archiv das Einmalige, Ereignishafte und Identifizierbare in die Gesetzmäßigkeiten des Archivs amalgamiert, erhebt die Kunst den Anspruch all dieses zu erzeugen. In dieser dialektischen Beziehung zeigt sich zugleich ihre strukturelle Beschaffenheit, der Schauplatz ihrer energetischen Ladungen und der Semeiosis. Die Logik des Kunstwerks als die Relation der Arché zum Phaneron ist triadisch, denn das Kunstwerk sprengt die Dichotomie von Phaneron und Arché mit einem alternativen Zustand, mit einer komplementären Kraft, mit einer dritten Möglichkeit. Kunstwerke als symbolische Formen öffnen den Raum für das Gedenken an das Phaneron; sie erzeugen Gegenkräfte zur Überwindung der Arché, zur Aktualisierung und Synchronisation des Gedächtnisses jenseits räumlicher und zeitlicher Wahrheiten. Sie sind Zeugnisse, Objektivierungen der Wahrnehmung, deren Bewusstsein das Phaneron erzeugte. Wir sehen etwas und urteilen über das Gesehene a posteriori; das Urteilen öffnet den Raum für die Arché, die heilige Verräumlichung des Glaubens: »Do we not see it? Seeing is believing.« Doch Peirce antwortet: »What we see is an
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Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997.
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image; what we say is a judgment, and is as utterly disparate to any image as can be.« Das Phaneron spaltet die Semeiosis der Erscheinung des Sichtbaren in Sehen und Urteilen. Das Urteil wird durch das Wahrnehmungsbild bestimmt, und dies durch das reale Objekt. Dennoch bleibt die Bedeutungsverkettung verflochten in einer thetischen Phase der gewebeartigen Einverleibung mit einem realen Objekt anderer Art, nämlich der Wirklichkeit des Idealen, der Idee, des Phantasma. Bilder als künstliche Zeichensysteme sind symbolische Formationen, die auf multiplen Bedeutungsebenen Botschaften in die Kommunikationssphäre versenden, multiple Kommunikationsstrukturen exemplifizieren und sie zugleich dokumentierend archivieren. Künstlerische Bilder in der Form der Malerei erfüllen ebenfalls die Kriterien einer bildhaften Kommunikation, allerdings sind sie mehr als ikonische Repräsentationen, mimetische Nachahmungen von Wirklichkeiten, Objekten und Ideen der Welt; als symbolische Formationen bilden und kommunizieren sie mehrfache Sinnebenen, denn sie sind Verflechtungen von sinnlichen, intellektuellen und repräsentationalen Bedeutungssphären. Peirce fasst diesen Aspekt treffend in drei Dichotomien zusammen. Eine philosophische Dichotomie zwischen Vorstellungsbildern und Wahrnehmungsbildern, zwischen den geistigen Bildern des inneren Auges und deren Gegenpol, der sinnlichen Wahrnehmung. Eine psychologische Dichotomie zwischen den Repräsentationen der inneren und der äußeren Wahrnehmung, hier ist die subjektiv individuelle Wahrnehmung von Bildern versus der kollektiv überlieferten Bilder gemeint, und nicht zuletzt eine metaphysische Dichotomie zwischen der 4 darstellenden und repräsentationalen Funktion von bildhaften Zeichen. In diesem relationalen Geflecht unterschiedlicher Funktions- und Bedeutungshorizonte werden Bilder als Verkörperungen von sinnlicher Wahrnehmung und geistiger Tätigkeit gedacht. Ähnlich wie Peirce macht auch Ernst Cassirer die repräsentationale Funktion von Bildern als symbolische Form zum wesentlichen Kriterium und verbindet sie zugleich mit einem strukturimmanenten Problem. In seiner Philosophie der symbolischen Formen setzt er in dem Kapitel »Die allgemeine Funktion des Zeichens. Das Bedeutungsproblem« das Problem der Repräsentation mit dem Problem des Denkens, des Bewusstseins und des Zeichens gleich. Das primäre Problem der Repräsentation besteht in der Bestimmung der Relation zwischen dem Phaneron und der Arché, und konkretisiert sich in der Frage, wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt – hier eine optische Komposition – zum Trä-
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Näheres zu diesem Aspekt in: Peirce, Charles S.: The Logic of Interdisciplinarity, Bisanz, Elize (ed.), Berlin 2009.
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ger einer allgemeinen geistigen Bedeutung umgewandelt werden kann. Im Falle ästhetisch geprägter symbolischer Formen wie Kunstwerke, die zusätzlich Träger von individuellen Kompositionen und Botschaften und daher auf besondere Verknüpfungsmodi zwischen Universalität und Einmaligkeit angewiesen sind, ist die Frage dieser Kodierungsebene von besonderer Relevanz. Bedeutungen und Ideen können nur mittels Zeichen objektiviert werden und jedes Zeichen entsteht in einem System; da Zeichensysteme primär eine Artikulationsfunktion haben, können sie unter Sprache, im erweiterten strukturalistischen und post-strukturalistischen Sinne verstanden werden. In einer Umkehrfunktion heißt es, jede Sprache besitzt eine »Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besonderen Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.«5
Aus dieser Perspektive erscheint das Zeichen zunächst als Ganzes, in dem das Geistige und das objektiv Sinnliche erst durch einen weiteren Schritt der Reflexion konkretisiert werden, eine Annäherung, die explizit gegen die des cartesianischen Modells des Zeichens gerichtet ist, das das Zeichen stets über eine Dualität denkt. So ist auch ein Bild als Zeichen zunächst eine Ganzheit, die eine Reflexionsfläche präsentiert, aus der heraus multiple Sinnebenen erschlossen werden können. In der Definition von Zeichen finden wir fast vollständige Übereinstimmungen zwischen Peirce und Cassirer; beide kritisieren die dualistische Perspektive, die die Zeichen lediglich auf ihre Funktion als Bedeutungsträger reduziert und als Vermittler von Botschaften sieht, die nicht zeichenimmanent sind, denn diese schaffen, so die Kritik, keinen Raum für das zeicheninhärente Besondere und Einmalige. Sowohl Peirce wie auch Cassirer sehen die primäre Funktion des Zeichens in der Manifestation, in seiner Fähigkeit des Sichtbar-Machens. Alles Geistige und das Denken im Allgemeinen, so die These, kann sich erst in der Zeichenäußerung zeigen und nur dadurch erfahrbar werden, woraus folgt, dass auch die ideelle Form nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen vermittelbar wäre. Der Ausdruck, die Verkörperung der Bedeutung, der Name einer Sache und diese selbst bleiben in einer dialektischen Einheit, in der nicht nur die Bedeutungen, sondern zugleich die zeichenimmanente Entwicklung des Geistes, die Semeiosis, erfasst werden.
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Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke, Band 11, Recki, Birgit (ed.), S. 17.
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Die Synthese, in der das Bewusstsein eine Folge von Farben und Formen zur Einheit eines Bildes verknüpft, ist von derjenigen eines logischen Urteils völlig verschieden. Gemeinsam ist ihnen dennoch die Tatsache, dass in beiden Fällen die sinnlich wahrnehmbaren Informationen nicht für sich stehen, sondern sich in ein Bewusstseinsganzes einfügen und von diesem erst ihre qualitative Bedeutung erhalten. Gleichzeitig bleibt die Struktur des Bewusstseinsganzen höchst heterogen und kann unterschiedliche Gestalten haben, für deren Bestimmung sowohl die oben erwähnten Dichotomien wie auch die Gesetzmäßigkeiten des gegebenen Zeichenprozesses eine entscheidende Rolle spielen. In diesem komplexen Geflecht von Relationen zwischen der Einmaligkeit des Zeichens und dessen Verankerung in einem Ganzen zeichnet die Relation zwischen dem Phaneron, dem Wahrnehmungsmoment und der Arché, dem Moment des Rückzugs in das Archiv, die äußersten Markierungen des Zeichenprozesses.
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UND DIE
M ALEREI : S CHWARZ -G OLD -R OT
Malerei gehört zu den komplexen Formen der bildhaften symbolischen Zeichen; ihre Zeichenhaftigkeit setzt voraus, dass auch ihr Schauplatz von verschiedenen Bedeutungsschichten markiert und ausgehandelt wird. Im Gegensatz zur sprachlichen Äußerung der natürlichen Sprache kann die Malerei niemals unmotiviert und arbiträr sein. Als geistige Objektivation, als gedichtete Botschaft trägt sie Gedankenmuster vergangener Herrschaftsstrukturen und wird zur Komplizin deren Überlieferung im Namen des Neuen und des Einmaligen. In ihr konkurrieren multiple Wirklichkeiten und Wahrheitsmodelle um die Deutungshoheit des Zeigens, um die Autorenschaft des Phanerons. In seinem Werk über die Malerei und die Politik der Wahrheit in der Malerei zeichnet Jacques Derrida vier Bedeutungshorizonte auf, die als ikonische, indexikalische, symbolische und historische Wahrheiten zusammengefasst werden, es sind: • die mimetische Wahrheit, das was sich auf die Sache selbst bezieht, auf die
abbildende Funktion, • die Objektwahrheit, die Darstellung der Wahrheit über das Objekt, der Inter-
pretant, • die Wahrheit der Bildlichkeit, der Bildsprache, und schließlich • die Wahrheit im System der Malerei.
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Doch mit den vier Wahrheiten setzt Derrida eine vollständige Autonomie der Malerei voraus, eine Strategie, die ihrer Einbettung im dialektischen Zusammenhang mit dem Gesellschaftlichen nicht gerecht wird. Die Wahrheiten in der Malerei lassen sich ausschließlich aus einem Bewusstsein zum Archiv und als Aufbegehren gegen das Archiv legitimieren. Darin besteht ein Hoffnungsmoment in der Malerei; als ästhetisch werkimmanente und autonome Wahrheiten sichern diese die Grundlage für die Objektivation der Relation zwischen dem Phaneron, als die sichtbare Einheit, und der metaphysischen Arché von Ursprungswahrheiten. Denn erst in dieser Konstellation und in diesem konflikthaften Moment lassen sich die Bedeutungsschichten der Bilder – genauso jedes künstlerischen Zeichens – dekodieren, sowie dessen Individualität neben dem Anspruch an Universalität überprüfen. * Ein besonders ausgeprägter Fall dieses Moments zeigt Beispiele aus der Geschichte der deutschen Malerei. Auf der Suche nach dem dialogischen Raum zwischen dem Phaneron, dem was das Bild zeigt, und der Arché, dem Bewusstseinszusammenhang, in dem das Werk geortet wird, zeigt sich Erstaunliches. Der Rückblick in die Geschichte der deutschen Malerei entfaltet, zunächst punktuell, aber umso kontinuierlicher, ein nachhaltiges Muster, das sich an markanten Stellen des politisch gesellschaftlichen Diskurses und des Kampfs um die kulturelle Dominanz ankündigt: die Farbenkonstellation Schwarz-Rot-Gold. Bekanntlich ist die Deutungsgeschichte Schwarz-Rot-Gold als Repräsentation der nationalen Identität so vielfältig wie die Deutungen der deutschen Geschichte. Das Erscheinungsbild und die Farbkonstellation verkünden zunächst Einigkeit; dies spiegelt sich sowohl in ihrer ästhetischen Anwendung wie auch in den politischen Konnotationen wieder, denn selbst in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Brüche wie die Teilung in Ost und West verliert der in Schwarz-Rot-Gold verankerte Einheitsgedanke kaum an Bedeutung. Als eine über Zeit und Ort hinweg verbindende historische Wahrheit bleibt er tief in der kollektiven Erfahrung verankert und wird sogar von divergierenden politischen Systemen institutionell legitimiert. So wurde zum Abschluss der Versammlung des Zweiten Deutschen Volkskongresses am 17. und 18. März 1948 der Antrag gestellt, Schwarz-Rot-Gold als die Farben der Deutschen Demokratischen Republik in die Verfassung aufzunehmen. Die Erklärung dazu lautete: »daß es kein besseres, in der deutschen Geschichte tiefer begründetes Zeichen der deutschen Einheit gibt, als die alten
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Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold. Um dieses Banner scharten sich zu allen Zeiten die Kämpfer für Deutschlands Einheit, für eine glückliche Zukunft des Landes und des Volkes. Ihr Tuch deckte die Leiber jener, die im Kampf gegen die feudale despotische Monarchie Preußens für Deutschlands Einheit und Freiheit ihr Leben gaben.« Auch der Westen hielt fest an Schwarz-Rot-Gold als die Farben der nationalen Identität. Im Art. 22 des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes wurde dies folgendermaßen festgeschrieben: »Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.« Die Entscheidung wurde damit begründet: »Die Tradition von Schwarz-Rot-Gold ist Einheit und Freiheit. Diese Flagge soll uns als Symbol gelten, daß die Freiheitsidee, die Idee der persönlichen Freiheit, eine der Grundlagen unseres zukünftigen Staates sein soll.« Gewalt, Leid und Freiheit als archetypische Erfahrungen, gespeichert im kollektiven Gedächtnis und fixiert in den Farben Schwarz-Rot-Gold. Die Wiedererkennungskraft dieser chromatischen Zusammensetzung ist in die Tiefenstrukturen der kulturellen Wahrnehmung eingedrungen, sodass sie ohne große Ankündigung und durch einen minimalen Einsatz nicht nur die Bildfläche dominiert, sondern auch die eidetische Komposition als ihren Gegensatz unterordnet. So zeichnen sich die hier ausgewählten Bilder, ähnlich wie die strukturimmanente Logik des Archivs durch multiple Brüche aus, Brüche auf syntaktischen, semantischen und pragmatischen Bedeutungshorizonten, während das Farbmuster Schwarz-Rot-Gold eine einheitliche, nahezu versöhnende Umhüllung aufspannt, die die Bilder in lebendige Relationen versetzt. In diesem überwachten Bedeutungsraum finden sich die Grundideen der historischen Aussagen in unterschiedlichsten Schattierungen und Konstellationen wieder; vor dem Hintergrund der Konfliktbeladenheit der Bildnarration wird diese Funktion umso mehr deutlich. Dementsprechend führt die Suche nach den werkimmanenten Wahrheiten nicht zwangsläufig zu verbindenden Momenten sondern zu einer Diskrepanz zwischen den eidetischen und chromatischen Zügen der Bilder, die unmissverständlich eine dialektische Sprache sprechen, die der Dialektik zwischen Spaltung und Einheit. Was zeigen uns die Bilder? Gedankenmuster und gespenstische Figuren des Klassizismus, Romantik, Moderne, Sozialismus beseelen die Werke. Zu sehen sind phantasmagorische Züge, monumentale Repräsentationen von Ideologien und Idealen, Mentefakte archivierter Welten, Denkmäler des kollektiven Archivs versehen mit Inschriften von Verfassungen, zwei Gedächtnisse eines Körpers, 6 gebannt in der Geiselhaft des Anderen.
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Die hier gezeigte Bilderreihe stellt eine kleine Auswahl der zahlreichen Beispiele dar.
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Abbildung 1: Adolph Friedrich Erdmann von Menzel, Aufbahrung der Märzgefallenen, 1848
Quelle: © Hamburger Kunsthalle
Abbildung 2: Anton von Werner, Die Eröffnung des Reichstages, 1893
Quelle: © Alte Nationalgalerie
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Abbildung 3: Emil Nolde, At the Café, 1911
Quelle: © Folkwang Museum, Essen
Abbildung 4: Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis als Soldat, 1915
Quelle: © Museum, Oberlin, Ohio
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Abbildung 5: Wolfgang Mattheuer, Guten Tag, 1975
Quelle: © Deutsches Historisches Museum / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
Abbildung 6: Willi Sitte, Die rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg, 1975-76
Quelle: © Deutsches Historisches Museum / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 7: Jörg Immendorff, Ich denke auch an Metall, 1978
Quelle: © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York
Abbildung 8: Markus Lüpertz, Schwarz Rot Gold, 1974
Quelle: © Markus Lüpertz, Albertina, Wien / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 9: Gerhard Richter, Warcut II, 2004
Quelle: © Gerhard Richter 2014
Abbildung 10: Neo Rauch, Abendmesse, 2012
Quelle: © Galerie Eigen + ART Leipzig/Berlin / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Die Strukturanalyse der Gemälde ortet die bilderimmanenten Wahrheiten: Die Wahrheit im System der Malerei spricht eine eindeutige Sprache. Der romantische Pathos von Caspar David Friedrich, der politische Realismus von Adolph Friedrich Erdmann von Menzel, der Wilhelminismus von Anton von Werner, der Expressionismus von Emil Nolde, die Melancholie Ernst Ludwig Kirchners, der Sozialismus von Wolfgang Mattheuer, Günter Brendel, Willi Sitte neben apokalyptischer Rhetorik von Georg Baselitz und Jörg Immendorff, bis hin zur Ankündigung der Arché in der Abstraktion von Gerhard Richter und nicht zuletzt die Archetypen im kapitalistischen Realismus von Neo Rauch geben Auskünfte über die verborgenen, nicht ausgesprochenen und dennoch anwesenden Bedeutungsschichten, phantomhaften Erscheinungen in Schwarz-RotGold. Auf der ikonischen Ebene sind es Darstellungen von Naturlandschaft, gesichtslosen Figuren, Machtzentren, Ritualen, Bürgertum, Uniformen; indexikalisch dagegen sind es Hinweise auf abstraktere Bedeutungen wie Anonymität, Innerlichkeit, Legenden und Mythen, Ideologien, das Kollektiv, Tod. Auch die symbolische Bedeutungsschicht bestätigt die quer durch die Bilder hindurch präsente Spaltung: Pathos und Visionen versus Zerstörung durch Krieg, nüchterner Realismus versus Abstraktion, Expressionismus versus Romantik. Die mimetische Wahrheit betrifft die Repräsentation von Ereignissen, Ereignissen in der Natur wie die Bild Caspar David Friedrichs zeigen, das Kollektive als Menschenmasse von Menzel, Machzentren wie der Reichstag und öffentliche Plätze von Werner, Interieurs wie das Theater, uniformierte Figuren, fiktive Gestalten, abstrakte Farbschichten. Die Darstellung der Objektwahrheit verdeutlicht die politisch gesellschaftliche Dimension der Bildhandlungen. Zu sehen sind sowohl anonyme Figuren wie auch konkret erkennbare, abstrakte Szenerien und konkrete Objekte wie der Adler, die Panzer, mit Stacheldraht umspannte Türme, kollektive Handlungen wie öffentliche Zeremonien aber auch Handlungskollagen. Die Wahrheit der Bildsprache setzt die Rhetorik der Kontradiktion fort; impressionistische, realistische, expressionistische, abstrakte sowie neo-realistische Rhetoriken der Malerei präsentieren zugleich den jeweiligen Zeitgeist der Kunstgeschichte. Während noch in der Romantik von Caspar David Friedrich die ikonischen und symbolischen Ebenen harmonisieren, erzählen die Darstellungen von Sitte, Immendorff, Lüpertz explizit von Konflikten. Diese werden durch die Diskrepanz der Figuren und Farbgestaltungen deutlich. Auch die Abstraktion von Richter und der neo-Realismus von Neo Rauch setzen Instrumente der Verfremdung durch die Überlagerung und abstrakte Kollagierung von Farbund Formbedeutungen.
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Die Farben dagegen zeigen eine klare Denotation: Schwarz für Bürgertum und Masse aber auch für das Ungewisse und Undefinierte, eine dunkle Kulisse, aus der heraus etwas zum Vorschein kommen könnte, aber auch eine Tiefe voller Geheimnisse. Schwarz ist auch die Farbe der Uniformen, der Ordnung und der Naturgewalt. Rot dagegen gehört zum Geistigen und Körperlichen, es ist die Farbe der Ideologie, der Sehnsucht, des Kampfes, aber auch der Macht. So ist Rot die Farbe des Pullovers des Jungen auf dem Mattheuer-Bild sowie die Farbe der Figur der Reiter auf dem Rauch-Bild. Rot ist auch die alles verdeckende Farbschicht auf dem Richter-Bild, während auf Bildern von Lüpertz und Immendorff das Rote fast zur Unkenntlichkeit reduziert wird. Bleibt die Farbe Gold, sie verkörpert Licht, Stimmung, Pathos, Emotion, Freiheit, so wie der Sonnenaufgang von Caspar David Friedrich, das Monumentale bei Anton von Werner, das Fließende und Dynamische bei Lothar Zitzmann, das körperlich Vergängliche bei Kirchner. Die Bildsprache bedient sich hier einer klaren Aufteilung: über die eidetischen Züge, wie die Linienführung der figuralen Kompositionen, strukturiert sie den Logos und die Ordnung der Dinge auf der Bildfläche; die Denotationen haben eine klare Aussage, sie zeigen Brüche und Konflikte in unterschiedlichsten Zusammenfügungen. Der rationale Blick sucht, ordnet, vergleicht und urteilt: strenge Raumstrukturen, verzerrte Figuren, sinnentleerte mechanisch wirkende Handlungen sind einige Bedeutungsmuster. Die chromatischen Bildelemente dagegen, als Repräsentationen von Emotionen, wirken eher versöhnend und verbindend. Zum einen verbinden sie das Individuelle zur kollektiven Erfahrung: Rot für Leiden und Leben, Schwarz für das Unbehagen gegenüber Macht und Gewalt, aber auch eine Stimmung der Machtlosigkeit, und nicht zuletzt zeigt Gold den Wunsch nach Freiheit, Licht schafft Öffnungen und Leerstellen für Kontemplation und Hoffnung. Zum zweiten verbinden die Farben durch die spezifische Konstellation von Schwarz-Rot-Gold den Betrachter mit dem kollektiven Archiv der imperativen Selbstidentifikation. So öffnen die Bilder hologrammartige Panoramen deutscher Stimmungen und Stimmungswandel jenseits mythologisierter und ritualisierter Sinnwelten. Diese beinah aufklärerische Leistung wird allerdings punktuell mittels einzelner Werke wie auch universell durch den besonderen Charakter der Kunst geleistet, durch ihr Bekenntnis, ihre Öffnung und Offenbarung zum Phaneron.
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In seinem Werk The Age of Insight sucht der Nobelpreisträger und Naturwissenschaftler Eric Kandel den Kernpunkt künstlerischer Ausdrucksform und stellt die Frage nach dem universalen Charakter der Kunst: »[R]epresentational visual art is a form of storytelling that artist and beholder alike can visualize and turn over in their own minds, examining relations between characters acting in different social and environmental settings.«7
Ähnlich wie Peirce versteht Kandel Kunst, in diesem Fall die Malerei, als eine Art Projektionsfläche, auf der sowohl Künstler wie auch Betrachter Geschichten und Relationen visualisieren können. Kunst als der Ort des Phanerons, des Zeigens, ist zugleich der Schauplatz von Bedeutungsmodellierungen, ihrer Kommunikation sowie ihrer relationalen Zusammenhänge. Auch mit einem weiteren Aspekt erklärt Kandel die Kunst als eine ganzheitliche Erfahrung: indem sie Emotionen hervorruft, mobilisiert sie sowohl kognitive wie auch physiologische Erwiderungen in der konkreten Form von »muscular response«. Kunst beansprucht nicht nur geistige Kommunikation sondern macht diese erst durch körperlichen Einsatz möglich. Die durch das Phaneron in Gang gesetzten Sinnstrahlungen verbreiten sich in divergierenden Richtungen, in einer Vorwärtsbewegung Richtung das Neue, in Richtung noch nicht erfahrene, visionäre und fiktionale Sinnwelten, und in einer Rückwärtsrichtung zur Arché, in Richtung längst vergangener dennoch präsenter, mythisch verschlüsselter Sinnwelten; beide Welten verführen mit unwiderstehlichen Kräften, die eine mit einem Versprechen der Einmaligkeit, der Originalität, dem Anschluss zum Geniehaften, die andere mit dem Versprechen der kollektiven Zugehörigkeit mit allen Annehmlichkeiten der historischen Wahrheit. Mit Wilhelm von Humboldt lässt sich dies folgendermaßen formulieren: »Wir unterscheiden drei allgemeine Zustände unserer Seele, in denen allen ihre sämtlichen Kräfte gleich tätig, aber in jedem einer besonderen, als der herrschenden, untergeordnet sind. Wir sind entweder mit dem Sammeln, Ordnen und Anwenden bloßer Erfahrungskenntnisse oder mit der Aufsuchung von Begriffen, die von aller Erfahrung unabhängig sind, beschäftigt; oder wir leben mitten in der beschränkten und endlichen Wirklichkeit, aber so, als wäre sie für uns unbeschränkt und unendlich. Der letztere Zustand kann, das begreift man leicht, nur der Einbildungskraft angehören, der einzigen unter unseren Fähigkeiten, welche widersprechende Eigenschaften zu verbinden imstande ist.«8
7
Kandel, Eric R.: The Age of Insight, New York 2012, S. 441.
8
von Humboldt, Wilhelm: Ausgewählte philosophische Schriften, Leipzig 1910, S. 5.
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Humboldt unterteilt die Erzeugnisse der Einbildungskraft in zwei Kategorien, eine reine virtuelle und eine objektbezogene, die eine äußere Realität aufweist. Sie benötigt beide Eigenschaften, um einerseits die innere Welt zu organisieren, und zweitens um das Phantasmagorische mit der Bedeutungswelt des Kollektivs zu verbinden. Die Realität, auf die sich die Einbildungskraft bezieht, hat kein Dasein im Sinne einer materiellen Realität, daraus folgt, dass die Einbildungskraft sich ausschließlich auf „Gesetzmäßigkeiten“ beziehen kann. Somit lässt sich Kunst als die Fertigkeit erklären, die die Gesetzmäßigkeiten und die Algorithmen des Archivs für ein stärkeres Einbildungsvermögen visualisiert. So beginnt und endet die Arbeit der Semeiosis, der künstlerische Prozess bei dem wahrnehmenden Subjekt. Peirce weist auf diese Verantwortung der Autorenschaft hin, wenn er schreibt: »Again, that which is observed, as a percept is absent, must be objectified, while mere tones of consciousness are phanerons. But though subject and object are not discriminated in these feelings, yet it is that element of them which becomes developed into the immediate object which is the phaneron.«9
Einbildungskraft und Erfahrung, sei es historische oder auch subjektiv persönliche, Denken und Repräsentation, Autonomie und gesellschaftliche Verankerungen bestimmen den künstlerischen Kode jenseits starrer räumlicher und zeitlicher Ordnungen, auf dem Schauplatz gewaltiger Bedeutungskämpfe. In dem Phaneron werden wir des Zeichens habhaft; in der Arché bemächtigt es sich unser.10
L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Band 1, Rolf Tiedemann (ed.), Frankfurt a.M. 1982. Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke. Band 11, Birgit Recki (ed.), Hamburg 2001.
9
C. S. Peirce: Manuskript 337.
10 Der Satz bezieht sich auf ein Zitat von Walter Benjamin zum Begriff der Aura: »In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.« Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Band 1, Rolf Tiedemann (ed.), Frankfurt a.M. 1982, S. 560.
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Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997. von Humboldt, Wilhelm: Ausgewählte philosophische Schriften, Leipzig 1910. Kandel, Eric R.: The Age of Insight, New York 2012. Peirce, Charles S.: Manuskript 337. Peirce, Charles S.: The Logic of Interdisciplinarity, Elize Bisanz (ed.). Berlin: 2009.
Warburg, Meskalin und die Sterne – Bildräume des Distanzbewusstseins1 K ARL C LAUSBERG
Aby Warburg, der legendäre Bibliotheksgründer und Sprachvirtuose, wird derzeit in einer frischen Welle von Textausgaben und Lobreden als interdisziplinäre und sogar transkulturell globalisierbare Leitfigur gepriesen. Sein Konzept der Bildwanderungen scheint sich bestens in die aktuellen Perspektiven einer islamisch angereicherten Wissenschaftsgeschichte im weiteren Mittelmeerraum zu fügen. Doch wie steht es um Ausblicke in noch entlegenere, transatlantische Neue Welten? Eine frühe Episode, Warburgs Amerikareise im Jahre 1895, führt zu ganz anderen Indizien der Globalisierung – und auch zu einer anderen Sicht auf sein langjähriges Interesse für Astrologie und Kosmologie. Mit seinen Thesen zur Rolle des Distanzbewusstseins als sozialer Dauerfunktion, die Gelingen oder Versagen menschlicher Kultur anzeigt, öffnen sich zudem Ausblicke auf die beklemmenden Bildwelten jüngerer deutscher Geschichte, die Warburg nicht mehr miterleben musste.
M ESKALIN 1886 war der Amerika-bereisende Berliner Pharmakologe Louis Levin (18501929) auf eine rauscherzeugende Pflanze aufmerksam geworden, die im Grenz-
1
Der Text ist hervorgegangen aus einem Vortrag beim 11. Barocksommerkurs der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln 2010; Titel: »Schlangen im Teppich – Riegl, Warburg und Meskalin«.
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gebiet von Mexiko und den Vereinigten Staaten gedieh und von den Eingeborenen heimlich gebraucht und verbreitet wurde. Es handelte sich, wie sich nach und nach herausstellte, um eine dornenlose karottenförmige Kakteenart, die in getrockneten Scheiben aufbewahrt und verzehrt wurde. Der Alkaloid-Wirkstoff dieser mexikanischen Peyote-Kakteen, das Meskalin, wurde kurz vor 1900 als Auslöser besonders starker optischer Halluzinationen erkannt2 und hat sich schnell den Ruf erworben, das ideale Mittel zur Erzeugung künstlicher Sinnestäuschungen zu sein.3 Neben Haschisch, das Charles Baudelaire 1860 mit einem Text über Die künstlichen Paradiese4 zu literarischem Glanz gebracht hatte, trat nun Meskalin als neue göttliche Wunderdroge ins öffentliche Bewusstsein und verband sich mit anderen Reizthemen und Modekrankheiten wie Migräne, die schon im 19. Jahrhundert als Quelle visueller Sinnestäuschungen vielfach beschrieben worden waren. – Als Auslöser gesteigerter introspektiver Erfahrungen hat sich der unscheinbare kleine Peyote-Kaktus mittlerweile nicht nur ausgewachsen zum Ankerpunkt einer langen Kette von literarischen Erleuchtungen, die sich über Aldous Huxley bis zu Carlos Castaneda abrollen lässt; er hat auch z.B. für die beiden ausdruckstheoretischen Antipoden Warburg und Benjamin eine mehr oder minder offenkundige Rolle gespielt. Schon kurz nach Eroberung und Zerstörung des Aztekenreichs hatten spanische Missionare von halluzinatorischen Wirkungen der Wüstenpflanze berichtet; im Jahre 1620 nahm die Inquisition den vermutlich kultischen Gebrauch der Kakteendroge ins Visier.5 Es gab offenbar eine lange altamerikanische Vorgeschichte ihrer religiös-entheogenen Verwendung, die vom Siegeszug des weißen Mannes nicht ausgelöscht wurde: Mit den ethnischen Umwälzungen verbreiteten sich Peyote-Kulte im Südwesten der Vereinigten Staaten, während des Bürger-
2
Heffter, Arthur: »Ueber Pellote. Beitrag zur chemischen und pharmakologischen Kenntnis der Cacteen«, in: Naunyn-Schmiedeberg’s Archiv für Pharmakologie und experimentelle Pathologie 40 (1898), S. 385-429. Der Pharmakologe und Chemiker Karl Wilhelm Arthur Heffter (1859-1925) beschäftigte sich seit Bekanntwerden der Pellote-Kakteen mit deren Wirkstoffen und identifizierte 1897 in Selbstversuchen deren wirksamste Substanz: das Meskalin.
3
Beringer, Kurt: Der Meskalinrausch, seine Geschichte und Erscheinungsweise, Berlin
4
Baudelaire, Charles: Les paradis artificiels, opium et haschisch, Paris 1860.
5
Cárdenas, Juan de: Primera parte de los problemas y secretos maravillosos des las In-
1927, spez. Kap. 1 und 2.
dias, Mexico City 1591; zitiert nach Leonard, Irving A.: »Peyote and the Mexican Inquisition, 1620«, in: American Anthropologist 44, no. 2 (Apr.-June 1942), S. 324-326. Detaillierter historischer Überblick bei K. Beringer : Meskalinrausch, S. 6-10.
W ARBURG , M ESKALIN UND DIE S TERNE
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krieges griffen Gefangene in Ermangelung von Alkohol zur Kaktus-Oblate, und in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts unternahmen die ersten wissenschaftlichen Psychonauten Selbstversuche.6 Ein exzentrischer Engländer, Henry Havelock Ellis (1859-1939), der zugleich mit Studien über sexuelle Freiheit und Perversion von sich reden machte, brachte die nachfolgende psychedelische Welle 1898 mit einem kurzen, aber brillant geschriebenen Bericht im Londoner Contemporary Review ins Rollen.7 Unter dem beziehungsreichen Titel Meskalin: Ein neues künstliches Paradies schilderte er eindringlich seine eigenen Erfahrungen und die eines befreundeten Malers, um dann sein folgenreiches Loblied auf die neue intellektuelle Droge anzustimmen. Vorangestellt hat Ellis ein knappes Résumé der Entdeckungsgeschichte: Es sei schon seit einigen Jahren bekannt gewesen, dass die Kiowa-Indianer in Neu Mexiko bei ihren religiösen Zeremonien getrocknete Kaktus-Knöpfe (buttons) zu sich nähmen. Die Wirkung ihrer Essenz zeigte sich als so mächtig, dass Missionare den Handel mit dieser Droge, der offenbar mit christlicher Moral nicht beizukommen war, von den Behörden verbieten und schwer bestrafen ließen. Gleichwohl habe sich der Gebrauch nicht unterbinden lassen; der Mescal-Ritus könne vielmehr als die Hauptreligion aller Indianerstämme in den südlichen Regionen der Vereinigten Staaten angesehen werden. Im Jahre 1891 nun habe der bedeutende Anthropologe James Mooney (1861-1921), der häufig an indianischen Peyote-Zeremonien teilnahm, die Anthropologische Gesellschaft in Washington informiert und drei Jahre später sogar Proben mitgebracht, die dann Versuchspersonen verabreicht wurden. Bald darauf habe auch Dr. Weir Mitchell, ein angesehener Mediziner (zudem Buchautor und u.a. Gründungspräsident der Amerikanischen Neurologischen Gesellschaft &c&c, der übrigens auch den Begriff phantom-limb einführte) Selbstversuche unternommen und einen höchst interessanten Bericht über seine brillanten Visionen veröffentlicht.8
6
Siehe dazu die sorgfältige Dokumentation von Perrine, Daniel M.: »Visions of the Night. Western Medicine Meets Peyote 1887-1899«, in: The Heffter Review of Psychedelic Research 2 (2001), S. 6-52.
7
Ellis, Havelock: »Mescal: a New Artificial Paradise«, in: The Contemporary Review (January 1898). Reprint erschien in: Annual Report of the Smithsonian Institution 1897, Government Printing Office, Washington, DC, S. 537-548. Eine ausführlichere Version erschien unter dem Titel »Mescal: a Study of a Divine Plant«, in: Popular Science Monthly 61 (1902), S. 52-71.
8
Mitchell, Silas Weir: »Remarks on the Effects of Anhelonium Lewinii (the Mescal Button)«, in: British Medical Journal (1896), S. 1625-1629. Siehe dazu auch Perrine: Visions, S. 29ff.
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In der Tat übergab Mooney im Herbst 1894 eine größere Menge Peyote-buttons, die er bei einem Besuch des letzten Comanchen-Häuptlings und Peyote-Priesters Quanah erhalten hatte, an seinen Vorgesetzten in der Smithsonian Institution in Washington, und von dort aus wurden Proben für Experimente verteilt. Die von den Versuchspersonen beschriebenen Visionen gaben allen Anlass zu größter Aufmerksamkeit: Die Abfolge brillanter Gesichtserscheinungen vor seinem hingerissenen geistigen Blick (enraptured mental gaze) habe ordinärere Vergnügen so sehr übertroffen, notierte ein siebenundzwanzigjähriger Chemiker, dass sie ihn in einen Zustand versetzten, in dem Ausrufe des Entzückens unwillkürlich würden.9 Ein anderer namhafter Selbstexperimentator, ebenfalls Chemiker, wurde mit den Worten zitiert: »I have been in heaven and I do not care whether I recover or not.«10 Auch der renommierte Toxikologe Arthur Heffter (1859-1925), dem man gewiss nicht irgendwelche Übertreibungen unterstellen kann, beschrieb 1898 brillante Visionen, die das von ihm isolierte Meskalin hervorrief: Nachdem er sich in einem verdunkelten Raum niedergelegt hatte, sah er zunächst Nachbilder von außerordentlicher Schärfe. Ihnen folgten Teppichmuster und Mosaike, aber auch sich windende farbige Bänder; dann Serien von ungewöhnlich farbigen Landschaften, dreidimensionale Architekturen, mit funkelnden Juwelen und Perlen üppig dekorierte Bankettsäle. Rhythmische Geräusche und Musik beeinflussten die Erscheinungen. Sehr auffällig sei der Verlust des Zeitgefühls gewesen. Peyote und Mescalin waren also bereits seit der Mitte der neunziger Jahre in aller Munde; und damit ergibt sich auch eine – vorerst nur in Umrissen zu beantwortende – Frage: Als Aby Warburg 1895 zur Hochzeit seines Bruders nach New York reiste, traf er bereits auf dem Schiff einen Mitarbeiter der Smithsonian Institution.11 Als er dann Washington besuchte, muss er noch mehr von den religiösen Bräuchen der Indianer gehört haben; speziell von James Mooney, den er noch bei den Vorbereitungen zu seinem Kreuzlinger Schlangenritual-Vortrag ausdrücklich und besonders als Anreger der eigenen Studienreise erwähnte.12 – Ist es vorstellbar, dass Warburg von der indianischen Peyote-Religion nichts gehört haben sollte? Mit Mooney hatte er doch den authentischen Mescal-Experten zum Gesprächspartner und Berater; und zwar gerade auf dem vorläufigen Höhe-
9
D.M. Perrine: Visions, allgemein und speziell S. 27.
10 Ervin Ewell, Bureau of Chemistry of the Department of Agriculture; D.M. Perrine: Visions, S. 25, Zitat S. 26. 11 Gombrich, Ernst Hans: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970. 12 Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht [1923]. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1988, S. 63.
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punkt der ersten klinischen Selbstversuche. Umso auffälliger wäre es, wenn Warburg von diesem inneren Zugang zur indianischen Weltanschauung keine Notiz genommen hätte. Aber die Welt der amerikanischen Ureinwohner war im dramatischen Umbruch und bot nicht nur das, was Warburg vielleicht vorrangig gesucht haben mag: die unverfälschte Eigenart einer alten Kultur. Die Hellenen der Prärie waren längst zu Heimatlosen im eigenen Land und zu Wanderern zwischen den Welten geworden. Mooneys Peyote-Lieferant, der hochgewachsene blau-äugige Comanche Quanah (~1850-1911), war ein extremes Produkt der Kulturenbegegnung. Die bizarre und bewegende Lebensgeschichte ist mittlerweile in zahlreichen Büchern13 und Internet-Artikeln nachzulesen: Seine Mutter, Cynthia Ann Parker, war eine Weiße, die 1836 als Kind von Indianern verschleppt, adoptiert und im Alter von fünfzehn Jahren an einen Häuptling verheiratet wurde. 1860 wurde sie bei einem Angriff der Texas-Ranger mit ihrer halb-indianischen Tochter gefangengenommen und weißen Verwandten übergeben. Die Rückkehr zu ihrer indianischen Familie wurde ihr verweigert, und als ihre Tochter starb, hungerte sie sich zu Tode. Quanah, der zur Zeit des Ranger-Angriffs auf der Jagd gewesen war, blieb lange im Ungewissen über Schicksal und Herkunft seiner Mutter. Erst kurz vor seinem Tode scheint der Vater dem Sohn die Vorgeschichte der Cynthia Ann, die dann den indianischen Namen Naduah erhielt, enthüllt zu haben. – Nach wechselvollen Jahren des schließlich verlorenen Kampfes gegen die Weißen stieg Quanah, der sich nun mit Nachnamen Parker nannte, zum Häuptling der Reservat-Comanchen auf. Es heißt, dass er vieles von der weißen Lebensart übernahm, ein geschickter Unterhändler und Geschäftsmann und angeblich der reichste Indianer der Vereinigten Staaten gewesen sei, jedoch den christlich protestantischen Glauben abgelehnt oder – so andere Meinungen – im Gedenken an seine Mutter in modifizierter Form angenommen habe. Jedenfalls hat er, unterstützt von James Mooney, die Native American Church gegründet, die den Peyote-Genuss als entheogenes Mittel der Gottesoffenbarung propagierte.14
13 Internet-Auswahl: Eastburn, George: Quanah Parker, Claverack/New York 1973; Robson, Lucia St. Clair: Ride the Wind, 1985; Neeley, Bill: Quanah Parker and His People, hrsg. von Winston Odom, Slaton/Texas 1986; Kissinger, Rosemary: Quanah Parker: Comanche Chief, Gretna/Louisiana 1991; Hilts, Len: Quanah Parker: Warrior for Freedom, Ambassador for Peace, 1992; Dugan, Bill: Quanah Parker, New York/NY 1993; Hagan, William Thomas: Quanah Parker, Comanche Chief, Norman/ Oklahoma 1995; Zemlicka, Shannon: Quanah Parker, Minneapolis/MN 2004; Exley, Jo Ella Powell: Frontier Blood: The Saga of the Parker Family, Texas 2009. 14 Stewart, Omer C.: Peyote Religion. A History, Oklahoma 1987.
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Abbildung 1: James Mooney und Comanchen-Häuptling Quanah, traditionell und euro-amerikanisch gekleidet
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Quanah dürfte in James Mooney einen Geistesverwandten gefunden haben: Der Sohn armer irisch-katholischer Einwanderer, der sich in eigenständigen Studien zum Indianer-Experten ausgebildet hatte, arbeitete seit 1885 für das Bureau of American Ethnology. Seine Distanz zur protestantischen weißen Mehrheit spiegelte sich in den Vorbehalten des Comanchen, der seinerseits auch manchen Riten seiner Stammesverwandten mit Reserve begegnete: »Quanah Parker, their head chief, a shrewd half-blood« liest man in Mooneys umfangreicher Studie über die Ghost-Dance Religion, »opposed the new doctrine and prevented its spread among his tribe.«15 – Das Auftauchen konkurrierender neuer Religionen war für Mooney nur zu verständlich angesichts eines erbarmungslosen Schicksals. Im Anfangskapitel Paradise Lost hat er das Los der Indianer mit bewegten Worten charakterisiert: »And when the race lies crushed and groaning beneath an alien yoke, how natural is the dream of a redeemer, an Arthur, who shall return from exile or awake from some long sleep to drive out the usurper and win back for his people what they have lost. The hope becomes faith and the faith becomes the creed of priests and prophets, until the hero is a god and the dream a religion, looking to some great miracle of nature for its culmination and accomplishment. The doctrines of the Hindu Avatar, the Hebrew Messiah, the Christian millenium, and the Hesûnanin of the Indian Ghost dance are essentially the same, and have their origin in a hope and longing common to all humanity.«16
Auch über den aus Mexiko importierten Peyote-Kult, den er bei seinen Feldrecherchen zum Ghost-Dance kennenlernte, hat Mooney 1896 eine Studie veröffentlicht: The Mescal Plant and Ceremony.17 Die machtvollen MeskalinVisionen, die Mooney aus eigener Anschauung kannte, boten einen Quellgrund religiöser Anmutungen, die sich in viele Richtungen kanalisieren ließen. Der Überlebenskünstler Quanah scheint das begriffen und bei seinen Bemühungen Mooneys Unterstützung gefunden zu haben. So ist die erst vor kurzem in der Prärie heimisch gewordene kultische Kaktus-Droge unter dem Deckmantel der Native American Church zum Bindemittel zweier gegensätzlicher Kulturkreise geworden: der dahinschwindenden indianischen Identität – und der brutal sich
15 Mooney, James: The Ghost-Dance Religion and the Sioux Outbreak of 1890 [1896], Lincoln 1991, S. 902. 16 J. Mooney: Ghost-Dance, S. 657. 17 Mooney, James: »The Mescal Plant and Ceremony«, in: The Therapeutic Gazette 12, [Detroit] 3rd series, S. 7-11.
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durchsetzenden euro-amerikanischen Technozivilisation, in der das Meskalin zu höchstem Ansehen gelangte. * 1923, im selben Jahr, in dem Warburg – als späte Reminiszenz der AmerikaReise – seinen Kreuzlinger Vortrag über indianische Schlangenrituale hielt, wurde ein medizinischer Vortrag publiziert, der die innere Welt der bedrängenden Peyote-Bilder grundlegend vertiefte und deutete. Kurt Beringer (18931949), junger Oberarzt an der Psychiatrie der Heidelberger Universitätsklinik, hatte zusammen mit Kollegen Experimentelle Psychosen durch Mescalin in Selbstversuchen eingeleitet, darüber diesen ersten Bericht erstattet 18 und die wesentlichen Eigenarten der Vergiftung wortgewandt zusammengefasst. Nach Meskalin-Verabreichung zeigten sich regelmäßig, begleitet von anderen vegetativen Symptomen, allmählich begrenzte optische Formen in andauernder Umwandlung, deren Struktur die Versuchspersonen, wie beim Augendrücken, mit Filigran, Schmiedewerk, Teppichmustern oder Kaleidoskopwirkung verglichen, so Behringer. Schließlich würden die Phantasmen auch bei Tageslicht gesehen: architektonische Gebilde, Zwerge, Menschen, Landschaften, Fabelwesen; stets farbig und wechselnd, bald leibhaftig, plastisch, mit Eigenbewegung, bald bildhaft, leblos und starr. Im weiteren Verlauf würden auch die übrigen Sinnesgebiete ergriffen, am wenigsten das Gehör, am meisten der Allgemeinsinn: Empfindungen von Gewichtslosigkeit, Unterbrechung der Körperkontinuität, des Aufgeblasenseins, des Elektrisiertwerdens würden berichtet; einzelne Körperteile bekämen riesenhafte Ausdehnung und Schwere. Besonders eindrucksvoll werde ein von innen ausstrahlender Kältestrom empfunden, der mit dem Gefühl irgendwelcher Größe und Erhabenheit verbunden sei. Aber so bemerkenswert diese Trugwahrnehmungen der verschiedensten Sinnesgebiete auch seien, sie würden von Mescalinisierten doch nur als belangloses Beiwerk gewertet im Vergleich zu dem dann einsetzenden Erleben. Versuchspersonen fänden sich in fremdartige, noch nie durchlebte Zustände versetzt, die angesichts der gleichzeitigen Betroffenheit verschiedenster Erlebnisqualitäten und des unablässigen Wechsels ihrer Beziehungen einer genaueren Zergliederung in Einzelbestandteile nur schwer zugänglich seien. Der Vergleich mit einer Psychose sei hier gerechtfertigt, so Beringer. So fänden sich, um nur einiges auf-
18 Beringer, Kurt: »Experimentelle Psychosen durch Mescalin«, Vortrag, gehalten auf der Südwestdeutschen Psychiaterversammlung in Erlangen 1922, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 84 (1923), S. 426-433.
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zuzählen, Entfremdung19 der Wahrnehmungswelt, Zeitsinnstörungen, Veränderung der gefühlsmäßigen Verknüpfung mit der Umwelt, Auftauchen paranoider Anflüge, irritierendes Bedeutungsempfinden, leichte Beziehungsideen, Depersonalisationsgefühl und Ich-Verdoppelungen, Willensstörungen, und anderes mehr. Je mehr sich der Rausch seinem Intensitätsoptimum nähere, umso mehr rücke das ganze Erleben unter die Herrschaft von neuen, qualitativ abnormen Gefühlszuständen, die uns sonst fremd und unerlebbar blieben. Die veränderten Gefühlsgegebenheiten seien äußerst mannigfaltig; sie reichten von läppisch empfundener, aber unbekämpfbarer Euphorie, die alles in beziehungslose Albernheitsstimmung tauche, bis zu ekstatischen Entrücktheitszuständen voll unmittelbarer Erkenntnisse. – Nach solchen Ouvertüren kam Beringer dann zum Höhepunkt seiner Darstellung: »Aber nur auf Augenblicke scheint völlige Selbstentäußerung das rückhaltlose Schwimmen im Gefühlsstrom zu erlauben. Immer wieder schiebt sich ein Drang zur Selbstbeobachtung, zur Reflexion über den eigenen Seinszustand dazwischen. Ein objektiv registrierender Rest, der der Psychose nicht anheimfällt, ragt als letzte Verbindung aus dem Alltagsdenken in die Welt fremdartiger Erlebnisfernen. Als nicht hineingehörig wird er unangenehm, ja quälend empfunden, und dies gerade dann, wenn der Erlebnisbereich über das rational Faßbare hinaus sich in jene Sphären erstreckt, die sich einer Fassung in begrenzte Begriffe entziehen. Der irrationale Geltungsbereich metaphysischer Erkenntnisse scheint sich zu erschließen, dunkel Erahntes scheint unmittelbar vor durchlebter Klarheit zu stehen. In großen komplexen Begriffen oder Symbolen wird das Gefühl einzufangen versucht, wenn in der Selbstschilderung die Rede ist von expansiven Erlebnisqualitäten, von Ich-auflösender Unendlichkeitsbeziehung, vom Problem des Weltgeschehens, Erfüllung des kosmischen All, Hamlet- oder Nirvanastimmung.«20
Diese Erlebnisse würden von Gefühlen erhabener, ungeheurer Bedeutung für das Ich begleitet und behielten ihren Erlebniswert auch dann, wenn zeitlicher Abstand ruhige Stellungnahme erlaube. 1927 hat Beringer dann eine umfängliche Dokumentation21 seiner fortgesetzten Versuche, an der rund dreißig Personen, meist Kollegen, beteiligt waren, publiziert. Generell ließen sich zwei scheinbar entgegengesetzte Erlebnisweisen im Meskalinrausch herausheben, so Beringer nun in deutlich neutralerem Ton: auf
19 Hier gebraucht im landläufigen Sinn von abalienare. 20 K. Beringer: Psychosen, S. 429. 21 Beringer, Kurt: »Der Meskalinrausch«, in: Monographien Gesamtgebiet Neurologie und Psychiatrie, Nr. 49 (1927), S. 1-315.
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der einen Seite abnormes Abstandserleben zwischen Ich und dem, was im Bewusstsein vor sich gehe; und auf der anderen Seite abnormes Verschmelzungserleben bis zum Fallen der Subjekt/Objekt-Schranken.22 Für den ersteren Fall hielt er die Bezeichnung Ich-Spaltung für durchaus angemessen.23 Psychopathologische Phänomene, die oft als nicht weiter zurückführbar erschienen, seien aus der Sicht des Meskalinrauschs gleichsam im Entstehen zu beobachten, so Beringer. In schwer beschreibbarer Weise würden Vorstellungsinhalte Ausdehnung gewinnen.24 Dazu passten die von verschiedenen Versuchspersonen gleichermaßen hervorgehobenen, dynamischen Kuppel-, Gewölbe- und Trichtervisionen, die mehrfach mit stereoskopischen Effekten verglichen wurden. Beringers Dokumentation mit umfangreichen Selbstschilderungen seiner Versuchspersonen gab Anstoß für viele weitere Studien auf dem Gebiet drogeninduzierter Wahrnehmungen, unter anderen von Heinrich Klüver (1897–1979). Der 1923 in die USA ausgewanderte Klüver, der dort zu einer Autorität avancierte, hatte, nach seiner Studienzeit in Hamburg und Berlin auf den Untersuchungen und Experimenten Beringers aufbauend, 1928 die Eigenarten des Meskalin-Rausches noch systematischer zu fassen versucht.25 Zusammen mit einem zweiten Text26 ist diese Studie 1966 als schmales, aber gewichtiges Taschenbuch erschienen.27 Auch Klüver hat selbst Meskalin eingenommen, um andere Berichte beurteilen zu können. Auch bei ihm waren seltsame, gleichsam religiöse Gesichte die Folge, die er in seiner Schrift von 1928 sorgfältig protokolliert hat.28 Aus eigenen Erfahrungen und aus den Berichten anderer Forscher destillierte Klüver eine Grundpalette von Form-Konstanten heraus: eine Quadriga von Gitterwerk, Spinnweben, Tunnelblicken und Spiralen. Nicht nur verschiedene Drogen, sondern auch pathologische Zustände sah er als Auslöser solcher Formwahrnehmungen. In seiner Schrift von 1942 kamen dann auch kurze, aber grundlegende Betrachtungen über intersensorische Verhältnisse hinzu: Solche Phänomene als synästhetische Erfahrungen (experiences) beiseite zu schieben, würde
22 K. Beringer: Meskalinrausch, S. 69. 23 Ebd., S. 70. 24 Ebd., S. 76. 25 Klüver, Heinrich: Mescal: The ›Divine‹ Plant and Its Psychological Effects. London 1928. 26 Klüver, Heinrich: »Mechanisms of Hallucinations«, in: McNemar, Quinn/Merrill, Maud Amanda (Hg.): Studies in Personality, New York 1942, S. 175-207. 27 Klüver, Heinrich: Mescal and Mechanisms of Hallucinations, Chicago 1966 [1928]. 28 H. Klüver: Mescal, S. 17-18.
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nur den Mangel an präzisen Kenntnissen verdeutlichen.29 Zugleich hat Klüver gegen den klinischen Elementarismus Front gemacht: »There are also complex ›synesthesias‹ that are characterized by the fact that the thinking of an abstract concept (infinity, peace, sin, negation, etc.) invariably leads to seeing or imagining certain colors, figures, or lines or to some ›as if‹ experience of such colors, etc. The subject, for example, may have the experience of a ›horizontal, sharp, thin, square plate of white metal‹ when thinking about ›negation‹. We may say, therefore, that there are not only eigentliche and uneigentliche hallucinations but also eigentliche and uneigentliche forms of synesthesia.«30
Schon Beringer hatte 1927 einen besonderen Abschnitt seiner Dokumentation den künstlich ausgelösten Mitempfindungen gewidmet, die in unübersehbarer Fülle den Selbstschilderungen zu entnehmen waren.31 Die Erlebenswelt der Meskalinräusche war also geprägt von multimodalen Empfindungen, die sich zu Auflösungserscheinungen der Ich-Grenzen, NirvanaStimmungen und stereoskopischen Ausdehnungsgefühlen steigerten. Diese überwältigend synästhetische Einheit der drogenbeflügelten Sinne hat Grenzgänger wie Walter Benjamin geradezu magisch angezogen. Warburg kann ihr frühzeitig im Ursprungsland der Peyote-Religion begegnet sein; – hat sie ihn innerlich zurückschrecken lassen? * Rund drei Jahrzehnte nach seiner Amerikareise hat Warburg 1923, als Patient des Binswanger’schen Sanatoriums, die Symbolik indianischer Schlangentänze und deren Darstellungen mit ihm vertrauten kultischen Gestalten in der Alten Welt verglichen: mit Schlangengottheiten wie Asklepios, Serapis &c. Die magische Entsprechung der Schlangenfigur war in der Neuen Welt der regenverheißende Blitz; und so nahm Warburg die häufigen indianischen Zickzackornamente unter diesem Vorzeichen. Dass auch die Meskalin-Visionen der Peyote-Riten solche Motive in metamorphotischer Fülle lieferten, hat er, jedenfalls laut Textrekonstruktion des Vortrags, mit keinem Wort erwähnt, obwohl er von ihnen gehört haben muss. – War ihm die Evidenz vom Hörensagen zu vage, zu unwissenschaftlich? Oder wollte er angesichts seiner eigenen heiklen psychischen Situati-
29 H. Klüver: Mechanisms, S. 71. 30 Ebd., S. 94. 31 K. Beringer: Meskalinrausch, S. 61-66.
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on32 nur die harte, konvertierbare Währung der fixierten Symbole gelten lassen? Peyote-Visionäre erlebten, wie die Augenzeugenberichte belegen, intensive Verwachsungen und multimodale Vermengungen mit der Umwelt; mehr noch: klare Abgrenzungen von Ich und Außenwelt schienen aufgehoben. Die Hautnähe, ja Unabtrennbarkeit der unablässig sich verwandelnden Gesichte mag Warburg schon bei seiner Amerika-Reise bedrohlich erschienen sein. Gerade deshalb dürfte er in seinem Vortrag auch die neuen technischen Ferngefühl-Zerstörer sondergleichen – Telephon und lenkbares Luftschiff – als Mörder des rettungsverheißenden Andachts- und Denkraums verteufelt haben.33 Das Eintauchen in Subjekt/Objektgrenzen auflösende Auren, wie immer sie verursacht sein mochten, könnte ihm schließlich als Albtraum erschienen sein, dem er ein Leben lang durch distanzierendes, rationalisierendes Einfrieren der Symbole zu begegnen versuchte. Doch weder Warburgs Krankengeschichte noch seine publizierten Schriften liefern, soweit ich sehe, eindeutige Belege für solche Konjekturen. Die Vermutung, dass sein Verlangen nach Sicherheitsabstand angesichts der Überwältigungsmacht von Bildern etwas mit Drogenerfahrungen zu tun hatte – und sei es auch nur vom Hörensagen – ist also vorerst ein argumentum ex silentio. Aber es fügt sich wie ein Schlussstein in den größeren Kontext kunsthistorischer Überlegungen, die seinerzeit zwischen unaufhörlichem Wandel und symbolischer Prägnanz oszillierten. Als Kontrasthintergrund und doch verwandte Zeiterscheinung jener PeyoteVisionen, deren Ursprung Warburg in Amerika so nahe gekommen ist, bieten sich Alois Riegls Stilfragen, Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik an. Der Wiener Kunsthistoriker verfolgte in seiner 1893 publizierten Studie fünftausend Jahre fließender Ornamententwicklung vom Alten Orient bis zur Arabeske. Er untersuchte also materialisierte Metamorphosen, die auffällige Ähnlichkeiten mit den geometrischen Mustern von Meskalin-Gesichten aufwiesen. Riegl hatte vor seiner Universitätskarriere als Volontär in der Textilsammlung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie gearbeitet und dort die Probleme langfristiger Motiventwicklungen handgreiflich vor Augen gehabt. In seinen Studienstoffen war ihm gleichsam das doppelte Paradigma Herbartianischer Strukturauffassung, der ruhelose Wandel von Vorstellungsreihen, aufgegangen.
32 Binswanger, Ludwig/Warburg, Aby: La guarigione infinita. Storia clinica di Aby Warburg, a cura die Davide Stimilli, Vicenza 2005. 33 A. Warburg: Schlangenritual, S. 56.
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Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der 1809 auf den Lehrstuhl Kants in Königsberg berufen worden war, hatte 1824 in seiner Psychologie das folgenreiche Leitbild der Vorstellungsreihen entworfen: »Alle Vorstellungen im engern Sinne, das heisst, solche, die ein Bild sind von irgend einem, gleichviel ob wirklichen, oder scheinbaren, oder erdichteten Gegenstande, sind Gewebe von Reihen, die in einer schnellen Succession unmerklich fortfliessend, durchlaufen werden. Der Schwung durch die Partial-Vorstellungen lässt einen Gesammt-Eindruck zurück, der jeden Augenblick auf die geringste Veranlassung wieder in irgend eine innere Bewegung gerathen kann.«34
Dieses Konzept der Vorstellungsverläufe hat in den hitzigen Debatten des 19. Jahrhunderts um Form und Inhalt eine wichtige Rolle gespielt. Die fließenden Gewebe aus Vorstellungsreihen sowie deren flexible Kombinatorik waren himmelweit von den inhaltlich-aufgeladenen dialektischen Begriffswirbeln der Hegel-Schule entfernt, die bald heftige österreichische Aversionen hervorrief: Herbarts realistische Philosophie wurde um 1850 von Franz Serafin Exner (18021853) als erklärt anti-hegelianische k.k.-Staatslehre der Erkenntnistheorie und Pädagogik in der Donaumonarchie eingeführt. Es ist gut nachzuvollziehen, wie Herbarts konträre Ideen in der aufkommenden Sinnesphysiologie und anderen Wissenschaften aufgenommen wurden. Seine auch in mathematischen Formeln gefassten Ausführungen besagten, dass die Reihenbildung von Vorstellungen einen sehr starken Einfluss auf Hemmungen und Schwellen des Bewusstseins ausübt.35 Durch das Reihenmodell wurden die Leitlinien empirischer Seelenforschung weit übers 19. Jahrhundert hinaus geprägt. So hat zum Beispiel einer der Exner-Söhne, der hochrenommierte Wiener Hirnforscher Sigmund Exner(-Ewarten) (1846-1926), 1894 ein umfassendes Basiskonzept neuronaler Hemmungen und Bahnungen in der Hirnforschung etabliert und zum folgenreichen Entwurf psychischer Erregungen im Organe des Bewusstseins entfaltet: »Als dunkle Wahrnehmungen spielen sich in der [Hirn]Rinde Processe ab, deren Resultate dem Bewusstsein einverleibt werden, ohne dass die Factoren derselben nachträglich vom
34 Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster, synthetischer Theil. Königsberg 1824, Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung. §. 100, S. 349ff., speziell S. 362. 35 Ebd., S. 361.
116 | K ARL C LAUSBERG Bewusstsein noch erfasst werden können. Es ist gleichsam ein ausserhalb des Bewusstseins ablaufendes psychisches Leben, dessen Resultate in das Bewusstsein aufgenommen, die Rolle von Empfindungen spielen.«36
Zu den weitläufigen Folgen dieses Entwurfs zählt auch das Konzept der Aktualoder Mikrogenese, das von einem anderen Wiener Multitalent, dem Musikwissenschaftler und Psychologen Heinz Werner (1890-1964), der zeitweise Exners Assistent war, entwickelt worden ist.37 Werners Untersuchungen Über Mikromelodik und Mikroharmonik38, die als eines der Gründungsdokumente der Aktual- und Mikrogenese-Forschung39 figurieren, sind im Zusammenhang mit einer Reihe von Studien über Strukturgesetze seit 1923 am Hamburger Psychologischen Laboratorium entstanden. Das Untersuchungsspektrum reichte von geometrisch-optischen Täuschungen über Probleme motorischer Gestaltung und von Wortstrukturen bis zur Ausprägung von Tongestalten. In diesen Studien war im Prinzip auch das Konzept der Microgenesis dargelegt und deren Begriff vorbereitet, den Werner dann nach seiner Emigration in die englische Fachterminologie eingeführt hat.40 – Der zunächst wortwirksamere Erfinder der Aktualgenese, Friedrich Sander (1889-1971), konnte sich in seinen ersten einschlägigen Publikationen bereits auf Werners Studien berufen. In einer Schrift über Räumliche Rhythmik hat Sander 1926 zunächst seinen Vorgestalt-Begriff erläutert:
36 Exner, Sigmund: Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, Leipzig/Wien 1894, S. 69ff., Zitat S. 236. 37 Valsiner, Jaan (Hg.): Heinz Werner and Developmental Science, New York 2005. Bachmann, Talis: Microgenetic Approach to the Conscious Mind, Amsterdam 2000, mit interessanten forschungsgeschichtlichen Hintergrundinformationen. 38 Sander, Friedrich: »Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie«, aus: Bericht über den 10. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Bonn 1927, Jena 1928; repr. in: Sander, Friedrich/Volkelt, Hans: Ganzheitspsychologie. Grundlagen, Ergebnisse, Anwendungen. Gesammelte Abhandlungen, München 1962, S. 73-112, hier spez. S. 103; Werner, Heinz: »Über Mikromelodik und Mikroharmonik«, in: Zeitschrift für Psychologie 98 (1926), S. 74-89. 39 Graumann, Carl-Friedrich: »Aktualgenese. Die deskriptiven Grundlagen und theoretischen Wandlungen des aktualgenetischen Forschungsansatzes«, in: Zeitschrift für Experimentelle und Angewandet Psychologie 6 (1959), S. 409-448, spez. S. 411-412. 40 Werner, Heinz: »Microgenesis and Aphasia«, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 52 (1956), S. 347-353.
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»Unter Vorgestalterlebnis sei die oft scharf charakterisierte Erlebnisperiode verstanden, die der aktuellen Durchformung eines Komplexes, der Gestaltbildung, vorangeht. Diese Vorperiode ist ausgesprochen ganzheitlich und gefühlsstark. Die Bedeutung des Vorgestalterlebnisses wächst mit dem Gewicht der Gestalten, die sich in ihm zur Form drängen. Künstler, Dichter und Denker schildern den Gefühlsdrang und das ganzheitliche Ergriffensein in diesem schöpferischen Zustand. Unter gewissen Bedingungen ist es möglich, insbesondere im Optischen, der Genese der Gestalten in dem Vorgestalterlebnis in einzelnen Stufen, in Vorgestalten, nachzugehen. Diese Vorgestalten sind ungegliederter, ganzheitlicher wie die durchformten Endgestalten ohne deren Endgültigkeit, mit einem starken ›Drang zur Gestalt‹.«41
Der eigentliche Aktualgenese-Begriff, der noch in den 1950er Jahren Debatten zum kunsthistorischen non-finito auslöste, ist dann ein Jahr später in Druckfassung erschienen.42 Zwischenergebnis: Die Entwicklungsreihen der alt- bis neu-orientalischen Ornamentik unter Riegls kühl-formenanalytischem Blick waren das zeitgenössische Gegenstück zu den Meskalin-Visionen indianischer und dann europäischer Psychonauten, mit denen auch Aby Warburg auf seiner Amerikareise in Berührung gekommen sein dürfte. – Waren die ornamentalen Schlangenlinien und Schlangensymbole also nur intellektuell auseinandergelegte VorgestaltResultate, die auf einem gleichartigen Nährboden menschlicher Einbildung unterschiedlich sinnbefrachtetes Gepräge angenommen haben? * Warburgs Schlangenritual-Vortrag fiel in ein Jahrzehnt, in dem die Probleme momentaner Entstehung von inneren Bildern und äußeren Wahrnehmungen einen Höhepunkt erreichten; besonders in der Vaterstadt Warburgs, in Hamburg. In der Hansestadt hat sich auch der Vordenker des Warburg-Kreises, Ernst Cassirer, mit diesen Problemen auseinandergesetzt. Seine Philosophie der symbolischen Formen umkreiste die Antinomien von physischer Dauer und psychischem
41 Sander, Friedrich: »Räumliche Rhythmik«, in: Felix Krueger (Hrsg.): Neue Psychologische Studien, Band 1, München 1926, S. 123-158, speziell S. 127 Anm. 1. 42 Sander, Friedrich: »Über Gestaltqualitäten«, in: Bericht über den 8. Internationalen Kongress für Psychologie in Groningen 1926, Groningen 1927; repr. in: Sander Friedrich/Volkelt, Hans: Ganzheitspsychologie. Grundlagen, Ergebnisse, Anwendungen. Gesammelte Abhandlungen, München 1962, S. 70-71; Derselbe: Experimentelle Ergebnisse, S. 73-112, spez. S. 101.
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Gestaltwerden, von Prozessen und Resultaten geistiger Produktion. William Stern, Cassirers Pendant auf Seiten der Psychologie, war mit Publikationen über Psychische Präsenzzeit sowie zur Entwicklungspsychologie nach Hamburg gekommen und hatte Heinz Werner in das aufblühende Psychologische Institut geholt. Psychogenetische Rekapitulationslehren, denen zufolge wesentliche Entwicklungsschritte der Stammesgeschichte sich individuell wiederholen sollten, waren als theoretische Bezugs- und Reibungsflächen allgegenwärtig. Derartige Aspekte sind, wie Ulrich Raulffs umsichtiger Kommentar zum Warburg-Vortrag dargelegt hat, auch in der Kulturanthropologie und Ethno-graphie richtungweisend gewesen. Andererseits war Drogengebrauch zur momentanen Bewusstseinserweiterung salonfähig und forschungsrelevant geworden. – Umso mehr muss es verwundern, dass die wildesten transkulturellen Imaginationsblüten, die aus der Neuen Welt importierten Peyote-Visionen, kaum Spuren in Warburgs Erinnerungen hinterlassen haben. Verschiedene Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an: Der Chemiker und Drogenspezialist Daniel M. Perrine hat 2001 in seiner einfühlsamen Studie Visions of the Night. Western Medicine Meets Peyote 1887-189943 dargelegt, dass der Indianer-Freund Mooney Grund hatte, mit privaten Mitteilungen über seine Peyote-Erfahrungen zurückhaltend zu sein. Die Kakteendroge hatte von Anfang an im Verdacht gestanden, wie Alkohol als primitives Rauschmittel Verbreitung zu finden. Noch 1918 musste er bei einer Anhörung im Repräsentantenhaus einem Verbotsantrag entgegentreten, um den entheogenen Gebrauch innerhalb der Native American Church zu legitimieren. Ohnehin neigte Mooney dazu, die eigene Person aus ethnologischen Studien herauszuhalten. Es mag also sein, dass er Warburg gegenüber die besondere Rolle des Peyote-Kults heruntergespielt oder verschwiegen hat. – Aber Warburg war möglicherweise ohnehin nicht an den jüngsten Religionshybriden unter den entwurzelten Indianerstämmen interessiert, sondern wollte erklärtermaßen vor allem deren althergebrachtes Brauchtum kennenlernen. Dann wären auch deutlichere Hinweise Mooneys fruchtlos gewesen. Hat Warburg also nur im Sinn gehabt, was ihm aus europäischer Sicht vertraut war und vergleichbar erschien: die urtümliche Tradition der Schlangenmotive? – Endlich ist auch die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass Warburg die beunruhigenden Peyote-Visionsberichte so weit von sich weggeschoben hat, dass an ihre Stelle das Wetterleuchten regenverheißender Blitze – der Quellgrund der Schlangenrituale – treten konnte. Wie immer es sich zugetragen hat und was immer noch bei neuerlichen Recherchen zum Vorschein kommen mag; eine Besonderheit verdient schon vorab
43 D.M. Perrine: Visions. Siehe Anm. 6.
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festgehalten zu werden: die Asymmetrie des transkulturellen Austausches. Warburg konzentrierte sich aus vermeintlich historischer Ferne auf die archaischen Schlangen-Rituale der Pueblo-Indianer, in denen er eine Verwandtschaft altmediterraner Kulte vor Augen zu haben glaubte. Das war ein vergleichsweise engerer Fokus der Kulturanthropologie unter Ausblendung der Gegenwart, die in Grenzgängern wie Quanah Parker anzutreffen war. Im Gegenzug wurde die euro-amerikanische Szene, wie eingangs skizziert, von der mitreißenden Aura der Meskalin-Visionen überrollt. Walter Benjamin wurde zum deutschen Kronzeugen dieser Ergriffenheit; in seinen Drogenprotokollen ist die Faszination überliefert. – Damit lässt sich nun zusammenfassend, mit Blick auf ausdruckstheoretische Belange, eine polarisierende These anbringen: Warburgs kunsthistorisches Prägewerk der Pathosformeln beschäftigte sich in erster Linie mit der harten Währung leibhaftiger Bildsymbolik, während Benjamin eher die diffusen, schwerer dingfest zu machenden Topologien und Kraftfelder des auraerzeugenden Blicks im Sinn hatte. Diese beiden distinkten Aggregatzustände des Ausdruckshaften lassen sich besonders am Phänomen der Meskalin- und HaschischVisionen, an ihren Augenblicken der Erfahrbarkeit ermessen. Für Benjamin waren sie Gipfelpunkte der Wesensschau, für Warburg haben sie wohl jenseits eines vernunftbewahrenden Umgangs mit Bildern gelegen.44
S TERNE Es gab einen zweiten Anschauungsbereich, in dem Warburgs Vorliebe für festumrissene Forschungsgegenstände direkt fassbar wurde: die geometrischanthropomorphe Bilderwelt der Astronomie und Kosmologie. Im Reich der himmlischen Phantomgestalten war der Zwiespalt von diffusem Erscheinungsraum, minimalen Lichtpunktmarkierungen und vorgestellter Gestaltprägnanz besonders auffällig. Das überlieferte Illusionstheater der leibhaftigen Sternbilder hatte Warburg um 1908 für sich entdeckt und damit, wie Gombrich in einem gesonderten Kapitel seiner Warburg-Biographie45 bemerkte, ein neues Forschungsfeld, die Motivgeschichte der Himmelskunde für die Kunstwissenschaft eröffnet. In der gelehrten Untersuchung Sphaera des Philologen Franz Boll über griechi-
44 Ausführlicher dazu Clausberg, Karl: »Ausdruck und Aura. Synästhesien der Beseelung«, in: Ders./Bisanz, Elize/Weiller, Cornelius (Hg.): Ausdruck Ausstrahlung Aura. Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter, Bad Honnef 2007, S. 41-86. 45 E.H. Gombrich: Aby Warburg, S. 186-205.
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sche und arabische Sternbilder44 habe Warburg die entscheidenden Hinweise zur Entschlüsselung der Ferraresischen Schifanoia-Fresken gefunden, so Gombrich, und damit seinem Forscherleben eine neue Richtung gegeben.45 – Was aber hatte Warburg ursprünglich dazu gebracht, den spröden Stoff der Boll’schen Studien aufzugreifen und zu einem vielfach variierten Hauptanliegen seiner Kunstgeschichte des Ausdrucksvermögens zu machen? »Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen; wird dieser Zwischenraum das Substrat künstlicher Gestaltung, so sind die Vorbedingungen erfüllt, daß dieses Distanzbewußtsein zu einer sozialen Dauerfunktion werden kann, deren Zulänglichkeit oder Versagen als orientierendes geistiges Instrument eben das Schicksal der menschlichen Kultur bedeutet. Dem zwischen religiöser und mathematischer Weltanschauung schwankenden künstlerischen Menschen kommt das Gedächtnis sowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums in einer eigentümlichen Weise zur Hilfe: nicht ohne weiteres Denkraum schaffend, wohl aber an den Grenzpolen des psychischen Verhaltens die Tendenz zur ruhigen Schau oder orgiastischen Hingabe verstärkend.«46
Mit diesen programmatischen Sätzen hat Warburg schließlich 1929 die Einleitung zu seinem letzten, nicht mehr vollendeten Projekt des Mnemosyne-Atlas begonnen. Es war die wörtliche Quintessenz jahrzehntelangen Bemühens, das im Einleitungstext nur sporadisch, zuvor aber beharrlich bis zu den Sternen reichte. Ein Jahr zuvor hatte er mit der Planung einer Bilderreihenausstellung zur Geschichte und Psychologie der menschlichen Orientierung im Kosmos im Hamburger Stadtpark-Planetarium begonnen.47 Voraufgegangen war 1926 eine Bilderausstellung zur Astronomiegeschichte in den Räumen der kulturwissenschaftlichen Bibliothek anlässlich des Deutschen Orientalistentages. Davor lag die dunkle Periode der psychischen Erkrankung und des Aufenthalts im Binswanger’schen Sanatorium 1921-1924. Kurz zuvor hatte Warburg, in einer Studie über Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, bereits
44 Boll, Franz: Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, Leipzig 1903. 45 E.H. Gombrich: Aby Warburg, S. 191. 46 Warnke, Martin (Hg.): Aby Warburg. Der Bilderatlas Mnemosyne, Berlin 2008, Einleitung, S. 3. 47 Fleckner, Uwe/Galitz, Robert/Naber, Claudia/Nöldeke, Herwart (Hg.): Aby M. Warburg. Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, Hamburg 1993.
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seine Kernthesen zur seelischen Polarität formuliert: Sternkundige der Reformationszeit hätten die unvereinbar erscheinenden Gegenpole wie Umkehrpunkte weitschwingender urtümlicher Seelenverfassung durchmessen, mit »Logik, die den Denkraum – zwischen Mensch und Objekt – durch begrifflich sondernde Bezeichnung schafft und Magie, die eben diesen Denkraum durch abergläubisch zusammenziehende – ideelle oder praktische – Verknüpfung von Mensch und Objekt wieder zerstört [...].«48
Die Lutherzeit-Studie analysierte ein Stück zurückliegender Kultur; aber mit dem Mnemosyne-Atlas wollte Warburg die der Astrologiegeschichte entlehnte Polarität zur Allgemeingültigkeit erheben. Welche Gründe könnte er gehabt haben? Welche Auswahl von Gesichtspunkten hat er getroffen? Auf welche Art Raumvorstellungen hat er sich bei seiner Rede vom Denkraum bezogen? – Die 1675 von Ole Römer erschlossene Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts hatte enthüllt, dass der gestirnte Himmel ungeheure Tiefen der kosmischen Zeit sichtbar macht. Der teleskopische Blick war in unabsehbare Abgründe des intergalaktischen Weltenraums vorgedrungen. Bei möglicher Pluralität der Welten mutete die irdische Menschheitsgeschichte zunehmend marginal und gleichwohl bemerkenswert an. Ob nun als Randerscheinung oder Zentralereignis eines gigantischen Weltsystems genommen, das Prinzip kontinuierlicher Veränderung, das Werden und Vergehen wurden zu Leitfiguren eines kaum vorstellbaren Geschehens. Personen, Dinge und ihre Bilder sah man demgemäß als Zeugen von Vergänglichkeit; sie waren oder wurden laufend zu Bildern aus der Vergangenheit, aus denen sich – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Erinnerung und Gedächtnis zurückgewinnen ließen. Ihr Charakter schien schließlich im Eros der Ferne entrückt und zur Aura der Unantastbarkeit gesteigert.49 Diese Fortschritte der jüngeren Astronomie und ihnen nachfolgende Spekulationen über die Vergangenheit der Fernbilder können nicht spurlos an Warburg vorübergegangen sein. Wie immer es gewesen sein mag: Warburgs Wunschbild von Denkraum und Distanz scheint unauflöslich verflochten mit der subjektiven Geometrie und Geozentrik menschlicher Selbsterfahrung – so, wie sie im 19. Jahrhundert aus optisch-physiologischen, astronomischen und ästhetischen Spe-
48 Warburg, Aby: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1920, S. 5-6. 49 Clausberg, Karl: Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive. Was Einstein und Uexküll, Benjamin und das Kino der Astronomie des 19. Jahrhunderts verdanken, Berlin 2006.
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kulationen erwuchs und zum Selbstverständnis herangezogen werden konnte. Daher die Zielbestimmung seiner zum Observatorium50 erklärten Bibliothek: Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber.51 Doch nicht alle Eigenarten der modernen Astronomie und Kosmologie haben in Warburgs Bilderkundungen direkt Eingang gefunden. Er hat neben seinen historisch-ikonographischen Sternbilderstudien kaum auf aktuelle Aspekte, etwa den Formenreichtum galaktischer Wirbel, die Paradoxien der Lichtgeschwindigkeitsmessung oder gar Einsteins Relativitätstheorie Bezug genommen. Gleichwohl sind Warburgs Erörterungen nicht ohne solche Kontexte zu denken. In Warburgs Vorstellungswelt konnte sich Distanzschaffen als zivilisatorischer Grundakt zwar bis an die Grenzen kulturell etablierten Sehvermögens, bis zum Himmelsgewölbe mit seinen Sternbildern erstrecken. Im Gegenzug sollte aber der nahe Bewegungsraum für handgreiflich-mimisch-gestische Auseinandersetzungen zugänglich bleiben. Das lief im Hin und Her der kulturellen Entdämonisierungsprozesse auf zivilisatorische Zerreißproben hinaus. In der Tat hat Warburg selbst diesen Zwiespalt theoretisch wie privat als Ringkampf mit den Mächten des Unbewussten und Irrationalen durchlebt und auch verstanden. Seine persönliche Kreuzlinger Passion mit ihren leibhaftigen Bedrohungs-Halluzinationen52 und seine distanzierenden Begriffsprägungen benutzten die gleichen Bilder. Körperkontakte waren gefährlich, konnten zu Quellen der Berührungsangst werden und sich zur fingierten Ermordungsgefahr steigern. Alle Erfindungen, welche den mühsam errungenen Sicherheitsabstand, den Denkraum der Besonnenheit verringerten, würden zu verhängnisvollen Ferngefühl-Zerstörern, so Warburgs Verdikt am Ende des Schlangenritual-Vortrags, der 1923 seine Rückkehr in die Welt der distanzierenden Vernunft ankündigte: »Telegramm und Telephon zerstören den Kosmos; [...] elektrische Augenblicksverknüpfung mordet.«53 Als Angeklagte waren im Vortrag etwas pauschal [der Elektrizitätsforscher und Vater des Blitzableiters] Benjamin Franklin und die Gebrüder Wright als angebliche Erfinder des lenkbaren Luftschiffs genannt. – Als bildliche Entsprechungen zeigte dann sechs Jahre später das entstehende Tafelkonvolut des
50 Fleckner, Uwe: »... von kultischer Praktik zur mathematischen Kontemplation«, in: Bredekamp, Horst/Diers, Michael/Schoell-Glass, Charlotte (Hg.): Aby Warburg: Akten des internationalen Symposions, Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 329. 51 Warburg, Aby: »Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg«, in: ASW, S. 308. 52 L. Binswanger/A. Warburg: La guarigione infinita. 53 A. Warburg: Schlangenritual, S. 56.
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Mnemosyne-Atlas Aeroplane und Zeppeline. Doch die hatten offenbar in Warburgs Augen inzwischen eine dramatische Umwertung erfahren. * Abbildung 2: Tafel C aus Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas
Quelle: Warburg-Haus, Hamburg
Tafel C, immerhin dritte der programmatischen Atlas-Einführung, wartete mit einem zunächst seltsam anmutenden Bilderensemble auf: »Entwicklung der Marsvorstellung. Loslösung von der anthropomorphistischen Auffassung Bild – harmonikales Zeichen – Zeichen« lautete der Tafeltitel. Zu sehen waren Keplers Verschachtelung der elementar-geometrischen Umhüllungskörper der Planetenbahnen und die von ihm vermessene Marsbahn-Ellipse, dann eine Wiedergabe aller Planetenbahnen nach aktuellem Wissensstand sowie die Darstellung der Marskinder (Perseus &c) in einer Tübinger Kalender-Handschrift des 15. Jahrhunderts. Diesen planetarisch-mythologischen Bildern waren gleich drei Original-Zeitungsausschnitte von Presse-Bildberichten über das jüngste Luftschifffahrtereignis im August/September 1929 an die Seite gestellt. »Der ›Graf Zeppelin‹ über der japanischen Küste begegnet einem Flugzeug des Küstenwachdienstes. (Nach Zeitungsmeldungen gezeichnet von Hugo Huber)«; so die Beischrift der Münchener Illustrierten Presse zum linken Bild. Das mittlere Photo des
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Hamburger Fremdenblatts zeigte Graf Zeppelin in überwältigender Nah/Teilansicht beim Landen oder Aufsteigen. Und ganz rechts war in rahmensprengender Titelseitenaufmachung der Hamburger Illustrierten das Luftschiff in telegraphiertem Lichtbild über einem Wolkenkratzer New Yorks zu sehen.54 LZ 127 Graf Zeppelin, nach dem 1924 in die USA gelieferten ReparationsLuftschiff LZ 126 (USS Los Angeles) das zweite, nun mit Spendengeldern erbaute Friedrichshafener Nachkriegs-Luftschiff, hatte im August 1929 die erste Weltumrundung bewältigt. Die Fahrt war über den asiatischen Kontinent nach Japan gegangen und schließlich am Ausgangspunkt Lakehurst beendet worden. Für Hugo Eckener und seine Besatzung brachte diese Leistung einen Triumph sondergleichen. Das Erscheinen des Luftschiffs über den Wolkenkratzern von New York wurde zum Sinnbild friedlicher Moderne und internationaler Beziehungen.55 Dieser vor allem über die Printmedien verbreitete Enthusiasmus war der unmittelbare Anlass für Warburg, die Bildberichterstattung in drei Beispielen – zunächst noch in zeichnerischer Vergegenwärtigung und endlich in telegraphierter Photoreportage – in den programmatischen Vorspann seines entstehenden Mnemosyne-Atlas aufzunehmen.56 – Was aber hatten Luftschifffahrt und elektrotechnisch automatisierte Fernbildgebung mit dem erklärten Generalthema der Tafel C, mit der Entwicklung der Marsvorstellung und der Loslösung von der anthropomorphistischen Auffassung zu tun? Der Planet Mars war seit der vermeintlichen Entdeckung seiner Kanäle durch Giovanni Schiaparelli im Jahre 1877 zum Brennpunkt neu aufflammender Spekulationen über Nachbarn im Sonnensystem geworden. Zu eben jener Zeit, als H.G. Wells mit der Niederschrift seines Kriegs der Welten begann und Graf Zeppelin seine Luftschiffkonstruktion zum Patent anmeldete, also 1895, hatte auch Kurd Laßwitz seinen SF-Roman Auf zwei Planeten begonnen, in dem eine weiter fortgeschrittene Marskultur sich in irdische Politik einmischte.
54 Warnke, Martin (Hg.): Aby Warburg, S. 12. 55 Eckener, Hugo: Im Zeppelin über Länder und Meere: Erlebnisse und Erinnerungen, Flensburg 1949, S. 221-280. 56 E.H. Gombrich: Aby Warburg, S. 302; Bauerle, Dorothée: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene: ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, Münster 1988, S. 75 u. 142; Hensel, Thomas: »Kupferschlangen, unendliche Wellen und telegraphierte Bilder. Aby Warburg und das technische Bild«, in: Ders./Schüttpelz, Erhard (Hg.): Schlangenritual: der Transfer der Wissensformen vom Tsu'ti'kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag, Berlin 2007, S. 297-344; Esposito, Fernando: Mythische Moderne: Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011, S. 84ff.
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Abbildung 3: Daiber, Albert: Die Weltensegler. Drei Jahre auf dem Mars, Stuttgart 1910; Gail, Otto Willi: Der Schuß ins All, Breslau 1925; Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten, Leipzig o.J [~1900]; Intrus [Paul Oswald Koehler]: Passyrion über Deutschland. Beobachtungen und Kritiken eines Marsbewohners, Rostock 1905
Bildquellen: Archiv Clausberg
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Laßwitz, einer der schillerndsten Literaten der wilhelminischen Ära, beschrieb in seinem Roman auch Versuchsflüge eines von den Marsianern konstruierten Luftschiffs, das den ersten Zeppelin-Typen verblüffend ähnelte. Aber diese vorzeppelinische Zigarre zeigte Flugleistungen, die eher denen von heutigen Düsenjägern wenn nicht UFOs entsprachen. – So oder so: Der Planet Mars war von Anfang an in die Ideen- und Entwicklungsgeschichte der lenkbaren Luftschiffe verwickelt. Technische und/oder zivilisatorische Überlegenheit der hypothetischen Marsbewohner avancierte zum Grundmotiv und Stilmittel der Selbstbetrachtung. So verfasste 1905 der Sozialdemokrat Paul Oswald Koehler unter dem Marsianischen Pseudonym Passyrion einen detailliert-kritischen Bericht über Deutschland57, und 1910 ließ der Pharmakologe und Mediziner Dr. Albert Daiber sieben Tübinger Professoren von Stuttgart aus zu dreijährigem Marsaufenthalt aufbrechen.58 Ihr Raumfahrzeug war, offensichtlich nach dem Realvorbild des inzwischen zu Weltruhm aufgestiegenen Grafen Zeppelin, ein Starr-Luftschiff mit revolutionärer Gasfüllung, die zu interplanetarer Reise befähigte. Auch diese schwäbischen Weltensegler begegneten auf dem Mars einer höheren Zivilisation. Den realistischeren Übergang zur Raketenraumfahrt bot dann 1925 der Physiker Otto Willi Gail wiederum unter Zeppelin-Vorzeichen, indem er seinen Schuß ins All mit sanfter Anfangsbeschleunigung von Friedrichshafen am Bodensee aus starten ließ. Raketenflug ging durch alle Köpfe: Bereits 1923 hatte Hermann Oberth seine richtungweisende Studie Die Rakete zu den Planetenräumen veröffentlicht, 1924 folgte Der Vorstoß in den Weltenraum des Raketenpioniers Max Valier, 1928 publizierte Thea von Harbou ihren Roman Frau im Mond und am 15. Oktober 1929 hatte Fritz Langs UFA-Film Premiere. Doch die wissenschaftlich beflügelte Phantasie hatte schon wesentlich weiter ausgegriffen: In einem 1926 von Hans Dominik edierten Sammelband über Welten Werke Wunder waren die relativistischen Effekte einer interstellaren Rundreise mit nahezu Lichtgeschwindigkeit beschrieben und in zwei Abbildungen erläutert: Man sah zunächst den Kommandanten eines Sternenschiffs von seinen jugendlichen Geschwistern Abschied nehmen – und dann dieselben zu Greisen gealtert wieder begrüßen, während er selbst wegen der Zeitdehnung nur wenige Flugtage durchlebt hatte.59
57 Intrus [Paul Oswald Koehler ]: Passyrion über Deutschland. Beobachtungen und Kritiken eines Marsbewohners, Rostock 1905. 58 Daiber, Albert: Die Weltensegler. Drei Jahre auf dem Mars, Stuttgart 1910. 59 Dominik, Hans (Hg.): Welten Werke Wunder. Ein Buch des Wissens für das deutsche Haus, Berlin 1926, S. 511-512.
