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German Pages [249] Year 2019
Andrea Gentile
Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche bei Fichte, Schelling und Hegel Über den unbedingten Grundsatz der Erkenntnis
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495817025
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Andrea Gentile Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche bei Fichte, Schelling und Hegel
ALBER PHILOSOPHIE
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Andrea Gentile
Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche bei Fichte, Schelling und Hegel Über den unbedingten Grundsatz der Erkenntnis
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Andrea Gentile Consciousness, Intuition and the Infinite in Fichte, Schelling and Hegel About the unconditioned principle of knowledge The examination of the »unconditional« principle of knowledge is – in conjunction with the concepts of consciousness, intuition and the infinite – the core of German idealism in Fichte, Schelling and Hegel. According to Fichte, the »absolute first« and »unconditional« principle of all human knowledge has to be found, so that philosophy can actually be the »science of science« or the »epistemology«. Therefore, the author first reconstructs Fichte’s criticism of Kant in the radicalization of the concept of subjectivity and the transgression of the boundary to intellectual intuition. In the second part, new perspectives are proposed in the analysis of Schelling’s idealism: Against the background of an analysis of the intellectual, aesthetic and productive intuition of Schelling, the relationship between natural philosophy and transcendental philosophy is examined. The third part of the book examines Hegel’s critique of Fichte and Schelling as well as Kant (in the Encyclopaedia) and finally also examines the meaning of the concepts of »self-consciousness« and the »infinite« from transcendental idealism to Hegel’s »absolute idealism«. The culminating point is the interrelation between the finite and the infinite, which extends through all areas of theoretical philosophy.
About the Author: Andrea Gentile, born 1968, Professor of Theoretical Philosophy at the University Guglielmo Marconi in Rome. In the years 2001, 2002, 2005, 2006, 2007, 2009, 2016 and 2017 Visiting Professor and Research Fellow of the Alexander von Humboldt Foundation at the Ludwig-Maximilians-University Munich. 2015 winner of the »Premio Nazionale Filosofia« (Sezione: »Ricerca Accademica«). Author and publisher of several books and numerous scientific essays. The most recent book publications: Ognuno è un universo (2014); Teoria e filosofia della conoscenza in John Dewey (2015); Le percezioni oscure e l’appercezione trascendentale in Leibniz e Kant (2016); Immanuel Kant. Che cosa significa orientarsi nel pensare? (2017).
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Andrea Gentile Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche bei Fichte, Schelling und Hegel Über den unbedingten Grundsatz der Erkenntnis Die Untersuchung des »unbedingten« Grundsatzes der Erkenntnis ist – in Verbindung mit den Begriffen des Bewusstseins, der Anschauung und des Unendlichen – der Kern des Deutschen Idealismus von Fichte, Schelling und Hegel. Nach Fichte muss man das »absolut erste« und »unbedingte« Prinzip des gesamten menschlichen Wissens aufsuchen, damit die Philosophie tatsächlich »Wissenschaft der Wissenschaft« oder »Wissenschaftslehre« sein kann. Daher rekonstruiert der Autor zunächst Fichtes kritisch gegen Kant gerichtete Radikalisierung des Konzepts der Subjektivität und die Überschreitung der Grenze zur intellektuellen Anschauung. Im zweiten Teil werden dann neue Perspektiven in der Analyse von Schellings Idealismus vorgeschlagen: Vor dem Hintergrund einer Analyse der intellektuellen, der ästhetischen und der produktiven Anschauung bei Schelling wird das Verhältnis zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie behandelt. Im dritten Teil des Buches werden Hegels Kritik an Fichte und Schelling sowie an Kant (in der Enzyklopädie) und schließlich die Bedeutung der Begriffe des »Selbstbewusstseins« und des »Unendlichen« vom transzendentalen Idealismus bis hin zu Hegels »absolutem Idealismus« untersucht. Der Kulminationspunkt ist dabei die alle Bereiche der theoretischen Philosophie durchziehende Wechselbeziehung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. Über den Autor: Andrea Gentile, geb. 1968, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Guglielmo Marconi in Rom. In den Jahren 2001, 2002, 2005, 2006, 2007, 2009, 2016 und 2017 Visiting Professor und Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2015 Träger des »Premio Nazionale Filosofia« (Sezione: »Ricerca Accademica«). Verfasser und Herausgeber mehrerer Büchern und zahlreicher wissenschaftlicher Aufsätze. Die letzten Buchpublikationen: Ognuno è un universo (2014); Teoria e filosofia della conoscenza in John Dewey (2015); Le percezioni oscure e l’appercezione trascendentale in Leibniz e Kant (2016); Immanuel Kant. Che cosa significa orientarsi nel pensare? (2017).
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48911-6I SBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81702-5
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Inhalt
Einführung I.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis. Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft. Die Form der Form und das Wissen des Wissens in Fichtes Idealismus . . . . . . . . .
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1. Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe. Ein Vergleich zwischen Kant und Fichte . 2. Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität und zwischen Phaenomena und Noumena . . . . . . . . 3. Vorstellung, Wechselbestimmung und Synthesis . . . . 4. Logik und Wissenschaftslehre. Fichtes Kritik an Kants Synthesis der transzendentalen Logik . . . . . . . . . . 5. Die Untersuchung des absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatzes alles menschlichen Wissens bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft. Die Form der Form und das Wissen des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Ich und die Subjektivität: das Verhältnis zwischen dem endlichen und unendlichen Ich . . . . . . . . . . . 8. Die Deduktion des »reellen Bewusstseins«. Endliches Ich und Nicht-Ich: Hemmung, Widerstand, Anstoß und Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Das empirische Ich und das »Ich denke«. Das reine Ich und das absolute Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Theoretisches Ich und praktisches Ich . . . . . . . . . . 11. Das Gefühl der Begrenzung. Bedürfnis, Missbehagen und Leere des Ichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das Gefühl des Sehnens . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
13. Ohne Unendlichkeit keine Begrenzung – ohne Begrenzung keine Unendlichkeit . . . . . . . . . . 14. Produktive Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . 15. Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre und das Transzendentale in Fichtes ethischem Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Philosophie der Freiheit. Fichtes Vorträge in Jena . . . . 18. Religion und Moralphilosophie. Eine ethische Religion der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Die Bestimmung des Menschen und die Epochen der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie. Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung in Schellings Idealismus . . . . . .