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Abbildung 4: Sternreise und Rückkehr, in Dominik, Hans: Welten Werke Wunder, Berlin 1926 Angesichts derart weitreichender Folgen der Einstein’schen Relativitätstheorie, die popularisiert die Runde machten, mag Warburg sinnbildliche Durchquerungen von nachbarlichen Planetensphären mit verbesserten Luftfahrzeugen als naheliegend empfunden haben; und das galt umso mehr für die besondere Beziehung zum roten Planeten. Denn die Marsbahn schloss, wie durch Keplers Vermessung gezeigt, diejenige der Erde unmittelbar in sich ein – so, wie das Luftschiff Graf Zeppelin soeben den Heimatplaneten umrundet hatte. Das neue Wahrzeichen deutscher Ingenieurkunst, dessen populärer Lenker Eckener sich so hartnäckig von den Bestrebungen der Nationalsozialisten fernhielt, muss Warburg wie ein künstliches Sternbild erschienen sein, das als nunmehr friedfertiges Mars-Geschöpf am Himmel kreisend zukünftige Besserung und Versöhnung mit der schrecklichen Weltkriegsperiode verhieß. Der Ferngefühlzerstörer des Schlangenritual-Vortrags hatte sich demnach zum Hoffnungsträger gewandelt. So lässt sich jedenfalls die merkwürdige Bilderkonstellation der C-Tafel des Mnemosyne-Atlas mit zeitgenössischen Weltraumperspektiven in Verbindung bringen. * Warburgs Tod am 26. Oktober 1929 hat der weiteren Entfaltung dieser mutmaßlichen Bildgedankenflüge ein abruptes Ende gesetzt. Deshalb ist es verlockend, wenn auch riskant, mögliche Verlängerungen und Ausblicke ins Auge zu fassen:
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Wenn Warburg das Luftschiff Graf Zeppelin nach dessen Erdumkreisung tatsächlich als neuartiges Sternbild empfand, dann hätte dieses Menschengebilde auch in die von Kepler konstruierten Planetenräume oder Himmelskuppelbilder versetzt werden können. Die Bildzusammenstellung in der C-Tafel schien diese Denkrichtung vorzuzeichnen. Doch solch gedankliche Mars-Mission hätte ein Durchbrechen der alten konzentrischen Sphärenordnung bedeutet, die in der BTafel des Mnemosyne-Atlas, beginnend mit der imposanten Mikro/Makrokosmos-Figur aus der Luccheser Bilderhandschrift der Hildegard von Bingen, vorangestellt war. Hätte Warburg nicht früher oder später versucht sein müssen, die Darstellung eines nachfolgenden Ausbruchs einzubeziehen? Abbildung 5: Mikro/Makrokosmos-Figur
Quelle: Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum. Lucca, Bibl. Gov. 1942, ~1230, 2. Vision, Photo Clausberg, copyright Bibliothek
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In populärwissenschaftlichen Büchern war ein solches Bild gerade aufgetaucht, das angeblich den Wandel der spätmittelalterlich/frühneuzeitlichen Weltanschauung zeigte (Abb. 6). Der Sphärengucker am Weltrand galt bis in die 1950er Jahre als Werk des beginnenden 16. Jahrhunderts. Warburg dürfte diesen Exzentriker gekannt haben; und damit stellt sich die Frage, warum er ihn nicht sofort in den Programmvorspann seines Bilder-Atlas aufgenommen hat. Abbildung 6: Flammarion-Stich, erste Reproduktion
Quelle: Kraemer, Hans: Weltall und Menschheit, Bd. III, Berlin o.J., S. 45.
Der Holzstich, den der französische Astronom, Ballonfahrer und Spiritist Camille Flammarion 1888 in seinem Buch L’Atmosphere: Météorologie Populaire publiziert hatte, war 1906/07 vom angesehenen Direktor der Berliner Sternwarte, Prof. Wilhelm Foerster, in einem kulturhistorischen Überblick Zur Geschichte der Erforschung des Weltalls in Umlauf gebracht worden.60 1910 ließ Bruno H.
60 Kraemer, Hans: Weltall und Menschheit, Bd. III, Berlin o.J., S. 45; Ausführlicher dazu: Clausberg, Karl: »Am Weltrand durchs Himmelsgewölbe. Camille Flammarions Kartographie der Selbstfindung«, in: Günzel, Stephan/Novak, Lars: Karten-
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Bürgel, der rührige Ex-Mitarbeiter der Berliner Urania, diese Vorlage in seiner vielfach aufgelegten Himmelskunde Aus fernen Welten auf der dritten Seite reproduzieren.61 Noch demonstrativer geriet 1924 die Platzierung des Stichs in Max Valiers gemeinverständlicher Einführung in die Himmelskunde Der Sterne Bahn und Wesen62; dort war die Darstellung gleich auf der ersten Textseite zu finden. Auch im Sammelband Hans Dominiks63 von 1926 diente der Stich als Aufmacher einer Abhandlung zur Größe der Welt innerhalb der umfänglichen Astronomie-Abteilung, die in der schon zitierten relativistischen Zeitreise gipfelte. Andererseits war im selben Jahr auch eine reich bebilderte Geschichte des astrologischen Gedankens in der deutschen Vergangenheit von Heinz Artur Strauß erschienen; auch in diesem mit vielen neuen Original-Reproduktionen ausgestatteten Buch war der Stich an prominenter vierter Stelle wiedergegeben; als Weltbild nach Cusanischer Vorstellung, ca. 1520-30.64 Diese Legende hat dann auch Günther Müller 1927 im Handbuch der Literaturwissenschaft übernommen; mit dem Zusatz: »Der Mensch dringt durch den Erdenhimmel in neue Welträume durch.«65 – Fazit: Es erscheint extrem unwahrscheinlich, dass Warburg bei seinem ausgeprägten Spürsinn für astronomisch/astrologische Themen und Publikationen all diese Stich-Reproduktionen samt ihrer argumentativen Einbettungen übersehen haben sollte. Welche Gründe könnte Warburg gehabt haben, den Flammarion-Holzstich zu ignorieren? – Foersters einzige Quellenangabe »Mittelalterliche phantastische Darstellung des Weltsystems. Nach Flammarions ›Astronomie‹ « war falsch und ließ sich nicht weiter zurückverfolgen. Zudem könnte der Stich auch ohne seinen verspielten Zierrahmen, der erst in den 1960er Jahren mit dem exakten Flamma-
Wissen. Territorial Räume zwischen Bild und Diagramm, Wiesbaden 2012, S. 217243, sowie Farbtafeln 20-22. 61 Bürgel, Bruno H.: Aus fernen Welten – Eine volkstümliche Himmelskunde, Berlin/Wien 1910, S. 3. 62 Valier, Max: Der Sterne Bahn und Wesen. Gemeinverständliche Einführung in die Himmelskunde, Leipzig 1924, S. 5. 63 H. Dominik: Welten Werke Wunder, S. 504. 64 Strauß, Heinz Artur: Der astrologische Gedanken in der deutschen Vergangenheit, München/Berlin 1926, S. 15. 65 Müller, Günther: Die deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock – Handbuch der Literaturwissenschaft, Wildpark-Potsdam 1927, S. 175 Abb. 125.
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rion-Buchtitel von Bruno Weber66 bekannt gemacht wurde, den Sachkundigen der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek verdächtig märchenhaft erschienen sein. Allerdings ist noch vom späten Panofsky die Ansicht überliefert, der Stich entstamme dem 17. Jahrhundert, und andere Experten waren zur gleichen Zeit immer noch von der Frühdatierung ins 16. Jahrhundert überzeugt.67 – War es also ein sechster Sinn fürs Nicht-Authentische, der das Auftauchen von Flammarions Mittelaltermissionar am Weltrand im Mnemosyne-Atlas zunächst verhindert hat? – Ich glaube, dass andere Gründe verantwortlich waren. * Warburgs mutmaßliche Vorbehalte sind vielleicht etwas besser zu erahnen, wenn man die Ansichten seines Hamburger Universitätskollegen Jakob von Uexküll (1864-1944) zum Vergleich heranzieht. Der Begründer der theoretischen Biologie hat 1936 sein lebenslang entwickeltes Weltanschauungsmodell so beschrieben: »Jeder Mensch, der in der freien Natur um sich schaut, befindet sich in der Mitte eines runden Eilandes, das von der blauen Himmelskuppel überdacht ist. Das ist die ihm zugewiesene anschauliche Welt, die alles für ihn Sichtbare enthält. Und dieses Sichtbare ist entsprechend der Bedeutung, die es für sein Leben hat, angeordnet. Alles, was nah ist und unmittelbar auf den Menschen einwirken kann, steht in voller Größe da; das Ferne und daher Ungefährlichere ist klein. [...] Die Nähe ist durch einen immer dichter werdenden Schutzwall der Sinne ausgezeichnet. Tastsinn, Geruchssinn, Gehörsinn und Sehsinn umgeben den Menschen wie vier Hüllen eines nach außen hin immer dünner werdenden Gewandes. Diese Sinnesinsel, die jeden Menschen wie ein Gewand umgibt, nennen wir seine Umwelt.«68
Uexkülls Umwelt-Sinnesinsel kam also wie der Flammarion-Stich mit der Illusion der Himmelskuppel als größtmöglichem Bühnenbild des Selbstbewusstseins daher. Doch sie beruhte auf einer merklich anderen Grundeinstellung, die an Warburgs Distanzbewusstsein denken lässt. Fernes sei ungefährlich, so Uexküll, Nahes jedoch treffe auf einen Schutzwall der Sinne, der sich gleichsam aus un-
66 Weber, Bruno: »Ubi caelum terrae se conjungit. Ein altertümlicher Aufriß des Weltgebäudes von Camille Flammarion«, in: Gutenberg Jahrbuch 1973, S. 381-408. 67 Ebd., S. 403. 68 Uexküll, Jakob von: Niegeschaute Welten. Die Umwelten meiner Freunde. Berlin 1936, S. 11-13.
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terschiedlich dichten Gewandhüllen zusammensetze. – Dieses merkwürdig defensive Bild hatte tiefergehende Tradition: Max Dessoir (1867-1947) hatte bereits in einer frühen Schrift über Das Doppel-Ich »Zwiebel-Theorien der Seelenstruktur« kurz in Erwägung gezogen.69 Ausführlicher erläuterte Ableger sind dann bei Freud70 und schließlich im Haut-Ich des französischen Psychoanalytikers Didier Anzieu (1923–1999)71 aufgetaucht. Derartige Schalen-Modelle hatte aber auch schon einer der Wegbereiter der Sinnesphysiologie, Karl Friedrich Burdach (1776–1847), erörtert: »Denn wir sind einer Zwiebel zu vergleichen, bestehend aus vielfach geschichteten Hüllen, deren jede an Bedeutung abnimmt, je weiter sie nach außen gelagert ist, und im Gegentheile um so wesentlicher wird, je näher sie dem eigentlichen lebendigen Keime liegt, welcher im gemeinsamen Mittelpuncte aller Hüllen waltet und zu einem neuen Gewächse sich zu entwickeln bestimmt ist.«72
Unseren Leib könnten wir, so Burdach nach solchen Prämissen weiter, nur der Zwiebelschale gleich stellen. »Denn wir wechseln ihn ja wie unsre Kleidung, nur nicht wie diese zu einzelnen Zeiten und dann mit einem Male ganz, sondern fortwährend und in unendlich kleinen Theilen [...].« Das meinte, ganz am Rande, sowohl den laufenden Stoffwechsel vorübergehend eingenommener Nahrungsmittel als auch den unmerklichen Austausch aller Körpersubstanzen. Zentral war für Burdach das innere geistige Wesen; es umfasse selbst wieder mannigfaltige Kreise, »welche sich zu einander verhalten wie Kern und Hülle. Alle sind sie unsrer Beachtung werth, nur nicht im gleichen Grade: die Hülle ist nicht bedeutungslos, sondern Bedingung für die Entwicklung des Kerns [...].«73 Von Burdachs vielschichtigem Zwiebel-Modell aus, das bei Uexküll zur himmelüberkuppelten Umwelt-Sinnesinsel erweitert erschien, lassen sich nun topologische Thesen und Fragen zu Warburgs Distanzbewusstsein formulieren: Warburgs Einstellung war wohl nicht auf jenes plane Projektionsverfahren zu
69 Dessoir, Max: Das Doppel-Ich, Leipzig 1890, S. 26; zweite, vermehrte Auflage Leipzig 1896, S. 32. 70 Freud, Sigmund: »Das Ich und das Es« [1923], in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 246. 71 Anzieu, Didier: Le Moi-peau, Paris 1985; deutsch: Das Haut-Ich; übersetzt von Meinhard Korte und Marie Hélène Lebourdais-Weiss, Frankfurt/Main 1991. 72 Burdach, Karl Friedrich: Blicke ins Leben, 2. Band, Leipzig 1842; Die persönliche Einheit, S. 215ff., spez. S. 229. 73 K.F. Burdach: Blicke, S. 230.
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reduzieren, das Panofsky in der Renaissance-Konstruktion der Perspektive als symbolische Form vorsah und als Strategie zur Vernunftbewahrung in bedrohlicher Gegenwart empfahl.74 Ihr zufolge ließen sich Blickpunkte, das heißt Betrachterstandorte, dank isotroper Geometrie des Systemraums beliebig verschieben. Aber gab es auch auf der sphärisch-konzentrischen Sinnesinsel in BurdachUexküllscher Sicht einen Zuschauerraum mit Notausgängen fürs schnelle Verlassen der Theatervorstellung? – Hier kommt ein Begriffsgebilde in Sichtweite, das in direkter Anlehnung an Uexküll geprägt wurde und seinerseits gedankliche Nähe zu Warburgs Abstandsbedürfnis suggeriert: Fluchtdistanz. Dieser in der biologischen Verhaltensforschung eingebürgerte Begriff benennt die artspezifisch-unterschiedliche geringste Entfernung, in der Flucht noch möglich oder sinnvoll erscheint.75 Flucht vor wem oder vor welchen Dingen? muss folglich die nächste Frage lauten, und damit begibt man sich in einen Übergangsbereich, den Kunstgeschichte und Bildwissenschaft anschaulich charakterisieren können: Angesichts klar umrissener, in ihrer Größe einschätzbarer Gegner mag die Entscheidung leicht fallen, zu bleiben oder das Weite zu suchen; aber welche Bewegungsmöglichkeiten gibt es, wenn Bedrohung keine Gestalt annimmt? Am Ende sogar die Flucht nach vorn? Zur selben Zeit, als Warburg kollektiv-kulturelle Pendelbewegungen zwischen Distanzgewinn und Distanzverlust zu erfassen versuchte, hat Ludwig Klages (1872-1956) ein vergleichbar raumgreifendes, aber umgekehrt gepoltes, individuelles Gebaren definiert: Körperaktionen ohne Zielobjekte würden zu Ausdrucksbewegungen76 (Begeisterte fahren aus sich heraus; Deprimierte sinken in sich zusammen). Schon 1905 hatte er das Zielrichtungskriterium seiner Ausdruckslehre auf eine knappe Formel gebracht: »Der Willensakt hat jederzeit ein singuläres, der Affekt ein generelles Ziel. Die Ausdrucksbewegung ist ein Gleichnis der Handlung.«77 Eine flankierende These aus der jungen Neurowis-
74 Clausberg, Karl: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien 1999, Kapitel 5. 75 Hediger, Heini: Beobachtungen zur Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus, Stuttgart 1954, S. 125-126. 76 Klages, Ludwig: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921, S. 43ff., spez. S. 49. 77 Klages, Ludwig: »Das Grundgesetz des Bewegungsausdrucks« [1905], in: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde/Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1926, S. 135-150, Zitat S. 148.
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senschaft78 war schon zwei Jahre zuvor in seinen Schriften zu finden. »Die Lebhaftigkeit, mit der ein Vorgang des Strebens in unserm Bewußtsein zur Wirkung kommt, ist stets das Ergebnis aus zwei Größen: einem Antrieb und einer Hemmung.«79 – Sollte man demnach auch bei Warburg mit derartigen Überwindungen, nämlich mit stellvertretender Verbildlichung von zielgerichteten Aktionen und richtungsloser Ausdrucksbewegtheit rechnen? Mit dieser Frage können wir jedenfalls versuchen, ein vorläufiges Résumé zu ziehen.
R ÉSUMÉ 1904 hatte der Biologe Richard Semon (1859-1918), Ewald Herings berühmte Rede Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie80 aufnehmend, noch einmal versucht, dessen Konzept funktioneller epigenetischer Anpassungen sowohl für die Vererbung wie auch fürs Gedächtnis mit einem gemeinsamen Prinzip zu untermauern. Als Leitbild wählte Semon μ (eine der drei mythischen Töchter der Mnemosyne), das Bedenken des Voraufgegangenen. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, so der Buchtitel, sollte mit ihren Funktionen der Engramme und deren Reproduzierbarkeit (Ekphorie) unter gleichartigen Bedingungen als universale Gedächtnisform erkennbar werden. – In Biologenkreisen wurden diese Thesen einer möglichen Funktionseinheit von Vererbung und Gedächtnis kaum noch ernst genommen; man sprach von allenfalls entfernten Analogien. Umso intensiver war die Aneignung unter Geisteswissenschaftlern. Reaktivierung von Gedächtniseintragungen im Sinne Semons hat in Warburgs Mnemosyne-Projekt intensive Spuren hinterlassen. – Gleichwohl war der Atlas nicht exklusiver Niederschlag der Semon’schen Engramm-Theorie, und ebenso wenig sollte man die Bilderauswahl sowie die vorausgegangenen Studien und Projekte Warburgs ausschließlich oder vornehmlich durch dessen eigene Theoriebrille betrachten. Am deutlichsten verraten sich, so glaube ich, Überschüsse und Abweichungen in der Atlas-Tafel C. Während Warburgs Einleitungstext noch geradezu be-
78 Exner, Sigmund: Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, S. 69ff. 79 Klages, Ludwig: »Zur Theorie des Schreibdrucks« [1902–1903], in: Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde/Gesammelte Abhandlungen, Heidelberg 1926, S. 69. 80 Hering, Ewald: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. In: Fünf Reden von Ewand Hering, hrsg. von H.E. Hering. Leipzig 1921, S. 5-31.
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schwörend die Rückgewinnung antiker Pathosformeln als historische Aufgabe der Kunst rekapitulierte, signalisierte der dreifache Pressebildbericht über die Erdumkreisung des Zeppelin-Luftschiffs einen Neuansatz: Das künstliche Sternzeichen am Himmel sollte laut Tafelbeischrift die Loslösung von altmodischmenschlicher Bildbezüglichkeit demonstrieren – gleichsam in invertierter Parallele zur gerade anlaufenden Aktualgenese-Forschung, die momentanes Zustandekommen von Wahrnehmungsphänomenen untersuchte. Analog zu Magrittes Sprachbildern der zwanziger Jahre hätte man den abgebildeten Flugkörper als vorgestalthaftes Objekt auffassen und wie der belgische Surrealist als apparition, so der Titel eines seiner Gemälde von 1929 (Abb. 7), klassifizieren können. Magritte präsentierte übrigens unter seinen verpuppten Bildformen so substantiell gegensätzliche Sachen wie nuage und horizon, denen er eine ausgereifte Rückenfigur entgegenschreiten ließ – so, als hätte er zugleich Uexkülls Sinnesinsel und Warburgs Direktive zur Loslösung vom Anthropomorphismus bildlich ironisieren wollen. Abbildung 7: René Magritte, L’Apparition, 1929, Stuttgart, Staatsgalerie
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Als bildanschaulich noch unfertige Gestalt konnte der zum Hoffnungsträger umgewandelte Ferngefühlzerstörer Zeppelin jedenfalls ein vielfältiges Spektrum von Zukunftsmöglichkeiten andeuten, deren Erkundung angesichts einer ungewissen Gegenwart im Jahre 1929 – kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise – umso dringlicher erscheinen musste. Zudem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in der Einbeziehung solcher Raumfahrtbilder mit befriedeter Mars-Beziehung auch schon die Auslotung von Fluchtdistanzen eingesetzt hat; wohlbemerkt noch ziellos und halbbewusst, eher als Ausdrucksverhalten denn als Willensakt. Aber die gefährdete Insellage der Bildräumlichkeiten ist in
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der provisorischen Objektbildung des Rettungsballons förmlich zu greifen. Wohl auch deshalb hat Warburg dem richtungs- und auswegslosen Panorama der Himmelskuppel-Illusion die platonische Raumkörperschachtelung Keplers entgegengesetzt; so, als könnte sie in ihrer distanzierten Außenansicht die Rolle eines rational gestaffelten Schutzwalls übernehmen und wie Burdachs Zwiebel den Kern durch die Umhüllungen kenntlich machen. Flammarions exzentrischer Sphärengucker dagegen dürfte Warburg distanzlos-affektgetrieben, die ganze Szene absurd und widersinnig, als abergläubisch zusammenziehend erschienen sein. Obendrein war die althergebrachte Himmelskuppel-Illusion längst als hartnäckige Sinnestäuschung entlarvt.81 – Fazit: Die alternative Denkraum-Collage im Bilderatlas könnte von Warburg als regelrechte Abwehrmaßnahme gegen Unbegreifliches eingesetzt worden sein. So ergibt sich schließlich ein ähnliches Bild wie bei der mutmaßlichen Verdinglichung der Meskalin-Visionen zu Schlangensymbolen. Was Warburg als gestaltlos naherückend und bedrohlich empfand, wollte er durch Objektbildungen auf Abstand gebracht sehen. Insofern zeigen sich Übereinstimmungen sowohl mit Uexkülls Schutzwall der Sinne wie auch mit Klages’ pulsierenden Affekt- und Handlungsräumen. Doch im Unterschied zu solch stationären Lehren der Befindlichkeit und des Ausdrucksverhaltens war zumindest in den Einleitungstafeln des Mnemosyne-Atlas der Charakter des Transitorisch-Provisorischen überdeutlich. – Man kann noch weiteren Gedankenflügen nachhängen und erwägen, welche Richtung Warburgs offensichtlicher Zwiespalt zwischen kultureller Bilderkontinuität und zeichenhaften Verwandlungen hätte nehmen können, wenn ihm mehr Lebenszeit geblieben wäre. Aus der historischen Wirklichkeit lassen sich hier nur einige Folgeformen der Einschließung kurz in Erinnerung rufen, deren Schrecken und Zirkelschlüsse Warburg frühzeitig geahnt haben mag. In dieser Traditionslinie wird man wohl keine beklemmendere Schilderung einer kollektiven, phobisch-aggressiven Einschließung finden als Gombrichs scharfsichtige Analyse der deutschen Wehrmachtsberichte, die er als BBCMonitor während des Zweiten Weltkriegs abzuhören hatte.82 Die paranoische Umkehrung von Gräuelvorwürfen führte in ein geschlossenes Universum von Illusionen, die zur Realität wurden, so Gombrich: »for if you fight everybody, everybody will fight you, and the less mercy you show, the more you commit your side to a fight to the finish. When you have been caught in this truly vicious
81 Filehne, Wilhelm: »Die Form des Himmelsgewölbes«, in: Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie, Band 59 (1894), S. 279-308. 82 Gombrich, Ernst Hans: »Myth and Reality in German Wartime Broadcasts«, in: Ideals and Idols, Oxford 1979, S. 93-111.
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circle there really is no escape.«83 – In solchem Endkampf gegen Feinde ringsum fielen Geographie und psychische Einkapselung zusammen. Die Sinnesinsel der Umwelt war zum Gefängnis der eigenen Wahnvorstellungen geworden. Am Schluss liegt es nahe, an die Zeit des Kalten Kriegs vor dem Mauerfall und an die west/östlichen Bildmetaphern deutsch-deutscher Befindlichkeiten zu erinnern: Zitadelle und Panorama schienen sich vor zwei Jahrzehnten als heimliche oder öffentliche Leitbilder staatlicher Verfasstheit herauszuschälen.84 Das 1989 gerade noch rechtzeitig vollendete Bauernkriegs-Riesengemälde Werner Tübkes in der Rotunde von Frankenhausen und die westliche Festungsmentalität, vertreten durch Ronald Reagan und seine Redensarten, boten damals Anlass zum Systemvergleich und zur Konfrontation mit neuen Schreckensperspektiven. Die Warnungen des Club of Rome vor multiplen globalen Erschöpfungszuständen der menschlichen Zivilisation fielen zusammen mit der Entdeckung neuer astronomischer Angstobjekte am Himmel: schwarzen Löchern, in denen Raum und Zeit verschwinden. Es bleibt der Spekulation überlassen, sich auszumalen, wie Warburg auf derartige Einschüchterungen reagiert hätte. Gewiss ist, dass er schon zu seiner Zeit nicht nur den mnemotechnischen Fortbestand der Kultur, sondern auch deren besorgniserregende Veränderungen zu begreifen versuchte. Die Vermenschlichung des fremdartigen Kosmos in leibhaftigen und dann künstlichen Sternbildern lieferte die Ausgangspunkte und Projektionen. Warburgs besonderes Verfahren scheint darin bestanden zu haben, das eigentlich Bedrohliche auszublenden und gleichsam als Negativ zu benutzen. So ist wohl sein vollständiges Außerachtlassen des amerikanischen Meskalin-Kults zugunsten handfester Schlangensymbolik zu verstehen. Auch sein Umgehen der Kontaktschwelle zwischen Affektraum und Denkraum der Kosmologie, die im Flammarion-Stich als eklatant-paradoxe Durchbrechung der Himmelskuppel in die Augen fällt, deutet in diese Richtung. Stattdessen hat Warburg das Luftschiff Graf Zeppelin sinnbildlich als planetarischen Sphärenspringer und Friedensbringer, als gewandelte ingenieurwissenschaftliche Verkörperung des Distanzbewusstseins eingesetzt. Doch das hat sich wohl kaum aus bloßer Begeisterung für die neuartigen technischen Bilder, sondern als Projektion seines Rationalisierungsdrangs ergeben.
83 Ebd., S. 108-109. 84 Clausberg, Karl: »West-östliche Bildmetaphern: Zitadelle und Panorama«, in: Nach der Postmoderne. Ein Zeitmitschrift-Buch mit philosophischen Texten zur Gegenwart, hrg. von Andreas Steffens unter Mitwirkung von Christine Pries und Wilhelm Schmid, Düsseldorf/Bensheim 1992, S. 143-176.
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Diese Schlussfolgerungen kommen nicht wie die Meskalin-Geschichte als argumentum ex silentio daher. Die radikale Umwertung des Zeppelin-Luftschiffs ist direkt am Mnemosyne-Atlas abzulesen und wird durch Begleitumstände gestützt. – Anders ist es um Uexkülls Umwelt-Sinnesinsel bestellt. Sie scheint wie ihr bildlicher Vorläufer von Warburg ignoriert worden zu sein. Ob sein vielsagendes Übersehen des Flammarion’schen Sphärenguckers einschließlich der nachfolgenden philosophiehistorischen Einkleidungen ein Argument aus dem verbalen Schweigen bleiben muss, wäre noch durch weitere Schriftenrecherche zu überprüfen. Doch die methodische Rolle solcher Negative ist schon jetzt evident: An der ausgeblendeten Sphäre des Meskalin-Rauschs wie auch am beiseitegelassenen Maximalbühnenbild des Selbstbewusstseins – der trügerischen Wahrnehmungsillusion des Himmelsgewölbes – lassen sich die unsichtbaren Antriebe der Warburgschen Gedankenflüge ermessen. – Vielleicht hätte Warburg an jenem Gemälde Gefallen gefunden, in dem Magritte 1960 die Bühne des irdischen Luftraumpanoramas wie einen Theatervorhang von außen öffnete. Diesem Rückblick aus einem intellektuellen Jenseits hat der Belgische Bilderdenker den sonderbaren Titel Memoiren eines Heiligen gegeben. Abbildung 8: René Magritte, Les Mémoires d'un saint, 1960, Houston, The Menil Collection
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P ERSPEKTIVEN
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Wie würde eine Gesellschaft aussehen, die alles erinnert? Man könnte sich gut vorstellen, dass sie unter der Last ihres eigenen Geschichtsbewusstseins völlig implodiert. In seinem Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat Friedrich Nietzsche schon darauf hingewiesen, dass ein Übermaß an historischer Orientierung möglicherweise leicht zu einem Verlust an Kreativität und Lebenskraft führe.1 Es würde sogar die Frage naheliegen, ob eine solche geschichtsorientierte Gesellschaft mit ihrem universellen Wissen etwas anfangen könnte. Jorge Luis Borges beschreibt in seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel eine Bibliothek mit einer endlosen Reihe verbundener Räume, die alle Bücher von 410 Seiten mit 40 Zeilen pro Seite und 80 Buchstaben und Schriftzeichen pro Zeile enthalten – das heit, Bücher eines bestimmten Formats mit allen denkbaren, bedeutungsvollen wie bedeutungslosen Konstellationen von Buchstaben und Schriftzeichen.2 Man braucht kein Mathematiker oder Astronom zu sein, um zu erkennen, dass eine solche Bibliothek, sollte sie tatsächlich existieren, die Grenzen des uns bekannten Weltalls völlig sprengen würde. In dieser Büchersammlung von überkosmischem Ausmaß gibt es Leute, die verzweifelt nach dem tieferen Sinn der Dinge suchen. Da es alle geschriebenen sowie alle
1
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart
2
Borges, Jorge Luis: Ausgewählte Werke Bd. 1: Die Bibliothek von Babel, 1987
1998 [1874]. [1941].
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jemals möglichen Bücher gibt, müsste es auch solche geben, in denen über die Bedeutung der Bibliothek oder sogar über die tiefere Ordnung dieser scheinbar chaotischen Unordnung aufgeklärt wird. Für die Benutzer der Bibliothek bleibt das jedoch eine utopische Hoffnung. Man könnte sich sogar fragen: Falls es denn ein solches Buch der Bücher überhaupt geben sollte, würde man es als solches erkennen, wenn man es durch einen überkosmischen Zufall tatsächlich in der Hand hat? Was man auch immer aus dieser Geschichte folgern möchte, eines ist klar: allseitige Verfügbarkeit führt nicht zu Einsicht, sondern zu Bedeutungslosigkeit. Sinnvolle Erkenntnisse gewinnt man nicht aufgrund angehäuften Wissens, sondern aufgrund spezifischer Fragen und Perspektiven. Und diese stehen im unmittelbaren Zusammenhang zu unseren persönlichen, teilweise auch zeit-, kulturund gesellschaftsspezifischen Prägungen und Ansichten. Das gilt für unser Leben im Allgemeinen und somit auch für unseren Umgang mit Geschichte. Daher kann Geschichtsschreibung niemals einer einfachen Aufklärung historischer Tatsachen gleichkommen, so wie es Leopold von Ranke, der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, sich vorgestellt hatte. Nicht nur, weil der Historiker aus der Fülle historischer Quellen notwendigerweise eine Auswahl treffen muss, sondern auch – und das ist noch entscheidender –, weil ohne sinngebende Perspektive Quellen stumm und Tatsachen nur chaotische und bedeutungslose Bruchstücke bleiben. Es ist die Perspektive, die dem Historiker erlaubt, Quellen zu interpretieren und Tatsachen in ihrem Zusammenhang zu deuten. Diese Perspektive kann jedoch niemals universal und objektiv sein. Was jedoch die Perspektive des Historikers letztendlich bestimmt, ist und bleibt eine kontroverse Frage. Es sei hier nur kurz auf zwei Deutungsversuche hingewiesen, die immer noch einen Teil dieser Debatte prägen: der historische Materialismus von Karl Marx und die Diskurstheorie von Michel Foucault. Die Anhänger von Marx interpretieren die Geschichte als Streit um die Herrschaft der Produktionsmittel und meinen, die Art und Weise, wie wir die Geschichte interpretieren, sei völlig vom Klassenbewusstsein abhängig. Marx unterschied dabei zwischen einem falschen, auf Herrschaft und Unterdrückung basierenden Geschichtsbewusstsein der Bourgeoisie und einem richtigen, auf Emanzipation und Herrschaft des Proletariats zielenden Bewusstsein der Arbeiterklasse. Dieser historisch-materialistischen Ansicht zufolge ist die Geschichtsperspektive wirtschaftlich determiniert. Nach Foucault dagegen sind es die Macht-WissenRegime, die nicht nur die Perspektive des Historikers, sondern aller Mitglieder einer Kulturperiode bestimmen. Die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und interpretieren, sei von der zeitspezifischen, von Machtsinteressen diktierten Organisation des Wissens geprägt. Wir verstehen die uns umgebende
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Welt mittels normativer Kategorien, wie wahr-unwahr, gut-böse, schön-hässlich, normal-abnormal, gesund-krank usw., öfters ohne uns richtig bewusst zu sein, dass unsere Wahrnehmung schon von Werturteilen geprägt ist. Wir werden in eine Wertegemeinschaft hineingeboren und lernen einfach von Anfang an, die damit verknüpfte Deutung der Wirklichkeit als gegebene Realität zu akzeptieren. Beide Modelle sind äußerst erfolgreich gewesen, nicht nur im Sinne ihrer akademischen und populärwissenschaftlichen Anhängerschaft, sondern auch in ihrer Fähigkeit, bestimmte historische Sachverhalte überzeugend und kritisch zu erfassen, etwa die marxistische Deutung der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftstechniken im 19. und 20. Jahrhundert oder Foucaults Diskursanalyse in Bezug auf die Geschichte des Wahnsinns.3 Sie bringen jedoch aufgrund ihres Determinismus auch bestimmte Probleme mit sich. Schon auf der Grundlage der Logik ist nicht einzusehen, wie Karl Marx, der als Sohn eines Rechtsanwalts selbst keineswegs aus einer Arbeiterfamilie stammte, sich seinem eigenen klassengebundenen Determinismus entziehen konnte, indem er sich als Sprachrohr der Arbeiterklasse verstand. Genauso schwierig ist zu verstehen, wie Foucault, dem zufolge die Macht-Wissen-Regime alles bestimmend seien, selber imstande war, diese Regime auf Meta-Ebene zu dekonstruieren. Etwas allgemeiner ausgedrückt: in ihrer radikalen Form lassen die Ansichten von Marx und Foucault keinen Raum für die Dynamik, die Komplexität und die Ungereimtheiten des Lebens. Indem sie ihre Theorien auf die Wirklichkeit projizieren, verlieren sie die Sicht auf die Eigenwilligkeit und Kreativität des Menschen, die er trotz der ihn beherrschenden Mächte aufbringt. In diesem Zusammenhang hat der französische Historiker, Philosoph und Sozialwissenschaftler Michel de Certeau den Begriff des re-emploi eingesetzt, mit dem er auf die Fähigkeit der Menschen anspielte, überlieferte und aufgezwungene Ideen, Symbole, Rituale und Objekte nach eigener Überzeugung umzudeuten und für eigene Zwecke einzusetzen. 4 Der vom deutschen Sozialhistoriker Alf Lüdtke eingeführte Begriff des Eigen-Sinns schließt sich hier an und verweist auf die Fähigkeit von Individuen, auch unter extremen politischen Verhältnissen das eigene Leben zu bestimmen und sich selbst zum Subjekt des eigenen Lebens zu gestalten. 5
3
Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im
4
Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988 [1980].
5
Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Le-
Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1969 [1961].
bensweisen, Frankfurt a.M. 1989.
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N ATIONALE G ESCHICHTSPOLITIK Im 19. Jahrhundert wurden viele öffentliche – oder semi-öffentliche – Archive, Bibliotheken und Museen mit dem Ziel errichtet, universelles Wissen zu erschließen und die Geschichte und Kultur der eigenen Nation zu dokumentieren. Dass zwischen diesen beiden Absichten ein Spannungsfeld entstehen konnte, wurde damals interessanterweise kaum wahrgenommen. Im Zeitalter der modernen Nationalstaaten war Geschichte einfach Nationalgeschichte, war Kultur einfach Nationalkultur. Manchmal ging das mit anachronistischen Deutungen einher, etwa indem der von Tacitus beschriebene Germanenführer Hermann der Cherusker (Arminius) zum Urdeutschen oder der Frankenkönig Clovis zum Erzvater der Franzosen erhoben wurde. Die britischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger bezeichnen in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband The Invention of Tradition mythische Konstruktionen historischer Kontinuität als erfundene Traditionen.6 Sie richteten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf in der Neuzeit erfundene Symbole und Rituale, die als altehrwürdige Traditionen präsentiert und rezipiert wurden. Man kann den Begriff jedoch weiter fassen und mit der Tendenz verknüpfen, historische Bruchflächen und Zufälligkeiten in einen Diskurs ungebrochener Kontinuität und Zielstrebigkeit untergehen zu lassen. Die neuen Archive, Bibliotheken und Museen im 19. Jahrhundert, die sich als universale und enzyklopädische Sachbestände präsentierten, waren somit in ihrer Auswahl von Texten, Dokumenten, Urkunden, Kunstwerken, Büchern usw. sowie in der Systematik ihrer Erschließung und Präsentation von nationalen und nationalistischen Überlegungen und Denkmustern geprägt. Die Besucher und Benutzer solcher Institutionen waren sich dieser Beschränkung oft gar nicht bewusst. Eine Parallele mit den Macht-Wissen-Regimen von Foucault ist offensichtlich. Andererseits hat es immer kritische Positionen gegeben, die der Geschichtsbetrachtung neue Wege geöffnet haben. Eben die universalistische Absicht der neuen Wissens- und Kultureinrichtungen des 19. Jahrhunderts hat dazu beigetragen, dass trotz des vorgegebenen nationalen Rahmens auch kontroverse Werke und Bestände aufbewahrt wurden, die für scharfsinnige Betrachter in einem offensichtlichen Spannungsverhältnis zum dominanten Geschichtsbild standen. Darüber hinaus haben kritische Akademiker schon früh das Fehlen bestimmter Perspektiven bemängelt. Marxistische Historiker etwa stellten fest, dass in den Archiven und Museen kaum Zeugnisse und Kunstwerke der Arbeiterklasse zu
6
Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge/New York 1983.
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finden waren, nicht weil sie nicht existierten, sondern weil sie einfach nicht der Geschichte bzw. der Kunstgeschichte würdig befunden wurden. Ähnliches trifft für Historiker und andere Akademiker zu, die sich etwa mit Gendergeschichte oder mit Kolonialgeschichte beschäftigten. Das hat dazu geführt, dass sich auch die Institutionen des kollektiven Gedächtnisses im Laufe der Zeit neuen Perspektiven geöffnet haben. Unter Fachhistorikern mag ein instrumenteller Umgang mit Geschichte heutzutage als überholt betrachtet werden, in unserem alltäglichen Leben ist sie noch allgegenwärtig. Wenn auch Hermann und Clovis am Anfang des 21. Jahrhunderts weniger identitätsstiftend für die deutsche bzw. die französische Kultur erscheinen, wird Alexander der Große in der ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien mittels einer bronzenen Großskulptur in Skopje als Vater des neuen Vaterlandes gefeiert – zum Ärger der Griechen, die ihn für sich beanspruchen – und ist Timur Lenk, der türkisch-mongolische Feldherr aus dem 14. Jahrhundert, jetzt als Urvater des postsowjetischen Usbekistan auferstanden, auch wenn er zu Lebzeiten die damaligen Usbeken bekämpft hatte. Bezeichnenderweise ziert eine heroische Skulptur Timurs den zentralen Platz von Tashkent, genau dort, wo zu sowjetischen Zeiten eine Marx-Skulptur stand, und wird zu einem anschaulichen Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft sich aufgrund einschneidender politischer Entwicklungen neu historisch legitimiert. Man denke aber auch daran, wie während der Teilung Deutschlands sowohl im Osten als auch im Westen Helden der Nationalgeschichte, wie Luther, Bach, Friedrich der Groe oder Heinrich Heine, zur Vorgeschichte der DDR bzw. der Bundesrepublik stilisiert wurden. Aus diesem Grund wird von vielen Historikern zwischen akademischer Geschichtsschreibung und kollektivem Gedächtnis unterschieden. Während die akademische Geschichtsforschung wenigstens Objektivität anstrebt – das heißt, einer Darstellung, die sich offen und kritisch um die Integration unterschiedlicher Quellen und Perspektiven bemüht –, dient das kollektive Gedächtnis nicht sosehr der Wissenschaft, sondern vielmehr dem kollektiven Bewusstsein und ist demzufolge selektiv, normativ und mythisch. Selektiv, indem es Höhepunkte und Erfolge der eigenen Geschichte vorzieht und die traurigeren und hässlicheren Seiten gern vergisst; normativ, indem es sich implizit oder explizit auf einen Kanon der eigenen Geschichte und Kultur verpflichtet unter Ausschließung unerwünschter Neben-, Unter- und Gegenströmungen; und mythisch, indem es eine historische Kontinuität voraussetzt, die manchmal anachronistisch und konstruiert anmutet. Über diesen Gegensatz hinaus sollte man jedoch vorsichtig sein, das Ende einer ausschließlich auf nationale Eigenarten fokussierten akademischen Ge-
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schichtsbetrachtung mit einem neuen, erst jetzt richtigen Universalismus gleichzusetzen. Man braucht sich nur die universalgeschichtlichen Übersichtswerke der westlichen Welt nach 1945 zu vergegenwärtigen, um dies zu verdeutlichen. Während die Übersichtswerke des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts vor allem nach nationalen Kriterien organisiert waren, bedienten sich die historischen Handbücher der Nachkriegszeit vor allem einer Modernisierungsrhetorik, der zufolge die liberale Demokratie als fortschrittlichste Gesellschaftsform der modernen Weltgeschichte gelten sollte. In den kunsthistorischen Handbüchern trifft man auf eine ähnliche Struktur, nur dass in diesem Fall die moderne Kunst westlicher Prägung als non-plus-ultra der gesamten Kunstentwicklung gedeutet wird. Hier erkennt man wiederum sowohl das Prinzip eines Macht-Wissen-Regimes wie auch das Selektive, Normative und Mythische des konstruierten Geschichtsbildes: die eigene politische Verfassung, wirtschaftliche Organisation und kulturelle Identität werden ohne weiteres zum Standard der Weltgeschichte bzw. der Weltkunst erhoben. Nebenbei wird impliziert, dass die alternativen Staatseinrichtungen und Kunstformen eben nicht modern und daher als Seitenwege oder eben als Entgleisungen der Geschichte aufzufassen sind. Genau im Sinne Foucaults wird diese rhetorische Strategie von ihren Urhebern nicht einmal als Strategie wahrgenommen. Nebenbei: was in den Handbüchern meistens implizit bleibt – das Modell einer teleologischen, auf ein Endziel zustrebenden Geschichtsstruktur – wird manchmal plötzlich ganz explizit. Inmitten der Euphorie über das Ende des Kalten Kriegs präsentierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama seine These vom Ende der Geschichte, der zufolge mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus die letzte welthistorische Alternative zur liberalen Demokratie westlicher Prägung zu Grabe getragen wurde.7
DDR-K UNST
UND
G ESCHICHTSPOLITIK
Auf welche Weise spiegelt sich die Frage der historischen Perspektive nun im Umgang mit dem künstlerischen Erbe der DDR im wiedervereinigten Deutschland wider? Ein Überblick über die öffentlichen Debatten der 1990er Jahre ergibt ein widersprüchliches Bild. In vielen Fällen wurde die Kunst aus der DDR pauschal verurteilt, und zwar schon gleich nach dem Mauerfall. In einem Interview aus dem Jahr 1990 behauptete Georg Baselitz, es habe in der DDR keine
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Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte: wo stehen wir?, München 1992.
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Künstler gegeben, nur Arschlöcher, die mit ihren sozialistischen Werken ein kriminelles System unterstützt und die wahre Kunst verleugnet hätten.8 Es war der Anfang einer langen Serie undifferenzierter Verurteilungen, die anscheinend vor allem zum Ziel hatten, die westdeutsche Kunsttradition von der ostdeutschen abzugrenzen. Bezeichnend für diese Tendenz war auch die öffentlich ausgetragene Aufregung, als Dieter Honisch, damaliger Direktor der Berliner Neuen Nationalgalerie, 1993 der Leipziger Schule und ihren Schülern einen Museumssaal widmete, oder etwa die Verunglimpfung des Leipziger Malers Bernhard Heisig, der 1998 vom Kunstbeirat des Deutschen Bundestages eingeladen wurde, für das renovierte Reichstagsgebäude ein Werk beizusteuern. In den darauffolgenden Debatten wurde Heisig als Totalopportunist charakterisiert, der sich nach einer Episode als Sechzehnjähriger bei der Wehrmacht ohne Bedenken der neuen Ideologie des Sozialismus zugewandt hatte und erst nach dem Mauerfall seine DDR-Staatspreise zurückgegeben hat.9 Uwe Lehmann-Brauns, kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, meinte sogar, es wäre eine Zumutung, die künstlerische Vertretung im politischen Zentrum der deutschen Demokratie einem Künstler zu überlassen, der der ersten oder der zweiten deutschen Diktatur gedient hatte. Heisig wäre, nach Lehmann-Brauns, im Reichstag genauso fehl am Platz wie etwa Arno Breker, der Hofbildhauer Adolf Hitlers.10 Mit der Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne in Weimar (1999) erreichte die rhetorische Verknüpfung von DDR-Kunst mit Nazi-Kunst eine neue Klimax. In der Mehrzweckhalle am ehemaligen Gauforum wurden die Teilausstellungen Die Kunst dem Volke: Die Sammlung Adolf Hitlers und Offiziell und inoffiziell: Die Kunst der DDR ausgestellt. War die Assoziation sozialistischer und nationalsozialistischer Kunst für die fünfziger und frühen sechziger Jahre mit einigen klaren Vorbehalten vielleicht noch zu verteidigen, für die Kunst der DDR schlechthin schlägt sie jedoch völlig fehl. Vor allem seitdem die Künstler der Leipziger Schule den streng dogmatischen Charakter des sozialistischen Realismus durchkreuzten, indem sie eine freiere Formensprache und eine komplexere Ikonographie introduzierten, war es nicht länger angemessen, die Kunst der
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Hecht, Axel/Welti, Alfred: »Ein Meister, der Talent verschmäht«, Interview mit Ge-
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Clewing, Ulrich: »Die Empörung der Selbstgerechten«, Der Tagesspiegel vom
org Baselitz, Art 6 (1990), S. 66, 70. 19.11.1997. 10 Kaiser, Paul/Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analysen und Meinungen, Hamburg/Dresden 1999, S. 458.
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DDR als bloße Propaganda oder als eindeutigen Ausdruck einer totalitären Gesellschaft aufzufassen. Die Ausstellung in Weimar versuchte Klarheit zu schaffen, indem sie mittels des Gegensatzes offiziell – inoffiziell eine strenge Trennung zwischen Staatskunst und oppositioneller Kunst präsentierte. Dies geschah jedoch nicht auf der Grundlage (kunst)historischer Kenntnisse und suggerierte somit eine gesellschaftliche Zweiteilung, die es so in der DDR niemals gegeben hatte. Das Bedürfnis, mit der DDR-Kunst kurzen Prozess zu machen, ausgedrückt in einer nachdrücklich unästhetischen Hängung der Bilder, war anscheinend stärker als die Neigung, sich in den Komplexitäten und Ambiguitäten der ostdeutschen Kunstwelt zu vertiefen. Das wohlbekannte Schema der westlichen Geschichtsideologie – die westliche liberale Demokratie mit ihrer modernen Kunst als Norm, der Rest als Abweichung – scheint also das Konzept dieser Ausstellung inspiriert zu haben. Dabei wurde das Geschichtsmodell einfach auf die Wirklichkeit projiziert und die gezeigten Werke wurden nur noch im Zeichen eines letzten Kunstgerichts wahrgenommen. Die pauschale und unreflektierte Verwerfung ostdeutscher Kunst nach 1990 könnte man als Bestätigung des westlichen Sieges im Kalten Krieg und des Endes der Geschichte deuten oder eben als verzweifelten Wunsch, die eigene (westdeutsche) Perspektive auf Geschichte und Kunst im Lichte der Wiedervereinigung nicht auf das Spiel zu setzen. Für das Letzte spricht die rasche Entfernung ostdeutscher Kunstwerke aus den Museumsräumen nach 1990. Es war, als ob von Anfang an klar sein sollte, dass es im wiedervereinigten Deutschland nur eine gültige Perspektive auf Kunst und Geschichte geben kann. Dies äußerte sich aber auch in einem Widerwillen, sich offen und ernsthaft mit den Komplexitäten der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nicht alle Kunst war Ausdruck der SED-Ideologie, und nicht alle Kunst, die kein Ausdruck der SED-Ideologie war, war oppositionelle Kunst. Die Tatsache, dass die offizielle Kunstpolitik der DDR nur zwischen sozialistischer und bourgeois-dekadenter Kunst zu unterscheiden wusste, sollte nicht zum Trugschluss führen, dass es eine solche saubere Zweiteilung tatsächlich gegeben hätte, die jetzt nur noch aus umgekehrter Perspektive neu beurteilt werden muss. So befinden sich im Kunstarchiv Beeskow, dem Restbestand unverkäuflicher und angeblich nicht museumswürdiger Auftragskunst der DDR aus den Ländern Berlin, Brandenburg und MecklenburgVorpommern, hochinteressante Werke, die eben einen tieferen Blick in die Zwiespältigkeit ostdeutscher Kunst und Kulturpolitik erlauben. Es sei etwa auf die Künstlermappen zu Ehren Goethes oder Johannes R. Bechers aus den siebziger und achtziger Jahren verwiesen, in denen Künstler im Auftrag des Staates Graphiken beisteuerten, die nicht nur künstlerisch frei waren, sondern auch das
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vorgegebene Thema eigensinnig und manchmal kritisch interpretierten.11 Die relative Unsichtbarkeit des Kunstarchivs – weit entfernt von den Kulturzentren im Osten Deutschlands und ohne hinreichende Mittel für eine sichere Aufbewahrung der Werke – scheint symbolisch zu sein für den mühseligen Umgang mit DDR-Kultur nach dem Mauerfall. Dieser Sachverhalt beschränkt sich keineswegs auf die bildenden Künste, er entspricht in etwa den Geschichtsdebatten der 1990er Jahre, in denen die DDR vor allem aus den Perspektiven Herrschaft und Gewalt, Ideologie und Unterdrückung, Täter und Opfer, Mitarbeiter (der Stasi) und Dissidenten beschrieben wurde, wie zum Beispiel in den insgesamt 31 von den beiden parlamentarischen Enquetekommissionen herausgegebenen Bänden, die sich im Laufe der 90er Jahre mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur beschäftigt haben.12 Indem diese Aufarbeitung vor allem von westdeutschen Politikern und Historikern energisch in die Hand genommen wurde, fühlte sich ein Groteil der Ostdeutschen in das Abseits gestellt. Plötzlich erschienen sie als Objekt statt als Subjekt ihrer eigenen Geschichte. In dieser Hinsicht war die Lage der Ostdeutschen nach dem Zusammenbruch des mittel- und osteuropäischen Staatssozialismus einzigartig: während in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks die Aufarbeitung der Vergangenheit von der eigenen Bevölkerung (oder eben dem eigenen Staat) gesteuert oder auch unter den Teppich gekehrt wurde, waren es vor allem die Westdeutschen, die bestimmten, wie das kollektive Gedächtnis in Bezug auf DDR-Geschichte im wiedervereinigten Deutschland aussehen sollte. Dadurch entstand bei vielen Ostdeutschen eine Kluft zwischen kollektivem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung. Die schematische Deutung der DDR-Geschichte entsprach oft nicht den Erfahrungen derer, die versucht hatten, ihrem Leben im real existierenden Sozialismus einen eigenen Sinn jenseits der Staatsideologie beizumessen. So wie die ostdeutsche Kunst sich nicht restlos auf den Gegensatz zwischen offiziell und inoffiziell reduzieren lässt, geht auch der ostdeutsche All-
11 Ziemann, Rüdiger: Prometheus 1982. Unbeliebte Kunst aus der DDR, Berlin 1995; Freitag, Michael: »Zur Ausstellung«, in: Dokumentationszentrum Kunst der DDR/Burg Beeskow (Hg.): Und der Zukunft zugewandt! Bündnispoesie und Freundschaftsmythos, Beeskow 1997. 12 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, 18 Bde, Baden-Baden 1995 und Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, 13 Bde, Baden-Baden 1999.
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tag nicht in solchen Begriffen auf. Dies wiederum mag teilweise erklären, warum es in den 1990er Jahren zum viel diskutierten und hei umstrittenen Phänomen der Ostalgie gekommen ist. Mit ihrer Mischung aus Sehnsucht und Ironie lässt es sich kaum als Variante einer klassischen Nostalgie deuten, vielmehr als der Versuch, für die eigenen Erfahrungen und persönlichen Perspektiven der Ostdeutschen auch im wiedervereinigten Deutschland einen Platz zu beanspruchen. Dabei lauert immer die Gefahr einer Beschönigung der DDR-Geschichte oder der eigenen Rolle in dieser Geschichte. Während die radikalsten Kritiker der DDR in ihrem Urteil kaum zwischen dem Staat und ihren Einwohnern zu unterscheiden wussten, kann die Ostalgie dazu führen, zwischen Staat und Bevölkerung eine radikale Kluft vorauszusetzen, die jede persönliche Verantwortung zurückweist. Es hat aber auch von Anfang an Stimmen gegeben, die sich gegen eine allzu schematische Annäherung der DDR-Geschichte gewehrt haben, vor allem in der akademischen Welt.13 Auch auf dem Gebiet der Kunst hat sich einiges getan.14 Abgesehen von einer Reihe kleiner Ausstellungen zu DDR-Kunst oder zu einzelnen Künstlern der DDR, wurde in der von Stephanie Barron und Eckhart Gillen konzipierten Großausstellung Art of Two Germanys: Cold War Cultures in Los Angeles, Nürnberg und Berlin (2010) sogar nachdrücklich auf parallele Entwicklungen in der Kunst der beiden deutschen Staaten hingewiesen. Mit der von Paul Kaiser und Karl-Siegbert Rehberg zusammengestellten Ausstellung Abschied von Ikarus (Weimar 2012) wurde die bislang umfassendste Präsentation von DDR-Kunst realisiert und somit das Bild der Weimarer Ausstellung von 1999 gründlich revidiert.15 Das von der Technischen Universität Dresden, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, dem Kunstarchiv Beeskow und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam getragene Forschungsprojekt Bildatlas: Kunst in der DDR, das über 20.000 Kunstwerke der DDR dokumentiert hat, ist ein weiteres klares Indiz dafür, dass das Interesse an der Geschichte
13 Siehe etwa Fulbrook, Mary: Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR, 1949-1989, Oxford 1995; Dieselbe, The People’s State. East German Society from Hitler to Honecker, New Haven 2005. 14 Vergleiche Kelly, Elaine (Hg.): Art Outside the Lines. New Perspectives on GDR Culture, Amsterdam/New York 2011. 15 Barron, Stephanie/Eckmann, Sabine (Hg.): Art of Two Germanys. Cold War Cultures, New York/Los Angeles 2009; Rehberg, Karl-Siegbert/Holler, Wolfgang/Kaiser, Paul (Hg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten der DDR, neu gesehen, Köln 2012.
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der ostdeutschen Kunst wenigstens in akademischen Kreisen erheblich zugenommen hat.
F AZIT Der Kalte Krieg hat nicht nur das deutsche Volk in zwei verschiedene Staaten geteilt, er hat auch den Deutschen eine sehr unterschiedliche Wertegemeinschaft beschert: Anders als das vorangegangene Dritte Reich stützen sich beide deutsche Staaten auf die Kernwerte der Aufklärung und bekannten sich zumindest in der Theorie zur Modernität. Aber die Art und Weise, in der sie diese Werte interpretierten und zu realisieren versuchten, unterschied sich radikal. Wenn auch in der Bundesrepublik und in der DDR die Kunst und Kunstpolitik hei und manchmal kontrovers diskutiert wurden, war man sich jedoch im Groen und Ganzen einig über die Kunst hinter der jeweiligen Grenze des Eisernen Vorhangs: diese wurde als bourgeois-dekadent (aus ostdeutscher Sicht) oder eben als politisch pervertiert (aus westdeutscher Perspektive) mehr oder weniger pauschal verurteilt. Das hing mit einer unterschiedlichen Beschreibung des Aufgabenbereichs der Kunst zusammen. In der DDR war Kunst dazu verpflichtet, dem Volk den Weg zum kommunistischen Endziel zu veranschaulichen, in der Bundesrepublik galt sie dagegen als autonom. Paradoxerweise war sie aber zugleich Teil einer master narrative, der zufolge die Kunst sich nach universellen Kriterien entwickeln sollte, sei es im Sinne einer immer abstrakteren und mediengerechteren Ästhetik16 oder etwa im Sinne einer immer radikaleren künstlerischen Selbstreflexion.17 In beiden Staaten war also relativ klar, was eben keine richtige Kunst war. Dies sollte sich im Laufe der Zeit, vor allem aber seit den 1960er Jahren, erheblich ändern. In der DDR wurde schon Mitte der 1950er Jahre über die Frage diskutiert, ob Picasso als westlicher kommunistischer Künstler bourgeoisdekadent sei oder der ostdeutschen Kunst zur Inspiration dienen könnte. Jedoch setzte vor allem mit dem öffentlichen Aufstieg der Leipziger Schule und der scheinbaren Liberalisierung der Kunstpolitik unter Erich Honecker ein Prozess der Befreiung und Autonomisierung ostdeutscher Kunst ein, der nicht mehr zu
16 Greenberg, Clement: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009. 17 Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M. 1991.
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bremsen war und sich bis zum Mauerfall weiter radikalisierte. Auch in der Bundesrepublik fand Ende der 1960er Jahre eine Neuorientierung statt, wobei dem Ideal der autonomen Kunst eine gesellschaftsbezogene und politisch engagierte Alternative entgegengehalten wurde. Hier entfaltete sich das komische Schauspiel zwischen einer Avantgarde zum einen, die ständig mit dem teleologischen Diskurs der modernen Kunstgeschichte zu brechen versuchte, und einer modernen Kunstgeschichte zum anderen, die ständig versuchte, diese neuen Avantgarden in ein erweitertes teleologisches Geschichtsmodell zu integrieren. Der OstWest-Gegensatz der 1950er Jahre geriet dabei allmählich in den Hintergrund. Daher war es überraschend und auch einigermaßen befremdlich zu beobachten, wie nach dem Mauerfall die Rhetorik des frühen Kalten Kriegs in den Kunstdebatten mit pauschalen Verurteilungen der DDR-Kunst in der Form einer messerscharfen Zweiteilung zwischen westlich-autonomer und sozialistischpervertierter Kunst wieder hervorgezaubert wurde. Eine Sichtweise, die dem Eigen-Sinn und der Kreativität vieler ostdeutscher Künstler keineswegs Gerechtigkeit widerfahren lässt. Es ist, als ob die Politiker, Intellektuellen und Künstler des wiedervereinigten Deutschlands, die sich einer solchen Rhetorik bedienten, unwillig waren, auch nur die Möglichkeit einer kritischen Reflexion des eigenen Wertesystems zu erwägen. Eine Reflexion, die unumgänglich ist, wenn man die real existierende historische Alternative eben nicht a priori in allen seinen Erscheinungsformen verurteilt. In Usbekistan hat der Politikwechsel nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion zu einer neuen Geschichtsorientierung geführt, die mit dem Ersatz von Marx durch Timur symbolisch besiegelt wurde. Im Osten Deutschlands wurden die sozialistischen Monumente einfach entfernt, so wie der Lenin aus BerlinFriedrichshain, oder sie wurden mit symbolischen Eingriffen umgedeutet, wie die Neue Wache in Berlin-Mitte.18 Während in Usbekistan die Geschichte des eigenen Volkes in einen neuen Zusammenhang gesetzt und neu interpretiert wurde, ist die ostdeutsche Geschichte einfach aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Die teilweise selektiv, normativ und mythisch konstruierte Kontinuität der westdeutschen Geschichte entspricht in diesem Falle einer gewissen realen Diskontinuität der persönlichen Biographien vieler Ostdeutschen. Inzwischen ist es fast 25 Jahre her, dass die Mauer gefallen ist, und die feinen und weniger feinen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen schei-
18 Gamboni, Dario: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997, S. 79-85; Meier, Christian: »Das Problem eines Berliner Denkmals«, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (1997) Nr. 8, S. 733-743.
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nen allmählich an Bedeutung zu verlieren. Einer offenen und kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR begegnet man mehr und mehr, nicht nur in der akademischen Geschichtsschreibung und Kunstwissenschaft, sondern auch in den öffentlichen Debatten, wenn auch die Kontroversen über eine richtige Perspektive noch keineswegs verstummt sind.19 Das könnte auf eine Normalisierung und Entspannung des Zusammenlebens zwischen Ost- und Westdeutschen hindeuten oder auch auf eine Verschiebung gesellschaftlicher Spannungen auf andere Probleme und (reale bzw. imaginierte) Feindbilder. Eine endgültige Deutung der DDR-Geschichte gibt es nicht und wird es nicht geben, aber mit einer offenen und respektvollen Auseinandersetzung wäre viel gewonnen. Die DDR würde dann nicht länger bloß als negatives Beispiel funktionieren, sondern als historische Erfahrung, die dazu beitragen kann, die eigene Perspektive zu erweitern und der eigenen Kultur selbstkritisch, kreativ und eigensinnig entgegenzutreten.
L ITERATUR Barron, Stephanie/Eckmann, Sabine (Hg.): Art of Two Germanys. Cold War Cultures, New York/Los Angeles 2009. Borges, Jorge Luis: Ausgewählte Werke Bd. 1: Die Bibliothek von Babel, 1987 [1941]. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988 [1980]. Clewing, Ulrich: »Die Empörung der Selbstgerechten«, Der Tagesspiegel vom 19.11.1997. Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M. 1991. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Proze der deutschen Einheit«, 13 Bde, Baden-Baden 1999. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, 18 Bde, Baden-Baden 1995. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1969 [1961].
19 Siehe etwa den Beitrag von Marlene Heidel in diesem Band.
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Freitag, Michael: »Zur Ausstellung«, in: Dokumentationszentrum Kunst der DDR/Burg Beeskow (Hg.): Und der Zukunft zugewandt! Bündnispoesie und Freundschaftsmythos, Beeskow 1997. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte: wo stehen wir?, München 1992. Fulbrook, Mary: The People’s State. East German Society from Hitler to Honecker, New Haven 2005. Fulbrook, Mary: Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR, 1949-1989, Oxford 1995. Gamboni, Dario: The Destruction of Art. Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997, S. 79-85; Meier, Christian: »Das Problem eines Berliner Denkmals«, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (1997) Nr. 8, S. 733-743. Greenberg, Clement: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009. Hecht, Axel/Welti, Alfred: »Ein Meister, der Talent verschmäht«, Interview mit Georg Baselitz, Art 6 (1990) S. 54-72. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge/New York 1983. Kaiser, Paul/Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Analysen und Meinungen, Hamburg/Dresden 1999. Kelly, Elaine (Hg.): Art Outside the Lines. New Perspectives on GDR Culture, Amsterdam/New York 2011. Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. 1989. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1998 [1874]. Rehberg, Karl-Siegbert/Holler, Wolfgang/Kaiser, Paul (Hg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten der DDR, neu gesehen, Köln 2012. Ziemann, Rüdiger: Prometheus 1982. Unbeliebte Kunst aus der DDR, Berlin 1995.
Künstlerische Sinnschichten im Gedächtnisarchiv
Margret Hoppe, Gerhard Richter, Lebensfreude, 1956, Wandbild, 500 x 1500 cm, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, 2005, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, Quelle: © Margret Hoppe
Die Nationalgalerie und die Kunst in der DDR1 F RITZ J ACOBI
Die folgenden Darlegungen in sieben Teilen bedeuten den Versuch einer Innenansicht, auch auf mich selbst, vor allem aber auf die Aktivitäten der Nationalgalerie, der ich von 1970 bis 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter angehören durfte – ein Glücksumstand, der mich mit ungeheurer Dankbarkeit erfüllt hat und erfüllt. Es war ein sehr abwechslungsreicher Weg, selbstredend auch von den Mühen der Ebene und der jeweiligen Problematik der Zeitläufte begleitet. Diese Darstellung ist persönlicher Art, nicht ausgewogen, eher kaleidoskopartig angelegt und mit der Hoffnung verbunden, dass sich der eine oder andere Sachverhalt so etwas plastischer vermittelt. Das verbindliche Motto bestand letztlich in den Worten, die einst mein Kommilitone Joachim Walther mit großen, weißen Lettern auf sein abgeschabtes Köfferchen geschrieben hatte, das er bei einem Ernteeinsatz lächelnd bei sich trug: »Lex mihi ars!« / »Die Kunst ist mir Gesetz!«
I. D REI H ÄUSER –
DREI
T EMPEL
DER
K UNST
Alte Nationalgalerie, Altes Museum, Neue Nationalgalerie – in diesen drei Häusern der Nationalgalerie habe ich mein berufliches Leben verbracht, umgeben von altehrwürdigen Mauern oder transparenten Glasfronten, von qualitativ hochrangiger Kunst und einem gut Teil engagierter Kollegen, unter denen Roland
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Dieser Text basiert auf einem Vortrag, gehalten während der vom Kunstarchiv Beeskow und den Studierenden der Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg veranstalteten Sommerschule Das Kunstarchiv Beeskow im Spannungsfeld einer globalisierten Kultur in Beeskow (9.07.-11.07.2010).
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März besonders zu nennen ist, mit dem ich 34 Jahre zusammengearbeitet habe. Beide waren wir parteilos wie so viele Kollegen auf der Museumsinsel, aber durchaus mit Schnittmengen in Bezug auf die gesellschaftliche Grundausrichtung, was die soziale Haltung betraf. Er kam aus Leipzig, ich aus Dresden an der Elbe, aufgewachsen in einem christlich-protestantischen und der modernen Kunst gegenüber aufgeschlossenen Elternhaus – begleitet von den Neuen Meistern im Pillnitzer Schloss und den Alten Meistern in der Sempergalerie. Nach meinem Studium der Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und einem eineinhalbjährigen Grundwehrdienst holte mich Willi Geismeier an die Nationalgalerie ins traditionsreiche Areal an der Bodestraße als Verantwortlichen für die Skulptur seit 1945.
II. D REI P ERSÖNLICHKEITEN – DREI KÜNSTLERISCH - GEISTIGE W ELTEN Um unsere Haltung gerade in den 1960er/1970er Jahren noch etwas deutlicher werden zu lassen, seien hier drei bedeutende Persönlichkeiten vorangestellt, weil sie gewissermaßen stellvertretend für einen geistigen Lebensraum standen, der uns – und damit meine ich eine Vielzahl liberal ausgerichteter Menschen, die gerade im Kulturbereich tätig waren – damals weitgehend getragen hat – gemäß dem Motto des alten Studentenliedes Die Gedanken sind frei!. Das Wirken des Kunsthistorikers und Museumsdirektors Ludwig Justi, des Dichters und Theatermannes Bertolt Brecht und des vitalen Jahrhundertkünstlers Pablo Picasso bildete seinerzeit und darüber hinaus trotz vorhandener Widersprüchlichkeiten eine ganz substantielle Orientierung. Ludwig Justi war für die Nationalgalerie besonders wichtig: Er hatte das Amt des Direktors von 1909 an inne und 1919 das legendär gewordene Kronprinzenpalais als Museum für zeitgenössische Kunst eingerichtet – als erstes Museum dieser Art weltweit. Selbst der Begründer des Museums of Modern Art New York, Alfred Barr jr., der Justi 1927 besuchte, war begeistert und erhielt wesentliche Anregungen für seine eigenen Pläne. Justi galt und gilt als der Inbegriff eines progressiv-bürgerlichen Kunsthistorikers und Museumslenkers. Nach dem Krieg, schon in hohem Alter, bezeugte er mit der Übernahme des Generaldirektorsposten, als Mitbegründer der Galerie des 20. Jahrhunderts und mit der erneuten Leitung der Nationalgalerie seit 1950 seine vorbildhafte, intensive Verbindung zur Kunst. Es gehört zu seinen Verdiensten, dass er mit seiner berühmten Schule des Sehens neue Brücken zum Pu-
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blikum bahnte und dass er auch erste Werke der DDR-Kunst erwarb und ausstellte. Die Figur Bertolt Brechts, der 1950 zu den Mitbegründern der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin gehörte, war gerade in seinem nüchternen, zuweilen verfremdenden Erfassen gesellschaftlicher Realität nicht für Schriftsteller, Theaterleute und Künstler, sondern auch für viele ostdeutsche Intellektuelle ein ganz wichtiger Bezugspunkt. Er verkörperte trotz seiner mitunter wechselhaften Diplomatie den kreativen, unangepassten Verfechter einer konsequenten Wahrhaftigkeit. Sein Theater am Schiffbauerdamm, das Brecht-Ensemble, blieb auch nach seinem frühen Tod ein lebendiger Ort gestalterischer Freiheit und prägte so auch den Kunstbegriff von uns Jüngeren in starkem Maße mit. Fast in ähnlicher Form erschien auch die Welt des Pablo Picasso, des großen Neuerers figurativer Kunst im 20. Jahrhundert, der 1944 Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs geworden war. Seine Friedenstaube gehörte in der DDR als millionenfach hergestelltes Winkelement zu den jährlichen Maidemonstrationen, ein großer, von ihm gestalteter Bühnenvorhang schmückte das Innere des Brecht-Theaters, aber seine Kunst bereitete den Mächtigen Kopfzerbrechen. Von vielen Künstlern hingegen wurde sein Werk als starke Gestaltwelt begriffen, die zur Auseinandersetzung aufforderte und eine unmittelbare Verbindung zur klassischen Moderne herstellte. Über Jahre geführte Picasso-Debatten in der Zeitschrift Bildende Kunst hielten die Gemüter in Bewegung, doch das Für und Wider mündete schließlich in eine offizielle Akzeptanz dieser ganz im Realen verankerten Künstlerpersönlichkeit. In gewissem Sinne stand Picasso auch für das linksintellektuelle Frankreich mit solch offensiv-kritischen Geistern wie Sartre, Camus, Beauvoir, Genet oder Garaudy, die für viele in der ostdeutschen Kulturszene eine außerordentlich anregende Rolle spielten.
III. F ÜNF D IREKTOREN – FÜNF UNTERSCHIEDLICHE
C HARAKTERE
Es kam auch im Osten Deutschlands wie später in Deutschland, einig Vaterland immer wieder sehr auf die konkreten Personen an. Und dabei wurde die Nationalgalerie – alles in allem – von Kunsthistorikern geleitet, die in unterschiedlicher Weise eine Sammlung von Kunst in der DDR mit einem weitgehend qualitätvollen Profil entstehen ließen oder sich nach der Wende dieser Kunstsammlung konstruktiv und engagiert gestellt haben. Deshalb möchte ich die Haltung der Direktoren Willi Geismeier, Eberhard Bartke, Peter Betthausen, Dieter Ho-
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nisch und Peter-Klaus Schuster kurz umreißen, weil ihre Aktivitäten die Geschicke der Nationalgalerie in starkem Maße mitbestimmten. Willi Geismeier (1934-2007) – Direktor der Nationalgalerie von 1966-1975 und 1983-1985 Für uns junge Mitarbeiter wurden die gemeinsamen Jahre mit Willi Geismeier, der 1966 mit 32 Jahren die Leitung der Nationalgalerie übernommen hatte und sie 1975 erzwungenermaßen wieder abgeben musste, zu einer außerordentlich prägenden Lehrzeit, denn seine frische, qualitätsbewusste und zugleich engagiert-kritische Art des Zugehens auf Kunst, Künstler und Kollegen, aber auch sein Umgang mit der museumsspezifischen und kulturpolitischen Tagesproblematik blieben für uns eine maßstabsetzende Einstellung. Auf diese Zeit zurückblickend, schilderte Geismeier 1996 die damalige Museumspraxis so: »In Ausstellungen haben wir nur selten gekauft, in der Regel wurde bei Atelierbesuchen eine Auswahl getroffen, die dann in der ständigen Ausstellung ›ausprobiert‹ wurde. Atelierbesuche waren also an der Tagesordnung, Ankaufsentscheidungen wurden immer im Kollegenkreis diskutiert, jeder hatte das Vorschlagsrecht, denn es sollte ja eben erreicht werden, was ich vorher als Ziel dieser Arbeit formuliert habe: Ausbau, Ergänzung und qualitative Verdichtung des Sammlungsbestandes. Die letztendliche Entscheidung über einen Ankauf habe ich mir als Direktor dann allerdings vorbehalten, es wurde also nicht etwa gemäß Mehrheitsentscheidung angekauft.«
Willi Geismeier war, wie man zu sagen pflegt, in dieser Zeit der richtige Mann am richtigen Ort. Mit seinem untrüglichen Gespür für Qualität, aber eben auch mit dem beherzten Zugriff und seinem klugen Durchsetzungsvermögen erwies sich der Kapitän der schon damals mit dem Begriff des Flaggschiffes bezeichneten Nationalgalerie als der Museumsmann, der mit seinem Team weitgehend richtige Erwerbungsentscheidungen traf. Geismeiers Ankaufspolitik legte den Grundstein für eine qualitativ hochrangige Sammlung, in der alle Kunstzentren wie Berlin, Leipzig, Dresden und Halle/Saale sowie bedeutende Einzelgänger vertreten waren. 1975 wurde er abgesetzt, weil dem Ministerium für Kultur seine Eigenständigkeit nicht mehr passte und dem Nachfolger Eberhard Bartke der Weg zum kommenden Generaldirektor zu bereiten war, was seinerzeit noch ein Direktorenamt zur Voraussetzung hatte.
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Eberhard Bartke (1926-1990) – Direktor der Nationalgalerie von 1975-1983 Den schwierigsten Part bedeutete für uns Eberhard Bartke, der aus dem Ministerium für Kultur kam und Christine Hoffmeister als stellvertretende Direktorin mitbrachte. Nicht nur, dass sein Kommen unseren geschätzten Willi Geismeier auf skandalöse Weise aus dem Amt warf und auch zum Weggang seiner Stellvertreterin Liselotte Honigmann-Zinserling führte, er war durch mehrere Aktivitäten auch als ausgesprochener Hardliner bekannt. Roland März und ich traten deshalb in den inzwischen liberaler gewordenen Verband Bildender Künstler, Sektion Kunstwissenschaft, ein, um bei einem möglichen Ausscheiden-Wollen doch etwas gesichert zu sein. Aber es kam anders, Bartke vollzog in vielem eine deutlich spürbare Wandlung, sodass schon lange angestrebte Personalausstellungen für Werner Stötzer, Harald Metzkes und Wieland Förster plötzlich möglich wurden – und das bedeutete für diese von uns unterstützte Künstlergeneration den entscheidenden Durchbruch. Trotzdem blieb mit Eberhard Bartke eine gewisse Unberechenbarkeit verbunden; gesundheitliche Probleme führten 1983 zur Aufgabe seiner beiden Ämter. Willi Geismeier übernahm erneut das Direktorenamt, doch ein von ihm erstellter Masterplan mit Forderungen an das Ministerium für Kultur wurde von diesem abgelehnt, was Geismeier 1985 bedauerlicherweise zum Rücktritt bewog – ein Vorgehen, das wiederum für seine couragierte Haltung sprach. Peter Betthausen (geb. 1941, lebt in Berlin) – Direktor der Nationalgalerie von 1986-1991 Als 1985 die Nachfolge zur Debatte stand, hätte eigentlich Roland März aufgrund seiner fachlichen Fähigkeiten und seines kollegialen Führungsvermögens Direktor werden müssen, aber er gehörte nicht der Partei an und damit war die Besetzung eines solchen Amtes in der Nationalgalerie ausgeschlossen, was bei kleineren Sammlungen wie dem Islam oder der Frühchristlich-byzantinischen Kunst durchaus als Möglichkeit bestand. Peter Betthausen wurde ausgewählt und führte die Geschäfte mit Umsicht, war aber eher ein Denkertyp im Gegensatz zu Geismeier, der in unmittelbarerer Verbindung zu den Künstlern stand. Mehrere große Personalausstellungen – Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Bernhard Heisig, aber auch Gerhard Altenbourg – fanden unter seiner Ägide statt und er hatte sich des Ansinnens von Willi Sitte zu erwehren, der 1986 die
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von 1976-1983 gleichzeitig Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin (Ost)
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Nationalgalerie in eine Art Olymp sozialistischer Kunst verwandeln wollte. Diese vom ZK der SED unterstützte Aktion zielte darauf ab, wichtige Werke von Sitte, Mattheuer, Tübke, Heisig u.a. aus anderen Museen der DDR abzuziehen und in die Nationalgalerie zu verbringen, ein Eingriff also in den Organismus anderer Sammlungen, den wir strikt ablehnten. Glücklicherweise konnte dieses größenwahnsinnige Unterfangen abgewehrt werden, es kam lediglich zu einer Neugestaltung der Präsentation Kunst der DDR, angereichert mit einer Reihe von Leihgaben und der Herausgabe eines ersten Bestandskataloges zu diesem Sammlungsbereich. Peter Betthausen führte die Nationalgalerie(Ost) in die Wende, organisierte zusammen mit Dieter Honisch erste Treffen der Teams aus Ost und West schon 1990 und schied 1991 auf eigenen Wunsch hin aus. Dieter Honisch (1932-2004) – Direktor der Nationalgalerie der Staatlichen Museen – Preußischer Kulturbesitz von 1975-1992, Direktor der wiedervereinten Nationalgalerie von 1992-1997 Die Ereignisse nahmen ihren vehementen Verlauf, am 4.10.1990 wurden die Staatlichen Museen zu Berlin (Ost) selbständiger Teil der Stiftung Preußischer Kulturbesitz unter dem Präsidenten Werner Knopp, dessen sachlich-liberale Haltung für die Art der Zusammenführung von außerordentlicher Bedeutung war. Die einzelnen Partnersammlungen auf beiden Seiten arbeiteten schon zusammen, bevor am 1.1.1992 der direkte Zusammenschluss erfolgte und Dieter Honisch die Führung über die Mannschaften aus Ost und West übernahm. Er war es auch, der schon 1990 die sogenannten Dialog-Ausstellungen anregte – ein WestKünstler wurde im Alten Museum gezeigt, ein Ost-Künstler in der Neuen Nationalgalerie. Reiner Ruthenbeck und Hanns Schimansky machten den Anfang einer Reihe, die bis 1995 weitergeführt wurde und Ost-Künstler wie Lothar Böhme, Walter Libuda, Frank Seidel, Maren Roloff und Carsten Nicolai präsentierte. Honischs Intentionen lagen zwischen der amerikanisch-europäischen Farbfeldmalerei einerseits und einer sozial ausgerichteten Gestaltung andererseits. Seine Beziehungen zu ungarischen und polnischen Künstlern bedeuteten auch eine solidarische Haltung, die er im Prinzip auch der ostdeutschen Kunst entgegenbrachte. So verwundert es nicht, dass er 1993 in die Neupräsentation der Kunst des 20. Jahrhunderts auch vierzehn Künstler aus der DDR einbrachte – unter ihnen Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig und Willi Sitte –, was 1994 den sogenannten Deutsch-deutschen Bilderstreit entfachte. Alle eigentlich unhaltbaren Forderungen nach einer Abhängung lehnte er kategorisch ab.
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Peter-Klaus Schuster (geb.1943, lebt in Berlin) – Direktor der Nationalgalerie von 1997-1998 und 1999-2008 3 Peter-Klaus Schuster schließlich ging aus unserem Kollegenkreis als Direktor hervor, entfloh für ein Jahr nach München, aber übernahm dann – nach dem Ausscheiden des Generaldirektors Wolf-Dieter Dube – erneut das Amt des Direktors und zugleich des Generaldirektors der Staatlichen Museen. Das war nur möglich, weil er die Nationalgalerie und die anderen Sammlungen sehr gut kannte und als workaholic unablässig in den Häusern unterwegs war. Er war mehr der Gelehrtentyp, ähnlich wie Peter Betthausen, zugleich aber verströmte er in allen Bereichen permanent Ideen und Anregungen, sodass sich fast alle über die Maßen für seine Projekte einsetzten. Vor allem aber war er es, der sich immer wieder für eine Gesamtdarstellung der Kunst in der DDR einsetzte, was 2003 unter höchsten finanziellen Schwierigkeiten auch gelang. Zugleich forderte er zum selben Zeitpunkt einen entsprechenden Bestandskatalog zur DDR-Kunst ein, was unter ziemlich großem Einsatz auch geschafft wurde. In allen Präsentationen der Sammlung waren DDR-Künstler vertreten und als 2001 eine SitteAusstellung in Nürnberg abgesagt wurde, ließ er demonstrativ Sittes Leuna 1921 im Foyer der Neuen Nationalgalerie neben Sigmar Polkes Aufbau-Ost hängen – ein klares Statement für vernünftige Umgangsformen.
IV. A USGEWÄHLTE E RWERBUNGEN In einer Art bildnerischer Anlage zeige ich nun im Schnelldurchlauf eine Auswahl von Werken, die unter den Direktoren Geismeier, Bartke, Betthausen und Honisch erworben worden sind. Unter Schuster ist nichts mehr hinzugekommen, was bedauerlich ist, denn eine solche Sammlung braucht auch jetzt noch Ergänzungen. Einen Grund für diese Stagnation bilden die Engpässe bei den Erwerbungsmitteln, aber es blieben auch Vorbehalte gegenüber ostdeutscher Kunst bestehen, etwa beim Verein der Freunde der Nationalgalerie, der jedoch andererseits in Zeiten knapper Gelder – und das soll betont werden – für eine wichtige materielle Unterstützung von Sonderausstellungen und anderen Erwerbungen gesorgt hat.
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in dieser Zeit gleichzeitig Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz
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Erwerbungen durch Willi Geismeier Zu den unter Willi Geismeier in die Sammlung gekommenen Werke gehören • die Gliederpuppe des Dresdner Altmeisters Wilhelm Lachnit von 1948, die
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richtungsweisend ihre Hände spreizt und doch als Metapher einer Suchenden erscheint; die Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III von 1965, ein Hauptwerk Werner Tübkes, das veristisch zugespitzt die makabre Skurrilität eines deutschen Richters aufspürt; der Sitzende Akt von Harald Metzkes, Haupt der Berliner Schule, der 1966 in malerischer Plastizität natürliche Existenz verfremdet; die Sitzende mit aufgestütztem Arm von Werner Stötzer, die zwischen 1970 und 1974 entstand und die gespannte Volumen vital an- und abschwellen lässt, und Leuna 1921 von Willi Sitte, der 1965/1966 mit vehementer Wucht den niedergeschlagenen Aufstand der Leuna-Arbeiter zu einer simultanen Bildszenerie verkoppelt.
Erwerbungen durch Eberhard Bartke Zu den von Eberhard Bartke erworbenen Werken zählen • der Abtransport der sechsarmigen Göttin von Harald Metzkes, der mit seiner
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1956 ins Bild gesetzten Kolonialisierungskritik seine damalige Wahlverwandtschaft zu Max Beckmann bezeugt; die Verhüllte Figur des Dresdners Willy Wolff von 1966, die zum Sinnbild des Ungewissen wird, angesiedelt zwischen Schwermut und Burleske; Die Ausgezeichnete, die Wolfgang Mattheuer 1973/1974 in eine abendmahlsartige Entrücktheit versetzte; die Große Neeberger Figur von 1970 bis 1974, mit der Wieland Förster zugleich beklemmende Verschnürung und sinnliche Übersteigerung in einem Frauenkörper verdichtet; der Bunkerkarneval Volker Stelzmanns von 1976, der in Anlehnung an Otto Dix zum karikierenden Panoptikum triebhafter Enthemmung mutiert, und Die Beharrlichkeit des Vergessens – 1978 von Bernhard Heisig als ein Zerrbild der Angst, falscher Lebenslust und anhaltender Gewalt zu einem furiosen Schauspiel verklammert.
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Erwerbungen durch Peter Betthausen Unter Peter Betthausen wurden unter anderem folgende Werke erworben • das große Gemälde Menschen am Strand – Begegnungen von Hans Vent, das
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als 2. Fassung seiner Tafel für den Palast der Republik 1976/1977 entstand und schweigende Körper um eine sinnliche Lichtgestalt gruppiert; die Medea der Dresdner Malerin Angela Hampel, die mit bedingungsloser Expressivität zugleich ein existentielles Aufbegehren signalisiert; das Bildnis R. L. in Blau von 1986, das der besonders auch als Zeichner hervorgetretene Dresdner Max Uhlig in dynamisch bewegte Strichbündel kraftvoll einbindet; Der Widerstand – für Peter Weiss III von 1986/1987, den Hubertus Giebe als eine simultane Momentaufnahme dramatisch-erstarrter Konflikte äußerst gespannt in den Bildraum wuchtet, und Die Schleuse von Walter Libuda aus dem Jahre 1987/1988, die bühnenartig Gewalt, Verletzung und Flucht in malerisch-massiven Formballungen symbolisiert.
Erwerbungen durch Dieter Honisch Dieter Honisch hat nur wenige Werke der Kunst in der DDR erworben, darunter eine konstruktiv-abstrakte Arbeit des Dresdners Karl-Heinz Adler und eine Porträtskulptur von Sabina Grzimek während deren Personalausstellung 1992 in der Alten Nationalgalerie. Bemerkenswert aber ist, dass er – wie Werner Hofmann in Hamburg, Peter Beye in Stuttgart oder Georg W. Költzsch in Saarbrücken – schon in den 1980er Jahren Werke von DDR-Künstlern erwarb. Neben Zeichnungen von Gerhard Altenbourg, Werner Tübke und Max Uhlig, die 1988 ins Kupferstichkabinett übergingen, gehörte 1985 auch Bernhard Heisigs Ardennenschlacht zu diesen doch überraschenden Ankäufen.
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V. F ÜNF E RINNERUNGEN – W EGE VON W ERKEN IN DIE S AMMLUNG Da ich von jüngeren Leuten zuweilen gefragt werde, wie die Gemälde und Skulpturen in die Nationalgalerie gelangt seien, wer darüber entschieden habe, möchte ich hier fünf Beispiele anführen, die mir noch gut im Gedächtnis geblieben sind und die zeigen, dass wir als Mitarbeiter in vielen – nicht in allen – Fällen unmittelbar beteiligt waren. Die Voraussetzung für einen positiven Entscheid bildeten natürlich die jeweilige Haltung des Teams und die Zustimmung des Direktors. Bei größeren Arbeiten waren die Annahme durch den Generaldirektor und die Genehmigung durch das Ministerium für Kultur vonnöten. Das einzige Werk von Strawalde, das sich in der Sammlung der Nationalgalerie befindet, seine Beweinung von 1958, haben Roland März und ich in einer kleinen Personalausstellung in der Berliner Galerie am Prater entdeckt. Dieses Hauptwerk aus seiner Schwarzen Periode, das den Einfluss von Picasso deutlich werden lässt, war für uns in seiner Qualität so überzeugend, dass wir es auf einer der regelmäßig stattfindenden Ankaufsbesprechungen vorstellten und dort auch die Unterstützung durch Mannschaft und Direktor erfuhren, was dann zum Ankauf führte. Ähnlich verhielt es sich mit dem ersten Gemälde, das wir von dem Berliner Maler Lothar Böhme erworben haben. Nur war in diesem Falle die ganze Wissenschaftlermannschaft ausgeschwärmt, um in der Bezirkskunstausstellung im Berliner Fernsehturm nach geeigneten Arbeiten zu suchen. Im Ergebnis wählten wir zwei Werke aus, die entsprechend geprüft werden sollten, das Gemälde Marina von Rolf Händler und eben den Sitzenden Akt von Böhme, den Roland März und ich vorgeschlagen hatten. Diese dicht verspannte Szenerie einer jungen Frau wurde zunächst als Leihgabe ins Alte Museum geholt, um später endgültig in die Sammlung einzugehen. In den Jahren darauf folgten weitere Werke von ihm. Trotz der Bemühung um eine versachlichte Wertung gegenüber den Werken, die man als Museumsmitarbeiter zu betreuen hat, gibt es doch Gemälde oder Skulpturen, denen man sich auf eine besondere Weise verbunden fühlt. Wolfgang Mattheuers Gemälde Ein weites Feld von 1973, das die Nationalgalerie 1974 erworben hat, gehört für mich dazu. Als Roland März und ich am 16. April 1974 Wolfgang Mattheuer in seinem Leipziger Atelier besuchten, haben wir das Bild zum ersten Mal gesehen und waren beeindruckt. Wir hatten beide das Gefühl, ein solches Werk gehöre in die Sammlung der Nationalgalerie. Solche Momente, bei denen man von Anbeginn an von der Qualität einer Arbeit fest überzeugt ist, deren Einschätzung aber gewissermaßen ungeschützt erfolgt, weil sie sich noch in der Werkstatt befindet und vorher zudem nur von wenigen ande-
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ren gesehen wurde, gehören zu den in dieser Form nicht so häufig eintretenden glücklichen Stunden bei der Arbeit mit der Kunst und dem Künstler. Wenn sich auch nach Jahren diese ursprünglich empfundene Wertigkeit eines Werkes bestätigt, dann lässt das schon eine besondere Verbindung entstehen. Roland März, seinerzeit für den Bereich Malerei der DDR verantwortlich, gab unsere Empfehlung an den damaligen Direktor Willi Geismeier weiter, der dann im Vertrauen auf unser Qualitätsempfinden umgehend am 19. April 1974 an Mattheuer schrieb: »Sehr geehrter Herr Professor Mattheuer! / Kollege März hat mir von dem Besuch bei Ihnen berichtet und von einer ›Frühlingslandschaft‹ gesprochen, die ihm sehr interessant schien. Ich möchte Sie deshalb bitten, uns das Bild, wie bereits in früheren Fällen geschehen, zunächst einmal leihweise zu überlassen, wobei ich natürlich dann auch an einen Ankauf denke. Aber das kann man doch erst nach längerer Kenntnis entscheiden und ich hoffe sehr, daß Sie meinem Wunsch entsprechen können. / Wir würden das Bild dann bei nächster Gelegenheit einmal bei Ihnen abholen lassen. / Mit freundlichen Grüßen / Dr. W. Geismeier«.
Mattheuer stimmte zu, es gab ein paar Verhandlungen wegen des Honorars, aber Ende 1974 gehörte das Werk zur Nationalgalerie und wurde gleich in die ständig gezeigte Sammlung integriert. Sabina Grzimeks Mutter und Kind sah ich auf der Ausstellung Plastik und Blumen im Treptower Park. Ich habe lange vor dieser Skulptur verweilt und hatte dann das Gefühl, dass ein solches Werk gut in unsere Sammlung passe, sogar ein bildhauerischer Höhepunkt werden könne. Mein entsprechender Vorschlag war erfolgreich. Eine fast zum Schmunzeln animierende Erinnerung geht auf den Spätsommer 1988 zurück, als ich die Studio-Ausstellung 42 der Nationalgalerie (Ost) mit dem Titel Ideenplastik – Sinnzeichen in der Bildhauerkunst der DDR im Alten Museum vorbereitete. In sie waren Arbeiten von Appelt, Balden, Biebl, Mattheuer, Reinemer, Schmiedel, Ursula Wolf und von Baldur Schönfelder einbezogen. Die Kollektion Schönfelders bildete dabei mit einer ganzen Reihe von Skulpturen – so seine beiden Nike-Büsten – und Zeichnungen einen Schwerpunkt dieser Schau, die das reflektierte, in sich gebrochene, neu verstückte Menschenbild zum Thema hatte. Alle Werke waren im kleinen Katalogheft verzeichnet – nur eines fehlte: Baldur Schönfelders Großes Kniestück – geformt aus Beton, Eisen, und in sich beweglich. Und damit hatte es folgende Bewandtnis: Wenige Tage vor der Eröffnung am 21. September rief mich Schönfelder an und meinte: Herr Jacobi, ich habe da
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eine Arbeit beendet, die eventuell noch in diese Ausstellung passen könnte. Wenn Sie wollen, schauen Sie sich die mal an! Ich war interessiert, und so steht in meinem Tagebuch vom Sonnabend, dem 17. September: »Will gleich zum Treff mit Schönfelder, der mir seine neueste Arbeit zeigen will […]« Und am Sonntag, dem 18. September, geschrieben um 9 Uhr im Espresso des Fernsehturms, findet sich die Eintragung: »Auf dem Wege zum Museum. Schönfelder bringt sein neuestes Werk, das bewegliche ›Knie‹. Es wird der Höhepunkt der Ausstellung. Ich habe es gestern bei ihm draußen gesehen – und war zunächst wirklich überrascht, brauchte einige Zeit, um es in den ›Blickwinkel‹ zu bekommen. Doch bei längerem Betrachten, Überlegen, Abwägen, ob es ins Studio paßt, wurde die Gewißheit immer größer, daß es geht und sogar gut ist. Es ist ein neuer Schritt innerhalb der Plastik Schönfelders!«
Eine aufregende Aktion also, die mir unvergessen bleibt, zumal dieses organisch-abstrakte Werkstück bald darauf von der Nationalgalerie erworben und später, nach der Wende, auch zeitweise in der Oberen Halle der Neuen Nationalgalerie präsentiert wurde.
VI. D AS S TUDIO – EINE A USSTELLUNGSREIHE DER N ATIONALGALERIE IM A LTEN M USEUM . 1972-1990 Dass gemeinsames Aktivwerden wirklich lohnenswert sein kann, zeigte 1972 die Initiative von Roland März, Claude Keisch und mir für eine neue Ausstellungsreihe im Ecksaal der zweiten Etage des Alten Museums, der wir den Namen Das Studio gaben. Zunächst nur in Erprobung, führte sich diese Präsentationsform so gut ein, dass einfach ein Weiterbestand erwartet wurde. Während Sie hier den Altmeister Hermann Glöckner im Studio vor seiner bespannten, prismatisch aufgebrochenen Wandbespannung sehen (Abbildung 1), mögen noch ein paar Worte zur Zielstellung dieser Reihe angefügt werden. Mit dieser essayistischen Ausstellungsform sollte eine gewisse Unbeweglichkeit aufgebrochen werden und die Möglichkeit entstehen, auf aktuelle Kunsttendenzen schneller reagieren sowie die zum Teil unter DDR-Verhältnissen brisanten Kunstthemen behandeln zu können. In einem größeren Rahmen wäre dies aus ideologischen und finanziellen Gründen nicht realisierbar gewesen, zugleich war eine gewisse Signalwirkung mit solchen Präsentationen verbunden. So konnte auch diese Glöckner-Ausstellung damals noch nur unter diesen StudioBedingungen Wirklichkeit werden.
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Abbildung 1: Der Altmeister Hermann Glöckner (1889-1987) vor seiner Bespannung »Achtfach reflektierter Strahl« 1977 im Studio 14 »Hermann Glöckner. Dächer – Giebel – Dreiecke. Formwandlungen von 1927 bis 1977«, kuratiert von Annegret Janda. (Rekonstruktion dieser Arbeit in der oberen Halle der Neuen Nationalgalerie in der Ausstellung »Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie 2003«)
Quelle: © Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, Künstlerdokumentation Hermann Glöckner
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Abbildung 2: Blick in das zum Teil verspiegelte Studio 42 »Ideenplastik. Sinnzeichen in der Bildhauerkunst der DDR«, 1988, mit Werken von Theo Balden, Wolfgang Mattheuer, Baldur Schönfelder, Karl-Heinz Appelt, Wieland Schmiedel, Ursula Wolf, Detlef Reinemer und Rolf Biebl, kuratiert von Fritz Jacobi. Im Vordergrund: Rolf Biebl (geb. 1951), Stehende weibliche Figur, 1987, Bronze, 200 x 39 x 49 cm
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Welche Brisanz noch immer mit solchen eigentlich normalen Kunstvorstellungen verbunden war, zeigte das Eingreifen von zwei hochkarätigen Mitarbeitern des Ministeriums für Kultur, welche die Ausstellung Von der Collage zur Assemblage 1978 kurz vor der Eröffnung gesehen hatten. Sie bestanden auf der Entfernung des Werkes Mona Lisa und das Rasiermesser von Jürgen Schieferdecker, sonst drohe die Schließung der Schau. Da der Künstler mit weiteren Arbeiten vertreten war, entschlossen wir uns schweren Herzens, diesen Kompromiss einzugehen. Der inwendige Zorn ob solcher beklemmender Situationen wurde durch die große Resonanz dieser Präsentation wieder aufgewogen. Wir waren froh, diese Studio- Ausstellungen überhaupt einrichten zu können, aber es galt eigentlich ständig, die Möglichkeiten entsprechend abzuwägen. Das Ringen um Normalität war unser Ziel – manches wurde erreicht, manches nicht. Den Anlass der 25. Studio-Austellung Der Kuß. Liebespaare in Graphik und Plastik des 20. Jahrhunderts 1980 nutzten wir, um in einer kleinen Chronik die bisherigen Expositionen und ihre Kuratoren zu dokumentieren. Die von Friedegund Weidemann eingerichteten Studio-Ausstellungen Junge Maler aus Leipzig im Gespräch, 1973, oder Neuerdings Karl-Marx-Stadt, 1976, welche vor allem die Clara-Mosch-Gruppe vorstellte, zeigten ebenso wie Expressivität heute die Möglichkeit eines unmittelbaren Aufgreifens neuer Tendenzen. Uns war eine direkte Beziehung zu den Künstlern sehr wichtig, denn man fühlte sich mit sehr vielen von ihnen einem gemeinsamen Anliegen verbunden. Ein Blick in den zum Teil verspiegelten Studio-Raum der Schau Ideenplastik. Sinnzeichen in der Bildhauerkunst der DDR mit Werken von Rolf Biebl im Vordergrund belegt, dass auch häufig experimentelle Ausstellungsgestaltungen realisiert wurden (Abbildung 2). Diese zwar kleinen, aber doch von einem regen öffentlichen Interesse begleiteten Studio-Präsentationen bedeuteten auch den Versuch, den einen oder anderen Impuls in der östlichen Kunstlandschaft zu setzen. Dabei ist aber in besonderem Maße zu betonen, dass es die Künstler selbst waren, die mit ihren neuen Formansätzen überhaupt erst die Basis für interessante Ausstellungsprojekte entstehen ließen.
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VII. F ÜNF D RUCKERZEUGNISSE – V IER A USSTELLUNGEN UND EIN S AMMLUNGSKATALOG Abschließend sei eine Reihe von Publikationen ins Bild gerückt, die vor allem die weitere Existenz der Kunst in der DDR in der vereinten Nationalgalerie dokumentieren. Wohl waren unter den neuen Bedingungen die Ausstellungsmöglichkeiten wesentlich eingeschränkter als vorher, aber die Bemühungen um eine entsprechende Einbeziehung blieben im Gegensatz zu manch anderen Museen doch immer präsent. Die letzte große Ausstellung zu DDR-Zeiten zur ostdeutschen zeitgenössischen Kunst mit dem Titel Konturen, die wirklich das ganze Spektrum junger Kunst von der veristischen Akkuratesse über realistische und expressive Gestaltungsformen bis hin zur abstrakten Ausdruckssprache präsentierte, fand in der Alten Nationalgalerie zu einer Zeit statt, als ganz andere Belange die Menschen bewegten. Am 5.10.1989 im Beisein des Kulturministers Keller eröffnet, schloss sie am 3.12.1989 unter völlig anderen Umständen – aber wir konnten auch da noch guten Gewissens zu unserer Auswahl stehen. Dieter Honisch regte an, die Bestände der Kunst der DDR noch einmal neu strukturiert in der Alten Nationalgalerie zu zeigen und betraute mich mit dieser Aufgabe, die ich auch gern übernahm. Da wir es bereits in den vergangenen Jahren geschafft hatten, der ständigen Sammlung ein Profil zu geben, mit dem wir in weiten Partien übereinstimmten, schloss meine Ausstellung mit einigen anderen Akzentsetzungen und unter Einbeziehung von Handzeichnungen an dieser Ausrichtung an. Es gab einige kritische, leider auch unsachliche Stimmen zu dieser Präsentation, weil man möglicherweise ganz andere Prämissen erwartet hatte. Beim Blick in den damals erschienenen Flyer, in dem ich sämtliche Künstlernamen verzeichnet hatte, würde es heute zu solchen Einwänden wohl nicht mehr kommen. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Werner Knopp, war daran interessiert, die Kunst aus der DDR auch in anderen, vornehmlich den alten Bundesländern zu zeigen und gab 1995 den Auftrag an die Nationalgalerie, dafür eine Ausstellung und einen Katalog zu erarbeiten – eine Aufgabe, die mir übertragen wurde. So reisten innerhalb des Föderalen Programms der Stiftung seit 1995 Gemälde und Skulpturen der in der DDR entstandenen Kunst nach Papenburg, auf Schloss Cappenberg, ins Museum Höxter/Corvey und andere Städte. Viele Besucher waren überrascht, nicht den sozialistischen Realismus vorzufinden, den sie erwartet hatten. Die Ausstellung Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie in der Neuen Nationalgalerie 2003 habe ich schon mehrfach erwähnt: Sie war
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zweifellos mit ihrer weitgefächerten, sachlich zusammengestellten und an ästhetischen Gesichtspunkten orientierten Ausrichtung der Höhepunkt einer Präsentation ostdeutscher Kunst nach der Wende. Nicht nur wegen ihrer unerwartet hohen Besucherzahlen wurde sie zur Besten Ausstellung des Jahres gekürt. Peter-Klaus Schuster stand nicht nur hinter der Ausstellung Kunst in der DDR. Eine Retrospektive, bei der er den Kuratoren März und Blume weitgehend freie Hand ließ, er drängte zum gleichen Zeitpunkt auch auf einen Bestandskatalog zu den Gemälden und Skulpturen aus DDR-Zeiten im Besitz der Nationalgalerie. Dieser Sammlungskatalog bedeutete einen weiteren wichtigen Schritt in der Erfassung dieser Kunst und in der klaren Zeugenschaft zum gesamten Bestand, zur Art der Erwerbungen, verbunden mit einer graduellen Wertung durch das partielle Einfügen von Texten oder der unterschiedlichen Größe der Abbildungen. Dieser Katalog bildete zugleich so etwas wie die Zusammenfassung vieler unserer Bemühungen um Normalität und Qualität. Es gibt ein Wort von Wolfgang Mattheuer aus dem Jahre 1976, das ich wiederholt in Texten zitiert habe und das ich auch hier an den Schluss stellen möchte, weil es nicht nur für den Sozialistischen Realisten oder die damalige Zeit Geltung hat: »Er, der sozialistische Realist, darf weder der wohltuenden Wahrheit das Primat geben noch der schmerzenden Wahrheit ausweichen […]. Denn verschwiegene Wahrheiten werden giftig.«
»Die Kunst ist ein Phantom«1 Y ANA M ILEV IM I NTERVIEW MIT S TEFAN F UCHS
SF: Frau Milev, Sie sind 1969 in Leipzig geboren, in der untergegangenen DDR groß geworden. Sie haben dort eine akademisch-künstlerische Ausbildung absolviert, Malerei studiert und Bühnenbild. Damals haben Sie wohl auch tatsächlich gemalt und gezeichnet, wie man das traditionell von einer Künstlerin erwartet. Aber dann gab es bei Ihnen zugleich eine existentielle Krise, eine Bruchstelle in Ihrer Biografie, eine Wunde an mir selbst, wie Sie das nennen. Wie würden Sie retrospektiv heute diese Wunde beschreiben? YM: Ich nehme fast an, dass mich diese Krise als eine Art Mitgift schon seit meiner Geburt begleitet. Nein, Spaß beiseite. Also, um zu diesem Thema einen Einstieg zu finden, würde ich tatsächlich sagen, dass es sich vielleicht um mein spezifisches Verhältnis zu Ordnungen und Verordnungen handelt, schließlich um mein Verhältnis zu Institutionen – am Beispiel der Kunstinstitutionen. Ich glaube nicht, dass die Malerei an sich für mich ein Problem darstellte. Problematisch fand ich, und dies vor allem eben an den Kunstakademien, in welchen Dienst die Malerei gestellt wurde. Konkret möchte ich an meine Begegnung mit einem Malstil erinnern, der sich Leipziger Schule nannte. Dieser Malstil ging Hand in Hand mit einer polit-ästhetischen Forderung einher, die sich sozialistischer Realismus nannte. Problematisch war für mich die Verordnung im Umgang mit dem Medium, die an der Kunstakademie zum unangezweifelten Lehrprogramm ge-
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Interview mit Yana Milev, Berlin, am 24. August 1997, im Rahmen der ThemenReihe: »Ende der Kunst – Kunst des Endes«, anlässlich der 10. documenta in Kassel; DLF: Kultur am Sonntagmorgen; Moderation und Redaktion: Stefan Fuchs, Baden-Baden. Überarbeitung April 2007. Die Berliner Künstlerin war auf der 10. documenta mit einer Installation im Ottoneum vertreten.
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hörte. Und die war mehr oder weniger repressiv. Das ist ein Beispiel. Das hat sich auch in Dresden an der Kunstakademie wiederholt. Und zwar dort, wo es darum ging – ich studierte dann wie gesagt Bühnenbild – die ästhetischen Normen des sozialistischen Theaters zu bedienen. Das war in der DDR wohl besonders krass. Denn diese ideologische Terminologie, die Art der DDR-Political Correctness, wirkte massiv in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Auch in der Kunst. Aber die DDR-Akademien, die ich da durchlaufen habe, sind nur ein Beispiel. Was prinzipiell die sogenannte Krise, von der wir hier sprachen, bei mir immer und immer wieder ausgelöst hat, ist die Konfrontation mit Funktionsräumen. Diese Konfrontation ist wie eine Ereignisverkettung, die sich unaufhörlich wiederholt. Vor allem dann, wenn ich den Funktionsraum in diesem mir bekannten repressiven Stil am allerwenigsten erwarte, wie zum Beispiel eben an der Kunstakademie. Das war sehr naiv. Denn damals glaubte ich fest – ich war etwa 19, 20 Jahre alt –, dass die Kunst als Begriff und als Raum praktisch die Möglichkeit der Entgrenzung und Grenzüberschreitung (von Funktionalismen) bereithält. Also dass es da, an diesen Akademien Leute, Lehrer gibt, die einen genau darin unterweisen und unterstützen. Ja bestärken. – Diese Krise, oder ich selbst als Krise, würde ich mal als Defekt bezeichnen wollen. Denn was die Krise zustande kommen lässt, ist meine eigene Unfähigkeit, mich Normen zu beugen. Das ist mein Widerstand, der einerseits zutiefst das Funktionieren innerhalb von normierten Wertemechanismen verweigert und andererseits so eine Utopie vor sich herschiebt. Genau diese Verweigerung machte mich immer zum Außenseiter. Das war gar nicht toll, sondern ein Elend. Ich habe mich ständig selbst aus einem quasi funktionierenden Kollektiv herauskatapultiert. Aber ohne Konzept. Ich konnte gar nicht anders. Und dann stand ich als Randfigur im Abseits. Und dort dann, im Abseits, habe ich mich immer als Defekt realisiert. Das ist meine Geschichte, die meine Biografie durchzieht. Das hat schon fast System. Mittlerweile bin ich an dem Punkt, Gott sei Dank, wo ich mein Defektpotential ganz bewusst, aber auch immer noch sehr wütend, annehme. Mittlerweile erkläre ich es tatsächlich zum Konzept. Zu meinem eigenen Konzept. Ich sage ja auch: Ich bin A.O.B.B.M.E., ein nicht lokalisierbarer Defekt im Getriebe der Urbanisierungsmaschine. Die Urbanisierungsmaschine, die bin ich ebenfalls. Da habe ich einen Sprung gemacht, und zwar dort, wo ich den Funktions- und Konditionierungszwang unter herrschende Normen und Wertbilder nicht mehr außerhalb von mir suche. Diese Geschichte ist genauso in mir drin. Somit kann ich wohl sagen, dass ich mich zur Hoffnung für mich selbst erkläre, indem ich sage, dass ich ein Defekt bin. Also eine Störung. Die birgt immer die Hoffnung auf einen Aufbruch oder Umbruch in sich. Subversivität ist etwas sehr Hoffnungsvolles.
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Abbildung 1: Yana Milev, Horror Vacui. Eine Messe, Installation und Performance, Fuikhalle Dresden 1989
Abbildung 2: Yana Milev, Exodus VIII, Initiation in aobbme, 1995
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Felix Krull
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Uwe Walter
Abbildung 3: Yana Milev, Kinetisches Archiv, seit 1987
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Albrecht Grüss
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Abbildung 4: Yana Milev, Projection Forum III, documenta X, 1997
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Uwe Walter
Abbildung 5: Yana Milev, Projection Forum III, documenta X, 1997
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Uwe Walter
»D IE K UNST IST EIN P HANTOM «
Abbildung 6: Yana Milev beim Training des Kyd im Kyudjo des Budkan Sakyo-ku, Heianjingu-kita in Kyto-shi. Man sieht hier die Position »Kai« in der Bewegungsdramaturgie (Hassetsu).
Quelle: AOBBME-Archiv
Abbildung 7: Kend- Training im Kendjo des Budkan Sakyo-ku, Heianjingu-kita in Kyto-shi
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Yana Milev
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Aber eben genau dieses subversive Potential ist im Grunde Feindbild in allen Funktions- und Kontrollräumen. Auch in der Kunst. Dort wird die Subversion auch irgendwie kriminalisiert. Also im Osten war das garantiert so, da nannte man das subversive Potential Untergrund und Untergrund-Szene. Dieser Untergrund hatte ja tatsächlich eine ganz andere politische Brisanz als in einer Welt des Warenkonsums. Dort wird doch Untergrund ganz schnell zur Innovation, zum Trend und zum Mainstream. Im Osten war man als subversives Element wirklich existentiell gefährdet. Denn man wurde von der Stasi immer observiert und auch psychisch terrorisiert, unter Druck gesetzt. Viele haben eine Ausreise beantragt. Einige sind in den Westen geflohen. Einige sind dabei draufgegangen oder kamen in den Knast. Andere wiederum wurden von der Stasi derart in die Enge getrieben, dass sie sich umbrachten. Dann kam die Wende und plötzlich war dieser Ost-Untergrund ganz hipp. Das war einfach pervers. Und so funktioniert auch der Kunstmarkt. Es wird einfach alles zur Sensation gemacht. Das ist wirklich fast grausamer. Weil diese Strategie auf dieser leisen Tour der Demokratie daherkommt. Dabei handelt es sich um knallharte Kapitalpolitik, die sehr gut inszeniert ist. Auch in der Kunst. SF: Sie waren durch den Akademiebetrieb dazu gezwungen, zunächst einmal traditionell künstlerisch zu arbeiten. Also zu malen, zu zeichnen, die Techniken sich auch anzueignen. Da gab es schon sehr bald ein Unbehagen an dieser Front des künstlerischen Arbeitens. Wie haben Sie sich aus diesem Unbehagen herausgeholfen? YM: Ja, wie gesagt, ich hatte seit jeher ein Einordnungsproblem. Und der Zwang mit dem Funktionieren-Müssen kam noch hinzu. – Ich habe doch tatsächlich geglaubt, dass ich irgendwann in der Gesellschaft den Ort finden werde, der zu mir passt. An dem ich mich unterbringen kann. Bis jetzt ist es nicht dazu gekommen. Das ist eben diese Wunde an mir selbst, die Sie am Anfang erwähnten. Es war ein unglaublicher Prozess, immer wieder feststellen zu müssen, dass es den Boden gesellschaftlich gar nicht gibt, auf dem ich existieren kann – einfach so sein kann, mich entfalten kann. Na ja, das ist diese Dramatik, die mich dazu gezwungen hat, A.O.B.B.M.E. zu entwickeln und zu entwerfen. Mit diesem Prozess der Konstituierung von A.O.B.B.M.E. ging allerdings etwas ziemlich Verrücktes einher. Ich versuchte mich einerseits zu lokalisieren, also meinen Grund und Boden zu finden, meine Identität. Andererseits dislokalisierte ich mich immer mehr in meiner Umgebung. Zum Beispiel fing ich an eine Sprache zu sprechen, die kein Mensch mehr verstand, die mich aber immer mehr in die Nähe meines Territoriums führte. Das war so eine Form von innerer Emigration. Ich
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bekam ein größeres Selbstverständnis inmitten einer größer werdenden Isolation. Mit der Ankunft in A.O.B.B.M.E. hab ich definitiv Asyl gefunden. Also vielleicht das erste Mal Boden unter den Füßen. – Glücklicherweise begegnete ich an der Kunstakademie in Dresden zwei, drei Lehrern, die weiterhin wichtig für mich wurden und meinen Prozess auch unterstützten. Das war Hernando Leon, vom dem ich den Begriff formale Analyse lernte. Das war Klaus Nicolai, ein Kulturphilosoph, der mir sehr bei der Strukturierung von A.O.B.B.M.E. half. Später kam von Klaus Nicolai der Begriff Architektur der Wahrnehmung. Und das war Günter Hornig, der damals im Grundlagenstudium der Bühnenbildklasse Spektakuläres leistete. Er hat wirklich leibhaftig dazu angestiftet, die Normen zu unterwandern. Das hat einige Stundenten dazu bewegt, andere Wege, zumindest dort innerhalb der Akademie, wirklich auszuleben. SF: Und was waren das für andere Wege gewesen? YM: Günter Hornig, bei dem ich später Meisterschülerin wurde, war einer der wenigen Vertreter der Moderne in der DDR. Nur durfte das damals nicht offiziell werden. Eben wegen dieser politischen Norm der sozialistisch realistischen Ästhetik. Somit wurde Günter Hornig ebenfalls eine Randfigur. Eine fehlinterpretierte und abgeschobene Persönlichkeit. Er war ja etliche Jahre Oberassistent in dem Fachbereich Bühnenbild und es war für ihn aussichtslos, an eine Professur nur zu denken. Aber für uns war es ein Glück. Er vertrat die Konzepte des Fluxus und hatte seine eigene Theorie entwickelt. Da ging es immer um Überlagerungen, Transparenz und Austauschbarkeit. Er hat eben sehr unser Denken über Analogien und Proportionalitäten aktiviert. Seine Leistung war es, dass er uns dazu anhielt, unser Verhältnis zum Raum zu prüfen und zu gestalten. Er hat geradezu fürchterlich fanatisch auf die Vielschichtigkeit und Vernetztheit von Raumebenen und Raumrealitäten orientiert. Und vor allem auf die Illusion der Darstellung. Damit hat er eine Bombe in Gang gesetzt. Vor allem in der Bühnenbildklasse. Wo es hier doch ausschließlich um Darstellung geht. Um das Theater! Er war eigentlich mein erster Lehrer, der mich zu dem großen Thema der Enttheatralisierung des Raumes brachte. Im Grunde genommen von Anfang an direkt zu meinem Thema, das mir bis heute immer noch keine Ruhe lässt. Wo beginnt die Theatralisierung des Raumes und wie setzt sie sich fort. Was dabei herauskam, war ein Riesenexzess um den Begriff Raum und viel Ärger, den er sich bei seinen polit-ästhetischen Vorgesetzten einhandelte. Das war eine irre Zeit, in der wir uns alle in Extremperformances stürzten. SF: 1986 war dann der Beginn Ihres Mobilen Kulturbildungsprojektes, das sich bis heute zu der Association of Black Box Multiple Environments entwickelt hat.
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Wenn man Sie in Ihrem Atelier besucht, ist man beeindruckt von dem umfangreichen Recherchesystem und komplexen begrifflichen Konzept, das sich hinter diesem Namen verbirgt. Welche Funktion hat dieses System für Ihre Arbeit? YM: Diese ganze Entwicklung meines A.O.B.B.M.E.-Systems konzentriert sich um den Begriff Black Box. Ich kann mich nicht mehr erinnern, durch welchen Zufall dieser Begriff für mich eine so ernorme Bedeutung bekam. Jedenfalls kam der Begriff Black Box 1987 zu mir. Also genau in der Zeit mit Günter Hornig. Er wurde immer mehr zu einer Art Identitätsgrundlage. Mit Black Box meinte ich in vielfältigster, aber auch konkreter Weise meinen Leib, meinen Körper, meine Existenz und all das, was über den nützlichen Erkenntnisradius von Köper hinausging. Mit Black Box meinte ich eben auch Erfahrungswelten, die ich aber niemals von der sichtbaren Existenz eines Körpers abgekoppelt sehen wollte. Ich bezeichnete mich selbst als Black Box und war sehr zufrieden damit, denn dieser Begriff sagt alles und nichts aus. Das war genau das Richtige. Black Box wurde zum Programm und zur Maßnahme, meinen Möglichkeitsraum zu ergründen und während dieses Prozesses nach außen hin zu schützen, geradezu unkenntlich zu machen. Indem ich zu dem Begriff Black Box fand, war mir eine erste Definition gelungen: Black Box – das Existenzmysterium. An dieser Stelle fand ganz konkret ein Schnitt statt und eine Wende, mit diesem Black-Box-Konzept habe ich mich systematisch und konsequent von einer Kunst der Illustration, der Theatralisierung und der Fetischproduktion entfernt. Der Bezirk von Black Box war wie ein hermetischer Block. Eine komplette Verweigerung gegenüber einer geforderten Abrufbarkeit von Produkten, gegenüber einer Kunst, die sich nur am Objekt orientiert, gegenüber von Show und Konsum. Mit diesem Begriff konnte ich meinen ganzen Definitionsprozess nach innen schützen und nach außen einen Widerstand aufbauen. Aber im Grunde genommen war das Anfangsstadium dieser Black-Box-Bewegung, wie ich schon sagte, eine innere Emigration. Später, 1994, habe ich das Ganze zum Institut erklärt. SF: Sie benennen im Umgang mit dem Begriff Black Box drei Bedeutungsebenen. Die sollten wir vielleicht kurz erläutern. Wie kommt es dazu, dass dieser Begriff Black Box für Sie einen Zugriff auf einer philosophischen, psychologischen und einer kybernetischen Bedeutungsebene, vielleicht auch Anwendungsebene findet. Würden Sie das mal kurz erläutern, warum der Begriff von Ihnen nicht nur existentiell, sondern auch konzeptionell gebraucht wird? YM: Der Begriff Black Box kommt aus der Kybernetik. Die Kybernetik ist eine Wissenschaft, welche dynamische Systeme, die auch Selbstorganisationssysteme
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heißen, untersucht. In der Materie, mit ihrer endlosen Vielheit von Bewegungsformen und Bewegungsorganisationen, sucht die Kybernetik Gesetzmäßigkeiten, die sie in Modellen fassen kann. Hierfür gibt es eine Modellmethode, die eben Black-Box-Methode genannt wird. Die Kybernetik, als philosophische Wissenschaft, findet in jeder anderen Einzelwissenschaft wiederum Anwendung. So zum Beispiel in der Biologie, in der Physik, in der Psychologie, in der Neurologie usw. Beispielsweise wird das Nervensystem als kybernetisches System bezeichnet oder ein biologischer Organismus. A.O.B.B.M.E. als Institut ist ebenfalls ein kybernetisches System. Überall dort, in diesen Einzelwissenschaften, wird von der Black-Box-Methode und vom Black-Box-Modell gesprochen. Es geht dabei immer um einen Grundgedanken, nämlich darum, dass Black Box als Synonym steht für einen nicht erkennbaren inneren Mechanismus. Für mich ist die Idee bindend, dass der Black-Box-Mechanismus ein Medium ist, ein Vermittler oder Überträger von Außen nach Innen und umgekehrt. Und dieses Medium ist nicht bis ins Letzte analysierbar, erklärbar. In diesem Sinne sehe ich mich absolut als Black Box, als Existenzmysterium. Und als Verweigerung von Einsicht und Erkennbarkeit, denn die heißt für mich auch immer Verwertbarkeit – Vermessung und Zensur. Später, um die Wendezeit, ich studierte noch in Dresden, ist mir ein Buch von einem Dozenten der Visuellen Kommunikation empfohlen worden. Dieses Buch kam mir mit einer großen Wucht entgegen, denn darin stand im Grunde genommen alles, was mich betraf, also die Konstituierung von A.O.B.B.M.E., und was ich selber nie so hätte ausdrücken können. Also das Buch, von dem ich spreche, heißt Sinnenbewusstsein und wurde von Rudolf zur Lippe, einem Ästhetikprofessor an der Uni Oldenburg, verfasst. In diesem Buch tauchte der Begriff Autopoiesis auf, der für mich von da an irgendwie zum Schlüsselbegriff wurde. Ich hatte vordem ja schon ein Buch, mit dem ich ähnlich intensiv arbeitete: die Selbstorganisation des Universums von Erich Jantsch. Dort las ich den Begriff Autopoiesis genau genommen zum ersten Mal, daraufhin besorgte ich mir die Poetik von Aristoteles und grübelte über die Differenz zwischen dem Poiesis- und dem Poesie-Begriff. Parallel dazu begegnete ich den Definitionen des Radikalen Konstruktivismus, in denen eine sogenannte Objektivität von Wahrnehmung angezweifelt wird. Diesem Begriff der Autopoiesis, der die Tätigkeit selbstreferenzieller oder dynamischer Systeme charakterisiert, haben sich eine Menge Wissenschaftler und Denker angeschlossen und in die Einzelwissenschaften eingeführt. So zum Beispiel in der Soziologie Niklas Luhmann. Also spätestens mit dem Sinnenbewusstsein von Rudolf zur Lippe bekam ich für meinen eigenen Impetus, mich als Black Box, als kybernetisches oder autopoietisches System zu definieren, sehr
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viel Instrumentarium. Es gelang mir, mit Hilfe dieses Materials, meine eigenen Motivationen besser zu verstehen. SF: Sie vermeiden für das, was Sie tun, den Begriff Kunst. Sie haben eben gesagt, es war der Impetus der Verweigerung, der dieses Institut hat entstehen lassen, Ihre Association of Black Box Multiple Environments, die sie ins Leben gerufen haben. Sie nennen das, was Sie tun, individuelle Kulturproduktion. – Wie könnte man Ihre Kritik am gegenwärtigen Kunstbegriff auf einen Punkt bringen? YM: Generell kommen für mich sämtliche Inspirationen und Impulse, die meine eigene Dynamik in eine progressive Richtung förderten, nicht aus den sogenannten Schönen Künsten, also nicht aus der Literatur, der Bildenden Kunst, der Bühnenkunst oder den angewandten Künsten. Am meisten hat mich immer die Musik inspiriert. Als ich 20 wurde, begann ich, tagein und tagaus die moderne Musik zu Beginn dieses Jahrhunderts zu studieren. Ich ging querbeet von Schönberg bis Bartók. Ein Höhepunkt in dieser Richtung war meine Begegnung mit Karlheinz Stockhausen. Ich hatte in Dresden während meines Studiums einen Job als Pressefotografin für das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik. Dort habe ich ihn bei den Proben für die Aufführung seiner Stücke erlebt, an denen die ganze Familie mitwirkte. Seit meiner Berliner Zeit kam für mich John Cage ins Spiel, Anarchic Harmony zum Beispiel, und die Angebote der Gelben Musik, einer Musikgalerie in Westberlin. Das setzte sich fort mit elektronischer Minimal- Music wie die von Arnold Dreyblatt und mit Ambient wie von Aphex Twin. Später dann lernte ich Geert Jan Hobijn vom holländische Label Staalplaat kennen und da gab es Performances, die waren genial, wie die von Bryn Jones, der sein Projekt Muslimgauze nannte. Das war für mich eine Offenbarung! Vor allem wenn es darum ging, das Gegenständliche eines sogenannten Musikstückes und der sogenannten Komposition zu verlassen. Wenn es eigentlich nur noch darum geht, zu verstärken, was bereits da ist. Hier finde ich, sind im akustischen Bereich sehr oft Performances geglückt, die ganz stark meine Idee von den kybernetischen Systemen, von autopoietischen Systemen katalysieren. Was Carsten Nicolai, mein Künstlerkollege aus der Eigen+Art, der jetzt auch auf der documenta ausstellt mit seinem Projekt noton.archiv für ton und nichtton, macht, geht auch in die Richtung, die mich extrem anspricht. Auf der anderen Seite war und ist es immer wieder meine Faszination an den Einzelwissenschaften – an der Biologie und an der Philosophie. Norbert Bolz hat in seinem Interview im Rahmen dieser Sendereihe sinngemäß folgendes gesagt: Die Kunst ist ein Experimentierfeld für neue Lebensformen. Das möchte ich hier unterstreichen. Und als
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Konsequenz dessen steht für mich, dass es die Kunst dieses Experiments ist, den Kunstbegriff zu entgrenzen. Das kann vielleicht auch heißen, aus der Kunst auszusteigen. Solche Statements sind seit Duchamp und seit Beuys bekannt. Das kann bedeuten, dem Kind einen anderen Namen zu geben, weil der gesellschaftlich versiegelte und geschützte Name Kunst die Dynamik des Experiments nicht mehr trägt. Möglicherweise sogar pervertiert. Ein solches Experiment, das der Untersuchung und Erprobung von neuen Lebensformen auf den Grund geht, muss auf alle Konsequenzen gefasst sein. Dann kann es auf gar keinen Fall um die Restauration eines Begriffs und eines Betriebs, der den Begriff stützt, gehen. Na ja, eben deshalb bezeichne ich A.O.B.B.M.E. als Institut für Mikrotopische Kulturproduktion und nicht als Kunst. Mir geht es um Aggregationen und Aggregate, die sich abspalten und neu verteilen verteilen, also um Kulturproduktion. An dieser Stelle wird für mich der Begriff der Kunst und Kunstwelt museal. Aber das ist auch nichts Neues. Das ist seit Hegels berühmten Ausspruch »Die Kunst ist tot!«, dem Nietzsche mit seinem »Gott ist tot!« folgte, bekannt. SF: In Ihrer Arbeit nimmt ebenfalls der Begriff der Urbanisierung einen großen Raum ein. Sie bezeichnen die Bewegung um A.O.B.B.M.E. als ein DeUrbanisierungsprojekt. In unserem Vorgespräch formulierten Sie Ihren Anspruch an eine De-Urbanisierung als Maßnahme, einer institutionellen Leibesverwaltung und Leibesaneignung entgegenzuwirken. Da sind Gedanken von Michel Foucault im Hintergrund. Können Sie das vielleicht noch einmal in einem Zusammenhang klar machen? YM: Wenn man von Instrumentalisierung des Lebens spricht, meint man natürlich Instrumentalisierung der Körper. Ich frage mich in meiner Arbeit nach den Ursachen, Elementen und Symptomen dieser Kulturform, die das Bewusstsein unserer westlichen Zivilisation prägt und durchdringt. Urbanisierung ist für mich schließlich der Begriff, der das alles beinhaltet; die Instrumentalisierung des Körpers ist auch immer eine Kolonialisierung des Körpers. Natürlich hat Foucault sehr radikal darüber gearbeitet. Ich erinnere an sein großes Werk Sexualität und Wahrheit, an Die Geburt der Klinik und an die anderen Arbeiten, die das Symptom unserer zivilen Kultur analysieren, nämlich die Leiber in normal und pathologisch aufzuteilen. Aber auch andere haben darüber gearbeitet und nicht zuletzt Virilio mit seinen Theorien der Anästhetisierung und Prothetisierung des Körpers. Urbanisierung ist für mich, wie gesagt, nicht nur Städtebau, Landschaftsplanung und Globalisierung, es ist eben auch das, was mit den Körpern passiert. Und was wir landläufig Identität nennen. Worauf ich mich hierbei kon-
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zentriere, ist diese urbane Infrastruktur, in der die Körper verwaltet, zensiert und demarkiert werden. Urbanisierung ist für mich eher weißer Terror – darunter verstehe ich den ganzen Terror der Konditionierung und Anpassung an standardisierte Identitäten wie Begriff und Bild. Die Bilder, die Bildwahrnehmung, die Technik des Sehens, das ist unser ganz spezielles Kulturgut, mit dem wir auch den Rest der Welt seit jeher missionieren. Das heißt, wir wollen den Rest der Welt dazu erziehen, das richtige Bild zu erkennen und sich dem richtigen Bild anzupassen. Es ist ein Terror aus dem Grund, weil – ich will ein Beispiel nennen – niemand mit dem sogenannten Pathologischen identisch sein will. Für das Pathologische wurden nicht nur Bilder, sondern auch Räume in der Gesellschaft produziert. Das ist der Vollzug. Es ist unsere panische Angst vor dem Pathologischen in uns selbst, die uns selbst zu Enteignern an uns selbst werden lässt und uns die richtige Identität annehmen lässt. Diese Angst ist eindeutig Terror. Bloß wir haben mit unserer Konsum- und Warengesellschaft so unendlich viele Spielarten entwickelt, dieser Angst zu entfliehen. Das Bewusstsein über diese spezifische Angst, wirklich selbst zu sein, wird ausgelöscht. Das ist Urbanisierung. – Ich selbst glaubte einmal, dass ich in der Kunst und mit der Kunst den Raum finden könnte, mir selbst zu begegnen, an meinem Selbstausdruck zu arbeiten, mich selbst zu realisieren. Seit der Wende habe ich diese Illusion nicht mehr. Die Kunst als Ort ist voll und ganz urbanisiert, d.h. kapitalisiert. Die Urbanisierung ist sogar das Wesen der westlichen Kunst. Das ist für mich das Ende der Kunst. SF: Sie sehen also die Kunst und die Künste eindeutig in diesem Kontext der Urbanisierung. – Es läuft im Moment eine Debatte unter den Intellektuellen, an der sich auch Catherine David aktiv beteiligt, das ist die Debatte um das MarcoPolo-Syndrom. Können Sie Näheres zu diesem Marco-Polo-Syndrom sagen? YM: Marco Polo war ein Kaufmann aus Venedig. Er bereiste Mitte des 13. Jahrhunderts den Orient. Die Reiseberichte des Marco Polo existierten also bereits vor Kolumbus. Das Marco-Polo-Syndrom ist ein Teil einer Auseinandersetzung, deren Gegenstand die interkulturelle Kommunikation ist. Im Zentrum dieser Diskussion geht es weitestgehend um die Schwierigkeit bei der Rezeption fremder Kulturen. Zurück zu den Reiseberichten des Marco Polo. Darin wird in exotischer Weise das Andere beschrieben. Es geht um den Blick und die Beschreibung des sogenannten Anderen, die immer auch eine Bewertung nach dem eigenen Standard und Geschmack ist, somit eine Bewertung im eigenen Interesse. Nicht selten heißt im Interesse der eigenen Rezeption im Interesse der eigenen Verwertung.
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Im Haus der Kulturen der Welt in Berlin fand im April dieses Jahres ein Symposium unter diesem Titel statt, weil offenbar dieser Marco Polo, als GlobusBereisender seiner Zeit, ein erster Wegbereiter des westlichen Kolonialismus und der westlichen Globalisierung war. Sein Name steht symbolisch diesem Symposium zur Verfügung und für den Anspruch am Anderen, der das westliche Erkenntnisinteresse schlechthin motiviert. Dieses Erkenntnisinteresse ist auch der Motor allen Profit- und Machtinteresses. Ich meine damit, dass die Neugier am Anderen in der Weise funktioniert, dass mit der Eroberung des Anderen etwas Neues definiert wird. Im selben Moment, wo man Neues vorstellt und salonfähig macht, steigt auch das persönliche Ansehen und somit auch die Macht des Entdeckers oder Erfinders, in einer Gesellschaft, die ausschließlich von der Suche nach Neuem beherrscht wird. Das Andere wird domestiziert in die Arena gestellt, der Dompteur wird bejubelt. So ist es doch. Perverser Weise wird das Neue gar nicht neu, sondern nur von seiner eigentlichen Herkunft und seinem eigentlichen Zusammenhang entfremdet. Mir fällt jetzt hier das inflationäre Wort Innovation ein. Gefragt ist Innovation. Und das vor allem in der Kunst. Hier stehen alle unter Leistungsdruck und Kreativitätszwang, eben um diese Innovation zu bringen. Was ist denn jemals innovativer als das Andere, das Fremde? Da geht man gern mal rum, um die Welt, und sammelt so ein, was einem zwischen die Finger fällt. Zurück kommt der Künstler mit einem innovativen Entwurf. Das durchzieht doch unsere europäische Kulturgeschichte von Anfang an. Für die Innovation ist kein Preis zu hoch, da geht man auch gerne mal über Leichen. Das ist bekannt. Noch einmal zurück zu der Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Das Thema Marco-Polo-Syndrom setzt zur Diskussion, inwieweit es eigentlich zulässig ist, in einer vom westlichen Kunstbetrieb arrangierten Infrastruktur, das sogenannte Andere zu platzieren. Und zweitens, was rechtfertigt es, dass es dort seinen Platz unbedingt einnehmen soll. Es geht drittens um das Problem der Benennung des sogenannten Anderen, und zwar aus dem Blickwinkel eines in den westlichen Medien etablierten Kunstbegriffs in den Kanälen eben dieses Betriebssystems der Kunst. Und es geht schließlich darum, dass das Andere aus seinem Kontext gerissen und verzerrt dargestellt wird, sobald das alles passiert. Es geht vor allem darum, dass die Darstellung und Verführung des Anderen das Andere schlichtweg von sich selbst fremd macht. Also von dem ihm eigenen Kommunikationshaushalt abtrennt. Das Betriebssystem Kunst ist ja auch nur ein Fallbeispiel unserer Gesellschaftsstruktur. Es funktioniert genauso kolonialistisch, genauso theatralisch und genauso profitorientiert wie andere Betriebssysteme in dieser neo-kapitalistischen Welt auch. Das sollte man mal aufklären, woraus sich dieses Betriebssystem zusammensetzt.
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SF: Diese Auseinandersetzung mit dem sogenannten Marco-Polo-Syndrom bezieht sich also nicht nur auf die Politik eines außereuropäischen Kolonialismus, sondern sie bezieht sich ja dann auch auf das, was Sie und verwandte Künstler hier tun. Auch Sie versuchen, sich mit Ihrer Arbeit diesem Marco-Polo-Syndrom zu entziehen, indem Sie sagen: Das, was ich mache, ist eben nicht Kunst. YM: Ja richtig. Ich möchte noch mal auf Edward Said zu sprechen kommen. Er ist ja für den Begriff des Orientalismus, den er prägte, bekannt geworden. Catherine David hat ihn zur documenta geholt. Edward Said jedenfalls proklamiert auf diesem Symposium im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Entkolonialisierung des Geistes. Dieser Begriff gefällt mir und ich kann ihn voll und ganz unterstreichen. Wenn ich Said richtig verstehe, bewegt sich sein Begriff der Entkolonialisierung parallel zu dem, was ich als De-Urbanisierung bezeichne und noch früher als Enttheatralisierung des Raumes. Es geht hier um das Problem von Identität und Integrität. Wie sich meine Identität zusammensetzt, das ist nicht meine Leistung, sondern ein Produkt verschiedener Umgebungs- und Lernfaktoren. Ich lerne quasi Identität aus den Faktoren meiner Umgebung. Somit bin ich ein Molekül der allgemeinen Identität der mich umgebenden Gesellschaftsstruktur. Und die wiederum hat ihre Historie. Davon muss man mal ausgehen. Identität ist zwar ein Zustand, jedoch ein instabiles Gleichgewicht und somit auch immer fließend und veränderbar. Aber sie ist auch eine Installation an meinem Geist, meiner Psyche, meiner Körperhaltung und Kleidung, die von Außenfaktoren wie Medieninformationen und Erziehung bestimmt wird. So darf ich also davon ausgehen, dass ich kaum umhinkomme, den kolonialistischen Geist meiner Kultur in mir zu tragen. Und andere Werte eben auch. Wenn sich meine Werte mit den in meiner Umgebung ausgestellten Weltbildern decken, bin ich mit ihnen identisch. Das ist dann meine Identität. Diese unmittelbare Zufriedenheit, in eine soziale Gruppe und das Denken einer Gesellschaftskultur integriert zu sein. Mit einem Mainstream identisch zu sein, bringt vielen ein gutes, ein sicheres Gefühl, ein Gefühl der Heimat. Das wird selbstverständlich nicht hinterfragt. Denn dabei riskiert man ja seine Identität. Dabei ist die Identität ja immerzu in der Krise. Das zu verarbeiten ist eigentlich das Projekt der Kunst. Aber die marktorientierte Kunst zielt auf die permanente Repetition eines Stils, quasi auf Markenbildung. Da passt die Krise nicht rein. Und wird sogar geleugnet, überzeichnet. Wer ins Markensystem nicht passt, fliegt raus. Zurück zu meiner eigenen Arbeit. Indem ich den individuellen Leib als einen Mikrotopos bezeichne, spreche ich ihm all diese Identitätsimplantationen zu. Ich sage, der individuelle Leib ist die lebendige und vorübergehende Schnittstelle universellen, biologischen, konditionierten und erworbenen, das heißt histori-
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schen Wissens. Was ist denn das, eine Biografie? Ich selbst kann doch nur der Topos von zufälligen Schnittstellen von Wissen sein. Das ist die eine Seite. Und da ich ein Defekt bin, gibt es noch die andere Seite. Das ist die Kernenergie, die unverwechselbar ist, und zwar in jedem, und bedingungslos powert, diese ganze Installation von Identitäten und Wissen zu durchdringen. Das ist im Wesentlichen die Aufgabe, die ich mir in meiner ganzen Arbeit stelle. Wie? Mit welchen Mitteln, Methoden, Techniken kann ich diese ganze überlieferte Kultur in mir durchdringen? Transparent machen? Relativieren? Es ist die Suche nach einer Realität, die nicht mehr benennbar, vergleichbar, bewertbar, das heißt vorzeigbar ist. Die dann als solche wirklich genuin ist, also am Anfang von mir selbst steht. Also der Grund von mir selbst ist. Diese Arbeit nenne ich De-Urbanisierung. Sie passiert einerseits viel über Analyse. Aber andererseits bin ich da auch ratlos. Denn dieser Impetus, der in mir wirkt und den ich im angewandten Sinne DeUrbanisierung an mir selbst und an meiner Umgebung nenne, ist eigentlich ein Impetus der Verweigerung. Was ich seit Jahren beispielsweise an meinen Installationen beobachte ist die Unzulänglichkeit, die Verweigerung von Rezipierbarkeit, schließlich von Entertainment und Konsumerabilität. Was ich also ausstelle, ist die installierte – oder ins Modell gefasste – Verweigerung. Wovon eigentlich? Ich denke von diesem Zwang des Ausstellens, des Darstellens, des Vorstellens. Von diesem ganzen Zwang der Show und Exhibition. Und hier scheiden sich auch die Geister. Denn was nicht zeigbar und vorführerisch ist, ist auch keine Kunst. So erlebe ich im Grunde genommen meine Arbeit – ganz genau – als keine Kunst. Aber ich stelle eben dieses Verweigern von Zeigen aus. Damit wird es wieder Zeigen. Das ist für mich im Moment ein Dilemma. Politisch ist für mich hierbei noch interessant, dass ich ja selbst zur Kunstfigur geworden bin, allerspätestens mit der Teilnahme an der dX. Was von einer Kunstfigur auf den Podien des Betriebssystems verlangt wird, ist die Demonstration, das Zeigen. – Ich zeige, dass ich nichts zeigen will. Weil das Zeigen als Technik und Weg mein Projekt der De-Urbanisierung an mir selbst boykottiert. Ich suche einen Weg, auf dem ich Nicht-Kunst praktizieren kann. Also eine Tätigkeit, die sich nicht durch Demonstration motiviert. Das bewegt mich schon immer. Spätestens seit 1987 als ich begann, A.O.B.B.M.E. zu definieren und mich als Black Box, als Existenzmysterium zu bezeichnen. Was ich als Kunstfigur also zeigen kann, ist Verweigerung. Wenn das gelingt, gelingt mein Widerstand gegenüber der Kunst und innerhalb der Kunst. Problematischer Weise bin ich aber in solch einem Kunstbetrieb, der genauso kolonialistisch funktioniert wie die ganze Gesellschaftsstruktur und Denkkultur auch. Wenn meine Arbeit als Kunst bezeichnet wird, ist mein Widerstand sofort in diesem Kolonialprinzip inklusive. Er wird zur Innovation, zur Exotik oder zum Fetisch. Dass ich da mitmache, wirkt auf mich sehr au-
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todestruktiv. Aber ich habe im Moment keine andere Idee. Ich fühle mich tatsächlich von diesem Marco-Polo-Syndrom gekidnapped. SF: Wie würden Sie diesen Fetischcharakter beschreiben? Wie könnte man das anschaulich machen? YM: Ein Fetisch ist ein Stellvertreter. Für denjenigen, der ihn kauft. Ich behaupte, dass der Fetisch stellvertretend für eine Sehnsucht steht, die beim Käufer in seinem realen Leben noch nicht eingelöst wird. Er kauft sich die Sehnsucht, oder besser gesagt, die Sehnsucht nach der Sehnsucht. Die Kaufkraft für solche Dinge, also Kunst, ist in unserer Gesellschaft sehr hoch. Hingegen ist die Bereitschaft, das Experiment nach der Ergründung des eigenen Lebens, was ohne Frage parallel läuft mit dem Experiment nach der Ergründung neuer Lebensformen, sehr gering. Das betrifft Fetische, die stellvertretend agieren für ein nicht eingelöstes Leben. An diesem Punkt meine ich das arme Leben des reichen Käufers. Arm deshalb, weil ihm seine gesellschaftliche Stellung verbietet, das Risiko des eigenen Experiments von neuen Lebensformen zu wagen. Wenn ich ihm diesen Mangel mit einem Fetisch ersetzen kann, werde ich belohnt und bezahlt. Das ist die Normalität in einer weißen Wohlstandsgesellschaft. Und diese Normalität ist pervers. Auch innerhalb des Kunstmarktes. SF: Warum glauben Sie, dass Ihre spezifische Form ästhetischer, kultureller Arbeit besser geeignet ist diesen Widerstand zu leisten als beispielsweise politische Arbeit oder aber auch die traditionelle Kunst der Moderne? YM: Es ist meine Arbeit, die Arbeit um A.O.B.B.M.E. vor der Subsummierung unter den herrschenden Kunstbegriff zu bewahren bzw., was für mich ein aktuelles Problem ist, sie da raus zu holen. Anders herum könnte ich auch sagen, dass meine Arbeit an A.O.B.B.M.E. innenpolitische und außenpolitische Aufgaben hat. Diese bewusste Differenz aufzubauen, und zwar zu einem Kunstbegriff, wie er sich temporär in der Kultur- und Medienlandschaft behauptet, ist für mich politische Arbeit per se. Eine Arbeit an meiner politischen Integrität. SF: Wie ist es denn mit dem Körper? – Körperlichkeit ist einer dieser Ankerpunkte in der Theorie und Praxis Ihres A.O.B.B.M.E.-Systems. Aber ist der Körper nicht heute einer besonderen Bedrohung ausgesetzt? Ist nicht die gesamtgesellschaftliche Tendenz – gerade in Bezugnahme auf Digitalisierung und Gentechnologie – auf eine Auflösung der Körperlichkeit, auf eine Überwindung der
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Körperlichkeit oder aber eine restlose Instrumentalisierung des Körperlichen ausgerichtet? YM: Der Körper ist bedroht. Ja, diese Aussage würde ich schwer unterstreichen. Aber wir kommen jetzt nicht umhin, den Begriff Körper zu klären, zu definieren. Einerseits ist der Körper bedroht, andererseits wird über nichts anderes geredet als über den Körper. Ganze Industriezweige machen jährlich gigantische Umsätze mit diesem Körper: Tourismusindustrie, Kosmetikindustrie, Sexindustrie, Pharmaindustrie usw. sind allesamt damit beschäftigt, flächendeckend und breitenwirksam das Bild über den Körper einerseits zu inszenieren und weiterhin dem Einzelnen dabei auf die Sprünge zu helfen, dieses Körperbild an sich selbst zu realisieren. Dieser Identitätswunsch, einem Idealbild zu entsprechen, wird medial gepuscht mit einem visuellen Overkill von Images aus Sex, Cyber-Sex, Body-Shaping, Mind-Shaping, Coaching, Ambient-Styling und wie die genauen Bezeichnungen für diese Branchen alle heißen. Also dieses gesamte Programm von Shaping, Styling, Designing, Lifting, Coaching bis hin zu global race- und cultureshaping, ist ein Hygiene-Programm am Körper. Ja, das klingt erschreckend und das Wort Kulturhygiene, Rassenhygiene oder Globalhygiene erinnert an das Dritte Reich. Irgendwo sind wir tatsächlich nicht weit davon entfernt. Euthanasie und Genozid sind Maßnahmen der Hygiene im Dienste von abartigen Sicherheits- und Ordnungsbegriffen. Heute passiert Hygiene im Namen der Ästhetik. Und auf der aktuellen Industrie-Schedule steht der eigene Körper, der sich täglich einer ästhetischen gesellschaftlichen Normalität anpasst. Das ist Designhygiene am eigenen Körper; mittlerweile auch in der Genetik praktiziert. Ich sehe den Unterschied zu ideologischen Praktiken, die vor fünfzig Jahren stattfanden, nicht! Noch einmal zurück zum Aspekt Bedrohung des Körpers. Dieser Reinheitswahn ist ein Selektionswahn. Das muss erkannt werden. Wenn ich dabei bin, mich im Namen der öffentlich anerkannten Ästhetik zu designen, bin ich dabei, all die mir eigenen Attribute zu entfernen. Das beginnt bei Haarentfernung und endet beim IVF-Klonbaby. Der Körper wird zum Waren-, Konsum- und Dienstleistungsagenten. – Ich sehe hier auch keinen Unterschied zu dem, was im Kunstbetrieb stattfindet. Es sind weniger Inhalte gefragt, als die Fähigkeit, im Trend zu sein, im Trend zu bleiben und Trends zu setzen. Ich bin selber in einer Galerie, die sich als Trendsetter-Galerie einen Namen gemacht hat und sich seit Jahren in den obersten Charts bewegt. Man kann das wirklich so ausdrücken, denn es gibt hier im Kunstgeschäft keinen einzigen Unterschied beispielsweise zum Modegeschäft. Ich sah neulich einen Film über Wolfgang Joop. Dort kam sehr schön sein Urteil zu seinen Stars Claudia Schiffer und Nadja Auermann rü-
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ber, also was die beiden haben: Sie suggerieren Trends für Millionen. So wie ein Modedesigner arbeitet auch ein Galerist, der ja von Berufswegen Artdealer ist. Das heißt auf Deutsch Produktvertreter. – Wenn du heute die pubertierenden Mädchen fragst, was sie werden wollen, so erscheint da, wie eh und je, Schauspielerin, Prinzessin, Model und all das und neuerdings eben auch Künstlerin. Das ist kaum zu glauben. Aber die Kunst hat schon lange nichts mehr mit Erfahrung, Analyse, oder Aufklärung zu tun. Sie arbeitet genauso wie ihre Schwesterbranchen, die Film-, die Mode-, die Kosmetikindustrie, am Design des Körpers, das heißt am Design von Image und Reputation in der Öffentlichkeit. Wenn die Kids sagen, sie wollen Künstler werden, dann meinen sie ganz klar, sie wollen reich, schön und berühmt werden. Der Körper ist bedroht, weil es in unserer Kultur keine Techniken gibt, die ihm die Gelegenheit geben, zum Wesentlichen vorzudringen. Die Kunst als Antithese hat an diesem Punkt ebenfalls endlos versagt und ausgespielt. Innerhalb des Bezirks von A.O.B.B.M.E. versuche ich diese Gelegenheit praktisch zurückzugewinnen. Ja, das versuche ich seit über 10 Jahren. Also ich versuche dem Eigenen, dem Defekt, dem Unangepassten und nicht Funktionierenden einen Raum zu geben. Weil ich nur in diesem Potential die Chance sehe, auf den richtigen, also auf meinen Weg zu kommen! Was ich praktisch suche, ist Widerstand. Nicht Widerstand im romantischen Sinne à la Che Guevara oder Jeanne d’ Arc. Diese Figuren werden ja auch bloß zu Comics missbraucht. Ich meine Widerstand im Sinne von Unterbrechung, von Gelassenheit und von Aufklärung. Daran arbeite ich jeden Tag. SF: Es scheint mir, als ob Ihre Arbeit sehr stark, sehr eng mit dieser Leiblichkeit verbunden ist. Sie tragen des Logo Ihrer Association of Black Box Multiple Environments als Branding auf dem Rücken. Wie kommt es dazu, dass Sie Ihr Branding als Arbeit im weitesten Sinne bezeichnen? YM: Ja, ich definiere meinen eigenen Körper zunächst als Leib. Zwischen Körper und Leib setze ich sprachlich und ideologisch eine Differenz. Und weiterhin definiere ich meinen Leib oder den Leib schlechthin als Topos, als Mikrotopos. Das heißt, der Leib ist nicht nur als sogenannter Körper, als Body, Zielscheibe für die Ästhetik (oder besser Anästhetik, wie Virilio sagt) gesellschaftlicher Normalität und Trends. Der Leib ist in erster und letzter Hinsicht der Ort, der einzige Ort, der mir zusteht und an dem ich zu Hause sein darf. Die Inder bezeichnen ihren Körper als Tempel der Seele. Solche Ansprüche kennen wir auch aus unserer Kultur, nämlich von den Mystikern. Der Leib ist der Ort der Einkehr. Aber wie kehren wir ein? Und wie kehren wir um, das heißt, wie schaffen wir
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Widerstand und Unterbrechung, indem wir in uns einkehren? Das sind eigentlich religiöse Fragen. Und die Kunst hat sich um Galaxien von diesen Fragen entfernt. Für mich gibt es nichts Entscheidenderes und Spannenderes als diese Fragen. Will ich ihnen folgen, so gelange ich in meiner täglichen Praxis nicht zu einer akzeptablen Kunstproduktion, sondern zu einer Erneuerung und Wiederbelebung von Ritualen, die nur was mit mir zu tun haben. Also ich zelebriere mich täglich selbst, meinen Widerstand, meine Unterbrechungen. Anders herum, ist genau diese Leistung, Widerstand und Unterbrechungen zu schaffen, das Ritual an sich selbst. Da gibt es nicht viel zu sehen und erst recht nicht viel zu kaufen. Das ist ein Prozess, eine Arbeit, die mit dem Leib in Kontakt tritt. Immer wenn ich das tue, produziere ich Sinn oder reproduziere und vertiefe ich eine von mir kontinuierlich erlebte Sinnstruktur. Auch bei Heidegger findet sich solch ein Begriff. Er sagt zum Leib Haus des Seins. Mein Leib ist mein Gotteshaus, meine Kathedrale, mein Hoheitsgebiet. Mit dem Branding markiere ich meinen Leib als solchen. Das ist eine ganz genuine Äußerung! Das Branding oder das Tattoo oder die Narbe heutzutage ist das ja auch trendy und Deko. Aber schaut man sich in allen Kulturen die Geschichten der ästhetischen Haut- und Körpereingriffe an, wie eben die der Tattoos oder Narben, so stehen sie immer im Zusammenhang mit Initiationsriten. Initiation ist ein Akt, der am eigenen Leib geschieht und in etwas Höheres, in einen höheren Sinn einweiht. Sowie auch den Eingeweihten nach Außen markiert und gegenüber Uneingeweihten erkenntlich macht bzw. schützt. Genau dieselbe Absicht transportiert auch mein A.O.B.B.M.E.-Branding auf meinem Rücken. Dieses Branding ist eine Selbstmarkierung meines Leibes als Leibeigentum. Es ist der Akt einer Selbstbezeichnung. Und die Zeichnung findet auf der Haut statt, auf der eigenen Haut, auf meinem Leibeigentum. Mit dieser Aktion thematisiere ich natürlich zwangsläufig die Fragen: wo und ab wann ist der Leib Leibeigentum, also auch wo und ab wann ist der Leib enteignet. Natürlich stellen sich auch die Fragen: Gibt es überhaupt ein Eigentum? Oder gibt es reale Grenzen, die dieses Eigentum tatsächlich bewahren können? Und wenn, wie in diesem Fall, eine Erfahrung zum Eigentum wird, ist dann nicht eher das Wort Integrität besser? SF: Kunst ist für Sie also ein abgelegtes System. Ausstellungen sind Ihrer Meinung nach Manifestationen in Raum und Bild von etwas prinzipiell nicht Manifestierbarem – ebenfalls ein Anachronismus. Sie bezeichnen die Kunst aus diesem Grund auch als Phantom. – Dennoch sind Sie jetzt auf der 10. documenta vertreten. Wie würden Sie Ihre Produktion dort im Ottoneum beschreiben und welche Stellung hat diese Arbeit im Zusammenhang mit Ihrer Mikrotopischen Kulturproduktion um A.O.B.B.M.E., das ja den Kunstbegriff zurückweist?
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YM: Kunst ist für mich aus zweierlei Gründen ein abgelegtes System. Zum einen, weil Kunst ein Betriebssystem ist, ein ideologischer Apparat, der sich hinter dem Begriff verbirgt. Kunst ist Establishment in einer Gesellschaft, die permanent den Krieg der Bilder vom Künstler-Image, also Star-Images und TrendImages, die der Star produziert, ankurbelt. Letztendlich ist diese Gesellschaftskultur die Kunst per se. Bei der herrschenden Kunst geht es um Akkumulation des Kapitals für ganz viele Industriezweige, die an der Bildproduktion und Bildexhibition beteiligt sind. Das ist eigentlich nicht mehr zu durchschauen und ähnelt beispielsweise dem Diskurs über den Golfkrieg. Heutzutage weiß man ja nicht mehr, ob die Kriege tatsächlich stattfinden, oder ob sie gefakte Inszenierungen für die Medien sind. Die Medien wiederum rechtfertigen die Akkumulation des Kapitals, also Sinn, Nutzen und Bedeutung des Krieges. Dies stand jedenfalls zur Debatte beim Golfkrieg. Und diese Frage steht auch zur Debatte, was den Kunstbetrieb angeht. Was ist genuin und was ist gefaket? Und welche Wege gehen all die Gelder? In wessen Interesse werden sie eingesetzt? Vor diesem Hintergrund ist die gefeierte und subventionierte Kunst für mich ein Phantom. Weil nämlich nicht deutlich wird, um wessen Geschäfte – d.h. wessen Interessen – es wirklich geht. Für mich ist das nicht mehr überschaubar, wohinein, in welchen ideologischen Pool ich mein Engagement hineinlege. Ich meine, das hat bestimmt nicht mit einem forcierten Kontrollzwang zu tun, das mich dieser Betrieb beschäftigt. Sondern das hat eher was mit einer Gewissensfrage zu tun: Woran beteilige ich mich hier eigentlich? Diese Gewissensfragen sind immer brisant, wenn es um ideologische Massenphänomene geht. Das Konsumphänomen in der Kunst ist ein solches quasi ferngesteuertes Massenphänomen und ideologisch, weil der Kaufgeschmack etwas Konditioniertes ist, was zwangsläufig zur Zensur an der freien Arbeit wird. Zum Anderen ist die Kunst für mich hinfällig bzw. überfällig, weil im Kunstgeschäft, angefangen bei den Akademien bis hin zu den Museen ein Argument monopolisiert wird. Es ist das Argument, dass nur die Kunst den Ästhetik-Begriff beansprucht. Das ist eine sehr gefährliche Sache. Weil erstens: alles Ästhetik hat, was sich äußert, also was existiert. Und weil zweitens: alles, was sich äußert, Gefahr läuft, vom Kunstbegriff beschlagnahmt zu werden. Hier sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs, nämlich mitten in der Debatte um das Marco-Polo-Syndrom. O.k., beide Sachverhalte sind spätestens seit Beuys bekannt. Aber sie werden als Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung, sowohl in den Akademien als auch in den Galerien und Museen abgedrängt. Ja, dennoch bin ich auf der documenta X vertreten und ich habe mich sehr über die Einladung von Catherine David gefreut. Ich habe zusammen mit Rem Koolhaas und mit Stan Douglas in einem Raum ausgestellt, was für mich eine
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Ehre ist und was mir auch ohne die documenta bestimmt nicht passiert wäre. Für mein Projektionsforum ist die Nähe zur Arbeit von Stan Douglas einfach genial. Trotzdem mag meine Sichtweise auf die Kunst und den Kunstbetrieb ketzerisch klingen. Aber ich bin bei weitem kein Einzelfall. Der Zweifel an der Kunst, die von einer Kapitalgesellschaft getragen wird, ist immer auch der Zweifel oder die Hinterfragung der Gesellschaftskultur selbst. Kunst ist da nur ein Fallbeispiel der Gesellschaft. Dass eben genau dieses Thema zum Gegenstand der documenta geworden ist, finde ich mutig. Denn es ist schließlich und letztendlich die Leistung von Catherine David. Für mich waren die Vorbereitungen, die Gespräche mit ihr und ihren Mitarbeitern bis jetzt ein großer Gewinn. Was mir tatsächlich auch Motivation bringt, ist diese intellektuelle Plattform, die da ausgerollt wird und auf die Catherine David sehr besteht. Denn schließlich, und das ist ebenfalls ganz fest meine Meinung, geht es um Aufklärung. Dabei muss der Aufklärungsbegriff selbst reaktualisiert werden. Und das ist ein Politikum, welches die Kunst, wie sie gehandelt wird, zwangsläufig entgrenzt und auch dislokalisiert. Die Frage, die jetzt und hier auf der documenta aktuell ist, ist die Frage nach dem Potential der Krise. SF: Sie sind die erste Frau aus der Ex- und Post-DDR, die an einer documenta, teilnimmt – genau genommen an der zweiten documenta im wiedervereinigten Deutschland. Also Sie sind die erste weibliche ostdeutsche Position, die man in der größten Kunst-Show, die sich nach dem Krieg in Deutschland etablierte und die für den Kunstmarkt immer noch die wichtigste Show ist, sehen kann. Wie wichtig ist Ihnen die Tatsache? Wie bewusst gehen Sie damit um? YM: Mein Galerist, der Judy Lybke, verkündet immer, dass es sein Ziel ist, Kunstgeschichte zu schreiben. Das braucht man gar nicht anzuzweifeln, dass ihm das gelingt. Nur frage ich mich, inwieweit er sich dessen bewusst ist, dass er mit mir und meiner besonderen historischen Rolle hier bei dieser documenta eben auch Kunstgeschichte schreibt. Das möchte ich wiederum bezweifeln, weil ich mir sicher bin, dass eine Frauenposition anders politisch gehandelt wird als eine Männerposition. Und zweitens, weil meine Position mit dem Kernimpuls einer Black Box – einer Verweigerung von Konsumierbarkeit – sich noch schlechter handeln lässt. Solch eine Frage, nach der besonderen historischen Situation, müssen beide Parteien ganz bewusst thematisieren und die Chance auch wahrnehmen. Ansonsten bleibt es bei einem historischen Zufall oder Unfall. Ich allein kann damit gar nichts anfangen. Denn es ist nicht mein Verdienst allein, dass es dazu gekommen ist.
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SF: Aufgrund Ihrer Art des ästhetischen Arbeitens verfügen Sie ja über kein Werk im traditionellen Sinne, das sich dann irgendwie verkaufen ließe. Was ist denn die existentielle Grundlage für Ihre Arbeit oder wovon leben Sie? YM: Darüber reden wir lieber nicht. Na ja, so hauptsächlich von Stipendien und Honoraraufträgen, zum Beispiel Kunst am Bau oder Lehraufträge, manchmal auch Verkäufe. SF: Kann man denn das, was Sie Laborfragmente nennen, also die Dinge, die da einsehbar sind, z.B. in Ihrer Galerie und die von der Galerie vertreten werden, kann man denn das kaufen? YM: Ich verstehe mich, wie ich bereits ausführlich beschrieben habe, als A.O.B.B.M.E. und damit durchaus als Labor. Aber eben vor allem als kybernetisches System und als Institut. Da ergibt sich automatisch die Frage für eine Galerie, die vor allem wie eine Galerie EIGEN+ART eine sehr verkaufsaktive Galerie ist, was kann man damit anfangen? Wie kann man damit umgehen als Galerie? Das ist die eine Seite. Die andere Seite, nämlich ich, frage mich doch auch, was ich von so einer Galerie haben kann. Schließlich glaube ich, dass wir gewissermaßen Kooperationspartner sind. Und das schließt bei so einer Arbeit, wie ich sie tue, die Freundschaft mit ein. Denn ohne Freundschaft ist die Galerie ein anonymer Geschäftsort. Mit der Freundschaft gelingt das wirkliche Interesse an den Entwicklungen, die Menschen nehmen können. – Konkret besteht die Möglichkeit, dass man sich in der Galerie über meine Arbeit informieren kann. Die ist trotz allem Kontextbezug auch immer schon sehr konkret gewesen. Meine Installationen in Museen, Galerien und anderen Podien sind bisher immer klar formulierte Raum- und Medieninterventionen gewesen. Generell schafft mir die Galerie Gelegenheiten, mich, d.h. meine Positionen zu zeigen. Kaufen kann man Fragmente aus komplexen Konzepten und Bauten. Selbstverständlich kann man auch kleinere Produkte kaufen, die es immer gab und geben wird, wie Zeichnungen und Fotos. Man kann mich auch treffen. Das ist wohl das exklusivste Angebot.
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Abbildung 8: Yana Milev und Catherine David, Schloss Solitude, Stuttgart, 2008
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Sebastian Ising
Abbildung 9: Yana Milev, Catherine David, JeanBaptiste Joly und Peter Weibel, Podiumsdiskussion, ZKM Karlsruhe, 2009
Quelle: AOBBME-Archiv, Foto © Uli Deck
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P OSTSKRIPTUM Wie im oben abgedruckten Interview deutlich wird, stellt Yana Milev von Anfang an, also seit den 1980er Jahren, die Forschung in das Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit. In ihrem 1995 herausgebrachten Buch Von Exodus bis Exerzitium2 über lebendige Archäologie und Theoriedesign als Methoden der künstlerischen Forschung legt sie Zeugnis darüber ab. Ihre authentischen wie auch kraftvollen Interview-Bekenntnisse korrespondieren im Nachgang mit Diskursfiguren einiger potstrukturalistischer Theoretiker wie mit Slavoij Zizeks SymptomFigur3, Michel Foucaults Heterotopie-Figur4, Edward Saids OrientalismusFigur5, Jacques Derridas Aporie-Figur6, mit der Figur der Wunde bei Joseph Beuys7 oder mit Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris Rhizom-Figur8. Im Anschluss an die documenta von 1997 – und im Anschluss an die hier formulierte kritische Position – ging Yana Milev mit einem DAAD-Stipendium für die darauf folgenden drei Jahre nach Japan. Sie lebte in Kyto und erlernte dort die Grundlagen der geistigen, psychischen und physiologischen Prinzipien der traditionellen japanischen Kampfkünste. Im Budkan im Stadtteil Saky-ku in Kyto-Shi trainierte sie täglichen den Kyd unter der Anleitung des ehrwürdigen Shihan Hiraki Ryoichi Sensei und erhielt 1999 den Sho Dan (schwarzen Gürtel). Zurück in Berlin trainierte sie ab 1999 bis heute Aikid im Dj des Shihan Gerhard Walter Sensei. Im Rückblick kann Milevs Aufenthalt in Japan als Transmissionsphase gesehen werden, in welcher sie ihre Identität als Künstlerin auf den Kunstmärkten sukzessive zurückbaute. In der Konsequenz führte dies zur Trennung von der Galerie EIGEN+ART Leipzig/Berlin, die ihre künstlerische Arbeit zwischen 1992 und 2003 vertreten hat, und zum Bruch mit dem Kunstmarkt überhaupt. Sie begann 2003 ein Doktoratsstudium für Philosophie in den Disziplinen Kulturphilosophie und Anthropologie der Kunst, promovierte 2008 mit
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Milev, Yana: Von Exodus bis Exerzitium, Edition EIGEN+ART, Leipzig/Berlin 1995.
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Zizek, Slavoij: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991.
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Foucault, Michel: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt/Main 2005.
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Said, Edward W.: Orientalismus, Berlin, 1981. Derrida, Jaques: Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein, übersetzt aus dem Französischen von Michael Wetzel, München, 1999.
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Beuys, Joseph: Zeige deine Wunde, Environment, Lenbachhaus München 1974/75.
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Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977.
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einem Thema der politischen Philosophie zur Dr.phil., habilitierte sich an der Universität St. Gallen und erhielt 2014 die venia legendi für Soziologie. Im akademischen Betriebssystem steht Yana Milev heute wieder inmitten von Marktmechanismen, inmitten der Ökonomisierung und Ideologisierung von Wissen durch die Vormacht der Industrie, wie sie selbst sagt. Ebenso beobachtet sie, wie seit der Millenniumswende etwa die sogenannte künstlerische Forschung zum akademischen Trend und somit zum neuen Produkt auf dem Wissenschaftsmarkt wird. Vor diesem Hintergrund hat sie in die Freigabe des Interviews eingewilligt, das nun schon 17 Jahre zurückliegt, weil es aus ihrer Sicht nichts an Aktualität eingebüßt hat. Sowohl die in der DDR als auch die in Japan erlernten Kulturtechniken des Überlebens sind wertvolle Strategien der Resistenz inmitten von globalen Mainstreams des Konsums und der Käuflichkeit, aber auch des Burnouts und der Abschiebung, die sie ab 2004 als Emergency Design – Anthropotechniken des Über/Lebens in die Debatte einbringt. 2009 richtete Yana Milev gemeinsam mit Catherine David, Peter Weibel und JeanBaptiste Joly ein Podium zum Thema Ausnahmezustand Kunstmarkt – Ausnahmeraum Kunst am ZKM in Karlsruhe aus, das die Ideologisierung der Kunst im Dienste der Märkte und parallel das Programm der dX, die Retroperspektive, als kuratorisches und politisches Gegenprojekt thematisierte.
L ITERATUR Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977. Derrida, Jaques: Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefaßt sein, übersetzt aus dem Französischen von Michael Wetzel, München, 1999. Foucault, Michel: Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt/Main 2005. Milev, Yana: Von Exodus bis Exerzitium, Edition EIGEN+ART, Leipzig/Berlin 1995. Said, Edward W.: Orientalismus, Berlin, 1981. Zizek, Slavoij: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991.
Heidrun Hegewald and the Cold War Politics of the Family in East German Painting1 A PRIL A. E ISMAN
Heidrun Hegewald was an important artist in East Germany in the final decades of the Cold War, and one of its best-known female artists.2 Known in particular for drawings, prints and paintings of women and children that often raised unsettling questions about family life or global issues, Hegewald received many awards for her work, including East Germany’s prestigious Kunstpreis der DDR and its National Prize. A regular participant in both local and national exhibitions since the 1970s, where her paintings were frequently among the most discussed by the public, Hegewald also exhibited art in the West, including at the Venice Biennale in 1982 and 1988.3 Since unification, however, she has largely
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The research for this paper was funded by an American Association for University Women Postdoctoral Research Leave Fellowship. I would like to thank Katrin Bahr, Paula Hanssen, Marlene Heidel, Sebastian Heiduschke, Thomas Maulucci, Barbara McCloskey, Emily Morgan, Cullen Padgett-Walsh and especially Grant Arndt for valuable feedback on earlier drafts of this article. I am also grateful to Heidrun Hegewald for meeting with me in Berlin to discuss her work and experiences.
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Hegewald is one of a handful of women who were well known in the East German art scene of the 1980s. Others include Nuria Quevedo (b. 1938), Gudrun Brüne (b. 1941), Doris Ziegler (b. 1949) and Angela Hampel (b. 1956).
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Other exhibitions in the West with works by Hegewald include Durchblick (1984), DDR Heute (1984), and DDR Künstlerinnen (1985).
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disappeared from the art scene and has had to work in a field wholly unrelated to art in order to survive financially.4 Hegewald’s inability to survive as an artist after 1990 is the result of her double marginality in Germany today – as a woman and as a former East German who is vocally critical of the West. With regard to the latter, Hegewald had been deeply committed to the East German state and to improving it from within. In the final decades of the Cold War, she took on positions of power within its cultural establishment, including leadership positions in the Association of Visual Artists (VBK) at both the local and national levels. These positions, together with the awards she received for her service – including Deserved Activist of the GDR (1976) and the Fatherland Silver Medal of Merit (1984) – have led to her being perceived as part of the East German establishment and thus dismissed as a state artist (Staatskünstler) in the contentious Bilderstreit (image battle) of the long 1990s.5 Further adding to Hegewald’s difficulties in the new Germany is the fact that she was publicly critical of the unification process. In 1989/90, she gave interviews and published articles that predicted what would happen to East German artists and their cultural legacy in the new Germany, and criticized how East Germans were being treated.6 In an article published in Neues Deutschland in 1990, for example, she stated bluntly that »the East German people, second class [citizens], suffer impoverishment and humiliation.«7 Her criticisms of the West have also appeared in the books she has published, such as Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen (1993) and Ich bin,
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According to her CV, Hegewald has worked as a doctor’s assistant since 1993. CV
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In 1995, Detlef Lücke offered three categories for former East German artists: the
provided by the artist on June 25, 2013. ideological elite, artists of integrity who worked in quiet, and young artists who, finished with the GDR, became known internationally. This classification privileges the latter two. Lücke identifies Hegewald as part of the first along with Willi Sitte, Bernhard Heisig, Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer and Walter Womacka, i.e. those artists who were frequently dismissed as Staatskünstler in the Bilderstreit of the 1990s. Lücke, Detlef: »Die Erfahrung des Scheiterns«, Kunst und Kirche, 1995, 148-150. 6
Kaemmel, Mara: »›Mich ängstigt dieses laute Leben.‹ Über Gefahren für die Welt und für die Kultur«, Berliner Zeitung, 7./8. July 1990, 9. Hegewald, Heidrun/GoltzscheSchwarz, Ingrid: »Die Geschichte der DDR geht zu Ende«, Neues Deutschland, 23. May 1990. Bleibaum, Brigitte: »Unsere Chance, Identität und Würde zu bewahren«, Neues Deutschland, 8. June 1990.
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Hegewald, Heidrun: »Diese deutsche Einheit hat nicht nur einen Preis«, Neues Deutschland, 15. September 1990.
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was mir geschieht (2011).8 As a result of her vocal political convictions, Hegewald did not cultivate the distance from her East German past necessary to survive as an artist in the Federal Republic of Germany after 1990, when denigrations of East Germany, and especially East German art, were frequent.9 Hegewald’s reputation since unification has also suffered because she is a woman. Whereas in East Germany, women were an important – and ever increasing – part of the art scene, making up more than 35% of the Association of Visual Artists in East Germany and more than 25% of the artists in major exhibitions,10 their numbers have dropped to under 10% in most post-unification books and exhibitions about East German art.11 These texts and exhibitions tend to reflect western expectations for women’s participation, which was significantly lower than in the East. In art exhibitions that extend beyond East Germany, women fare even worse. Deutschlandbilder: Kunst aus einem geteilten Land (1997), for example, which was a major exhibition of post-war German art, contained no women from the GDR.12 Hegewald’s difficulties in the new Germany have led to the question of what to do with her artwork when she dies, a question that has concerned her for the last few years. Although some of her best-known paintings are already in museum collections, many others are stacked away at her home because the museum establishment has expressed little interest in them. In 2012, however,
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The title of the first book makes reference to Bertolt Brecht’s Geschichten vom Herrn Keuner, and thus to the need for action and change, be it of the world or oneself.
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This fate is shared by Willi Sitte, who similarly defended his belief in the GDR. Artists like Bernhard Heisig, on the other hand, publicly rejected their former commitment to the East German state and have since been largely rehabilitated, their biographies altered to better fit a western narrative. For a case study of how unification affected Bernhard Heisig’s reception, see Eisman, April A.: »Denying Difference in the Post-Socialist Other: Bernhard Heisig and the Changing Reception of an East German Artist«, Contemporaneity: Historical Presence in Visual Culture, vol. 2, 2012, 45-73.
10 Brinkmann, Annette/Mann, Bärbel/Wiesand, Andreas J.: Frauen im Kultur- und Medienbetrieb II. Fakten zu Berufssituation und Qualifizierung, Bonn 1995. 11 Schröter, Kathleen: »(Keine) Frau im Blick. Zur westdeutschen Rezeption von Künstlerinnen aus der DDR vor 1989/90«, in und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR, eds. Richter, Angelika/Stammer, Beatrice E./Knaup, Bettina, Nürnberg 2009, 39-44. 12 Ebert, Hiltrud: »Wo sind die Bildenden Künstlerinnen? Erklärungsversuch über das Verschwinden einer ostdeutschen Künstlergeneration«, in: Binas, Susanne ed. Erfolgreiche Künstlerinnen, Arbeiten zwischen Eigensinn & Kulturbetrieb, Essen 2003, 106115.
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Hegewald found a permanent home for her art and papers at the Kunstarchiv Beeskow, which already has several of her works, including Chile, 11 September 1973 (1973) and Cassandra Sees a Serpent’s Egg (1981). The Kunstarchiv Beeskow will thus become a key center for the future study of Heidrun Hegewald’s work, preserving the estate of one of East Germany’s most important female artists until the time has come when scholars can set aside Cold War and gender biases to engage with and value the works for their own aesthetic merits and contributions to East German culture. This paper focuses on a handful of Hegewald’s paintings, including those already in Beeskow collection, and their reception in East Germany in order to show the importance of her work for the study of both East German art and women artists more generally. In particular, it examines the theme of the family as it appears in Hegewald’s paintings. It is for these works that she first gained notoriety in the GDR as a painter, and they became some of her best-known paintings before the Wall fell. As this paper will show, she used the theme of the family, and especially mothers and children, as a lens from which to discuss political issues important to the GDR on both a national and global scale.