1. Die Fichte’schen Anfänge der Philosophie Schellings: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Über das Unbedingte im menschlichen Wissen . . . . . . . . . . 2. Die Einheit von Geist und Natur. Die Bedeutung des »Urselbsts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Natur als graduelle Erweiterung der unbewussten Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Weltseele und die Natur des Menschen. Leben als »der Atem des Universums« . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schellings Naturphilosophie: »Natura naturans« und »Natura naturata« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die transzendentale Begründung der Naturphilosophie . 7. Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie in Von der Weltseele . . . . . 8. Der Begriff des Transzendentalen in Schellings Idealismus. Von der Notwendigkeit und von der Beschaffenheit eines höchsten Prinzips des Wissens . . . 9. Was heißt anschauen? Empirische Anschauung und intellektuelle Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung in Schellings System des transzendentalen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
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Inhalt
11. Kunst und Philosophie über die Grenzen der Vernunft: Philosophie der Kunst und Philosophie der Offenbarung . 12. Die Aktivität der Kunst und die Wesensart der künstlerischen Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Der Unterschied und die Beziehung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke . . . . . . . 15. Ideelle und reelle Tätigkeit des Ichs. Die Idealität und die Realität der Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Die Deduktion des Absoluten im Akt des Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Das Selbstbewusstsein als ein Streit zwischen absolut entgegengesetzter Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 18. Die Epochen des Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . 19. Von der ursprünglichen Empfindung bis zur produktiven Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Von der produktiven Anschauung bis zur Reflexion. Die Begrenzung des inneren Sinns . . . . . . . . . . . . 21. Reflexion, transzendentale Abstraktion und transzendentaler Schematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie: von der absolut-unendlichen Identität zur differenzierten endlichen Realität . . . . . . . . . . . . 23. Schellings Kritik an Hegel in der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie und in der Philosophie der Offenbarung: Negative und positive Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität. Hegels Kritik an Fichte und Schelling in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wechselbeziehung zwischen Endlichem und Unendlichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hegels Kritik an Kant in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss: Die Natur des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen . . . . . . . . . . 5. Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im transzendentalen Idealismus und im absoluten Idealismus 6. Das »unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Phänomenologie des Geistes: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins und Wissenschaft des erscheinenden Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes . . 9. Der Begriff der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Hegels Definition des »Geistes« . . . . . . . . . . . . . 11. Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes . . . 12. Vernunft, Realität und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . 13. Das Wirkliche, die Wirklichkeit und die Verwirklichung . 14. Was heißt »Idee« in Hegels subjektiver Logik? Der semantische Unterschied zwischen Idee und Begriff . . . 15. Dialektik und Synthesis. Das Werden der Wirklichkeit und die Bedeutung der »Aufhebung« und des »Aufhebens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Zum Begriff der Spekulation. Das Aufheben und die Dynamik des spekulativen Satzes . . . . . . . . . . . . 17. Die dialektische Negation als Überwindung der Grenze in Hegels Wissenschaft der Logik . . . . . . . . . . . . . 18. Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen: Der absolute Idealismus in Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . 19. Subjektiver und objektiver Geist . . . . . . . . . . . . . 20. Der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen und Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung
Laut Fichte ist die »Philosophie die Wissenschaft an sich, die Wissenschaft der Wissenschaft oder die Wissenschaftslehre«. 1 Der erste Schritt Fichtes ist die Behauptung, dass die Philosophie Wissenschaft sein müsse, dass sie unbedingt gültig sei. Deswegen muss sie auf einem absolut sicheren Prinzip aufbauen. Während für Kant die Philosophie die Kritik der unterschiedlichen Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis ist, bestimmt Fichte die Philosophie als Wissenschaftslehre. Nach Fichtes Wissenschaftslehre muss man das »absolut erste und unbedingte« Prinzip des gesamten menschlichen Wissens suchen. »Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.« 2 Wenn man den Begriff der Philosophie als Wissenschaftslehre analysiert, kann man einige wesentliche Punkte erkennen, die die Bedeutung von Fichtes »Philosophie der Philosophie« verdeutlichen: a) Die Philosophie ist Wissenschaft bzw. ist Wissenschaft an sich. b) Die systematische Form ist das Mittel, mit dem sie ihr Ziel verfolgt und realisiert. c) Dieses Ziel ist, die Bestimmtheit der Sätze (also der Theoreme) zu begründen, sie untereinander zu verbinden und sie
Vgl. J. G. Fichte, Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre. Februar 1794 Nachschrift Lavater. Beilage aus Jens Baggesens Nachlass: Exzerptseite aus der Abschrift von Fichtes Züricher Vorlesungen über die Wissenschaftslehre, hrsg. von Erich Fuchs, München/Neuried: Ars Una 1996. »Die Wissenschaftslehre ist nicht das System, sondern die Darstellung des Systems welches die Reflexion herausgebracht hat« (vgl. GA IV, 3, S. 38). 2 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794, S. 138. 1
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Einführung
somit auf systematische Art und Weise nachweisbar zu machen. d) Die Bestimmtheit der Sätze zu begründen, bedeutet auch die Bestimmtheit des Prinzips an sich, das die Wissenschaftslehre trägt, aufzuzeigen, und sich so mit der Selbst-Begründung der Wissenschaftslehre auseinanderzusetzen. e) Außerdem impliziert die Begründung der Bestimmtheit der Sätze, die Bestimmtheit aller anderen Wissenschaften aufzuweisen und rational zu rechtfertigen; diese Wissenschaften basieren auch auf jenem einzigen Prinzip und werden erst durch dieses verständlich. f) Die Wissenschaftslehre ist das Wissen, das zu seinen Grundlagen zurückgeführt wird. Sie ist das »Wissen des Wissens« und beschäftigt sich mit der Untersuchung der letzten Bedingungen der Möglichkeit, die das Wissen rational verständlich und nachweisbar machen. Das »Wissen des Wissens« legt den Weg der pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes dar, der die Wissenschaftslehre charakterisiert und konstituiert. Anhand des Begriffs der Philosophie als Wissenschaft kann man den wichtigen Schritt erkennen, den Fichte im Gegensatz zu Kant macht. Für Kant liegen die unterschiedlichen Wissenschaften auf Ebenen, die übereinanderliegen und so auch voneinander getrennt sind. Die Mathematik liegt auf der Ebene der unmittelbaren Erkenntnis; die Naturwissenschaften befinden sich auf der Ebene der begriffsmäßigen Erkenntnis; die Metaphysik liegt auf der Ebene oberhalb der Grenzen der Erkenntnis. Bei Fichte hingegen ist jede Wissenschaft wie ein Strahl eines unendlichen Kreises, der von der Mitte ausgeht, die ihm Leben und Bedeutung gibt. Er führt ins Unendliche und hat die Fähigkeit, weitere Bestimmungen zu empfangen, bleibt aber immer mit dem Mittelpunkt verbunden. In diesem Kreis liegt das gesamte menschliche Wissen, das nicht unbestimmt oder zweifelhaft ist, da es von einem bestimmten Prinzip ausgeht. Es ist auch kein feststehendes quid, das unveränderbar ist und für immer besteht. Es ist eine schrittweise Entwicklung von besonderen Bestimmungen, eine Entwicklung, die vom Zentrum ausgeht, um sich fortwährend in dem unermesslich großen Kreis, in dem sich die vielfältigen geistigen Formen des menschlichen Lebens überkreuzen und zeigen, auszuweiten. An diesem Punkt hat Fichte die Einheit des Geistes eingeführt und die Prinzipien der historischen Entwicklung des Geistes aufgestellt. Dabei handelt es sich um ein subjektives Zentrum, in dem die unendlichen Einzelheiten allgemein werden und einem inneren, in der Tiefe liegenden Gesetz folgen, dass unveränderlich ist und die Einheit des geistlichen Lebens darstellt. 12 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Einführung
Indem Fichte das Prinzip des »Bewusstseins des Bewusstseins« definiert, der »Form der Form«, also des reinen Selbstbewusstseins, eröffnet er einen neuen Horizont der modernen Philosophie. Die künstlichen Konstruktionen der dogmatischen philosophischen Systeme lassen den Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität offen, und was klar und deutlich bleibt, ist dieses Bewusstsein des Bewusstseins, das Zentrum des Universums, von dem alles Leben ausgeht und zurückkehrt. Der Begriff der Entwicklung bei Schelling und der absolute Idealismus Hegels basieren auf dieser Anschauung. Hegel meint, dass es das größte Verdienst Fichtes sei, das »Wissen des Wissens« hervorgehoben zu haben und somit aufgedeckt zu haben, dass Subjekt und Objekt im reinen, unmittelbaren Akt des Selbstbewusstseins identisch sind. Das Objekt ist jener subjektive Akt des Wissens, der wiederum zum Objekt des neuen Wissens wird. Im Gegensatz zu Fichte spricht Schelling von einer Einheit und Identität zwischen Geist und Natur: »Das System der Natur ist das System des Geistes.« 3 Seine zentrale Aussage lautet: »Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven in unserem Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das Bewusste, diese als das Bewusstlose. Nun ist aber in jedem Wissen ein wechselseitiges Zusammentreffen beider (des Bewussten und des an sich Bewusstlosen) notwendig: die Aufgabe ist es, dieses Zusammentreffen zu erklären.« 4 Die Natur repräsentiert die »Odyssee des Geistes«, und indem sie sich sucht, flieht sie vor sich selbst, während sie in Wirklichkeit jene ideelle Welt ist, die zwischen unüberwindlichen Schranken liegt. Die Naturphilosophie ist ein Teil des zweiteiligen Systems, dessen anderer Teil die Philosophie des Geistes ist. Die Naturphilosophie Schellings nimmt die Natur zum Ausgangspunkt, um zum Geist zu gelangen. Im Unterschied zu Fichte hat bei Schelling die Natur ein eigenständiges Wesen, ohne jedoch als Mechanismus, der im Kontrast zum Geist steht, betrachtet zu werden. Die Natur ist vielmehr ein lebendiger »Organismus«, der von der allumfassenden »Weltseele« platonischen Ursprungs getragen wird. Die Einheit der Natur ist nicht statisch, sondern dynamisch: Es handelt sich um eine Einheit 3 4
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 53. Ebd., S. 53.
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Einführung
von Gegensätzen. In Von der Weltseele (1798) wird die Natur vor allem als »Tätigkeit«, kreative Spontaneität und »Erzeugerin von Formen und Ereignissen« mit einer unendlichen und unaufhörlichen Dynamik beschrieben. Schelling kritisiert sowohl das theoretische Wissen als auch das praktische. Die Philosophie kann nicht auf einer theoretischen oder praktischen Vernunft gründen, da beide den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Die Philosophie geht aus der Reflexion hervor, aus der Trennung vom Absoluten als der ursprünglichen Identität. Wenn keine Form von Reflexion ein Organon der Philosophie sein kann, ist es notwendig, einen neuen Horizont für die Philosophie zu finden. Dieser Horizont basiert auf einer subjektiven Tätigkeit, die zur gleichen Zeit rezeptiv und produktiv ist: Das Wissen muss ein unmittelbares sein, qualitativ frei, und es soll sich grundsätzlich von dem theoretischen Wissen unterscheiden, das nicht frei ist, weil es von den individuellen Darstellungen der Objekte abhängt. »Das transzendentale Wissen ist ein Wissen des Wissens.« 5 Im System des transzendentalen Idealismus legt Schelling dar, dass die Kunst das einzig wahre und ewige Organon der Philosophie sei. »Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen. Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied, und das Wunder der Kunst.« 6 Vor diesem Horizont bildet sich eine tiefe Verbindung zwischen Kunst und Philosophie: Die Kunst ist der Höhepunkt des Lebens des Geistes, weil nur das Kunstwerk es möglich macht, das konkrete, äußerliche und reale Zeugnis des Dualismus zwischen Geist und Natur zu überwinden. Das erste Ziel der intellektuellen Anschauung ist es, die Geschichte des Selbstbewusstseins zu rekonstruieren, indem sie die volle Übereinstimmung von bewusst und unbewusst, von Subjekt und Objekt, von Freiheit und Notwendigkeit realisiert. Diese Tätigkeit ist nur vom Genie zu leisten, das beim Hervorbringen eines Kunstwerks einen Sinn für die unendliche Harmonie hat. Die Schönheit macht mit ihrer ursprünglichen Reinheit den Charakter eines vollendeten Werks aus, in dem das Unendliche ausgedrückt wird.
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Ebd., S. 62. Ebd., S. 584.
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Einführung
In diesem Zusammenhang hebt Schelling drei grundlegende Bedeutungen der Anschauung hervor: a) die produktive Anschauung, b) die intellektuelle Anschauung, c) die ästhetische Anschauung. In der theoretischen Philosophie ist die produktive Anschauung die Tätigkeit, die den ewigen Status der Expansion und der Kontraktion des Ichs setzt: Die Bedingung ihrer Möglichkeit ist die absolute Kontraktion. Im Gegensatz hierzu ist die intellektuelle Anschauung, indem sie den Akt des Selbstbewusstsein, der das Ich hervorbringt, repräsentiert, die Grundlage und die Voraussetzung des transzendentalen Idealismus. Das Selbstbewusstsein ist der Grund des gesamten philosophischen Systems. Es ist der absolute Akt, durch den jedes Ding dem Ich gegeben wird: Seine fortlaufende Geschichte ist identisch mit der Geschichte der Philosophie. Aus dieser Perspektive ist die ästhetische Anschauung die objektiv gewordene intellektuelle Anschauung, und dies ermöglicht es der Kunst, das »Organon« der Philosophie zu sein. Wenn die ästhetische Anschauung nicht als eine transzendentale Anschauung, die objektiv geworden ist, angesehen wird, versteht es sich von selbst, dass die Kunst das einzige und ewige Organon der Philosophie ist. Die Kunst ist der Schlüssel zum gesamten transzendentalen Idealismus Schellings: Sie bringt die Wahrheit, die absolute Identität von Bewusstem und Unbewusstem, von Freiheit und Notwendigkeit hervor. Für den Philosophen ist die Kunst die höchste, tiefste und erhabenste Aktivität des Menschen, sie ist das »Höchste«, das »Tiefste« und das »Erhabenste« in der menschlichen Erkenntnis. In dieser Bedeutung wird die Überlegenheit der Kunst gegenüber der theoretischen und praktischen Philosophie zusammengefasst, und ihre Funktion der Transzendentalphilosophie gegenüber, nämlich über die Schranken der Vernunft hinauszugehen, bestimmt. In der letzten Phase seiner Philosophie setzt sich Schelling mit Hegel auseinander und stellt die klare semantische Unterscheidung zwischen »negativer Philosophie« und »positiver Philosophie« auf. Der Weg von Schellings Gedanken schließt mit der Polemik gegen das philosophische System Hegels. Letzterem wird vorgeworfen, die vitalen Gründe des Idealismus auf ein geschlossenes, logisches und dialektisches Schema zu reduzieren, das abstrakt ist. Schelling sieht in der Philosophie Hegels eine Art von Philosophie, die alles in der Entwicklung der Idee erschöpfen möchte und so ein logisches, sich selbst genügendes System begründet. Die Totalität des Wirklichen wird mit dem Vernünftigen identifiziert: »Was vernünftig ist, das ist 15 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Einführung
wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Aus diesem Grund bezeichnet Schelling die Hegel’sche Philosophie als »negativ« bzw. als die Philosophie, die der »reine Gedanken« sein möchte und die keine Konfrontation mit etwas Entgegengesetztem, was nicht ausschließlich auf den Gedanken zurückzuführen ist, zulässt. Somit zeigt sich die Philosophie Hegels als eine leere, spekulative Konstruktion. Laut Schelling zielen die Philosophie und die Logik Hegels darauf, die Essenz der Dinge aufzunehmen; dies jedoch niemals in ihrer reellen Existenz. Die Hegel’sche Philosophie geht von der Vernunft aus und betrachtet somit nicht die Ganzheit der Existenz der Wirklichkeit, mit der sich hingegen die positive Philosophie beschäftigt. In der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) im Paragraphen »Prinzip einer Philosophie in der Form eines absoluten Grundsatzes« bemerkt Hegel: »Die Philosophie als eine durch Reflexion produzierte Totalität des Wissens wird ein System, ein organisches Ganzes von Begriffen, dessen höchstes Gesetz nicht der Verstand sondern die Vernunft ist; jener hat die Entgegengesetzten seines Gesetzten, seine Grenze, Grund und Bedingung richtig aufzuzeigen, aber die Vernunft vereint diese Widersprechenden, setzt beide zugleich und hebt beide auf. An das System als eine Organisation von Sätzen kann die Forderung gehen, dass ihm das Absolute, welches der Reflexion zum Grunde liegt, auch nach Weise der Reflexion, als oberster absoluter Grundsatz vorhanden sei.« 7 Anhand dieser Betrachtung möchte Hegel aufzeigen, dass das Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d. h. in seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll – und nichts anderes ist mit Spekulation gemeint –, gar nicht anders als in sich widersprüchlich gedacht werden kann: als Antinomie. Er erklärt: »Soll das Prinzip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven – oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn nämlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muss, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Syn-