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Born on October 21, 1936, Heidrun Hegewald grew up in Dresden, the eldest of two children. Her early years were defined by the Second World War: her father, a soldier, was gone for most of her childhood and, at the age of eight, she witnessed the firebombing that destroyed the city of Dresden. She later described the events of February 1945 in terms of silver fish that glistened in the sun high up in the sky, an image followed by sirens and panic as the city caught fire and she, her mother, sister and grandparents fled.13 Hegewald’s visceral experiences of the war contributed to her commitment to the GDR, which presented itself as the anti-fascist Germany, as well as to the emphasis on politics in much of her art. Indeed, in an interview in 1974, she stated that she believed art can »stimulate creative thought« and help make the world a better place, and that she was interested in showing »the dialectic of historical processes in concrete everyday situations« in her work.14 As she said in
13 Hegewald, Heidrun: Ich bin, was mir geschieht, Berlin 2011, 29-32. 14 Lammel, Gisold: »Zeit, um sich zu finden«, Junge Welt, 2. August 1974, 16.
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another interview, »I believe that it is the purpose of the artist to bring attention to the problems of our time and to help solve them through our means.«15 Before pursuing a degree in art, Hegewald studied fashion design in East Berlin.16 Then in 1958, she enrolled at the Kunsthochschule Berlin-Weißensee, where she studied art and specialized in graphics. By 1960, she was working as a freelance artist in East Berlin with a particular emphasis on book illustration. She began receiving awards for her work soon after that. In both 1965 and 1966, children’s books she illustrated received the »one of the most beautiful books of the year« award.17 In 1971, Hegewald, then thirty-five years old and with a ten-year-old son at home, started a three-year graduate degree in art at the Akademie der Künste in Berlin, studying painting under Werner Klemke.18 Although she continued creating award-winning graphics, she also began to create and exhibit paintings in these years, the first of which was Chile 11 September 1973 (1973/77, fig. 1). Created in response to the putsch in Chile that toppled the democratically elected Socialist President Salvador Allende and led to the incarceration, torture and death of tens of thousands of Chileans under August Pinochet, this painting focuses on two women, presumably a mother and daughter, who appear against a textured black background. The mother, seated in plain brown V-neck dress, sits centered along the bottom edge of the painting with her eyes closed. Her face, tilted upwards with tears evident, is framed by long, dark hair that disappears behind her shoulders. Despite her grief, she remains cognizant of her daughter: one of her over-sized worker’s hand rests in her lap, holding that of the little girl to prevent the straining child from walking toward something unseen outside the
15 Grunert, Ilse: »Über Probleme, die uns alle angehen«, Ostsee Zeitung, 3. August 1979. 16 As Christiane Müller noted in 1989, many women in East Germany pursued other career paths before turning to art. Often, as in Hegewald’s case, this was because their parents did not approve of art as a career. Müller, Christiane: »Bildende Künstlerinnen der DDR – soziales Umfeld und Werk. Versuch einer Situationsanalyse zu Beginn der 80er Jahre«, Dissertation: Humboldt Universität, 1989, 43-44. 17 In 1965, the prize was for Peter Hacks’ Der Flohmarkt: Gedichte für Kinder; in 1966, for Peter Hacks’ Der Schuhu und die fliegende Prinzessin. 18 In an interview, Hegewald explained that she had waited until her son »zehn Jahre alt war und sich selbst ein Spiegelei machen konnte« before she began her studies at the Akademie der Künste Berlin. Rosenbaum, Suse: »Ihre Spezialstrecke ist der Schock«, Deutsche Volkszeitung, 24. January 1986. In her dissertation about women artists in East Germany, Christiane Müller observed that many women experienced a multiyear break in their artistic careers as a result of having children. Müller, 47-54, 77-84.
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right-hand frame of the painting. The girl’s green dress and the red bow in her dark hair offer a counterpoint of color – as well as movement – to the otherwise somber image, drawing our eyes to this much smaller figure, perhaps as a sign of hope, or of the impact of the political events on the innocent. This painting was one of hundreds created by East German artists in response to the putsch.19 Rather than focus on the horrific nature of the events themselves, however, Hegewald turned her lens to the impact these events had on the women left to mourn the deaths of their husbands, fathers and brothers – or to wonder what had happened to them. As one reviewer stated at the time, »[…] it is a wholly original achievement that, with a light and certain hand conditioned by practice and self assurance, she gives the theme of Chile a truth of feeling.«20 The theme of women’s suffering as a result of war is one that Hegewald would return to many times in her career. The following year, Hegewald completed Playing Child (1974, fig. 2), the first of a number of paintings she would create that focused on children. It depicts an androgynous child with short blond hair who is mesmerized by a television set, the light from which illuminates the child’s face and upper body as well as the long table, set at a strong diagonal across the picture plane on which it stands. Two balls rest, ignored, on the table. The smaller ball, its color faded in the bright light from the TV, sits just out of reach of the child’s arm, which lies listlessly on the tabletop. The larger ball rests next to the television. In comparison to its twin, it is a bright red circle that offers a powerful visual counterpoint to the faded colors of the other ball and the green shirt and pale face of the child that are set in a diagonal line with it. The bright red color suggests the vibrancy of life being ignored, a toy whose seductive power has been robbed by new media. In an early article about Hegewald, Gisela Lammel describes Playing Child as a polemic »against an unthoughtful use of television, champion[ing] the development of independent fantasy.«21 Another reviewer makes clear, however, that »this is not a picture ›against television‹ – Hegewald’s work doesn’t make it
19 For more on this event, see Eisman, April A.: »›Shocked and Galvanized‹: East German Artists and the 1973 Putsch in Chile«, in El arte en la República Democrática Alemana. 1949-1989, ed. Gutiérrez Galindo, Blanca, Mexico City 2014. 20 Dieckmann, Friedrich: »Treppenblicke in der Akademie der Künste. Vier Meisterschüler der Sektion Bildende Kunst«, Mitteilungen, Verband bildende Künstler der Deutschen Demokratischen Republik, 2/1975, 18-24, here: 22. 21 Lammel, Gisold: »Zeit, um sich zu finden«, Junge Welt, 2. August 1974, 16.
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that simple. It is a picture of the child being left alone with the television.«22 A third reviewer agrees, seeing Hegewald as »projecting with her work the problems of adults into the world of children«, in this case, when parents »have no time for their children« and the »television threatens to take on a replacement function.«23 This painting was the first of several in which Hegewald engaged with the political issue of the family in East Germany and, in particular, the impact that gender equality was having on it. From its founding in 1949, East Germany was committed to gender equality, both in terms of a woman’s right to work and her right to equal pay for equal work. This commitment was motivated both by Marxist ideology and the practical need for a larger workforce.24 In the 1950s, the government emphasized getting women into the workforce, including jobs outside of traditional women’s work. By the 1960s, with the majority of women now in full-time employment, the government’s focus turned to educating women for technical professions, including engineering and medicine. In the 1970s, policies began to address the double burden that many women faced of having to balance a full-time job with taking care of the home and children. These new policies included access to birth control and abortion so that women could plan their reproductive lives, as well as time off from work for mothers and an extensive daycare system. In Playing Child, Hegewald can be seen as addressing the lack of time women had to spend with children as a result of the double burden. She presented a situation from everyday life that raised questions for discussion rather than proposed answers, a combination that would prove successful with the East German public. In the same year she created Playing Child, Hegewald finished her degree at the Akademie der Künste. Already a member of the Association of Visual Artists (VBK) since 1967, she was elected into the leadership of the painting and gra-
22 Dieckmann, 23. 23 Dr. Ulrike Görner: »Eigenen Problemen auf der Spur«, Bildende Kunst, 8/1975, 4067. 24 For an overview of East Germany’s changing policies toward women see Harsch, Donna: »Squaring the Circle: the Dilemmas and Evolution of Women’s Policy«, in The Workers and Peasants State: Communist Society under Ulbricht, 1945-79, eds. Major, Patrick/Osmond, Jonathan, Manchester 2002, 151-170, and Rueschemeyer, Marilyn: »Women in East Germany: From State Socialism to Capitalist Welfare State«, in Democratic Reform and the Position of Women in Transitional Economies, ed. Moghadam, Valentine M., Oxford 1993, 75-91.
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phics section of the Berlin chapter, a position she held for more than a decade. Together with a number of other artists, she was responsible for deciding on commissions, writing reports and generally making sure that the needs of Berlin artists were being met. She performed these duties while also working full-time as an artist and raising her son. Two years later, in 1976, she exhibited Child and Parents (1976, fig. 3), a painting that catapulted her into the national spotlight. Exhibited in Berlin and then at the Eighth Art Exhibition of the GDR in Dresden in 1977, this painting was the focus of numerous articles and discussions. At the top center of the horizontal composition, a young child of indeterminate sex stands in front of a door that is cracked open, bathing the figure in the light coming from an unseen room behind. The top of a large, round table stretches out in front of the child to the bottom of the picture plane and takes up most of its width. At the bottom left of the image, seated at the table with his back to the viewer, is the child’s father. At the bottom right, the mother, her body angled towards us but with face turned away. Both parents have their right elbows on the table and appear to be consciously ignoring each other, perhaps having been caught in the midst of a troubling conversation. A triangle of lines connects the three figures in an otherwise unadorned and darkened room. It is an image that captures the feelings of isolation existent within a crumbling family structure, with the child caught between parents who can no longer communicate with each other. Child and Parents hit a nerve in East Germany, sparking a lively discussion amongst the general public, some of which was published by the widely read illustrated weekly Für Dich. Titled, »The Door is Still Open« in reference to the door behind the child, the four-part series began with a two-page color illustration of the work and a presentation of it with the statement that »it is no longer unusual that we confront you with artworks that cause you to think, that find 25 your approval or that shock you and provoke opposition.« This was followed by a short article by Dr. Ulrike Krenzler, who began by mentioning images of children created by Käthe Kollwitz and Gabriele Münter before turning to Hegewald’s painting and pointing out that the impact of a divorce »is much stronger on the developing child than the adults. Men and women usually find a new partner; the child has only one of each parent.«26 She then addressed the formal elements of the painting and the »symbolic nature« of the composition, color and lighting. This article was followed by a number of quotes from visitors
25 »Noch ist die Tür offen« and »Im Gespräch mit den Besuchern«, Für Dich, 15/1977. 26 East German authors with a Ph.D. were frequently identified as »Dr.« in the bylines of their articles. I have maintained that convention in this paper.
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to the Berlin exhibition who had seen the painting. These ranged from a focus on the »lost and helpless« nature of the child, to a question from one woman who »searches for beauty in art« about »why […] the artist bother[s] with such themes?« Another questioned whether the painting necessarily showed an impending divorce, seeing this as an overdramatic interpretation. The next two issues to address the painting focused solely on responses from readers. These, too, tended to focus on the content of the work. Some wondered if the child was the reason the parents were staying together, while another believed that »the line between the child and the open door shows the parents the right way [out].«27 Another stated that »the image in issue 15 is hideous! Can someone hang something like this in their living room?«28 Others called the work »shocking«, although whether that was meant as positive or negative varied. This engagement with Hegewald’s work by ordinary East Germans was an important aspect of her work and fit well within East Germany’s view of the visual arts as playing a key role in helping to mold the well-rounded Socialist personality.29 In the late 1940s and early 1950s, artists were encouraged to create didactic works that emphasized role models and optimistic world views for their audience to consume. In the 1960s, a number of artists, including Fritz Cremer and Bernhard Heisig, challenged this approach to art, arguing that East Germany needed a more complicated art suitable for its educated audience.30 By the 1970s, didacticism had been replaced by a dialogic mode of engagement, one that presented contemporary problems for discussion rather than pre-digested answers. It is in this context that Hegewald created her paintings, works that successfully inspired a reaction from their audience. The final article in the series about Child and Parents offered a quick overview of the discussion: »Approval and rejection, the large spectrum of human perception and insights were reflected in the readers’ letters […].«31 The article included a couple more quotes before thanking the readers for their participation
27 »Noch ist die Tür offen«, Für Dich, 23/1977. 28 Ibid. 29 For an overview of artistic development in East Germany, see Damus, Martin: Malerei in der DDR: Funktionen der bildenden Kunst im Realen Sozialismus, Reinbeck bei Hamburg 1991. 30 The speeches given by Cremer and Heisig at the controversial V. Kongress des Verbandes bildenden Künstlers in 1964 on this topic can be found in Goeschen, Ulrike: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, Berlin 2001. 31 »Aspekte zum Familienbild«, Für Dich, 29/1977.
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and turning to an interview with the artist based on some of the questions raised. The interview included a black-and-white photograph of Hegewald in a painter’s smock with her hands in her lap and a sober look on her face. In response to the question of how she felt about the differing opinions about her work – did she feel understood? – Hegewald stated, »a painting takes on a life of its own when one lets it go. It experiences, through the engagement with the public, a subsequent realization.« She believed this was a positive thing. Later, she explained this painting and her work more generally as follows: »I have the intent to make reality transparent. Child and Parents is an almost terse presentation of reality. The development of the family in socialism shows certain features, the result of changes to the traditional family structure. These features can be evaluated objectively when we try to distance ourselves from bourgeois models of family and marriage. Statistically the divorce rates in socialist lands are high. But that is no reason to discuss it behind our hands. Rather we should accept this side of reality openly […] Socialist morality cannot be identical with bourgeois morality […].«
Hegewald was speaking here of an unintended consequence of increasing gender equality: no longer financially dependent on their husbands to survive, women expected more and were less willing to remain in unhappy relationships. As a result, there was a fairly high rate of divorce in East Germany.32 Hegewald also spoke about her work in an interview published in the Ostsee Zeitung. In it, she stated that she »came to painting not because I had to paint but rather because the material was there, because it pushed me to engage with certain problems in my work.«33 She also mentioned Child and Parents, stating that »through the discussion that emerged […] I became practically an expert on social problems. Naturally I’m not. [And] I don’t want to limit my painting to the portrayal of kids. The theme ›child‹ is for me, quite simply, tied with the aspect of hope, like youth in general […] I paint things that really exist. I don’t make them up. With them I want to tackle the problems that appear on a large scale in society.«34
32 Rueschemeyer, Marilyn/Schissler, Hanna: »Women in the Two Germanys«, German Studies Review, Vol. 13, DAAD Special Issue (1990), 71-85. 33 Grunert, Ilse: »Über Probleme, die uns alle angehen«, Ostsee Zeitung, 3. August 1979. 34 Ibid.
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Figure 1: Heidrun Hegewald, Chile 11 September 1973 (1973/77), oil on hardboard, 120 x 147 cm, Kunstarchiv Beeskow
Heidrun Hegewald. Zeichnungen Malerei Graphik Texte, Angelika Haas / Bernd Kuhnert (eds.) (Berlin: Arte-Misia-Press 2003) / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 2: Heidrun Hegewald, Playing Child (1974), oil on hardboard, 100 x 85 cm, Private collection, Berlin
Heidrun Hegewald. Zeichnungen Malerei Graphik Texte, Angelika Haas / Bernd Kuhnert (eds.) (Berlin: Arte-Misia-Press 2003) / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 3: Child and Parents (1976), oil on hardboard, 110 x 190 cm, Staatliche Museen zu Berlin
Nationalgalerie Berlin. Kunst in der DDR. Katalog der Gemälde und Skulpturen, Fritz Jacobi (ed.) (Leipzig: Seemann 2003) / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 4: Mother – Service Cross in Wood (1979), oil on canvas, 175 x 140 cm, Museum der bildenden Künste Leipzig
Heidrun Hegewald. Zeichnungen Malerei Graphik Texte, Angelika Haas / Bernd Kuhnert (eds.) (Berlin: Arte-Misia-Press 2003) / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 5: Kassandra Sees a Serpent’s Egg (1981), acrylic on canvas,
135 x 155 cm, Kunstarchiv Beeskow
© Kunstarchiv Beeskow / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 6: Mother with Child (1984/85), oil on canvas, 145 x 114 cm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha
© Stiftung Schloss Friedenstein Gotha / © Lutz Ebhardt / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Figure 7: Prometheus Becomes Aware of Playing with Fire (1986), oil on canvas, 145 x 115 cm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha
© Stiftung Schloss Friedenstein Gotha / © Lutz Ebhardt / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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In 1979, Hegewald turned her attention from the home to the larger threat of war in Mother-Service-Cross in Wood (1979, fig. 4). This painting, created in response to the increasing tensions between East and West over the Afghanistan war and the possibility of NATO’s placing Pershing II Cruise missiles in West Germany, focuses on the sacrifice that mothers make during war. The title of the work recalls the medals given out to mothers during the Third Reich. In the center of the painting, an oversized and nude pregnant woman – with sagging, pendulous breasts, swelling belly, protruding belly button and genitals visible – is tied to a wooden cross. Her feet, one atop the other and with a reddish hue, have been nailed to the base. Her arms are wrenched above and behind the cross piece, leaving only her awkwardly protruding shoulders visible. She turns her head upwards and back, seeming to peer at something in the heavens beyond the edge of the picture plane at the top. Behind her, the rolling landscape and cloudfilled sky are brown and devoid of detail with the exception of a small, nude figure at the level of the crucified figure’s feet, who seems to crawl on all fours, a gas mask for a head.35 In an interview with the artist conducted the same year she completed the painting, Hegewald called Mother-Service-Cross in Wood »my declaration of intent for that which is taking place in the world.«36 She mentioned NATO specifically and explained, »I react strongly to actual political events. I feel myself simply besieged and must give my answer [...].« With this painting, she points to the insanity of war and the losses suffered, even by those not actively fighting in it: by women and children, and by unborn generations.37 Two years later, Hegewald painted Cassandra Sees a Serpent’s Egg (1981, fig. 5), another commentary on the military threat of those years. It depicts a young woman – identified in the title as Cassandra – holding a baby to her chest while calling out. In classical mythology, Cassandra had the gift of foresight but was cursed to have her warnings go unheeded. In this painting, she faces the opposite direction of everyone else in the image, who appear mesmerized by something in the distance behind her. Striding toward this unseen thing is a figure in a hat and mask whose demeanor and clothes suggest a Nazi brownshirt. He or she carries an egg that contains a snake within it. Inspired by Ingmar Bergman’s
35 The figure with a gas mask would appear in several more of Hegewald’s paintings, including Tanzmeister (1980/81), a controversial work created for the Gewandhaus in Leipzig. 36 Pretzman, Liane: »Wie von einem Schlag getroffen«, Tribüne, 10 April 1980, 6. 37 The pregnant woman, gas mask, and Christian imagery would reemerge five years later in Pieta (1984).
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1977 film, The Serpent’s Egg, this painting seems to reflect upon the threat of a nascent fascism existent in Germany and would have been viewed as a commentary on West Germany. By placing the serpent’s egg at the same level as the child’s head, Hegewald seems to be comparing the two: the hope for the future represented by the East versus the threat of war from the West. 38 In a review of this painting, the East German art historian Ulrike Krenzlin noted that the child in Cassandra’s arms holds an origami crane that recalls the hundreds of paper cranes, symbols of long life, created by the twelve-year old Sadak Sasaki before she died from radiation poisoning in 1955 from the Atom bomb dropped on Hiroshima ten years earlier.39 Through this reference to the end of World War II, Hegewald thus seems to be comparing the beginnings of fascism with its end as a warning to the present: war leads to suffering and the death of innocents. Krenzlin also pointed to »how radical the political responsibility with regard to women« appears in this work by its focus on Cassandra. Walking against the crowd, Cassandra as mother sees what is to come and is trying to warn people, but they do not listen. In this case, like in Käthe Kollwitz’s artistic criticisms of World War I, the emphasis is on female perceptions of loss as a counterpoint to the traditional, masculine emphasis on aggression and heroism, a gendered view of war that Christa Wolf similarly pursued in her bestselling novel Kassandra, which was published three years later. Cassandra can also be seen as Hegewald herself, warning of the importance of remaining vigilant in the fight for peace. Two years later, as the tensions over the Pershing II Cruise Missiles continued to grow, Hegewald published an article in Neues Deutschland in which she stated »how unbelievably beautiful peace is« and the need to »do everything« to keep it.40 For artists, this means »[forming] the people’s desires and dreams and to find the most convincing means for [encouraging their] craving for peace.« She later stated that she »knows that we artists can’t find solutions for the worries of the world. But maybe mankind can hear our cry.«41
38 Vom Paris-Urteil zum Kassandra-Ruf. Antike Mythen in der bildenden Kunst der DDR, Berlin: Zentrum für Kultur- und Zeitgeschichte, 2012, 89. 39 Krenzlin, Ulrike: »Heidrun Hegewald: Kassandra sieht ein Schlangenei«, in Bildende Kunst 3/1985, 341. See also Vom Paris-Urteil zum Kassandra-Ruf, 89. 40 Hegewald, Heidrun: »Unser Optimismus verlangt Taten«, Neues Deutschland, 16. November 1983. 41 Landsbert, N.: »Heidrun Hegewald: ›Die Mutter mit dem Kind‹«, DDR Revue, 2/1988.
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One of the last major works Hegewald created on the family thematic before the Wall fell was Mother and Child (1984/85, fig. 6), a painting that again responds to the threat of war, but this time by focusing on a mother and her newborn. The woman, in a plain dress with sleeves rolled up and hair pulled back, stands in the middle of the painting, holding her baby close and cradling its tiny head in her powerful left hand. Their faces touch, emphasizing the intimacy of the motherand-child relationship, and yet the mother looks at something beyond the left edge of the picture frame. The stern look on her face and the protective way she is holding the child suggest a threat. The darkness that seems to engulf the figures from below and the deep red glow cast upon the mother from behind and to the right also contribute to the painting’s somber mood. Is the red light from a fire raging outside, or is it the glow of a nuclear sunset? What at first appears to be four panes of a giant window, with the two on the left showing a sunny scene of green trees and the two on the right a more ominous dark and reddish sky, become cross hairs on closer inspection. The vertical bar separates the two figures from the background. The horizontal one falls between the baby and mother’s left hand, the one cradling the newborn’s head, suggesting a limit to the amount of protection she can offer. In an article about Mother with Child published in Armee Rundschau, Dr. Sabine Längert explained that the painting had been created at a time when »the NATO stationing of rockets in Europe was in full swing, the international situation was [...] heated, and not just a few people believed that an armed conflict was inevitable, [that] every life on earth was threatened like never before in the history of mankind.«42
Längert then pointed out that in her painting, »Hegewald countered this threat with human warmth, love, strength, a will to life, and hope without resignation.«43 Similarly, an article in Für Dich described the painting as »an old motif arranged anew so that it touches us deeply, makes us think, challenges our activities. The artist, with her creative strength, takes a stand against reactionary powers that aim to destroy all life on our planet.«44 Although Mother with Child was commissioned by the Democratic Association of Women in the GDR (Demokratisches Frauenbündnis der DDR), Hegewald did not intend it as a single painting, creating its pendant two years later,
42 Dr. Sabine Längert: »Heidrun Hegewald, Die Mutter mit dem Kinde, Öl, 1984/85«, Armee Rundschau, 3/1989. 43 Ibid. 44 »Berührende Angebote«, Für Dich, 15/1985, 16-17.
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Prometheus Becomes Aware of Playing with Fire (1986, fig. 7). This painting focuses on the male mythological figure who created human beings out of clay and later defied Zeus by giving them fire. Prometheus appears as a muscular nude with his back to us and fills up the left-hand side of the canvas. He holds up the seemingly lifeless body of a child tenderly before him – or is it his human creation before it came to life? Awash in cool colors, especially blues, the painting contains the same black cross visible in Mother and Child, but this time it is tilted at an angle, perhaps suggesting the potential for danger but at a time before the crosshairs have locked into place. According Bärbel Mann in an article in Für Dich, this mythological painting is an »artistic engagement with existential human questions«. In particular, she saw it as a warning to »not lose track of our humanity« in the face of technology and the »apocalyptic armaments race«.45 Similarly, for Peter Michel, long-time editor of Bildende Kunst, East Germany’s art journal, this painting depicts the moment when Prometheus recognizes »that his deed, which was to help mankind, led to the death of this young life. That is also a complex [and] moving plea for the peaceful and responsible use of atomic power.«46 One year after painting Prometheus Becomes Aware of Playing with Fire, Hegewald had her largest solo exhibition to date. Held at the Fernsehturm in Berlin, it brought together nearly 100 works, 38 of which were paintings, including those discussed in this article. The public response was »exceptionally large and«, according to one article at the time, »occasioned people living in the provinces (Randbewohner) to organize hours-long train rides to the capital city« to see the exhibition and speak with the artist.47 As many reviewers have observed with regard to Hegewald’s work, and this outpouring of interest seems to confirm, »one cannot be indifferent to [Hegewald’s images]; they challenge the viewer, require thinking [and] posing one’s own questions.«48 They also show a woman’s view on war and on important social issues in the GDR.
45 Mann, Bärbel: »Das Spiel mit dem Feuer«, Für Dich, 3/1987. 46 Dr. Peter Michel: »Bilder, die den Betrachter mahnen und zum Handeln herausformen«, Neues Deutschland, 2. February 1987. 47 Holde, Ulrike: »Die Sprachlosigkeit will ihre Formen finden«, Wahrheit, 29. August 1987. 48 »Bedrängnis und Hoffnung. Eine Ausstellung von Heidrun Hegewald in Berlin«, Neue Berliner Illustrierte, 6/1987.
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C ONCLUSION The 1987 solo exhibition in Berlin marked the height of Hegewald’s success in East Germany, topped only by her receipt of the prestigious National Prize of the GDR in 1989. For nearly twenty years, Hegewald had created aesthetically striking paintings on topics that elicited heated discussions among her intended audience, the East German public. Early on, those paintings tended to focus on children and the politics of life in Socialism. By the late 1970s, under the increasing threat of the nuclear arms race, she turned – or, perhaps returned in light of her painting on Chile – to the larger issues of war and imperialism, drawing upon Christian and mythological imagery common in East German painting from those years to create images that transcended their specific moment in time. In the wake of the Wall’s collapse, however, Hegewald went from being a highly recognized, if also controversial artist, to one who had to learn a new skill set in order to survive financially.49 Despite having less time to devote to art and having lost much of her audience, she has nonetheless continued to create prints and drawings.50 Hegewald is not alone in these struggles. By the end of the Cold War, East Germany had supported approximately 1,500 painters and graphic artists, men and women who worked full time as artists. There was little room – or inclination – in the new Federal Republic of Germany to accommodate such an influx. What makes Hegewald’s story different, however, is that she was one of East Germany’s better known artists, one who had exhibited at the Venice Biennale and whose work was bought by the Ludwig Museum in Cologne.51 Not only has she not been able to survive as an artist in the West, she is regularly left out of major exhibitions of East German art. None of her work was included in the Kunst der DDR exhibition at the Neue Nationalgalerie in 2003, for example, nor
49 Hegewald’s success as an artist was not without criticism, which stemmed in large part from the clear style and intellectual approach of her art. Her work was better suited to Leipzig than Berlin with the latter’s emphasis on aesthetics over content. As one reviewer stated, »difficult to integrate into Berlin painting, her art has been accused of intellectualization«. Ruthe, Inge: »Malen aus Betroffensein vom Geschehen in der Welt«, Tribüne, 17. June 1988. 50 Interview by the author with the artist, 25. June 2013. The limitation on studio space and the lack of buyers and storage space, together with an allergy to turpentine, have led to the virtual elimination of paintings from her oeuvre. 51 Mother-Service-Cross in Wood (1979) and Mother (1982) are part of the Ludwig Collection, which is currently housed at the Museum der bildenden Künste Leipzig.
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in the Abschied von Ikarus exhibition in 2013.52 And yet, she is an artist that many in the GDR valued, ranging from art historians to the general public. Her works addressed important issues of the day that resonated with the people of East Germany, and are aesthetically striking in their own right. This paper has looked at a handful of Hegewald’s paintings, showing their relationship to the East German context in which they were created and why many in the GDR valued them. These works offer an alternative to current scholarship’s emphasis on male artists and their concerns, and reveal the need for a reexamination of East German art on its own terms rather than through a western lens. By agreeing to take in Hegewald’s artwork, the Kunstarchiv Beeskow, with the help of the city of Beeskow, is thus performing a valuable service by preserving it for the future study and understanding of East German art and culture.
R EFERENCES Bleibaum, Brigitte: »Unsere Chance, Identität und Würde zu bewahren«, Neues Deutschland, 8. June 1990. Brinkmann, Annette/Mann, Bärbel/Wiesand, Andreas J.: Frauen im Kultur- und Medienbetrieb II. Fakten zu Berufssituation und Qualifizierung, Bonn 1995. Damus, Martin: Malerei in der DDR: Funktionen der bildenden Kunst im Realen Sozialismus, Reinbeck bei Hamburg 1991. Dieckmann, Friedrich: »Treppenblicke in der Akademie der Künste. Vier Meisterschüler der Sektion Bildende Kunst«, Mitteilungen, Verband bildende Künstler der Deutschen Demokratischen Republik, 2/1975, 18-24. Ebert, Hiltrud: »Wo sind die Bildenden Künstlerinnen? Erklärungsversuch über das Verschwinden einer ostdeutschen Künstlergeneration«, in: Binas, Susanne ed. Erfolgreiche Künstlerinnen, Arbeiten zwischen Eigensinn & Kulturbetrieb, Essen 2003, 106-115. Eisman, April A.: »›Shocked and Galvanized‹: East German Artists and the 1973 Putsch in Chile«, in El arte en la República Democrática Alemana. 19491989, ed. Gutiérrez Galindo, Blanca, Mexico City 2014.
52 Mother-Service-Cross in Wood was included in Tischgespräch mit Luther. Christliche Bilder in einer atheistischen Welt, a small exhibition of East German art held at the Angermuseum in Erfurt. This exhibition was held in conjunction with the Abschied von Ikarus exhibition in Weimar in 2012-13.
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H EIDRUN H EGEWALD AND THE C OLD W AR P OLITICS
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Künstlerische Gegenentwürfe zu weiblichen Geschlechtsnormativen in der DDR S USANNE H ESSMANN
E INLEITUNG Bisher zeigten wenige Ausstellungen zu ostdeutschen Künstlerinnen die subversive Kraft ihrer Kunst gegen die normierten Geschlechtskonventionen in der DDR. Das künstlerische Schaffen einiger DDR-Künstlerinnen wies Gegenentwürfe zum Weiblichkeitsideal und der Heteronormativität der DDR auf. Ihre feministische Ausprägung ist in den Werken kunstwissenschaftlich und kulturwissenschaftlich nachweisbar, wohingegen ihre Theoriebildung im Gegensatz zu der DDR-Frauenliteratur nicht gleichwertig ausgebildet ist. Die Ansätze einer DDRFrauenbewegung im Rahmen der Bürgerbewegungen 1989 beweisen, dass auch in der DDR ein Zusammenschluss von Frauen für Frauenrechte stattgefunden hat. Im Gegensatz zu der anglo-amerikanischen feministischen Kunstbewegung stand diese DDR-Frauenbewegung jedoch nicht unmittelbar mit der Künstlerinnenszene in Verbindung. Die Kunstwerke und künstlerischen Strategien der Künstlerinnen beweisen die Aushandlungen von Geschlechteridentitäten in der DDR abseits der Normative. Wichtige Ausstellungen, die diese Aspekte beleuchten, waren Und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR 2009 im Künstlerhaus Bethanien in Berlin, kuratiert von Angelika Richter, Beatrice E. Stammer und Bettina Knaup, Entdeckt! Rebellische Künstlerinnen in der DDR 2011 in der Kunsthalle Mannheim, kuratiert von Susanne Altmann, und 2012 Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern vom Kunstarchiv Beeskow in der Stiftung Poll Berlin, kuratiert von Claudia Jansen. Diese Ausstellungen zeigten ein pluralistisches Spektrum von Repräsentationen von Weiblichkeit, das oft von den propagierten Idealbildern abwich. Die Weiblichkeitsrepräsentationen in der Kunst sind im Wechselverhältnis zu den
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herrschenden Geschlechterkonventionen in der DDR zu verstehen und müssen immer in diesem Kontext betrachtet werden. In einigen Werken können Ansätze der Dekonstruktion dieser Geschlechterkonventionen und die Produktion von alternierenden weiblichen Geschlechtsidentitäten in der Kunst festgestellt werden. Die Repräsentationen von Weiblichkeit in der Kunst der DDR waren meist Vertreter normierender Geschlechtskonventionen im Arbeiter- und Bauernstaat. Besonders interessant ist hier das Wechselverhältnis zwischen einerseits der Produktion und Affirmation gesellschaftlicher Konventionen von Weiblichkeit in der DDR durch visuelle Repräsentationen in Medien und öffentlichem Raum und andererseits der Dekonstruktion dieser herrschenden Geschlechterzuordnungen durch alternative Weiblichkeitsvorstellungen in der Kunst. Es zeigt sich, dass die Kunst in der DDR ähnlich wie die Weiblichkeitsrepräsentationen in den Medien von der Wiederholung einzelner typischer weiblicher Rollen(vor-)bilder lebte. Ab den 1980er Jahren gab es zunehmend Repräsentationen, die die normierten Geschlechtskonventionen der DDR aufbrachen. Es stellt sich die Frage, ob dieser Aufbruch eine Infragestellung des sozialistischen Patriarchats durch eine feministische Kunstbewegung ist. Der feministische Diskurs in der DDR-Frauenliteratur legt nahe, diesen auch in der bildenden Kunst zu suchen. Im Vergleich mit der westdeutschen Neuen Frauenbewegung und der angloamerikanischen feministischen Kunstbewegung stellten sich spezielle Charakteristika der feministischen Ansätze in der DDR heraus. Das Frauenbild der DDR wurde schon früh definiert und als Leitbild propagiert. Die Rolle der Frau war anderen Ländern tatsächlich in einigen Punkten voraus (z.B. mehr Frauen mit Vollzeit-Berufstätigkeit durch Ganztagskinderbetreuung). Trotzdem herrschte eine große Unzufriedenheit mit der Realsituation, die schließlich 1989 in Ansätze einer Neuen Frauenbewegung in der DDR mündete. Im Vergleich mit der Definition von feministischer Kunst nach Lucy R. Lippard stellen sich thematische und strukturelle Gemeinsamkeiten mit der Kunst von Frauen aus der DDR heraus, trotz der Unmöglichkeit der Adaption des westlichen Begriffes auf die DDR. Vergleichend werden die FeminismusVorstellung der DDR-Frauenbewegung und jene in der DDR Frauen-Literatur der westlichen Definition gegenübergestellt, um zu beweisen, dass es in der DDR feministische Kunst gegeben hat.
F RAUENLEITBILD
UND
E MANZIPATION
VON OBEN
In der DDR wurde der Gleichberechtigungsgrundsatz der Geschlechter eingeführt. 1950 wurde das sogenannte Emanzipationsprogramm für die Frau, Bezug
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nehmend auf Engels und Bebels Schriften zur Frau im Sozialismus, zur Angleichung an den Status des Mannes bezüglich Beruf und Politik ausgearbeitet. Dabei stellte sich jedoch die Beibehaltung der Rolle der Frau als Mutter und ihre Rolle im Haushalt zunehmend als Probleme der eigentlichen Emanzipation oder Angleichung heraus.1 Aufbauend auf Clara Zetkins Theorie wurde die Emanzipation der Frau im Sozialismus durch die Integration in den Produktionsprozess und den gleichen Rechtsstatus der Geschlechter von offizieller Seite als erreicht angesehen. Das Leitbild erklärte die Frau in der DDR als Kämpferin und Mitstreiterin für den Sozialismus. Zur Propaganda dieses Leitbildes wurden Identifikationsfiguren zur Bildung eines neuen sozialistischen Bewusstseins in der weiblichen Bevölkerung verbreitet, zum Beispiel die kommunistischen Politikerinnen Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Jenny Marx, Rosa Thälmann oder Widerstandskämpferinnen wie Sophie Scholl, Käte Niederkirchner, Olga Benario Prestes oder Lilo Hermann. Diese Persönlichkeiten wurden zu politischen und moralischen Ikonen erhoben und auf Plakaten, in Zeitungen und Zeitschriften, im Staatsfernsehen und in Literatur und Kunst als Leitfiguren für die weibliche Bevölkerung stilisiert. Der zweite Teil des Leitbildes verankerte die Frauen als wichtigen Bestandteil im gesellschaftlichen Prozess der Produktion. In den Medien und in der Kunst wurden also zu diesem Zweck Bilder der Frauen an der Produktionsmaschine oder auf dem Traktor zur Repräsentation dieses Leitbildes genutzt. Diese Vorgehensweise erwies sich als problematisch. Man erklärte sie später als eine Emanzipation von oben, patriarchalisch und autoritär. Rainer Geißler hat in seiner Analyse des sozialen Wandels im vereinten Deutschland die Motivation und Durchführung der Gleichstellungspolitik in der DDR kritisch auf den Punkt gebracht: »Diese ›Emanzipation von oben‹ vollzog sich paternalistisch-autoritär: Sie wurde von Männern gesteuert und war dem öffentlichen Diskurs entzogen. Motiviert war sie dreifach: ideologisch, politisch und ökonomisch.«2
1
Vgl. Behrend, Hanna: »Frauenemanzipation made in GDR«, in: Bütow, Birgit/ Stecker, Heidi (Hg.): EigenArtige Ostfrauen. Frauenemanzipation in der DDR und den neuen Bundesländern, Bielefeld, S. 31.
2
Geißler, Rainer: »Geschlechtsspezifische Ungleichheit«, in: Geißler, Rainer: Sozialer Wandel. Informationen zur politischen Bildung, Heft 269, Bonn 2004, http://www.bpb.de/publikationen/D6XR6R,5,0,Geschlechtsspezifische_Ungleichheit.html, Zugriff: 16.08.2011.
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Dies steht im Gegensatz zu der »demokratisch öffentlichen Emanzipation von unten«3 wie sie in Frauenbewegungen oder Bürgerbewegungen zu finden ist. Die Emanzipation der Frau in der DDR hat also mit der allgemeinen Definition wenig zu tun, denn sie fand weder aus eigener Kraft, noch aus eigenem Willen statt. Streng genommen trifft der Begriff Emanzipation auf den Angleichungsvorgang nicht zu. Das Geschlechterverhältnis in der DDR wird daher im Folgenden in Anlehnung an die Studie von Schröter und Ullrich als sozialistisches Patriarchat4 bezeichnet. Die Geschlechterverhältnisse in der DDR waren geprägt durch Gleichberechtigung im Beruf und Traditionalismus in den privaten Geschlechterbeziehungen. Denn: »Niemals war es das Ziel, Männer in Frauenberufe zu integrieren oder sie den Familienpflichten näher zu bringen. Die ›patriarchale Gleichberechtigung‹, wie dieser Zustand heute von Sozialwissenschaftlern betitelt wird, bot also die Möglichkeit der Herausbildung von weiblicher Autonomie, war aber für Frauen gemacht und nicht von Frauen entwickelt und erkämpft.«5 Auch Martens kritisiert die Beibehaltung der Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau neben ihrer Berufs- und Parteitätigkeit: Despite women’s economic independence and the party rhetoric, conservative gender roles persisted in the GDR. […] Sex roles and family customs did not change with the new economy. Women continued to be subjected to patronizing and misogynistic comments and attitudes.
Auch das Verständnis der Männerrolle hätte in diesem Zusammenhang Erweiterung bedurft.
3
Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands: zur gesellschaftlichen Entwicklung
4
Vgl. die These von Schröter und Ullrich in Schröter, Ursula/Ullrich, Renate: »Patriar-
mit einer Bilanz zur Einheit, Wiesbaden 2006, S. 302. chat im Sozialismus? Nachträgliche Entdeckungen in Forschungsergebnissen aus der DDR«, 2005, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Texte_24.pdf, Zugriff: 16.06.2011. 5
Israel, Ariane: »Rabenmutter trifft Hausfrauchen. Frauenleitbilder und Frauenbewegung
in
der
DDR«,
2008,
http://freidenker.cc/rabenmutter-triffthausfrauchen-
frauenleitbild-und-frauenbewegung-in-der-ddr/35/, Zugriff: 18.05.2011. 6
Martens, Lorna: The Promised Land? Feminist’ Writing in the German Democratic Republic, New York 2001, S. 9.
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D ISKUSSION
DES
F EMINISMUS
IN DER
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DDR
In den frühen 1980er Jahren wurden feministische Auffassungen in einigen Lehrveranstaltungen der Anglistik an der Humboldt-Universität vermittelt, ebenso in Beiträgen auf Fachtagungen oder in der internen Fachpresse der DDRForschungseinrichtungen. Sobald jedoch DDR-Frauenpolitik öffentlich problematisiert werden sollte, taten sich Widerstände auf, jedes kritische Wort fiel der inoffiziellen Zensur zum Opfer. Eine SED- und staatspolitisch unabhängige Frauenforschung setzte erst kurz vor der Wende mit der Gründung des Zentrums für interdisziplinäre Frauenforschung am 8. Dezember 1989 an der HumboldtUniversität ein.7 Eine kritische Gesamtbetrachtung der geschilderten Frauenpolitik und der Realsituation für Frauen in der DDR schlussfolgert, dass die Frauenfrage in der DDR keinesfalls als gelöst anzusehen ist. Die Organe für Frauenrechte, die Frauenausschüsse in den Gewerkschaften und die Frauenförderpläne jeglicher Art bußten im Verlauf der DDR-Geschichte ihren Einfluss ein.
W EGE
ZUR NEUEN
F RAUENBEWEGUNG
Weder im offiziellen Organ für die Belange von Frauen, dem Demokratischen Frauenbund (DFD), noch in der Öffentlichkeit gab es Raum für konstruktive Kritik an der Frauenpolitik und an den Missständen in der Gleichberechtigung. Dennoch gab es kritische Stimmen im Land, die mit den zunehmenden Verfallserscheinungen des Staates lauter wurden. Äußerungen von Unzufriedenheit mit der Geschlechterpolitik des Landes ließen sich verstärkt in den 1980er Jahren in inoffiziellen Frauenkreisen finden. Die Gründung von Frauengruppen und die zunehmende Infragestellung der Grundpfeiler des Sozialismus »Patriarchismus, Paternalismus und kleinbürgerliche Moral«8 können als Ansatz einer sozialen Bewegung von Frauen bezeichnet werden. Rückzugsort für feministische Versammlungen war oft die Kirche, weil sie sich ideologische Freiräume erhalten hatte.
7
Vgl. Nave-Herz 1997, S. 94.
8
Stammer, Beatrice E.: »Vorwärts und nicht vergessen«, in: Richter, Angelika/ Stammer, Beatrice E./Knaup, Bettina (Hg.): Und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR. Katalog zur Ausstellung, Nürnberg 2009, S. 13.
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Höhepunkt des Ansatzes der Neuen Frauenbewegung, die theoretisch im Einklang mit dem westlichen Feminismus war, stellte in den Endmonaten der DDR die Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes dar. »Diese [Frauentreffen] waren am feministischen Gedankengut orientiert und führten zur Gründung des ›Unabhängigen Frauenverbandes‹ in der Zeit der Wende im Dezember 1989.«9
In der DDR hat es in der Auflösungsphase des Staates im Jahr 1989 Ansätze einer Neuen Frauenbewegung gegeben, die gemeinsam mit den Bürgerbewegungen dieser Zeit entstanden sind. Es waren etwa hundert Frauengruppen bekannt, gezählt wurden Gruppen, die sich in Privaträumen organisierten oder Gruppen in Zusammenhang mit der Kirche. Themen wie »Sozialisation in der Familie, Geschlechterrollen in Schulbüchern, die Stellung der Frau in der Kirche und in der Gesellschaft der DDR [und] Gewalt gegen Frauen«10 waren an der Tagesordnung der Gruppentreffen. Diese bewegten sich im Halblegalen, Überwachung und Inhaftierungen gehörten zu den Risiken.11 Im Rahmen der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg fand 1982 die erste Feminismus-Tagung statt unter dem Namen Feminismus – Reizwort oder Programm und 1983, als Betriebsfeier getarnt, wurde das erste Frauenfest veranstaltet.12 In den kommenden Jahren folgten viele Frauentreffen in den größeren Städten der DDR, mit dem Ziel, eine eigene unabhängige Frauenfriedensbewegung in der DDR aufzubauen: »die Themen reichten von Gewalt der Sprache bis zu feministischer Theologie und Hexenverfolgung.«13 Ab 1984 fanden jährliche große Frauengruppentreffen statt. Schließlich wurde am 3.12.1989 bei einer Versammlung von rund 1200 Vertreterinnen von Frauen-
9
Weise, Anna Maria: Feminismus im Sozialismus. Weibliche Lebenskonzepte in der Frauenliteratur der DDR, untersucht an ausgewählten Prosawerken, Frankfurt am Main 2003, S. 32.
10 Nave-Herz 1997, S. 93. 11 Die ostdeutsche Künstlerin Bärbel Bohley sowie Kathrin Eigenfeld und Ulrike Poppe wurden zeitweise wegen Protestaktionen inhaftiert, jedoch durch Druck der internationalen Öffentlichkeit wieder freigelassen. Vgl. Sänger, Eva: »Frauengruppen unter dem Dach der Kirche. Weibliche Opposition in der DDR«, 2008, S. 1, http://www.bpb.de/themen/78ED4P,1,0,Frauengruppen_unter_dem_Dach_der_Kirche.html Zugriff: 29.08.2011. 12 B. E. Stammer: Vorwärts und nicht vergessen, S. 13. 13 Ebd.
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gruppen und Initiativen in der Berliner Volksbühne beschlossen, den unabhängigen Frauenverband (UFV) zu gründen.14 Das Motto der Veranstaltung war Ohne Frauen ist kein Staat zu machen.15 Damit fiel der Beginn einer Neuen Frauenbewegung in der DDR in die Wendezeit. Das Manifest für eine autonome Frauenbewegung wurde am 2. Dezember 1989 veröffentlicht und hob besonders den Beitrag von Frauen an der Bürgerbewegung hervor, die zur Maueröffnung am 9. November 1989 geführt hatte. Es äußerte ebenso die Befürchtung, dass beim Umbau der Gesellschaft nach dem Fall der Mauer Frauen dennoch wenig Beteiligung haben würden. Die zahlreichen Frauengruppen, Netzwerke und bundesweiten Frauentreffen, die in die Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR mündeten, beweisen die Existenz einer sozialen Bewegung der Frauen in den späten Jahren der DDR. Sie sind als Ansatz einer Neuen Frauenbewegung in der DDR zu verstehen und belegen die feministische Auflehnung in der DDR. »Der UFV ist als eine Sammlungsbewegung zu verstehen und dokumentiert den feministischen Aufbruch in der DDR.«16 Keinerlei Verbindung ist jedoch mit der Frauenbewegung in Westdeutschland zu sehen, denn die Frauenbewegung in der DDR entstand im soziopolitischen Kontext der Situation der Frauen in diesem Land, und somit im Kontext der Ambivalenzen der SED-Frauenpolitik, der unzureichenden Gleichberechtigung, des sozialistischen Patriarchats und der spezifischen Lebenswirklichkeit der Frauen in der DDR, die sich durch Mehrfachbelastung durch das geförderte Frauenideal und vielfältige Begrenzungen definierte.
K UNST
UND
F EMINISMUS
Die feministische Kunstpraxis entmystifizierte, dekonstruierte und deutete Weiblichkeitsmuster und Rollenbilder um, die über Jahrhunderte lang praktiziert und festgeschrieben waren. Dazu entwickelten die Künstlerinnen neue Zeichen und Bildsysteme, um die kulturell festgeschriebenen Kodierungen radikal zu unterlaufen und sich neue Themenfelder anzueignen.17 Man kann die angloamerikanische feministische Kunstbewegung in drei Phasen einteilen: in ihre Frühphase im Zeitraum der späten 1960er bis zu den
14 Vgl. B. E. Stammer: Vorwärts und nicht vergessen, S. 14. 15 Vgl. ebd; Nave-Herz 1997, S. 95. 16 B. E. Stammer: Vorwärts und nicht vergessen, S. 14. 17 Ebd., S. 11.
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frühen 1970er Jahren, einem zweiten Entwicklungsweg bis zu den späten 1980er Jahren und dem Revival und der Neupositionierung der feministischen Kunstbewegung in den 1990er Jahren. Weitere Neupositionierungen des Feminismus in der Kunst gab es nach der Jahrtausendwende unter dem Terminus des Globalen Feminismus, die sich durch ein transnationales Verständnis von Kunst und frauenrechtlichen Themen auszeichnen. Die feministische Ästhetik war in ihren gesamten Phasen pluralistisch, man kann weder eine gemeinsame Form noch eine vereinende Bildsprache definieren. Eine der großen Errungenschaften der feministischen Kunst auf formaler Ebene ist der Einzug neuer Genres und Praktiken, ohne die die zeitgenössische Kunst in ihrer aktuellen Ausprägung undenkbar wäre. »Videos und Performances, Aktivismus-basierte Praktiken, kollektive Kunstprojekte, Skulptur und Malerei, die Material und Prozesse beinhalten, die zuvor als Handwerk abgetan wurden, die Autobiografie als Thema, archiv-basierte Installationen, und Untersuchungen im Bereich der Identitätspolitik wurden zuerst innerhalb der weitgefächerten Ästhetiken und Praktiken der feministischen Kunstbewegung eingeführt.«18
Weitere Errungenschaften sind nach Cottingham performative Praktiken und die Abschaffung der Grenzen zwischen Handwerk und Kunst sowie die Vereinigung von künstlerischer Bewegung mit dem politischen Aktivismus als Hauptmerkmal der feministischen Kunstpraxis. Die feministische Kunst aus den USA entstand als Auseinandersetzung (und unter Bezugnahme) mit dem weiblichen Körper. Feministische Kunst aus Großbritannien war vergleichsweise diskurslastig und bezog sich auf die Psychoanalyse und den Marxismus.19 Laura Mulveys Essay Visuelle Lust und Narratives Kino von 1973 (veröffentlicht 1975) stellte den männlichen Blick male gaze als vorherrschendes Blickregime in visuellen Repräsentationen heraus und wurde zur Grundlage feministischer Filmtheorie und Bildanalyse. Ab Anfang der 1980er Jahre wurde die feministische Kunst und Theorie den Diskursen zeitgemäß (Gender Studies, Queer Theory, Postcolonial Studies, Hybridität, Critical Whiteness Studies) um die Komponenten Rasse, Klasse und Sexualität erweitert,
18 Cottingham, Laura: »Not For Sale: Feminismus und Kunst in den USA der Siebziger Jahre. Einführung zum Video-Essay«, 1998, http://www.haussite.net/haus.0/SCRIPT/txt1999/09/sale.html Zugriff: 13.07.2011. 19 Vgl. Phelan, Peggy: »Einleitung«, in: Phelan, Peggy/Reckitt, Helena (Hg.): Kunst und Feminismus, London/Berlin 2005, S. 22.
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denn zunehmend hatte sich der Feminismus mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, eine Bewegung weißer heterosexueller Mittelklassefrauen zu sein.20 Die US-amerikanische feministische Kunstkritikerin Lucy R. Lippard entwickelte in ihrem Essay Sweeping Exchanges: The Contribution of Feminism to the Art of the 1970s (1980) eine allgemeingültige Definition des Terminus der feministischen Kunst. Laut Lippards Definition war nicht die Form der Kunst revolutionär, sondern ihr Inhalt21: »Feminist Art is neither a style nor a movement, feminism is an ideology, a value system, a revolutionary strategy, a way of life.«22 Feministische Kunst ist geografisch und politisch determiniert und durch ihren Performativitätscharakter definiert. Ihr bedeutungsproduzierendes Potential wird ebenso betont: »Das Versprechen der feministischen Kunst ist eine performative Schöpfung neuer Realitäten.«23 Feministische Kunst definiert sich des Weiteren auf methodischer und theoretischer Ebene durch die Betonung der Erfahrung der Frau und die Herausbildung eines Bewusstseins für die Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Individuum, für das Politische im Privaten. Nach Lippard ist feministische Kunst eine politische Haltung, eine Ideensammlung über die Zukunft, mit dem geschichtlichen Kontext der Erfahrungen der Frauen als einer Klasse. Feministische Kunst habe keine neuen Formen erfunden, sondern zur Bildung eines neuen Bewusstseins und neuer Strukturen beigetragen.24 Die feministische Kunstbewegung hat aktivistischen Charakter, die Strukturen sind vor allem gruppenbezogen und sie bezieht sich theoretisch auf Klassiker der feministischen Theorie wie Simone de Beauvoir, Laura Mulvey und später Judith Butler und in der Kunstgeschichte Linda Nochlin. Die wichtigsten Inhalte des Selbstverständnisses des Feminismus in der Kunst sind die soziale Konstruktion von Geschlecht, die Ablehnung des Genie-
20 Ebd. 21 Vgl. Broude, Norma/Brodsky, Judith K.: »Introduction. Feminism and Art in The Twentieth Century«, in: Broude, Norma/Brodsky, Judith K. (Hg.): The power of feminist art. The American movement of the 1970s, history and impact, New York 1994, S10. 22 Lippard, Lucy R.: »Sweeping Exchanges: The Contribution of Feminism to the Art of the 1970s«, in: Art Journal, Vol. 40, No. 1/2, Modernism, Revisionism, Plurism and Post-Modernism (Autumn-Winter, 1980), 363, http://www.jstor.org/stable/-776601 Zugriff: 21.07.2011. 23 P. Phelan: Einleitung, S. 20. 24 L. Lippard: Sweeping Exchanges, S. 363.
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kults, der Unterscheidung von Hochkultur und Populärkultur und des Universalitätsgedankens zugunsten einer pluralistischen Weltsicht. Der Feminismus-Begriff in der Kunst hat eine neue theoretische sowie ästhetische Kategorie eingeführt: die Position der weiblichen Erfahrung, die sich nun der vorher als universell definierten männlichen Erfahrung gegenüberstellte. Formenexperimente sind nur als Aushandlungen der zu vermittelnden Ideale und als Betonung des Prozesscharakter eines Werkes zu verstehen, die Rückwendung zu Handarbeit und die stetige Zurschaustellung der Performativität von Geschlecht sind wichtige Kategorien der Kunstbewegung. Gemeinsamkeiten in der feministischen Kunst zeigen sich nach Cottingham in der Arbeitsweise und in den Themen: »The movement refused a formalist imperative, insisted on the importance of content, contested the absoluteness of history, favored collective production, asserted a place for the autobiographical, reclaimed craft, emphasized process and performance, and, perhaps most radically, refuted the idea that art is neutral, universal, or the property of men only.«25
F EMINISMUS -B EGRIFF In der DDR-Literatur ist ein Feminismus-Diskurs wissenschaftlich nachgewiesen worden, beispielsweise in den Werken von Christa Wolf, Sarah Kirsch, Brigitte Reimann oder Maxie Wander. 1991 erschien ein Text+Kritik Band zur Literatur in der DDR mit einem Beitrag von Eva Kaufmann zum Feminismus in der DDRLiteratur. Eva Kaufmann definiert Feminismus dort als: »geistige Bestrebungen und praktische Bewegungen, Haltungen und Politik von Frauen, die auf die Veränderung von Strukturen, Beziehungen, Denk- und Verhaltensweisen gerichtet sind, die Diskriminierung und Unterdrückung der Frau bedingen.«26
25 Cottingham, Laura: »The Feminist Continuum. Art After 1970«, in: Broude, Norma/Garrad, Mary D. (Hg.): The Power of Feminist Art. The American movement of the 1970s, history and impact. New York 1994, S. 276. 26 Kaufmann, Eva: »Irmtraud Morgner, Christa Wolf und andere. Feminismus in der DDR Literatur«, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text+Kritik. Sonderband Literatur in der DDR. München 1991, S. 109-116; zit. n. Weise, Anna Maria: Feminismus im Sozialismus. Weibliche Lebenskonzepte in der Frauenliteratur der DDR, untersucht an ausgewählten Prosawerken, Frankfurt am Main 2003, S. 22.
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Sie weist damit auf eine Existenz eines Feminismus in der DDR-Literatur hin. Martens untermauert Kaufmanns These und diagnostiziert einen GraswurzelFeminismus in der DDR-Literatur: »While the emancipation of women was a socialist goal, feminism as an independent women’s movement was considered contrary to socialist ideology and was therefore strictly discouraged. Alongside the emancipatory public policy, a grass-roots feminism sprang up in the GDR. Its principle site was literature.«27
Auch der unabhängige Frauenverband verstand sich als feministisch, wurde jedoch theoretisch nicht stark genug ausformuliert: »Der UFV verstand sich als basisdemokratische, weltanschaulich übergreifende, feministische Vereinigung.«28 Christina Schenk, die in der Wendezeit zu den Mitbegründerinnen des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) gehörte, charakterisiert Merkmale des ostdeutschen Feminismus. Der DDR-Feminismus sei stärker auf gesellschaftliche Strukturen ausgerichtet gewesen als auf das individuelle Bewusstsein. Denn die gesellschaftlichen Mechanismen und ihre Eigendynamik seien wichtiger und wirksamer als individuelles Handeln jemals sein kann.29
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Die Untersuchung der weiblichen Repräsentationen in der ostdeutschen Kunst umfasst die Beziehung von Frau und Kunst in diesem spezifischen sozialpolitischen Kontext der DDR, die vielen Begrenzungen, denen sich Künstlerinnen ausgesetzt sahen und ebenso die Positionierung ihrer Arbeiten zu feministischen
27 Martens, Lorna: The Promised Land? Feminist’ Writing in the German Democratic Republic, New York 2001, S. 2f. 28 Sänger, Eva: »Frauengruppen unter dem Dach der Kirche. Weibliche Opposition in der DDR«, 2008, S. 2, http://www.bpb.de/themen/78ED4P,1,0,Frauengruppen-_unter_dem_Dach_der_Kirche.html, Zugriff: 29.08.2011. 29 Schenk, Christina: »Ost-West-Strukturen, Feminismus, Frauenbewegung, Frauenhausbewegung gestern und heute – eine Bestandsaufnahme«, Vortrag, gehalten auf dem Ost-West-Treffen der Frauenhäuser am 12.3.1993 in Leipzig, 1993, S. 1, http://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de/pdf/autonome/af_02_schenk.pdf, 23.08.2011.
Zugriff
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Künstlerinnen in anderen Ländern und zu ihren männlichen Kollegen. Dieses Forschungsfeld ist »ein […] weite[s] assoziatives Beziehungsfeld, welches Perspektiven auf die in den Körper eingeschriebenen Machtverhältnisse und auf seine Widerstands- und Lustpotenziale, auf Identitätskonstruktionen, auf Verbindungen von Leben und Kunst und auf Kontexte künstlerischer Produktion, erlaubt.«30
Das Forschungsfeld ist durch viele Differenzen charakterisiert, von denen die des Frauenleitbildes im Sozialismus und der tatsächlichen Lage der Frau in der DDR als Ausgangslage gilt. Zudem überlebte die Differenz von Mann und Frau in der Gesellschaft der DDR trotz des Gleichstellungsgebots des Staates. Auch die Besonderheiten der Ansätze der Frauenbewegung in der DDR im Gegensatz zu anderen blieben erhalten. Trotz dieser Differenzen gilt es herauszustellen, inwiefern sich zudem Verwandtschaften in der künstlerischen Entwicklung vollzogen haben, und wie man das Phänomen des weiblichen künstlerischen Schaffens in der DDR in einen globalen Kontext feministischer Kunst stellen kann.
Ü BERBLICK : R EPRÄSENTATIONEN
IN DER
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Ein historischer zusammenfassender Überblick von Frauenbildern zeigt in der Anfangsphase der Republik zunächst Frauenbilder zur Produktion eines neuen Leitbildes, später zur Affirmation der Gleichstellung der Frau und Propagierung der kommunistischen Zukunftsvision mit Leitbildfunktion der Frau an der Seite des Mannes im Klassenkampf sowie mimetische Repräsentationen der Frau in klassischen Rollenbildern wie Mutter und Muse. Weibliche Repräsentationen in der Kunst hatten in der Aufbauphase der Republik der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre den Zweck der Produktion und Affirmation des neuen Gesellschafts- und Menschenbildes in der Bevölkerung. Die Repräsentationen der Frau in der Kunst sollte das Idealbild der Frau im Sozialismus im Bewusstsein der Bevölkerung verankern. Vor diesem Hintergrund deutet sich hier an, dass die quantitative männliche Dominanz in den Bildern ebenso eine Repräsentation der durch männliche Dominanz geprägten Geschlechtshierarchien der DDR-Gesellschaft sein kann. In den frühen Kunstwerken der DDR-Zeit sind die Männer als Helden des Aufbaus und des Sozialismus abgebildet, Frauen sind eher als passive Statisten zu sehen.
30 Phelan, Peggy/Reckitt, Helena (Hg.): Kunst und Feminismus.
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Obwohl der reale Anteil von Frauen und Männern an der Produktions- und Wirtschaftskraft des Staates in diesen Jahren beinahe gleich war, wurden intellektuelle Tätigkeiten und Hochqualifizierung in der Kunst der 1960er Jahre ausschließlich Männern zugeschrieben, was an Willi Sittes populärem Gemälde Chemiearbeiter am Schaltpult von 1968 deutlich wird. Frauen sind »bestenfalls Lernende«31 wie in Ilse Engelbergers Gemälde Ausländerstudium in Leipzig von 1962 (Abbildung 1). Männer bilden sich sogar in ihren Pausen Zeitung lesend weiter, »während die Frauen wie bei Womacka Kaffee trinken und schwatzen.«32 Wenn Frauen als Arbeitende dargestellt werden, sind diese Bilder entweder Repräsentationen asexueller oder stark vermännlichter Weiblichkeit mit massigen Körperformen wie in Karl Heinz Kummers Darstellung der Bandwärterin aus dem Jahr 1960 (Abbildung 2). Besonders auffällig in diesem Bild sind die breiten Schultern und überaus großen massigen Hände, die selbst für einen männlichen Arbeiter überproportioniert wären und einen Gegensatz zur den Frauenfiguren in Engelbergers Gemälde darstellen. Stand eine Frau im Zentrum eines Bildes, so als Repräsentation des Weiblichen in einem der Frau vom Patriarchat zugewiesenen Bereich des Privaten, Natürlichen, Mütterlichen wie Heim, Herd, Kinder, Familie, allgemein in der Mutterrolle oder in traditionellen Frauenberufen. Quantitativ überwogen in diesem Zeitraum Bildnisse traditioneller Weiblichkeitsideale wie der Frau als Muse und Sinnbild für Schönheit, Lebensfreude oder Mütterlichkeit. Frauen bei der landwirtschaftlichen Arbeit waren ausgestattet mit natürlich-traditionell angesehenen weiblich assoziierten Attributen wie Geschwätzigkeit, Unkonzentriertheit, Gelächter oder Lästern. Künstlerinnen, die in den 1970er Jahren nicht auf diese sozialistisch-realistische Gestaltungsweise setzten wie Erika Stürmer-Alex und Charlotte Pauly, wurden die Unterstützungen der Kulturpolitik vorenthalten. Es zeigt sich im Verlauf der 1970er Jahre mit dem Auftreten der Problembilder ein erster Wendepunkt in der Repräsentation des Weiblichen in der Kunst. Das Bildobjekt Frau wurde in dieser Phase, zuerst übrigens als Fremdbild von männlichen Künstlern, mit den Attributen Erschöpfung, Alter und Schwäche als Repräsentation für einen gesellschaftlichen Verfall genutzt. In den späteren Arbeiten von Künstlerinnen aus den 1980er Jahren drücken sich das Spannungsverhältnis von traditionellen und alternativen Weiblichkeitsvorstellungen und eine Kritik an der Realsituation der patriarchalischen Gesellschaft aus. Es zeigt
31 Stecker, Heidi: »Künstlerinnen in der DDR: Eine Suche nach dem Anderen«, in: Nagelschmidt, Ilse: Frauenleben – Frauenliteratur – Frauenkultur in der DDR der 70er und 80er Jahre, Leipzig 1996, S. 13. 32 Ebd.
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sich, dass gerade die Künstlerinnen nicht nur Repräsentationen des Weiblichen schufen, die stark abwichen von akzeptierten und propagierten Idealbildern, sondern dass diese subversiven Repräsentationen des Weiblichen zudem in radikalen und neuen experimentellen Formen umgesetzt wurden, die Vergleiche mit den Werken der feministischen Kunstbewegung erlauben.
F RAU
UND
T ECHNIK
In den 1970er Jahren traten parallel zur Phase der Weiterbildung und Qualifizierung Bildnisse von Frauen in technischen und wissenschaftlichen Berufen auf. Die Arbeit Junge Frau am Fluoreszenzmikroskop von Peter Rohn aus dem Jahr 1971 (Abbildung 3) zeigt eine Frau bei der wissenschaftlichen Arbeit in einem runden surrealen kegelförmigen Laborraum. Sie sitzt auf einem kleinen runden Stuhl an einer Arbeitsplatte und schaut in ein Reflexionsmikroskop. Die Frau trägt entgegen der Realität statt eines Laborkittels und Hosen ein sehr knappes kurzes und enges Kleid, das ihre weiblichen Körperformen an Hüfte und Oberkörper besonders konturreich hervortreten lässt. Die Wellenformen im Raum nehmen die weiblich-konvexen Formen der Wissenschaftlerin auf und in einem Dopplungs- oder Echoeffekt wiederholen und reflektieren sie diese und führen zu einem bildbestimmenden Verstärkungseffekt. Die kantig-eckigen Formen der wissenschaftlichen Geräte stehen im starken Kontrast zu den Rundungen der Frau und drücken übertrieben die Unvereinbarkeit von Frauen und Technik aus. In diesem Bild wird das Weiblich-Sinnliche durch die knappe Kleidung, die Kurvenformen ihres Körpers und den optischen Sinnestäuschungseffekt im Raum in karikaturistischer Art überhöht und überzeichnet dargestellt und in einen starken Gegensatz zu dem traditionell männlich konnotierten technischen und strengen Formen der nüchternen wissenschaftlichen Instrumente im Raum gestellt. Dieses Bild ist zudem eine Darstellung einer Frau bei der Arbeit, die nicht der Wirklichkeit entsprechen kann. Die Wissenschaftlerin trägt statt der üblichen asexuellen Labor-Kleidung eines Kittels, ein figurbetontes Kleid, das zur wissenschaftlichen Arbeit unbequem und ungeeignet ist. Der wirklichkeitsferne Effekt wird zudem durch die optischen Schwingungen im Raum erzeugt. Der vorherrschende Blick ist ein männlicher Blick, der die Frau als Objekt der Sinnlichkeit und Verführung in ihrer Funktion als Sexualobjekt klassifiziert. Die Blickführung im Bild funktioniert über die den Raum überziehenden weiblichen Kurvenformen, die vom Frauenkörper ausstrahlen und wieder auf ihn zurückweisen. Die Blickzentren im Bild sind das Spotlicht auf dem Oberkörper und die knappe Rockkante.
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Abbildung 1: Ilse Engelberger, Ausländerstudium in Leipzig, 1962, Öl auf Hartfaser, 108 x 160 cm, Universität Leipzig
Quelle: © Kustodie der Universität Leipzig, Aufnahme: Marion Wenzel
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Abbildung 2: Karl-Heinz Kummer, Bandwärterin vom RS 1000, 1960, Öl auf Hartfaser, 135 x 96 cm, Kunstarchiv Beeskow
Abbildung 3: Peter Rohn, Junge Frau am Fluoreszenzmikroskop, Öl/Tempra auf Hartfaser, 53,5 x 64 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: © Kunstarchiv Beeskow
Abbildung 4: Ilse Engelberger, Portrait Anita Bach, 1971, Archiv der Moderne, Bauhaus-Universität Weimar
Quelle: © Archiv der Moderne, Bauhaus-Universität Weimar
Quelle: © Kunstarchiv Beeskow
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Abbildung 5: Wolfgang Mattheuer, Die Ausgezeichnete, 1973/1974, Öl auf Hartfaser, 124,5 x 100 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
Quelle: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / © Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Aufnahme: Klaus Göken / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 6: Gabriele Stötzer, Verschmelzung, 1983 (aus der Serie: und, frauen miteinander)
Quelle: http://www.ohne-uns-dresden.de/wordpress/wp-content/uploads/2009/08/Gabriele-Kachold_Verschmelzung_1983_-aus-Frauen-miteinander-Fotobuch.jpg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 7: Doris Ziegler, Ich bin Du, 1988, Mischtechnik auf Hartfaser, 170 x 170 cm, Eigentum der Künstlerin / Leihgabe: Klassikstiftung Weimar
Quelle: © Doris Ziegler / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Im Jahr der neuen Linie der SED-Frauenpolitik der Weiterbildung und Qualifizierung 1971 wurde auch die Öffnung der formalen Restriktionen der Kunst beschlossen, was man deutlich an der kubistischen Malweise des Gemäldes sieht. Die gleichberechtigte Arbeit in der Wissenschaft wird in diesem Gemälde keinesfalls repräsentiert. Die Analyse des Bildes und seines Male Gaze beweist, dass die Darstellung der Frau in ihm als sexualisiertes Schauobjekt in einem wissenschaftlich-männlichen Umfeld eine Repräsentation traditioneller Rollenvorstellungen der Frau ist, die dementsprechend weder von der erreichten Emanzipation, noch der angestrebten Gleichberechtigung zeugt, sondern eine Frau als Schauobjekt gemäß der Geschlechterkonvention der Frau als Sinnbild für Schönheit repräsentiert. Das wissenschaftliche Umfeld in der Darstellung hat darauf keinen Einfluss. Die Unvereinbarkeit von der in der DDR-Gesellschaft reproduzierten Weiblichkeitsvorstellung und den Erwartungen werden repräsentiert. Dies ist eine rückwärtsgewandte Repräsentation einer Frau und keine mimetische Repräsentation der offiziellen Geschlechtskonvention. Hingegen ist Ilse Engelbergers Portrait Anita Bach (Abbildung 4) aus dem gleichen Jahr eine dazu konträre Repräsentation einer Frau in einem technischen Beruf. Diese Darstellung folgt nicht dem Male Gaze und zeigt die Frau überzeugend als technische Arbeitskraft, ohne sexistische Komponenten aufzuweisen, das Blickregime ist neutral und sachlich.
P ROBLEMBILDER Erste alternative abweichende Repräsentationen vom Weiblichkeitsnormativ der DDR stellen die sogenannten Problembilder Ende der 1970er Jahren dar. Hier sind die Frauen nicht mehr Idole der Gesellschaft, keine erfolgreichen Kämpferinnen oder vorbildliche Arbeiterinnen, sondern abgekämpfte, überarbeitete, gealterte und erschöpfte Frauen. Die zwei Schlüsselbilder, die auf der VIII. Kunstausstellung der DDR in Dresden gezeigten Frauenbildnisse von den männlichen Künstlern Horst Sakulowski Portrait nach Dienst aus dem Jahr 1975/1976 und Wolfgang Mattheuer Die Ausgezeichnete von 1973/74 (Abbildung 5) sind Repräsentationen für die prekäre Situation der Republik. Die Darstellungen der Frauen zeigen eine offene Desillusionierung, Leere, Leid oder sind depressive Stimmungsbilder. »Das Problembild zeigt Frauen in Situationen von Vereinsamung und Isolation«33, so Altmann. Frauenbildnisse werden als Repräsentatio-
33 Altmann, Susanne/Lorenz, Ulrike (Hg.): Entdeckt! Rebellische Künstlerinnen in der DDR. Kunsthalle Mannheim 2011, S. 2.
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nen für den Zustand der Erschöpfung der Gesellschaft und des Staates genutzt und schärften zunehmend das Bewusstsein für die Lage der Frauen im real existierenden Sozialismus: »Frauendarstellungen gerieten zu dieser Zeit zunehmend zu Projektionsflächen von gesellschaftlichem Unbehagen – als ikonografische Nische für Ressentiments.«34 Hier kommt es mithilfe der Repräsentation von Frauen zu einer Infragestellung der Gesellschaft im Allgemeinen und ebenso der prekären Situation der Frau in der Gesellschaft. Kritik am Patriarchat findet sich darüber hinaus in den experimentellen Arbeiten von Künstlerinnen in den 1980er Jahren. Die Problembilder sind Repräsentationen der Phase der gesellschaftlichen Desillusionierung einerseits, denn Unzufriedenheit und Unruhe kristallisierte sich in der Bevölkerung heraus, die Wirtschaftslage war desaströs und die Ausreiseanträge mehrten sich. Außerdem zeigen die Problembilder eine Kritik an der praktizierten Doppelmoral von offiziell propagierter Gleichstellung einerseits und gebrochenen Frauenpersönlichkeiten im Zwiespalt zwischen Beruf und Familie andererseits, welche körperlich und seelisch von der permanenten Doppeloder Dreifachbelastung gezeichnet sind. In den Problembildern der 1970er Jahre wurden zudem differenzierter wahrgenommene Realitäten sichtbar und auch die Repräsentation der Frau wurde vielfältiger und entfernte sich von den klassischen Repräsentationen der Frau in der DDR: die erschöpfte Frau nach der Arbeit (Horst Sakulowski, Portrait nach Dienst), die Einsamkeit der Frau und die Ruhigstellung mit Ehrungen (Wolfgang Mattheuer, Die Ausgezeichnete und Ullrich Hachulla, Der erste Rentnertag, 1977), hurenhafte Frauen auf Brigadefeiern bei Sighard Gilles Gerüstbauer-Brigadefeier (1975/77) und Opfer sozialer Gewalt bei Heidrun Hegewalds Kind und Eltern (1976) und Wolfgang Peukers Paar (1980) und Wände (1981), letzteres eine schockierende Malerei einer sexuellen Gewaltszene zwischen Mann und Frau. Ende der 1970er Jahre und spätestens in den 1980er Jahren ergriffen nun auch die Malerinnen selbst die Möglichkeit, ihre Situation als Frau in ihren Bildern kritisch zu reflektieren: »Zu ihnen gehören Nuria Quevedo, Doris Ziegler, Hertha Günther oder Heidrun Hegewald.«35 Die Künstlerinnen in der DDR entwickelten Gegenbilder zum entfremdeten sozialistischen Menschenbild und verweigerten vermehrt systemunterstützende Inhalte. Die sonst übliche Praxis der Zusammenarbeit mit Arbeitern und Politikern wurde teilweise sogar beendet
34 Ebd.; vgl. H. Stecker: Künstlerinnen in der DDR, S. 12f. 35 Altmann, Susanne: »Hab ich Euch nicht blendend amüsiert? Weibliche Subversionen in der späten DDR«, in: Eckhardt, Frank/Kaiser, Paul (Hg.): Ohne Uns – Kunst und alternative Kultur in Dresden vor und nach ’89. Dresden 2009, S. 244.
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und sie »zogen sich auf ein nicht vom Staat besetztes Terrain zurück und fragten nach unberücksichtigten Defiziten an Weiblichkeit.«36 Die Folgen der Doppelbelastung der Frauen (Doris Ziegler, Brigade Rosa Luxemburg, 1975) wurden sichtbar gemacht und mehr und mehr Künstlerinnen warfen Fragen nach der Befindlichkeit auf, zum Beispiel in sensiblen Selbstbildnissen (Doris Ziegler, Selbst mit Sohn, 1986/1987) und Hertha Günthers, Abschied, 1986.37 Zunehmend entwickelten viele Künstlerinnen durch experimentellere Methoden und Stile sowie anderen Genres als Malerei und Bildhauerei aus ihrem eigenen Selbstverständnis Repräsentationen, die den althergebrachten konträr gegenüberstanden und neue Weiblichkeitsvorstellungen aushandelten: »Sie suchten für Problembewusstsein und die Akzeptanz von weiblichen Körpern zu sensibilisieren, die nicht der gängigen Schönheitsnorm entsprachen (z.B. Sabine Grzimek, Ruhende und Stehende, 1985-1989).«38
F REIRÄUME
IN
K ÜNSTLERINNENGRUPPEN
Gerade in Frauenkreisen kam es zu Gründungen loser KünstlerinnenGruppierungen: »Innerhalb dieser Netzwerke, die auch durch Intimbeziehungen und Konflikte geprägt waren, holten sich die Unangepassten untereinander jene Bestätigung, Rückmeldung und Anregung, die ihnen auf öffentlicher Ebene verwehrt blieb.«39
Auffällig ist, dass Künstlerinnen sich oft der Performance-Kunst bedienten, um ihre subversiven Ideen zu transportieren. Die Künstlerinnen und Künstler in der DDR hatten weder in ihrem Studium noch in der Öffentlichkeit direkten praktischen oder theoretischen Zugriff auf intermediale oder aktionistische Kunstformen wie Happenings oder beispielweise Land-Art40, welche sich in Westeuropa und Amerika seit den 1960er Jahren konstituierten und den (westlichen) Kunstbegriff revolutionierten. Sogar Installationskunst und Environment wurden ne-
36 H. Stecker: Künstlerinnen in der DDR, S. 18. 37 Vgl. ebd., S. 15f. 38 Ebd., S. 16. 39 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 254. 40 Vgl. Richter, Angelika: »In Eigenregie. Künstlerinnen aus der DDR und die Expansion ihrer Kunst in Performance und Aktion«, in: A. Richter/B.E. Stammer/B. Knaup (Hg.): Und jetzt!, S. 21.
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ben der Aktionskunst vor 1989 in der DDR nicht offiziell als Kunst autorisiert. Christine Schlegel, Karla Wosnitza, Monika Hanske und Marie-Luise Bauerschmidt gehörten zum Kreis einer der ersten losen Künstlerinnengruppen in der DDR. Ihre gemeinsamen Aktionen fanden während ihres Studiums unter Einfluss und im Privatraum der älteren Künstlerin Erika Stürmer-Alex im Oderbruch statt. Zurückgezogen auf dem Land und in der Provinz war ihnen ein freies Experimentieren mit als subversiv angesehenen Kunstformen möglich. Stürmer-Alex inspirierte die jungen Künstlerinnen zu Aktionskunst wie Körperbemalungen und Aktivitäten, die Christine Schlegel im Gespräch mit der Kunsthistorikern Susanne Altmann als »freies theatralisches Spiel zwischen Performance und Therapie«41 beschreibt. Ihre Arbeiten waren ein Statement gegen einen elitären Kunstbegriff; hier wurde eine Gebrauchskunst geschaffen und in abstrakten Skulpturen als Land-Art die Beziehung zwischen Körper und Raum neu ausgehandelt. Die Gründung von Künstlerinnengruppen schuf auch einen Rückzugsort und Schutzraum für die Frauen, denn kreative wie soziale Freiräume für Frauen mussten unter Entbehrungen erkämpft werden und das sogar innerhalb der subversiven Szene.42 Ebenfalls in Dresden gründete sich die Dresdner Sezession 89 mit Protagonistinnen wie Angela Hampel und Gudrun Trendafilov. Die Erfurter Künstlerinnen-Formation Exterra XX kann mehr als zehn Jahre Aktivität vorweisen. Ihre Arbeitsweise war multimedial und subversiv. In Untergrundkreisen veranstalteten die Mitglieder Konzerte, Performances oder Aktionsmalerei und traten dabei oft unbekleidet auf. Ihr eigener Körper und dessen Entblößung wurden zum wichtigen bildsprachlichen Mittel. Gabriele Stötzer entwickelte mit ihren Kolleginnen in den Aktionen eine Bildsprache, die »radikale Gegenbilder zu den vorherrschenden Repräsentationsmustern der Frau einführte und das symbiotische Zusammenspiel weiblicher Körper betonte.«43 Mit dem spielerischen Einsatz organischer Materialien wie Eiern oder Haaren und mit Verfahren der Bemalung, des Bandagierens oder der Deformation von Körpern nutzten sie, so Richter, ähnliche Verfahren und Materialien wie in den performativen Ritualen der frühfeministischen amerikanischen Performance-Künstlerinnen, z.B. die Visualisierung des verletzbaren weiblichen Körpers in Glass on Body Imprints der feministischen Künstlerin Ana Mendieta von 1972.44
41 Schlegel, zit. n. S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 254. 42 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 255. 43 Richter, Angelika: »In Eigenregie. Künstlerinnen aus der DDR und die Expansion ihrer Kunst in Performance und Aktion«, in: A. Richter/B. E. Stammer Knaup, Bettina (H.g.): und jetzt, S. 20. 44 Vgl. ebd.
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I NSPIRATION
DURCH MYTHOLOGISCHE
F RAUENIDOLE
Eine Technik in der Malerei und Zeichnung, um auf Sinnlichkeit, unverfälschte Körperlichkeit und Emotionalität hinzuweisen, ist die Verlagerung der Inhalte auf Naturthemen und archaische Inhalte. Die Künstlerinnen begaben sich auf eine Suche nach »Vor- und Urbildern mythisch fundierte Bilder wehrhafter Frauen«45. Matriarchalische Riten wurden ebenso neuinterpretiert wie kämpferische Frauenfiguren aus der griechischen Mythologie. Die Darstellungen von (Liebes-) Verhältnissen von Frau und Tier von Angela Hampel in einer Malweise, die den deutschen Expressionisten des Blauen Reiters ähnelt, bedeuteten für die DDRGesellschaft provokative Bildnisse. Heidi Stecker erinnert, dass Angela Hampels Werk oft mit der Kunst der Jungen Wilden aus der Bundesrepublik verglichen wurde und damit globale Konturen gewinnt, da es ähnliche Bewegungen der expressiven figurativen Malerei auch in Frankreich, Italien und in den USA gab. Der Rückzug auf geschichtliche und mythologische Bildthemen ermöglichte Künstlerinnen, Frauenfiguren zu erschaffen, die trotz der historisierenden Verschleierung auf symbolische oder allegorische Weise alternative Geschlechterrollen anboten und so eine Auflehnung gegen das Patriarchat im Sozialismus darstellten, ohne einen Konflikt mit der Obrigkeit zu riskieren. Allerdings, so Steckers Kritik, unterstrichen die Künstlerinnen durch den Bezug zum Ursprünglichen und Natürlichen ihre Rückständigkeit und festigten den Dualismus männlich-rational, kulturell, künstlich-künstlerisch und seinen Gegenpart weiblich mit den Attributen natürlich, kreatürlich, unkontrolliert, tierartig und fallen somit unter dem Essentialismus-Vorwurf späterer feministischer Generationen.46 Die Betonung von Individualität war aber auch ein Politikum, der Rückzug in die Subjektivität demonstrierte den Widerstand des nicht-kollektiven Individuums gegenüber dem Wir des sozialistischen Staates. Im Werk von Angela Hampel, Christine Schlegel und Karla Woisnitza spielten die mythologischen Heldinnen Penthesilea, Medea, Salambo und Kassandra eine große Rolle, da sie selbstbestimmte Frauen repräsentieren, die in ihren Kunstwerken in die Gegenwart des sozialistischen Patriarchats und der restriktiven DDR-Gesellschaft versetzt wurden. Christa Wolfs Erzählung Kassandra kam dabei besondere Bedeutung zu. Kassandra erschien im Jahr 1983 – im Gegensatz zu der Ausgabe der BRD – in einer teilweise zensierten Fassung und bot den Künstlerinnen in der DDR mit
45 Ebert, Hiltrud: »Weibliche Empfindsamkeit – (K)eine Ästhetik des Widerstands«, Vortrag auf dem Symposium Vom Bilderstreit zum Bild, Kunstarchiv Beeskow, 09. Juli 2011. 46 H. Stecker: Künstlerinnen in der DDR, S. 18.
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der heroischen Frauenfigur der trojanischen Seherin Kassandra eine allgemeingültige Modellfigur weiblicher Auflehnung gegen patriarchalische Unterdrückung. Die in einem nichtlinearen literarischen Schreibstil verfasste Erzählung galt den Künstlerinnen als Vorbild, sich in Form von Historismus und mythologischer Themenwahl mit der Gegenwart in der DDR kritisch auseinanderzusetzen und die genormten Geschlechteridentitäten aufzubrechen. Die Künstlerinnen Gabriele Stötzer, Angela Hampel, Gudrun Trendafilow und Christine Schlegel betonen in Interviews stets die Relevanz dieses Beispielwerks weiblicher Selbstfindung und des Kampfes für weibliche Selbstbestimmung, »in de[m] Wolf immer wieder fragmentarisch Grundfragen der Patriarchatskritik, weiblicher Ohnmacht und Reflexionen über atavistische matristische Gesellschaftsformen aufwirft.«47 Die Staatliche Galerie Moritzburg in Halle initiierte 1987 aus Anlass dieser besonderen Aktualität von Kassandra in der Kunst eine Ausstellung zu Kassandra-Darstellungen in der Bildenden Kunst aus der DDR. Vertreten waren neben männlichen Künstlern auch Heidrun Hegewald, Angela Hampel und Nuria Quevedo. In der Erzählung ginge es nicht nur um die Patriarchatskritik, sondern auch um eine Kritik von »Größenwahn, übertriebene[m] Machtanspruch und Machtmissbrauch«48, die auf das Scheitern der Ideologie des DDR-Staats übertragen werden könnten. Vermutlich bot Christa Wolf mit ihrer Erzählung ihren LeserInnen einen ersten Anlass, sich mit feministischer Theorie auseinanderzusetzen, denn sowohl im Text als auch im Anhang listet sie ihre feministische Referenzliteratur auf. Die dort verhandelten Themen wie das Ausgeliefertsein von Frauen an politische Machtspiele, ihr Außenseitertum waren Auslöser für KünstlerInnen, sich ebenso ihres Zustandes des doppelten Ausgegrenztseins 49 bewusst zu werden: einerseits in der verordneten Enge des Landes, andererseits in seinen patriarchalischen Strukturen.50
47 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 245. 48 So im Katalog der Ausstellung: Wieg, Cornelia (Hg): Kassandra: Studioausstellung. Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Saale 1987, S. 16. 49 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 245. 50 Vgl. ebd.
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N EUE
KÜNSTLERISCHE
A USDRUCKSFORMEN
Es waren vor allem Künstlerinnen, die eigensinniger und ungezügelter die begrenzten Felder vorgeschriebener (weiblicher) Lebenshaltung in der DDR hinter sich ließen und sich subversiv aus der staatlichen Vereinnahmung, künstlerischen Normierung, den althergebrachten hierarchischen Strukturen der Kunstwelt und von den traditionellen Kunstformen befreiten. Mit Objektkunst, Performance und Installationen setzten sie ihr neues weibliches Selbstbewusstsein um in neue visuelle Repräsentationen von Weiblichkeit, auch außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Geschlechterkonventionen. In den Ausdrucksmitteln der Fotografie, Collage, des Siebdruckes, des Super-8-Filmes und in der Aktionskunst bzw. Performance erprobten die Künstlerinnen Mittel, ihre durch die spezifische Lebenssituation der kulturellen wie politischen Repression sowie ihre durch das sozialistische Patriarchat geprägten Körper- und Grenzerfahrungen in die Kunst zu bringen. Radikale künstlerische Ausdrucksformen waren im Zentrum nur in den Untergrundszenen der Universitätsstädte Berlin, Leipzig, Erfurt und Dresden oder in der Peripherie in KünstlerInnengruppen in ländlichen Gegenden möglich. Ein wichtiges Thema in der Performance ist das Beengungsgefühl, welches durch Einschränkungen der Reisefreiheit ins westliche Ausland, den alltäglichen politischen und kulturellen Normierungen und Repressionserfahrungen sowie dem Leben der KünstlerInnen in der Abgeschlossenheit der inneren Emigration hervorgerufen wurde. Zusätzliche Begrenzungen im Konsum alltäglicher Waren und begrenzte Einkaufsmöglichkeiten für Künstlermaterialien erschwerten die Lage. Die geforderte Rolle als gesellschaftlich aktive Mutter bedeutete eine vielfache Überforderung, gerade im Künstlerinnenberuf. Neben diesen vielfachen Begrenzungen wurde in der experimentelleren Kunst von Frauen die restriktive Erfahrung des sozialistischen Patriarchats, das sich bis in die Untergrundszenen fortführte, verhandelt, um neue Freiheitspotentiale des weiblichen Subjekts auszuloten: »Biografie und Identität [wurden] dabei häufig als fragmentiert, gebrochen oder spielerisch hybrid dargestellt oder durch Strategien der Verhüllung, Vermummung und Kostümierung der Eindeutigkeit entzogen«51 – wie in Arbeiten von Cornelia Schleime und Christine Schlegel. Diese Einschnürungen und Bandagierungen sind vor allem Repräsentationen dieser vielfachen genannten Begrenzungen. Viele Performances dieser Zeit spielen auf die Situation mit Bildern der Beengung, Fesselung und des sprichwörtlichen Gefangenseins an.
51 B. Knaup/A. Richter/B. E. Stammer: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR. Katalog zur Ausstellung. Nürnberg 2009, S. 9.
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Im Gegensatz zur westlichen feministischen Avantgarde geschah die Auflehnung in der DDR nach der Interpretation von Altmann in einer metaphorischen Weise und nicht in jedem Fall in einer bewussten Reflexion. Das kritische Potential der weiblichen Aktionskunst aus der DDR stuft der Kunstwissenschaftler und Mit-Protagonist der Untergrundkulturszene Christoph Tannert sehr hoch ein: »Intermediale Aktionen, Performances und Aktionen von Künstlerinnen in der DDR waren doppelt kritisch: einerseits institutionskritisch gegenüber den Vereinnahmungsansprüchen des staatlichen Apparats, weil der nackte Körper gegen die Logik des Überwachungsstaats eingesetzt wurde. Andererseits gegen die stofflichen und formalen Reglementierungen in den Grenzen des Künstlerverbandes.«52
Weibliche Aktionskunst hatte viel mehr kritisches Wirkungspotential, was den Künstlerbegriff betraf, den Objektstatus der Frau in der Kunst sowie den Geniekult um männliche Künstler, als auch den Begriff der Autorschaft, denn in partizipationsorientierter Praxis oder in Gruppenarbeit entfällt die Kategorie des schöpferischen Individuums und des Autors. Der Austragungsort war bedingt durch die äußere kulturpolitische Lage oft der Privatraum, was den Kunstaktionen durch die Auslagerung aus den öffentlichen Kunstinstitutionen zudem eine institutionskritische Komponente gab. Gabriele Stötzer ist eine der Künstlerinnen, die sich früh mit dem Thema Weiblichkeit in den Medien Literatur, Foto und Film auseinandersetzte. Ihre Fotoserie weiblicher Körper und, frauen miteinander, die sie später mit Tusche übermalte, markieren den weiblichen Körper und seine Sexualmerkmale und löschen sie ebenso aus. Die Übermalungen wie Verschmelzung (1983) (Abbildung 6) – einer Arbeit aus dieser Serie – sind ein gewalttätiger Eingriff in den weiblichen Körper und können als Allegorien der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die sich in den Volkskörper einschreiben, gelesen werden. »Ihr Werk darf als eines der bedeutendsten Wiederentdeckungen im Kontext ›proto‹-feministischer Kunst der späten DDR gelten«, so Altmann.53 Im Gegensatz zu den anderen genannten Künstlerinnen ist bei Stötzer die Auseinandersetzung mit Weiblichkeit programmatisch. Ihre seriellen Bildreihen von körperlichen Selbst- und Grenzerfahrungen sind für sie ein radikales Statement, ein neues provozierendes Frauenbild:
52 Tannert, Christoph: »Intermedia, weiblicherseits«, in: Richter, Angelika/Stammer, Beatrice E./Knaup, Bettina (Hg.): Und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR. Katalog zur Ausstellung. Nürnberg 2009, S. 30. 53 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 250.
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»Wir wussten, dass das etwas Neues war und genug, um diese Verfolgungen auf sich zu nehmen.«54 Stötzers Bildsprache lässt mit dem wiederholten Eingreifen in den weiblichen Körper eine klare Verwandtschaftslinie mit Arbeiten von ihren Kolleginnen Cornelia Schleime, Christine Schlegel und Angela Hampel erkennen. Dadurch bestätigt sich die Herausbildung einer spezifischen universellen Bildsprache weiblicher Künstlerinnen, die auf betonte Körperlichkeit in der Kunst als radikalen Bruch mit überkommenden Geschlechterrollen setzte und die auf internationalem Niveau ebenso seine Verwandtschaftslinien finden kann. Der weibliche Körper evoziert in der Kunst dieser Frauen nach Altmann »eine besondere Verletzlichkeit wie auch einen Bruch mit Tabus und eine selbstbestimmte Wiederaneignung und Subversion des traditionellen Frauenbildes, wie sie sich in der westlichen Frauenkunst ebenso ereignet«55. Trotzdem sind die Arbeiten sehr stark geografisch geprägt, weil sie vor dem Hintergrund der beschriebenen Beengungssituation in der DDR entstanden sind. »Die Performances der Künstlerinnen wurden zu Sinnbildern für die subjektive Erfahrung, in einem bestimmten Körper (dem weiblichen, der sich gegen die Gleichschaltung im verstaatlichten Körper verwahrt), zu einer bestimmten Zeit (größter intellektueller und gesellschaftlicher Erstarrungen) und zu einem bestimmten Ort (im geschlossenen System der DDR) zu leben. «56
Der Fokus auf die individuelle Erfahrung ist nach Lippard und Cottingham ein wichtiges Merkmal der feministischen Kunst, auch das Bewusstsein für die Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Individuum, für das Politische im Privaten, ist in der Kunst sichtbar.57 Die nachfolgende Künstlerinnengeneration konnte auf die Errungenschaften ihrer Vorgängerinnen und ihre damals eroberten stilistischen Freiräume aufbauen. Gemeint ist die Generation von Yana Milev, Else Gabriel und Tina Bara. In der Gruppe der Autoperforationsartisten (Michael Brendel, Else Gabriel, Rainer Görss, Volker Lewandowski) wurden von Else Gabriel in Performances konventionelle weibliche Rollenmodelle aufgegriffen und ironisiert. In ihrer Arbeit bestätigt sich Christoph Tannerts Argument, die weibliche Aktionskunst sei weitaus radikaler als die der männlichen Kollegen gewesen.
54 Stötzer, zit. n. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, 2009, S. 251 55 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert? S. 251. 56 A. Richter: In Eigenregie, S. 24. 57 Vgl. P. Phelan: Einleitung, S. 20.
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»In den komplexen Strukturen eines sprachlichen, theatralischen, musikalischen und körperintensiven Aktionismus föhnte Else Gabriel mit einer ›ausgeprägt morbiden, weiblich barocken Komponente‹ (Else Gabriel) totes Geflügel, steckte ihren Kopf in einen Eimer mit zwei Tage altem Schweineblut, flocht eine Teig-Blut-Nabelschnur von 15 Meter Länge und rezitierte Texte zu Schuld, Gewissen und Vergessen.«58
Ähnlichkeiten mit dem Wiener Aktionismus waren nicht zu übersehen. Radikal wie Else Gabriel waren sonst nur ältere Künstlerinnen wie Gabriele Stötzer oder Angela Hampel. Else Gabriel überwand den ästhetischen Konservatismus in der DDR-Kunst durch ihr intermediales performatives oder prozessuales Arbeiten und die projektbezogenen kollektiven Arbeiten mit anderen KünstlerInnen.59 Zusammenfassend ist die Aktionskunst der Künstlerinnen nicht nur als künstlerischer, sondern auch als politischer Befreiungsakt anzusehen: »Scheinbar sinnentleerte Rituale, in denen der Körper nicht mehr Träger einer ideologischen Botschaft, sondern freies künstlerisches Medium ist, drücken die Ablehnung staatlicher Fremdbestimmungen des Individuums und seines Körpers aus. In theatralischen Choreographien, masochistischen und symbolischen Handlungen mit der Verwendung von toten, aber auch lebenden Tieren, wie Ratten oder Fliegen, wenden sich die AkteurInnen gegen das offizielle Kunstverständnis, das ausschließlich vom tradierten Werkbegriff ausgeht. «60
Q UEERE R EPRÄSENTATIONEN – ALTERNATIVE G ESCHLECHTERBILDER In einer Reihe von Kunstwerken und Aktionen der Künstlerinnen aus der DDR in den 1980er Jahren ist ein bewusstes Spiel mit Geschlechterkonventionen zu beobachten. Doris Zieglers doppeltes Akt-Selbstportrait Ich bin Du von 1988 (Abb. 8) zeigt die Künstlerin die Hand einer männlichen Version ihrer selbst haltend. Die Gesichtszüge und Körper der Figuren wirken durch ihre schmalen Schultern und halblangen Haare und die unauffälligen Gesichtszüge gleichsam androgyn wie verwandt; das biologische Geschlecht wird allein durch das Detail
58 A. Richter: In Eigenregie, S. 22. 59 Muschter, Gabriele: »Künstlerinnen aus der DDR. Annäherung und Distanz«, in: Richter, Angelika/Stammer, Beatrice/Knaup, Bettina(Hg.). Und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR. Katalog zur Ausstellung. Nürnberg 2009, S. 36. 60 A. Richter: In Eigenregie, S. 68.
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der entblößten Geschlechtsmerkmale erkennbar. Es ist eine sensible Auslotung der Geschlechtsverhältnisse in der Gesellschaft sowie ein Statement zum konstruierten Verhältnis von sozialem und biologischem Geschlecht und ist somit ein Novum in der Kunst aus der DDR. Arbeiten wie diese können laut Susanne Altmann »als wichtige[r] Vorläufer der heute etablierten Genderdiskussion gelten.«61 Dieses Gemälde stellt in Frage, inwiefern sich die Frau im Staatssozialismus zum Ziel der Emanzipation vermännlichen musste, denn die Gleichberechtigung war vor allem eine Angleichung an die Rolle des Mannes zur Stärkung der Wirtschaftskraft. Diese Auslöschung und Verwischung der Grenzen der Geschlechter wird in Gabriele Stötzers Fotoserie Mackenbuch (1985) thematisiert. Gezeigt sind serielle Fotografien eines Transvestiten in einem Spiel mit Geschlechterkonventionen, dargestellt durch den Wechsel von Accessoires, die das soziale Geschlecht gender repräsentieren. Accessoires des gender der Weiblichkeit, wie Tangaslip und Strumpfhalter und typisch weibliche Körperhaltungen aus Mode-Fotoshootings werden mit der biologischen Männlichkeit des Männerkörpers konfrontiert und ergeben im Wechselspiel eine hybride Genderform, eine queere Geschlechterrepräsentation, eine Neuheit in der Kunst aus der DDR und in Anbetracht der restriktiven Geschlechtsnormen ein Wagnis. Angela Hampels expressive Malerei bricht ebenso tradierte Geschlechterbilder auf. Mit ihren vielen abweichenden Geschlechter-Repräsentationen lotet sie die Sexualität der Frau neu aus, indem sie in Malereien und Zeichnungen gleichgeschlechtliche Paarungen und die Beziehungen von Frauen- und Tierkörpern zueinander zeigt. Oft kann das Geschlecht der Bildfiguren nicht eindeutig bestimmt werden, auch hier werden rätselhaft die Attribute des biologischen Geschlechts und des sozialen Geschlechts neu kombiniert. Auffällig ist in vielen Arbeiten die Androgynität der Frauenfiguren, die sich mit »kantiger Körperlichkeit, Punkfrisuren oder Kahlköpfigkeit«62 bemerkbar macht. Susanne Altmann erkennt in diesen Bildelementen eine »gar nicht so unterschwellige Ikonografie der Rebellion«63. Die Rebellion zeigt sich nicht nur in den ikonographischen Mitteln, sondern ebenso in der Thematisierung queerer Geschlechterrepräsentationen im sozialistischen Patriachat. Diese Repräsentationen nicht-normativer Sexualität waren radikale Gegenentwürfe zu dem bekannten und in der Gesellschaft und Kunst akzeptierten Geschlechterkonventionen, wie der beliebten FKK-Kultur und der klassischen Aktfotografie
61 S. Altmann: Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?, S. 248. 62 Ebd., S. 458. 63 Ebd.
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in der DDR.64 Sie zeigen auf, dass die Akteurinnen ebenso gesellschaftspolitische Stimmungsbilder auffingen, denn Teil der Bürgerbewegung in der DDR waren ebenso Frauengruppen, die den Kampf gegen die emanzipatorischen Missstände in der späten DDR-Gesellschaft anstrebten und ebenso Raum für die Diskussion der von DDR-Norm abweichender Sexualität bot, wie z.B. die Lesbengruppen. Sie produzierten in ihrer Kunst neue Weiblichkeitsideale und Utopien einer anderen Geschlechterordnung, die in der Gesellschaft der DDR nicht artikulierbar waren, sondern erst im Auflösungsstadium des Staates in den Frauengruppen zur Sprache kamen. Im Penthesilea Lithografie-Zyklus aus den Jahren 1984/1985 werden die traditionellen Repräsentationen der Geschlechter noch weiter aufgebrochen, die Figuren sind queere Repräsentationen einer freien Sexualität. Die konventionellen Rollenbilder werden hier umgekehrt und austauschbar, denn die Figuren sind Mischwesen mit weiblichen und männlichen Attributen zugleich und scheinen ein raffiniertes Spiel mit den gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtsvorstellungen zu führen. Die Lithografien geben alternative geschlechtliche Identifikationsangebote jenseits der traditionellen Konvention. Hampels Malerei zeigt alternative Geschlechterrollenangebote, die für die gesellschaftspolitische Situation in der DDR Mitte der 1980er Jahre eine Revolution darstellten und folglich ebenso umstritten waren. Ein analytischer Blick auf ihre Werke sieht die Verwandtschaft zu Werken der ersten Generation der feministischen Kunstbewegung. Nancy Spero schuf ebenso expressiv-skizzenhafte symbolisch aufgeladene Malereien von Frauenfiguren oder androgynen Figuren, welche sie aus Mythologien entliehen hatte, um die Ambivalenzen der Frauenrolle in der patriarchalischen Gesellschaft zu repräsentieren. Hampel und Spero mussten sich beide dem Essentialismusvorwurf späterer Generationen von Feministinnen aussetzen.65 Trotzdem bricht Hampel Geschlechtsnormative der DDR auf. In ihren Arbeiten wird der Male Gaze negiert, die Figuren ihrer Bilder sind selbstbestimmte Wesen ohne eindeutige Geschlechtszuweisungen. Das abweichende Begehren in den Bildwelten Angela Hampels stellt das Heteronormativitätsmodell in Frage und bedeutet einen Bruch mit den Geschlechterkonventionen der DDR.
64 Vgl. ebd. 65 Vgl. H. Ebert: Weibliche Empfindsamkeit – (K)eine Ästhetik des Widerstands, o.S; S. Altmann: Entdeckt, S. 3f.
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Industriearbeiterin als Motiv – Beispiele aus dem Kunstarchiv Beeskow1 C LAUDIA J ANSEN
Im Kunstarchiv Beeskow2 befindet sich ein Großteil der Bestände des Sondervermögens der Parteien und Massenorganisationen, die nach der Wende zunächst von der Treuhand verwaltet und 1994 nach dem Fundortprinzip in das Eigentum der Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern übergeben wurden.3 All diese Werke, die heute in Beeskow lagern, wollte nach der Wende kaum jemand haben und sie sind selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Es gibt jährlich ein oder zwei Ausstellungen aus dem Bestand des Archivs auf der Burg Beeskow und die eine oder andere davon wird auch außerhalb Beeskows gezeigt. Dennoch, Zugänglichkeit und Sichtbarkeit der Werke sind überaus eingeschränkt und es kann einen gerade vor Ort der Eindruck beschleichen, die Arbeiten seien abgestellt und dem Vergessen anheim gegeben. Es sind Bilder einer Gesellschaft, die nicht mehr existent ist. Damit scheint auch die Existenzberechtigung
1
Vorliegender Artikel ist eine modifizierte Fassung des Aufsatzes der Autorin: »Subjekt oder Objekt? Die Arbeiterin als Role Model«, in: Jansen, Claudia (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen 2012, S. 19-39.
2
Bis 2001 war der Name Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow.
3
Die Geschichte des Kunstarchivs wurde in diesem Band bereits beschrieben. Siehe auch: Freitag, Nicoletta: »Das Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow«, in: Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow/ Interessengemeinschaft neue bildende kunst e.V (Hg.): Die Depots der Kunst, Symposium 13. bis 15. November 1996 Burg Beeskow, S.84-85.
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ihrer offiziellen Ausdrucksformen nicht mehr gerechtfertigt. Rein aufgrund ihrer Entstehungsumstände wurde den Werken der künstlerische Wert abgesprochen. Indem die Werke aus dem Blickfeld verdrängt worden sind, wird jede weitere Auseinandersetzung mit ihrem Kunstwert – weniger dem kulturellen Wert – zusätzlich erschwert. Da hilft es auch wenig, wenn ein wissenschaftliches Projekt die Wege der Bilder nachzeichnet, um am Ende eine unvollständige Datenbank zu erstellen, die dem interessierten Fachpublikum die Suche nach einem bestimmten Werk aus der DDR erleichtern soll. Eine banal klingende Tatsache nämlich fand in deutschsprachiger Forschung bisher wenig Beachtung4: für eine kunsthistorische Einordnung – in diesem Fall von Gemälden aus der DDR – bedarf es kunstwissenschaftlicher Methodik wie beispielsweise der Ikonographie und Ikonologie. Vergleiche sind notwendig und dafür müssen die Bilder sichtbar sein, wenn eine wirkliche Auseinandersetzung stattfinden soll. Mit vorliegendem Artikel soll in diese Richtung gearbeitet werden.5 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche künstlerischen Repräsentationen von Industriearbeiterinnen in den Bildwerken im Kunstarchiv Beeskow auszumachen sind und in welchem Verhältnis sie zur gesellschaftlichen Realität stehen. Manja Seelen untersuchte 1993 Das Bild der Frau in Werken deutscher Künstlerinnen und Künstler der Neuen Sachlichkeit und fragte nach dem Realitätsgehalt von Bildern, nach der persönlichen Einstellung des Künstlers und der Künstlerin und nach gesellschaftlicher Realität und männlicher Projektion. Sie stellte unter anderem fest, dass der Grad der persönlichen Auseinandersetzung des Künstlers und der Künstlerin mit der Lebenswirklichkeit der Frauen ausschlaggebend für eine »lebendige und differenzierte« Darstellung ist. »Die dargestellten Frauen können so von ›Objekten‹ der Kunst zu handelnden ›Subjekten‹ im Bild werden.«6 Für die DDR und hier konkret für den Bestand aus dem Kunstarchiv Beeskow stellt sich die Frage, ob eine künstlerische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität stattgefunden hat. Die zu besprechenden Bilder fungieren hier nicht von vornherein als Illustration und Bestätigung bereits bestehender Erkenntnisse zur Sozialstruktur. Es
4
Ausnahmen hiervon bilden beispielsweise die Arbeiten von Martin Damus, Eckhart
5
Ebenso wie mit der Dissertation der Verfasserin »Das Arbeiterbild in der Malerei der
Gillen/Hubertus Gaßner, Lothar Lang und Karin Thomas. DDR 1949-1989 am Beispiel des Kunstarchivs Beeskow« (Arbeitstitel). Der Artikel ist Teil davon. 6
Seelen, Manja: Das Bild der Frau in Werken deutscher Künstlerinnen und Künstler der Neuen Sachlichkeit, Münster 1995 (Kunstgeschichte, Bd. 49, =Dissertation Univ. Köln, 1993), S. 4.
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wird zunächst davon ausgegangen, dass es sich um künstlerische Erzeugnisse handelt und nicht allein um Illustrationen der Gesellschaft. Im Rahmen der Bildanalysen werden Rückschlüsse auf die eventuelle Lebens- und Gesellschaftsrealität gezogen. Wie Rudolf Zeitler treffend zusammenfasste, kann ein Gemälde Aufschluss über die Struktur einer Gesellschaft geben, aber: »Es bleibt ebenso im Falle Daumiers ein Akt der Willkür, welcher Gesellschaftsschicht man die Struktur seiner Lithographien als charakteristischen Ausdruck zuschreibt. Selbst wenn wir das soziale Milieu eines Künstlers ganz genau kennen, scheint es mir unmöglich, sein künstlerisches Tun aus den Gegebenheiten dieses Milieus heraus rational zu erklären. […] Aber mit dem wie mit jenem illustriert die Kunst nur einzelne Züge des menschlichen Lebens und damit der Gesellschaft, nicht deren Gesamtstruktur.«7
Die gewählten Werkbeispiele sollen in Bezug auf DDR-Kunst keinesfalls generalisieren, sondern unterschiedliche Aspekte des bildkünstlerischen Schaffens herausstellen, wie es sich – ein Charakteristikum des Beeskower Bestandes – in der Öffentlichkeit, d.h. in Ferienheimen, Partei- oder Gewerkschaftszentralen und Betrieben, zeigte. Indem das Thema Arbeit beziehungsweise die Darstellung arbeitender Menschen in Landwirtschaft und Industrie spätestens mit der Abwendung vom Akademismus im 19. Jahrhundert bildwürdig geworden war, änderte sich auch die Darstellung der Frau. Die Kunstgeschichte kannte bis dahin zahlreiche Abbildungen Evas, der heiligen Jungfrau Maria, der Hure Maria Magdalena, Venus oder Athenes, von Frauen als Allegorien und der bürgerlichen Ehefrau ebenso wie der männermordenden Femme Fatale. Honoré Daumiers Wäscherin 1863, Constantin Meuniers Grubenarbeiterinnen um 1880 und Edgar Degas’ Büglerinnen 1884-86, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, rückten mit der Arbeiterfrau ein neues Motiv ins Zentrum der Betrachtung. Die Aussage lag in der sozialkritischen Komponente der Last neuer Lebens- und Arbeitsbedingungen durch die Industrialisierung. In Deutschland wurde das Thema insbesondere von Heinrich Zille, Hans Baluschek und Käthe Kollwitz aufgegriffen. Der Kunsthistoriker Wolfgang Hütt sah in Kollwitz gar die erste, die mit Arbeiterfrau mit dem blauen Tuch von 1903 ein Bildnis einer Angehörigen der Arbeiterklasse geschaffen hat, ohne die »Züge positiver Menschlichkeit zu verwischen«. Sie habe auf »dem Umweg über ihre Frauenge-
7
Zeitler, Rudolf: »Das unbekannte Jahrhundert«, in: Propyläen Kunstgeschichte, Band 11: Rudolf Zeitler (Hg.): Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe Frankfurt am Main/Berlin 1990, S. 29f.
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stalten auf die Entwicklung des männlichen Proletarierbildnisses eingewirkt.«8 Hütt relativiert im selben Absatz: »Doch waren die Bedingungen für die Entwicklung des weiblichen Proletarierbildnisses insgesamt günstiger. Auch die Arbeiterin ist als Frau ein mütterliches Wesen, und in der Darstellung dessen war die Kunst lange erfahren. Der Typ des Arbeiters hingegen, eines Menschen, der seinen Zielen und Absichten nach weder zum Herren im hergebrachten Sinne noch zum Knecht bestimmt ist, […] dieser Typ war neu und von der Kunst noch so unerforscht, daß in logischer Konsequenz die ersten Werke dieser Art eine tastende Unentschiedenheit auszeichnen mußte.«9
Als männliche Vorbilder macht er dann Otto Dix Arbeiter von 1920 und Heinrich Vogelers Hamburger Werftarbeiter von 1929 aus. Hütt wurde hier so ausführlich zitiert, um aufzuzeigen, dass der Arbeiter offensichtlich in Teilen ostdeutscher Kunstkritik als wichtigeres Motiv erachtet wurde. Auch Lea Grundig-Langer nimmt den Typus der Arbeiterfrau schon früh in ihr Werk auf, zum Beispiel in ihrem Zyklus Frauenleben von 1933-36.10 Mit der Darstellung der Baumwollspinnerin von 1957 (Abbildung 1) setzt sie eine Industriearbeiterin als Halbfigur ins Bild, die mit leerem Blick hinter der Spinnmaschine steht und scheinbar teilnahmslos ihrer Arbeit nachgeht. Der Kopf wirkt gleichsam vom Körper abgetrennt durch das horizontal durchs Bild verlaufende Maschinenteil, das ihre Schultern verdeckt. Ein muskulöser Unterarm ist prominent in die linke Bildecke gerückt und die Hand bedient den Maschinenhebel. Die Brust der Baumwollspinnerin zeichnet sich unter dem sehr dünn wirkenden Stoff ab, der sie bekleidet. Fast könnte man glauben, sie sei nackt und aus ihrer linken Brustwarze sprieße der Faden. Durch ihre Position – eingeklemmt in der Spinnmaschine – wird der Eindruck der Unentrinnbarkeit aus der Situation erweckt. Leider konnte bisher nicht die Entstehungsgeschichte der Lithografie geklärt werden. So lässt sich nur mutmaßen, ob es sich um einen Rückgriff auf Grundigs sozialkritische Darstellung von Arbeiterfrauen der 1920er und 30er Jahre handelt, ob hier vielleicht der schlechte Ruf der Baumwollspinnerinnen in der
8
Hütt, Wolfgang: »Die Entstehung des Proletarierbildnisses in der deutschen Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962/H.11, S. 587.
9
Ebd.
10 Vgl.: M. Seelen: Das Bild der Frau in Werken deutscher Künstlerinnen und Künstler der Neuen Sachlichkeit, S. 32f.
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DDR11 angesprochen wird, oder ob es schlicht ein kritisches Werk zur industriellen Produktion in der DDR darstellt, was hinsichtlich Lea Grundigs12 politischer Einstellung und ihrer sonstigen Werke eher unwahrscheinlich ist. Die Bildaussage ist widersprüchlich: einerseits wird die Entfremdung von Arbeit angesprochen und so der Zusammenhang von Frau und Industriearbeit kritisch beleuchtet. Andererseits wird betont, dass ihr starker Arm in der Lage ist, die Maschine zu bedienen. Assoziationen zum Arbeiterlied von Georg Herwegh werden geweckt: »Mann der Arbeit, aufgewacht! Und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will.«13, wobei Grundig hier die Macht einer Frau überträgt. Die Baumwollspinnerin ist sowohl handelndes Subjekt im Bild als auch Teil der Industrieproduktion und der gesellschaftlichen Realität, die von verschiedenen Punkten geprägt war. Von Beginn an waren Gleichberechtigung und Lohngleichheit in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Denn laut Friedrich Engels kann die Gleichstellung nur durch die Berufstätigkeit der Frau erreicht werden, da sie nur durch die Einbindung in den Produktionsprozess wirtschaftliche Unabhängigkeit und eine neue gesellschaftliche Stellung erreichen.14 In der Arbeitsgruppe Frauen des ZK der SED hieß es aber 1958:
11 Siehe dazu: Schüle, Annegret: » ›Für die waren wir junge Hüpfer.‹ Die ›Mütter‹- und ›Töchter‹-Generation in einem DDR-Frauenbetrieb«, in: Schüle, Annegret/Ahbe, Thomas/Gries, Rainer (Hg.): Die DDR aus generationsgeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 169-192. Sie beschreibt anhand von Interviews mit ehemaligen Arbeiterinnen des VEB Baumwollspinnerei Leipzig u.a. das schlechte Ansehen, das diese Frauen in der Öffentlichkeit besaßen. 12 Lea Grundig, 1906-1977 in Dresden, war ab 1926 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, musste 1939 nach Israel ins Exil, kehrte 1948/49 zurück nach Dresden, wo sie 1950-77 Inhaberin einer Professur an der HfBK war. Von Beginn an stand sie einer neuen Kunst im Sinne der neuen Gesellschaftssituation in der DDR positiv gegenüber. 13 Herwegh, Georg: Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, 1863. 14 Vgl.: Matthes, Tanja: »Superwoman – Made in GDR! Von Rollenbildern und Rollenkonflikten«, in: Jansen, Claudia (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbstund Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen 2012, S. 9-17. (Zum 100. Jahrestag der Herausgabe von August Bebels Buch ›Die Frau und der Sozialismus‹. Die Frau in der Deutschen Demokratischen Republik. Hgg. im Auftrag des Autorenkollektivs von Panorama DDR, Auslandspresseagentur GmbH, Berlin 1978.)
270 | C LAUDIA J ANSEN »Die Grundlage für die Gleichberechtigung der Frau gibt – und hier wiederhole ich noch einmal, was Engels im ›Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‹ sagte – ›die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechtes in die öffentliche Industrie‹. […] das bedeutet aber schließlich auch, daß mit dem fortschreitenden Aufbau des Sozialismus das allgemeine gesellschaftliche Bewußtsein sich dahin entwickelt, die Berufstätigkeit der Frau als eine selbstverständliche Form der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens anzusehen und zu fördern.«15
Das heißt, es gab eine formale, rechtliche Gleichberechtigung, gesellschaftlich war sie aber (noch) nicht akzeptiert. In diese theoretischen Forderungen und Festlegungen mischte sich eine ganz praktische Überlegung, denn nach dem II. Weltkrieg herrschte ein hoher Arbeitskräftemangel. Um die Produktionsraten in der DDR zu halten, mussten die Frauen in männliche Berufsfelder integriert werden. Gänzlich anders geht Walter Womacka die Thematik an. Den Vordergrund des Gemäldes Arbeiterpause von 1956 (Abbildung 2) dominiert eine Gruppe von drei Frauen, die gerade pausieren. Über die weiß gekleidete Frau im Bildmittelgrund leitet Womacka den Blick über eine weitere Frau in Weiß auf die arbeitende Frauengruppe in der Ferne, von der nur Umrisse angedeutet sind. Reine Farben und vereinfachte Formen machen das Bild aus, die Anlehnung an Paul Gauguin ist unübersehbar. Es ist offensichtlich, dass es sich hier um weibliche Schönheit, Idylle und die Verbindung der Frau zur Natur handelt, ein Thema, das vielfach in der Kunstgeschichte behandelt wurde und eine tradierte bürgerliche Vorstellung von Frau/Naturverbundenheit und Mann/Technik wiedergibt. Es bildet hier eine Ausnahme vom Motiv der Industriearbeiterin, da es das einzige Gemälde aus den 1950er Jahren in Beeskow ist, in dem Frauen in der Arbeitswelt Hauptmotiv sind, daher soll hier nicht weiter ins Detail gegangen werden. Jutta Held stellte für das erste Jahrzehnt der Kunst in der gesamten DDR fest, dass der »heroische Charakter der Arbeit« Männersache sei und die Frauen in anderen Arbeitsprozessen zu finden wären, als Trümmerfrauen oder in der Landwirtschaft.16 Womacka hat ebenfalls in diese Richtung gearbeitet, wenn-
15 Arbeitsgruppe Frauen beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hg.): Die Rolle der Frau in der Deutschen Demokratischen Republik. Tagungsband des ZK der SED in der Jugendhochschule ›Wilhelm Pieck‹ am Bogensee vom 19. bis 26. Januar 1958, S. 3. 16 Vgl.: Held, Jutta: »Arbeit als künstlerisches Motiv«, in: Held, Jutta (Hg.): Kunst und Politik, Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft. Schwerpunkt Kunst und Arbeit (Hg. Frances K. Pohl), Bd.7, 2005, S. 23.
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gleich er selbst sein Thema Arbeitspause als ein Ausbrechen aus dem Herkömmlichen betrachtete: »Es gab damals [...] bei den aktuellen Gemälden in der DDR eine gewisse Häufung von Motiven aus dem Arbeitsleben. Es dominierten gedeckte Farben und heroische Posen. Bereits in den 50er Jahren hatte ich mich auch der anderen Seite zugewandt, ich erinnere an meine ›Rast bei der Ernte‹.«17
Es ist richtig, dass sich die leuchtenden Farben und die Motivwahl deutlich von anderen Werken abheben, wie wir an den nächsten Beispielen noch sehen werden. Gerade das wurde dem Künstler damals von Kritikern vorgeworfen, zu dekorativ und oberflächlich zu sein und sich mit »individuellen« und »gesellschaftlichen Problemen« zu wenig auseinanderzusetzen.18 Für die frühen Jahre der DDR lassen sich folglich zwei unterschiedliche Blickwinkel konstatieren. Ein männlich-konservativer Blick auf Schönheit und Naturverbundenheit, der den Objektcharakter herausstellt und absichtlich vermeidet, eine Industriearbeiterin darzustellen. Demgegenüber steht ein weiblichfortschrittlicher Blick auf die Rolle der Frau in der industriellen Produktion, die den Subjektcharakter in den Vordergrund rückt und sich der gesellschaftlichen Realität in ihrer Vielfältigkeit scheinbar bewusst ist. 19
17 Womacka, Walter: Farbe bekennen. Erinnerungen eines Malers. 2. korr. Aufl., Berlin 2007, S. 204. Die Bemerkung bezog sich auf die Endfassung Rast bei der Ernte von 1958. 18 Vgl.: W. Womacka: Farbe bekennen, S. 138 sowie Wengaz, Werner: »Daseinsfreude und Optimismus. Betrachtungen zu Aquarellen Walter Womackas«, in: Bildende Kunst, Jg. 1963/H7, hier S. 349. 19 Was die Öffentlichkeit der besprochenen Werke und somit die Rezeption angeht ist anzumerken, dass es sich bei Womacka um ein großformatiges und bekanntes Ölgemälde handelt, bei Grundig um eine auch in der DDR eher unbekannte Grafik. Diese ist beispielsweise auch nicht im Katalog zur Ausstellung vermerkt: Akademie der Künste der DDR (Hg.): Lea Grundig. Zeichnungen. Graphik, Ausstellung 1975/76 Berlin, Leipzig, Dresden, Berlin 1975. Weder das Archiv Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 e. V. noch die Ladengalerie Berlin, die 1973 ein Werkverzeichnis der Radierungen herausgegeben hat, konnten näheres zur Lithografie sagen. Womackas Arbeitspause wurde vom FDGB-Bundesvorstand vom Atelier Womacka für die Ausgestaltung eines FDGB-Ferienheims in Binz gekauft, es hing im Restaurant. Außerdem gehört es zu fünf Vorarbeiten zur endgültigen Fassung Rast bei der Ernte von 1958, das sich in der Neuen Nationalgalerie, Berlin, befindet.
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Abbildung 1: Lea Grundig, Baumwollspinnerin, 1957, Lithographie, 76 x 55 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 2: Walter Womacka, Arbeitspause, 1956, Öl auf Hartfaser, 90 x 100 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 3: Karl-Heinz Kummer, Bandwärterin vom RS 1000, 1960, Öl auf Hartfaser, 135 x 96 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow
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Abbildung 4: Claudia Borchers, Porträt Jutta Birkholz (Arbeiterin), 1983, Öl auf Leinwand, 90 x 79 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 5: Jost Alexander Braun: Porträt Ramona Gailus, 1985, Öl auf Hartfaser, 80 x 80 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 6: Walter Womacka, Erika Steinführer (2), 1986, Siebdruck, 56 x 79 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Abbildung 7: Walter Womacka, Erika Steinführer (3), Siebdruck, 56 x 79 cm, Kunstarchiv Beeskow
Quelle: Kunstarchiv Beeskow, © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
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Die nächsten zwei Beispiele zeigen Arbeiterinnen in der Industrie, beide in ihrem Arbeitsumfeld. Sie repräsentieren formal zunächst das, was viele Betrachter als typisch sozialistischen Realismus und Beschönigung der Tatsachen begreifen würden. Was sie voneinander unterscheidet, sind zunächst die Größe, die Darstellung von Innen- und Außenraum und die Wahl eines Brust- anstelle eines Kniestücks. Breitbeinig und mit der linken Hand in der Hosentasche steht Karl-Heinz Kummers Bandwärterin vom RS 1000 (1960) (Abbildung 3) aufrecht da. Im Bildmittelgrund trennt ein vertikaler Balken das Bild in zwei Hälften, rechts öffnet sich eine Tagebaulandschaft dem Blick. Die Monumentalität der Figur wird durch das Führerhaus hinter ihr verstärkt. Durch die großen Augen mit geschwungenen Brauen und vollen Lippen verleiht der Künstler der Bandwärterin weibliche Attribute. Er konterkariert dies aber durch die breitbeinige Haltung mit der Hand in der Hosentasche sowie die nur geringe Andeutung von Brust, wenngleich durch die weiße Bluse die Brustwarzen durchscheinen. Obwohl von ihrer Arbeit, der Beobachtung des Förderbandes, abgewandt, blickt sie den Betrachter nicht an, ihre Augen sehen ins Leere. Durch die Wahl des Kniestücks und die perspektivische Ferne der Tagebaulandschaft ist sie nah an den Betrachter gerückt. Ihre aufrechte und stolze Haltung sowie ihr Blick ins Nichts machen es unmöglich, sie als Identifikationsfigur wahrzunehmen. Sie bleibt in Distanz und repräsentiert eine selbstbewusste Industriearbeiterin, ein staatlich gewünschtes Vorbild, ein Objekt, das durch den Habitus in eine sehr männliche Rolle gesteckt wurde. Eine bildgewordene Frau, die ihren Mann steht.20 Kummer, aus einer Bergarbeiterfamilie stammend, lebte und arbeitete ab 1954 in Lauchhammer, einem Bergbaugebiet im Bezirk Cottbus. Seine Bandwärterin ist vermutlich in diesem Zusammenhang entstanden. Horst Bahr zeigt vor einem Innenraum die Halbfigur einer Frau im Dreiviertelprofil in der Bildmitte. Sie steht in aufrechter Haltung mit gelber Bluse, blauem Helm und ebenso blauer Latzhose bekleidet seitlich zum Bildrand, der Kopf ist dem Betrachter zugewandt. Indem Bahr die Farbigkeit ihrer Kleidung im Arbeitshintergrund wiederholt und die Konturen der Figur verwischt, verringert er das Folienhafte des Arbeitsumfeldes, wie es bei Kummer der Fall ist. Die Haltung der jungen Frau ist Pose, ihr Gesichtsausdruck klar, sie schaut ruhig den Betrachter an. Ihre Nase verläuft in senkrechter Linie zum unteren sichtbaren Knopf der Bluse und betont das Aufrechte der Haltung. Als Gegengewicht zur Vertikalen verläuft hinter ihrem Kopf ein Rohr aus der Wand links über den
20 Vgl. Heidel, Marlene: »Weiblichkeiten im Bilde. Stempel, Prägungen, Imaginationen«, in: C. Jansen (Hg.): Role Models!, S. 43.
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Bildrand hinaus nach rechts. Durch den vertikalen Verlauf der Wand am linken Bildrand und das darüber geschwungene Rohr erhält sie einen weiteren Rahmen im Bildrahmen. Ihr Gesicht ist stark ausgeprägt mit kraftvollen Lippen, markanter Nase und großen dunkelbraunen Augen unter geschwungenen Brauen. Die junge Frau ist nicht nur schön, sie vermittelt auch Stolz und Selbstbewusstsein. Horst Bahr stellte Artikel und Skizzen zum Bild zur Verfügung. Daraus geht hervor, dass es sich bei der Porträtierten um Ruth Höckner handelt und es vor Fertigstellung eine Diskussion mit etwa 40 Kolleginnen und Kollegen gegeben hatte. Auf einer der Skizzen blickt sie ernst am Betrachter vorbei ins Leere. Die Kollegen erkannten zwar ihre Ruth, fanden aber, sie sei in Wirklichkeit freundlicher und lebenslustiger, trotz ihrer verantwortungsvollen Arbeit. Das Ergebnis in Öl lässt vermuten, dass Horst Bahr sich von den Einwänden hat beeinflussen lassen. So kompensiert sich im Porträt das Bild einer jungen, in der Industrie arbeitenden Frau, ein Bild, das sich ihre Kolleginnen und Kollegen und der Künstler von ihr gemacht haben, ein Stück Projektion. Anders aber als bei der Bandwärterin geht es hier auch um Schönheit und Weiblichkeit, die Arbeitsattribute Helm und Hose wirken förmlich aufgesetzt. Bahr zeigt uns eine junge Frau, die ohne diese Attribute durchaus auch das Cover eines Hochglanzmagazins hätte schmücken können. Sie steht nicht ihren Mann, sie steht ihre Frau. Ein Blick auf die 1980er Jahre veranschaulicht zwei weitere Herangehensweisen. Das von Claudia Borchers gefertigte Porträt Jutta Birkholz (Abbildung 4) präsentiert eine Frau in orangefarbenem Kittel, die an der Kante eines Schreibtisches sitzt beziehungsweise lehnt.21 Der Tisch mit Papieren und schwarzem Telefon im Bildmittelgrund der linken Bildhälfte leitet in den dunkelgrauen Hintergrund über, der von einer Kabelwalze, einem Hinweis auf ihren Arbeitsplatz, dominiert ist. Diagonal zum unteren Bildrand verläuft rechts eine grüngraue Wand mit einem Stück blauem Fensterladen, dem Komplementär zum orangefarbenen Kittel. Die ruhige Haltung der Figur steht im Kontrast zur Bildkomposition. Auffällig sind die dicken Brillengläser im Gesicht der Porträtierten, aus denen stark vergrößerte Augen den Betrachter ansehen. Die Gläser verhelfen Jutta Birkholz zur klaren Sicht, dem Publikum bleibt aber der Blick in ihre Augen verwehrt. Der Mund ist leicht verzogen, eine Art Mona-Lisa-Mund von dem sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob er lächelt. Schwarz-Grau ist der Bereich des Arbeitshintergrundes, von leuchtender Farbigkeit hingegen sind die Figur und die rechte Bildhälfte. Stereotyp weiblich an ihr sind Hände, Kittel und Brustansatz. Das Gesicht lässt sich nicht eindeutig zuordnen. In der malerischen
21 Ebenso könnte es sich um eine nicht sichtbare Sitzgelegenheit handeln, dafür spräche ihre aufrechte Haltung.
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Umsetzung zeigt die Künstlerin eine skizzenhafte, von dunklen Umrisslinien geprägte Handschrift, während Kummer und Bahr eine eher beruhigte Malweise bevorzugen. Weder zeigt sich in der Porträtieren die männliche Pose der Bandwärterin, noch die klassische Schönheit der Kraftwerkerin. Als ein Mischwesen tritt sie in Erscheinung in ihrer lässigen Haltung, die nur geringe Pose und auch wenig Identifikation mit ihrer Arbeit aufweist. Indem der Name »Jutta Birkholz« rechts oben ins Bild eingeschrieben ist, betont Borchers die Individualität der Porträtierten.22 Sie ist handelndes Subjekt, ohne sich als Teil der Arbeiterklasse oder mit ihrer Arbeit zu identifizieren und sie ist Subjekt, weil sie nicht einzuordnen ist in Schemata wie männlich und weiblich oder schön und hässlich. Ganz bewusst zeigt Borchers die Frau von Nebenan, ihre Interpretation von ihr und nicht die Heldin der Arbeit. Jost A. Brauns Gemälde Ramona Gailus von 1985 (Abbildung 5) steht in veristischer Maltradition. Ein gelblicher Hintergrund nimmt vier Fünftel des Bildes ein, die Lichtquellen sind verschieden. Eine Frau sitzt auf einem hellblauen Stuhl hinter einem parallel zum Bildrand verlaufenden Tisch. Die Arme sind vor der Brust verschränkt und liegen auf der Tischkante. Ihre Haare ähneln farblich dem Hintergrund. Ramona Gailus, der Titel verrät ihren Namen, hat einen ernsten bis unzufriedenen Gesichtsausdruck, ihre Lippen sind fest geschlossen, die Augen schauen ohne Scheu den Betrachter an. Eine dünne Kette legt sich um ihren Hals, und sie trägt über dem brombeerfarbenen T-Shirt eine neongelbe Warnweste, die sie als Arbeiterin auszeichnet. Die Dreieckskomposition von Tisch und Figur wird verstärkt durch die diagonal auf dem Tisch stehenden Kaffeetassen sowie den Bakelitaschenbecher mit ausgedrückter Zigarette. In Spannung gehalten wird der Bildaufbau durch den Holzschnitt links über ihr. Ob sie die Zigarette geraucht hat, bleibt unklar, was in Zusammenhang mit der vielzitierten Gleichberechtigung ganz interessant ist. Rauchende Arbeiterinnen gibt es nämlich im Kunstarchiv Beeskow nicht und auch sonst sind sie selten zu finden, wie schon Andrea Schmidt-Niemeyer in Zusammenhang mit einem Wandbild von Wolfgang Frankenstein feststellte: »Dass rauchende Frauen eher die Ausnahme bildeten, betonte Frankenstein selbst: ›Da sitzt auf dem Türvorsprung in meinem Bild eine Frau, die eine Zigarette in der Hand hat.
22 Porträts der Renaissance weisen teilweise Inschriften auf, prominentes Beispiel ist Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock, 1500. Aber auch Ikonen wurden mit Namen, Beinamen oder Inschriften versehen, um auf Ursprung oder Funktion aufmerksam zu machen. Vgl.: Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 6. Aufl., München 2004, S. 42ff.
282 | C LAUDIA J ANSEN Es ist die einzige Person auf dem Bild, die raucht. Und das mit gutem Grund. Diese Frau ist die DFD-Vorsitzende des Betriebes, die immer sehr prononciert die Rechte der Frau vertrat, mitunter auch ein bisschen aufgesetzt. So rauchte sie tatsächlich provozierend beinahe in jeder Situation, selbst in solchen, wo jeder Mann darauf verzichtet hätte. Das ist ein bisschen Geste der Gleichberechtigung.‹ «23
In diesem Rahmen kann dem Motiv des Rauchens leider nicht ausführlich nachgegangen werden. Es bleibt aber festzuhalten, dass in zahlreichen – männlichen – Arbeiterdarstellungen die Zigarette im Mund oder in der Hand ein wichtiges Attribut darstellt. Entweder als Zeichen des Denkens, Diskutierens oder Pausierens. Ramona Gailus zeigt sich mit offenem Blick dem Betrachter, bleibt aber in doppelter Distanz mit verschränkten Armen hinter dem Tisch. So fahl wie der Hintergrund, so fahl ist ihre Haarfarbe, im Grunde verleihen nur die gepunkteten Tassen dem Bild Fröhlichkeit. Es handelt sich bei der Dargestellten um eine Thüringer Textilarbeiterin. Sie hatte angeblich den sozialistischen Wettbewerb der FDJ Meine Bestleistung zum Weltfriedenstag angeregt, so die ZEIT vom 23.09.1983: »Jetzt, da ihre Initiative wie ein zündender Funke wirkt, ist ihre Freude natürlich groß«, berichtete Neues Deutschland.“24 Jost Braun hat ganz offensichtlich kein Interesse daran gehabt, die große Freude von Ramona Gailus darzustellen. Das staatlich gewünschte Vorbild einer Bestarbeiterin löst sich auf in einer Verweigerungshaltung. Wem soll sie Vorbild sein in diesem grauen Gelb? Die vorgestellten Arbeiten zeigen vier Aspekte zweier unterschiedlicher Künstlerjahrgänge. Das Motiv ist bei den ersten drei die Industriearbeiterin vor dem Arbeitshintergrund, Braun wählte einen Pausenraum. Kummer und Bahr geben in je eigenen Interpretationen zeitgemäß die gewünschte Rolle der Frau als Industriearbeiterin in den beginnenden 1960er Jahren wieder. Sie schreiben ihren Porträtierten eine selbstbewusste maskuline oder feminine Rolle in einem ursprünglich männlichen Arbeitsfeld zu. Während bei den beiden die starre Pose
23 Schmidt-Niemeyer, Andrea: Frauen zwischen Petticoat und Werkbank... Geschlechterverhältnisse in der deutschen Nachkriegsgesellschaft: eine Analyse anhand exemplarischer Paardarstellungen (Schwerpunkt 1945-1960), Inauguraldissertation Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2001, S.144. Zitat aus: Frankenstein, Wolfgang: »Auf dem Weg zur neuen künstlerischen Qualität«, in: Bildende Kunst, Jg. 1960/H.5, S. 335-337. 24 Aus: Nawroki, Joachim: »Frieden muss bewaffnet sein«, in: Die Zeit, 23.09.1983, http://www.zeit.de/1983/39/der-frieden-muss-bewaffnet-sein/seite-2, Zugriff: 06.12. 2013.
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dominiert, versucht Borchers, das Momenthafte der Persönlichkeit einzufangen. In diesem Sinne unterscheiden sie sich auch im Inhalt, denn Borchers vermeidet eine politisch eindeutige Aussage. Allen gemeinsam aber ist die Ausklammerung der realen Doppelbelastung. Nach der forcierten Frauenarbeitspolitik der 1950er Jahre beschloss das Zentralkomitee im Dezember 1961 notwendige gewordene Maßnahmen zum Ausbau der Kinderbetreuung, Herabsetzung der Arbeitszeit, Gewährung eines Haushaltstages etc., um dieser Belastung entgegenzuwirken. Nach wie vor blieben die traditionellen Aufgaben der Hausarbeit und Kindererziehung trotz der Berufstätigkeit den Frauen zugewiesen.25 Ab den 1970er Jahren wurden dann die Frauen aus der Industriearbeit in Arbeitszweige wie Handel und Dienstleistungen zurückgedrängt.26 Braun rückt wie Borchers eine Situation anstelle einer Haltung in den Vordergrund. Dabei nimmt er eindeutig Stellung zur Realität, es ist aber seine persönliche Interpretation. Die Bildaussage richtet sich auf eine allgemeine – angenommene oder tatsächliche – Tristesse. Er benutzt die vorbildliche Friedensaktivistin nicht als Sinnbild für eine belastete Industriearbeiterin sondern als allgemein kritisches Symbol, wie auch schon Wolfgang Mattheuer Die Ausgezeichnete von 1973, dem er eindeutig Referenz erweist. Zuletzt noch einmal zu Walter Womacka. Durch das Festhalten an der sozialistischen Weltanschauung bis zu seinem Tod 2010 und seiner zumeist positiven, buntfarbigen Darstellung des real existierenden Sozialismus ist Womackas Grafikzyklus zu Erika Steinführer ambivalent. Der FDGB-Bezirksvorstand für Kultur hatte schon Ende der 1970er Jahre angefragt, ob Womacka die Wicklerin im Berliner Glühlampenwerk NARVA, Erika Steinführer, porträtieren würde. Jene hatte, wie auch Ramona Gailus, 1977 zu einem sozialistischen Wettbewerb aufgerufen: Jeder liefert jedem Qualität. Womacka reagierte laut eigenem Bekunden zunächst abweisend, übernahm aber dann den Auftrag wegen seines Interesses an der Arbeitswelt. „Das Angebot, sie zu malen, reizte mich dennoch, weil ich darin eine Gelegenheit sah, mich mit einem gesellschaftlichen Thema kritisch auseinanderzusetzen. Das Porträt dieser Frau konnte nicht das frühe Pathos der DDR haben, den Heroismus der Aufbruchzeit. Aber auch nicht die Leidensmiene einer Geschundenen und Gequälten. Es mußte eine moderne, emanzipierte Frau zeigen, die von gesellschaftlichen und privaten Motiven getrieben wurde. […] vielleicht sogar zerrissen.«27
25 Vgl.: A. Schmidt-Niemeyer: Frauen zwischen Petticoat und Werkbank, S.135ff. 26 Vgl.: T. Matthes: Superwoman, S. 9-17. 27 W. Womacka: Farbe bekennen, S. 283.
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Laut eigenem Anspruch wollte Womacka also kein Vorbild im Sinne sozialistischer Pflichterfüllung darstellen. Er wollte weder die Porträtierte »demaskieren«, noch sie als »etwas Besonderes herausstellen«. Es entstanden etwa fünf Fassungen in Öl und die Grafikserie. In Blatt Nr. 2 zeigt Womacka zwei Gesichter (Abbildung 6). Die verfremdeten Fotos Steinführers in Gelb und in Violett als Komplementäre, die sich ergänzen. Auf dem Gelben erscheint sie freundlich, auf dem Violetten Zähne zeigend. Blatt Nr. 3 (Abbildung 7) ist eine Collage aus Alltagsfotos der Dargestellten: Rauchend, am Herd, scherzend mit dem Partner, in Diskussion. Die Fotos hängen, so suggeriert die Lampe, an einem Arbeitsplatz oder Schreibtisch. Formal lassen sich deutlich die Anlehnungen an Robert Rauschenberg, einem Künstler des imperialistischen Feindeslands USA, erkennen. Die Thematisierung einer verdienten Industriearbeiterin geht hier eine Liaison mit der Westkunst ein. Trotz der Siebdruck- und Collagetechnik kann inhaltlich aber kaum von einem durchweg gesellschaftlich-realistischen Bezug gesprochen werden, da hier künstlerische Gestaltungsmittel und Bildschaffung vor dem Anspruch stehen, soziale Tatsachen oder Utopien getreu wiederzugeben oder gar zu illustrieren. Es wurden einige Bilder aus dem Kunstarchiv Beeskow vorgestellt mit der Frage, welche Repräsentationen von Industriearbeiterinnen in den Bildwerken der sozialistischen Gesellschaft auszumachen sind. Dabei sei erwähnt, dass die Bedeutung des Themas statistisch betrachtet äußerst gering war. Nur 11% der etwa 1.600 Gemälde in Beeskow wurden von Malerinnen gefertigt. Von ungefähr 250 Gemälden mit dem Sujet des Arbeiters haben nur 36 als Hauptmotiv die Arbeiterin, 17 die Industriearbeiterin. Dies könnte erstaunen, denn 1989 waren 91,2% aller Frauen in der DDR berufstätig und 80% derer mit Kindern übten einen Beruf aus.28 Mit den ausgewählten Beispielen wurde gezeigt, wie unterschiedlich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Motiv der Industriearbeiterin gewesen ist. Dabei lässt sich keine aufeinanderfolgende Entwicklung der bildnerischen Gestaltung feststellen, wie sie aufgrund des historischen Verlaufs der DDR oft vermutet wird. Die Einbeziehung der gesellschaftlichen Realität und die persönliche Auffassung derselben machen Bildaussage und Bildumsetzung aus. So folgte die Baumwollspinnerin keinem in der DDR gängigen gesellschaftlichen Ideal, ebensowenig die undurchsichtige Jutta Birkholz. Die Heroinen Bandwärterin und Kraftwerkerin sind hingegen dem Typ des Helden der Arbeit der 1960er Jahre verwandt. Sie bebildern ein parteilich gewünschtes Frauenbild, viel mehr auch nicht. In den 1980er Jahren stehen sich dann die gestürzte Heroin
28 Vgl.: T. Matthes: Superwoman, S. 9-17.
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Ramona Gailus und die doch eher verherrlichte Erika Steinführer als gegensätzliche Deutungen derselben gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber.
L ITERATUR Akademie der Künste der DDR (Hg.): Lea Grundig. Zeichnungen. Graphik, Ausstellung 1975/76 Berlin, Leipzig, Dresden, Berlin 1975. Arbeitsgruppe Frauen beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hg.): Die Rolle der Frau in der Deutschen Demokratischen Republik. Tagungsband des ZK der SED in der Jugendhochschule ›Wilhelm Pieck‹ am Bogensee vom 19. bis 26. Januar 1958. Autorenkollektiv von Panorama DDR, im Auftrag (Hg.): Zum 100. Jahrestag der Herausgabe von August Bebels Buch ›Die Frau und der Sozialismus‹. Die Frau in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1978. Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 6. Aufl., München 2004. Frankenstein, Wolfgang: »Auf dem Weg zur neuen künstlerischen Qualität«, in: Bildende Kunst, Jg. 1960/H.5, S. 335-337. Freitag, Nicoletta: »Das Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow«, in: Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Burg Beeskow/ Interessengemeinschaft neue bildende kunst e.V (Hg.): Die Depots der Kunst, Symposium 13. bis 15. November 1996 Burg Beeskow, S.84-85. Heidel, Marlene: »Weiblichkeiten im Bilde. Stempel, Prägungen, Imaginationen«, in: C. Jansen (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen 2012, S. 41-52. Held, Jutta: »Arbeit als künstlerisches Motiv«, in: Held, Jutta (Hg.): Kunst und Politik, Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft. Schwerpunkt Kunst und Arbeit (Hg. Frances K. Pohl), Bd.7, 2005, S. 17-39. Hütt, Wolfgang: »Die Entstehung des Proletarierbildnisses in der deutschen Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962/H.11, S. 586-592. Jansen, Claudia: »Subjekt oder Objekt? Die Arbeiterin als Role Model«, in: Dies. (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen 2012, S. 19-39. Matthes, Tanja: »Superwoman – Made in GDR! Von Rollenbildern und Rollenkonflikten«, in: Jansen, Claudia (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen 2012, S. 9-17.
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Nawroki, Joachim: »Frieden muss bewaffnet sein«, in: Die Zeit, 23.09.1983, http://www.zeit.de/1983/39/der-frieden-muss-bewaffnet-sein/seite-2, Zugriff: 06.12. 2013. Schmidt-Niemeyer, Andrea: Frauen zwischen Petticoat und Werkbank... Geschlechterverhältnisse in der deutschen Nachkriegsgesellschaft: eine Analyse anhand exemplarischer Paardarstellungen (Schwerpunkt 1945-1960), Inauguraldissertation Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2001. Schüle, Annegret: » ›Für die waren wir junge Hüpfer.‹ Die ›Mütter‹- und ›Töchter‹-Generation in einem DDR-Frauenbetrieb«, in: Schüle, Annegret/Ahbe, Thomas/Gries, Rainer (Hg.): Die DDR aus generationsgeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 169-192. Seelen, Manja: Das Bild der Frau in Werken deutscher Künstlerinnen und Künstler der Neuen Sachlichkeit, Münster 1995 (Kunstgeschichte, Bd. 49, =Dissertation Univ. Köln, 1993). Wengaz, Werner: »Daseinsfreude und Optimismus. Betrachtungen zu Aquarellen Walter Womackas«, In: Bildende Kunst, Jg. 1963/H7, S.349-355. Womacka, Walter: Farbe bekennen. Erinnerungen eines Malers. 2. korr. Aufl., Berlin 2007. Zeitler, Rudolf: »Das unbekannte Jahrhundert«, in: Propyläen Kunstgeschichte, Band 11: Rudolf Zeitler (Hg.): Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe Frankfurt am Main/Berlin 1990, S.15-128.
Ungeliebtes Erbe? Die Kunstbestände der ehemaligen Kombinate T ANJA M ATTHES Warum soll es nicht möglich sein, gerade aus Leuna eine Art Sanssouci zu machen, indem nicht ein alter Mann der König, sondern das Volk der Schöpfer aller Werte ist. DR. KARL-HEINZ KLEIN, ÖKONOMISCHER DIREKTOR DER
LEUNA-WERKE AUF DER 2. BIT-
TERFELDER KONFERENZ 1964
1
Dieser Anspruch verdeutlicht sehr anschaulich die Rolle, die der Kunst in der DDR bei der Bildung des sozialistischen Menschen zugedacht war, für den Arbeit zur zentralen Lebenskategorie werden sollte. So verwundert es nicht, dass Kunst neben den gewohnten Räumen ihrer Präsentation und Ausschmückung vor allem dort wirksam werden sollte, wo sich die Zielgruppe befand – in den neuaufgebauten bzw. aufzubauenden industriellen Zentren und Betrieben der jungen Republik.2 Tatsächlich finden sich denn auch heute noch umfängliche Kunstbestände u.a. in Schwedt, Bitterfeld, Eisenhüttenstadt, Schkopau oder im Mansfeld-Revier – zumeist verborgen in Werksarchiven der Nachfolgeunternehmen
1
Zit. in Ehmke, Jochen: »›Was Kunst ist, bestimmen wir!‹ Vom Beginn sozialistischen Mäzenatentums im Chemiedreieck Leuna-Schkopau-Bitterfeld«, in: Merseburger Beiträge zur Geschichte der chemischen Industrie Mitteldeutschlands, hgg. v. Sachzeugen der chemischen Industrie e.V.. Heft 1/2008, S. 30.
2
Vgl. Bonnke, Manuela: Kunst in Produktion. Bildende Kunst und volkseigene Wirtschaft in der SBZ/DDR, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 2.
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oder Sonderdepots der Länder. Trotz der im zentralistischen Staat für alle Kombinate geltenden offiziellen Kunstdoktrin hinsichtlich des Aufbaus eigener Kunstbestände zur umfassenden Bildung der Werktätigen und deren Weiterentwicklung3, lassen sich auch hier vor allem individuelle Geschichten auffinden. Diese waren abhängig von örtlichen Faktoren und Personalkonstellationen, deren Auswirkungen sich bis in die Gegenwart fortsetzen. So sind die Bildgespenster der ehemaligen Kombinate und Großbetriebe aktuell unterschiedlich in der Öffentlichkeit präsent – von einzelnen Erscheinungen (z.B. als Leihgaben in Ausstellungen) bis hin zu großen, wenn auch temporären, Auftritten (z.B. Ausstellung Schicht im Schacht. Die Kunstsammlung der Wismut – eine Bestandsaufname). Abbildung 1: Katalogtitel: Schicht im Schacht. Die Kunstsammlung der Wismut – eine Bestandsaufnahme
Quelle: Foto © Tanja Matthes
3
Siehe dazu auch: Bühl, Harald: Kultur im sozialistischen Betrieb. Zur Planung, Leitung und Gestaltung des geistig-kulturellen Lebens im Betrieb, Berlin 1970.
U N G ELIEBTES E RBE ? D IE K UNSTBESTÄNDE DER EHEMALIGEN K OMBINATE
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Nach einem kurzen Blick auf die Hintergründe des betrieblichen Auftrags- und Sammlungswesens soll auf die Ausgangssituation nach 1990 und erste Versuche der Systematisierung und Erfassung der noch vorhandenen Bestände eingegangen werden. Anschließend werden die Faktoren herausgestellt, die im Wesentlichen den weiteren Umgang mit dieser Erbmasse beeinflussten. Zum Schluss soll ein Blick auf die Gegenwart und mögliche Potenziale geworfen werden.
»B ETRIEBLICHES M ÄZENATENTUM « – 4 EINE E RFOLGSGESCHICHTE ? Im Rahmen des vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung von 20092012 finanzierten Verbundprojektes Bildatlas: Kunst in der DDR5 stellte die Form des betrieblichen Auftrags- bzw. Sammlungswesens einen eigenen Forschungsschwerpunkt dar. Die Bildbestände der ehemaligen Kombinate sind nicht nur in ihrer Quantität einmalig, sondern sind ebenso in ihren inhaltlichen Schwerpunkten eng mit der Entwicklung und dem Aufbau des sozialistischen Staates verbunden. Zunächst ist allerdings anzumerken, dass es sich bei diesem Typus keineswegs um Sammlungen im bekannten Sinne handelt, da diese Werke zwar zumeist mehr oder weniger gezielt in Auftrag gegeben oder angekauft wurden, allerdings weniger unter ästhetischen oder konzeptionellen als unter rein formalen oder bürokratischen Gesichtspunkten. So sollte statt des Sammlungsbegriffes besser von Beständen gesprochen sprechen. Erfasst und dokumentiert wurden schließlich 14 Bestände von ehemaligen Kombinaten mit ca. 1301 Werken der Malerei, die über den Zeitraum ihres Bestehens mal mit mehr oder weniger Aktivitäten, mit mehr oder weniger herausragenden Kunstwerken ganz individuelle Geschichten hervorbrachten.6
4
Zur Struktur und Organisation des betrieblichen Auftragswesen siehe die Dissertation von Bonnke, Manuela: Kunst in Produktion. Bildende Kunst und volkseigene Wirtschaft in der SBZ/DDR, Köln/Weimar/Wien 2007 und den Beitrag Siebeneickers, Arnulf: »Kulturarbeit in der Provinz. Entstehung und Rezeption bildender Kunst im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt 1960-1990«, in: Historische Anthropologie (1997). Kultur. Gesellschaft. Alltag, S. 435-453.
5
Ausführliche Informationen zu Aufgaben und Strukturen des Verbundprojektes finden sich unter http://www.bildatlas-ddr-kunst.de, Zugriff: 17.12.2013.
6
Siehe zu den individuellen Genesen der Werksammlungen http://www.bildatlas-ddrkunst.de/collection/search=&type=Werksammlung, Zugriff: 17.12.2013.
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Abbildung 2: Standorte der im Rahmen des Bildatlas-Projektes dokumentierten Werksbestände
Quelle: Grafik: Tanja Matthes
Bereits 1948 veröffentlichte der FDGB einen Aufruf unter dem Motto Kultur und Arbeit bei dem Künstler aller Genres aufgefordert wurden, Bilder aus dem Leben der Arbeiter zu schaffen. Die infolge eingereichten Arbeiten wurden von Mai bis Juni 1949 in Berlin auf einer Verkaufsausstellung präsentiert, die gleichzeitig den Betrieben die Gelegenheit bieten sollte, nicht nur Werke anzukaufen, sondern ebenso mit Künstlern in Kontakt zu kommen und neue Aufträge auszulösen. Diese Ausstellung war die erste organisatorische Basis für die erwünschten Künstleraufenthalte in den Betrieben.7 Die Unternehmen selbst sollten es als selbstverständlich ansehen, sowohl ihre Räume als auch finanzielle Mittel für soziale und kulturelle Aufgaben bereit zu stellen und so mäzenatisch zu wirken. Seit Anfang der 50er Jahre wurden schließlich die verschiedensten Kooperationsformen zwischen Künstlern und Betrieben praktiziert, die von unterschiedlicher Dauer und Intensität waren. So gab es nicht weniger als sechs verschiedene Vertragsformen, die diese Zusammenarbeit regelten. Grundsätzlich muss dabei
7
Vgl. M. Bonnke: Kunst in Produktion, S. 105ff.
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zwischen gewerkschaftlichen Auftragswesen – der Auftrag bzw. Ankauf von Einzelwerken mit Geldern der Gewerkschaft, bei denen Betriebe als gesellschaftliche Partner fungierten – und dem direkten betrieblichen Auftragswesen unterschieden werden. An dieser Stelle steht Letzteres im Mittelpunkt. 8 Über diese »aufoktroyierte freiwillige Einbindung der Betriebe in die Kunstpolitik mittels solcher Vertragsformen«9 hinaus, wurden die Unternehmen 1952 mit der »Verordnung über die künstlerische Ausgestaltung von Verwaltungsbauten« zur Mitwirkung an der staatlichen Auftragskunst verpflichtet. Dazu wurde im Sommer 1952 eine Staatliche Auftrags- und Planungskommission mit Vertretern der Künstlerverbände und der Akademie der Künste eingerichtet, seit Mitte der 50er Jahre dann auch auf bezirklicher Ebene, die hauptsächlich für die Umsetzung dieser Verordnung verantwortlich war. Infolge dieser Verordnung mussten 2% der Bau- bzw. Investitionssumme für die künstlerische Ausgestaltung betrieblicher Erweiterungs- oder Neubauten zur Verfügung gestellt werden, nach 1972 entsprach dies 0,5% bzw. maximal 500.000 Mark. Als Verwaltungsbauten galten alle gesellschaftlich genutzten Bauten, so dass in Betrieben daher lediglich die Ausgestaltung der Sozial- und Verwaltungsgebäude, der Außenanlagen oder des der Produktion nachgeordneten Bereiches möglich waren (z.B. Qualitätsstelle im Edelstahlwerk Freital 1957/58), die zumeist mit betriebsbezogenen Themen ausgestattet wurden.10 Darüber hinaus fungierten die Betriebe auch als Auftraggeber für die bildkünstlerische Ausgestaltung der betriebsgebundenen Einrichtungen wie Kindergärten, Berufsschulen, Krankenhäuser und Polikliniken, Kulturhäusern sowie Ferien- und Erholungsheime. Die nicht im Rahmen von Investitionsvorhaben ausgelösten künstlerischen Aufträge, bspw. die langjährigen Patenschafts- oder Freundschaftsverträge für die Werkskünstler, wurden aus den Kultur- und Sozialfonds der Betriebe bestritten. Diese speisten sich aus 1,5% der geplanten Lohnsumme sowie Zuschüssen aus dem Staatshaushalt. Dabei entschieden die Betriebsleiter jährlich über die prozentuale Aufteilung der Mittel auf einzelne Bereiche, festgehalten in den Betriebskollektivverträgen.11 Trotz all dieser Aktivitäten ließ sich jedoch vor Ort kaum ein gesteigertes Inter-
8
Vgl. Mosch, Christa: »Die Kunstpolitik des FDGB zwischen Kunstförderung und sozialer Verantwortung. Ein Erfahrungsbericht«, in: Flacke, Monika (Hg.): Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin 1994, S. 106-119.
9
Vgl. M. Bonnke: Kunst in Produktion, S. 9f.
10 Ebd., S. 142, 154, 176. 11 Ebd., S. 154f.
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esse der Werktätigen an Kunst erkennen, so dass die von Staatswegen angestrebte Annäherung von Kunst und Leben nicht in Sicht war. Wegweisend sollten in diesem Zusammenhang die im Rahmen der 1. Bitterfelder Konferenz 1959 aufgestellten Forderungen nach einer Ausbreitung des Laienkunstschaffens sowie einer »stärkeren sozialen und gestalterischen Hinwendung der Berufskünstler zu den Stätten der Produktion« 12 werden. Einerseits wurde so dem Künstler eine neue politische Rolle in der sozialistischen Gesellschaft zugewiesen und andererseits sollten den Künstlern selbst die Inhalte ihrer künstlerischen Auseinandersetzung näher gebracht werden. Daher sollten Betriebe langfristige Verträge mit Künstlern eingehen, um diesen ein Schaffen unter den Lebensbedingungen der Werktätigen zu ermöglichen. Neben Studienaufenthalten und Förderverträgen, die vor allem für den Erstkontakt mit der Produktion vorgesehen waren, zielten demgegenüber die Patenschafts- und Freundschaftsverträge auf langfristige Bindungen. Diese zunächst auf ein Jahr festgelegten Verträge, die zumeist jedoch verlängert wurden, ermöglichten den Künstlern ein regelmäßiges Einkommen, einen Arbeitsraum sowie den garantierten Abkauf ihrer Werke für die Ausgestaltung der betrieblichen Einrichtungen. Weiterhin hatten die Künstler die Aufgabe, Kunstgespräche und Ausstellungsbesuche zu organisieren, die Wandzeitungen mitzugestalten und die Laienkunstzirkel zu leiten. Darüber wurden Zusatzaufgaben, wie das Anfertigen von Arbeiter- oder Veteranenporträts extra honoriert. Aufgrund der in diesem Zusammenhang bestehenden freien Arbeitsmöglichkeiten und der langfristigen Perspektive galt dies als beliebte Vertragsform in Künstlerkreisen. Als Beispiele sind hier u.a. Herbert Strecha (Abbildung 3), Werner Haselhuhn, Lea Grundig, Franz Nolde oder auch Dieter Rex zu nennen.13 In den Anfangsjahren sollten die Künstler vor allem bei der Gestaltung der Klubräume der Werktätigen und der öffentlichen Gebäude aktiv werden, um die Werktätigen überhaupt zu erreichen. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Speisesäle, da diese optimale Rezeptionsmöglichkeiten verheißen ließen. In praktischer Umsetzung fanden sich dort jedoch zumeist politisch neutrale Werke oder Freizeitthemen. Im Rahmen dieser Verwandlung der Produktionsstätten in »Pflegestätten der Kunst«14, wurden in sog. Schwerpunktbetrieben Kommissionen und Ausschüsse für die kulturelle Betriebsarbeit gebildet, in denen Funktionäre, Vertreter der staatlichen Einrichtungen und Massenorganisationen sowie leitende Vertreter der Betriebe Mitspracherechte hatten. Diese Kulturkommis-
12 Ebd., S. 190. 13 Vgl. M. Bonnke: Kunst in Produktion, S.168-173. 14 Ebd., 412ff.
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sionen waren verantwortlich, »geeignete Künstler« für die Leitung von Mal- und Zeichenzirkeln zu finden sowie Ausstellungen in den Betrieben zu organisieren. Insgesamt lassen sich fünf Ziele der vertraglichen Bindung von Künstlern an Betriebe festhalten: (1) der Betrieb fungiert als Motivfundort, (2) Demonstration der Einheit von Volk und Kunst in Form der Verbindung von Künstler und Arbeiter, (3) Hilfsmittel zur Durchsetzung realistischer Darstellungsformen, (4) Nutzung der Betriebe als Erziehungsorte und schließlich (5) die finanzielle Einbindung der Betrieb in die staatliche Auftragspolitik.15 Abbildung 3: Herbert Strecha, Menschen der Maxhütte, 1964, Öl auf Hartfaser, Kunstsammlung Maxhütte
Quelle: Katalog zur Kunstsammlung Maxhütte, 2004
15 Ebd., S. 97.
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Rückblickend kann festgestellt werden, dass trotz der auf der II. Bitterfelder Konferenz vorgenommenen Kurskorrektor das betriebliche Auftragswesen keine Erfolgsgeschichte war, da das Engagement der Betriebe mit einigen Ausnahmen grundsätzlich als zu gering eingestuft wurde und viele Verbindungen zwischen Künstlern und Betrieben nur auf dem Papier bestanden. Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten des Bestehens der DDR muss daher in der Gesamtbetrachtung von einer defizitären Entwicklung gesprochen werden, was sicher auch dadurch begründet war, dass die großangelegten Aufbauarbeiten der Industrieanlagen vorerst abgeschlossen waren. So ergab 1984 eine Analyse von 2.500 Kulturund Bildungsplänen den Befund, dass nur 15% der kulturellen Brigadearbeit Kunstdiskussionen und Patenschaftsbeziehungen mit Künstlern ausmachen. 16 Überhaupt kam es kaum noch zur Finanzierung von Aufträgen außerhalb der Investitionsmittel. Eine Ausnahme stellt hier der VEB Carl Zeiss Jena dar, der sich verstärkt erst seit Mitte der 70er Jahre im Auftragswesen engagierte, 17 was ebenso als Beleg für die Kopplung an die wirtschaftliche Entwicklung zu lesen ist. Zu konstatieren ist, dass die bildende Kunst oft als Stiefkind innerhalb des kulturellen Engagements der Betriebe behandelt wurde, was verschiedene Ursachen hatte. Einerseits spielten die persönlichen Interessen der Betriebsleitungen, die sich zumeist aber lieber im Sport einbrachten, eine wesentliche Rolle. Andererseits fehlten einfach die finanziellen Mittel, da Gelder der Kultur- und Sozialfonds nicht nur für Kantinen, Ferienheime sowie Kinder- und Gesundheitseinrichtungen aufgewendet werden mussten, sondern ebenso für Ankäufe aus den Kunstausstellungen, die als Schenkungen an die Museen zu übereignen waren. Dennoch befanden sich in fast jedem Kombinat und seinen Betriebsteilen Werke der Bildenden Kunst. Darunter ragten einige »Leuchttürme« hervor, d.h. Kombinate die in der Zeit ihres Bestehens in der DDR bereits eine »ausgeprägte Kunsttradition«18 entwickelt hatten. Dazu gehörten u.a. das Petrolchemische Kombinat in Schwedt, das Mansfeld Kombinat in Eisleben und die Maxhütte in Unterwellenborn.
16 Ebd., S. 344. 17 Siehe dazu die Akten im Carl-Zeiss-Archiv Jena, VA 5779 Katalog zum Kunstbesitz, VA 649 Kombinat 1965-1989, VA 1854 Kulturplan 1977, VA 3440 Kulturarbeit. 18 Vgl. Siebeneicker, Arnulf: »Auftrags-Werke. Bildende Kunst in den Großbetrieben der DDR«, in: Flacke, Monika (Hg.): Auftrag: Kunst 1949-1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 1995, Berlin 1995, S. 61.
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D IE A USSTELLUNG »A UFTRAG : K UNST . B ILDENDE K ÜNSTLER ZWISCHEN Ä STHETIK UND P OLITIK . 1949-1990« AUF DEN S PUREN DER K OMBINATE 19 Erste Schritte der Erfassung der Bestände der ehemaligen Kombinate wurde von einem Team des Deutschen Historischen Museums unter der Leitung von Monika Flacke unternommen. In Vorbereitung der 1995 in Berlin eröffneten Ausstellung Auftrag: Kunst. Zwischen Ästhetik und Politik. 1949-1990 finden sich in den zur Ausstellung archivierten Korrespondenzordnern bereits Ende 1992 erste Anschreiben an die Nachfolgeunternehmen20 von Arnulf Siebeneicker, der im Wesentlichen für dieses Sammelgebiet verantwortlich zeichnete. Ziel war es zunächst, einen Überblick über die gängige Praxis der Kombinate hinsichtlich der Vergabe und Abwicklung von Aufträgen an Künstler zu gewinnen. Darüber hinaus bat man auch um die Angabe bzw. Bereitstellung vorhandener Archivmaterialien sowie die Benennung von Zeitzeugen.21 Diese ersten Kontaktversuche seitens des Museums konnten mithilfe der Unterstützung der Treuhand verstärkt werden, indem Dr. Klaus Wild, Vorstand der Treuhand, einen Brief an die ehemalige Großbetriebe mit der Bitte formulierte, die vorhandenen Kunstbestände in den Betrieben zu inventarisieren und diese Inventarverzeichnisse dem Deutschen Historischen Museum zur Verfügung zu stellen, ggf. sogar zu übereignen: »Diese Institution sollte vor einer eventuellen Privatisierung des Unternehmens die Möglichkeit haben, einzelne aus Gesichtspunkten der Kunst oder der geschichtlichen Einbindung in die DDR besonders interessante Objekte zu erwerben und zusammen mit Objek-
19 Zu den Erfassungen des Deutschen Historischen Museums siehe auch: Anke Jenckel, Monika Flacke: »Die Geschichte der Kunstgegenstände unter treuhänderischer Verwaltung«, in: Kunst in der DDR, http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/education.php?pn=knowledge&id=1098, Zugriff: 17.12.2013. 20 DHM-Archiv, Akten zum Ausstellungsprojekt: Auftrag: Kunst. Bildende Künstler zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990, C18/22, Antwortbrief der Leuna-AG an das Deutsche Historische Museum v. 19.1.1993. 21 DHM-Archiv, Akten zum Ausstellungsprojekt: Auftrag: Kunst. Bildende Künstler zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990, C22, Anschreiben an das Werk für Fernsehelektronik GmbH Berlin v. 4.11.1992.
296 | T ANJA M ATTHES ten aus dem Bereich Sondervermögen unter solchen Umständen zu sichern, die für die Erhaltung dieser Gegenstände optimal sind.«22
Infolge erhielt das Deutsche Historische Museum Antworten von 21 Unternehmen mit den unterschiedlichsten Qualitäten an Zuarbeiten.23 Auch hier zeigte sich, welche Unternehmen sich ihre Kunstaffinität bewahren konnten. In einem Brief an die Treuhand vom 24. Mai 1993 schlägt Arnulf Siebeneicker vor, dass von drei Unternehmen – der Neptun Industrie Rostock, der Fortschritt Erntemaschinen GmbH sowie der Deutschen Seereederei Rostock – die Kunstgegenstände bei Verkauf ausgeklammert und in das Kunstdepot der Treuhandanstalt übernommen werden sollten.24 Dies ist meines Wissens jedoch nicht geschehen. Festzuhalten bleibt zweifellos, dass diese ersten Schritte der systematischen Erfassung der noch vorhandenen Bestände, aber eben auch die Sicherung von Archivalien und Wissen der Zeitzeugen zu diesem frühen Datum einen umfänglichen Wissensstand hinsichtlich dieses Zweiges der Auftragskunst fundiert hat. Erst nach und nach begannen auch die Besitzer selbst, sich wieder ihren Bilderschätzen zuzuwenden und eigene interne Dokumentationen (z.B. Herbert Schirmer für den Bestand des PCK Schwedt) bzw. Kataloge herauszugeben oder kleine Ausstellungen (z.B. Maxhütte Unterwellenborn, Buna Schkopau) zu gestalten. Dies belegt einmal mehr den differenten Umgangs mit diesem betrieblichen Erbe. Dafür lassen sich verschiedenste Einflussfaktoren herausstellen, die nun näher beleuchtet werden sollen.
22 DHM-Archiv, Akten zum Ausstellungsprojekt: Auftrag: Kunst. Bildende Künstler zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990, C18/C22, Anschreiben des Vorstandsmitgliedes Dr. Klaus Wild an Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer von Unternehmen der Treuhandanstalt mit über 500 Beschäftigten v. 1.3.1993. 23 DHM-Archiv, Akten zum Ausstellungsprojekt: Auftrag: Kunst. Bildende Künstler zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990, C18/C22, Antwortbrief von Arnulf Siebeneicker an Dr. Klaus Wild v. 24.5.1993. 24 Ebd.
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B ILDGESPENSTER ODER L EUCHTTÜRME ? A USGANGSSITUATION – E IGENTÜMER – P ERSONELLE V ERANTWORTUNG – B ESTAND Mit dem Fall der Mauer und der deutsch-deutschen Wiedervereinigung veränderte sich die Situation für die Betriebe in der DDR und nachfolgend auch für deren Kunstbesitz grundlegend. Alle zum Stichtag 1. Juli 1990 im Register der volkseigenen Wirtschaft (HRC) eingetragenen volkseigenen Betriebe und deren selbständigen Betriebsteile wurden zum Stichtag auf der Grundlage des Treuhandgesetzes in Kapitalgesellschaften (AG oder GmbH i. A. – im Aufbau) der Treuhandanstalt umgewandelt und als solche im Handelsregister eingetragen. Ziel der Treuhandanstalt war es, die Betriebe zu privatisieren, um daraus wirtschaftlich profitable Unternehmen zu machen und gleichzeitig so viel wie möglich Arbeitsplätze zu erhalten. So ging zumeist, zumindest offiziell, auch der Bestand an Bildern, Graphiken, Plastiken und kunstgewerblichen Gegenständen mit an die neuen Eigentümer. In dieser Phase der Unsicherheit, in der es galt marode Strukturen zu beseitigen und neue Arbeits- und Produktionsbedingungen zu schaffen, erfuhren die Kunstgegenstände verständlicherweise wenig Aufmerksamkeit. Im idealen Fall verblieben sie an ihren angestammten Standorten – im ungünstigsten Fall wurden sie als Müll entsorgt oder wechselten in das private Umfeld der (ehemaligen) Nutzer. An vielen Stätten war einfach unklar, wie mit diesem Bestand verfahren werden sollte und wo sich überhaupt Werke befinden. Letzteres ist umso bedeutsamer, da Betriebsteile sowie externe Standorte aufoder abgegeben wurden und auch die ehemaligen Sozialbauten (z.B. Poliklinik, Kindergarten) zumeist an die Kommunen fielen. So lassen sich beispielsweise die Bestände des VEB Kombinates Fortschritt Landmaschinen Neustadt und des 25 Stahl- und Walzwerkes Riesa nur noch archivalisch belegen. Diese Phase des Umbruchs (1) und deren konkreter Verlauf vor Ort sind daher als wegweisend für den weiteren Umgang mit den übernommenen Kunstgegenständen zu betrachten. Hinzu kommt in dieser Situation auch das vorhandene Bekenntnis der neuen Eigentümer (2), wie mit diesem Erbe umzugehen ist. Auch hierbei reicht die Spanne von Desinteresse und Vernachlässigung bis hin zu Förderung und Wei-
25 So finden sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv zahlreiche Dokumente und Listen Auftragswerken dieser beiden Kombinate. Siehe dazu: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, VEB Kombinat Fortschritt Landmaschinen Neustadt, 13638 sowie VEB Stahl- und Walzwerk Riesa, 11624.
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terentwicklung. Dabei ist jedoch anzumerken, dass sich dies auch im Laufe des Bestehens, jedoch nicht nur im Zusammenhang mit weiteren Besitzer- bzw. Zuständigkeitswechseln, für einzelne Bestände verändert hat. So hat sich an einigen Standorten erst im Laufe der letzten zwanzig Jahre eine Art unternehmensintrinsisches Motiv entwickelt, diese Werke als Teil der eigenen Geschichte zu begreifen, anzunehmen und dies positiv für die eigene Öffentlichkeitsarbeit einzusetzen. Von den 12 mit Verbleib von Kunstwerken dokumentierten Beständen (Tabelle 1) befinden sich drei Bestände im Besitz bzw. der Verwaltung der Länder, ein Bestand im Besitz eines Landkreises, ein Bestand im Besitz einer Bundeskörperschaft, ein Bestand ist Stiftungsbesitz sowie sechs Bestände im Besitz der Nachfolgeunternehmen. Wie bereits erläutert, ist im Falle der Nachfolgeunternehmen, bei denen es teilweise in den vergangenen 20 Jahren auch noch weitere Besitzerwechsel gegeben hat, vor allem auch das Bekenntnis zu diesem Erbe bedeutsam für den Umgang. Dabei ist die bloße Bereitschaft diese Werke als Teil der eigenen Firmengeschichte anzuerkennen und diese der Öffentlichkeit in bestimmten Rahmen zugänglich zu machen, allein nicht ausreichend. Vielmehr sind an den Wunsch zum Erhalt der Bestände eine Reihe nicht nur finanzieller Anforderungen geknüpft, um dies auch leisten zu können. So gilt es zunächst dieses Erbe sachgemäß und seinen Umfängen entsprechend zu lagern und auch zu verwalten in einer Produktionsumgebung, die zumeist für Kunstgegenstände nicht geeignet ist. Die Archive und Depots finden sich daher oft in Kellern oder stillgelegten Werkhallen, die so gut es geht den Bedürfnissen der Kunstwerke (z.B. Temperatur, Licht) angepasst sind. Die tatsächlich damit verbundenen Kosten der Bewahrung und Konservierung oder gar eventuell nötige Restaurationen sind dabei noch völlig ausgenommen, da dies im Unterschied zu den öffentlichen Körperschaften völlig freiwillig ist. Zumeist fallen derartige Ausgaben in die Budgets der Öffentlichkeitsarbeit, mit deren Hilfe es eigentlich gilt, die Produkte und das Image des Unternehmens zu stärken und weniger Kunst zu konservieren. Als besonders engagiert kann hier die BGH Edelstahl GmbH in Freital angeführt werden, die nicht nur frühzeitig ihre Bestände geordnet und teilweise auch restaurieren lassen hat, sondern diese auch gegenwärtig noch im Verwaltungsgebäude zeigt, d.h. weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich macht (Abbildung 4).
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Tabelle 1: Erfasste Bestände des Bildatlas-Projektes Besitzer
Standort
Kombinat
Arcelor Mittal Eisenhüttenstadt GmbH
Unternehmensarchiv Eisenhüttenstadt
VEB Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) Eisenhüttenstadt
BGH Edelstahl Freital GmbH DOW Olefinverbund GmbH
Unternehmensarchiv Freital Unternehmensarchiv Schkopau
PCK Raffinerie GmbH
Unternehmensarchiv Schwedt
VEB Edelstahlwerk »8. Mai« Freital VEB Kombinat Chemische Werke »Walter Ulbricht« VEB Petrolchemisches Kombinat (PCK) Schwedt/Oder
Jenoptik AG/Carl-ZeissArchiv Vattenfall AG
Verschiedene Standorte in Jena Unternehmensarchiv Cottbus
VEB Kombinat Carl Zeiss Jena VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe
Unternehmensarchiv Chemnitz
SDAG Wismut
Sachsen-Anhalt
Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, Halle
Sachsen-Anhalt
Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, Halle Stahlwerk Thüringen GmbH Unterwellenborn (Verwalter)
VEB Kombinat Chemische Werke »Walter Ulbricht« Leuna VEB Chemiekombinat Bitterfeld VEB Bergbau- und Hüttenkombinat Maxhütte Unterwellenborn
Nachfolgeunternehmen
Bund Bundeseigene Wismut GmbH Bundesland
Thüringen
Landkreis Landkreis MansfeldSüdharz
Depot Sangerhausen
VEB Mansfeld Kombinat »Wilhelm Pieck« Lutherstadt Eisleben
Depot Rostock
VEB Deutsche Seereederei Rostock und Kombinat Seeverkehr und Hafenwirtschaft Rostock
Stiftung Stiftung Kunstsammlung der Deutschen Seereederei Rostock GmbH
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Abbildung 4: Besprechungsraum der BGH Edelstahl GmbH Freital
Quelle: Foto © Tanja Matthes
Bereits mehrfach ist auf die zentrale Bedeutung von einzelnen Personen (3) für die Kunstbestände der ehemaligen Großbetriebe hingewiesen wurden. Diese mit den Kunstbeständen schon seit Jahrzehenten ver- und betrauten Personen verfügen nicht nur über das entsprechende Wissen hinsichtlich der Genese, sondern hielten die Bestände auch in der Phase der Neuorientierung zusammen und machen sich auch danach weiterhin für diese stark. So berichtet Arnulf Siebeneicker bereits 1993 in seinem Brief an die Treuhand, dass die Erfassung besonders in den Fällen schwierig ist, in denen die ehemaligen »Kulturfunktionäre« nicht mehr im Betrieb sind.26 Lange persönliche Verbundenheiten, auch über die betriebliche Zugehörigkeit hinaus, lassen sich unter anderen für die Bestände des PCK Schwedt, Buna Schkopau oder das Mansfeld-Kombinat dokumentieren. Dies belegen auch die in den 90er Jahren entstandenen eigene Dokumentationen
26 DHM-Archiv, Akten zum Ausstellungsprojekt: Auftrag: Kunst. Bildende Künstler zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990, C18/C22, Antwortbrief von Arnulf Siebeneicker an Dr. Klaus Wild v. 24.5.1993.