7 G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, S. 25.
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Einführung
these und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweiung, ausdrücken.« 8 Mit dieser Ansicht unterstreicht Hegel im Paragraphen »Transzendentale Anschauung« der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, dass »das transzendentale Wissen beides vereinigt: Reflexion und Anschauung. Es ist Begriff und Sein zugleich. Dadurch, dass die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt sind, ins Bewusstsein; das Wissen, insofern es transzendental wird, setzt nicht nur den Begriff und seine Bedingung oder die Antinomie beider, das Subjektive, sondern zugleich das Objektive, das Sein, voraus. Im philosophischen Wissen ist das Angeschaute eine Tätigkeit der Intelligenz und der Natur, des Bewusstseins und des Bewusstlosen zugleich; es gehört beiden Welten, der ideellen und reellen zugleich an – der ideellen, indem es in der Intelligenz, und dadurch in Freiheit gesetzt ist, – der reellen, indem es seine Stelle in der objektiven Totalität hat, sozusagen als ein Ring in der Kette der Notwendigkeit deduziert wird. Stellt man sich auf den Standpunkt der Reflexion oder der Freiheit, so ist das Ideelle das Erste und das Wesen und das Sein nur die schematisierte Intelligenz; stellt man sich auf den Standpunkt der Notwendigkeit oder des Seins, so ist das Denken nur ein Schema des absoluten Seins.« 9 Im transzendentalen Wissen ist beides vereinigt, Sein und Intelligenz; ebenso ist »transzendentales Wissen und transzendentales Anschauen Eins und dasselbe; der verschiedene Ausdruck deutet nur auf das Überwiegende des ideellen oder reellen Faktors. Es ist von der tiefsten Bedeutung, dass mit so vielem Ernst behauptet worden ist, ohne transzendentale Anschauung könne nicht philosophiert werden.« 10 Einige Jahre später kritisiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) die transzendentale Anschauung, bezeichnet sie als »philosophischen Obskurantismus« und beleidigt so zutiefst Schelling, mit dem er seine ersten philosophischen Gedanken geteilt hatte. Hegel erklärt in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie von 1801, dass »in der transzendentalen Anschauung alle Entgegensetzung aufgehoben ist, aller Unterschied Ebd., S. 26. Ebd., S. 31. 10 Ebd. 8 9
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Einführung
der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz, und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet ist«. 11 Im Gegensatz dazu bestimmt er im Vorwort der Phänomenologie des Geistes von 1807 »das Resultat dieser Vernichtung« mit einer absolut negativen Bedeutung. Der Begriff »Phänomenologie« wurde zur Zeit Hegels in dem Werk Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein (1764) von Johann Heinrich Lambert eingeführt, aber wahrscheinlich schon von der Schule Wolffs geprägt. Lambert benutzt ihn als Titel des 4. Teils (»Phänomenologie oder Lehre von dem Schein«) seines Neuen Organon und versteht ihn als Studium der Fehlerquellen. Die Erscheinung, von der die Phänomenologie die Beschreibung ist, wird von ihm als trügerische angesehen. Die Phänomenologie wird als »Lehre von dem Schein« definiert. Die »Theorie des Scheins und seines Einflusses auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der menschlichen Erkenntnis« hat ihm zufolge den Zweck, den »Schein zu vermeiden, um zu dem Wahren durchzudringen«. Herder, Novalis und Fichte haben diese Bedeutung des Begriffs wieder aufgenommen. Auch Hegel folgt dieser philosophischen Tradition und erarbeitet ein persönliches Konzept der Phänomenologie, das sich jedoch von Kants Interpretation der Phänomenologie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) unterscheidet. Kant hatte den Begriff »Phänomenologie« benutzt, um auf den Teil der »Theorie der Bewegung« zu verweisen, der die Bewegung oder die Ruhe der Materie in Bezug auf die Modalitäten, in denen die Materie einem äußeren Sinn und der Rezeptivität erscheint, erklärt. Im Gegensatz hierzu nennt Hegel »Phänomenologie des Geistes« die Geschichte der unterschiedlichen Stufen des Bewusstseins, das durch seine anfänglichen, sinnlichen Erscheinungen seine eigene, wahre Natur entdeckt, sich also als unendliches und allgemeines Bewusstsein entdeckt. In diesem Sinn wird die Phänomenologie des Geistes von ihm als das »Werden der Wissenschaft oder des Wissens« identifiziert. Hegel sieht in ihr den Weg, den das einzelne Individuum zurücklegt und auf dem es schrittweise die Stufen der Formation des absoluten Geistes durchläuft.
11
Ebd.
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Einführung
Laut Hegel ist die Phänomenologie des Geistes die »Wissenschaft des erscheinenden Wissens« und die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. 12 Die Phänomenologie ist das »System der Erfahrung des Geistes« 13, ein System, das nur das Phänomen des Geistes beinhaltet. Im Vorwort zur Phänomenologie des Geistes definiert Hegel die Bedeutung der Phänomenologie so: »Dies Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewusstsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten.« 14 Aufgrund dieser Notwendigkeit ist dieser Weg »zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft, und nach ihrem Inhalt hiemit Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins«. 15 Nach Hegel ist die Methode der Phänomenologie notwendigerweise dialektisch. Die dialektische Bewegung und Entwicklung der Selbst-Erscheinung des existierenden Geistes ist eine dynamische Bewegung, die in ihrer Gesamtheit gesehen wird, bis der Geist sich schließlich als Geist erkennt. Dies ist das authentische Objekt der Hegel’schen Phänomenologie. »Der Geist, der sich so entwickelt als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut. […] Den Anfang der Philosophie macht die Voraussetzung oder Forderung, dass das Bewusstsein sich in diesem Elemente befinde. Aber dieses Element erhält seine Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens. Es ist die reine Geistigkeit, als das Allgemeine, das die Weise der einfachen Unmittelbarkeit hat; – dies Einfache, wie es als solches Existenz hat, ist der Boden, der Gedanken, – der nur im Geist ist.« 16 Die Phänomenologie des Geistes ist die phänomenologische Beschreibung des »langen Weges«, durch den sich der »unmittelbare Geist« als »sinnliche Gewißheit« 17 in einem mühsamen Bildungsprozess hindurchzuarbeiten hat, und zwar bis hin zu dem Stadium, in dem das eigentliche, nicht mehr bloß scheinhafte 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 80. 13 Ebd., S. 167 und S. 93. 14 Ebd., S. 31. 15 Ebd., S. 167. 16 Ebd., S. 76. 17 Ebd., S. 82.
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Einführung
Wissen erscheint oder auftritt. Weil Hegel dieses wahre Wissen als »absolutes Wissen« 18 versteht, handelt es sich bei dieser Phänomenologie um die Epiphanie des Wissens des Absoluten; erst hier hat ihm zufolge das Wissen das Element der Wissenschaft erreicht, was ihr reiner Begriff ist. »Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist.« 19 Die Phänomenologie ist die Beschreibung des Werdens der Wissenschaft im Allgemeinen, also des Wissens des Geistes. »Dies Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewusstsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurch zu arbeiten.« 20 Hiermit schließt die Phänomenologie des Geistes: »Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie.« 21 Vor diesem Hintergrund ist die Phänomenologie die Darstellung des Weges des natürlichen Bewusstseins zum wahren Wissen. Sie ist der Weg der Seele, die »sich gereinigt hat und zum Geist strebt«. 22 Die Phänomenologie »kann von diesem Standpunkte aus, als der Weg des natürlichen Bewusstseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, dass sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist«. 23 18 19 20 21 22 23
Ebd., S. 575. Ebd., S. 80. Ebd., S. 78. Ebd., S. 92. Ebd., S. 153. Ebd., S. 152.
20 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Einführung
Laut Hegel ist die Aufgabe der Philosophie »das, was ist, zu begreifen, denn das, was ist, ist die Vernunft«. 24 Indem er diese Definition als Grundlage nimmt, behauptet Hegel die Gleichartigkeit von Vernunft und Wirklichkeit. In der »Vorrede« zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts greift Hegel diese Thematik auf und schreibt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewusstsein, wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso bei der Betrachtung des geistigen Universums, als des natürlichen, aus.« 25
24 25
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 61. Ebd., S. 58.
21 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
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I.
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis. Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft. Die Form der Form und das Wissen des Wissens in Fichtes Idealismus »Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissen aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.« »Ohne Unendlichkeit gibt es keine Begrenzung: ohne Begrenzung gibt es keine Unendlichkeit.« »Ohne Unendlichkeit des Ich – ohne ein absolutes in das Unbegrenzte, und Unbegrenzbare hinausgehendes ProduktionsVermögen desselben, ist auch nicht einmal die Möglichkeit der Vorstellung zu erklären.« Johann Gottlieb Fichte
1.
Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe. Ein Vergleich zwischen Kant und Fichte
Laut Fichte ist sein philosophisches System »das erste System der Freiheit«, 1 das die Philosophie von dem Problem des Dinges an sich befreit und sie unabhängig macht, wie er in einem Brief an Baggesen aus dem Jahre 1795 schreibt. In der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) bestätigt Fichte diesen Begriff und unterstreicht, dass das dogmatische Denken das Denken ist, das die Grundlage der »Mein System ist das erste System der Freiheit«. Entwurf eines Brief an J. Baggesen (1795), GA III/2, S. 298.