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und Texte zu den Kunstbeständen.27 Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Bestand der Maxhütte Unterwellenborn28, der vom Galeristenpaar Marget und Edwin Kratschmer aufgebaut wurde und deren Tochter als Leiterin der Saale-Galerie diese Werke gegenwärtig betreut. Mittlerweile arbeitet auch die dritte Generation an diesem Thema - Lynn Kroneck, die Enkeltochter der ehemaligen Galeristen wird ihre Promotion zum Bestand der Maxhütte in Kürze abschließen. Abbildung 5: Lutz R. Ketscher, Dreieck, 100 x 150 cm, 1988, Acryl/Öl auf Leinwand, Besitz unbekannt (Dieses Bild zeigt das Galeristenpaar Kratschmer).
Quelle: DHM-Archiv
Darüber hinaus haben sich aber auch Personen für diese Werke engagiert, die nicht aus den Betrieben und Kombinaten heraus damit verbunden waren, sondern sprichwörtlich wie die »Jungfrau zum Kinde« kamen. Als ein Beispiel ist hier Heike Hager vom Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt zu nennen. So sind die hier im Landesbesitz befindlichen und verwalteten Sammlungen Bitterfeld und Leuna in einem exzellenten dokumentierten Zustand, der so eben auch
27 Siehe hierzu u.a. die Beiträge von Jochen Ehmke, Claus-Jürgen Kämmerer und HansGeorg Sehrt zu den Kunstbeständen der Chemischen Kombinate in: Merseburger Beiträge zur Geschichte der chemischen Industrie Mitteldeutschlands, hgg. v. Sachzeugen der chemischen Industrie e.V., Heft 1/2008. 28 Kratschmer-Kroneck, Maren: Kunstsammlung Maxhütte seit 1945. Dokumentation und Werkverzeichnis, 2004.
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für eine interessierte Öffentlichkeit nutzbar wird. Dabei ist jedoch anzumerken, dass mit der Übernahme der Bestände in den Besitz der Länder oder Kommunen die Pflichten zur Bewahrung und Dokumentation ein stärkeres öffentliches Gewicht als in den Nachfolgeunternehmen bekamen. Neben diesen bestands- und entwicklungsbedingten Faktoren bzw. Rahmenbedingungen der Aufbewahrung beeinflussen ebenso externe inhaltliche Faktoren (4) den Umgang mit diesen Kunstwerken. So haftet der Kunst aus den Kombinaten noch immer das Label der Auftragskunst an, welches oft mit einer subjektiven Entwertung des Bildes einhergeht.29 Die Schwierigkeit liegt hier auch in der Quantität der Bilder, die unüberschaubar und voller Arbeitsmotive scheinen. Beschäftigt man sich jedoch intensiver mit den einzelnen Beständen, wird man nicht nur den einen oder anderen Schatz entdecken, sondern auch die Entwicklungen der Bildinhalte und deren künstlerischer Umsetzung über die verschiedenen Jahrzehnte erkennen. Darüber hinaus ist auch ein Blick auf die verschiedenen Künstlergenerationen (von Aufbruch zur Resignation) und deren Prämissen möglich, sodass auch hier wesentliche Anreize für ein breiteres Verständnis der Kunst aus der DDR verborgen liegen. Trotz dieser Ansatzmöglichkeiten lässt sich jedoch nicht verleugnen, dass die Qualität der Bilder nicht nur innerhalb der Bestände schwankt, sondern auch untereinander in Abhängigkeit zur jeweiligen Nähe oder Ferne der damaligen Zentren der Malerei Leipzig, Dresden, Berlin oder Halle verschieden ist. Diese vier zentralen Faktoren Ausgangssituation – Eigentümer – Personelle Verantwortung – Bestand bestimmen im Wesentlichen das, was die Öffentlichkeit von diesen Beständen gegenwärtig wahrnehmen kann, wobei jedoch anzumerken ist, dass die Position des Eigentümers und der damit verbundenen oder nicht verbundenen öffentlichen Pflichten das Schwergewicht bildet. In der Zusammenschau der 14 bearbeiteten Bestände kann der Umgang mit diesem Erbe nur als different beschrieben werden, reicht er doch vom »Bewussten Verbergen« der betriebseigenen Werke bis hin zur Rückführung der Sammlung ins Licht der Öffentlichkeit. Die Spanne der Aktivitäten dazwischen ist sehr breit und umfasst die einfachste Erfassung und Dokumentation der Bestände innerhalb der Archive, das Verfassen von Bestandsgeschichten, die Bebilderung
29 Vgl. dazu auch die umfassende Dokumentation in Kaiser, Paul/Rehberg, KarlSiegbert (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin 2013.
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der Standorte, eigene kleinen Ausstellungen und Leihgebertätigkeiten bis hin zum Versuch, ein eigenes Gebäude für Ausstellungen zu finden.30 So macht gerade das letztgenannte Beispiel des Bestandes der ehemaligen SDAG Wismut Mut, sich weiter auch für die Bestände der ehemaligen Großbetriebe und Kombinate einzusetzen und diese Bildgespenster heraus zu lassen. Die Besucherzahlen und die gute Resonanz auf das Begleitprogramm31 zur gegenwärtig in der Neuen Sächsischen Galerie Chemnitz gezeigten Ausstellung Schicht im Schacht belegen einmal mehr, wie präsent diese Werke noch im öffentlichen Gedächtnis sind. Dies ist einerseits auf die stets weitergeführte Diskussion um den Wert bzw. den Kunstgehalt dieser Bilder zurückzuführen, aber andererseits ebenso auf die lange Koexistenz dieser Werke mit dem Publikum an dessen zentralen Lebensorten. Die Stärken einer intensiveren Beschäftigung mit diesen Beständen liegen meiner Meinung nach dabei nicht nur in der Möglichkeit der »Bebilderung der Geschichte der DDR«32 und deren kunstgeschichtlichen Wert, sondern vor allem in deren regionalen Bezugspunkten. So steht die Sammlung der Wismut für eine Montanregion, die es so gegenwärtig nicht mehr gibt, den in ihr aber noch lebenden Menschen mit ihrer Motivik und Symbolik jedoch noch immer Identifikationspunkte liefert. Ähnliches wäre nun auch für andere ehemalige Produktionszentren denkbar und könnte so gerade gegenwärtig problematische Regionen neu beleben. Trotz des großzügigen Rückbaus sind in Eisenhüttenstadt die Spuren der geplanten sozialistischen Stadt, in der die Kunst eine wesentliche Rolle in allen Lebensbereichen spielen sollte, noch immer gut sicht- und erlebbar. So könnte in der Vernetzung der Bestände des Großraumes Eisenhüttenstadt (Bestand der Städtischen Galerie Eisenhüttenstadt, der Arcelor Mittal GmbH Eisenhüttenstadt und des Kunstarchiv Beeskow), verbunden mit einer engen Kooperation der jeweiligen Träger auch die Chance liegen, nicht nur den dort lebenden Menschen ihnen bekannte Werke kurzzeitig zurück zu geben, sondern darüber hinaus auch für die Region selbst zu wirken und so ein Stück weit die Vielzahl an Bildgespenstern aus der Dunkelheit holen.
30 Siehe dazu die Diskussion im Frühjahr 2011 um die Einrichtung eines eigenen Ausstellungsteils für die Bestände der Wismut GmbH im Rahmen der Neueinrichtung des Hauses der Geschichte in Chemnitz. 31 Dank an Annette Müller-Spreitz für diese Auskünfte. 32 Gemeint ist hier, dass sich bestimmte Entwicklungen und neue Doktrin auch an der Entwicklung der Bestände und den Werken ablesen lassen.
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L ITERATUR Bonnke, Manuela: Kunst in Produktion. Bildenden Kunst und volkseigene Wirtschaft in der SBZ/DDR, Köln/Weimar/Wien 2007 [Dresdner Historische Studien]. Ehmke, Jochen: » ›Was Kunst ist, bestimmen wir!‹ Vom Beginn sozialistischen Mäzenatentums im Chemiedreieck Leuna-Schkopau-Bitterfeld«, in: Merseburger Beiträge zur Geschichte der chemischen Industrie Mitteldeutschlands, hgg. v. Sachzeugen der chemischen Industrie e.V., Heft 1/2008, S. 28-89. Kämmerer, Claus-Jürgen: »Die Chemie in der Bildenden Kunst«, in: Merseburger Beiträge zur Geschichte der chemischen Industrie Mitteldeutschlands, hgg. v. Sachzeugen der chemischen Industrie e.V., Heft 1/2008, S. 9-27. Kaiser, Paul/ Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin 2013. Kratschmer-Kroneck, Maren: Kunstsammlung Maxhütte seit 1945. Dokumentation und Werkverzeichnis, 2004. Kroneck, Maren: Max und die Kunst. Die Maxhütte in Malerei und Grafik 19451989, Gera 1989. Mosch, Christa: »Die Kunstpolitik des FDGB zwischen Kunstförderung und sozialer Verantwortung. Ein Erfahrungsbericht«, in: Flacke, Monika (Hg.): Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin 1994, S. 106-119. Sehrt, Hans-Georg: »Malerei aus der Sammlung der Leuna-Werke«, in: Merseburger Beiträge zur Geschichte der chemischen Industrie Mitteldeutschlands, hgg. v. Sachzeugen der chemischen Industrie e.V., Heft 1/2008, S. 90-100. Siebeneicker, Arnulf: »Auftrags-Werke. Bildende Kunst in den Großbetrieben der DDR«, in: Flacke, Monika (Hrsg.): Auftrag: Kunst 1949-1990. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 1995, Berlin 1995, S. 61-77. Siebeneicker, Arnulf: »Kulturarbeit in der Provinz. Entstehung und Rezeption bildender Kunst im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt 1960-1990«, in: Historische Anthropologie (1997), Kultur. Gesellschaft. Alltag, S. 435453.
Fließendes Archiv – Beeskow, die Oder und die Archenauts U RSULA M. L ÜCKE
Im Zeitraum vom 6.10.-11.10.2013 fand unter dem Titel Modernity, Socialism, and the Visual Arts. A six-day ship conference eine sechstägige Schiffskonferenz statt. Sie wurde organisiert vom Kunstarchiv Beeskow und der Universität Utrecht in Zusammenarbeit mit Marlene Heidel, Ursula Lücke, Joes Segal und Claudia Jansen. Mit der MS Gretha van Holland machten sich 24 internationale KünstlerInnen, KuratorInnen und WissenschaftlerInnen1 und Gäste auf den Weg, um mit dem Schiff von Berlin (Berliner Spree) über Fürstenwalde/Beeskow und Eisenhüttenstadt (Spree-Oder-Wasserstraße) nach Frankfurt/Subice (Oder/Odra) bis Gorzów (Warta) zu gelangen und über Kostrzyn (Odra), Niederfinow/Eberswalde (Havel-Oder-Wasserstraße) und Oranienburg (Havel) wieder nach Berlin zurückzukehren. Es war eine Reiseerfahrung in einer ganz besonderen Region und der besonderen Art: Während der Fahrt durch verschiedene historische Grenzlandschaften setzten sich die TeilnehmerInnen mit grundlegenden Fragen zu Begriffen wie Moderne und Sozialistischer Realismus sowie mit der Relation dieser Begriffe und der damit verbundenen Konzepte auseinander.
1
Aus: Deutschland (Berlin, Beeskow, Leipzig, Bremen, Lüneburg, Eisenhüttenstadt, Potsdam, Düsseldorf, Hamburg), Spanien (Barcelona), England (London, Sheffield), Holland (Utrecht), Österreich (Linz, Wien), Polen (Subice, Gorzów), USA (Ames/Iowa, Irvine/Kalifornien, Fort Lauderdale/Florida), Kanada (Halifax), Australien (Melbourne), Ungarn (Budapest), Litauen (Vilnius).
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Abbildung 1: Plakat zur Schiffskonferenz »Modernity, Socialism, and the Visual Arts. A six-day ship conference« vom 6.10.-11.10.2013
Quelle: © Steffanie Ippendorf und Forum Kunstarchiv Beeskow e.V.
Es wurden Aspekte der Kulturgeschichte des Kalten Krieges erörtert, die mit dem bloßen Fokus auf eine bipolare Teilung in westliche Moderne und Sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung übersehen wurden und werden. Für eine Neuinterpretation sind Archive und Museen besonders bedeutsam. Aber auch die Strukturiertheit der Wasserwege kann als Archivlandschaft gedeutet werden. Angelaufen wurden auf dieser Reise Archive und Institutionen, die mit der Kultur- und Kunstgeschichte des Kalten Krieges in Verbindung stehen: die Akade-
F LIESSENDES A RCHIV
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mie der Künste, Berlin; das Kunstarchiv Beeskow; das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR und die Planstadt aus den 1950ern in Eisenhüttenstadt sowie das Lichtspieltheater der Jugend in Frankfurt/Oder. Geplant war weiterhin ein Besuch des Muzeum Lubuskie in Gorzów – doch die stark schwankenden Wasserstände von Oder und Warthe mit zeitweise weniger als einer Handbreit Wasser unter dem Kiel ließen innerhalb der Zeitplanung ein schnelles Anlaufen von Gorzów nicht zu. Die strukturellen Besonderheiten dieser Region mit ihren die großstädtischen Normen konterkarierenden Momenten wurden erfahrbar. Als ehemals verbundene Stadt, die nach 1945 in eine polnische und deutsche Seite geteilt wurde, veranschaulichen Subice/Odra und Frankfurt/Oder die besondere Situation der Oderregion in und nach dem Kalten Krieg. Während der Oderfahrt mit dem Schiff fuhren wir unentwegt auf der polnisch-deutschen Grenze, die entlang der tiefsten Stelle, dem sogenannten Talweg oder Scheitelpunkt, verlaufen soll.2 Allerdings mäandriert dieser durch Strömungen und Hoch- oder Niedrigwasser hin und her, so dass sich eine ständig wandelnde Fahrrinne ergibt.3 Von daher überquerten wir nicht nur andauernd nationale Grenzen, sondern auch disziplinäre sowie zeitliche. Dabei erfuhren wir parallele und divergente europäische Geschichte, was Räume für tiefgründige Diskussionen eröffnete. Aufgrund der sich seit der letzten Vermessung Ende der 1970er Jahre veränderten Ufer und Flussverläufe des deutschen Anteils von Oder und Neiße, die ca. 250 Kilometer4 umfassen, fordert nun ein deutsches Bundesgesetz die Neuvermessung der Grenze im Jahr 2014, um zu einer neuen Einigung des Verlaufes zu gelangen.5
2
Vgl. o.V.: »Deutsch-polnische Grenze – jeder Zentimeter zählt«, in: Berliner Morgenpost, 03.08.2012, http://www.morgenpost.de/brandenburg-aktuell/article108471408/Deutsch-polnische-Grenze-jeder-Zentimeter-zaehlt.html, Zugriff: 31.10.2013.
3
Vgl. Kotterba, Jörg: »Wo eigentlich hört Deutschland auf?«, in: Märkische Oderzeitung, 06.08.2011, www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/821166, Zugriff: 31.10.2013; vgl. auch: Wasser- und Schifffahrtsamt Eberswalde: http://www.wsa-eberswalde.de/wir_ueber_uns/unser_amt/innerer_aufbau/abz_frankfurt/3_kennzeichnung_fahrrinne/index.html, Zugriff: 10.01.2014.
4
Vgl. o.V.: »Deutsch-polnische Grenze«, in: Berliner Morgenpost, 03.08.2012, http://www.morgenpost.de/brandenburg-aktuell/article108471408/-Deutschpolnische-Grenze-jeder-Zentimeter-zaehlt.html, Zugriff: 31.10.2013.
5
Vgl. Riemann, Andreas: »Die Oder-Neiße-Grenze – Eine Chronik«, in: Deutschlandfunk, 02.05.2013, http://europa.deutschlandfunk.de/2013/05/02/die-oder-neise-grenzeeine-chronik/3/, Zugriff: 31.10.2013.
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Die Schiffsreise als besonderes Vermittlungsformat der Konferenz ist Teil des Projektes Archenauts, das von Marlene Heidel und mir initiiert wurde. Diesem liegt die Idee eines Archivschiffes zugrunde, das in der Funktion als Ausstellungs-, Kultur-, und Forschungsschiff europäische wie außereuropäische Wasserstraßen bereisen soll. Arche ist Schiff, Gebäude und Archiv in einem, Nautik versucht, eine Orientierung und kontrollierte Steuerung in bekannte und unbekannte Gebiete zu erreichen – das können Gewässer, das Weltall oder auch gedankliche Areale sein. Aus der Kombination von Arche und Nautik wurde der Projektname gebildet, der auch auf das Anarchenautische – die Unmöglichkeit einer durchkontrollierten Steuerung und Situationen außerhalb der Lenkung – verweist. Die Konferenz Modernity, Socialism, and the Visual Arts6 fand im Rahmen der Sommerschule vom Kunstarchiv Beeskow statt. Initiatorin der Sommerschule ist die Kulturwissenschaftlerin Marlene Heidel. Das Konzept ist inspiriert von den Ideen Juri M. Lotmans, der den Rändern, den Peripherien aufgrund ihrer Bewegtheit und Unabgeschlossenheit Aufmerksamkeit zukommen ließ. Auf der ersten Sommerschule im Jahre 2010 wurde der ausgewählte Entwurf der Architektin Maike Schrader vom Büro Max Dudler zum Bau des Neuen Kunstarchivs Beeskow präsentiert. Doch die notwendigen EU-Gelder wurden nicht bewilligt. Die Werke des Archivs befinden sich weiterhin in einem Zustand, den Heidel treffend mit Bilderstau bezeichnet. An dieser Feststellung anknüpfend haben Heidel und ich uns die Frage gestellt, wie dieser Stau in Bewegung gebracht werden könnte. Ist es möglich, das Kunstarchiv Beeskow in den Fluss zu bringen? Nehmen wir Archiv nicht nur wörtlich, sondern auch bildlich und binden es an seinen Ursprung, d.h die fließende Bewegung, zurück – entwickeln und bauen wir ein spezifisches multifunktionales Schiff: ein fließendes Archiv mit dem Namen Archenauts.
6
Die Konferenz wurde unterstützt und gefördert von: Kulturförderung Landkreis OderSpree; Sparkasse Oder-Spree; Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung; Raiffeisen-Volksbank Oder-Spree eG; Forum Kunstarchiv Beeskow e.V.; Burg Beeskow, Bildungs-, Kultur- & Musikschulzentrum des Landkreises Oder-Spree; Akademie der Künste, Berlin; Städtisches Museum Eisenhüttenstadt; Muzeum Lubuskie, Gorzów Wlkp.
F LIESSENDES A RCHIV
A RCHE
UND
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A RCHIV
In dieser Untersuchung wird die Verbildlichung der schwimmenden Behausung in den Blick genommen. Der Grundgedanke eines schwimmenden Archivs ist nicht neu. Schon in der Bibel versteht sich die Arche Noah als schwimmfähiger Kasten. Noah wird von Gott beauftragt, ausgewähltes irdisches Material zu verwahren und für einen Neuanfang quasi als lebendige Biokonserve zu archivieren. Das betrifft allerdings nur die Landlebewesen, während die dem Wasser verbundenen Lebensformen diese Art der Archivierung nicht benötigen, wie beispielsweise Meerfrauen und andere Wasserwesen veranschaulichen.7 Auch im Gilgameschepos taucht eine Arche auf, die allerdings als riesiger Würfel von 60 Metern Kantenlänge verstanden wurde.8 Die Idee der Arche wurde immer wieder aufgegriffen. So entstand 2012 aus 1200 Bäumen ein zeitgenössischer Holznachbau der Arche in halber biblischer Größe (70 x 9,6 x 12,7 m; Johan Huibers, Niederlande 2012). Abbildung 2: Arche-Nachbau von Johan im Hafen von Schagen
Quelle: File:ArkVanJohan.jpg, © Ceinturion from nl, Wikimedia CreativeCommonsLizenz: cc by-sa-3.0
7
Vgl. Lücke, Ursula: Wasserweib und Wissenschaft. Zum Auf- und Abtauchen der Meerfrau in Naturwissenschaft und Kunst, unv. Magisterarbeit, Universität Lüneburg 2000, S. 80f.
8
Vgl. Maul, Stefan M.: Das Gilgamesch-Epos – Neu übersetzt und kommentiert, München 2006, Anmerkung 58-59, S. 186; in: de.Wikipedia.org: Arche Noah, 26.08.2013, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arche_Noah&oldid=121906278#cite_note1.
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Dieser Nachbau schwimmt allerdings nicht direkt mit seinem Holzkörper im Wasser – er wird von einem Leichter getragen.9 Ein Leichter, auch Schute, Ever, Prahm oder Barge genannt, ist ein Schiff ohne eigenen Antrieb. Als Arbeitsschiffe sind sie auf der ganzen Welt verbreitet. In dem Archenauts-Projekt sollen sie die schwimmende Basis bilden. Abbildung 3: Wasserstraßen, mit denen Beeskow in Verbindung steht
Quelle: © Ursula Lücke 2013
Der Ort Beeskow – und damit auch das Kunstarchiv – liegt an der OberenSpree-Wasserstraße. Damit steht Beeskow über Wasserwege prinzipiell mit allen Flüssen und Meeren in Verbindung, wenn Wassertiefen und Brückenhöhen berücksichtigt werden. Das heißt: Möglich wäre eine Rundreise von Beeskow über den Mittelland-Kanal nach Duisburg, über den Rhein nach Köln, über den Main-
9
Vgl. Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung, Weinbau und Forsten: http://www.wegezumholz.de/index.php?id=46&user_timbertreasures_pi1%5-BshowUid%5D=8197&cHash=680651f30832c52b8384e6de0110dc42, Zugriff: 17.09.2013; vgl. auch: de.Wikipedia.org: Arche Noah, 26.08.2013, Die Arche kütt!, promedienmagazin.de, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arche_Noah&oldid=121906278#cite_note24, Artikel vom 08.06.2011; vgl. auch: de.Wikipedia.org: Arche Noah, 26.08.2013, Die Arche Noah, www.diearchenoah.com, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arche_Noah&oldid=121906278#cite_note-25.
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| 311
Donau-Kanal zur Donau und zu den Städten Linz, Budapest und Beograd/Belgrad. über das Schwarze Meer nach Odessa oder Batumi, über den Dnepr nach Kyjiw/Kiew, über Pripyat, Bug und Wisa/Weichsel nach Warszawa/Warschau und über Note/Netze, Warta/Warthe und Odra/Oder wieder zurück nach Beeskow.
W IE
WOLLEN WIR
DAS
A RCHENAUTS -P ROJEKT
REALISIEREN ?
Aus den Beständen des Beeskower Archivs ist 2012 in der Berliner Kunststiftung Poll die Ausstellung RoleModels von Claudia Jansen kuratiert worden. Nach der Ausstellungseröffnung beschlossen Heidel, Jansen und ich zur Realisierung des Archnauts-Projekts den ersten Schritt zu wagen. Die nächste Sommerschule 2013 war bereits in Kooperation mit Joes Segal geplant und sollte sich, geprägt von Segals Arbeiten, mit Modernität, Sozialismus und Kunst – also mit der Kunst- und Kulturgeschichte des Kalten Krieges – auseinandersetzen. Aus der Kombination der inhaltlich-thematischen Ausrichtung mit dem Schiffsformat wurde das Konzept dieser Schiffskonferenz entwickelt. Angepeilt war, die parallel verlaufenden europäischen Geschichtsschreibungen und Entwicklungen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu queren. Das sollte sowohl innerhalb wie außerhalb des Schiffes stattfinden, also in Bewegung und in relativer Ruhe. Eine Erfahrung dieser spezifischen Archiv-Landschaft wurde so auf unterschiedliche Weise konkret. Die Suche nach einem passenden Schiff wurde meine Aufgabe. Ich telefonierte mit allerhand Reedereien, die Flusskreuzfahrten im Gebiet der Oder und Umgebung anboten. Doch es war nichts zu machen. Es wurde deutlich, dass der von uns anvisierte Mittellauf der Oder zwischen der Spree-Oder-Wasserstraße und der Havel-Oder-Wasserstraße ein sehr spezielles Fahrwasser ist. Keine Reederei bot im Mittellauf ein Fahrgastschiff mit Übernachtungsmöglichkeit an. Warum ist das so? Meine Vermutung war, dass es dem Oderraum ähnlich ergeht wie der Peripherie um Berlin – das Zentrum zieht alles an sich und der Rand darf verwalten, solange das zu Verwaltende für das Zentrum nicht interessant ist. Doch die Oder scheint in besonderem Maße grenzwertig zu sein.
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Abbildung 4: Reiseweg der Schiffskonferenz von Berlin bis Gorzów mit Anlegestellen
Quelle: © Ursula Lücke 2013
P OLITIK
UND
W ASSERBAU
Mitte 2012 wurde vom deutschen Bundesverkehrsministerium eine Neukategorisierung der Bundeswasserstraßen vorgeschlagen, in der die Wasserstraßen Ostdeutschlands herabgestuft werden sollen.10 Die Folge wäre, dass diese nicht mehr ausgebaut und Investitionen gestoppt würden.11 Dies betrifft die SpreeOder-Wasserstraße, die die Schiffskonferenzgesellschaft zwischen Berliner Spree und Oder genutzt hat, wie auch die geplante Verlängerung der Schleuse Fürstenwalde/Spree, die ebenfalls passiert wurde. Erstmals kritisierten alle 15 ostdeutschen Industrie- und Handelskammern gemeinsam und auf das Schärfste
10 Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: »Ramsauer stellt Konzept
für
Neuordnung
der
Wasser-
und
Schifffahrtsverwaltung
vor«,
http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2012/133-ramsauer-wsvreform.html, Zugriff: 16.09.2013. 11 Vgl. Wendt, Andreas: »Wirtschaft will Schleuse kaufen«, Märkische Oderzeitung, 04.09.2013, http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1195182, Zugriff: 16.09.2013.
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die Trockenlegung der ostdeutschen Wasserstraßen, die damit vom Wasserverkehrsnetz abgekoppelt werden würde, zumindest was die Großschifffahrt betrifft.12 Infolge dieser Politik bliebe der Schiffsverkehr weiterhin auf den Rhein und die Wasserstraßen im (Süd-)Westen Deutschlands konzentriert. Doch die Oder nimmt sogar innerhalb der ostdeutschen Wasserstraßen eine Sonderrolle ein.
I DEOLOGISCHE A USBLENDUNG
DER
O DER
Ute Hengelhaupt stellt 2007 fest, dass nach 1945 bis in die Gegenwart hinein ein ideologisches Ausblenden der Oder aus dem deutschen kulturellen Gedächtnis stattfinde. Parallel dazu sei eine unvollkommene Integration der Oder ins polnische kulturelle Bewusstsein nachweisbar. Hengelhaupt schreibt dazu: »Mit Konsequenz hat man […] entlang der neuen Grenze von Oder und Neiße nach Ende des Zweiten Weltkrieges versucht, die materiellen Zeugnisse einer Geschichte auszulöschen, die man nicht als die eigene empfand oder empfinden wollte. Die nach wie vor zahlreichen Ruinen in Städten, Dörfern und Landschaft, die ungestalteten Brachflächen in vielen Orten ohne Mitte, der lieblose Umgang mit vielen geplünderten Bauten, die überall spürbaren Verluste kultureller und historischer Substanz untermauern den Eindruck, als sei uns hier etwas Grundlegendes verloren gegangen. So deutlich wie in den Landschaften beiderseits der Oder habe ich das eigentlich noch nicht erlebt.«13
Auffällig werde die gespaltene Sichtweise nach Karl Schlögel auch in der gesamten Literatur zur Oder, die in zwei Teile zerfalle: vor 1945 sei sie im Wesentlichen deutschsprachig, nach 1945 polnisch.14 Auch archäologische Kartierungen
12 Elbe und Saale und der Korridor Wolfsburg-Berlin-Stettin, vgl. IHK Ostbrandenburg: »IHKS:
Bund
entwertet
Milliardeninvestitionen«,
http://www.ihk-ostbranden-
burg.de/html/17922-IHKs_Bund_entwertet_Milliarden-Investitionen_28.06.2012/rstop/1, Zugriff: 30.10.2013; vgl. auch: Götze-Rohen, Axel: »IHKn BrandenburgBerlin kritisieren Ramsauer«, http://www.bonapart.de/no_cache/nachrichten/beitrag/ihkn-branden-burg-berlin-kritisieren-ramsauer.html, Zugriff: 16.09.2013. 13 Hengelhaupt, Uta: »Kulturerbe und Identität an der mittleren und unteren Oder«, in: Schlögel Karl/Halicke Beata (Hg.): Oder-Odra. Blicke auf einen europäischen Strom, Frankfurt/Main 2007, S. 161f. 14 Bis auf wenige Ausnahmen: DDR Bildbände, Propagandamaterial: Bezirksleitung Frankfurt/Oder der SED (Hg.): Land am Strom der Freundschaft, Fr./O. 1970; Antho-
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behandeln nach Eike Gringmuth-Dallmer den Oderraum grenzseitig. Man bekommt die jeweils polnische oder deutschseitige Karte über zusammenhängende Fundplätze als separate Karten und muss sie selber kombinieren, um ein vollständiges Bild zu erhalten.15 Geomorphologisch betrachtet ist die Oder ein 860 km langer Fluss, der auf der heutigen politischen Karte in Tschechien entspringt, durch Polen fließt und in das Stettiner Haff mündet. Die Oder ist ein typischer Tieflandstrom, da über drei Viertel (77 %) seiner Länge im Flachland verläuft.16 Die Kennzeichen der natürlichen, nicht oder wenig regulierten Oder sind: 1. Unregelmäßige Wasserführung und geringes Gefälle im Mittellauf, was die Verkehrstauglichkeit erheblich einschränkt. Erst nach der Warta/Warthe und dem Rückstau aus dem Stettiner Haff ist der Wasserstand für die Schifffahrt unproblematisch. 2. Das Oderbett ist nicht festliegend, da es keine natürlichen festen Ufer gibt. Die Oder ändert dabei ständig ihren Lauf, geht in die Breite und ist damit oft unschiffbar.17 Aufgrund schwankender Wasserführung war und ist der Fluss zeitweise an vielen Stellen leicht zu überqueren (Stettin, Frankfurt, Breslau). Eine Grenzfunktion besaß die Oder geomorphologisch betrachtet nur in Teilabschnitten, im Gesamtverlauf aber stellte sie i.d.R. keine Trennung von Siedlungs- und Kulturgebieten dar.18 Der wasserbautechnische Ausbau der Oder zur Schifffahrtstrasse erfolgt seit über 500 Jahren. Im Zuge des Industriekapitalismus der zweiten Hälfte des
logien zur Oder von Heimatvertriebenen in westdeutschen Verlagen, vgl. Schlögel, Karl: »Die Oder – Überlegungen zur Kulturgeschichte eines europäischen Stromes«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 21-45, hier: S 24. 15 Z.B. Bronzezeitkarte Bohm (1935) + Eggers (1965), vgl. Gringmuth-Dallmer, Eike: »Die Oder in ur- und frühgeschichtlicher Zeit – Leitlinie für Siedlung und Kultureinflüsse?«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 123. 16 Im Unterschied zum Rhein mit gut einem Drittel (37%) Flachlandanteil, vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 30. 17 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 32. 18 Vgl. Gringmuth-Dallmer, Eike: »Die Oder in ur- und frühgeschichtlicher Zeit«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 131.
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19. Jahrhunderts wurde im schnellen Tempo aus dem Natur- ein Kulturstrom.19 Fällt die permanente Instandhaltung aus, geht der Fluss in seinen alten Zustand zurück. Dieser Vorgang geschieht insbesondere seit 1945. Die ideologische Grenzziehung und Nationalisierung der Oder und des Oderraumes erfolgte nach Schlögel erst im 20. Jahrhundert, zunächst durch den deutschen Nationalismus. Die deutschen Nationalsozialisten propagierten die Oder zum ersten Mal als Grenze und als deutschen Strom. Auf den sogenannten Odertagen wurden Städte wie Stettin und Frankfurt (1938) als Ausfalltore und Vorburgen inszeniert.20 Das stelle eine radikal neue Sichtweise auf den Oderraum dar, der davor weder als politische noch kulturelle Grenze gedeutet wurde, so Schlögel.21 Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes haben die Alliierten auf den Konferenzen in Teheran (1943) und Jalta (1945) die Oder-NeißeVerbindung als Grenze vorgesehen, durch die beide Länder, Polen und Deutschland, jeweils ihre Ostgebiete verloren haben, so Kazimierz Wóycicki. Die Landesgrenzen und Territorien seien dadurch nach Westen verschoben worden. Für die Bevölkerung in Deutschland sei diese Verschiebung mit dem Verlust des historischen Ostdeutschlands verbunden, für die Bevölkerung in Polen mit dem Verlust Ostpolens, aber hier gleichzeitig mit dem Gewinn neuer Gebiete im Westen. Ein Teil der Bevölkerung in Deutschland allerdings, so Wóycickis Kritik, nehme diese Analogie nicht wahr.22 So werde die Oder zur Markierung eines Verlustes mit hoher ideologischer Aufladung bei gleichzeitiger Tabuisierung einer Auseinandersetzung.23 Diese Art der ideologischen Ausblendung zeigt sich auch in der Flusslandschaft der Oder. Tiefer gehende Auseinandersetzungen über dieses Gebiet blieben lange Zeit tabu und wasserbauliche Instandhaltungen für eine Großschifffahrtstrasse wurden weder von deutscher noch von polnischer Seite getätigt, so Schlögel.24 Oder und Neiße wurden zur politischen Grenze, die 1950 von der
19 Vgl. Müller, Uwe: »Die Stellung der Oder im mitteleuropäischen Verkehrsnetz und die preußische Wasserstraßenpolitik während der Industrialisierung«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 177. 20 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 41. 21 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 41. 22 Vgl. Wóycicki, Kazimierz: »Die Polen und die Deutschen – Erinnerungen von Neusiedlern der Ostgebiete und das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 287. 23 Vgl. K. Wóycicki: »Die Polen und die Deutschen«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): OderOdra, 2007, S. 287. 24 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 24.
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DDR und 1970 von Westdeutschland anerkannt wurde. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde sie endgültig von der neuen BRD bestätigt.25 Erst nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs und der Öffnung der deutsch-polnischen Grenze, so Schlögel, würden neuere Untersuchungen zum Odergebiet erstellt, die sich aber zumeist auf ökologische Perspektiven und wasserbautechnische Maßnahmen beziehen. 26 Doch in jüngster Zeit werden neue Perspektiven sichtbar. In Subice/Odra27 wurde 1924/25 das Kino Piast erbaut (ehemals Palast-Kino). Das Kinogebäude aus der Weimarer Republik im späten Art Déco hatte ein anspruchsvolles Kulturprogramm geboten.28 Im März 2005 wurde es geschlossen und steht seit Jahren leer. Inzwischen ist nur noch der vordere Bereich des Kinos vorhanden, der komplette hintere Bereich mit Kinosaal und Verwaltung wurde abgerissen.29 Der vordere Teil soll nun unter Denkmalschutz gestellt werden. In dem vom Institut für Angewandte Geschichte organisierten Filmfestival NO-Piast im November 2013 wurde ein Repertoire deutscher, polnischer und internationaler Filme präsentiert, die einst im Kino Piast gezeigt wurden. Auf der Website ist zu erfahren: »Das Festival nimmt die lokale Kinogeschichte zum Anlass, um mit Blick auf das ›KinoPiast‹ von der Teilung der Stadt Frankfurt, der Westverschiebung Polens nach dem 2. Weltkrieg, dem Zusammenleben von DDR-Bürgern und Polen in Zeiten der Volksrepublik und nicht zuletzt vom schrittweisen Verschwinden der Odergrenze nach 1989 zu erzählen, […].«30
Magdalena Abraham-Diefenbach vom Institut für Angewandte Geschichte führte die TeilnehmerInnen der Schiffskonferenz in einem Stadtrundgang vom Lichtspieltheater der Jugend in Frankfurt/Oder (1955) quer durch die Stadt über den Fluss hinweg zum Kino Piast (1924/25) in Subice auf die polnischen Seite der
25 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 40. 26 Vgl. K. Schlögel: »Die Oder«, in: ders./Halicke (Hg.): Oder-Odra, 2007, S. 24. 27 In der ul. Jednoci Robotniczej. 28 Vgl. U. Hengelhaupt: »Kulturerbe und Identität«, in: Schlögel/Halicke (Hg.): OderOdra, 2007, S. 167. 29 Vgl. de.Wikipedia.org, Subice, 07.05.2013, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=S%C5%82ubice&oldid=118286847#cite_ref-11, 7.5.2013, Einzelnachweise 11: Märkische Oderzeitung/Frankfurter Stadtbote, 24./25. Mai 2006, S. 17. 30 Vgl. Institut für Angewandte Geschichte: »NO PIAST – Festival des verlorenen Kinos«,
in:
28.10. 2013.
http://www.instytut.net/no-piast-festival-des-verlorenen-kinos/,
Zugriff:
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Odra. In dieser zeitlichen und räumlichen Spanne wurde die Geschichte der Stadt bzw. der Städte links und rechts von Oder/Odra erfahrbar. Beharrlichkeit ist auch für das Archenauts-Projekt eine erfolgreiche Strategie gewesen. Nach vielen Wochen Recherchearbeit fand sich endlich ein Reiseveranstalter in Bremerhaven, der auf kleineren Schiffen touristische Schiffsreisen anbietet. Sandra Hildebrandt von KVS-Tours/SE-Tours begeisterte sich für die Idee einer Konferenz auf einem ihrer Schiffe. Die Kapitänin Ria Mandemaker erklärte sich bereit, die unter holländischer Flagge fahrende MS Gretha van Holland auf der unsicheren Oder mit ihren schwankenden Wasserständen und ihrem veränderlichen Fahrwasser sowie über Kanäle mit sehr niedrigen Brückenhöhen zu steuern. Zusammen mit dem Matrosen Bas und einem zeitweise an Bord befindlichen Oder-Lotsen31 wurde das Schiff äußerst sorgsam und geschickt durch alle Fahrwasser geführt und auch in schwierigen Situationen souverän und sicher an Anleger und durch Schleusen sowie durch das Schiffshebewerk in Niederfinow manövriert. Dieses älteste noch arbeitende Schiffshebewerk von 1934 hob unser Konferenzschiff im Zuge des Oder-Havel-Kanals um 36 Meter in die Höhe.32
W AS FÜR ZEITGENÖSSISCHE K ONZEPTE S CHIFFEN GIBT ES BEREITS ?
VON
A RCHIV -
Seit 2000 wird das Binnenfrachtschiff MS Wissenschaft33 von Wissenschaft im Dialog im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
31 Der Oder-Lotse war der Kapitän Jerzey Hopfer, der auch den Eisbrecher Kuna für die Oder-Akademie gesteuert hat. Der ehemalige Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes ließ die Kuna 1998 bergen, restaurieren und umbauen; Vgl. o.V.: »Auf Verständigungskurs«, Märkische Oderzeitung, 12.05.2009, http://www.moz.de/de/artikel-ansicht/dg/0/1/67493/ und Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/kg/osteuropa/forschungsprojekte/odra-oder/-OderAkademie/index.html, Zugriff: 06.11.2013. 32 Vgl. de.Wikipedia.org: Schiffshebewerk Niederfinow, 16.09.2013, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Schiffshebewerk_Niederfinow&oldid=1225 78632 und www.schiffshebewerk-niederfinow.info/schiffh1.htm. 33 Maße: 100 x 9,5m; Tiefgang max. 3,16m; vgl. MS Wissenschaft: http://www.mswissenschaft.de/, Zugriff: 16.09.2013; vgl. auch: de.Wikipedia.org: MS Wissenschaft,
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für mehrere Monate auf Tour geschickt.34 Als schwimmendes Science Center legt das Schiff in jedem Jahr in über 30 Städten in Deutschland und Österreich an und hat die Aufgabe, für Wissenschaft und Forschung zu werben.35 Als außeruniversitären Veranstaltungsort hatte der Fachbereich raum & designstrategien der Kunstuniversität Linz im Mai 2005 für zwei Monate eine Expedition unternommen, die von Linz ans Schwarze Meer und zurück verlief. 36 Für Studierende, Lehrende und Gäste wurde das Steintransportschiff MS Negrelli37 mit Wohn- und Arbeitscontainer bestückt. Der mobile Standort der Kunstuniversität bot 40 Menschen die Möglichkeit, das Potential der europäischen Donau zu erforschen.38 Oder-Akademie wiederum nennt sich eine Schiffsreise, die seit 2006 vom Lehrstuhl Geschichte Osteuropas der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder organisiert wird. Als Transportschiff wurde der 1884 gebaute Eisbrecher Kuna genutzt.39 Auf dem Schiff wurden in Oderstädten Seminare angeboten, die sich mit der Geschichte der Region und der Bedeutung des Flusses für das Leben der Bewohner auseinandersetzen. Für die Konferenz Modernity, Socialism, and the Visual Arts konnten wir den Veranstalter KVS-Tours/SE-Tours und die Schiffscrew für die Projektidee begeistern. So begaben sich 24 TeilnehmerInnen plus Gäste und fünf Crewmit-
12.08.2103, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=MS_Wissenschaft&oldid=121461257. 34 Vgl. MS Wissenschaft: http://www.ms-wissenschaft.de/ und Bundesministerium für Bildung und Forschung: http://www.bmbf.de/de/21029.php?hilite=ms+wissenschaft und Wissenschaft im Dialog: http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/mswissenschaft.html, Zugriff: 28.10.2013. 35 Vgl. de.Wikipedia.org: MS Wissenschaft, 12.08.2103, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=MS_Wissenschaft&oldid=121461257. 36 Vgl. Kunstuniversität Linz: http://www.ufg.ac.at/flagship-europe.3135.0.html, Zugriff: 16.09.2013. 37 Daten: 1966/78, L+B: 65,98 x 10,04 m, Tiefg: 1-1,6m; vgl. Kunstuniversität Linz: http://www.ufg.ac.at/flagship-europe.3135.0.html, Zugriff: 16.09.2013. 38 Vgl. Kunstuniversität Linz: http://www.ufg.ac.at/flagship-europe.3135.0.html, Zugriff: 16.09.2013. 39 Vgl. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/kg/osteuropa/forschungsprojekte/odraoder/Oder-Akademie/-index.html und http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/kg/osteuropa/lehre/sommersemester2012/-halicka.html, Zugriff: 09.01.2014.
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glieder auf ein Reiseabenteuer, das erhellende Ein- und Aussichten brachte.40 Eine Fortsetzung ist in Planung.
F ORTSETZUNG Abbildung 5: Leichter oder Barge in Berlin
Quelle: File:Berlin_barge-ship_20050218_p1000706.jpg © Wikimedia CreativeCom mons-Lizenz: cc by-sa-3.0.
Die oben genannten Projekte wurden mit großen Schiffen realisiert, für die ein Kapitänspatent notwendig ist und die mit großem finanziellen und organisatorischen Aufwand unterhalten werden müssen. Archenauts soll als günstige und flexible Alternative weiterentwickelt werden. Die Idee besteht darin, einen schwimmenden Untersatz mit wenig Tiefgang zu konstruieren, der auch über der Wasserlinie möglichst flach gebaut ist. Der Bootskörper soll bedarfsweise mit einem einfachen Antrieb versehbar und mit ISO-Containern bestückbar sein. Container bilden ein hochflexibles Transportsystem, die seit den 1960er Jahren41 den Weltwarenverkehr revolutionierten. Es gibt mittlerweile fast alles in und aus Containern. So wurde im Ruhrgebiet (Mülheim a.d. Ruhr) für drei Jahre ein gan-
40 Eine Veröffentlichung von Beiträgen erscheint unter: International Journal for History, Culture and Modernity, Editorial Team: Segal, Joes et al.: http://www.historyculture-modernity.org/, Zugriff: 09.01.2014. 41 Vgl. de.Wikipedia.org: Container, 31.08.2013, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Container&oldid=122089616.
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zer Uni-Campus aus Containern erbaut.42 Das Nomadic-Museum (2005) ist ebenfalls eine temporäre architektonische Struktur aus 156 Containern, die aufund abbaubar um die Welt reist.43 Als weitere Bedingung soll die Kombination aus dem einfachsten Wasserfahrzeug mit einem Container küstentauglich sein. Dies könnten Seitenschwerter ermöglichen, wie sie bei holländischen Plattbodenschiffen Verwendung finden. Die Maximallänge darf 15 Meter nicht überschreiten, um es ohne Kapitänspatent mit einem einfachen Sportbootführerschein Binnen/See steuern zu dürfen. Leichter können als Schubverband kombiniert und von einem Schubschiff geschoben werden, um bei Bedarf wieder auseinandergehen zu können. Auch dieses Konzept soll bei der angedachten Schiffsidee berücksichtigt werden. Wie kann ein Archiv im Inneren eines Containers realisiert werden? – Das kann als je spezifische Lösung an verschiedenen Orten erfolgen. Die unterschiedlichen Präsentationsformen wären zeitlich und örtlich flexibel. Jede Einheit ist prinzipiell autonom, aber auch kombinierbar mit anderen Einheiten an vielen Orten der Welt. Wer könnte ein solches Schiff bauen? – Die Oder-Werft in Eisenhüttenstadt, die bis zur Wende über 460 MitarbeiterInnen beschäftigte, ging 1999 in die Insolvenz. Die Ingenieurökonomin Elke Ruchatz, die seit 1987 dort arbeitete, übernahm die Werft. Mit rund 40 MitarbeiterInnen ist die Neue Oder-Werft insbesondere auf Neubau, Reparatur und Umbau von Wohn- und Arbeitsschiffen spezialisiert – es könnte die passende und regional verortete Werft sein, um das geplante Archivschiff zu realisieren.44
42 Vgl. Heinrich, Andreas: »Studenten in Mülheim ziehen für drei Jahre in den Container«, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, http://www.derwesten.de/politik/campuskarriere/studenten-in-muelheim-ziehen-fuer-drei-jahre-in-den-container-id6310642.html und Heinrich, Andreas: »Campus aus Containern, Westdeutsche Allgemeine Zeitung«,
http://www.derwesten.de/staedte/muelheim/campus-aus-containern-id6170-
679.html, Zugriff: 18.09.2013. 43 Vgl. en.Wikipedia.org: Nomadic Museum, 07.08.2013, http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Nomadic_Museum&oldid=567510526. 44 Vgl. o.V.: »Eine Frau und eine Werft im Osten, n-tv«, 17.02.2010, http://www.ntv.de/wirtschaft/Eine-Frau-und-eine-Werft-im-Osten-article732304.html,
Zugriff:
09.01.2014; vgl. auch: Brzoska, Ina: »Die Chefin von der Oder, Berliner Zeitung«, 03.08.2009,
http://www.berliner-zeitung.de/archiv/elke-ruchatz-gehoert-eine-werft--
der-betrieb-waechst-gegen-den-trend-die-chefin-von-deroder,10810590,10657014.html, Zugriff: 13.09.2013.
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Das anvisierte Schiff des Archenauts-Projekts soll verschiedene Gebiete bereisen. Verbunden ist damit auch das Anarchenautische, d.h. das Verlassen des Feldes der kontrollierten Steuerung. So könnte auf einer Reise ins Mündungsgebiet der Oder der Aufstieg und Fall des sagenhaft reichen Vineta erforscht werden. Vineta galt als Atlantis der Ostsee und soll im Flussdelta der Oder gelegen haben – und dort untergegangen sein. Friederike Schulz veranstaltete 2010 in Hamburg mit WAHRSCHAU! – Vineta. Eine Kunst-Festival von Dekadenz und Untergang ein phantastisches Spektakel zu Realität und Mythos der versunkenen Stadt.45 Ebenso offenbart der Bernstein als typisches Ostseematerial so manch ungeahntes Archiv, das sich zwischen Realität und Mythos bewegt. So können Inklusen oder Einschlüsse von kleinen Pflanzenteilen und Tieren paläontologisch betrachtet als biologisches Archiv verstanden werden. Im Film Jurassic Park (1993) wurde eine Reaktivierung des biologischen Materials zumindest fiktional durchgespielt. Vor Jahrmillionen traf der Harztropfen eines Baumes eine Mücke, die sich kurz zuvor mit Saurierblut vollgesogen hatte. Durch fast wundersam anmutende Umstände wurden Mücke und Blut über Jahrmillionen als fossiler Einschluss oder Bernsteininkluse konserviert. Aus dem Blutstropfen des Sauriers in der Mücke wurde seine DNA reaktiviert – der Saurier erwachte zum Leben. Auch mit künstlichen Harzen sind Bio- aber auch Bildkonservierungen möglich. So habe ich den Ausschnitt der miniaturisierten Fotokopie eines Bildes von Walter Womacka in Gießharz eingebettet. Das in kurzer Zeit erhärtete synthetische Harz wurde, ähnlich dem natürlichen Harz des Bernsteins, in Form geschliffen und poliert. Die konservierte Abbildung zeigt eine am Wasser stehende, winkende Figur, die Teil eines besonderen Archivs ist und zum Ringstein wurde.
45 Vgl. Freifrau von Schulz e.V.: WAHRSCHAU! – Vineta. Eine Kunst-Festival von Dekadenz und Untergang, http://www.freifrauvonschulz.de/wahrschau_2010.0.html, Zugriff: 10.01.2014.
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Abbildung 6: Ursula M. Lücke, Ring, 925 Silber gegossen, Gießharz, Fotokopie, 2009
Quelle: © Ursula Lücke 2009
L ITERATUR Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: »Ramsauer stellt Konzept für Neuordnung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vor«, http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Pressemitteilungen/2012/133ramsauer-wsv-reform.html, Zugriff: 16.09.2013. Brzoska, Ina: »Die Chefin von der Oder, Berliner Zeitung«, 03.08.2009, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/elke-ruchatz-gehoert-eine-werft--derbetrieb-waechst-gegen-den-trend-die-chefin-von-der-oder,10810590,10657014.html, Zugriff: 13.09.2013. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): http://www.kuwi.europauni.de/de/lehrstuhl/kg/osteuropa/forschungsprojekte/odra-oder/OderAkademie/index.html, Zugriff: 06.11.2013. Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): http://www.kuwi.europauni.de/de/lehrstuhl/kg/osteuropa/lehre/sommersemester-2012/halicka.html, Zugriff: 09.01.2014.
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Positionen zur Moderne in der DDR am Beispiel der Zeitschrift Bildende Kunst F REDERIKE E SCHEN
Kunst und Gesellschaft stehen in einer wechselseitigen Beziehung: Nicht nur die Gesellschaft prägt die Kunst, sondern auch die Kunst wirkt auf die Gesellschaft. Kunstwerke geben Auskunft über Weltmodelle und können als symbolische Ausdrucksweisen ihrer Zeit gelesen werden. Nach Theodor W. Adorno ist Kunst sowohl autonom als auch fait social, also gesellschaftlich gemacht.1 Noch in ihrem Gegensatz zur Gesellschaft bildet die Kunst ein Moment von ihr. Gleichzeitig lässt sich auch danach fragen, welche Rolle die Kunst für die Gesellschaft übernimmt und wie sie diese prägt. Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft unterlag in der DDR spezifischen Bedingungen. Dabei kann und darf die Rolle, die die Kunst für die Gesellschaft übernahm, jedoch nicht auf eine parteilich-ideologische Intention reduziert werden. Die Kunst bewegte sich in der DDR zwischen verordneter Utopie und ästhetischer Selbstbehauptung. Am Ende der 1980er Jahre gab es eine große Anzahl von gesellschaftskritischen Kunstwerken, in denen die Künstler wieder an Gestaltungsmittel vom Anfang des 20. Jahrhunderts anknüpften. Vorangegangen und einhergehend mit dieser Öffnung der Kunst fanden zahlreiche Debatten über den Realismusbegriff und die klassische Moderne statt. In diesen Diskussionen bewegten sich Kulturfunktionäre und Künstler, Kunstwissenschaftler und Kunstinteressierte zwischen der strikten Ablehnung jeglicher moderner Kunstformen auf der einen und dem Versuch, eine Akzeptanz für die klassische Moderne zu schaffen und Freiheiten in der Kunst wiederzuerlangen, auf der anderen Seite. Ebenso, wie nicht von einer homogenen DDR-Kunst gesprochen werden kann,
1
Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S. 16.
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waren auch die Meinungen über das Wesen und die Rolle der Kunst nicht einheitlich. So wurde der sozialistische Realismus bereits in den 1950er und 60er Jahren immer wieder mit den künstlerischen Mitteln der klassischen Moderne konfrontiert. In einem dynamischen Prozess, in dem die Idee einer selbstbestimmten Kunst als Ausdruck von Künstlerindividualität der parteilichen Kunstkonzeption als Träger sozialistischer Utopien gegenübertrat, entwickelte sich in der DDR ein vielfältiges Kunstgeschehen. Nicht nur die Kunstwerke, auch die Kunstdiskussionen waren Antriebsmomente der Bewegung zu einer selbstbestimmten Kunst und nahmen damit eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Kunst in der DDR ein. Richtet man seinen Blick auf ebendiese Kunstdebatten und die Rezeption des künstlerischen Schaffens, stellt die Zeitschrift Bildende Kunst ein wichtiges Untersuchungsmedium dar. Herausgegeben von 1953 bis 1991 als Medium des Verbands Bildender Künstler Deutschlands (VBKD), ist die Zeitschrift ein Medium, in dem das Kunstkonzept der SED vermittelt werden sollte. Gleichzeitig bildete sie jedoch auch ein Forum, in dem – in den Grenzen der staatlichen und institutionellen Rahmenbedingungen – Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne und mit den damals aktuellen westdeutschen und westeuropäischen Kunstströmungen Platz fanden. Bis heute wird der Blick immer noch häufig allein auf die gezielte Beeinflussung der Kunst durch die SED gerichtet. Mit den in der Zeitschrift ausgetragenen Diskussionen lassen sich dagegen Auffassungen unterstützen, nach denen sich das Kunstschaffen in der DDR in einem Prozess zwischen dem verordneten sozialistischen Realismus nach stalinistischem Vorbild und einer selbstbestimmten Kunst, in der Elemente der Moderne Platz fanden, bewegte. Gerade die in den 1950er und 1960er Jahren geführten Diskussionen sorgten nach und nach für eine Lockerung der politischen Vorgaben des sozialistischen Realismus vom Anfang der 1950er Jahre. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass eine langsame Bewegung zur Wiederanknüpfung an die Kunst der Avantgarden vom Anfang des 20. Jahrhunderts stattfand. Die Auseinandersetzungen zeugen von einem Austarieren zwischen politischem Verwendungsanspruch und künstlerischer Autonomie. Sie zeigen, dass die Kunst sowie die Diskussionen über sie schon in diesen beiden frühen Jahrzehnten vielfältiger waren als oftmals angenommen.
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D IE Z EITSCHRIFT B ILDENDE K UNST In der Zeitschrift Bildende Kunst spiegelt sich die Entwicklung der Kunst in der DDR – sowohl inhaltlich als auch in ihrer Struktur und in politischen Eingriffen, die die Kunstdiskussionen trafen. Die von 1953 bis 19912 zunächst alle zwei, später jeden Monat erscheinende Zeitschrift hat eine wechselhafte Geschichte. Mit der Bildenden Kunst sollte eine Zeitschrift für Künstler und Kunstwissenschaftler geschaffen werden. Helmut Holtzhauer, Vorsitzender der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, betont in der ersten Ausgabe 1953, dass der Kreis der Mitarbeiter jedoch nicht nur die führenden Künstler und marxistisch gebildeten Kunstwissenschaftler umfassen solle. Nach ihm sei die Zeitschrift auch als ein Organ der Jugend konzipiert worden.3 In der Zeitschrift finden sich kulturpolitische Texte, Vor- und Nachbereitungen der Kongresse, Fachaufsätze, Ausstellungs- und Buchbesprechungen, Diskussionen und Hinweise auf Veranstaltungen. Die Bildende Kunst war als offizielles Organ des VBKD, der der SED unterstand, politisch konzipiert worden. Eine Anzeige im Katalog der III. Deutschen Kunstausstellung Dresden verkündet 1953 programmatisch: »Die Zeitschrift ›Bildende Kunst‹ ist ein Kampforgan für den sozialistischen Realismus. Sie vertritt die Einheit und Unteilbarkeit der deutschen Kunst. Sie kämpft gegen alle kunst- und menschenfeindlichen Richtungen der Dekadenz: Formalismus, Naturalismus und Kitsch. Die Zeitschrift ‚Bildende Kunst’ wendet sich an Künstler, Kunstwissenschaftler, Kulturpolitiker und an alle werktätigen Menschen. Sie will diesen helfen, am Aufblühen einer wahrhaft fortschrittlichen deutschen Kunst mitzuschaffen.«
4
Viele Momente spiegeln den politischen Einfluss auf die Zeitschrift wider. Im November 1952 hieß es, die SED übernehme die ideologische Anleitung des Redaktionskollegiums und Überwachung des Inhalts, wobei das Kollegium von ihr vorgeschlagen und von der Kulturabteilung bestätigt werden sollte.5
2
Von 1947 bis 1949 erschien bereits die Vorgängerzeitschrift bildende kunst.
3
Vgl. Holtzhauer, Helmut: »Geleitwort«, in: Bildende Kunst, Jg. 1953, Nr. 1, S. 9.
4
Anzeige der Zeitschrift Bildende Kunst, in: Katalog der III. Deutschen Kunstausstel-
5
Vgl. Vierneisel, Beatrice: »Wechselbäder einer Verbandszeitschrift«, in: Barck, Si-
lung Dresden 1953, Dresden 1953, S. 31. mone/Langermann, Martina/Lokatis, Siegfried (Hg.): Zwischen Mosaik und Einheit. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999, S. 278f.
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In Abhängigkeit vom Zeitgeschehen und von politischen Knotenpunkten standen jedoch stets unterschiedliche Fragen und Denkansätze im Zentrum der in der Zeitschrift ausgetragenen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig war das Profil der Zeitschrift eng mit der jeweiligen Person des Chefredakteurs verknüpft. Während Herbert Sandberg und Siegfried Heinz Begenau die Redaktion selbstbestimmt führten, war das Medium unter der Leitung von Ullrich Kuhirt direkt mit der Politik verbunden und setzte auf parteigetreue Kunstauffassungen. Andere Chefredakteure bewegten sich zwischen diesen Polen von Verordnung und Selbstbestimmung. War die Bildende Kunst also ein verlängerter Arm der SED oder konnte sie trotz des politischen Einflusses zu einem gesellschaftskritischen Organ werden? War die Zeitschrift ein Forum für öffentliche Auseinandersetzungen mit der Kunst, in dem u.a. die Frage nach ästhetischer Selbstbestimmung oder verordneter Utopie verhandelt wurde? Wirkte die Zeitschrift so sogar auf Entscheidungsprozesse ein?
D IE K UNST
M ODERNE UND R EALISMUS : ENTGEGENGESETZTE
DER KLASSISCHEN
DER SOZIALISTISCHE U TOPIEN ?
Als die erste Ausgabe der Zeitschrift Bildende Kunst 1953 erschien, hatte die Politik der frühen DDR eine dogmatische Sicht auf die Kunst der klassischen Moderne ausgebildet. Das Kunstverständnis, das die Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts mit sich brachte, und die offizielle Kunstauffassung der SED gingen in vielen Punkten auseinander. Die systematische Abwertung der Moderne in der DDR richtete sich am Ende der 1940er und Anfang der 50er Jahre mit den Formalismuskampagnen gegen alle Formen der Avantgardekunst, einschließlich des Expressionismus. Im Beschluss Der Kampf gegen den Formalismus in Literatur und Kunst, für eine fortschrittliche deutsche Kultur, einem Schlüsseldokument der SED-Kulturpolitik, wurde abfällige Kritik an allen Abweichungen von der realistischen Kunst geübt: »Die Formalisten leugnen, daß die entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerks nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form
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selbständige Bedeutung gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter.«
6
Günter Erbe betont, dass sich der Abwehrkampf dabei nicht auf ein theoretisch ausgewiesenes Konzept von der Moderne stützte, sondern sich vielmehr »gegen Erscheinungen des ›Modernismus‹, d. h. die spezifische Gesinnung des auf ästhetische Erneuerung und Autonomie bedachten Künstlers«7 richtete. In der Moderne hatte mit der Abstraktion der entscheidende Schritt in die Autonomie der Kunst stattgefunden. Die Avantgarden verstanden Kunst als Sprengkraft: Sie sollte ihren Illusionscharakter aufgeben und an der Gestaltung des Lebens teilhaben, indem sie selbst Leben wurde und nicht länger eine von außen einwirkende Position innehatte.8 Gleichzeitig ist auch ein Zusammenhang zwischen der verstärkten Ablehnung der Moderne im parteilichen Kunstverständnis der SED und der künstlerischen Entwicklung in Westdeutschland, wo die abstrakte Kunst immer mehr zum Freiheitssymbol gemacht wurde, zu benennen. Was passierte, als die Utopien der klassischen Moderne und die des sozialistischen Realismus aufeinandertrafen? In Bezug auf die Merkmale Verordnung, Freiheit und Individualität lässt sich von entgegengesetzten Utopien sprechen. Nach der politischen Kunstkonzeption des sozialistischen Realismus sollten die Künstler in der DDR in ihren Werken die sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen darstellen. Auch in der Zeit der klassischen Moderne lagen den Kunstwerken Gesellschaftsutopien zu Grunde. Doch während diese selbstbestimmt waren, sollten die künstlerischen Aufträge in der DDR eine verordnete Utopie zum Ausdruck bringen. Die Autonomie der Moderne war mit einer von außen definierten politischen Funktion der Kunst nicht vereinbar. Ulrike Goeschen schreibt unter Bezugnahme auf Markus Bernauer und Boris Groys: »Die Ambivalenz der klassischen Moderne, die zu der Befreiung der Formen von der Mimesis einen Machtanspruch des Künstlers auf Gestaltung des ›neuen Lebens‹ postulierte,
6
Zentralkomitee der SED: »Auszug aus der Entschließung des Zentralkomitees der SED auf der Tagung vom 15. Bis 17. März 1951«, in: Bildende Kunst, Jg. 1953, Nr. 2, S. 62.
7
Erbe, Günter: Die verfemte Moderne. Auseinandersetzung mit dem »Modernismus«
8
Vgl. Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Mo-
in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993, S. 10. derne, München 1994. S. 29.
332 | F REDERIKE E SCHEN fand sich in der DDR aufgespalten in die entgegengesetzten Positionen von Künstlern und Partei bzw. Ideologie wieder.«9
Ging es nicht aber – trotz der zunächst erscheinenden Gegensätzlichkeit der Utopien – während der Moderne ebenso wie in der DDR darum, durch die Kunst eine Gesellschaft zu entwickeln? Da die Kunst in der DDR sehr viel facettenreicher war, als es die offizielle Kunstkonzeption vorgab, kann die kontradiktorische Gegenüberstellung nicht generalisiert werden. Die Positionen der Künstler zur Partei waren vielschichtig, es gab in der DDR sowohl Künstler, die den Vorgaben der sozialistischen Kunstpolitik zustimmten, als auch konsequente Einzelgänger, Gegner der politischen Regeln und zahlreiche Positionen zwischen diesen Polen.
D IE B ILDENDE K UNST VON 1953 BIS 1969 – EIN R AUM FÜR DIE Ö FFNUNG DES K UNSTVERSTÄNDNISSES IN DER DDR Mit ihren Kunstdiskussionen hatte die Zeitschrift Bildende Kunst bereits in den 1950er und 60er Jahren eine Funktion als Raum der Aushandlung künstlerischer Möglichkeiten in der DDR. Zahlreiche Künstler und Kunstwissenschaftler traten in der Zeitschrift für eine freie Realisierung ihrer Ideen und eine Erweiterung des engen Kunstkanons ein. Dennoch zeigen die Diskussionen stets einen Prozess aus Vorwärtsbewegungen und Rückschritten, in dem Momente der Öffnung immer wieder auf Reglementierungen trafen. Die Kunst der klassischen Moderne wurde in der Zeitschrift Bildende Kunst aus unterschiedlichsten Blickwinkeln diskutiert. Dabei schlossen die Auseinandersetzungen immer auch die Fragen nach den Grenzen des sozialistischen Realismus und den Überschreitungsmöglichkeiten dieses parteilichen Kunstverständnisses ein. Beatrice Vierneisel fasst zusammen, dass das Ziel der Zeitschrift der Versuch gewesen sei, »den sozialistischen Realismus um möglich gewordene Formentwicklungen und individuelle Handschriften zu erweitern«10. Anhand der Zeitschriftenbeiträge zeigt sich, dass immer wieder ausgelotet wurde, was unter dem Begriff sozialistischer Realismus zu verstehen und wie er zur Moder-
9
Goeschen, Ulrike: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Diss. Freie Univ. Berlin 1997, Berlin 2001, S. 11.
10 B. Vierneisel: Wechselbäder einer Verbandszeitschrift, S. 284.
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ne in Beziehung zu setzen sei. Der sozialistische Realismus war also kein 40 Jahre lang festgeschriebener, einheitlicher künstlerischer Kanon, sondern ein von der Politik formuliertes Konzept, das sich im Laufe der Zeit stark wandelte und unterschiedlichste Verständnisse einschloss. Die Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne waren Antriebskräfte dieser Veränderungen. Während der erste Jahrgang der Zeitschrift im Zeichen der politischdogmatischen Kunstvorstellung stand und durch eine Abwertung der modernen Malerei geprägt war, zeigten sich bereits im Frühsommer 1954 kritische Sichtweisen auf die Kunstpolitik. In der Mitte der 1950er Jahre setzten sich viele Autoren offen für eine Neubetrachtung der klassischen Moderne ein, die sich in den Diskussionen der 1960er Jahre verfestigte und in der Existenz vielfältiger Künstlerhandschriften bestätigte. Dazwischen fanden jedoch immer wieder politische Eingriffe statt, die diese Bewegung unterbrachen und zu einer reglementierten Kunst zurückwiesen. In den Jahren 1958/59 wurden die Reglementierungen u.a. besonders deutlich, als die Parteilichkeit und die Darstellung des sozialistischen Helden zentrale Bedeutung bekamen, während die klassische Moderne und die Nachkriegsmoderne Westdeutschlands in vielen Beiträgen abgewertet wurden. Die politischen Eingriffe konnten die grundlegende Tendenz des fortschreitenden Prozesses zu einer selbstbestimmten Kunstwissenschaft jedoch nicht lange aufhalten und die kritischen Diskussionen in der Zeitschrift setzten sich fort. Auch im Umgang mit den Abbildungen in der Zeitschrift lässt sich ein Schwanken zwischen Öffnung und Beschränkung ausmachen: Von Beginn an erschienen zu den Beiträgen Bilder moderner Kunstwerke und waren so den Lesern stets präsent. Sie waren jedoch in starren, dogmatisch ausgelegten Phasen der Zeitschrift mit abwertenden Untertiteln versehen, während sie in den offeneren Etappen meist ohne lenkende Untertitel auf den Leser wirken konnten. Im Einzelnen lassen sich zehn Etappen der Kunstdiskussion zusammenfassen, die eine Vielfalt der Positionen zur Moderne und ihren Ideen zum Ausdruck bringen: 1. Die Anfänge der Bildenden Kunst – die Zeitschrift als ein Medium zur Durchsetzung des sozialistischen Realismus (1953/54) Die Ausgaben der Bildenden Kunst von 1953 bis Anfang 1954, herausgegeben unter Cay Brockdorff, spiegeln überwiegend die politische Konzeption der Kunst. Mit den Beiträgen wurde das offizielle und dogmatische Kunstverständnis vermittelt, in dem die Kunst unter dem Primat der Politik stand. Nicht nur die Textbeiträge, auch zahlreiche Abbildungen unterstützten das parteiliche Kunst-
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verständnis. In dieser ersten Phase zeichnete sich die Auseinandersetzung mit der Kunst der klassischen Moderne in der Zeitschrift durch Ablehnung aus und auch eine Abwertung der Kunst Westdeutschlands kommt in den Beiträgen zum Ausdruck. Eine zentrale Aufgabe der Zeitschrift wurde im Beitrag zur Überwindung des Formalismus gesehen. Helmut Holtzhauer schreibt im Vorwort der Ausgabe 1/1953: »Will unsere Zeitschrift den Kampf um die Festigung und Weiterentwicklung des Realismus in der bildenden Kunst erfolgreich leiten, so muß sie den Formalismus mitsamt allen anderen reaktionären Anschauungen der Bourgeoisie auf künstlerischem Gebiet entscheidend schlagen. Die Redaktion der Zeitschrift muß also von streitbarem Geiste erfüllt sein und darf keinen Vorwand gelten lassen, hinter dem sich rückständige ästhetische Auffassungen verbergen.«11
Das Konzept des sozialistischen Realismus und das Ideal der sowjetischen Kunst wurden in zahlreichen Beiträgen formuliert. Dabei betonten die Autoren stets die Unterschiede zwischen dem sozialistischen Realismus und der Kunst der Moderne. So hebt der Maler Rudolf Bergander in der Ausgabe 4/1953 u.a. die Perspektive der großen Renaissance-Wandbilder als Vorbild für den sozialistischen Realismus hervor. Elemente der klassischen Moderne wie die Betonung der Flächigkeit des Bildträgers und die Rückführung der Gegenstände in die Zweidimensionalität bezeichnet er dagegen als Fehler.12 Der Maler Hermann Bruse zeichnet in dem Beitrag Formalismus – Feind der Kunst seinen persönlichen Künstlerweg nach, der appellierend mit den Worten endet: »Ich selber habe nur zu deutlich erlebt, wie groß der zerstörende Einfluß des Formalismus ist. Ich habe es auch erfahren, wie schwer es ist, aus diesen bequemen Spielen sich zu lösen und wieder zur Disziplin der ernsten und wirklichen Kunst zurückzukehren.«13
11 H. Holtzhauer: Geleitwort, S. 7. 12 Vgl. Bergander, Rudolf: »Wesen und Aufgaben der Komposition«, in: Bildende Kunst, Jg. 1953, Nr. 4, S. 19. 13 Bruse, Hermann: »Formalismus – Feind der Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1953, Nr. 2, S. 62.
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2. Neue Sichtweisen auf den sozialistischen Realismus – Reflexionen über die Situation der Kunst in der Mitte der 1950er Jahre Im Frühsommer 1954 erschien in der Zeitschrift Bildende Kunst ein kritischer Rückblick auf die Kulturpolitik der vergangenen fünf Jahre. Traugott Stephan bemängelt in dem Text neben einem Dogmatismus der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten auch, dass die Formel der sowjetischen Kunst unreflektiert für die DDR übernommen wurde.14 Trotz vorsichtiger Formulierungen markiert der Text einen deutlichen Einschnitt – auch in der Geschichte der Bildenden Kunst. Die Zeitschriftenausgaben waren in der Mitte der 1950er Jahre von einem Schwanken zwischen Zustimmung und Kritik am Vorgehen der SED und dem aktuellen Stand der Kunst geprägt. Aus zahlreichen Beiträgen spricht eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Kunst. Auch wenn die Autoren nicht vom sozialistischen Realismus abweichen, kritisieren sie dennoch die Entwicklung des Stils und eine fehlende Anpassung des sowjetischen Realismusbegriffs an die spezifischen Gegebenheiten in der DDR. Bereits auf den außerordentlichen Vorstandssitzungen des VBKD im August und November 1953 hatte der Zentralvorstand Kritik an der herrschenden Situation geübt. Auch die Ausrichtung der Zeitschrift Bildende Kunst wurde dabei thematisiert und angemerkt, dass diese unter Brockdorff »kein Forum der freien Meinungsbildung« gewesen sei.15 Im April 1954 wurde der aus einer jüdischen Familie stammende Maler und Pressezeichner Herbert Sandberg zum leitenden Chefredakteur ernannt – obwohl er zuvor offen seine von der dogmatischen Position vieler Kulturfunktionäre abweichende Meinung zur Kunst geäußert hatte. Unter ihm entstand ab April 1954 ein neues Konzept für die Bildende Kunst: Sie sollte zu einer Zeitschrift werden, die nicht bloß registriert, sondern auch Stellung nimmt.16 Sandberg hatte die Vorstellung von einer lebendigen Zeitschrift mit einer Vielfalt an Auffassungen und Ausdrucksweisen. Im Redaktionsbeitrag heißt es 1955: »Die ›Bildende Kunst‹ als die einzige periodisch erscheinende Kunstzeitschrift in Deutschland, welche alle Bereiche der bildenden Kunst um-
14 Vgl. Stephan, Traugott: »Entwicklung und Ergebnisse. Fünf Jahre Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1954, Nr. 5/6, S. 6. 15 Vgl. Gillen, Eckhart: Das Kunstkombinat DDR, Köln 2005, S. 56. 16 Vgl. Die Redaktion: »Mittler und Wegbereiter«, in: Bildende Kunst, Jg. 1955, Nr. 1, S. 3.
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faßt, hat deshalb die vornehmliche Aufgabe, ein Spiegelbild des Kunstschaffens ganz Deutschlands zu sein.«17 Es lassen sich in den Beiträgen dieser Zeit zwei gegenläufige Kritikpunkte bzw. Forderungen an die Kunst entdecken. Zahlreiche Autoren sprechen sich dafür aus, den sozialistischen Realismus stärker als Gesinnungsfrage und nicht als Stilproblem zu betrachten. So kritisiert beispielsweise der Kunsthistoriker Horst Jähner, dass versucht worden sei, das Wie der Gestaltung in dogmatischer Weise zu beeinflussen, anstatt sich in beratender Funktion auf das Was des Künstlers zu beschränken.18 Andere Autoren betonen jedoch zur gleichen Zeit, dass ein Kunstwerk nicht allein durch den sozialistischen Inhalt entstehe. Aus ihren Beiträgen erklingt eine Forderung nach künstlerischer Qualität. Artur Dänhardt schreibt über den »verhängnisvollen Irrtum, das politische Bekenntnis, mochte es auch noch so ehrlich sein, bereits als vollwertiges Kunstwerk zu betrachten«19. Bereits in der Mitte der 1950er Jahre heben Autoren in der Bildenden Kunst hervor, dass der sozialistische Realismus kein einengendes Schema sein dürfe, sondern als schöpferische Methode die Verschiedenartigkeit des künstlerischen Ausdrucks mit einbeziehen solle. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Realismus deutet sich u.a. in einem Beitrag von Sandberg mit dem Titel Die junge Generation an. Darin stellt er fest, dass der Betrachter bei den Arbeiten der jungen Künstler aus der DDR unbefriedigt bleibe. Als positives Gegenbeispiel führt Sandberg die junge Malergeneration in Polen an, die mit ihrer Kunst von allen Seiten in die Bereiche des Lebens eindringe. Die polnischen Maler knüpften an die Bildsprache der 1920er Jahre an, was Sandberg mit den Worten kommentiert: »[…] auch das scheint uns kein Manko; denn wer von unserer Gegenwart erregt ist, wird es nicht klassisch ausgewogen sehen können, sondern eine erregende Sprache suchen, die nur der findet, der auch auf die Entdeckungen der letzten achtzig Jahre aufbaut.«20
17 Ebd., S. 4. 18 Vgl. Jähner, Horst: »Die demokratische Bodenreform und die Themen unserer Zeit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1955, Nr. 5, S. 334. 19 Dähnhardt, Artur: »Auf dem Wege zum Realismus«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 6, S. 335. 20 Sandberg, Herbert: »Die junge Generation«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 9, S. 506 (Sandberg 1956a).
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Auch wenn die Autoren in der Zeitschrift weiterhin das Ende einer l’art pour l’art fordern21, wird in vielen Beiträgen bereits ein neuer Blick auf den sozialistischen Realismus deutlich. 3. Der Künstler Picasso – die Diskussion um den Maler der Moderne in der Bildenden Kunst unter Herbert Sandberg (1955/56) Ende des Jahres 1955 begann mit der Picasso-Ausstellung in München eine breit geführte Auseinandersetzung über die moderne Kunst – sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. In der DDR war die Rezeption Picassos, des bedeutenden Künstlers der klassischen Moderne, durch ambivalente Meinungen gekennzeichnet. Schon im Auftaktartikel der ersten Formalismuskampagne 1948 nahm Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Bezug auf Picasso und wertete seine Werke als formalistisch ab.22 1955 entzündete sich in der Bildenden Kunst eine polarisierende Debatte über die Beziehung von Realismus und Moderne. Am Beispiel Picassos wurde diskutiert, inwieweit sich der Künstler in der DDR experimenteller Methoden und Formen der Moderne bedienen dürfe. Die Hauptfrage der von dem Kritiker Heinz Lüdecke in Ausgabe 5/1955 eröffneten Diskussion lautet: Ist Picasso ein Realist? Phänomen und Problem Picasso betitelt Lüdecke den Beitrag, in dem er Picassos Werk systempolitisch auf den Klassengegensatz verengt.23 Einerseits bezeichnet Lüdecke Picasso als großen Maler, andererseits reduziert er die Bilder darauf, dass man sie als parodistischen Zerrspiegel lesen müsse. Lüdecke kritisiert in seinem Beitrag u.a. auch Picassos Werk Massaker in Korea (1951): Es zeige wehrlose nackte Opfer anstatt ein »Hoheslied von der unbesiegbaren Kraft eines heldenhaften Volkes«24 darzustellen. Gleichzeitig beanstandet er die kubistische Gestaltung der Formen, die seiner Meinung nach den Inhalt und das Verständnis des Bildes verzerren: »Sieht man von den noch einigermaßen men-
21 Vgl. insbes. Sandberg, Herbert: »Über die Wirksamkeit unserer neuen Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 4, S. 725-729 (Sandberg 1957b). 22 Vgl. Steinkamp, Maike: Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR, Diss. Univ. Bonn 2007, Berlin 2008, S. 187. 23 Vgl. B. Vierneisel: Wechselbäder einer Verbandszeitschrift, S. 280. 24 Lüdecke, Heinz: »Phänomen und Problem Picasso«, in: Bildende Kunst, Jg. 1955, Nr. 5, S. 340.
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schenähnlichen Kindern ab, so wird es einem schwer, die Vernichtung der dargestellten Ungestalten zu bedauern.«25 In der Folge äußern mehrere Autoren Kritik an Lüdeckes Artikel. Der tschechoslowakische Kunstwissenschaftler Petr Spielmann wirft Lüdecke im Februar 1956 Ungenauigkeit vor und betont: »Es ist einfach nicht wahr, daß es sich bei Picasso um ein dekadentes Formenspiel handelt. Bei Picasso handelt es sich immer um die Wirklichkeit, wie wir sie kennen und nicht nur sehen.«26 Den Inhalt eines Werkes versteht Spielmann als leitenden Bestandteil, der eine ihm entsprechende formale Lösung fordere. Anders als Lüdecke sieht er den Sinn von Picassos Korea-Bild nicht in der Darstellung des heldenhaften Kampfes des Volkes, sondern in der Darstellung eines verbrecherischen Angriffs auf wehrlose Menschen. Die nachfolgenden Bemerkungen und Beiträge über Picasso polarisieren: Empfindet der eine Picassos Werke befremdend27 oder bezeichnet sie als ein »Verharren im Modernismus«28, hebt der andere die Möglichkeit, als Betrachter mitzudenken und involviert zu sein, positiv hervor29. Ein weiterer entscheidender Beitrag zur Diskussion ist der Text von Peter H. Feist, in dessen Zentrum das Experiment in der Kunst steht: Picasso taste die Grenzen der bis dahin erschlossenen Kunst nach allen Richtungen hin ab und erweitere sie. Feist formuliert: „Das Experimentieren an der Grenze zwischen Kunstform und Gegenstandswelt ist am augenfälligsten. Picasso [...] erweitert den Bereich der künstlerischen Mittel ganz beträchtlich. Der Formsinn für das Reale und der Realitätscharakter des Kunstwerkes werden prüfend gegeneinandergehalten.“30
25 Ebd. 26 Spielmann, Petr: »Picasso und sein Realismus«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 2, S. 106. 27 Vgl. Grau, Julius: »Auf die richtige Einschätzung kommt es an (Picasso-Diskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 2, S. 107f. 28 Máquez Rodiles, Ignacio: »Picasso contra Picasso«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 1, S. 51. 29 Vgl. insbes. Runowsky, Fred: »Picasso regt zum Mitdenken an«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 2, S. 108; Palitzsch, Peter: »Realismus verändert sich mit der Realität (Picasso-Diskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 4, S. 222. 30 Feist, Peter H.: »Experiment als geschichtliche Pflicht (Picasso-Diskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 6, S. 336.
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Feist fordert von jedem Künstler das Experiment, das in der sich rasch verändernden Zeit nicht nur sein Recht, sondern die Pflicht sei. Ebenso wie Spielmann empfindet auch der Künstler Carlfriedrich Claus den verbreiteten Realismusbegriff als zu eng. Er spricht sich in der Zeitschrift für ein umfassenderes Realismusverständnis aus: Betrachte man den Realismus als eine Grundhaltung gegenüber der Wirklichkeit, so könne man auch verschiedene Stile und Erscheinungsformen der sich verändernden Wirklichkeit unter diesen Begriff fassen. Dann sei auch der Kubismus als zeitbedingte Stilart des Realismus zu lesen.31 Die im Rahmen der Picasso-Diskussion veröffentlichten Leserstimmen unterstützen den Charakter der Zeitschrift als Forum für Auseinandersetzungen. Während in zahlreichen Texten die Differenz von Person und Werk Picassos betont wird, sprechen sich andere für die Genialität Picassos32 und seine zum Denken anregenden Werke33 aus. Im Heft 7/1956, der Frankreichnummer, endet die sich über viele Ausgaben erstreckende Diskussion mit der Feststellung Horst Jähners, dass in Picassos Werk Vorbildliches und Prägendes für die Entwicklung der Kunst zu finden sei: »Selbst so bedeutende Maler wie Rivera in Mexiko und Guttoso in Italien verraten mit ihren Arbeiten, wie sehr die Erkenntnisse seines [= Picassos, Anm. d. Verf.] Formenschatzes zur Entwicklung eines zeitgemäßen Realismus beizutragen vermögen. Es gibt jedenfalls nur wenige Künstler, von denen sich das in gleicher Weise behaupten lässt.«34
Mit der Picasso-Diskussion fand in der Bildenden Kunst ein Diskurs statt, der über die Zeitschrift hinaus in der Kunstszene verhandelt wurde. Zahlreiche Künstler beziehen sich in der Folge auf Picasso, u. a. malt Harald Metzkes 1956 das Werk Die tote Taube, auf dem zwei Mädchen über den Tod der – von Picasso zum Friedenssymbol erhobenen – Taube klagen. Die Zeit der PicassoDiskussion veranschaulicht, wie sich Kunstreflexion und Kunstproduktion gegenseitig beeinflussten. Die Auseinandersetzungen in der Zeitschrift schoben die
31 Vgl. Claus, Carlfriedrich: »Picasso und die Frage der Verständlichkeit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 7, S. 398. 32 Vgl. Köhler, Wolfgang: »Schöpfungen eines Genies (Picasso-Diskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 1, S. 51. 33 Vgl. Gläser, Gerhard: »Als eine Warnung der Menschheit gewidmet (PicassoDiskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 5, S. 284. 34 Jähner, Horst: »Picasso oder die Desillusionierung der Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 7, S. 403.
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Entwicklungen in der Kunstszene maßgeblich mit an. Dass die Beschäftigung mit Picasso in der Mitte der 1950er Jahre keine auf die DDR zu begrenzende Tendenz war, bestätigt z.B. das Erscheinen einer Picasso-Ausgabe des westdeutschen Kunstmagazins Das Kunstwerk (Nr. 3, Jahrgang 9, 1955/56) zur gleichen Zeit. 4. Akzeptanz durch Umdeutung – die neue Sicht auf den Expressionismus in den Jahren 1956/57 Die Zeit von Mitte des Jahres 1956 bis Ende des Jahres 1957 war durch zwei gegensätzliche Prozesse in der Zeitschrift gekennzeichnet: Zum einen fanden lebendige Diskussionen statt, in denen Bestrebungen, das parteiliche Kunstverständnis zu erweitern, deutlich wurden. Zum anderen war das Jahr 1957 durch einen politischen Eingriff in die Zeitschriftenredaktion geprägt: Herbert Sandberg wurde als Chefredakteur entlassen. Die SED wollte damit die Ausrichtung der Zeitschrift als ein Diskussionsforum ost- und westdeutscher sowie internationaler Autoren unterbinden. Doch trotz dieses Einschnitts spielten die Diskussionen dieser Jahre eine entscheidende Rolle für die aufkommende Neubewertung der Moderne, da es zu einer neuen Ausrichtung des Traditionsverständnisses kam. Eine Grundfrage in dieser Zeit lautete: Inwieweit wirken sich die Impulse der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts fruchtbar für die Entwicklung des sozialistischen Realismus aus? In der Bildenden Kunst kam es zu einer ersten Öffnung des Verständnisses vom nationalen Erbe. Nicht mehr nur die klassische Malerei galt als produktive Tradition des sozialistischen Realismus, sondern auch die bis dahin von der Politik als formalistisch abgewertete Kunst vom Anfang des 20. Jahrhunderts wurde auf ihre Verwendbarkeit hin untersucht. Mit der proletarisch-revolutionären Kunst war ein Begriff gefunden worden, um einzelne Künstler der 1920er Jahre losgelöst von Fragen der Form als Tradition des sozialistischen Realismus offiziell anzuerkennen. U. a. die Maler Käthe Kollwitz und Otto Dix wurden verstärkt unter dem Aspekt des Engagements kategorisiert und deren Kunst in ihrer inhaltlichen Bestimmung interpretiert. Viele Protagonisten der linken deutschen Kunst waren in ihrem Stil jedoch stark vom Expressionismus geprägt.35 In der Folge kam es in der Zeitschrift Bildende Kunst zu einer eingehenden Untersuchung dieses Stils. War er im dogmatischen Kunstverständnis bislang – trotz seiner figürlichen Darstellungen – abgewertet worden, interpretierten Kunstwissenschaftler und undogmatische Kulturfunktionäre den Expressionismus nun politisch und machten ihn damit in Tei-
35 Vgl. U. Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 93.
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len für das sozialistische Kunstverständnis verwendbar. Dazu trug die Diskussion über Realismus und Modernität bei, die der Kunsthistoriker Wolfgang Hütt im Oktober 1956 in der Zeitschrift eröffnete. Hütt konstatiert in seinem Text zunächst zwei Gegensätze: die Kunst, »deren Inhalt sich mit dem Leben in all seinen tausend Seiten auseinandersetzt« und die Kunst, die »die Zwecklosigkeit zum Prinzip ihrer Gestaltung erhoben hat«.36 Anschließend stellt er die Frage nach ihrer Verzahnung: »Haben wir schon so exakt die Gegensätzlichkeit der Kunst erforscht, daß wir uns in der Selbstsicherheit wiegen dürfen, die großen Gegensätze in der Kunst unserer Zeit nach geographischen Grenzen, durch welche im Augenblick die Ausdrucksformen gesellschaftlicher Gegensätze getrennt sind, zu scheiden? Ist es nicht viel zu grob, ›hier sozialistische und fortschrittliche und dort kapitalistische und reaktionäre Kunst‹ zu rufen?«37
Während in früheren Beiträgen noch eine marxistische Ausrichtung betont wurde, die den Expressionismus als »Teil einer untergehenden Epoche und die Expressionisten als deren Opfer«38 verstand, sieht Hütt den Expressionismus in seinem Text als deutsche Kunsttradition und plädiert für ein Erbeverständnis, das auch diesen einschließe. Auf Hütts Beitrag reagieren u.a. Konrad Farner und Petr Spielmann, die scharfe Kritik an dessen Formulierung einer »zwecklosen Kunst« üben.39 Mit zahlreichen Beiträgen über die engagierte Ausrichtung der proletarischrevolutionären Kunst und den Expressionismus findet eine langsame Akzeptanz dieser Kunst statt. Die Interpretation wird dabei auf eine politische Auslegung verlagert. Herbert Sandberg beschreibt den Expressionismus zwar als Phänomen der Vergangenheit, betont jedoch in mehreren Beiträgen die Notwendigkeit der
36 Vgl. Hütt, Wolfgang: »Realismus und Modernität. Impulsive Gedanken über ein notwendiges Thema«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 10, S. 565. 37 Ebd. 38 B. Vierneisel: Wechselbäder einer Verbandszeitschrift, S. 281. 39 Vgl. Farner, Konrad: »Gedanken über ›impulsive Gedanken‹ «, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 11/12, S. 668-670; Spielmann, Petr: »Realismus und Modernität der Kunst. Bemerkungen zu dem Beitrag von Wolfgang Hütt, ›Bildende Kunst‹, Heft 10/1956«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 2, S. 127-128.
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Auseinandersetzung mit den Formen des 20. Jahrhunderts.40 In einem Bericht des Künstlers René Graetz über seine Italienreise heißt es: »Ob man zurückgeht bis zu Grünewald und Cranach oder bis zu Beckmann und Kokoschka (ich bitte den österreichischen Kunstkritiker um Entschuldigung!), eines einigt die deutsche Kunst: der Expressionismus. Wir müssen lernen, unserer großen Tradition zu vertrauen. Wieviel weiter wären wir heute in der bildenden Kunst, wären wir mutiger gewesen, hätten wir mehr im Geiste der Unabhängigkeit gearbeitet, unserer eigenen Tradition, dem Expressionismus folgend, der unsere nationale Form des Realismus ist!«41
Die Diskussionen über die Moderne und den Expressionismus wurden von der SED kritisch beobachtet: Die aufkommende Neubewertung passte nicht zum dogmatischen Verständnis des sozialistischen Realismus. Schon im März 1957 forderte Irene Heller, Mitarbeiterin für bildende Kunst im ZK der SED, die Entbindung Sandbergs von seinen Aufgaben. Die Zeitschrift habe unter ihm den gleichen Inhalt wie westdeutsche Kunstmagazine.42 Mitte des Jahres wurde Sandberg entlassen. Heller schreibt in der Zeitschrift Einheit eine Klarstellung und versucht die Diskussionen zu bremsen. Der Redaktion wirft sie in der Diskussion über Realismus und Modernität falsches Verhalten vor: »Die Frage nach der ›modernen‹ Kunst berührt alle Künstler auf das stärkste. Gerade für die Erarbeitung eines Standpunktes hierzu ist die Hilfe der Zeitschrift dringend erforderlich. Einen Standpunkt zeigten aber wohl einzelne Künstler und Kunstwissenschaftler; die Zeitschrift selbst hatte gerade in den letzten Monaten keinen.«43
40 Vgl. Sandberg, Herbert: »Gestern und Heute«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 1, S. 49-50 (Sandberg 1957a); ders.: »Über die Wirksamkeit unserer neuen Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 4, S. 725-729 (Sandberg 1957b). 41 Graetz, René: »Was ich in Italien lernte«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 3, S. S. 195. 42 Vgl. Heller, Irene: »Stellungnahme aus der Abteilung Kultur beim ZK der SED zur Tätigkeit der Zeitschrift ›Bildende Kunst‹ unter der Redaktion von Herbert Sandberg (18.03.1957)«, in: Goeschen, Ulrike: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Diss. Freie Univ. Berlin 1997, Berlin 2001, S. 339. 43 Heller, Irene: »Wie erfüllte die Zeitschrift ›Bildende Kunst‹ ihre Aufgabe?«, in: Einheit, Jg. 1957, Nr. 7, S. 830.
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Die Bildende Kunst nimmt nach dem Weggang Sandbergs eine schwankende Position ein. Bei einem Blick auf die Titelbilder bestätigt sich, dass das offenere Kunstverständnis in der Konzeption der Zeitschrift zunächst weiterhin wirksam war. Auf der Ausgabe 6/1957 ist Otto Dix Roberte (1956) zu sehen. In der Darstellung der Frau trifft eine gegenständliche Malweise auf Elemente einer modernen, expressionistischen Bildsprache. Drei Ausgaben später erscheint auf dem Titel der Akt mit Malven (1957) von Wilhelm Lachnit. Lachnit war noch im vorherigen Jahr für seine moderne Reduktion der Formen stark kritisiert worden.44 Trotz des starken Eingriffs bleibt in der Zeitschrift die Ansicht bestehen, dass mit der proletarisch-revolutionären Kunst auch der Expressionismus für den sozialistischen Realismus Bedeutung trage. Gleichzeitig wird in der Redaktion aber bereits begonnen, die Diskussion um die Moderne wieder in geregelte Bahnen zu lenken. So erscheinen zahlreiche Beiträge sowjetischer Autoren, meist als Auszüge aus Reden. Sie vermitteln ein dogmatisches Verständnis, werten die Moderne ab und betonen den Kampf gegen formalistische Elemente in der Kunst.45 5. Auf dem Weg zurück zur verordneten Utopie? Die Bildende Kunst am Ende der 1950er Jahre Am Ende der 1950er Jahre kehrte die Zeitschrift zu einer Denkrichtung zurück, die sich wieder sehr viel stärker auf die Vorgaben des sozialistischen Realismus bezog. Waren die ersten Ausgaben nach dem Absetzen Sandbergs in ihrer Thematik und Ausrichtung noch weitgehend offen gewesen, so zeigte sich in der Zeitschrift ab Januar 1958 eine an die Politik angepasste Position der Redaktion. Die Verschlechterung des innenpolitischen Klimas in der DDR in Folge der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes Ende 1956 hatte zu einer erneuten Zuspitzung der politisch-ideologischen Ausrichtung der Kultur geführt.46 Seit Dezember 1957 hatte Ullrich Kuhirt vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim
44 Vgl. Grundig, Lea: »Neue Wandbilder in Dresden«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 1, S. 12-18. 45 Vgl. insbes. Schepilow, Dimitri T.: »Der sozialistische Realismus und die schöpferische Individualität des Künstlers«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 5, S. 339-340; Jablonskaja, T. M.: »Der Realismus ist der einzig fruchtbare Weg unserer Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 7, S. 483-484; Tschegodajew, Andrej: »Der Realismus des 20. Jahrhunderts und die abstrakte Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 12, S. 843-846. 46 Vgl. M. Steinkamp: Das unerwünschte Erbe, S. 326.
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ZK der SED die eigentliche Verantwortung in der Redaktion. Kuhirt sah die Debatten der letzten Zeit als »Wiedereindringen kunstfeindlicher Auffassungen«47 und die Kulturabteilung des ZK betonte, dass es die Hauptaufgabe der Zeitschrift sei, den Künstlern zu zeigen, worauf es bei der Entwicklung einer sozialistischen Kunst ankomme und somit dazu beizutragen, Werke zu schaffen, die der DDR »zur Ehre gereichen«48. An die Stelle von Rezensionen westdeutscher Künstler und Ausstellungen traten wieder verstärkt Auszüge aus sowjetischen Zeitschriften. Viele Autoren bekannten sich zur Größe der sowjetischen Malerei. Es war die Rede von den »unüberbrückbaren Gegensätzen«49 zwischen der kapitalistischen Welt und der sozialistischen Gesellschaft. Schlagworte, die in den kunstpolitischen Vorgaben bis zur Mitte der 1950er Jahre entstanden waren, prägten nun wieder die Beiträge. Es ging um die Verknüpfung von Künstlern und Werktätigen, um die Verantwortung des Künstlers als Erzieher in der sozialistischen Gesellschaft, um die Parteilichkeit und die Darstellung des sozialistischen Helden sowie um die Schaffung von Typenbildern und die Ablehnung des künstlerischen Experiments. Während sich die Zeitschrift in der Mitte des Jahrzehnts mit den Problemen der Kunst in der DDR auseinandergesetzt hatte, beschäftigten sich nun viele Beiträge wieder stärker mit der Herabsetzung der westlichen Kunst. Dass die Zeitschrift eine weniger diskussionsfreudige Position einnahm, wird auch daran deutlich, dass sich die Redaktion mit Aufsatzreihen anstelle von Diskussionen einem Thema näherte. Unter diesem Begriff wird in Heft 7/1958 das Erscheinen von drei Beiträgen Kurt Liebmanns zu dem Thema Dekadenz in der Kunst angekündigt, die sich mit der Überwindung des Phänomens beschäftigen.50 Im Rahmen dieser Texte klärt Liebmann u.a. sein Verständnis von der Rolle des Expressionismus, indem er die Unterscheidung der Begriffe expressiv und Expressionismus anführt: Expressiv sei ein zu allen Zeiten vorhandenes Element des Kunstschaffens, während der Expressionismus eine historisch be-
47 Kuhirt, Ullrich: »Mensch und Arbeit im neuen Verhältnis«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 4, S. 230. 48 I. Heller: Wie erfüllte die Zeitschrift »Bildende Kunst« ihre Aufgabe?, S. 828. 49 Pommeranz-Liedtke, Gerhard: »Unser Weg und die Vergangenheit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 1, S. 3. 50 Vgl. Liebmann, Kurt: »Die Anfänge der Dekadenz«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 7, S. 446-450 (Liebmann 1958a); ders.: »Der Expressionismus und seine Stellung zur Wirklichkeit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 8, S. 531-536 (Liebmann 1958b); ders. Liebmann, Kurt: »Das Reaktionäre Wesen der ›absoluten Malerei‹ «, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 10, S. 673-676 (Liebmann 1958c).
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dingte Erscheinung der Kunstentwicklung war.51 Für Liebmann ist der Expressionismus eine gesellschaftlich richtungslose Kunst, die Merkmale der Dekadenz aufweise. Nachdem im vorherigen Jahr bereits offen über die Rolle des Expressionismus diskutiert worden war, betont er nun eindringlich, dass der Expressionismus nie ein vollständiges Vorbild für die Kunst sein könne. Die Utopie des sozialistischen Realismus, die die SED für die Kunst vorschrieb, war wieder zum zentralen Bestandteil der Zeitschrift geworden. Zuversichtlich schreibt Georg Kaufmann am Ende des Jahres 1958, dass man dem Werden einer klassischen Blütezeit des sozialistischen Realismus entgegen sehe.52 Ingrid Beyer betont, dass der sozialistische Realismus nicht am Ende der Vergangenheit, sondern am Anfang der Zukunft stehe.53 6. Zwischen Verschärfung und ersten Tendenzen der Auflockerung – der kontrastreiche Beginn der 1960er Jahre Der Bau der Mauer im Jahr 1961 prägte den Beginn des Jahrzehnts. In der Kunstszene war diese Zeit durch Ambivalenzen gekennzeichnet: Einerseits fand mit dem Mauerbau eine radikale Eingrenzung statt, andererseits zeigten sich wieder offenere Sichtweisen im Kunstverständnis und Diskussionspotenzial. Für die Jahre von 1961 bis 1965 wird vielfach von einer leichten Lockerung des kulturellen Lebens gesprochen. Einige Künstler und Intellektuelle sahen den Mauerbau als Chance54 und verbanden damit die Hoffnung, dass die sozialistische Politik die Kunstdoktrinen lockerte, wenn keine direkte Einmischung mehr durch den Westen drohte. Hannelore Offner hingegen verweist darauf, dass gerade in dieser Zeit die ersten zielgerichteten Überwachungen von Künstlern wie Sandberg oder Graetz nachweisbar seien.55 Auch das Profil der Kunstzeitschrift
51 Vgl. K. Liebmann: Der Expressionismus und seine Stellung zur Wirklichkeit, S. 531. 52 Vgl. Kaufmann, Georg: »Die IV. Deutsche Kunstausstellung – ein Bekenntnis zur sozialistischen Weltanschauung«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 11, S. 720. 53 Vgl. Beyer, Ingrid: »Parteilichkeit – wichtigstes Kriterium des sozialistischen Realismus«, in: Bildende Kunst, Jg. 1959, Nr. 1, S. 4. 54 Vgl. Der Fischer Weltalmanach: Chronik Deutschland 1949-2009. 60 Jahre deutsche Geschichte im Überblick (Autoren: Eschenhagen, Wieland/Judt, Matthias u.a.), Lizenzausgabe Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, S. 115. 55 Vgl. Offner, Hannelore: »Überwachung, Kontrolle, Manipulation. Bildende Künstler im Visier des Staatssicherheitsdienstes«, In: Offner, Hannelore/Schroeder, Klaus (Hg.): Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989, Berlin 2000, S. 170.
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unter dem damaligen Chefredakteur Siegfried Heinz Begenau stellt sich in diesen Jahren widersprüchlich dar. In den ersten Zeitschriftenausgaben der 1960er Jahre wird die dogmatische Ausrichtung der Bildenden Kunst, die sich am Ende der 1950er Jahre unter Kuhirt entwickelt hatte, fortgeführt. Es erscheinen zahlreiche Beiträge, in denen die Autoren Aspekte der modernen Kunst anklagen: Die abstrakte Kunst würde nur der Unterhaltung dienen und verlange kein Können des Malers56, sie kenne keine Gesetze und schaffe eine Barriere zwischen Künstlern und Rezipienten57, sei für das Geschäftemachen ausgerichtet58 und verfälsche mit ihren Deformationen die Wirklichkeit59. Doch für die Künstler war die Frage nach den Grenzen des sozialistischen Realismus und seiner formalen Möglichkeiten weiterhin unbefriedigend beantwortet. Auch die Redaktion weist in einem Zeitschriftenbeitrag zur V. Kunstausstellung auf Irrwege des Bitterfelder Weges hin. Sie verurteilt Einseitigkeit und Stagnation in der Kunst.60 Günther Brendel äußert sich in der Ausgabe 12/1962 offen darüber, dass auf der V. Deutschen Kunstausstellung Werke von Malern wie Harald Metzkes oder Horst Zickelbein fehlten.61 Damit bestätigt Brendels Beitrag, dass es in der DDR auch am Anfang der 1960er Jahre Positionen in der Kunst gab, die, ungeachtet der politischen Situation, offen für ein weites Kunstverständnis eintraten. Die Maler Metzkes und Zickelbein suchten ihre eigenen Ausprägungen einer realistischen Malerei. Anfang der 1960er Jahre schlossen sie sich mit weiteren Malern Berlins zur Berliner Schule zusammen und entwickelten eine an Cézanne geschulte Farbkultur. Mit ihrer Negation vom Illustrativen schufen die Maler ein Alternativprogramm zur offiziellen Kunst ihrer Zeit. Nach einer Phase dogmatischer Ausrichtung zeigt sich ab dem Anfang der 1960er Jahre wieder eine größere Bandbreite von Positionen zur klassischen Moderne. Immer stärker dringen die Fragen nach der Form des Realismus und
56 Vgl. insbes. Pommeranz-Liedtke: Unser Weg und die Vergangenheit, S. 8. 57 Vgl. Dmitrijewa, N.: »Abstrakte Kunst und ästhetische Gesetzmässigkeiten«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 1, S. 52. 58 Vgl. Rögner, H.-J.: »Hinter den Kulissen der heutigen Malerei«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 8, S. 554. 59 Vgl. Wolkow, N.: »Deformieren oder nicht«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 5, S. 339. 60 Vgl. B. Vierneisel: Wechselbäder einer Verbandszeitschrift, S. 283. 61 Vgl. Brendel, Günther: »Worin bestehen die Qualitätsmassstäbe unseres Kunstschaffens? Bemerkungen im Zusammenhang mit der V. Deutschen Kunstausstellung«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 12, S. 628.
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nach der Anwendbarkeit von modernen Mitteln in die öffentlichen Diskussionen. Künstler und Kunstwissenschaftler wehren sich in der Zeitschrift gegen Vorgaben, die die künstlerische Gestaltung einschränkten. Gerade im Jahrgang 1961 widmen sich mehrere Autoren wieder der expressionistischen Kunst und lassen die Diskussion der Jahre 1956/57 aufleben. Das Präsidium des VBKD führt 1962 aus, dass es in der Kunstgeschichte häufig expressive Formen gegeben habe und es daher ein Irrtum sei, den Expressionismus als die spezifisch deutsche Kunsttradition anzusehen. Gleichzeitig plädiert das Präsidium für eine differenzierte Sicht, da die expressionistischen Künstler, die sich sozial beunruhigt gegen die kapitalistische Gesellschaft wandten, dennoch Bedeutung für den sozialistischen Realismus hätten.62 So wird es möglich, die expressiven Werke der politisch engagierten Künstler zu legitimieren und gleichzeitig eine Abgrenzung von der klassischen Moderne beizubehalten. 7. Debatten um die Kunstkritik in der ersten Hälfte der 1960er Jahre In den Jahren 1963/64 stand die Kunstkritik im Zentrum vieler Diskussionen in der DDR, so auch in der Bildenden Kunst. In der DDR wurde die Kunstkritik unter speziellen Gesichtspunkten betrachtet, die sich z. T. von allgemeinen Kriterien der modernen Kunstkritik unterschieden. Vielfach wurden die Vorgaben für die sozialistische Kunst einfach auf die Kunstkritik übertragen. Bereits am Ende der 1950er Jahre schreibt Siegfried Heinz Begenau in der Bildenden Kunst, dass die Parteilichkeit zum Kriterium der Kunstkritik werden müsse. Der vergangenen Kunstkritik wirft er vor, an der Verbreitung von Subjektivismus und Revisionismus mitgewirkt zu haben. 63 Begenau versteht die Kunstkritik als Kampfinstrument in der sozialistischen Gesellschaft und formuliert: „Eine treffende Kritik zeichnet sich aus durch Parteilichkeit, Wissenschaftlichkeit, Klarheit des Ausdrucks, Sinn für das Bedeutende und Unbedeutende, damit man nicht mit Kanonen nach Mücken schießt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann wird es der Kritik künftig an Originalität, Geist und Kühnheit nicht fehlen.“64
62 Vgl. VBKD: »Zu einigen Entwicklungsproblemen der bildenden Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 4, S. 175. 63 Vgl. Begenau, Siegfried Heinz: »Die IV. Deutsche Kunstausstellung im Spiegel unserer Kritik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1959, Nr. 10, S. 728. 64 Ebd., S. 730.
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Über die Rolle von Subjektivität und Objektivität wird in der Kunstkritik schon von Beginn an diskutiert. Dabei geht es auch um die generelle Grundfrage nach der Möglichkeit von ästhetischen Urteilen. In der Bildenden Kunst wird eine Subjektbezogenheit vielfach abgelehnt – sowohl für den Künstler als auch für den Kunstkritiker. 1962 betont in der Zeitschrift u.a. der Kunstwissenschaftler Friedrich Möbius die Gefahr des Subjektivismus, der die aktuelle Kunstkritik beherrsche. Er fordert vom Kritiker Objektivität, persönliche Formulierungen würden »bestenfalls von denen akzeptiert, die der Persönlichkeit des Kritikers vertrauen«65. Möbius beurteilt die bestehende Lage der Kunstkritik kritisch und stellt fest, dass meist nur Floskeln wie »dekorative Flächigkeit«, »rhythmischer Farbzusammenhang« oder »malerische Dichte« verwendet würden.66 Diether Schmidt sieht die Situation der Kunstkritik kritisch und hebt hervor, dass es in der DDR keine systematische, breite und ständige Kunstkritik gebe, sondern ihr die Presseorgane nur sporadisch Platz einräumten. Er betont, dass selbst die Künstler mittlerweile eine unbequeme Kritik vermissten. Mit einer systematischen Kunstkritik müsse auch eine Diskussion einhergehen. Des Weiteren übt Schmidt Kritik daran, dass häufig der gute Wille des Künstlers für den Kritiker als Leistung bereits genüge: »Eine Kunstkritik, die Wollen für Taten nimmt, propagiert eben keine Kunst.«67 Weniger problematisch als Schmidt empfindet Wolfgang Hütt den Stand der Kunstkritik und betont stattdessen in seinem Beitrag eine hohe Wertschätzung der Kunstkritik in der DDR. Außerdem spricht sich Hütt dafür aus, dass die Kritiker eine engere Verbindung zu den arbeitenden Künstlern haben müssten.68 Auch der VBKD spricht sich für diese engere Beziehung aus, da auch damit erreicht werden könne, dass die Kunstkritiken weniger abstrakt und subjektivistisch seien.69
65 Möbius, Friedrich: »Kunstgeschichte und Kunstkritik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 10, S. 545. 66 Vgl. ebd., S. 545. 67 Schmidt, Diether: »Was fehlt unserer Kunstkritik?«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 3, S. 154. 68 Vgl. Hütt, Wolfgang: »Einwurf in eine begonnene Diskussion. Zu Problemen der Kunstkritik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1963, Nr. 4, S. 210. 69 Vgl. VBKD: »Die bildende Kunst beim umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR und die Aufgaben des Verbandes. Beschluß des V. Kongresses des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 6, S. 326.
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8. Zwischen Meinungsfreiheit und Kontrolle – der Beitrag von Günter Feist in der Bildenden Kunst (1963/64) Der ebenfalls in der ersten Hälfte der 1960er Jahre veröffentlichte Doppelartikel Wir müssen es uns schwerer machen von Günter Feist stellte einen entscheidenden Einschnitt dar. Feists Beitrag steht für eine angestrebte freie Diskussion in der Zeitschrift, gleichzeitig ist er aber auch ein Beispiel für die Kontrolle, die die SED auf die Bildende Kunst ausübte. Die Bestrebungen von Künstlern und Kunstwissenschaftlern gegen die dogmatische Kulturpolitik wurden in den Jahren 1963/64 lauter, doch ihr Versuch der Öffnung des Kunstlebens gipfelte in dem Verbot des zweiten Teils von Feists Artikel. Feist war damals leitender Redakteur des Lexikons der Kunst und Mitglied der Sektion Kunstwissenschaft beim VBKD und der Arbeitsgruppe Bildende Kunst der Kulturabteilung des ZK der SED. »Wir müssen es uns schwerer machen, damit wir es leichter haben. So möchte ich das Gefühl formulieren, das mich manchmal überkommt, wenn ich über Realismus und Dekadenz reden höre«70 – mit diesen Worten beginnt Feist den ersten Teil seines Beitrags über die deutsche Tradition des Realismus und die Rolle der Dekadenz in der Dezemberausgabe der Bildenden Kunst 1963. Feist warnt vor einer vollständigen Verneinung der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts. In der Folge einer Verneinung entstünde das Gefühl der Traditionslosigkeit, das zu einer äußerlich nachäffenden Scheinkunst führe.71 Feist führt drei Künstlertraditionen an, in denen er Bedeutung für den deutschen Realismus erkennt: die Traditionslinie in der Architektur, die von Schinkel über die deutsche Bau- und Gebrauchskunst der 1920er Jahre bis zur Gegenwart führe, die Künstler eines demokratischen Realismus wie Oskar Kokoschka und Ernst Barlach, die es neben den Künstlern der proletarisch-revolutionären Kunst gab, sowie eine dritte Gruppe von Künstlern, die weder zu den sozialistischen noch zu den demokratischen Strömungen des Realismus gehörten. Letztere seien Vertreter eines klassischen Humanismus, worunter Feist z. B. Bildhauer wie Georg Kolbe oder Wilhelm Gerstel versteht. Sie hätten als Lehrer der nachfolgenden Generationen für das Fortbestehen des Realismus Bedeutung.72 Darüber hinaus hält er fest, dass selbst formzerstörende Kunststile wie Kubismus, Futurismus und Dadaismus Gestaltungsmittel für den Realismus liefern können, »wenn ein
70 Feist, Günter: »Wir müssen es uns schwerer machen«, in: Bildende Kunst, Jg. 1963, Nr. 12, S. 619. 71 Vgl. ebd., S. 620. 72 Vgl. ebd., S. 621ff.
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schöpferischer Künstler sie einem realistischen Gestaltungsprinzip unterwirft und ihnen zu Leben in der neuen realistischen Form verhilft«73. Im April 1964 sollte eine Fortsetzung des Artikels erscheinen. Während der Produktionszeit des Heftes fand im März 1964 der V. Kongress des Künstlerverbandes statt, auf dem öffentlich kritische Beiträge geäußert wurden. Feist schließt seinen zweiten Beitrag für die Bildende Kunst an diese kritischen Kongressbeiträge an. Damit die Ansichten jedoch nicht weiter verbreitet werden, erhält der Chefredakteur der Bildenden Kunst, Siegfried Heinz Begenau, die Anweisung, Feists Beitrag nicht zu drucken.74 Als Begenau an der Veröffentlichung festhält, wird er im Frühjahr 1964 entlassen. In der Folge wird das komplette Heft vernichtet und mit einem Grußwort Walter Ulbrichts anstelle des ursprünglichen Artikels neu gedruckt. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift, die im März 1991 erschien, wurde der zweite Teil des Artikels von Günter Feist als Faksimiledruck aus dem vernichteten Heft 4/1964 veröffentlicht. Feist erläutert und ergänzt in dem Text die von ihm gewählte Formulierung, dass man es sich schwerer machen müsse. Nun lautet sie: »Wir müssen es uns schwerer machen, indem wir die Dinge vielschichtig zu begreifen suchen.«75 »Schwer machen« versteht Feist dabei als ein »nicht auf die Regeln pochen und trotzdem zum Gesetzlichen finden«; »vielschichtig« heißt für ihn, das »Kunstwerk nicht nur als Materialsituation einer Ideologie zu begreifen, sondern in seiner gesamten Seinsverknüpfung«.76 Feist stellt sich gegen verbandsoffizielle Verkündungen, die die Gestaltungsmittel der Moderne für die sozialistische Kunst grundsätzlich als unbrauchbar erklären. Mit einer geschichtlich begründeten Unterscheidung von Stil und Methode gelangt er zu einem Verständnis vom Realismus, das vielfältige Formen zulässt. Stil begreift er als allgemeinen Ausdruck, als Zeitstil, Nationalstil und Individualstil, Realismus hingegen sei eine Methode, »eine Form künstlerischer Wirklichkeitsbeziehungen«77. Feist konstatiert für das 20. Jahrhundert drei stilgeschichtliche Bewegungen – das Impressive, das Konstruktive und das Expressive – und gelangt zu positiven Bewertungen von Paul Klee, Piet Mondrian und Amedeo Modigliani. Matthias Flügge resümiert 1991: »Die geschichtlich begründete Unterscheidung
73 G. Feist: Wir müssen es uns schwerer machen, S. 624. 74 Vgl. Flügge, Matthias: »Rückblicke auf die Zeitschrift Bildende Kunst«, in: bildende kunst, Jg. 1991, Nr. 3, S. 56. 75 Feist, Günter: »Wir müssen es uns schwerer machen. Fortsetzung des Artikels von Heft 12/63«, in: bildende kunst, Jg. 1991, Nr. 3, S. S. 65. 76 Vgl. ebd. 77 Ebd.
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von ›Stil‹ und ›Methode‹ war eine Erklärungskonstruktion, die es erlaubte, die ›Ufer‹ des Realismus pragmatisch zu weiten.«78 Auch wenn am Beispiel von Feists Artikel Kontrolle und Macht der SED deutlich werden, zeigt sich dennoch, dass es in der Mitte der 1960er Jahre verstärkt zu Forderungen nach einer Neubewertung der modernen Mittel kam. 9. Die Suche nach einer neuen Form für die Kunst – die Zeitschrift im Jahr des V. Verbandskongresses 1964 Dass das Jahr 1964 ein Jahr »reger Streitgespräche«79 in der Kunst wie auch in der Zeitschrift war, zeigt nicht nur der Artikel von Günter Feist. In den vorangegangenen Jahren waren in der DDR Tendenzen aufgekommen, die eine zunehmende Rezeption der Moderne forderten. Immer mehr Künstler setzten sich für eine Vielfalt an künstlerischen Gestaltungsmitteln ein und selbst dogmatische Kulturfunktionäre rückten vorsichtig von den früheren offiziellen Positionen ab. Auf dem V. Verbandskongress vom 24. bis 26. März 1964, auf dem die Fragen nach der Form und der Tauglichkeit moderner Mittel für die Kunst in der DDR einen großen Stellenwert einnahmen, wurde die Unzufriedenheit öffentlich. Auf ihm hatte der Bildhauer Fritz Cremer festgestellt: »Wenn wir von der Notwendigkeit eines nach vorne offenen Realismus in der Kunst sprechen, so wird die schöpferische Kraft des einen oder anderen Künstlers die Ufer übertreten, ganz gleich, ob wir nun diese Übertretung offiziell genehmigt haben oder nicht.«80
Des Weiteren forderte Cremer auf dem Kongress: »Wir brauchen eine Kunst, die die Menschen zum Denken veranlaßt, und wir brauchen keine Kunst, die ihnen das Denken abnimmt.«81 Auch wenn die SED versuchte, die Diskussion einzudämmen, war deutlich geworden, dass die Kunst im Sozialismus durch vielfältige Handschriften geprägt war. In der Bildenden Kunst wurde der V. Kongress des VBKD sowohl vorbereitend als auch nachbereitend thematisiert. Die Skandal-Beiträge des
78 M. Flügge: Rückblicke auf die Zeitschrift Bildende Kunst, S. 56. 79 Meuche, Hermann: »Wir müssen über die Form sprechen!«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 11, S. 608. 80 Cremer, Fritz, zit. n. Gillen, Eckhart: Das Kunstkombinat DDR, S. 105. 81 Cremer, Fritz: »Rede auf dem V. Kongreß des VBKD [1964]«, in: Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 325.
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Kongresses erschienen jedoch nicht, lediglich die Referate von Lea Grundig und Rudolf Bergander, die dem politischen Kunstverständnis entsprachen, wurden abgedruckt. Nur in einzelnen Textstellen finden sich in der Zeitschrift Verweise auf die kritischen Reden, vor allem auf die Beiträge von Fritz Cremer und Hermann Raum. In dem abgedruckten Grundsatzreferat spricht Lea Grundig, die von 1964 bis 1970 Präsidentin des Verbandes war, über die Erfolge der Kunst seit dem Bitterfelder Weg. Grundig widmet sich auch der Frage, ob man von der Moderne lernen könne.82 Obwohl auch sie betont, dass keine Gleise für die Künstler gelegt werden dürfen, sieht sie die Voraussetzung für eine freie Verwendung aller Gestaltungsmittel jedoch darin, dass diese nur Mittel blieben und der Verkörperung des Inhalts dienten: »Machen sie sich selbständig, ob in subjektivistischer Willkür oder in platter optischer Nachbilderei – verdienen sie unerbittliche Kritik.«83 Den Subjektivismus von abstrakten Künstlern lehnt Grundig strikt ab, unterscheidet davon aber das Subjektive im Kunstwerk. Dieses Subjektive, die Persönlichkeit des Künstlers, die sich in Verbindung mit Allgemeinem zeige, sei ein wesentliches Charakteristikum der Kunst im Sozialismus.84 Subjektivität wurde in der Kunst in der Mitte der 1960er Jahre nicht mehr kategorisch verneint, jedoch – um die Unterscheidung von der Moderne beizubehalten – in das Subjektive und den Subjektivismus geteilt. Der Subjektivismus, die Lehre, dass das Erkennen der Welt rein subjektiv erfolge, wurde der modernen Kunst weiterhin vorgeworfen. Welche Kriterien galten also für die neue Form des sozialistischen Realismus? Die Künstler, Kunstpolitiker und Kunstwissenschaftler suchten in ihren Beiträgen in der Bildenden Kunst nach einer Antwort auf diese Frage. Es ging nicht mehr um eine generelle Ablehnung der Formelemente der Vergangenheit, vielmehr sollte die Frage nach ihrem Aussagewert im jeweiligen Kunstwerk betrachtet werden.85 Der Realismus wurde im parteilichen Kunstverständnis in der Mitte der 1960er Jahre an das Weltbild des Künstlers und nicht mehr an die Gestaltungsmittel geknüpft. Damit war nach außen eine Freiheit möglich, während
82 Vgl. Grundig, Lea: »Die Wahrheit unseres Lebens sichtbar machen – das ist der Bitterfelder Weg. Aus dem Referat Prof. Lea Grundigs auf dem V. Kongreß des VBKD in Berlin«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 4, S. 172. 83 Ebd., S. 174. 84 Ebd., S. 172ff. 85 Vgl. Beier-Red, Alfred: »Kunst zu welchem Zweck?«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 1, S. 45.
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die ideologischen Anforderungen an die Künstler aufrecht erhalten und abstrakte Kunstwerke weiterhin explizit ausgegrenzt wurden. 10. Vom Weiterdenken in den Bildern – Themen der Bildenden Kunst bis zum Ende der 1960er Jahre Das Streben nach einer Erweiterung der künstlerischen Aussage zog sich durch das Jahrzehnt und die Autoren thematisierten in der Bildenden Kunst auch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre weiterhin die Frage nach der Form. Auch wenn mit dem sogenannten Kahlschlag-Plenum im Jahre 1965 von Seiten der Politik deutliche Versuche stattfanden, zu einer restriktiven Kunstkonzeption zurückzukehren, spiegeln die Zeitschriftenjahrgänge weiterhin das starke Bedürfnis nach einer neuen, offeneren Sichtweise auf die Kunst wider. Der Kunstwissenschaftler Klaus Weidner formuliert 1966, dass man die auf dem 5. Plenum des Zentralkomitees von 1951 an manchen Kunstwerken geäußerte Kritik nun als falsch oder einseitig erkenne.86 Es war deutlich geworden, dass die Kunst in der DDR mit einer Widerspiegelungstheorie nicht mehr erfasst werden konnte. Die Abnutzung kulturpolitischer Schlagworte wie z. B. Volkstümlichkeit bzw. Volksverbundenheit machte Abweichungen von dogmatischen Ansprüchen möglich und brachte neue Wege für die künstlerische Gestaltung. Es tauchten neue gestalterische Tendenzen auf, die sich in surrealistischen Montagen, Simultanbildern, Bilderreihen und mehrteiligen Bildern zeigten. In der Zeitschrift bestätigen zahlreiche Perspektivwechsel und Rehabilitierungen einzelner Künstler die neuen Blickwinkel und künstlerischen Möglichkeiten. Damit waren bereits am Ende des Jahrzehnts grundlegende Bedingungen für eine Tendenz geschaffen, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten weiter verstärkte. Auch die Diskussion um die Tradition des sozialistischen Realismus, die bereits in den 1950er Jahren stattfand, wurde weitergeführt. Unter dem Argument der Gesellschaftskritik waren der Expressionismus, die proletarisch-revolutionären Strömungen der 1920er Jahre und die antifaschistische Kunst zwischen 1933 und 1945 endgültig zum Ausgangspunkt des sozialistischen Realismus erklärt worden. Aus den Beiträgen in der Zeitschrift geht hervor, dass bereits eine Vielfalt an künstlerischen Handschriften existierte. Am Werk Leuna 21 (1965/66) von Willi Sitte, das sich den Märzkämpfen 1921 im Rahmen des proletarischen Aufstandes in der Industrieregion um Leuna widmet, entzündet sich in der Zeitschrift eine Diskussion über die Rolle des Be-
86 Vgl. Weidner, Klaus: »Auf dem richtigen Wege. Zum Problem der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse«, in: Bildende Kunst, Jg. 1966, Nr. 4, S. 179.
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griffs Volksverbundenheit. Wie viel Vorwissen darf ein Künstler von den Betrachtern verlangen? Die Auseinandersetzungen weiten sich in den folgenden Ausgaben aus zu einer Diskussion um die Frage, inwieweit der Betrachter durch die Kunst geistig gefordert werden solle. Peter H. Feist stellt 1966 in seinem Beitrag Muß unsere Kunst intelligenzintensiv sein? heraus, dass Kunst kein Abbild sein dürfe, sondern den Betrachter fordern und anregen müsse: Der Rezipient wolle »keinen Abklatsch, sondern Schöpfung«87. Weitere Autoren schlossen sich dieser Meinung an und auch Ulbricht hatte bereits auf der 2. Bitterfelder Konferenz formuliert, dass eine Kunst gebraucht werde, die zum Denken anrege. 88 Insgesamt lässt sich festhalten, dass dem Rezipienten in der Mitte der 1960er Jahre wieder zunehmend eine Rolle eingeräumt wurde, in der er als Subjekt und nicht mehr als Masse verstanden wurde. Ein zweites zentrales Thema in der Bildenden Kunst ist zu dieser Zeit die Rolle der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Kunst. Die DDR hatte den Terminus Anfang der 1960er Jahre von der Sowjetunion übernommen. 89 Kurt-Heinz Rudolf sieht in der technischen Revolution die Ursache für das Aufkommen von Simultanbildern, die geeignet seien, Entwicklungsabläufe in ihrer Dynamik erlebbar zu machen.90 In ihren Simultanbildern setzten die Maler in den 1960er Jahren in ihren Werken Collage- und Montagetechniken ein und nutzten Elemente, die bereits im Kubismus und Futurismus den Bildraum bestimmt hatten. In diesem Kontext wird in der Bildenden Kunst das Werk Chemiearbeiter am Schaltpult (1968) von Willi Sitte besprochen, dessen Bildsprache sich durch einen lockeren Pinselgestus, Farbspritzer und Dynamik auszeichnet. Das Bild suggeriert, dass jeder Facharbeiter komplexe Produktionsprozesse allein steuern könne. Damit erfüllt es eine ideologische Funktion im Sinne der SED und ist ein Beispiel dafür, wie sich die Bildsprache veränderte, ohne von den Vorstellungen des sozialistischen Realismus abzuweichen. In zahlreichen Punkten spiegeln die Beiträge in der Bildenden Kunst eine veränderte Sicht auf die Kunst wider. Die Zeitschrift ist in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durch Offenheit in Bezug auf Gestaltung, Inhalt und kulturelle Herkunft der Künstler geprägt, was beispielhaft in Artikeln über die stilisierten
87 Feist, Peter H.: »Muß unsere Kunst intelligenzintensiv sein?«, in: Bildende Kunst, Jg. 1966, Nr. 8, S. 435. 88 Vgl. Ulbricht, Walter: »Walter Ulbricht auf der Zweiten Bitterfelder Konferenz«, in: Bildende Kunst, Jg. 1967, Nr. 2, S. 105. 89 Vgl. E. Gillen: Das Kunstkombinat DDR, S. 109. 90 Vgl. Rudolf, Kurt-Heinz: »Sozialistische Impulse für die Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1967, Nr. 5, S. 269.
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Figuren des Malers Ibrahim Hazimeh oder über die abstrahierten Formen des ecuadorianischen Malers und Bildhauers Oswaldo Guayasamin deutlich wird. Auch die Kunstentwicklung in Westdeutschland und große internationale Ausstellungen wie die Intergrafik und die documenta werden in der Zeitschrift besprochen. Obwohl die Autoren in Anbetracht der abstrakten Werke z. T. Unverständnis äußern, spricht aus zahlreichen Beiträgen nicht mehr jene Abwertung, die am Anfang bzw. Ende der 1950er Jahre zu finden war.
A UF DEM W EG VON V ERORDNUNG S ELBSTBESTIMMUNG
ZU
Die Frage nach der Moderne prägt die Kunstdiskussion in Vergangenheit und Gegenwart. Ambivalenz und Konflikt sind dabei zentrale Begriffe – sie treffen sowohl für die Kunst selbst als auch für den Umgang mit ihr zu. Dies zeigte sich beispielhaft in der Rezeption der Moderne in der DDR. Während Hannelore Offner festhält, dass die Partei immer die Macht besaß, zu definieren, was unter Kunst zu verstehen sei91, muss ergänzt werden, dass sie dabei aber stets mit Diskussionen und Positionen von Künstlern, Kunstwissenschaftlern und undogmatischen Kulturfunktionären konfrontiert war, die letztlich ebenfalls zur Ausrichtung der Kunst beitrugen und offizielle Sichtweisen auflockerten. Am Beispiel der Zeitschrift Bildende Kunst zeigt sich ein Wechselspiel von Vorwärtsbewegungen und Rückschritten, das im Ergebnis nach und nach zu einer Aufweichung politisch vorgegebener Kunstdogmen und einer Rehabilitierung von Elementen der klassischen Moderne führte. Dabei handelte es sich – so Vierneisel – um einen »sorgsam ausbalancierten Prozeß im Rahmen des Verordneten«92. Die frühen Diskussionen der 1950er und 1960er Jahre hatten Einfluss auf die Kunstentwicklungen der späteren Jahre in der DDR. Am Ende der 1970er Jahre waren zahlreiche Kunstwerke durch Lebendigkeit, Kritik und Widersprüchlichkeit geprägt. Achim Preiß spricht von einer Koexistenz von staatskonformer Kunst, staatsnaher Neomoderne und inoffizieller, z. T. kritischer Malerei
91 Vgl. Offner, Hannelore: »Überwachung, Kontrolle, Manipulation. Bildende Künstler im Visier des Staatssicherheitsdienstes«, in: Offner, Hannelore/Schroeder, Klaus (Hg.): Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989, Berlin 2000, S. 270. 92 Vgl. B. Vierneisel: Wechselbäder einer Verbandszeitschrift, S. 284.
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mit einer gewissen offiziellen Anerkennung. 93 Die Diskussionen in der Bildenden Kunst verdeutlichen, dass die ersten beiden Jahrzehnte der deutschdeutschen Teilung in gewissem Sinne als Zeit der Aushandlung von Regeln und Kunstkonzepten betrachtet werden können, auch wenn sich die Formen der Kritikäußerung durch die Kunst in der frühen Zeit der DDR von denen in den Endjahren unterscheiden. Es zeigt sich, dass die häufig behauptete Trennung der 1950er und 1960er Jahre von den 1970er und 1980er Jahren nicht aufrecht erhalten werden kann. Schon in den ersten beiden Jahrzehnten gab es kritische Meinungsäußerungen, Aufbrüche im parteilichen Kunstverständnis und von den Vorgaben abweichende Kunstwerke. Auch die Zeitschrift Bildende Kunst war in dieser Zeit bereits ein vielseitiges Medium, das in manchen Phasen politisch ausgerichtet eine offizielle Kunstauffassung vermittelte, in anderen jedoch als Forum für Diskussionen, die sich ohne politische Lenkung entwickelten, fungierte. Von offizieller Seite 1953 als »Kampforgan für den sozialistischen Realismus«94 konzipiert, wandelte sich die Bildende Kunst in vielen Phasen zu einem vielseitigen Diskussionsforum, das einen Beitrag zur Veränderung der Kunstszene leistete und damit eine allgemeine gesellschaftliche Relevanz erlangte. Die Diskussionen in der Zeitschrift zeigen unterschiedliche Ebenen im Umgang der SED mit der Kunst. Im Laufe der 1960er Jahre wurden offiziell Formen der klassischen Moderne anerkannt, dies geschah jedoch weitgehend losgelöst von Ideen. So war z. B. die Verbindung von Kunst und Leben im sozialistischen Kunstkonzept fest verankert, wurde jedoch – anders als von den historischen Avantgarden, die am Anfang des 20. Jahrhunderts betont hatten, dass Kunst selbst Leben werden solle – verstanden als Kunst im Leben der sozialistischen Gesellschaft. In dieser die Gesellschaft bildenden Funktion blieb die Kunst offiziell der Politik untergeordnet und war an die Figuration gebunden. Obwohl die Politik erkannte, dass die Kunst ihren eigenen Gesetzen folgte und in den 1960er Jahren eine freie Verwendung von Gestaltungsmitteln akzeptierte, erhielt sie die Forderung nach einem sozialistischen Inhalt offiziell bis zum Ende der DDR aufrecht. Immer wieder versuchten dogmatische Autoren auch in der Bildenden Kunst, die Diskussion um die Form zu bremsen und den Blick wieder auf inhaltliche Fragen zu lenken. Das Kunstverständnis der SED blieb der Gegenständlichkeit verhaftet, die Abstraktion wurde abgelehnt oder auf eine Dekorationsfunktion reduziert. Gillen resümiert: »40 Jahre kämpften die Künstler um die
93 Vgl. Preiß, Achim: »Offiziell/Inoffiziell – Die Kunst der DDR«, in: Bothe, Rolf/Föhl, Thomas (Hg.): Aufstieg und Fall der Moderne, Ostfildern-Ruit 1999, S. 466. 94 Anzeige der Zeitschrift Bildende Kunst, S. 31.
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verbotenen Früchte der Moderne. Im Ergebnis gab es eine moderate Moderne als Kompromiss.«95 Das Verständnis von Begriffen spielte für die Rezeption der Moderne in der DDR eine wichtige Rolle. Es kam zu Umbildungen bzw. Grenzziehungen von Begriffen, so z.B. zur Unterscheidung zwischen dem Expressiven und dem Expressionismus, zwischen dem Modernen und dem Modernismus sowie zwischen dem Subjektiven und dem Subjektivismus im Kunstwerk. Damit konnten gestalterische Freiheiten und Mittel der Moderne offen anerkannt werden, ohne dass die SED die Abgrenzung von den Ideen der klassischen Moderne bzw. der an diese anknüpfenden westlichen Nachkriegsmoderne aufgab. Am Beispiel der Bildenden Kunst zeigt sich, dass der langsame Prozess zu einer offiziellen Tolerierung von Elementen der Moderne mit sich wandelnden Bewertungen stattfand: In der Mitte der 1950er Jahre wurde der Expressionismus politisch interpretiert, in Bezug auf das gesellschaftliche Engagement seiner Künstler gegen den Kapitalismus diskutiert und schließlich in Teilen als nationales Erbe anerkannt. In den 1960er Jahren fand eine breitere Auseinandersetzung mit der Moderne statt, in der die selbstbestimmte Verwendung von Gestaltungsmitteln offiziell akzeptiert wurde, während eine inhaltliche Gestaltung im Sinne der sozialistischen Utopie verordnet blieb. Mit der verstärkten Betonung der expressiven Gestaltungsmittel, die unabhängig vom Expressionismus existierten, wurde nun auch die Tolerierung von Elementen des Expressionismus auf diese zweite Ebene verlagert: Das Expressive konnte als Gestaltungsmittel dem sozialistischen Inhalt untergeordnet werden, während die Konstruktion gleichzeitig »die grundsätzlich abwehrende Haltung gegenüber der westlichen Kunst seit 1945«96 aufrechterhielt. Diese schwankende Bewertung der klassischen Moderne in den beiden Jahrzehnten lässt vermuten, dass dahinter weniger eine feste Kunstkonzeption stand als vielmehr eine jeweils an die herrschende Situation angepasste Abgrenzung von der BRD und der dortigen Rezeption der Moderne. Die Diskussionen fanden stets im Kontext politischer und sozialer Entwicklungen in der DDR statt. Erbe verweist auf ein Dilemma am Ende der 1960er Jahre, in das die Kulturpolitik geriet, als deutlich wurde, dass die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft nicht erreichbar war.97 Zwar hielt die Partei an der sozialistischen Zukunftsperspektive fest, musste jedoch die Idee einer konflikt-
95 E. Gillen: Das Kunstkombinat DDR, S. 157. 96 U. Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 142. 97 Vgl. Erbe, Günter: Die verfemte Moderne. Auseinandersetzung mit dem »Modernismus« in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993, S. 112.
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freien Gesellschaft aufgeben. In der Forderung nach einem sozialistischutopischen Ideengehalt der Kunst und der auf Nahziele zusammengeschrumpften Gesellschaftspolitik lag ein Widerspruch, der die Veränderungen in der Kunstszene weiter anschob. In welcher Form traf nun das eingangs benannte Beziehungskonzept von Kunst und Gesellschaft für die Kunst aus der DDR zu? Während es in der offiziellen und dogmatischen Kunstkonzeption um die Aufhebung der Autonomie und die »Indienststellung für die Interessen einer homogenisierten Gesellschaft«98 ging, zeigte sich in der Zeitschrift ein mehrschichtiges, offenes Kunstverständnis. Es gab immer wieder Diskussionen, mit denen versucht wurde, den sozialistischen Realismus um Formentwicklungen und individuelle Handschriften zu erweitern. Obwohl die Partei die Kunst bis zum Ende der DDR 1989 den politischen Vorgaben unterordnete99, hatte sie durch die Öffnung zu modernen Gestaltungsmitteln in den 1960er Jahren auch der Entwicklung einer individuellen und Kritik übenden Kunst Möglichkeiten geboten. Zwar wurde die Idee des Subjekts, ein Gedanke der Moderne, aus der Kunstkonzeption der Partei ausgeklammert, in den Diskussionen über die Kunst war es dennoch Thema. Bereits in den 1960er, vermehrt in den 1970er und 1980er Jahren, wiesen viele Bilder auf eine negative Utopie vom Sozialismus hin – und damit auf eine eigene Künstlerutopie und kritische Reflexion der DDR. Die Maler unterliefen vielfach die Vorgaben, widersprachen und entwickelten Gegenbilder. Anstelle des heldenhaften Arbeiters malte Wolfgang Mattheuer 1973/74 beispielsweise Die Ausgezeichnete, eine Frau, die Nachdenklichkeit und Einsamkeit ausstrahlt. Sie ist das »Sinnbild der Kluft zwischen den Idealen und der kargen Prosa des real existierenden Sozialismus«100. Eduard Beaucamp beschreibt: Die Maler »stellten sich der Gegenwart oder wanderten in eine imaginäre Geschichtlichkeit aus und kommentierten die DDR-Wirklichkeit auf komplizierten Umwegen.«101 Die Künstler, die sich in der DDR für eine freie Kunst einsetzten, stehen für jenes Begehren, »ohne Angst verschieden sein« zu können, das Adorno in seiner Minima Moralia 1951102 als
98
E. Gillen: Das Kunstkombinat DDR, S. 157.
99
Vgl. ebd., S. 139.
100 Ebd., S. 146. 101 Beaucamp, Eduard in: »Gespräch mit Eduard Beaucamp und Laszlo Glozer. Moderation Winfried Nerdinger. Bildende Kunst in Ost und West«, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Kunst in Ost und West seit 1989: Rückblicke und Ausblicke, München [u.a.] 2010, S. 31f. 102 Vgl. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1969, S. 130f.
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Voraussetzung für die emanzipierte Gesellschaft formulierte. In diesem Begehren, das bereits mit den Kunstdiskussionen der 1950er und 1960er Jahre begann, fand die Moderne auf unterschiedlichen Ebenen Eingang in die Kunst in der DDR. Abschließend gilt zu fragen, ob die damals geführten Debatten als Auslöser für neue Freiheiten in der Kunst und damit letztlich auch für Freiheiten im System – von der Kritikäußerung mittels der Bilder bis hin zur Implosion des Systems 1989 – gesehen werden können. Goeschen formuliert: »Die Eroberung der künstlerischen Freiheit war der politischen Freiheit vorangegangen.«103 So steht hinter der Fragestellung nach der Rezeption der Moderne in der DDR die Frage danach, was die Kunst für die Gesellschaft leistete und welche Rolle sie für diese übernahm. In den Diskussionen zeigten sich u. a. seismographische Elemente der Kunst. Im Kulturpolitischen Wörterbuch der BRD und DDR im Vergleich hieß es 1983, dass der dogmatische Ausschluss großer Teile neuerer Kunst in der DDR den Nebeneffekt haben könnte, „daß avantgardistische, subversive K. [= Kunst, Anm. d. Verf.] gerade als unterdrückte, heimlich rezipiert, mehr von ihrer ursprünglichen, jeder künstlerischen Avantgarde eigenen Sprengkraft bewahrt als in der Bundesrepublik“104 .
Resümierend kann festgehalten werden, dass die Auseinandersetzungen mit der Kunst der klassischen Moderne in der DDR zu einer eigenen Moderne geführt haben. Die Kunst der klassischen Moderne zeichnet sich durch die Abgrenzung von vorgegebenen Strukturen und den Bruch mit der Tradition aus. Nach Adorno sind »Die Male der Zerrüttung […] das Echtheitssiegel der Moderne«105 und Beaucamp betont, dass Widersprüche und Antagonismen immer schon den Reiz, die Dramatik und den Reichtum deutscher Kunst ausmachten und auch in der Kunst des geteilten Deutschlands verstärkt zu Tage treten106. Die Kunst in der DDR wurde im Laufe der 40 Jahre modern als ein »konzentrierter und zugespitzter Ausdruck eines Zeitbewußtseins, das die Gegenwart als krisenhaft erfährt und dem die Geschichtsutopie des Marxismus-Leninismus problematisch geworden
103 U. Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 228f. 104 Lehmann, Hans-Thies/Schulz, Genia: »Kunst und Gesellschaft«, in: Langenbucher, Wolfgang R./Rytlewski, Ralf/Weyergraf, Bernd (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Bundesrepublik Deutschland/DDR im Vergleich, Stuttgart 1983, S. 438. 105 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 41. 106 Vgl. Beaucamp, Eduard in: Gespräch mit Eduard Beaucamp und Laszlo Glozer. Moderation Winfried Nerdinger. Bildende Kunst in Ost und West, S. 30.
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ist«107. Ebenso wie Werke der klassischen Moderne zeichnen sich auch Werke aus der DDR durch eine Konfliktbeladenheit und Disharmonie aus. Erweitert man den Blick auf das ganze Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges, so fallen ebenfalls Momente auf, die gerade auch auf der gemeinsamen Ebene Bezüge zur klassischen Moderne zulassen. Dieter Borchmeyer führt – ebenso wie auch Hans Belting108 – aus, dass hinter dem Gegensatz zwischen westlicher und östlicher Ästhetik antithetische Kunstpositionen auftauchten, welche die Moderne seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt haben: »Der Gegensatz zwischen Beuys und Tübke, Schuhmacher und Mattheuer ist kaum gegensätzlicher als der zwischen den ästhetischen Gegenspielern der zwanziger Jahre«109. Beide Teile Deutschlands waren auch in ihrer Trennung miteinander verwoben und bedingten sich gegenseitig.110 So ist die Kunstszene in der DDR als ein differenzierter Prozess aus Verflechtungen und Abgrenzungen zu betrachten. Die Vielfalt der Kunst aus der DDR und die mannigfachen Positionen zur Kunst machen die Notwendigkeit deutlich, den mehrfach noch spürbaren Mangel an differenzierten Betrachtungsweisen gegenüber der Kunst aus Ostdeutschland111 zu überwinden.
107 G. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 141. 108 Belting, Hans: Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe, München 1992. 109 Borchmeyer, Dieter: »Vorwort«, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Kunst in Ost und West seit 1989: Rückblicke und Ausblicke, München [u.a.] 2010, S. 10. 110 Vgl. Faulenbach, Bernd: Nur eine »Fußnote der Weltgeschichte«? In: Eppelmann, Rainer; Faulenbach, Bernd; Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 13. 111 Vgl. Heidel, Marlene: »Die Neue Leipziger Schule und der Kontext ihrer Farbaufträge«, in: Bisanz, Elize: Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland, Münster 2005, S. 171.
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Jablonskaja, T. M.: »Der Realismus ist der einzig fruchtbare Weg unserer Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 7, S. 483-484. Jähner, Horst: »Die demokratische Bodenreform und die Themen unserer Zeit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1955, Nr. 5, S. 332-334. Jähner, Horst: »Picasso oder die Desillusionierung der Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 7, S. 400-403. Kaufmann, Georg: »Die IV. Deutsche Kunstausstellung – ein Bekenntnis zur sozialistischen Weltanschauung«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 11, S. 715720. Köhler, Wolfgang: »Schöpfungen eines Genies (Picasso-Diskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 1, S. 51. Kuhirt, Ullrich: »Mensch und Arbeit im neuen Verhältnis«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 4, S. 227-232. Liebmann, Kurt: »Die Anfänge der Dekadenz«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 7, S. 446-450 (Liebmann 1958a). Liebmann, Kurt: »Der Expressionismus und seine Stellung zur Wirklichkeit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 8, S. 531-536. (Liebmann 1958b). Liebmann, Kurt: »Das Reaktionäre Wesen der ›absoluten Malerei‹«, in: Bildende Kunst, Jg. 1958, Nr. 10, S. 673-676 (Liebmann 1958c). Lüdecke, Heinz: »Phänomen und Problem Picasso«, in: Bildende Kunst, Jg. 1955, Nr. 5, S. 339-343. Máquez Rodiles, Ignacio: »Picasso contra Picasso«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 1, S. 51. Meuche, Hermann: »Einheit und Widerspruch. Zu Willi Sittes neuem Triptychon«, in: Bildende Kunst, Jg. 1965, Nr. 2, S. 73-75. Meuche, Hermann: »Wir müssen über die Form sprechen!«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 11, S. 606-608. Möbius, Friedrich: »Kunstgeschichte und Kunstkritik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 10, S. 545-548. Palitzsch, Peter: »Realismus verändert sich mit der Realität (PicassoDiskussion)«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 4, S. 222. Pommeranz-Liedtke, Gerhard: »Unser Weg und die Vergangenheit«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 1, S. 3-10. Rögner, H.-J.: »Hinter den Kulissen der heutigen Malerei«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 8, S. 553-555. Rudolf, Kurt-Heinz: »Sozialistische Impulse für die Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1967, Nr. 5, S. 268-269. Runowsky, Fred: »Picasso regt zum Mitdenken an«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 2, S. 108.
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Sandberg, Herbert: »Die junge Generation«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 9, S. 505-506 (Sandberg 1956a). Sandberg, Herbert: »Die realistischen Maler auf der XXVIII. Biennale«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 11/12, S. 586-593. (Sandberg 1956b) Sandberg, Herbert: »Gestern und Heute«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 1, S. 49-50. (Sandberg 1957a) Sandberg, Herbert: »Über die Wirksamkeit unserer neuen Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 4, S. 725-729. (Sandberg 1957b) Schepilow, Dimitri T.: »Der sozialistische Realismus und die schöpferische Individualität des Künstlers«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 5, S. 339-340. Schmidt, Diether: »Was fehlt unserer Kunstkritik?«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 3, S. 153-156. Spielmann, Petr: »Picasso und sein Realismus«, in: Bildende Kunst, Jg. 1956, Nr. 2, S. 105-107. Spielmann, Petr: »Realismus und Modernität der Kunst. Bemerkungen zu dem Beitrag von Wolfgang Hütt, ›Bildende Kunst‹, Heft 10/1956«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 2, S. 127-128. Stephan, Traugott: »Entwicklung und Ergebnisse. Fünf Jahre Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1954, Nr. 5/6, S. 5-11. Tschegodajew, Andrej: »Der Realismus des 20. Jahrhunderts und die abstrakte Kunst«, in: Bildende Kunst, Jg. 1957, Nr. 12, S. 843-846. Ulbricht, Walter: »Walter Ulbricht auf der Zweiten Bitterfelder Konferenz«, in: Bildende Kunst, Jg. 1967, Nr. 2, S. 105. VBKD: »Zu einigen Entwicklungsproblemen der bildenden Kunst in der Deutschen Demokratischen Republik«, in: Bildende Kunst, Jg. 1962, Nr. 4, S. 171-177. VBKD: »Die bildende Kunst beim umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR und die Aufgaben des Verbandes. Beschluß des V. Kongresses des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands«, in: Bildende Kunst, Jg. 1964, Nr. 6, S. 283-286 sowie S. 322-328. Weidner, Klaus: »Auf dem richtigen Wege. Zum Problem der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse«, in: Bildende Kunst, Jg. 1966, Nr. 4, S. 171180. Wolkow, N.: »Deformieren oder nicht«, in: Bildende Kunst, Jg. 1961, Nr. 5, S. 337-339. Zentralkomitee der SED: »Auszug aus der Entschließung des Zentralkomitees der SED auf der Tagung vom 15. Bis 17. März 1951«, in: Bildende Kunst, Jg. 1953, Nr. 2, S. 62.
Film als Seismograph. Jahrgang 45 im Kontext der europäischen Filmkultur der 1960er N INA W ALTEMATE
Die DEFA1-Filme als Teil einer Filmkultur eines Landes, das nunmehr seit über zwanzig Jahren nicht mehr existent ist, bieten ein überschaubares Untersuchungsgebiet. Häufig werden Filme der DEFA deshalb lediglich als Informationsquelle einer vergangenen Zeit genutzt. Klaus Wischnewski kritisiert diese Tendenz, da durch sie das Filmerbe der DEFA als ein »abgeschlossenes Sammelgebiet«2 betrachtet wird, das ein geeignetes Übungsfeld für Studierende darstellt, aber im Übrigen keine weitere Relevanz für uns heute besitzt. Eine solche Perspektive schmälert die Bedeutung der DDR-Filmkultur in der gesamtdeutschen und gesamteuropäischen Filmgeschichtsschreibung. Die DEFA wird zu einem unbedeutenden und irrelevanten Filmlieferanten degradiert. Der amerikanische Filmwissenschaftler Barton Byg wendet sich gegen eine einseitige Betrachtungsweise in diesem Forschungsgebiet. Er betont, dass es sich als lohnenswert erweist, DEFA-Filme in ihrem gesamtdeutschen Zusammenhang zu untersuchen: »Vergleichendes Schauen und Untersuchen von Filmen aus Ost und West vor 1989 (und seither) könnte sowohl neue Informationen über beide deutsche Staaten als auch über die kulturellen Grenzen und Möglichkeiten des vereinigten Deutschland liefern. Darüber hin-
1
Abkürzung für Deutsche Film AG.
2
Wischnewski, Klaus: »Die Darstellung des DDR-Alltags im DEFA-Spielfilm«, in: Pflügl, Helmut/Fritz, Raimund (Hg.): Der geteilte Himmel. Höhepunkte des DEFAKinos 1946-1992, Wien 2001, S. 26.
368 | N INA W ALTEMATE aus hat kaum jemand die Möglichkeit ergriffen, das Studium des Filmschaffens der DDR als einen Weg zu verstehen, die Kultur Westdeutschlands, mit der sich die DDR in ständigem Streit befand, anders zu interpretieren.«3
Diese Perspektive soll im folgenden Text eingenommen werden, indem der ausgewählte DEFA-Film JAHRGANG 45 von Jürgen Böttcher vergleichend mit einem Film aus der BRD – ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN – analysiert wird. Da die DDR-Gesellschaft als »doppelt geprägte Gesellschaft« zu verstehen ist, die »sowohl Teil des sowjetischen Imperiums wie der geteilten deutschen Gesellschaft war«4, soll darüber hinaus ein Film aus der Tschechoslowakei – DER SCHWARZE PETER – herangezogen werden. Auf diese Weise wird die Perspektive erweitert, um JAHRGANG 45 im gesamteuropäischen Kontext zu verstehen. Die tschechoslowakische Filmkultur bildet hierbei einerseits ein Beispiel für die osteuropäische Neue Welle mit filmästhetischer Bedeutung für Gesamteuropa und andererseits eine wichtige Inspirationsquelle der DEFAFilmemacher. Ein Filmbeispiel aus Osteuropa wurde darüber hinaus bewusst herangezogen, um einer typischen West-Perspektive zu entgehen, die DEFA-Filme nur mittels eines flüchtigen Vergleichs mit den westeuropäischen Filmbewegungen wie der Nouvelle Vague und mit dem italienischen Neorealismus betrachtet. Bisher wurden DEFA-Filme noch nicht ausreichend in einen gesamteuropäischen Kontext eingeordnet. Vielmehr überwiegt eine oberflächliche Betrachtung von grenzübergreifenden Beziehungen zwischen den Filmkulturen der 1960er.5 JAHRGANG 45 erweist sich bei näherer Beschäftigung als Film, welcher die Stimmungen eines Ostberliner Milieus der 1960er darstellt und zugleich gesamtgesellschaftliche Konflikte der DDR seismographisch aufgreift. Auf diese Weise bildet er einen kulturellen Gedächtnisspeicher, der Geisteshaltungen aufbewahrt und somit für den Zuschauer von heute zugänglich macht. Darüber hinaus lässt
3
Vgl. Byg, Barton: »Der Stand der Dinge. Eine amerikanische Sicht auf die DEFARezeption heute«, in: Schenk, Ralf/Richter, Erika/Löser, Claus (Hg.): apropos: Film 2005. Das 6. Jahrbuch der DEFA-Stiftung, Berlin 2005, S. 303.
4
Bernd Gehrke: »Die 68er-Proteste in der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 58
5
Als Beispiel soll hier die 2007 publizierte Dissertation Alltagsfilm in der DDR. Die
(2008), Nr. 14-15, S. 40f. »Nouvelle Vague« der DEFA von Ralf Harhausen erwähnt werden. Hier werden zwar Einflüsse für den DEFA-Film aus West- und Osteuropa aufgeführt, doch bleibt es bei einer relativ allgemeinen Betrachtung, die sich keiner konkreten Beispiele bedient.
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sich fragen, ob JAHRGANG 45 eine gesamteuropäische Bedeutung besitzt. Können ästhetische wie inhaltliche Verbindungen zu den kulturellen Artefakten übriger europäischer Länder hergestellt werden? Bewahren andere filmische Werke der 1960er ähnliche gesellschaftliche Mentalitäten und Auseinandersetzungen? Für die Untersuchung der ausgewählten Filme sollen Texte der zwei Traditionslinien der Hamburger Schule, hier vertreten durch Aby Warburg und Erwin Panofsky, sowie der Frankfurter Schule, hier vertreten durch Theodor W. Adorno sowie Siegfried Kracauer zum Ausgangspunkt genommen werden. Folgende wissenschaftliche Standpunkte werden dabei für die Analyse übernommen, um sich dem Untersuchungsgegenstand Film zu nähern: • Film als Untersuchungsobjekt einer kulturwissenschaftlichen Perspektive
Erwin Panofsky und im Besonderen Aby Warburg betonen die Vorteile einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, da sie Kunstwerke und andere Artefakte in ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext begreifen. Dabei zeigen beide Autoren keine Scheu, Methoden, die traditionell bei der Untersuchung von bildender Kunst verwendet werden, auf massenkulturelle Werke zu übertragen. Auch hier erkennen sie Tendenzen der Zeit in kulturellen Symbolen gespeichert.6 • Film als Speicher von kollektiven Geisteshaltungen Alle vier Theoretiker sprechen Filmen die Eigenschaft zu, Geisteshaltungen einer Zeit oder einer Nation in sich zu tragen. Adorno, Kracauer und Panofsky gehen in diesem Zusammenhang vom ästhetischen Gehalt eines Werkes aus.7 Dieser drückt sich durch die ästhetische Form des zu betrachtenden Films aus.
6
Vgl. Warburg, Aby: »Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara«, in: Bredekamp, Horst/Diers, Michael (Hg.): Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance (= Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Erste Abteilung, Band I. 2), Berlin 1998, S. 459-481. Panofsky, Erwin: »Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin«, in: Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, hg. von Höck, Wilhelm, Köln 2002, S. 7-36.
7
Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hg. von Adorno, Gretel/Tiedemann, Rolf, Frankfurt am Main 1998, S. 133. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 1984, S. 14. Panofsky, E.: Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin, S. 18.
370 | N INA W ALTEMATE
Filme sollten dabei nicht nur als Ausdruck eines Individuums betrachtet werden; lohnenswert ist stattdessen eine Perspektive, die Filme als Manifestation eines kollektiven Zeitgeists begreift. Im Besonderen der Film besitzt laut Panofsky und Kracauer eine kollektive Natur, da er durch seine Abhängigkeit vom Publikum sowie durch seine Produktionsweise stark von gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst wird.8 • Film als Ausdruck allgemeingültiger menschlicher Tendenzen Aby Warburg betont darüber hinaus in seiner Theorie vom sozialen Gedächtnis, dass kulturelle Artefakte der Vergangenheit eine Relevanz in der Gegenwart besitzen. Sie fungieren als soziale Speicherorgane, die einerseits Künstlern der Gegenwart Vorbilder für ihr Schaffen bieten, andererseits aber auch dem Betrachter die Energien der Vergangenheit zugänglich machen.9 Insofern sollten Filme der DEFA nicht nur als konservierende Behälter einer vergangenen Zeit betrachtet werden, sondern als Filme, die uns auch heute noch zur Reflexion der Gegenwart anregen können.
Z WISCHEN A UFBRUCH
UND
S TAGNATION –
KULTURPOLITISCHE UND GESELLSCHAFTLICHE H INTERGRÜNDE Die 1960er Jahre pendeln in der DDR zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite steht die gesellschaftliche Modernisierung und damit verbundener Optimismus, auf der anderen Seite hingegen restriktive Politik und soziale Kontrolle. Anfangs- und Endpunkt dieser wechselhaften Phase bilden zwei historische Ereignisse: Der für die deutsche Bevölkerung einschneidende Mauerbau 1961 und das gewalttätige Ende des Prager Frühlings 1968. Ein weiterer wichtiger Wendepunkt für die Innen- und Kulturpolitik der SED ist das 11. Plenum des Zen-
8
Vgl. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt am Main 1999, S. 22; S. Kracauer: Von Caligari zu Hitler, S. 11.
9
Vgl. Warburg, Aby: »Der Bilderatlas Mnemosyne«, in: Warnke, Martin/Brink, Claudia (Hg.): Der Bilderatlas Mnemosyne (= Gesammelte Schriften, Studienausgabe, Zweite Abteilung, Band II. 1), Berlin 2008, S. 3f.
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tralkomitees im Jahr 1965: Es beendete Hoffnungen auf Reformen und machte die »Vergeblichkeit aller Bemühung um Demokratisierung«10 deutlich. Im Folgenden soll zunächst ein historischer Überblick über diese Periode dargestellt werden. Hierzu besteht laut Panofsky Notwendigkeit, da sich zwischen dem Analysierenden der Gegenwart und der zu betrachtenden Zeit eine Differenz aufgetan hat, die nur mittels Wissensaneignung überbrückt werden kann. Andernfalls kann es zu Fehleinschätzungen kommen. Die Entwicklung in der DDR kann aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Sowjetunion nur in einem größeren Zusammenhang verstanden werden: Einen Einschnitt für die sozialistischen Länder bildete der Tod Stalins im Jahr 1953. Er war eine Erschütterung der bisherigen Ordnung der sozialistischen Länder, die geprägt war von der despotischen und totalitären Führung durch Stalin. Ein weiteres Element dieser stalinistischen Phase stellt der glorifizierende Kult um Stalin zugunsten einer Verdrängung seiner Verbrechen dar. In einer inoffiziellen Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU kritisierte Stalins Nachfolger Chruschtschow eben jenen Kult, prangerte die Vergehen im Zweiten Weltkrieg an und läutete auf diese Weise das Tauwetter ein. Doch schon zuvor wurde die Entstalinisierung vorangetrieben: Für die gesamten sozialistischen Länder wurde eine neue Industriepolitik forciert, die sich stärker an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren sollte – der sogenannte Neue Kurs.11 Das Tauwetter hatte dabei unterschiedliche Ausprägungen und verlief zum Teil sprunghaft. Dietrich Beyrau und Ivo Bock charakterisieren diese Phase als »Abschied von einer Politik […], die alle Bereiche des öffentlichen und z. T. sogar das private Leben der Bürger nach einem vorgegebenen Plan lenken und die Gesellschaft einer totalitären Utopie unterwerfen wollte.«
12
In der DDR verlief dieser Prozess in weniger großem Umfang als in anderen Ländern, prägte jedoch die Politik der frühen Sechziger. Die alltäglichen Lebensbedingungen der DDR-Bürger erfuhren in dieser Zeit eine Normalisierung, da die entbehrungsreichen Aufbaujahre überstanden waren. Das Bedürfnis nach
10 Poss, Ingrid/Warnecke, Peter: Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA, Berlin 2006, S. 140. 11 Vgl. Beyrau, Dietrich/Bock, Ivo: »Einführung«, in: Beyrau, Dietrich/Bock, Ivo (Hg.): Das Tauwetter und die Folgen. Kultur und Politik in Osteuropa nach 1956, Bremen 1988, S. 8f. 12 Ebd., S. 10.
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interessanter Freizeitgestaltung wuchs und man blickte immer interessierter in Richtung Westen, wo sich der wirtschaftliche Aufschwung bereits früher vollzogen hatte. Beate Günther spricht in diesem Zusammenhang von einer »alltagskulturelle[n] Modernisierung«13, die sich in einem neuen Lebensstil geäußert habe. Auch durch politische Reformen, nämlich durch die Einführung der FünfTage-Woche im September 1967, wurden die wachsende Bedeutung und der Anspruch an Freizeit, Kultur und Sport begünstigt.14 Hermann Weber erkennt auch einen politischen Umschwung innerhalb der SED-Führung, der sich an diesen geänderten Lebensumständen orientierte: »Bestimmten bis dahin ideologische Normen und programmatische Zielsetzungen […] die Politik der Führung«15, musste sich diese nun pragmatischer den komplexeren gesellschaftlichen Bedingungen stellen, wie beispielsweise wirtschaftlichen Engpässen. Zusätzlich zu den schwerwiegenden wirtschaftlichen Stabilitätsproblemen wurde die Wirtschaft der DDR bis 1961 durch abwandernde Fachkräfte geschwächt, die vom Wirtschaftswunder im Westen angezogen wurden. Der Bau der Mauer im August 1961 sollte dem Einhalt gebieten und weitere Einbußen verhindern. Vom Westen abgeriegelt sollte die DDR nun größere Stabilität erlangen.16 Neben der wirtschaftspolitischen Intention hatte der Mauerbau aber auch eine machtpolitische. Arnold Sywottek charakterisiert die Schaffung dieser Grenze als eine zweite Staatsgründung: Durch die Abkapselung vom Westen habe die DDR ihre Souveränität betont und sich als »eigenständiger Staat mit Anspruch auf Dauerexistenz«17 positioniert. Auch das Nationale Dokument von 1963 ist Ausdruck dieser Abgrenzung vom Westen. Im Zuge dieses Beschlusses wurde 1967 die gemeinsame Staatsbürgerschaft unmöglich.18 Anstelle einer Annäherung wurde somit die Trennung weiter verfestigt. Die Ab-
13 Vgl. Günther, Beate: Leitbilder richtigen Lebens. Politischer Diskurs und filmische Darstellung in DEFA-Gegenwartsfilmen der 1960er Jahre. Filmanalyse am Beispiel von Frauenrollen und Geschlechterbeziehungen, Berlin 2008, S. 40. 14 Vgl. Weber, Hermann: Die DDR 1945-1990, München 2006, S. 68. 15 Ebd., S. 60. 16 Vgl. I. Poss/P. Warnecke: Spur der Filme, S. 140. 17 Sywottek, Arnold: »Gewalt – Reform – Arrangement. Die DDR in den 60er Jahren«, in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl C. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 54. 18 Vgl. Borowsky, Peter: »Die DDR in den sechziger Jahren«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Zeiten des Wandels. Deutschland 1961-1974, München 1998, S. 22-31, S. 24f.
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grenzung vollzog sich jedoch auch von westlicher Seite: Die Bundesrepublik lehnte Gespräche mit der DDR-Führung generell ab und gewährte dem Nachbarstaat keine offizielle Anerkennung.19 Trotz des allmählich wachsenden Lebensstandards stand die DDR-Wirtschaft weiterhin vor Problemen. Die Hoffnung, dass der Mauerbau das fehlende wirtschaftliche Wachstum sowie die Versorgungslücken abwenden könne, wurde enttäuscht. Die SED-Führung musste folglich andere Wege finden. Im Juni 1963 beschlossen das Zentralkomitee der SED und die Ministerkonferenz deshalb die »Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft«, die in den folgenden Jahren zu Veränderungen in der Wirtschaftspolitik führte.20 Auch in den übrigen politischen Aufgabenfeldern kündigten sich in den nächsten Jahren Reformen an. Getragen wurden diese Veränderungen vor allem von einer jungen Riege von Funktionären, die weitaus undogmatischer und pragmatischer agierten als ihre älteren Kollegen.21 Die erste Hälfte der Sechziger kann folglich als Phase der Hoffnung auf politische Liberalisierung charakterisiert werden. Ein deutlicher Einschnitt, besonders auf kulturpolitischer Ebene, stellt das 11. Plenum des Zentralkomitees (1965) dar. Vordergründig sollte es sich dabei um ein Wirtschaftsplenum handeln, letztendlich war es aber eine klare Abrechnung mit »alle[n] Personen […], die in den Jahren zuvor versucht hatten, Reformen einzufordern.«22 Betroffen waren neben den Akteuren der Wirtschaftsreform auch Vertreter des kulturellen Bereichs, dabei vor allem Literaten und Filmemacher, die für einen allgemeinen Werteverfall und Skeptizismus verantwortlich gemacht wurden.23 Zuvor gemachte Schritte der Modernisierung wurden in Folge dieses Kahlschlags sowohl auf wirtschaftspolitischer als auch auf kulturpolitischer Ebene zunichte gemacht und die Hoffnungen auf Liberalisierung zerstört. Auch die auf gesamt-sowjetischer Ebene vollzogene Entstalinisierung, die durch Chruschtschow eingeleitet wurde, erfuhr eine Beendigung. Breschnew übernahm 1964 den Posten des Parteichefs der KPdSU und nahm in den Folgejahren »die von seinem Vorgänger Chruschtschow eingeleiteten vorsichtigen
19 Vgl. H. Weber: Die DDR 1945-1990, S. 60. 20 Vgl. P. Borowsky: Die DDR in den sechziger Jahren, S. 23. 21 Vgl. B. Günther: Leitbilder richtigen Lebens, S. 43f. 22 Schittly, Dagmar: Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen, Berlin 2002, S. 129. 23 Vgl. ebd., S. 129ff.
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Ansätze einer Demokratisierung der Gesellschaft zurück.« 24 Da eine enge Kooperation zwischen Chruschtschow und Ulbricht bestanden hatte, bedeutete dieser Sturz zunächst einen Bruch in den sowjetisch-deutschen Beziehungen. Doch spätestens ab 1965 orientierte sich die DDR wieder am Kurs der Sowjetunion. 25 So mehrten sich am Ende der Regierungszeit Walter Ulbrichts in der DDR Hinweise, die eine andere Politik als in den Anfangsjahren der Sechziger ankündigten: Von der liberaleren Wirtschaftspolitik wurde sich abgewendet und auf kulturpolitischer Ebene wurde deutlich, dass Kunstwerke wieder stärker eine ideologische, erzieherische Rolle übernehmen sollten statt einer sozialkritischen, so die Quintessenz des 1967 veranstalteten VII. Parteitags der SED.26 Während also in der DDR die Anzeichen für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus geringer wurden, keimten die Hoffnungen in der Tschechoslowakei. Der Prager Frühling stand für den Höhepunkt der Entstalinisierung, für eine grundlegende Reformierung des sozialistischen Systems sowie eine blühende Kulturlandschaft.27 »Diese politische Entwicklung in der SSR bestärkte in der DDR die Hoffnung auf eine mögliche Demokratisierung des Sozialismus«28, so Ehrhart Neubert. Vor allem Intellektuelle in der DDR schauten deshalb interessiert auf die Entwicklungen des Prager Frühlings, während die SED sich entschieden gegen die Prozesse im Nachbarland äußerte.29 Die Niederschlagung dieses Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 erzeugte in großen Teilen der Bevölkerung Angst und Unmut, der sich zum Teil durch Proteste äußerte.30 Somit zieht spätestens dieses Ereignis, das Ausdruck einer restriktiven und Reform verneinenden Haltung ist, einen Schlussstrich unter die Hoffnungen auf Modernisierung und Demokratisierung, die noch zu Beginn der 1960er bestanden hatten. Für Stefan Wolle besitzt dieses Jahrzehnt in der DDR letztlich »etwas Unvollendetes«, wenn er resümiert:
24 I. Poss/P. Warnecke: Spur der Filme, S. 146. 25 Vgl. H. Weber: Die DDR 1945-1990, S. 70. 26 Vgl. D. Schittly: Zwischen Regie und Regime, S. 155f. 27 Vgl. D. Beyrau/I. Bock: Einführung, S. 11ff. 28 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 346), Bonn 2000, S. 163. 29 Vgl. H. Weber: Die DDR 1945-1990, S. 74. 30 Vgl. E. Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, S. 164ff.
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»Die Zeit war voll vibrierender Spannung, angefüllt mit einer unruhigen Erwartung und doch geschah eigentlich nichts. Jedenfalls nichts, was den hochgespannten Hoffnungen entsprochen hätte. Die Reformen versandeten, die Träume blieben unerfüllt, die Revolte fiel aus.«
D ER
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NEUE
G EGENWARTSFILM
Durch die Impulse einer zeitweilig liberaleren Filmpolitik sowie unter Einfluss des zeitgenössischen Zeitgeistes entwickelten sich in den Jahren 1964 bis 1965 neue, mutige Formen des Gegenwartsfilms. Anfang der 1960er wurde als Reaktion auf eine Krise der DEFA-Filmindustrie zum einen auf den Abbau von starren Strukturen innerhalb der DEFA gesetzt; zum anderen sollte der Verzicht auf unbewegliche filmische Formen und die Beschäftigung mit aktuellen Themen ein größeres Publikum ansprechen.32 Bis die kulturpolitischen Forderungen nach gegenwartsorientierten wie konfliktreicheren Darstellungen bei der DEFA umgesetzt werden konnten, waren mittlerweile jedoch schon zwei Jahre vergangen, was mit der vergleichsweise langen Planungs- und Produktionszeit eines Spielfilms zusammenhängt.33 Dass sich das politische Klima inzwischen wieder gewandelt hatte, bemerkten die Filmemacher dann jedoch auf schmerzliche Weise durch die Auswirkungen des 11. Plenums 1965. Der ehemalige Dramaturg Klaus Wischnewski betont, dass sich die jüngere DEFA-Generation zu diesen Aufbruchsbestrebungen politisch und gesellschaftlich ermutigt wie legitimiert fühlte, ähnlich wie die Akteure der Wirtschaftsreformen.34 In der Politik wurden neue und liberalere Wege bestritten, folglich wollte man diese Wege auch im Filmwesen gehen. Obwohl die Orientierung
31 Wolle, Stefan: Aufbruch in die Stagnation (= Zeitbilder, Band 1), Bonn 2005, S. 11. 32 Vgl. Kersten, Heinz: »Entwicklungslinien«, in: Heiko R. Blum (Hg.): Film in der DDR, München 1977, S. 7-56; Vgl. Witt, Günter: »Von der höheren Verantwortung hängt alles ab«, überarbeitete Rede des Stellvertreters des Ministers für Kultur und Leiters der Hauptverwaltung Film, Günter Witt, anlässlich der Verleihung des Heinrich-Greif-Preises am 14. 3. 1964, in: film wissenschaftliche mitteilungen 5 (1964), Nr. 1, S. 251-263. 33 Vgl. Wischnewski, Klaus: »Die zornigen jungen Männer von Babelsberg«, in: Agde, Günter (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 2000, S. 362. 34 Vgl. ebd., S. 355.
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zum Gegenwartsfilm während eines kurzen Zeitraums gleich von mehreren Regisseuren verfolgt wurde, kann nicht von einer Schule die Rede sein. Es existierte kein Programm oder gar Manifest und unter den Regisseuren kam es zu keinerlei Absprachen, wie Rolf Richter betont. Vielmehr hätten die Filmemacher unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung Filmprojekte entwickelt, die »Ausdruck einer allgemeinen Erwartung gesellschaftlicher Veränderungen«35 seien. Gerade dieses unabhängige Agieren unterstreicht den seismographischen Charakter der Gegenwartsfilme: Sobald die politischen Verhältnisse scheinbar mehr Freiräume boten, drückten die Filmemacher jene authentischen Stimmungen aus, denen zuvor die restriktiven Vorgaben im Wege gestanden hatten. Die Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen blieb dabei aber nicht nur ein Phänomen der Filmkultur. Vielmehr zeigten auch Künstler in der Literatur, der bildenden Kunst und dem Theater ähnliche Bestrebungen. »Ihre Vorhaben lagen in einer allgemeinen Zeitstimmung, einem Trend, […] der auch von Funktionären in verschiedenen Ebenen der Verwaltung teilweise mitgetragen wurde«36 – jedoch nur für einige Zeit und nur solange, wie kritische Haltungen nicht die Überhand gewannen. In der wissenschaftlichen Literatur werden die neuen Entwicklungen in der Filmkultur mit »Gegenwartsfilm«37, »streitbare[r] Gegenwartsfilm«38 oder auch im Kontext des 11. Plenums mit »VerbotsFilme«39 umschrieben. Die letzte Bezeichnung suggeriert dabei vor allem ein Interesse an den Verbotsverfahren der jeweiligen Filme, die im Folgenden aber nicht im Fokus stehen sollen. Inhaltlich spüren die Filme Mitte der Sechziger Konflikte der Gegenwart seismographisch auf. Meist äußern sich diese in Konflikten zwischen einzelnen Protagonisten und ihrer gesellschaftlichen Umgebung40. So zeigt DENK BLOSS
35 Richter, Rolf: »Weder Willkür noch Zufall. Motive und Positionen der Macht zur Zeit des 11. Plenums«, in: Film und Fernsehen 18 (1990), Nr. 6, S. 41. 36 Richter, Erika: »Zwischen Mauerbau und Kahlschlag 1961-1965«, in: Schenk, Ralf/ Mückenberger, Christiane (Hg.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFASpielfilme, 1946-1992, Berlin 1994, S. 194. 37 Siehe u.a.: H. Kersten: Entwicklungslinien, S. 40 38 E. Richter: Zwischen Mauerbau und Kahlschlag 1961-1965, S. 171. 39 Siehe u.a.: Richter, Erika: »Die Verbots-Filme der DEFA«, in: Pflügl, Helmut/Fritz, Raimund (Hg.): Der geteilte Himmel. Höhepunkte des DEFA-Kinos 1946-1992, Wien 2001, S. 49. 40 Vgl. H. Kersten: Entwicklungslinien, S. 42.