1
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Erfahrung nicht im Handeln der Intelligenz nach dem Gesetz, »aber in dem Ding an sich erkennt«. 2 Welche Bedeutung haben die Begriffe »Noumenon« und »Ding an sich« im ethischen Idealismus von Fichte? Warum ist das Problem des Dinges an sich in seiner Kritik an Kants Philosophie so wichtig? Der Begriff »Noumenon« ist problematisch, »d. i. die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen können, daß es möglich, noch daß es unmöglich sei, indem wir gar keine Art der Anschauung, als unsere sinnliche kennen, und keine Art der Begriffe, als die Kategorien, keine von beiden aber einem außersinnlichen Gegenstande angemessen ist«. 3 Der Begriff des »Noumenon« ist also nicht »der Begriff von einem Objekt, sondern die unvermeidlich mit der Einschränkung unserer Sinnlichkeit zusammenhängende Aufgabe, ob es nicht von jener ihrer Anschauung ganz entbundene Gegenstände geben möge, welche Frage nur unbestimmt beantwortet werden kann, nämlich: daß, weil die sinnliche Anschauung nicht auf alle Dinge ohne Unterschied geht, für mehr und andere Gegenstände Platz übrig bleibe, sie also nicht schlechthin abgeleugnet, in Ermangelung eines bestimmten Begriffs aber (da keine Kategorie dazu tauglich ist) auch nicht als Gegenstände für unsern Verstand behauptet werden können«. 4 Nach Kant kann man auf das Problem des Noumenon nur unbestimmt antworten, da es einen Raum eröffnet, der für die unterschiedlichen Objekte der Sinnlichkeit bestimmt ist. Diese können nicht negiert werden, und sie können auch nicht als Objekte der Erkenntnis unseres Intellekts angesehen werden. Vor diesem Horizont ist der wichtigste Aspekt die semantische Beziehung zwischen dem Noumenon und dem problematischem Begriff. Was ist ein problematischer Begriff? Warum ist die Beziehung zwischen dem problematischen Begriff und dem Begriff des Noumenons in der Kritik am Transzendentalen Kants bei der Entwicklung des ethischen Idealismus von Fichte so wichtig? »Ich nenne einen Begriff problematisch, der keinen Widerspruch enthält, der auch als eine Begrenzung gegebener Begriffe mit andern Erkenntnissen zusammenhängt, dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann. Der Begriff eines Noumenon, d. i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als 2 3 4
J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 15. I. Kant, KrV, B 343/A 286. Ebd., B 344/A 287.
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Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe
ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken (denn das übrige, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken). Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d. i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt, als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne.« 5 Der Begriff eines Noumenon ist »also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können.« 6 Kant bezeichnet einen Begriff als »problematisch«, wenn er keinen Widerspruch enthält. Der Begriff »Noumenon« ist nicht widersprüchlich: Man kann in der Tat nicht behaupten, dass die Sinnlichkeit die einzige Möglichkeit der Anschauung sei. Außerdem ist das Noumenon nach Kant ein notwendiger Begriff, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis zu begrenzen. 7 Die Möglichkeiten der Noumena kann man nicht in Beziehung auf ihre Beziehungen zu den Bedingungen der realen Möglichkeiten bestimmen, weil ihr Bereich und das Feld ihrer Erkenntnis jenseits der Grenzen der Erscheinungswelt liegen. Die objektive Realität dieses Begriffs kann nicht nach den »Bedingungen der Möglichkeit« 8 der Erfahrung aufgestellt Ebd., B 310/A 254. Ebd., B 311/A 256. 7 Vgl. L. Allais, Manifest Reality: Kant’s Idealism and his Realism, Oxford: Oxford University Press 2015. 8 Zur semantischen Korrelation zwischen den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis und der Idee der Transzendentalphilosophie vgl. J. M. Siemek, Die Idee des 5 6
25 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
werden. Der problematische Begriff wird durch die Fragen nach den Grenzen der Vernunft 9 und danach, wie es möglich ist, sich im Grenzbereich zwischen Phaenomena und Noumena zu orientieren, gerechtfertigt. Mit dem Begriff »Noumenon« überschreitet unser Intellekt nur auf problematische Art und Weise die Sphäre der Sinnlichkeit. Er kann nicht über diese Sphäre assertorisch hinausgehen, weil er über keine intellektuelle Anschauung verfügt. Das Noumenon ist demnach ein Problem, das eng mit der Begrenzung unserer Sinnlichkeit verbunden ist. Vor diesem semantischen Horizont erscheint das positive Element des Begriffs »Noumenon« als »problematischer Begriff« 10 mittels seiner authentischen Charakteristik: der begrenzenden Funktion im Bereich der sinnlichen Erkenntnis. Aufgrund dieser Charakteristik ist der Begriff »Noumenon« keinesfalls willkürlich, sondern notwendig, weil er mit der Bestimmung der Grenzen unserer Sinnlichkeit verbunden ist. Um die Beziehung zwischen den Strukturen des Transzendentalen und die Bedeutung der Funktion der Begrenzung des Noumenons als problematischer Begriff zu erklären, bedient sich Kant der Bezeichnung Grenzbegriff. Was ist ein Grenzbegriff? Was bedeutet es, sich im Grenzbereich zwischen Phaenomena und Noumena zu orientieren? Welche Funktion haben die Grenzbegriffe in der Transzendentalphilosophie Kants? In Bezug auf die Reflexionen zur Metaphysik ist zu bemerken, dass der Begriff »limes« im Zusammenhang einer Definition immer auf eine Negation, ein Fehlen, eine Abwesenheit oder einen Mangel Transzendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg: Meiner 1984; F. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge (Massachusetts) – London: Harvard University Press 1993; vgl. auch W. Flach, Die Idee der Transzendentalphilosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 9 Vgl. L. Hühn, Fichte und Schelling oder: Über die Grenzen menschlichen Wissens, Stuttgart 1994; R. P. Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des deutschen Idealismus, 2. Auflage, Weinheim: Beltz Athenäum 1995; vgl. auch F. Kutschera, Die Wege des Idealismus, Paderborn 2006. 10 Zur Bedeutung des Noumenons als »problematischer Begriff« vgl. H. E. Allison, »Kant’s Concept of the Transcendental Object«, in: Kant-Studien 59 (1968), S. 461– 476; K. Cramer, »›Gegeben‹ und ›Gemacht‹. Vorüberlegungen zur Funktion des Begriffs ›Handlung‹ in Kants Theorie der Erkenntnis von Objekten«, in: G. Prauss (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986; R. Engel, Kants Lehre vom Ding an sich und ihre erziehungs- und bildungstheoretische Bedeutung, Berlin: Peter Lang 1996; vgl. auch J. A. Bonaccini, Kant e o problema da coisa em si no Idealismo Alemão, Rio de Janeiro: Relume Dumarà 2003.