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NICHT, ICH HEULE die Lebenswelt eines Jugendlichen, dessen Einstellungen nicht zu den festgefahrenen Positionen der Erwachsenen passen. Die gesellschaftlichen Konflikte dieser Zeit zwischen erwachsener Erwartungshaltung und jugendlicher Unangepasstheit finden somit hier exemplarisch ihren Ausdruck. Dabei werden die Protagonisten, wie hier der rebellische Peter Naumann, auf komplexere und glaubwürdigere Weise dargestellt und laden deshalb zur Identifikation ein – anders als die typisierten Arbeiterhelden vieler früher DEFAFilme.41 Neben Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt greifen die Gegenwartsfilme auch weitere Spannungen dieser Zeit auf, die zuvor in der Filmkultur ausgespart wurden. In DAS KANINCHEN BIN ICH wird das rigorose Strafrecht der DDR mit seinen Folgen für die Angehörigen thematisiert. Der Film zeigt die junge Frau Maria, deren Bruder wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Die Protagonistin erfährt jedoch nicht die näheren Umstände dieser Straftat und ihr wird darüber hinaus der Zugang zur Universität verwehrt. Somit fungiert der DEFA-Film zum Teil als »Ersatz politischer Debatten«42, stellt Sabine Hake fest. Konflikte, die in öffentlichen Foren bisher nicht erwähnt werden konnten, finden hier für kurze Zeit ihren Ausdruck. Thematischer Schwerpunkt der Gegenwartsfilme der 1960er ist, wie bereits angedeutet, die jugendliche Wertorientierung und Sinnsuche und die damit einhergehenden Konflikte mit der Erwachsenengeneration. Henning Wrage betont jedoch in diesem Zusammenhang, dass die Darstellung dieser Spannungen relativ zahm ist. Meist kommt es am Ende des Films zu einer Versöhnung zwischen dem aufbegehrendem Jugendlichen und der erwachsenen Autoritätsperson. Ähnlich wie im DDR-Alltag scheinen die Jugendlichen sich nicht vollkommen von den Erwachsenen zu distanzieren und der Konflikt kommt nicht zum tatsächlichen Ausbruch. Wie in der Jugendpolitik behält auch hier die Filmpolitik die Oberhand und die Regisseure neigen zur Selbstzensur. Fraglich ist, ob der Gegenwartsfilm nicht noch unbarmherzigere und direktere Ausprägungen gezeigt hätte, wenn es 1965 nicht zu einer Wende in der Kulturpolitik gekommen wäre. Trotz dieser Einschränkung können die Filme dieser Zeit als Ausdruck eines »Streben[s] nach mehr Freiheit in einer Absetzbewegung von den starren, kulturellen und lebensweltlichen Normen«43 verstanden werden, da sie auf inhaltlicher Ebene Wertvorstellungen der Erwachsenenwelt zur Diskussion stellen und
41 Vgl. D. Schittly: Zwischen Regie und Regime, S. 124. 42 Hake, Sabine/Thiel, Roger: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895 (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55663), Reinbek bei Hamburg 2004, S. 210. 43 E. Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, S. 143.
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auf formaler Ebene neue ästhetische Verfahren erkunden. So taucht das DEFAAushängeschild und zuvor allgegenwärtige Thema des antifaschistischen Widerstandes in Filmen dieser Zeit nicht mehr auf, was als Ausdruck einer Abgrenzung der jüngeren Filmemachergeneration von ihren Vorgängern in der DEFA zu interpretieren ist.44 Die Absetzbewegung sollte jedoch nicht als generelle Abgrenzung vom Staat oder von der SED-Politik missverstanden werden, wie Wischnewski betont. Die Bundesrepublik stellte nur für wenige Regisseure einen alternativen Arbeits- und Lebensraum dar. Vielmehr hegten viele DEFAMitarbeiter noch Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus und damit auch auf eine größere künstlerische Freiheit in der DDR. 45 Auch hier zeigt sich also, dass die DEFA-Filmkultur nicht mit Hilfe von einfachen Rastern verstanden werden kann, die Filmemacher als Dissidenten oder Parteifreunde bzw. Verbündete oder Feinde des politischen Gegners einteilen. Detlef Kannapin betrachtet die ästhetische Form dieser neuen Gegenwartsfilme: Er erkennt trotz neuer Formen eine deutliche Verbindung zu vorherigen DEFA-Filmen, nämlich den Berlin-Filmen der 1950er Jahre, und ordnet infolgedessen viele dieser Filme dem sozialkritischen Realismus zu. Aber es ist nicht nur eine Kontinuität zu DEFA-Filmen zu erkennen, sondern es gibt auch Parallelen zu neuen filmischen Formen des ausländischen Films. So wird durch die bereits erwähnte Umfrage der filmwissenschaftlichen mitteilungen deutlich, dass die Filmemacher interessiert avantgardistische Entwicklungen des ost- und westeuropäischen Kinos beobachteten. Häufig genannt werden beispielsweise Filme des italienischen Neorealismus, wie ROCCO UND SEINE BRÜDER von Luchino Visconti von 1960, der von 22 Befragten 11 Mal als einer der beachtlichsten Filme »der kapitalistischen Produktion«46 klassifiziert wird. Auch Alain Resnais HIROSHIMA, MON AMOUR von 1959, welches in seiner neuartigen ästhetischen Gestaltung als ein Werk der französischen Nouvelle Vague gilt, findet viele Anhänger unter den DEFA-Filmemachern. Des Weiteren fallen unter diese Klassifikation auch einige US-Produktionen. Filme der sogenannten Neuen Wellen des polnischen und tschechischen Kinos tauchen hingegen nur sehr selten unter den Antworten auf. So wird der tschechoslowakische Film DER SCHWARZE PETER nur von vier Befragten ge-
44 Vgl. Wrage, Henning: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre eine Kulturgeschichte in Beispielen, Heidelberg 2008, S. 182. 45 Vgl. K. Wischnewski: Die Darstellung des DDR-Alltags im DEFA-Spielfilm, S. 355f. 46 film wissenschaftliche mitteilungen: »Umfrage«, in: film wissenschaftliche mitteilungen 6 (1965), Nr. 2, S. 281.
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nannt.47 Hier muss jedoch erwähnt werden, dass einige der Filme des neuen tschechoslowakischen Kinos keine offizielle Verbreitung in der DDR fanden, da die DDR-Funktionäre diese neuen Formen argwöhnisch als potentielle konterrevolutionäre Werke betrachteten.48 Dennoch ist es natürlich möglich und wahrscheinlich, dass viele DDR-Filmemacher diese Filme und auch weitere kannten und schätzten – dies aber nicht in der Öffentlichkeit äußern konnten. Die DEFA sollte somit nicht als hermetisch abgeschlossener Produktionsort aufgefasst werden. Sabine Hake schreibt dem DEFA-Film hingegen eine »ungewöhnliche Stellung […] zwischen den Neuen Wellen in Frankreich, Italien, Großbritannien und der Bundesrepublik auf der einen Seite und entsprechenden Entwicklungen in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion auf der anderen [zu].« 49
Der Gegenwartsfilm der DDR birgt folglich eine besondere Stärke: Sowohl die Nähe zu Entwicklungen des Ostblocks als auch des Westblocks und die daraus resultierende Bedeutung des DEFA-Kinos für Gesamteuropa. Einen wichtigen Impuls für diese neuen filmästhetischen Erkundungen gab ein Aspekt, der in vielen anderen europäischen Filmkulturen noch weitaus radikalere Auswirkungen hatte: »Die Krise des klassischen Erzählkinos und den schwindenden Einfluss des Kinos innerhalb der Unterhaltungs- und Freizeitkultur«,50 welche Filmemacher zu neuen Formen herausforderte. Die DEFA befand sich zu Beginn der 1960er in einer tiefen Krise und der neue Gegenwartsfilm ist auch als eine Reaktion auf diese Stagnation zu verstehen.51 Das Kino der DDR sollte aber trotz vieler Parallelen nicht als bloße Aneignung von filmischen Bewegungen anderer Ländern interpretiert werden. Vielmehr begaben sich auch hier die Filmemacher auf die individuelle Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Zwar bildete sich bis in die 1980er Jahre keine vom zentralisierten System unabhängig agierende filmische Avantgarde, dennoch können in den 1960ern Ansätze neuer unkonventioneller Bildsprachen beobachtet werden, wie Detlef Kannapin betont. Eine wichtige Strömung stellt hierbei der Poetische
47 Ebd., S. 282ff. 48 Vgl. Gregor, Ulrich: »Filme des Prager Frühlings. Retrospektive der tschechoslowakischen ›Neuen Wellen‹ 1963-1969«, in: Freunde der Deutschen Kinemathek (Hg.): Die Filme des Prager Frühlings 1963-1969, Berlin 1992, S. 3. 49 S. Hake/R. Thiel: Film in Deutschland, S. 212. 50 Ebd. 51 Vgl. D. Schittly: Zwischen Regie und Regime, S. 110ff.
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Realismus dar. Kennzeichnend für diese Filme ist eine Vernachlässigung des gesprochenen Wortes zugunsten einer Betonung von bildsprachlichen Elementen. Dies geschieht in vielen Filmen in ambitionierter und sensibler Weise. Zum Teil werden hierbei auch irrationale bis märchenhafte Aspekte integriert. Von den Funktionären wurde diesen filmischen Formen aufgrund ihrer Offenheit und ihrer sich dadurch ergebenden Uneindeutigkeit stark misstraut und der Parteiapparat verhinderte in den Folgejahren Filme dieses Charakters, weshalb sich auch keine stringente Entwicklungslinie des Poetischen Realismus in der DEFA ausbilden konnte. Die verschlüsselte Filmsprache kann dabei zum Teil auch als Antwort auf die einengenden Vorgaben der SED verstanden werden:52 Die Filmemacher entgingen einer direkten kritischen Stellungnahme zu den herrschenden Verhältnissen und verlagerten diese stattdessen in die symbolische und indirekte Bildsprache, die wiederum keine offensichtlichen Angriffspunkte bot. Folgt man der Argumentation Adornos, liegt gerade in diesem Fehlen von ausformulierten Standpunkten und dieser scheinbar unpolitischen Natur die gesellschaftliche Aussagekraft der Filme. Die DEFA-Filme dieser Zeit widersetzten sich der politisch durchdrungenen Logik und entwickelten eigene authentische Formen. Die Filme dieser Zeit bieten auf diese Weise eine differenzierte, weil komplexer codierte, Perspektive auf die Stimmungen und Mentalitäten in der DDR.
J AHRGANG 45 Im Mittelpunkt des Spielfilms JAHRGANG 45 von Jürgen Böttcher steht das junge Paar Alfred und Lisa, genannt Al und Li, das sich nach nur einem Jahr Ehe voneinander scheiden lassen möchte. Während Li zunächst bedrückt ist durch die Trennung von Al, folgt ihr 23-jähriger Mann seinem Freiheitsdrang: Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus und nimmt sich für einige Tage Urlaub. Während dieser Zeit trifft er sich mit seiner alten Freundin Rita, flirtet mit Frauen und verbringt Zeit mit seinen Freunden und seinem älteren Nachbarn Mogul. Doch nach nur kurzer Zeit beginnt Al sich zu langweilen und weiß nicht, wie er seine freie Zeit ausfüllen soll. Er geht zu seiner Arbeitsstelle und bittet seinen
52 Vgl. Kannapin, Detlef: »Gibt es eine spezifische DEFA-Ästhetik? Anmerkungen zum Wandel der künstlerischen Formen im DEFA-Spielfilm«, in: Schenk, Ralf/Richter, Erika (Hg.): Apropos: Film 2000. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung, Berlin 2000, S. 156ff.
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Chef um Arbeit. Dort wird er von seinem Kaderleiter nach den Gründen für seine Trennung von Li gefragt. Al fühlt sich missverstanden und weicht dem Gespräch aus. Im weiteren Verlauf des Films trifft das Paar wieder aufeinander: Im Tanzlokal beobachtet Al Li, die ausgelassen zu Beatmusik tanzt. Als sie mit ihm tanzen möchte, weist er sie ab. Auf den nächtlichen Straßen Ostberlins kommt es zur Diskussion zwischen den beiden. Li betont hier, dass sie es nicht schwer haben wird, einen neuen Partner zu finden. Am nächsten Morgen begleitet Al Mogul bei einem Museumsbesuch im Pergamonmuseum. Dann besucht er mit seinen Freunden den Rohbau eines neuen Hochhauses. Anschließend holt er Li von der Arbeit ab, sie fahren gemeinsam Motorrad auf einen brach liegenden Trümmerberg. Am Ende sitzen beide gemeinsam im Gras und schauen auf die Stadt hinab (Abbildung 1). JAHRGANG 45 zeichnet sich durch eine zurückgenommene filmische Gestaltung aus, die eine zeitlose Qualität besitzt. Dabei ist im Besonderen die fast dokumentarisch wirkende Haltung herauszustellen, die vermittelt wird durch scheinbar spontan bewegte Kameraschwenks, den fast gänzlichen Verzicht auf Musik und lange Einstellungen, in denen dem Zuschauer viel Zeit für die Beobachtung der Filmfiguren gegeben wird. Jürgen Böttchers Erfahrungen als Dokumentarfilmer sind hier deutlich zu registrieren. Es entsteht der Eindruck einer authentischen Beobachtung von jungen Menschen im Stadtteil Prenzlauer Berg.
J UNG
UND
A LT – N ÄHE
UND
A BGRENZUNG
Ein wichtiger thematischer Schwerpunkt des Films liegt in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Jung und Alt, sei es auf menschlicher wie auch auf architektonischer Ebene. Bereits der Titel JAHRGANG 45 verweist auf die spezifische Situation der dargestellten jungen Erwachsenen: Sie sind 1945, also im Zeitraum eines historischen Umbruchs, geboren und haben somit selbst keine Kriegs- und NS-Erfahrungen gemacht. Zugleich war ihre Kindheit geprägt von den unmittelbaren Folgen des 2. Weltkrieges, die sich einerseits in einer niedrigen Lebensqualität niederschlugen, andererseits aber auch in dem Anspruch eine neue, bessere Gesellschaft zu errichten.53 Dorothee Wierling erkennt in diesen
53 Vgl. Carpentier-Tanguy, Xavier: »Die Maske und der Spiegel. Zum XI. Plenum der SED 1965«, in: Finke, Klaus (Hg.): DEFA-Film als nationales Kulturerbe?, Berlin 2001, S. 132.
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Abbildung 1: Al und Li sitzen auf einem Trümmerberg
Quelle: © DEFA-Stiftung, Waltraud Pathenheimer
Abbildung 2: Al und seine Mutter
Quelle: © DEFA-Stiftung, Waltraud Pathenheimer
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gemeinsamen Lebenserfahrungen ein generationsstiftendes Potential und spricht deshalb von der Nachkriegsgeneration, die in den Jahren 1945 bis 1955 geboren ist.54 Ob aber der Film ebenfalls mit einem klaren Konzept der Generationen arbeitet oder der Titel vielmehr den Einfluss eines historischen Einschnitts auf die Gegenwart thematisiert, soll im Folgenden noch näher untersucht werden. Deutlich werden in JAHRGANG 45 Bezüge zu jugendkulturellen Phänomenen der Zeit hergestellt. Im Zentrum des Films stehen Al und seine Freunde, die gemeinsam mit ihren Motorrädern durch Ost-Berlin fahren, Lederjacken tragen, auf einem Hof mit ihrem Transistorradio Beatmusik hören und Tanzlokale besuchen, in denen Beatbands auftreten. Auf diese Weise werden hier die zeittypischen Interessen der DDR-Jugend abgebildet, die zugleich als Abgrenzungsbewegung zur Erwachsenenwelt zu verstehen sind. Auch auf sprachlicher Ebene vollzieht sich diese Distanzierung, wenn Al in einer betont lockeren Sprache spricht. Typisch für ihn ist beispielsweise die immer wieder eingeschobene Aufforderung »Mach wat!«, etwa im Gespräch mit dem Werkstattleiter. Doch dieses saloppe Auftreten trifft nicht auf alle jungen Figuren zu. So erscheint Als Frau Li als weitaus reifer und ernster. Der Zuschauer kann sie beispielsweise bei ihrer Arbeit als Krankenschwester beobachten, der sie pflichtbewusst nachgeht. Andererseits tanzt aber auch Li im Tanzlokal ausgelassen zu Beatmusik. Im Übrigen bleibt Lis Freizeitgestaltung aber im Dunkeln.55 Der Lebensstil der Protagonisten steht nicht nur für ein jugendkulturelles Milieu, sondern ist zugleich in einem von Künstlern geprägten, subversiven Milieu verortet. Prenzlauer Berg, der Wohnort von Al und Li, galt als bevorzugter Ort für die ostdeutsche Künstlerund Intellektuellenszene.56 Die ältere Bevölkerung Ost-Berlins wird durch den Nachbarn Mogul, die Mutter und den Großvater, sowie den Werkstattleiter und den Kaderleiter verkörpert. Diese treten im Kontrast zu Als Verhalten als erfahrene und nachdenkliche Personen auf. Als Mutter ist eine ernsthafte Frau, die unter den Folgen des Krieges und den schlechten materiellen Bedingungen leidet. Sie steht Als unstetem Verhalten verständnislos gegenüber. Zudem scheint sie sich weiterhin stark mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie vergleicht die Situation des jun-
54 Vgl. Wierling, Dorothee: »Erzieher und Erzogene. Zu Generationsprofilen in der DDR der 60er«, in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl C. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 625f. 55 Vgl. B. Günther, Leitbilder richtigen Lebens, S. 231 56 Vgl. X. Carpentier-Tanguy: Die Maske und der Spiegel, S. 132.
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gen Paares mit ihrer Ehe und spricht hier nostalgisch schwelgend von ihren ersten Ehejahren. Als Reaktion darauf ist ein liebevolles »Du hast ja mich.«, woraus deutlich wird, dass ihr Mann schon gestorben, bzw. im Krieg gefallen ist. Insofern passt sie in das Bild der sogenannten HJ-Generation, die bereits viele Enttäuschungen erleben musste und nun am Wohlergehen und Erfolg ihrer Kinder interessiert ist. Zu ihrer Haltung korrespondiert ihre enge Wohnung, die mit altmodischen Gardinen und Tischdecken ausstaffiert ist und von der aus man auf alte Wohnhäuser schaut, die ebenfalls noch Spuren des Krieges tragen (Abbildung 2). Al hingegen lebt im Hier und Jetzt. So sagt er später im Gespräch auf seiner Arbeitsstelle: »Ich lebe heute. […] Heute, das ist meins, versteh doch […].« Trotz dieser Differenzen behandelt Al seine Mutter mit viel Respekt und steckt ihr sogar am Ende der Subsequenz Geld zu. Auch die Vorgesetzten in der Kfz-Werkstatt kritisieren Als Verhalten und können seine Beweggründe für die geplante Scheidung nicht verstehen. Für den Kaderleiter hängt Zufriedenheit vor allem von der Erfüllung materieller Wünsche ab. So fragt er Al verständnislos: »Es geht euch doch gut, oder habt ihr einen Mangel? Hast du kein Motorrad? Hast du keine feste Arbeit? Hast du keine Wohnung?« Trotz dieser unterschiedlichen Lebenseinstellungen kommt es auch hier zu keiner unüberwindbaren Verhärtung zwischen Jung und Alt. Der Kaderleiter, welcher Al sogar duzt, strebt vielmehr ein vertrauensvolles Gespräch an. Doch Al wendet sich »gegen Eingriffe anderer Personen in sein Leben, denn er ist auf der Suche nach sich selbst«57 und weicht dem Gespräch schließlich aus – auch weil er seine Position noch nicht klar formulieren kann. Sowohl der Kaderleiter als auch die Mutter erscheinen trotz ihrer starren Standpunkte nicht als lächerliche Karikaturen, wie Eberhard Itzenplitz betont. Vielmehr lässt der Filmemacher auch diese Personen zu Wort kommen, sodass der Zuschauer die unterschiedlichen Einstellungen nachvollziehen kann.58 Als Großvater kommt hingegen kaum zu Wort und erscheint wie ein griesgrämiger Alter, der seine Ablehnung nonverbal zum Ausdruck bringt, beispielsweise wenn er im Wohnzimmer Zeitung liest, obwohl Al dort gerade versucht zu schlafen.
57 Kedziora, Markus: »Formen der Rebellion«, in: König, Ingelore/Wiedemann, Dieter/Wolf, Lothar (Hg.): Zwischen Bluejeans und Blauhemden. Jugendfilm in Ost und West, Berlin 1995, S. S. 83. 58 Vgl. Korte, Helmut/Wiedemann, Dieter/Gaida, Edith/Itzenplitz, Eberhard /Hanspach, Beate/Baacke, Dieter/Kersten, Heinz/Bodag, Joachim: »Versuche über das Ausbrechen. Diskussion«, in: I. König/D. Wiedemann/L. Wolf (Hg.): Zwischen Bluejeans und Blauhemden, S. 88.
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Sein Enkel zeigt ihm gegenüber keinerlei Respekt, klaut ihm seine Mütze im Park und lässt sich auf keine Gespräche mit ihm ein. Die Figur des Großvaters scheint somit mit der von Wierling charakterisierten »ältere[n] Aufbaugeneration«59 zu korrespondieren, die sich zum Teil in der NS-Zeit schuldig gemacht hatte und selten im DDR-Alltag ankam. So arbeitet Als Großvater als Straßenfeger im Park, eine Tätigkeit, die gesellschaftlich keine große Anerkennung besitzt. Als Mutter spricht außerdem von seinem »kranken Herz«, was möglicherweise auf seine traumatisierende Kriegsvergangenheit anspielt. Mogul, der Nachbar von Al und Li, fällt aus diesen Rastern heraus. Im Drehbuch war Mogul als alter Antifaschist angelegt.60 Dies kommt im Film aber nicht zum Ausdruck. Dennoch wirkt Mogul wie eine erfahrene Person, die aber – im Gegensatz zu den übrigen älteren Personen – Al aufmerksam zuhört und ein Gespräch auf gleicher, freundschaftlicher Ebene anstrebt. Mogul spricht folglich auch nicht in einem vorwurfsvollen oder belehrenden Ton mit Al, sondern scheint tatsächlich an seinen Ansichten interessiert. In der ersten Sequenz wird diese Freundschaft auch durch die Gestaltung der Szenen verdeutlicht. Einen intimen Charakter erhält ihr Treffen durch das gemeinsame Essen61 und gemeinsame Radiohören. Während ein Stück von Wolf Biermann im Radio gesendet wird, werden die nachdenklichen Gesichter der Protagonisten in nahen Einstellungen eingefangen. Es wird deutlich, dass die beiden eine Beziehung verbindet, in der auf erklärende Worte verzichtet werden kann. Eine genauso vertrauensvolle Beziehung scheinen zudem auch Mogul und Li miteinander zu teilen, wie in der dritten Sequenz deutlich wird. Auffallend ist, dass Moguls Besuche immer in Räumen stattfinden, die zu Als Lebenssphäre gehören, sei es seine Wohnung mit dem zugehörigen Hinterhof oder aber auch das Kellerzimmer. Auch diese Orte verdeutlichen die Nähe der beiden und zugleich Moguls Interesse an Al. Folglich werden durchaus Kommunikationsschwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Altersgruppen dargestellt. Dennoch kommt es zu keiner unüberwindbaren Zweiteilung der Gesellschaft in Jung und Alt. Außerdem wird einer Schwarz-Weiß-Malerei dadurch entgangen, dass komplexe Charaktere auftauchen, die von einfachen Stereotypen abweichen und die Verbindungen zwischen den Generationen unterstreichen. Einer vereinfachten Einteilung in Generationen
59 D. Wierling: Erzieher und Erzogene, S. 625 60 Vgl. Jahrow, Franz: »Stellungnahme der Hauptverwaltung Film. Abt. Filmproduktionen IV A 2 906/60«, in: R. Schenk/E. Richter (Hg.): Apropos: Film 2000, S. 20. 61 Vgl. B. Günther: Leitbilder richtigen Lebens, S. 116.
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wird somit widersprochen, da nur einzelne Charaktere in die Generationsprofile zu passen scheinen. Hier wird zugleich deutlich, dass die DDR in den 1960ern keine Jugendrebellion erlebte. Zwar existierten non-konforme Jugendkulturen hierzu kann beispielsweise Als Freundeskreis gezählt werden – dennoch zeigten die Jugendlichen in der Mehrheit Respekt gegenüber den Erwachsenen. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei die SED-Politik: Aufgrund der politischen Führung, die von Vereinnahmung und Restriktion geprägt war, konnte kein kritisches Potential unter den jungen Erwachsenen reifen. Das Verhalten der älteren Personen verdeutlicht häufig die Einflüsse der Vergangenheit. Diese ist auch auf architektonischer Ebene im Film beinahe omnipräsent. So sind im Verlauf des Films immer wieder Gebäude zu sehen, die in einem schlechten architektonischen Zustand sind oder sogar Einschusslöcher tragen, wie beispielsweise die Außenfassade eines Wohnhauses in Prenzlauer Berg.62 Die wirtschaftlichen Probleme der DDR sowie die Vernachlässigung von architektonischem Altbestand sind hier somit deutlich zu erkennen. Auch die Gebäude am klassizistischen Gendarmenmarkt – in der DDR Platz der Akademie genannt – zeigen noch starke Kriegsspuren. So sitzen Al und seine Freunde vor dem zentralen Konzerthaus und blicken gemeinsam mit dem Zuschauer auf den Deutschen Dom, der eine vollkommen löchrige Kuppel hat.63 Der prachtvolle und heute von Touristen bevölkerte Platz erscheint hier ausgestorben und karg. Hinzu kommt auch der zwei Mal im Film auftauchende »Trümmerberg«64, welcher aus aufgetürmtem Trümmerschutt nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und sich wahrscheinlich im Volkspark Prenzlauer Berg befindet – in Frage
62 Ab Ende der 1950er wurde vor allem der Bau von industriell gefertigten Neubauten forciert. Erst Anfang der 1970er setzte die SED auf die Rekonstruktion und Modernisierung der Altbaubestände in Prenzlauer Berg, die vom größten Teil der Bevölkerung bewohnt wurden. Siehe Steglich, Ulrike: »Die Wohnungen, die Menschen, der Markt. Stadtentwicklung in Prenzlauer Berg«, in: Roder, Bernt/Tacke, Bettina (Hg.): Prenzlauer Berg im Wandel der Geschichte. Leben rund um den Helmholtzplatz, Berlin 2004, S. 200f. 63 Das Schauspielhaus sowie die zwei Dome waren nach 1945 fast vollständig zerstört. Der Wiederaufbau des Gendarmenmarktes begann in der DDR ab 1966. Der Deutsche Dom blieb jedoch viele Jahre als Ruine stehen. Siehe Nowel, Ingrid: Berlin. Die neue Hauptstadt; Architektur und Kunst, Geschichte und Literatur, Köln 2001, S. 186ff. 64 Richter, Erika: »Filmsplitter. Fragmentarisches über die Anfänge«, in: R. Schenk/E. Richter (Hg.): Apropos: Film 2000, S. 14.
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kommt hier beispielsweise die Oderbruchkippe.65 Diese besucht der junge Al einmal mit seinem Freund sowie zum Ende des Films mit Li, wodurch hier deutlich Vergangenheit und Zukunft zusammenrücken (Abbildung 1). Auf der anderen Seite sind auch Zeugnisse des angestrebten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufbruchs sichtbar: Al und weitere Freunde besichtigen die Baustelle eines noch im Rohbau befindlichen Plattenbaus, dessen Umgebung von weiteren Neubauten und Baustellen geprägt ist. Die jungen Erwachsenen sind bei diesem Besuch sehr ausgelassen, schauen sich interessiert um und beginnen Musik zu machen. Nur Al wirkt nachdenklich gestimmt, ein Aspekt, auf den im Weiteren näher eingegangen werden soll. Im Allgemeinen betrachtet existiert in JAHRGANG 45 ein sich ineinander verwebendes Nebeneinander von Neu und Alt, das zugleich symptomatisch ist für die DDR in den 1960ern. Die Gesellschaft hatte sowohl auf individueller als auch wirtschaftlicher Ebene noch mit den Auswirkungen des Krieges zu kämpfen. Zugleich musste sich die politische Führung einer gewandelten Gesellschaft stellen und dementsprechend mit politischen Modernisierungsprogrammen reagieren. Der JAHRGANG 45, verkörpert durch Al und Li, ist somit geprägt von den gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit und trägt zugleich die Hoffnungen einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung.
F REIHEIT – O RIENTIERUNGSLOSIGKEIT I DENTITÄTSSUCHE
UND
Die Charakterisierung der 1960er als Zeit der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel weist auf ein weiteres wichtiges Thema des Films JAHRGANG 45 hin: Die Identitätssuche der jungen Protagonisten, die unter dem Eindruck dieser gesellschaftlichen Hoffnungen steht. Vordergründig wird in JAHRGANG 45 der Konflikt eines jungen Paares dargestellt, das unter Kommunikationsproblemen und Entfremdung leidet. Dahinter steht jedoch, wie Xavier Carpentier-Tanguy betont, die Suche nach den Zielen und Gründen einer gemeinsamen Zukunft.66 Letztendlich erwächst daraus aber noch eine weitere Suche, nämlich die Suche nach einem eigenen Standpunkt in der Gesellschaft. Diese wird in JAHRGANG
65 Vgl. Bezirksamt Pankow von Berlin: Grüne Orte in Prenzlauer Berg. Volkspark Prenzlauer Berg, 2007, http://www.berlin.de/ba-pankow/verwaltung/vpprenzlauerberg.html 66 Vgl. X. Carpentier-Tanguy: Die Maske und der Spiegel, S. 132.
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45 als Konflikt zwischen individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Ansprüchen dargestellt, sei es in Als Konflikt mit Li, der Familie oder aber auch mit dem Betrieb.67 Die im vorherigen Abschnitt erwähnten Konflikte zwischen Jung und Alt finden dabei ihren vordergründigen Ausdruck in jugendkulturellen Symbolen, derer sich Al bedient, um eine Abgrenzung zu vollziehen. So zeigt die Hauptfigur in Verhalten und Sprache ein betont unkonventionelles Auftreten. Diese rebellische Attitüde steht jedoch im Gegensatz zur beruflichen Verantwortung, welche die Filmfiguren bereits tragen.68 Al geht während seines Urlaubs zur Arbeit und bittet um Beschäftigung, da er gelangweilt ist von seiner freien Zeit. Der Subsequenz ist zu entnehmen, dass Al bereits eigenverantwortlich Autos repariert und im Betrieb eingebunden ist. So folgt die Kameraperspektive Al beim Durchlaufen der Werkstatthalle, während er immer wieder andere Kollegen grüßt. Weitere intime Einstellungen zeigen Li bei der Arbeit als Krankenschwester, der sie mit Disziplin und Hingabe nachgeht. Sie scheint sich darüber hinaus sehr mit dieser Aufgabe zu identifizieren, da sie gegenüber Al betont: »Du hast eben deine Autos und Motorräder. Und ich hab meine Kinder.« Beide Hauptfiguren tragen durch ihre Identifikation mit ihrem Beruf somit als pflichtbewusste, junge Arbeiter zum wirtschaftlichen Aufbau der DDR bei und entsprechen in dieser Hinsicht den Zielen der Jugendpolitik ihrer Zeit. Der Film bedient sich jedoch an keiner Stelle einer sozialistischen Rhetorik. Vielmehr zeigt er einen unpolitischen, unheroischen Arbeitsbegriff, der durch »Liebe zum Gegenstand der Arbeit«69 geprägt ist. Für Al ist der politisch gewünschte Lebensentwurf darüber hinaus nicht ausreichend: Er ist auf der Suche nach Mehr. Dieses Mehr ist dabei aber noch nicht klar für ihn formulierbar, sondern drückt sich in einer generellen Unzufriedenheit mit seiner derzeitigen Situation sowie einer »unbestimmten Sehnsucht«70 nach gesellschaftlicher Entfaltung aus. Im Film wird diese Haltung vor allem mit Hilfe von Gesten und Bewegungen vermittelt, da es Al nicht gelingt, seine Wünsche durch Worte auszudrücken. Beispielhaft zu nennen ist hier die in Vogelperspektive dargestellte Motorradfahrt auf dem Hof. Die jungen Männer fahren dabei zunächst einige Runden im Kreis, bevor sie den Hof verlassen. Diese raum-
67 Vgl. M. Kedziora: Formen der Rebellion, S. 82f. 68 Vgl. B. Günther: Leitbilder richtigen Lebens, S. 230ff. 69 Ebd., S. 243. 70 Gersch, Wolfgang: Szenen eines Landes. Die DDR und ihre Filme, Berlin 2006, S. 127.
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greifende und zugleich zunächst nicht zielgerichtete Bewegung verbildlicht Als innere Verfassung: Die weiten Kreise drücken den Wunsch nach Freiheit aus; die Verwendung eines Motorrads suggeriert dabei die rebellische Jugendlichkeit des Freundeskreises. Zugleich unterstreicht die Kreisbewegung die Ziellosigkeit der jungen Erwachsenen. In weiteren Subsequenzen sehen wir Al, teilweise in Begleitung seines Freundes, in einer totalen Einstellung durch die Stadt, den Park oder über einen brach liegenden Hügel schlendern. Diese Außenszenen vermitteln einen Eindruck von Unabhängigkeit und Freiheit. Besonders letztere Szene erzeugt einen Effekt der Weite dadurch, dass die beiden Männer auf dem Hügel von keinen Gebäuden umgeben sind. Jedoch folgt auf diese Subsequenz der Aufenthalt am zerstörten und bedrückend wirkenden Gendarmenmarkt, wodurch hier ein deutlicher Gegensatz hergestellt wird. Al scheint zudem im gesamten Film von einer inneren Unruhe ergriffen. So beobachtet der Zuschauer Al gleich zu Beginn des Films auf dem Balkon. Hier scheinen seine unschlüssigen und hektischen Bewegungen »keine dramatische Begründung«71 zu besitzen und drücken zugleich seine mit Unschlüssigkeit gepaarte Aufbruchsstimmung aus. Auch auf anderer filmästhetischer Ebene wird diese freiheitsliebende, Kontrolle verneinende Einstellung vermittelt: Durch die Verwendung der Handkamera, welche teilweise wackelige Kamerabewegungen zur Folge hat, wird ein spontaner Eindruck erzeugt. Die im Film zum Ausdruck kommende Sinn- und Standortsuche eines jungen Menschen behauptet letztlich, so Beate Günther, »das Recht auf Lebensansprüche des Einzelnen gegenüber einer Normalität des ›Typischen‹«72 – ein Recht, das frei ist von den gesellschaftlichen wie politischen Ansprüchen gegenüber den Jugendlichen der DDR. Dass Al dieses Recht für sich beansprucht, steht zugleich für seine persönliche Unabhängigkeit gegenüber anderen Menschen und Institutionen. In dieser eigenwilligen Haltung der Hauptfigur erkennt Jörg Becker auch letztlich den Grund für die Ablehnung der SED-Funktionäre gegenüber JAHRGANG 45, da diese Einstellung sich jeder staatlichen Funktionalisierung widersetzte.73 Ferner bestand, wie zuvor dargestellt, eine allgemeine Tendenz, in der Jugend- und Kulturpolitik unkontrollierbare und subversive Prozesse zu unterbinden.
71 Roth, Wilhelm: »25 Jahre zu spät. Rückblick auf eine ›Neue Welle‹ in der DDR«, in: epd Film 7 (1990), Nr. 4, S. 21. 72 B. Günther: Leitbilder richtigen Lebens, S. 251f. 73 Becker, Jörg: »Wir sind Waisen«, in: Aurich, Rolf/Jacobsen, Wolfgang/Jatho, Gabriele (Hg.): European 60s. Revolte, Phantasie & Utopie, Berlin 2002, S. 24.
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Doch zugleich zeigen auch andere Figuren des Films eine »moderne Freiheit«74 durch ihr Verhalten. Rita, Als alte Freundin, flirtet mit Al und spielt mit ihrem verführerischen Charme. Schließlich zeigt sich aber ihre Unabhängigkeit spätestens in der letzten Sequenz, in der sie kein weiteres Interesse an Al hat. Die gemeinsamen Stunden mit Al hatten für sie somit etwas vollkommen Unverbindliches. Li, die stark unter Als Ablehnung leidet, verweist in der fünften Sequenz mit der Aussage »Und außerdem werde ich nicht lange allein bleiben.« ebenfalls auf ihre sexuelle Eigenständigkeit und versucht gegenüber Al ihre Unabhängigkeit zu betonen.75 Dem steht jedoch entgegen, dass sie im Anschluss versucht, Al zu küssen und somit seine Bestätigung zu bekommen. Sie zeigt also wie Al ein unschlüssiges und widersprüchliches Verhalten und ähnelt auf diese Weise ihrem orientierungslosen Mann. Im gleichen Gespräch in der fünften Sequenz fasst Li die Haltung ihres Mannes präzise mit »immer zu wissen, was man nicht will« zusammen. Al befindet sich auf keiner zielgerichteten Suche, sondern vielmehr in einem Schwebezustand, dem jeglicher Orientierungspunkt abhandengekommen ist. In der letzten Sequenz wird diese Leere, die noch auf einen Inhalt wartet, durch zwei symbolische Subsequenzen verbildlicht: Zum einen sieht der Betrachter hier in einer Aufsicht einen hellen, fast leeren Ausstellungsraum des Pergamonmuseums, in dem einige Personen herumlaufen. Diesen erreicht Al über eine Treppe, die er, nachdem er eine Drehung um die eigene Achse macht, in einem Zick-Zack-Muster hochsteigt – ein weiteres Bild für seine Ziellosigkeit. Zum anderen taucht anschließend der Neubau auf, der sich noch stark von einer fertigen Wohnung unterscheidet. Wie bereits erwähnt, zeigen Als Freunde ein ausgelassenes Verhalten, während die Hauptfigur in dieser Subsequenz sehr nachdenklich wirkt. Spätestens jetzt rückt die Frage »Wohin will ich?« in das Zentrum seiner Gedankenwelt. Seine Ratlosigkeit wird durch den schwindelerregenden Blick vom Hochhaus noch unterstrichen. Die Orientierungslosigkeit und Unschlüssigkeit der Hauptfigur scheint hier in gewisser Weise die politische Situation widerzuspiegeln, denn spätestens Mitte der 1960er drängt sich die Frage auf: »Wohin will die DDR?«.76 Besonders deutlich wurde diese innere Zerrissenheit innerhalb der SED, da dort einerseits Funktionäre Versuche unternahmen, mittels Reformen eine liberalere Gesellschaftsordnung durchzusetzen und andererseits das 11. Plenum eine brutale Absage an eine liberale Politik erteilte.
74 B. Günther: Leitbilder richtigen Lebens, S. 144. 75 Vgl. ebd., S. 136. 76 Vgl. X. Carpentier-Tanguy: Die Maske und der Spiegel, S. 133.
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Die Wahl eines jungen Erwachsenen als Hauptfigur für JAHRGANG 45 erscheint prädestiniert für das Thema des Films, nämlich die Suche nach einem Standpunkt im Leben und das Verhältnis von individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Schließlich wird die Jugendzeit häufig als eine wichtige Phase der Orientierung innerhalb des Lebens charakterisiert. Auffallend ist hierbei, dass auch weitere Gegenwartsfilme dieses Thema zur gleichen Zeit behandelten, wie beispielsweise DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE. Dieser Umstand hat einerseits schon genannte kulturpolitische Gründe. Das Aufgreifen von Jugendthemen in DEFA-Filmen war politisch gewünscht. Andererseits unterstreicht dieses wiederholte Aufgreifen des Themas die gesellschaftliche Aussagekraft und Relevanz des Films. Eine Besonderheit von JAHRGANG 45 ist aber seine Offenheit: Die letzte Subsequenz zeigt Al und Li in einer Rückenansicht auf einem Trümmerberg sitzend in trauter Zweisamkeit, jedoch mit Blick auf die alten und neuen Bauten in eine ungewisse Zukunft schauend (Abbildung 1). »Die Form einer Besserungsdramaturgie entfällt ebenso wie ein didaktischer Impetus« 77, folgert Markus Kedziora deshalb. Sabine Hake stellt aufgrund dieser unkonventionellen Erzählweise fest, dass es hier zu einer »Dekonstruktion klassischer narrativer Kontinuität« kommt, die letztendlich »den Zusammenbruch des ideologischen Systems« 78 verdeutlicht. Al findet letztendlich keine Orientierung an den Lebensmodellen, die ihm in der DDR geboten werden. Er beharrt stattdessen auf seiner individuellen Unabhängigkeit. Das offene Ende der Erzählung und die fehlenden Belehrungen verweisen somit erneut auf das Recht, »sich individuelle und alternative Lebensformen offenzuhalten und auszuprobieren«79. Eine Aussage, die JAHRGANG 45 letztlich seine politische Natur verleiht, ohne dass der Film diese Aussage tatsächlich offen ausspricht. Die bildsprachliche Qualität des Films und die weniger starke Gewichtung des gesprochenen Wortes legt folglich die Einordnung des Films unter den von Detlef Kannapin charakterisierten Überbegriff Poetischer Realismus nahe.
77 M. Kedziora: Formen der Rebellion, S. 84. 78 S. Hake/R. Thiel: Film in Deutschland, S. 217. 79 M. Kedziora: Formen der Rebellion, S. 84.
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E NGE – S ITUATION O ST -B ERLIN JAHRGANG 45 wird durchzogen von der Darstellung von Gegensätzen. So taucht als wichtiges Motiv der Gegensatz zwischen Neu und Alt, bzw. Jung und Alt auf. Doch auch dem Thema der Freiheit und Unabhängigkeit wird ein deutlicher Kontrapunkt gesetzt – die räumliche, wie gesellschaftliche Enge. Auf diese Weise spiegelt der Film auch das politische Klima dieser Zeit wider, das zwischen Aufbruchsstimmung und Misstrauen pendelte. So ist die Gedankenwelt vieler älterer Erwachsenen immer noch geprägt von den Folgen des Krieges, weshalb sie kein Verständnis für das Freiheitsstreben der Jugendlichen haben, wie in den Gesprächen mit dem Kaderleiter und der Mutter deutlich wird. Auffallend ist, dass beide Aussprachen in abgeschlossenen Räumen stattfinden: Das Gespräch mit der Mutter in ihrer engen Wohnung und das Gespräch mit der Kaderleitung in einem Büro, das sich wiederum in der Werkstatt befindet. Ihre engen Weltanschauungen spiegeln sich somit in der Enge der Räume wider. Wie erwähnt belässt es Böttcher jedoch nicht bei einer einseitigen Darstellung der älteren Personen: Moguls Offenheit gegenüber den Ansichten seines jungen Nachbarn wird während des gemeinsamen Gespräch auch auf räumlicher Ebene unterstrichen. Die Balkontür der Wohnung ist geöffnet und später sitzen die Freunde gemeinsam auf dem Balkon. Seine Offenheit steht auf diese Weise im Kontrast zur Engstirnigkeit der übrigen Gesprächsszenen. Jörg Becker interpretiert Als jugendlichen Freiheitsdrang als »Sehnsüchte der Jungen aus einem unbestimmten Mangel, der (noch) nicht auszudrücken ›gelernt‹ war«80. Einen Anteil an diesem Mangel trug sicherlich der Mauerbau, der deutliche Grenzen hinsichtlich der Freizügigkeit eines jeden DDR-Bürgers setzte. Darüber hinaus wurde die individuelle Freiheit von der restriktiven Politik der SED eingeschränkt, welche beispielsweise auch den Zugang zur westlichen Kultur erschwerte. Ein deutliches Symbol für diesen gesellschaftlichen Zustand der DDR sowie Als persönlicher Lebenssituation stellt der Käfig dar. So beobachtet Li in der vierten Sequenz einen nervös im Käfig umherstreifenden Leoparden. Mittels einer Parallelmontage erscheint die Nähe zu Als Verfassung geradezu naheliegend.81 Wir sehen den unruhigen Al anschließend im dunklen und engen Kellerraum. Doch auch in anderen Subsequenzen taucht dieses Symbol auf: Als Mutter hält in ihrer Wohnung einen kleinen Vogel in einem Käfig (Abbildung 2), den der Sohn während des Gesprächs mit seiner Mutter herausnimmt, ein
80 J. Becker: Wir sind Waisen, S. 24. 81 Vgl. W. Gersch: Szenen eines Landes, S. 127.
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weiterer Verweis auf Als Freiheitsdrang. Wie ein Käfig erscheint zudem das engmaschige Gerüst im Neubau, an das sich Al lehnt, während seine Freunde Musik machen. Die Schranken, die Als Freiheit gesetzt sind, sind somit auch in allen zukünftigen Lebensabschnitten vorhanden, für welche der Rohbau steht. Während die übrigen Jugendlichen ausgelassen über ihre Zukunft und ein mögliches Leben in diesem Neubau sprechen, scheint Al hier erneut seine persönlichen Grenzen zu reflektieren. Der frei flatternde Vogel im Zoo verweist ebenfalls auf dieses allgegenwärtigen Beschränkungen: Im Gegensatz zum Vogel der Mutter lebt dieser zwar nicht im Käfig, ist aber umgeben von einem noch viel größeren Gefängnis, dem Zoogelände. In einer bereits erwähnten Parallelmontage wird hier ein Bezug zu Als Lebensumständen hergestellt. Nervös umherflatternd versucht sich dieser aus der Enge seiner Ehe zu befreien, um jedoch weiterhin innerhalb eines beengten gesellschaftlichen Umfelds weiterzuleben. Dieses noch größere Gefängnis stellt auf kleinerer Ebene seine persönliche Lebenssituation dar. Auf größerer Ebene kommt jedoch erschwerend die Situation der DDR-Bevölkerung nach dem Mauerbau hinzu. Diese wird in der halbdokumentarischen Subsequenz am Gendarmenmarkt greifbar. Hier beobachten die modisch in Minikleidern und Sonnenbrillen gekleideten Touristen aus Westdeutschland die ostdeutschen, herumgammelnden Jugendlichen wie Zootiere in einer authentischen DDR-Umgebung – einem Platz in einem deutlich schlechten Zustand. Die selbstbewussten ostdeutschen Jugendlichen bleiben jedoch nicht in der Rolle des betrachteten Objekts. Sie werden selbst zum Subjekt und glotzen wiederum die Westdeutschen an. Als Freundeskreis behauptet somit seinen Anspruch auf ein lebenswertes Leben, das keine Angriffsfläche für bemitleidende Blicke bieten will. Trotz des unabwendbaren Strebens nach Verwirklichung der eigenen Zielen macht Wolfgang Gersch zum Ende des Films einen »schmerzend resignierte[n] 82 Ton« aus, der seinen Grund in den beengten gesellschaftlichen wie politischen Verhältnissen habe. Dieser Beobachtung ist zunächst zuzustimmen, da Als Aufbruchsstimmung im Verlauf des Films zu versiegen scheint. Zugleich wird in der letzten Sequenz angedeutet, dass trotz der bestehenden Enge Al und Li weiterhin danach streben, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Sowohl der Neubau, als auch der Ausstellungsraum können als mögliche Freiräume innerhalb des politischen Systems gedeutet werden: Die Welt der Künste, verkörpert durch das Museum und den unabhängig lebenden Künstler Mogul, sowie die eigene private Umgebung, verdinglicht durch den noch unbewohnten Neu-
82 Ebd., S. 128.
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bau. Nachdem Al an diesen zwei Orten seine Zukunft reflektiert hat, ruft er Li an, leiht sich Geld von Mogul und fährt gemeinsam mit Li auf den Trümmerberg, der schon früher im Film aufgetaucht ist. An diesem Ort ist die Enge der vorherigen Szenen nicht mehr gegenwärtig, die Umgebung erscheint hingegen weit und lässt einen Überblick über die angrenzenden Wohngebiete zu. Zugleich erscheint die Darstellung von Al und Li sehr intim, womit Als Freiheitsstreben an dieser Stelle vereinbar scheint mit seiner Liebe zu Li. Die Intimität der Beziehung deutet somit auf einen möglichen Zufluchtsort im Privaten an, einen Ort also dem Al zu Beginn noch entfliehen wollte. Insofern betont der Film insgesamt eindrücklich die »nicht nur geographische sondern auch ideologische Grenzen«83, die sich auf den Alltag der jungen Erwachsenen auswirken und Als Freiheitsbestrebungen im Wege stehen. JAHRGANG 45 verweist aber auch auf die Möglichkeit der individuellen, inneren Unabhängigkeit der DDR-Bevölkerung, die sich der herrschenden, vereinnahmenden Ideologie widersetzen konnte. Erika Richter kommt zu dem Schluss, dass in dieser differenzierten Darstellung der zeitspezifischen Stimmungen, jedoch auch in seiner zeitlosen Ästhetik, das besondere Potential des Films liegt: »Er erfaßte die Gefühle der Zwanzigjährigen im Prenzlauer Berg sozial und regional konkret und zugleich in einer elementaren filmischen Weltsprache. Es ist, als ob er mit der Zeit mitgewachsen wäre. Man empfindet ihn auch heute als absolut zeitgenössisch.«84
Neben einer zeitlosen Gestaltung nähert sich JAHRGANG 45 zudem allgemeinen menschlichen Konflikten: den Differenzen zwischen freiheitlichem Denken und gesellschaftlicher Enge, wie der Beziehung zwischen Jung und Alt und den damit einhergehenden jugendlichen Absetzbewegungen – und besitzt dennoch einen spezifischen Gehalt für seinen historischen und lokalen Kontext. Anhand der Untersuchung von JAHRGANG 45 können drei Schwerpunkte ausgemacht werden, die sich aus der inhaltlichen wie ästhetischen Gestaltung des Films herauskristallisieren: 1. das Verhältnis zwischen Jung und Alt; 2. das Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit sowie 3. die räumliche wie gesellschaftliche Enge. Im Folgenden sollen DER SCHWARZE PETER und ZUR SACHE SCHÄTZCHEN auf diese Themenbereiche hin untersucht werden.
83 M. Kedziora: Formen der Rebellion, S. 84. 84 E. Richter: Zwischen Mauerbau und Kahlschlag 1961-1965, S. 208.
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V ERBINDUNGEN ZU GESAMTEUROPÄISCHEN FILMISCHEN E NTWICKLUNGEN DER 1960 ER – D ER S CHWARZE P ETER Seit Mitte der 1950er entwickelte sich in der Tschechoslowakei auf kultureller Ebene eine halböffentliche Parallelkultur, welche sich in unbeobachteten Freiräumen vollzog und schließlich in den Ereignissen des nächsten Jahrzehnts gipfelte. Der Kultur und im Besonderen der Literatur kam dabei die Rolle eines gesellschaftlichen »Ersatzkriegsschauplatzes«85 zu. Dieses Tauwetter von unten wurde erst Mitte der 1960er in eingeschränkter Form von oben unterstützt. Nachdem die KS86 zunächst an der vorherigen politischen Linie festgehalten hatte, verfolgte sie in den folgenden Jahren eine liberalere Strategie, die auch die Filmproduktion günstig beeinflusste.87 In den späten 1960ern spitzten sich zahlreiche Konflikte des Landes zu: Die wirtschaftliche Lage war weiterhin schlecht, die Studienbedingungen trafen auf Kritik und die slowakischen Interessengruppen strebten eine Föderation an. Zur Lösung dieser Krisensituation übernahm Alexander Dubek mit Einverständnis der Moskauer Führung die Position des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KS. Er sollte in den folgenden Monaten zu einem wichtigen Akteur des Prager Frühlings werden sollte.88 Die von Dubek geprägten, späten 1960er charakterisiert Ivan Klime als eine »Zeit der heftigen Debatten und Diskussionen«89, welche durch die Herstellung vieler Bürgerrechte wie dem Aufheben der Pressezensur und der Lockerung des gesamten politischen Systems beflügelt wurde. Da diese Reformversuche eines sozialistischen Staates jedoch »im osteuropäischen Kontext isoliert«90 blieben, war
85 D. Beyrau/I. Bock: Einführung, S. 16. 86 Abkürzung für Komunistická strana eskoslovenska, deutsch: Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. 87 Vgl. Kazarina, Irina: »Der tschechoslowakische Film«, in: Karner, Stefan (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Beiträge, Köln [u.a.] 2008, S. 141f. 88 Vgl. Hoensch, Jörg K.: Geschichte der Tschechoslowakei, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1992, S. 163f. 89 Klime, Ivan: »Wurzeln und Kontext des tschechischen Films der sechziger Jahre«, in: Pflügl, Helmut (Hg.): Intime Beleuchtung. Die Spielfilme des Prager Frühlings im Augarten. Eine Retrospektive des Filmarchiv Austria, 7.-20. Mai 1998; anlässlich 100 Jahre tschechische Kinematographie und 30 Jahre Prager Frühling, Wien 1998, S. 14. 90 Zdenek, Felix: »Prag 1968«, in: Syring, Marie L. (Hg.): Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Köln 1990, S. 149.
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dieser Traum vom Sozialismus mit menschlichem Gesicht zum Scheitern verurteilt. Am 21. August 1968 wurde der Demokratisierungsversuch von den Truppen des Warschauer Paktes brutal niedergeschlagen Unter den Begriff Neue Welle werden die tschechoslowakischen Filmproduktionen der Jahre 1963 bis 1969 zusammengefasst, welche in den Zeiten einer relativen politischen Offenheit entstanden sind und das filmische Schaffen des Landes radikal modernisierten. Neben ihrer kulturellen Bedeutung für die Tschechoslowakei bilden sie eine der wichtigsten und interessantesten Filmkulturen der 1960er Jahre. 91 Schöpfer dieser international respektierten Werke waren die jungen Absolventen der Prager Filmhochschule FAMU; zu nennen sind hier beispielhaft Jií Menzel, Milo Forman, Vra Chytilová, Jaromil Jire sowie Jan Nmec.92 Aufgrund der vielfältigen künstlerischen Handschriften können die Ausprägungen dieser jungen tschechoslawkischen Filmkultur nur schwerlich als eine homogene künstlerische Bewegung charakterisiert werden. Letztlich, so Klime, verband die Filmschaffenden nur das gleiche Anliegen: Sie weigerten sich von der Politik instrumentalisiert zu werden und wollten stattdessen »der Nation ihr (tatsächliches) Gesicht zeigen«93, was sich sowohl in der Themenwahl als auch der Ästhetik ausdrückte. Dabei variierten die Ausprägungen zwischen Werken mit einem direkten, beinahe dokumentarisch anmutenden Stil und experimentellen Werken, welche eine subjektive Handschrift aufzeigen. In DER SCHWARZE PETER von Milo Forman aus dem Jahr 1964 werden zwei Tage aus dem Leben des 16-jährigen Peter gezeigt, der seinen ersten Arbeitstag erlebt und versucht, einem Mädchen namens Pavla näherzukommen. Dabei ist er immer wieder den Belehrungen seines Vaters ausgesetzt, denen der zurückhaltende Peter beinahe sprachlos folgt. Die alltägliche Handlung wird wie JAHRGANG 45 ohne starke Mittel der Spannungserzeugung, sondern eher beiläufig erzählt. Dennoch wird eine klare und wohlüberlegte Erzählstruktur deutlich. Neben filmischen Mitteln, welche dem Film eine dokumentarische Wirkung verleihen, wie lange beobachtende Einstellungen und der Einsatz von Statisten und Laienschauspielern94, verwendet Forman komödiantische Elemente, die dem
91 Vgl. U. Gregor: Filme des Prager Frühlings, S. 3. 92 Vgl. Gregor, Ulrich/Patalas, Enno: Geschichte des Films. Ab 1960. Osteuropa, Lateinamerika, Afrika, Australien, Nordamerika (= Band 4), Reinbek bei Hamburg 1983, S. 377. 93 I. Klime: Wurzeln und Kontext des tschechischen Films der sechziger Jahre, S. 15. 94 Besonders eindrücklich sind die Szenen im Tanzlokal und im Lebensmittelgeschäft, die den vergleichbaren Szenen in JAHRGANG 45 auffallend ähneln.
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Film einen »pointillistische[n] skurrile[n]«95 und zugleich tragisch-komischen Charakter geben. Dies wird häufig durch den Einsatz von kommentierender Musik erreicht. Die kleinbürgerliche Erwachsenenwelt wird als deutlicher Kontrast zur Welt der Jugendlichen inszeniert. Dabei werden die älteren Erwachsenen, wie Peters Eltern oder sein Arbeitgeber, als Personen mit festgefahrenen Überzeugungen und wenig Einfühlungsvermögen gegenüber Peter dargestellt. Anders als in JAHRGANG 45 kommt es zu keiner Annäherung zwischen Jung und Alt, stattdessen überwiegt der Eindruck eines überzeichneten und deshalb wenig differenzierten Bildes. Peters Umfeld bietet nur teilweise Freiräume, in deren Schutz er eigene Lebensvorstellungen entwickeln kann: Seine berufliche Zukunft scheint vorbestimmt und steht unter der Kontrolle seines Vaters, der im Verlauf des Films seinen Sohn sogar bei der Arbeit beobachtet. Auch in der engen Wohnung zuhause kann er dem Einfluss der Eltern nicht entrinnen. Umso dringlicher wächst Peters Wunsch, dieser Enge zu entfliehen. Pavla erscheint hierbei trotz Peters Schüchternheit als eine wichtige Gesprächspartnerin.96 Peter und Al finden insofern einen möglichen Zufluchtsort im Privaten. In JAHRGANG 45 wird dies jedoch erst in der letzten Sequenz deutlich, in der Als nervöse Sinnsuche ein vorläufiges Ende findet. Peter rebelliert weniger offen als Al gegen die Einflussnahme von außen. Vielmehr zeigt er durch seine in sich gekehrte, vielleicht auch gelangweilte Haltung gegenüber den älteren Erwachsenen eine »stille Revolte«97 und innere Unabhängigkeit, die nur auf nonverbaler Ebene zu fassen ist. Seine Sprachlosigkeit verweist jedoch auch auf die eigenen Grenzen, mit denen sich der unsichere Peter konfrontiert sieht. So besitzt der Film – anders als JAHRGANG 45 – in der letzten Sequenz einen resignativen Unterton, wie Uwe Nettelbeck betont: »[Es sind] unabänderliche Konditionen, die Forman nennt und als tragische begreift: Von dem Verlust der Jugend, den man hinzunehmen hat, spricht er, von dem Preis, den ein Platz unter den Menschen kostet.«98 Peter gewinnt somit die Erkenntnis, dass er den herrschenden Konventionen und Erwartungen nicht entfliehen kann, sobald er in die Welt der Erwachsenen eintritt.
95 U. Gregor/E. Patalas: Geschichte des Films, S. 377. 96 Vgl. Kotulla, Theodor: »Der schwarze Peter. Cern Petr«, in: Filmkritik 9 (1965) Nr. 7, S. 390. 97 alman, Jan: Filmprofile der tschechoslowakischen Gegenwart, Prag 1968, S. 61. 98 Nettelbeck, Uwe: »In Prag, Klatau, Leitmeritz oder anderswo. Milos Formans Film ›Der schwarze Peter‹«, in: Die Zeit 20 (1965), Nr. 39, S. 16.
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Peters Unbehagen und sein gleichzeitiges Unvermögen, seine Ablehnung zu formulieren, spiegelt die gesellschaftliche Situation in der Tschechoslowakei wider. So gipfelten die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Wille zur Veränderung der politischen Verhältnisse erst in den Geschehnissen der späten 1960ern. DER SCHWARZE PETER ist somit ein filmisches Zeugnis der Vorbereitungsphase des Prager Frühlings. Übertragen gesprochen wird der junge, unsichere Peter in den folgenden vier Jahren noch zu einem kritisch denkenden und agierenden, jungen Erwachsenen reifen. Die überzeichnete und unversöhnliche Darstellungsweise des Films verweist zugleich auf die besondere Stellung der tschechoslowakischen Kultur in den 1960ern: Die Unzufriedenheit, die öffentlich noch nicht formuliert werden konnte, fand hier ihren Ausdruck.
Z UR S ACHE , S CHÄTZCHEN Nach dem Ende der Ära Adenauer sowie der nur drei Jahre andauernden Regierungszeit von Ludwig Erhardt, die einhergegangen war mit einer als Wirtschaftskrise gedeuteten Rezession, übernahm eine Große Koalition aus SPD und CDU/ CSU ab 1967 die Regierungsarbeit. Diese setzte vor allem wirtschaftspolitische Ziele und ihre pragmatische Durchsetzung in das Zentrum ihres politischen Handelns.99 In Westdeutschland hatte sich in den 1960ern das Bild einer modernen und nach vorne blickenden Wohlstandsgesellschaft durchgesetzt, in der Arbeitslosigkeit zur Seltenheit wurde, das Einkommen stieg, Neubauten das Erscheinungsbild des Landes und vor allem der Vorstädte prägten und neue Konsumbedürfnisse gestillt werden konnten. 100 Anstatt sich mit der konfliktgeladenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wurde stattdessen der Blick optimistisch nach vorne gerichtet. Jedoch regten sich zugleich kritische Widerstände gegen diesen selbstzufriedenen Zustand: Als prägend für diese Zeit gelten die jugendkulturellen Abgrenzungen sowie die Bestrebungen der Studentenbewegungen. Dabei sollte der
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Vgl. Borowsky, Peter: »Große Koalition und Außerparlamentarische Opposition«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Zeiten des Wandels. Deutschland 1961-1974, München: Bundeszentrale für politische Bildung 1998, S. 11ff.
100 Vgl. Schildt, Axel: »Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik«, in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl C. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 25ff.
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Konflikt nicht auf eine Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt heruntergebrochen werden. Vielmehr spiegeln die auftauchenden Konflikte die Situation der gesamten Gesellschaft wider, so Detlef Siegfried.101 Mit Misstrauen betrachtete die Studierendenbewegung das Handeln der Vätergeneration, welche vor allem die Verwirklichung des Wiederaufbaus forcierte und dabei eine kritische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft sowie der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Verbindungen zur Gegenwart ausblendete.102 Die Kritik betraf zudem den Universitätsbetrieb sowie weitere politische und gesellschaftliche Themenfelder mit nationaler wie internationaler Relevanz, wie beispielsweise das 1969 verabschiedete Notstandsgesetz103 oder das Handeln der USA im Vietnam-Krieg.104 Auch in der westdeutschen Filmlandschaft existierten Bestrebungen bisherige Entwicklungen kritisch zu betrachten und auf einen Neuanfang zu setzen: Das Oberhausener Manifest, das 1962 auf den Westdeutschen Kurzfilmtagen von 26 jungen Filmemachern veröffentlicht wurde, läutete das Aufkommen des Neuen Deutschen Films ein.105 Die Unterzeichner distanzierten sich vom Kino der vergangenen Jahrzehnte, das zum »Eskapismus und Verdrängungsgeschäft«106 verkommen war und wollten dies fortan mit einem gesellschaftskritischen Vorgehen beenden. Dabei wurde deutlich ein „Mythos des Neuanfangs“107 heraufbeschworen, der auch typisch für andere europäische Filmkulturen der Zeit ist und sich in der Suche nach neuen filmischen Ausdrucksformen in Abgrenzung zu bisherigen
101 Vgl. Siegfried, Detlef: »Vom Teenager zur Pop-Revolution. Politisierungstendenzen in der westdeutschen Jugendkultur 1959-1968«, in: A. Schildt/D. Siegfried/Karl C. Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten, S. 585. 102 Vgl. P. Borowsky: Große Koalition und Außerparlamentarische Opposition, S. 16. 103 Vgl. A. Schildt: Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche, S. 49. 104 Vgl. P. Borowsky: Die DDR in den sechziger Jahren, S. 16ff. 105 Vgl. Uka, Walter: »Abschied von gestern. Avantgarde, Revolte, Mainstream. Der bundesdeutsche Film in den 60er Jahren«, in: Faulstich, Werner (Hg.): Die Kultur der sechziger Jahre, München 2003, S. 196. Dieser wurde zunächst als Junger Deutscher Film betitelt und hatte seine bedeutendste Phase in den 1970ern; die 1960er sind hier daher eher als eine Übergangsphase zu sehen. 106 J. Becker: Wir sind Waisen, S. 186. 107 S. Hake/R. Thiel: Film in Deutschland, S. 257.
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Tendenzen ausdrückte.108 Die Filme des Neuen Deutschen Films zeigen trotz des Auftretens der Regisseure als Gruppe eine »inhaltliche und stilistische Pluralität«109. Walter Uka erkennt aber eine Gemeinsamkeit in der »experimentellen und zeitkritischen Grundhaltung«110 der Regisseure. Wie in der Filmkultur der Tschechoslowakei und der DDR spielten auch für die Entwicklungen in der BRD Veränderungen in der Filmindustrie eine entscheidende Rolle: So profitierten beispielsweise viele junge Filmemacher von dem als Reaktion auf das erwähnte Manifest entstandenen Filmförderungsprogramm des Kuratoriums Junger Deutscher Film e. V.111 Der kommerziell erfolgreiche Film ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN von May Spils aus dem Jahr 1968 gibt Einblick in das Leben des in München-Schwabing lebenden, jungen Texters Martin. Sein Lebensstil ist hedonistisch und frei von jeglichen ehrgeizigen Zielen. Vordergründig gibt der Film sich als eine Liebeskomödie aus, letztendlich offenbart er aber die Vorzeichen der Rebellion, die im Folgenden die BRD prägen wird. Anders als JAHRGANG 45 und DER SCHWARZE PETER weist ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN keine dokumentarische Anmutung auf. Stattdessen wird in diesem Film eher mit konventionellen Mitteln erzählt und er bedient sich einer episodenhaften Erzählweise. »Der Trumpf des Filmes liegt nicht in der Kameraarbeit oder seiner Montage, sondern in der Dialogführung« 112, konstatiert deshalb Annette Deeken. Deutlich ist das Gewicht auf die komödiantischen bis skurrilen Dialoge gelegt. Der Humor und die Ausdrucksweise der Protagonisten spiegeln hierbei den Zeitgeist der 1960er im Besonderen wider. Ein deutliches Gewicht der Filmhandlung liegt auf der kontrastreichen Darstellung von Jung und Alt, bzw. von subversiven und konservativen Lebensmodellen. Die älteren Erwachsenen treten als spießbürgerliche oder humorlose Personen auf, welche deutlich zur Abgrenzung einladen. Die Darstellung erweist sich hierbei noch stärker als in DER SCHWARZE PETER als überzeichnete und dadurch auch wenig glaubwürdige Karikatur.113 Hierzu zählen
108 Vgl. W. Uka: Abschied von gestern, S. 196. Walter Uka betont jedoch, dass dieses vernichtete Urteil des Filmjahrs nicht gerechtfertigt ist, da es keinesfalls nur schlechte Filmproduktionen geboten habe. 109 Ebd., S. 195. 110 Ebd., S. 207. 111 Ebd., S. 202. 112 Vgl. Deeken, Annette: »Zur Sache, Schätzchen«, in: Heller, Heinz-B./Steinle, Matthias (Hg.): Komödie, Stuttgart 2005, S. 344. 113 Vgl. ebd., S. 344f.
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beispielsweise Polizeibeamte, denen der lässige Martin mit Respektlosigkeit gegenübertritt und die er lediglich als Angriffsobjekte für seine Scherze betrachtet. Doch auch die Münchner Schickeria dient als Negativschablone. Die zugehörigen Personen werden als karriereorientiert und überaus oberflächlich präsentiert. Das Thema der gesellschaftlichen Grenzen hat in den Filmbeispielen aus der DDR und Tschechoslowakei ein größeres Gewicht, da dort die politisch verordneten Beschränkungen allgegenwärtiger waren, während in der BRD das Gefühl einer freiheitlichen Gesellschaft überwog. Dies erklärt auch die in ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN durch beispielsweise heitere Musik und komödiantische Dialoge erzeugte Leichtigkeit, die im Kontrast zur Melancholie von JAHRGANG 45 und zur Tragikomik in DER SCHWARZE PETER steht. Lediglich im großbürgerlichen Elternhaus von Martins Freundin Barbara werden einengende gesellschaftliche Verhältnisse angedeutet. Martins Lebensstil ähnelt sehr stark dem des OstBerliners Al und drückt dabei deutlich sein »Streben, sich Freiräume zu schaffen und normative Wege zu verlassen«114 aus. So verhält er sich beispielsweise im Kontakt mit Barbara entgegen dem konventionellen »bürgerlichen ›Anmachverhalten‹«115 oder zündet am helllichten Tag aus anarchischem Spaß eine Hose an. Seine Ablehnungs- und Verweigerungshaltung wird dabei aber von keinem ideologischen Konzept oder revolutionärem Ansinnen gestützt, weshalb Florian Vollmers Martins »sinnlos verstockte Verweigerungshaltung« als »infantile Alberei« 116 abtut. Trotz dieser zu Recht genannten Kritik kann ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN als Ausdruck eines Lebensgefühls der späten 1960er verstanden werden, welches sich durch eine – wenn auch diffuse – Verweigerungs- und Ablehnungshaltung gegenüber herrschenden Konventionen auszeichnet.
S CHLUSSBETRACHTUNG Anhand der Untersuchung des Filmes JAHRGANG 45 wird deutlich, dass eine gesamtdeutsche wie gesamteuropäische Perspektive auf Filmproduktionen der DEFA lohnenswert wie erforderlich ist. So können beim vergleichenden Schauen gesellschaftliche Tendenzen herausgestellt werden, die unabhängig von geo-
114 M. Kedziora: Formen der Rebellion, S. 80. 115 Ebd., S. 79. 116 Vollmers, Florian: Falsche Ikone einer prägenden Zeit. Zur Sache Schätzchen, 1967, Regie: May Spils, 2001, http://sozialgeschichte.deutsches-filminstitut.de/ vom 02.11.2011.
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grafischen und ideologischen Grenzen bestanden. In allen drei Gesellschaften existierte beispielsweise das Bestreben nach einem Neunanfang, sei es auf gesellschaftlicher wie filmischer Ebene. Dies drückt sich unter anderem in der Themenwahl der ausgewählten Filme aus: In allen drei Filmen steht ein junger Mann im Mittelpunkt, der vom Freiheitstreben angetrieben nach eigenen Lebensentwürfen sucht. Die Hauptfiguren spiegeln auf diese Weise die gesamtgesellschaftliche Stimmung wider, welche in allen drei Staaten bestimmt war durch Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Wandel und dem Abschied vom Alten. Zugleich zeigen sich aber filmästhetische wie inhaltliche Abweichungen, die Aufschluss über die spezifische Verfasstheit der Produktionsländer geben. Insofern findet sich hier eine wissenschaftliche These dieses Textes bestätigt: Filme sind als Seismographen zu verstehen, die Auskunft geben über die zeit- und ortsabhängigen, kollektiven Geisteshaltungen. Jedoch wird diese Feststellung einem Film wie JAHRGANG 45 nicht im vollen Umfang gerecht: Seine zeitlose filmische Gestaltung lässt ihn auch heute noch aktuell wirken. Der Zuschauer wird zur Reflexion der eigenen, gegenwärtigen Lebenswelt eingeladen. Durch das Studium von DEFA-Filmen kann somit auch zu einem Verständnis unserer heutigen Gesellschaft beigetragen werden. Filme können deshalb als Ausdrucksformen allgemeingültiger menschlicher Tendenzen verstanden werden. Als wichtiges Ergebnis ist zudem herauszustellen, dass eine unbefangene und differenzierte Beschäftigung mit dem Filmerbe der DDR unentbehrlich ist. Eine wichtige Grundlage stellt hierbei die intensive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen wie politischen Hintergründen dar, um Filme angemessen zu beurteilen. Zugleich sollte sich die Arbeitsweise Aby Warburgs zum Vorbild genommen werden: Kulturwissenschaftliche Grenzerweiterungen voranzutreiben, das heißt, auch Aspekte miteinander zu verbinden, die möglicherweise auf den ersten Blick abwegig erscheinen. Dieser Text soll einen Beitrag zur wissenschaftlichen Überbrückung von Ost-West-Denken leisten, ohne dabei Differenzen auszublenden.
L ITERATUR Adorno, Theodor W./Adorno, Gretel: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1998. Becker, Jörg: »Wir sind Waisen«, in: Aurich, Rolf/Jacobsen, Wolfgang/Noth, Volker (Hg.): European 60s. Revolte, Phantasie & Utopie, Berlin/München 2002, S. 7-227.
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Autorinnen und Autoren
Elize Bisanz lehrt an der Leuphana Universität und forscht am Institute for Studies in Pragmatism der Texas Tech University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildwissenschaft, Kulturwissenschaft, Ästhetik, Semiotik. Wichtige Publikationen: Das Bild zwischen Kognition und Kreativität. Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken, Bielefeld (2011) (Hg.); Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft, Bielefeld (2010); The Logic of Interdisciplinarity. Charles S. Peirce, The Monist Series, Berlin (2009) (ed.). Karl Clausberg ist Kunst- und Bildwissenschaftler und hatte bis 2003 die Professur für Kunst- und Bildwissenschaften an der Universität Lüneburg inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Bilderzählformen und -theorien, kognitiv/neuronale Bildwissenschaften, Technik- und Wissenschaftsgeschichte und Theorien der Kunstgeschichte. Publikationen (Auswahl): »Am Weltrand durchs Himmelsgewölbe. Camille Flammarions Kartographie der Selbstfindung«, in: KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, hrsgg. von Günzel, Stephan/Novak Lars, Wiesbaden (2012), S. 217-243 sowie Farbtafeln 20-22; »Statt Ferngefühl Nahsicht – Das ›dramatische Präsens‹ der Bilder«, in: Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung, hrsgg. von Feist, Ulrike/Rath, Markus, Berlin (2012), S. 59-74. April A. Eisman ist Kunsthistorikerin und Associate Professor an der Iowa State University. Ihre Forschungsfelder sind Kunst in der DDR und ihre Rezeption, zeitgenössische Kunst sowie Kunsttheorie. Publiaktionen (Auswahl): »Painting the East German Experience: Neo Rauch in the Late 1990s,« in: Oxford Art Journal, Vol. 35, Issue 2, 2012, S. 233-250; »Denying Difference in the PostSocialist Other: Bernhard Heisig and the Changing Reception of an East German Artist«, in: Contemporaneity: Historical Presence in Visual Culture, Vol. 2,
408 | B ILDGESPENSTER . K ÜNSTLERISCHE A RCHIVE AUS DER DDR
UND IHRE
R OLLE HEUTE
2012, S. 45-73; »In the Crucible: Bernhard Heisig and the Hotel Deutschland Murals«, in: Wlodarski, Amy/Kelly, Elaine (Hg.): Art Outside the Lines: New Perspectives on GDR Art Culture, Amsterdam/New York (2011), S. 21-39. Frederike Eschen studierte Angewandte Kulturwissenschaften (Magistra Artium) mit den Studienfächern Kunst- und Bildwissenschaften, Medienwissenschaften und Betriebswirtschaftslehre an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie zum Thema: Kunst zwischen verordneter Utopie und ästhetischer Selbstbestimmung. Positionen zur Moderne in der DDR am Beispiel der Zeitschrift Bildende Kunst (2011). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Malerei in der DDR, Kunstrezeption und Kunstkritik im 20. und 21. Jahrhundert. Monika Flacke ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Sammlungsleiterin sowie Ausstellungskuratorin am Deutschen Historischen Museum in Berlin und als Honorarprofessorin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichts- und Erinnerungskonstruktion in Krisenzeiten, Ausstellungstheorie sowie Museums- und Sammlungsgeschichte. Kuratierte Ausstellungen mit Publikationen (Auswahl): XXX. Europaratausstellung. Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945, Berlin (2012); Auftrag: Kunst. Bildende Künstler in der DDR zwischen Ästhetik und Politik 1949-1990. Deutsches Historisches Museum, Berlin (1995) (Hg.); Mythen der Nationen. 1945. Arena der Erinnerungen, Mainz (2003) (Hg.). Stefan Fuchs studierte Komparatistik, Amerikanistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin, New York, Paris, Coimbra, Perugia und Saarbrücken. Er arbeitet als Wissenschaftsjournalist für Deutschlandfunk und SWR sowie als Dozent für Kultur und Medienwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seine Dissertation schrieb er zum Thema Dekadenz – Versuch zur ästhetischen Negativität im industriellen Zeitalter (1987). Weitere Veröffentlichungen (Auswahl): Boston Reallys & Paris Light – zur Gesellschaftsdarstellung in Henry James’ The Ambassadors (1990), Die Hypermacht – USA in der Nahaufnahme (2003), (Koautor): Global Total – Globalisierung-Armut-Widerstand (2004). Marlene Heidel studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg. Sie arbeitete u.a. als Lehrbeauftragte an der Leuphana Universität Lüneburg und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstarchiv Beeskow. Ihre Dissertation schrieb sie zur Kunst aus der DDR (Leuphana Universität Lüne-
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burg, 2013). Publikationen (Auswahl): »Weiblichkeiten im Bilde. Stempel – Prägungen – Imaginationen«, in: Jansen, Claudia (Hg.): Role Models, Bönen (2012), S. 41-50; »Die Neue Leipziger Schule und der Kontext ihrer Farbaufträge«, in: Bisanz, Elize (Hg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland, Münster (2005), S. 167-180. Susanne Hessmann studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg mit den Schwerpunkten Kunst und Bildwissenschaften sowie Medien und Kommunikation und verfasste ihre Abschlussarbeit zum Thema Repräsentationen von Weiblichkeit in der Kunst aus der DDR (2011). Sie lebt in Bukarest und arbeitet als Journalistin und Kulturmanagerin. Margret Hoppe studierte Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Prof. Timm Rautert, schloss an der HGB bei Prof. Christopher Muller ihr Meisterschülerstudium ab und ist seit 2007 selbständig als Bildende Künstlerin in Leipzig tätig. Zurzeit promoviert sie an der Hochschule für Gestaltung, Offenbach. Arbeiten (Auswahl): Observer l´Espace (2010-2012), Die verschwundenen Bilder (2005-2012). Ausstellungen (Auswahl): Après une architecture (Einzelausst.), Spinnerei Archiv massiv, Leipzig (2013), Etrangers (Einzelausst.), Cité Internationale des Arts, Paris (2012), Silent Revolution – Painting and Photography from Leipzig (Gruppenausst.), Kerava Kunstmuseum, Finnland (2010). Fritz Jacobi ist promovierter Kunsthistoriker, Kustos der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin a. D. und lebt in Berlin. Publikationen (Auswahl): Nationalgalerie Berlin – Kunst in der DDR. Katalog der Gemälde und Skulpturen, Leipzig (2003) (Herausgeber unter Mitarbeit von Manfred Tschirner). Kuratierte Ausstellungen (Auswahl): Geometrie als Gestalt. Strukturen der modernen Kunst von Albers bis Paik. Werke der Sammlung DaimlerChrysler, Neue Nationalgalerie Berlin (1999) (mit Katalog); Dani Karavan. Retrospektive, Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Tel Aviv Museum of Art und Berliner Festspiele im Martin-Gropius-Bau Berlin (2008) (mit Katalog). Claudia Jansen studierte Kunstgeschichte, Neuere und Neueste sowie Osteuropäische Geschichte in Aachen und Düsseldorf. Seit 2006 arbeitet sie als Kunstwissenschaftlerin, Ausstellungsmacherin und Autorin in Düsseldorf, Berlin, München und Paris. 2012 gründete sie mit Stefanie Ippendorf die ausstellungsmacherinnen. Promotionsprojekt: Das Arbeiterbild in der Malerei der DDR
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1949-1989 am Beispiel des Kunstarchivs Beeskow (Arbeitstitel). Publikationen (Auswahl): Ivan Baschang: Corbeilles de Paris, Bönen (2013) (Herausgeberin). Kuratierte Ausstellungen (Auswahl): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern, Kunststiftung Poll, Berlin, 19.05.2012-31.07.2012 mit Ausstellungskatalog Anke Jenckel LL.M. (Exon) ist Juristin und Richterin am Landgericht Ulm. Ursula M. Lücke ist Kultur- und Bildwissenschaftlerin (Kunst & Ökologie) sowie GoldschmiedeKünstlerin. Sie schrieb ihre Dissertation zum Thema Kreuzstein & Reliquienschrein (Leuphana Universität Lüneburg, 2013). Ihre Forschungsfelder sind Bildübergänge zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft, Archenautik, Arts-Based Research. Publikation und Kunstprojekt (Auswahl): »Der Fischschwanz als Erinnerungsbild hybrider Körperempfindungen«, in: Bisanz, Elize (Hg.): Das Bild zwischen Kognition und Kreativität. Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken, Bielefeld (2011), S. 261-285; 7 Kammern der Dekadenz – Peepshow der sculptures en miniature, bei: Wahrschau! – Vineta, Freifrau von Schulz e.V., MS Bleichen, Hamburg (2010). Tanja Matthes studierte Soziologie, Romanistik und Kommunikationswissenschaften in Dresden. Seit 2004 arbeitete sie als Kulturwissenschaftlerin und Dozentin in Hamburg und Dresden. Gegenwärtig ist sie als Projektmanagerin an der Dresden International University tätig. Promotionsprojekt: Militärkultur und gesellschaftliche Transformation – Das Militärhistorische Museum in Dresden: ein Projekt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Publikationen (Auswahl): »Superwoman – Made in GDR! Von Rollenbildern und Rollenkonflikten«, in: Jansen, Claudia (Hg.): Role Models! Die Frau in der DDR in Selbst- und Fremdbildern. Malerei und Grafik aus dem Kunstarchiv Beeskow, Bönen (2012), S. 917. Aktuelles Projekt: Besucherbefragung im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr Dresden, Laufzeit Juni 2013-März 2014. Yana Milev ist Künstlerin, Geistes- und Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin, Gründerin des Labels AOBBME, Plattform für transitive Forschung; Künstlerin der documenta X, Projektleiterin am Institute of Cultural Studies in the Arts (ICS) der ZHdK Zürich, Dozentin an der Universität St. Gallen (HSG) und Forscherin am Institut für Soziologie (SfS) der Universität St. Gallen. Ihre Forschungsscherpunkte sind Ausnahmezustand, Anthropotechniken des Überlebens, Regierungstechniken. Sie ist Begründerin von Forschungsthemen des Designs im Feld der Anthropologie, der Soziologie, der Religion, der Philosophie und Psy-
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chologie. Etliche Publikationen hierzu (Auswahl): Emergency Design, Designsoziologie, Designphilosophie, Design Anthropology, Design und Kriminalität, Design und Politik. Herbert Schirmer ist Kunstwissenschaftler, Kurator und Journalist. Nach seiner Tätigkeit als erster und letzter frei gewählter Kulturminister der DDR gründete er auf der Burg Beeskow ein Kultur- und Bildungszentrum sowie das Sammlungs- und Dokumentationszentrum Kunst der DDR (das jetzige Kunstarchiv Beeskow). Heute arbeitet er in seinem Unternehmen Kunst+Kommunikation. Publikation (Auswahl): Thomas Kläber. Wetterleuchten. Fotografien aus den Jahren 1979 bis 2004. Kuratierte Ausstellungen (Auswahl): Poetische Allianzen und strukturelle Transformationen, Malerei und Zeichnungen von Christine Hielscher, Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus (2014), Seitenwechsel. Bildende Künstler 1945-1965. Wanderbewegung deutscher Künstler in Zeiten des Kalten Krieges, Krefeld, Eupen/BE, Beeskow (2011-2013). Maike Schrader ist Architektin. Von 2005 bis 2012 arbeitete sie im Büro Max Dudler, Berlin und Zürich. Seit 2012 ist sie selbständige Architektin in Berlin und arbeitet seit 2013 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Ent werfen, Verkehrsbauten und Arbeitsstätten, Fachbereich Architektur , de r Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg . Maike Schrader hat von 2010 bis 2012 das Bauvorhaben Neues Kunstarchiv Beeskow als projektleitende Architektin im Büro Max Dudler betreut. Joes Segal (Historiker und Kunsthistoriker) ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Utrecht. Er lehrte als Gastprofessor an der University of California, Los Angeles (UCLA) und war als Gastkurator im Wende Museum, Los Angeles tätig. Er ist Mitherausgeber des International Journal for History, Culture and Modernity (HCM). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kunst und Politik, visuelle Kultur, Kulturgeschichte des Kalten Krieges, deutsche Kunst und Kulturgeschichte. Publikationen (Auswahl): East German Material Culture and the Power of Memory, Washington, DC (2011) (Mitherausgeber); Divided Dreamworlds. The Cultural Cold War in East and West, Amsterdam (2012) (Mitherausgeber).
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Christoph Tannert ist Ausstellungsmacher und Publizist. Von 1976 bis 1981 studierte er Kunstgeschichte und Klassische Archäologie an der Humboldt Universität Berlin. Seit 2000 ist er Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien Berlin. Publikation (Auswahl): Men in Black, Handbuch der kuratorischen Praxis, Hg.: Tannert, Christoph/Tischler, Ute, Künstlerhaus Bethanien, Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main (2004) (dt./engl.); New German Painting, München/Berlin/London/New York (2006), Hg.: Tannert, Christoph (dt./engl.). Kuratierte Ausstellungen (Auswahl): Klaus Hähner-Springmühl, Künstlerhaus Bethanien, Berlin, 2012 (mit Katalog), Berlin. Status 1 + 2 (zus. mit Sven Drühl), Künstlerhaus Bethanien, Berlin, 2012 + 2013 (mit Katalog). Nina Waltemate studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Schwerpunkte sind Bildwissenschaft, Sprachphilosophie und Medienwissenschaft. Die Abschlussarbeit verfasste sie zu DEFAFilmen der 1960er als kulturelle Gedächtnisspeicher. Ilona Weser (Dr.) ist 1. Beigeordnete und Dezernentin für Bildung, Gesundheit und Soziales im Landkreis Oder-Spree und seit 2007 Leiterin des Kunstarchivs Beeskow. Artur mijewski ist Künstler, Kunstkritiker und künstlerischer Leiter der Zeitschrift Krytyka Polityczna. 2012 kuratierte er die 7. Berlin Biennale. Er studierte Bildhauerei bei Grzegorz Kowalski an der Warschauer Kunstakademie. Publikationen (Auswahl): Forget Fear, Hg. mijewski, Artur/Warsza, Joanna, Köln (2012); Artur mijewski. Körper in Aufruhr: Gespräche mit Künstlern, Hg.: Beyn, Ariane/Ruksza, Stanisaw, Berlin/Bytom (2006). Einzelausstellungen in (Auswahl): Kunsthalle Basel; Kunsthalle Helsinki; Wilkinson Gallery, London; Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig. Gruppenausstellungen in (Auswahl): documenta 12, Kassel; Martin-Gropius-Bau, Berlin; Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main; Zachta National Gallery, Warschau; Museum of Contemporary Art, Tokyo; 51. Biennale Venedig.
Image Burcu Dogramaci (Hg.) Migration und künstlerische Produktion Aktuelle Perspektiven 2013, 388 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2365-9
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Juni 2014, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
Kai-Uwe Hemken (Hg.) Kritische Szenografie Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2569-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge 2013, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Juni 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt (Hg.) Bild und Geste Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst Februar 2014, 222 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2474-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Image Anne Becker 9/11 als Bildereignis Zur visuellen Bewältigung des Anschlags 2013, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2443-4
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen September 2014, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
Silke Feldhoff Partizipative Kunst Genese, Typologie und Kritik einer Kunstform zwischen Spiel und Politik November 2014, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2301-7
Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 2013, 502 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
Franziska Koch Die »chinesische Avantgarde« und das Dispositiv der Ausstellung Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung Dezember 2014, ca. 600 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2617-9
Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts 2013, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Alexia Pooth Kunst, Raum, Autorschaft Der Nachlass des US-amerikanischen Malers C.H. Phillips (1889-1975) aus autorgeografischer Perspektive April 2014, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2465-6
Rahel Puffert Die Kunst und ihre Folgen Zur Genealogie der Kunstvermittlung 2013, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2337-6
Thomas Strässle, Christoph Kleinschmidt, Johanne Mohs (Hg.) Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten Theorien – Praktiken – Perspektiven 2013, 286 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2264-5
Katrin Ströbel Wortreiche Bilder Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst 2013, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2438-0
Wolfgang Wildgen Visuelle Semiotik Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt 2013, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2440-3
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort.
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