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Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe
verweist. Dazu im Gegensatz steht der Begriff »terminus«, der oft mit den Begriffen der »ratio primitiva« und der »completudo« verbunden ist. Der »terminus« einer Abfolge ist der erste Teil derselben, deren Bedingungen der Möglichkeit im »conceptus terminator« impliziert sind. Dieser Begriff ist mit dem kantischen Grenzbegriff 11 zu identifizieren. Die Grenzen sind in diesem semantischen Zusammenhang »der erste Grund, die omnitudo des Verknüpften und das letzte Subjectum«. 12 »Conceptus terminator« oder Grenzbegriff sind möglich, weil sie auf »den ersten Begriff der Abfolge verweisen«. 13 Zum Beispiel: Der Begriff eines absolut notwendigen Wesens ist ein Grenzbegriff der Abfolge der verknüpften Elemente. In diesem Sinne ist auch das Noumenon der Grenzbegriff der Phänomene, da es die Serie der Phänomene überhaupt erst ermöglicht. Diese liegen im Bereich der sinnlichen Welt, und nicht im Bereich der Totalität. Deshalb sagt Kant, dass das Noumenon die intelligible Ursache des Phänomens ist. Wird der Begriff »Noumenon« auf problematische Art und Weise betrachtet, so ist er nicht nur möglich, sondern unvermeidbar, da es der Begriff ist, das der Sinnlichkeit Grenzen setzt. Das Noumenon ist »von negativem Gebrauche«. Es ist eng mit der Begrenzung der Sinnlichkeit verbunden. Nach Kant ist der Begriff »Noumenon« ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken. »Wenn man von den Sinnen abgeht, wie will man begreiflich machen, dass unsere Kategorien (welche die einzigen übrig bleibenden Begriffe für Noumena sein würden) noch überall etwas bedeuten, da zu ihrer Beziehung, auf irgend einen Gegenstand, noch etwas mehr, als bloß die Einheit des Denkens, nämlich über dem eine mögliche Anschauung gegeben sein muss, darauf jene angewandt werden können? Der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, auch als ein die Sinnlichkeit in Schranken setzender Begriff, unvermeidlich. Aber alsdenn ist das nicht ein besonderer intelligibeler Gegenstand für unsern Verstand, sondern ein Verstand, für den es gehörete, ist selbst ein Problema, nämlich, nicht diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen Gegenstand zu erkennen.« 14 Unser Verstand bekommt nun auf diese Weise »eine ne11 12 13 14
I. Kant, Reflexionen zur Metaphysik, 3897; vgl. auch 4033. Ebd., 4415. Ebd., 4039. KrV, B 312/A 256.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
gative Erweiterung, d. i. er wird nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt, sondern schränkt vielmehr dieselbe ein, dadurch, dass er Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt. Aber er setzt sich auch so fort selbst Grenzen, sie durch keine Kategorien zu erkennen, mithin sie nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken«. 15 Bei der Definition und der kritisch-transzendentalen Analyse des Begriffs »Noumenon« als Grenzbegriff 16 durch Kant ist dieser Punkt besonders bedeutend. Der Begriff »Noumenon« ist unvermeidbar und notwendig, um die Natur des Phänomens und seinen repräsentativen Status in der Erscheinungswelt zu verstehen. Das Verständnis des Phänomens impliziert das problematische Verständnis des Begriffs »Noumenon«. Aut simul stabunt, aut simul peribunt. Dies bedeutet, ihn so zu benutzen, dass er auf eigenständige Art und Weise und kritisch die Unterscheidung-Beziehung zwischen Phaenomena und Noumena denkt. Die begrenzende Verbindung zwischen dem Noumenon und dem Feld der Sinnlichkeit ist bei Kant auch eine Verbindung, die die Betrachtung des Noumenons in Bezug auf die Strukturen des Transzendentalen vor einem negativen Hintergrund rechtfertigt. Nach Kant begrenzt der Intellekt durch den Begriff des Noumenons nicht nur die Sinnlichkeit, sondern auch sich selbst. So zeigt er, dass er die Noumena nicht dank einer Kategorie, die jeder Art sein kann, erkennt, sondern dass er sie mit dem Namen von etwas, was ihm unbekannt ist, denkt. Dieser Verweis auf etwas Unbekanntes und/oder Mysteriöses bleibt fortwährend in der Spannung zwischen der Aussage, dass das Bestehen des Noumenons zwar problematisch, aber unvermeidbar sei, und der Aussage, dass wir das Noumenon nicht kennen, weil seine Funktion negativ ist und die Ansprüche der Sinnlichkeit einengen, bestehen. Wenn also einerseits der Begriff »Noumenon« ein Feld jenseits der empirischen Objektivität eröffnet, so bestimmt er andererseits seine Unerkennbarkeit nach der realen Möglichkeit. Kant definiert die Noumena nicht nur als Wesen und/ oder als Verstandeswesen, sondern nennt das Noumenon auch ein Objekt, das notwendigerweise von der Vernunft gedacht wird. In der Einleitung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere in der Anmerkung über die Zweideutigkeit Ebd., B 312/A 256. Zur Analyse des Noumenons als »Grenzbegriff« vgl. N. F. Stang, Kant’s Modal Metaphysics, Oxford: Oxford University Press 2016. 15 16
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Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
der Begriffe des Denkens unterscheidet Kant vier Typen von Objekten: a) das Objekt im allgemeinen Sinn; b) den phänomenologischen Sinn des Objekts, das von der Erfahrung in der sinnlichen Mannigfaltigkeit gegeben wird und somit die empirische Anschauung impliziert; c) die Einigung mittels der Kategorien und die Einführung aller Erfahrungen; d) den noumenischen Sinn des Objekts als von der Vernunft notwendig gedachtes Objekt, auch wenn es im Bezug auf seine Realität nicht erkennbar ist. Der Begriff »Noumenon« ist, auch wenn dieses in Hinsicht auf die Beziehung zu den Bedingungen der Möglichkeit 17 der Erfahrung unerkennbar ist, ein Grenzbegriff oder ein »conceptus terminator«. Vor diesem Hintergrund ist die »unbedingte« Bedingung das höchste Ziel der phänomenologischen Objektivität. »Denn das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. […] und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse […]« 18
2.
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität und zwischen Phaenomena und Noumena
Der Verweis auf die Logik kann nützlich sein, um den Ausgangspunkt von Fichtes Wissenschaftslehre zu verstehen. Der theoretische Gedankengang Fichtes beruht jedoch nicht nur auf der Begründung der Logik, sondern bezieht auch das Problem mit ein, das – nach Fichte – von Kant durch den widersprüchlichen und unhaltbaren Begriff des Dinges an sich 19 offengelassen wurde. Die Philosophie ist dazu gezwungen, in den Dogmatismus zu münden, wie ihre Geschichte bis hin zu Kant zeigt, wenn sie bei der Erkenntnis der Präsenz einer 17 Vgl. E. Schaper und W. Vossenkuhl (Hrsg.), Bedingungen der Möglichkeit. »Transcendental Arguments« und transzendentales Denken, Stuttgart 1984; vgl. auch H. Vahid, »The Nature and Significance of Transcendental Arguments«, in: KantStudien 93 (2002), S. 273–290. 18 KrV, B XX. 19 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 50.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Grenze durch ein Ding an sich, von dem die gesamte Welt der Erkenntnis abzuleiten ist, beginnt. Dogmatismus und Idealismus 20 stehen in eindeutigem Gegensatz zueinander, aber keiner von beiden kann den anderen widerlegen. Deshalb hängt die Wahl von einem von beiden einzig und allein von der Persönlichkeit des jeweiligen Philosophen ab. Trotz alledem gibt es viele Argumente, die für den Idealismus sprechen. Der Dogmatismus, der vom Noumenon ausgeht, leitet den eigentlichen Akt des Denkens vom Objekt ab – jedoch ist dieser Übergang vom Sein zum Denken unmöglich. Der Idealismus hingegen leitet das Objekt vom Subjekt ab, und der Gedanke enthält schon das Sein bzw. das Moment des Seins. Auch das praktische Verhalten des Menschen spricht für den Idealismus: Der Dogmatiker hat einen schwachen Charakter und erklärt die Aktivität des Geistes durch die schon bestehende Realität; die Freiheit 21 des Denkens ist für ihn ein reines Produkt der Dinge. Der Idealist hingegen hat Unternehmungsgeist und unterstreicht gegenüber der Realität der Welt seine Autonomie und seine Freiheit; das Objekt wird vom Subjekt abgeleitet. Der tiefe Dualismus zwischen Subjektivität 22 und Objektivität und zwischen Phaenomena und Noumena wird zu einer unüberwindbaren Grenze. Dieses Resultat zu negieren bedeutet für Fichte nicht, einem dogmatischen Idealismus zu folgen, oder zu verneinen, dass das menschliche Bewusstsein endlich und begrenzt ist. Fichtes Wissenschaftslehre ist – anders als die Philosophie Kants – ein transzendentaler Idealismus 23, der die ursprüngliche und nicht zu unterdrüVgl. R. Bubner, »Rationalitätsformen im Namen der Subjektivität«, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität. Concepts of Rationality, Berlin-New York: de Gruyter 2002, S. 29–41; P. Gorner, German Idealism. Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Oxford 2003; vgl. auch D. Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena (1790–1794), Bd. 2, Frankfurt am Main 2004. 21 Vgl. C. I. Insole, Kant and the Creation of Freedom: A Theological Problem, Oxford: Oxford University Press 2016. 22 Vgl. B. Tuschling, »Epochen, Stufen und Dimensionen von Subjektivität und Transzendentalität bei Kant«, in: Subjekt als Prinzip? Zur Problemgeschichte und Systematik eines neuzeitlichen Paradigmas, hrsg. von Achim Lohmar und Henning Peucker, Würzburg 2003, S. 56–80; vgl. auch A. Rosales, Sein und Subjektivität bei Kant, Berlin: de Gruyter 2012. 23 Zur philosophisch-theoretischen Analyse des tranzendentalen Idealismus vgl. F. Kuhne, Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie, Hamburg: Meiner 2007; vgl. C. Asmuth, »Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen 20
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Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
ckende Begrenztheit des Bewusstseins in seiner Bewegung erkennt. Das »Ding an sich« ist nicht notwendig, und man fällt nicht dem Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Phaenomena und Noumena zum Opfer. In der Analytik der Grundsätze hatte Kant ein zentrales Problem der Kritik der reinen Vernunft offengelassen: das Problem der Grenzen zwischen Phaenomena und Noumena: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen tauscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen, und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Not zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden gibt, auf dem wir uns anbauen könnten; zweiten, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen, und uns wider alle feindselige Ansprüche gesichert halten können.« 24 Wie ist es möglich, die Grenzen zwischen Phaenomena und Noumena zu bestimmen? Ist diese Grenzlinie notwendig und bestimmt, oder unterliegt sie einer semantischen Veränderung? Was sind die Noumena? »Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena. Wenn ich aber Dinge annehme, die bloß Gegenstände des Verstandes sind, und gleichwohl, als solche, einer Anschauung, obgleich nicht der sinnlichen (als coram intuitu intellectuali) gegeben werden können: an Fichtes Spätphilosophie«, in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 45–58. 24 KrV, B 295/A 236.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
so würden dergleichen Dinge Noumena (intelligibilia) heißen. Nun sollte man denken, dass der durch die transzendentale Ästhetik eingeschränkte Begriff der Erscheinungen schon von selbst die objektive Realität der Noumenorum an die Hand gebe, und die Einteilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena, mithin auch der Welt in eine Sinnen- und eine Verstandeswelt (mundus sensibilis et intelligibilis) berechtige, und zwar so: daß der Unterschied hier nicht bloß die logische Form der undeutlichen oder deutlichen Erkenntnis eines und desselben Dinges, sondern die Verschiedenheit treffe, wie sie unserer Erkenntnis ursprünglich gegeben werden können, und nach welcher sie an sich selbst, der Gattung nach, von einander unterschieden sein. Denn wenn uns die Sinne etwas bloß vorstellen, wie es erscheint, so muss dieses Etwas doch auch an sich selbst ein Ding, und ein Gegenstand einer nicht sinnlichen Anschauung, d. i. des Verstandes sein, d. i. es muss eine Erkenntnis möglich sein, darin keine Sinnlichkeit angetroffen wird, und welche allein schlechthin objektive Realität hat, dadurch uns nämlich Gegenstände vorgestellt warden, wie sie sind, da hingegen im empirischen Gebrauche unseres Verstandes Dinge nur erkannt warden, wie sie erscheinen. Also würde es, außer dem empirischen Gebrauch der Kategorien (welcher auf sinnliche Bedingungen eingeschränkt ist) noch einen reinen und doch objektivgültigen geben, und wir könnten nicht behaupten, was wir bisher vorgegeben haben: daß unsere reine Verstandeserkenntnisse überall nichts weiter wären, als Prinzipien der Exposition der Erscheinung, die auch a priori nicht weiter, als auf die formale Möglichkeit der Erfahrung gingen, denn hier stände ein ganz anderes Feld vor uns offen, gleichsam eine Welt im Geiste gedacht (vielleicht auch gar angeschaut), die nicht minder, ja noch weit edler unsern reinen Verstand beschäftigen könnte.« 25 Vor dem Hintergrund dieser Gedanken sagt Kant, dass alle unsere Vorstellungen durch den Intellekt einem Objekt mitgeteilt werden. Da die Phänomene nichts anderes als Vorstellungen sind, bezieht sich der Intellekt auf »etwas«, auf das Objekt der sinnlichen Anschauung; dieses »Etwas« ist nichts anderes als das transzendentale Objekt. Es ist ein quid = x, und außer ihm kennen wir nichts, können wir nichts kennen, wenn wir an die »Bedingungen der Möglichkeit« der Erfahrung denken. Aber dieses »Etwas« kann die Verbindung zwi-
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Ebd., A 249.
32 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
schen der Einheit der transzendentalen Apperzeption 26 und der Einheit der Mannigfaltigkeit bei der empirischen Anschauung herstellen. Dieses transzendentale Objekt kann nicht von den sinnlichen Dingen getrennt werden, denn wenn es getrennt würde, bliebe nichts, durch das man es denken könnte. Es ist kein Objekt der Erkenntnis an sich, sondern nur die Vorstellung der Phänomene. Diese unterliegt einem allgemeinen Begriff eines Objekts, das nur durch die Mannigfaltigkeit jener Phänomene bestimmbar ist. »Was aber die Ursache betrifft, weswegen man, durch das Substratum der Sinnlichkeit noch nicht befriedigt, den Phaenomenis noch Noumena zugegeben hat, die nur der reine Verstand denken kann, so beruhet sie lediglich darauf. Die Sinnlichkeit, und ihr Feld, nämlich das der Erscheinungen, wird selbst durch den Verstand dahin eingeschränkt: daß sie nicht auf Dinge an sich selbst, sondern nur auf die Art gehe, wie uns, vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit, Dinge erscheinen. Dies war das Resultat der ganzen transzendentalen Ästhetik, und es folgt auch natürlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts vor sich selbst, und außer unserer Vorstellungsart sein kann, mithin, wo nicht ein beständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber an sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit (worauf sich die Form unserer Anschauung gründet), etwas, d. i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß.« 27 Der kantische Begriff des Noumenons, der von Fichte kritisiert 28 wird, hat seinen Ursprung genau hier. Dieser Begriff konstituiert nicht und kann auch nicht eine bestimmte Erkenntnis von etwas Gegebenem in Bezug auf die reale Möglichkeit konstituieren. Kant sagt, dass er von allen Formen der sinnlichen Anschauung absehen müsse. »Damit aber ein Noumenon einen wahren, von allen Phänomenen zu Vgl. N. Hinske, Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1998. 27 Ebd., A 251–252. 28 In Bezug auf Fichtes Kritik an Kants Transzendentalphilosophie vgl. C. Bickmann, »Zwischen Sein und Setzen: Fichtes Kritik am dreifachen Absoluten der kantischen Philosophie«, in: Anfänge und Ursprünge. Zur Vorgeschichte der Jenaer Wissenschaftslehre, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 9, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 143–162; vgl. S. L. Darwall, »Fichte and the Second Person Standpoint«, in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 3 (2005), S. 91–113. 26
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
unterscheidenden Gegenstand bedeute, so ist es nicht genug: daß ich meinen Gedanken von allen Bedingungen sinnlicher Anschauung befreie, ich muss noch überdem Grund dazu haben, eine andere Art der Anschauung, als diese sinnliche ist, anzunehmen, unter der ein solcher Gegenstand gegeben werden könne; denn sonst ist mein Gedanke doch leer, obzwar ohne Widerspruch. […] Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d. i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas überhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen; denn ich weiß von ihm nicht, was er an sich selbst sei, und habe gar keinen Begriff von ihm, als bloß von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also vor alle Erscheinungen einerlei ist.« 29 Bestimmte Objekte, die Erscheinungen sind, nennt Kant »Sinnenwesen«, also Phaenomena, und unterscheidet so zwischen der Art und Weise, wie wir sie anschauen, und ihrer Natur an sich. »Gleichwohl liegt es doch schon in unserm Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände, als Erscheinungen, Sinnenwesen (phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden, daß wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar nicht Objekte unserer Sinne sind, als Gegenstände bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüber stellen, und sie Verstandeswesen (noumena) nennen. Nun frägt sich: ob unsere reine Verstandesbegriffe nicht in Ansehung dieser letzteren Bedeutung haben, und eine Erkenntnisart derselben sein könnten?« 30 »Gleich anfangs aber zeigt sich hier eine Zweideutigkeit, welche großen Mißverstand veranlassen kann: daß, da der Verstand, wenn er einen Gegenstand in einer Beziehung bloß Phänomen nennt, er sich zugleich außer dieser Beziehung noch eine Vorstellung von einem Gegenstande an sich selbst macht, und sich daher vorstellt, er könne sich auch von dergleichen Gegenstande Begriffe machen, und, da der Verstand keine andere als die Kategorien liefert, der Gegenstand in der letzteren Bedeutung wenigstens durch diese reine Verstandesbegriffe müsse gedacht werden können, dadurch aber verleitet wird, den ganz unbestimmten Begriff von einem Verstandeswesen, als einem Etwas überhaupt außer unserer Sinnlichkeit, für einen bestimmten Begriff von einem We29 30
KrV, A 252–253. Ebd., B 306.
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Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
sen, welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen könnten, zu halten.« 31 Kant verweist, indem er die semantische Unterscheidung zwischen bestimmtem und unbestimmtem Begriff beibehält, auf die zweifache Bedeutung des Noumenons: das Noumenon im positiven Sinne und das Noumenon im negativen Sinne. »Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das ware das Noumenon in positiver Bedeutung.« 32 »Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muss, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, dass er von seinen Kategorien, in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne, weil diese nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung haben, sie eben diese Einheit auch nur wegen der bloßen Idealität des Raums und der Zeit durch allgemeine Verbindungsbegriffe a priori bestimmen können. Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen; weshalb ich mich nur auf das berufen darf, was ich in der allgemeinen Anmerkung zum vorigen Hauptstücke gleich zu Anfang anführete. Nun kann aber die Möglichkeit eines Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, dass man diesen durch eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, so müssten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdenn wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche, 31 32
Ebd., B 306–307. Ebd., B 307.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
nämlich die intellektuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt, so kann auch der Gebrauch der Kategorien keinesweges über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen, und den Sinnenwesen korrespondieren zwar freilich Verstandeswesen, auch mag es Verstandeswesen geben, auf welche unser sinnliches Anschauungsvermögen gar keine Beziehung hat, aber unsere Verstandesbegriffe, als bloße Gedankenformen für unsere sinnliche Anschauung, reichen nicht im mindesten auf diese hinaus; was also von uns Noumenon genannt wird, muß als ein solches nur in negativer Bedeutung verstanden werden.« 33
3.
Vorstellung, Wechselbestimmung und Synthesis
Was bedeutet Synthesis 34? Worin besteht die Funktion und die Bedeutung der Synthesis in der Wissenschaftslehre Fichtes? Warum ist der Begriff »Synthesis« in der Grundlage der gesamten WissenEbd., B 307–309. Der Begriff »Synthesis« (gr. σύνθεσις; lat. synthesis) hat außer den allgemeinen Bedeutungen Vereinigung, Koordination oder Komposition weitere, bestimmte Bedeutungen: a) eine erkenntnistheoretische Methode, die im Gegensatz zur Analyse steht; b) eine intellektuelle Tätigkeit; c) eine dialektische Einheit von Gegensätzen; d) eine Einheit der Resultate einer Wissenschaft in der Philosophie. Mit der ersten Bedeutung, also als grundlegende Methode der Erkenntnis, im Gegensatz zur Analyse, kann man die Synthese als Methode verstehen, die vom Einfachen zum Kompositum führt, die von den einzelnen Elementen ausgeht, um zu deren Kombinationen in den Objekten zu gelangen, deren Natur erklärt werden soll. Die Gegenüberstellung der zwei Methoden wurde das erste Mal von Descartes ausgesprochen (Méditations métaphysiques. Objections et réponses suivies de quatre lettres, S. 255); Leibniz bestimmt sie wie folgt: »Wir können durch die Synthesis die Wahrheit bestimmen, indem wir vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, gehen. Aber die Synthesis ist nicht ausreichend. Durch die Analyse können wir den Weg im Labyrinth finden« (Nouveaux essais sur l’entendement humain, IV, 2, 7). Nach Kant ist die synthetische Methode die fortschreitende Methode, während die analytische Methode rückschreitend ist, also vom Objekt ausgeht und zu den Bedingungen führt, die es ermöglichen (Prolegomena, § 5, Anmerkung). Das Vorgehen der Philosophie ist nach Kant analytisch und das Vorgehen der Mathematik ist synthetisch. Die beiden Begriffe beziehen sich in diesem Zusammenhang jedoch in keiner Weise auf eine Klassifizierung der Urteile in analytische oder synthetische Urteile. Im Allgemeinen gilt: So, wie das analytische Vorgehen durch Fakten (die dem Objekt oder der Situation, die zu lösen ist, innewohnen) charakterisiert ist, die die Vorgehensweise selbst leiten und kontrollieren, so ist das synthetische Vorgehen durch die Abwesenheit dieser Fakten charakterisiert. Letzteres hat den Anspruch, von sich
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Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
schaftslehre so wichtig? Nach Fichte ist die Synthesis ein besonderer Akt eines jeden Vorstellens, weil sie entgegengesetzte Begriffe zusammenbringt, indem sie in ihnen eine Charakteristik sucht. Diese Einigung der Begriffe ist jedoch nicht definitiv und reduzierend, sonselbst aus die Elemente und ihre Konstrukte zu produzieren. Die zweite Bedeutung des Begriffs verweist auf die Einheit von Subjekt und Prädikat in dem Satz; sie verweist also auf den Akt oder die intellektuelle Tätigkeit, die diese Einheit hervorbringt. In diesem Sinne wird der Begriff von Aristoteles verwendet, der sagt, dass »dort, wo richtig und falsch liegen, auch eine gewisse Synthese der Gedanken herrscht, die der Synthese ähnelt, die in den Dingen liegt« (De anima, III, 6, 430 a 27); und »das, was diese Einheit konstituiert, ist der Verstand« (ebd., 430 b 5). Es ist aber vor allem Kant, der den Begriff »Synthese« benutzt. Er führt jede Art von intellektueller Tätigkeit auf diese zurück. Er definiert die Synthese im Allgemeinen als »Akt, der die unterschiedlichen Vorstellungen vereinigt, und der diese Einheit in einem einzigen Bewusstsein versteht« (KrV, B 102/A 77). Außerdem unterscheidet er unterschiedliche Arten von Synthese auf der Grundlage der Elemente, die an ihr teilhaben. Er unterscheidet die reine Synthese, in der das Vielfältige nicht empirisch, sondern a priori (wie die Mannigfaltigkeit von Raum und Zeit) gegeben ist, von der empirischen Synthese, in der das Vielfältige empirisch gegeben ist. Die reine Synthese ist »der ursprüngliche Akt unserer Erkenntnis« (ebd.). Sie geht jeder Analyse voran, da man nur das analysieren kann, was schon durch den Akt der Erkenntnis vereint und gegeben wurde. Die reine Synthese, die a priori möglich ist, kann in die figurative Synthese (synthesis speciosa) und die intellektuelle Synthese (synthesis intellectualis) unterteilt werden. Während die intellektuelle Synthese eine reine gedachte Mannigfaltigkeit vereint, ist die figurative Synthese eine Synthese der Mannigfaltigkeit der sensiblen Anschauung bzw. eine Synthese der Einbildungskraft als »Möglichkeit, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen« (ebd., § 24). Das denkende Ich oder die ursprüngliche Apperzeption basieren auf dieser transzendentalen Synthese. Da aber jede Erkenntnis eine Synthese ist und die tatsächliche Erkenntnis Erfahrung ist, beruht nach Kant die Erfahrung an sich »auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstande der Erscheinungen überhaupt« (KrV, B 195/A 156). In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von drei Typen der Synthese: a) der Synthese der Apprehension in der Anschauung; b) der Synthese der Reproduktion in der Einbildung; c) der Synthese der Rekognition im Begriff (KrV, A 99). Aber sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage wird auf die Synthese jede Art oder jede Stufe von Tätigkeit der Erkenntnis zurückgeführt. Dies ist einer der am meisten diskutierten Aspekte seines Werks. Der Begriff »Synthese« verändert sich dann im Idealismus und wird von anderen Philosophen wiederaufgenommen und anders interpretiert. Der Begriff mit der Bedeutung »Einheit der Gegensätze« und dem damit zusammenhängenden Begriff der Dialektik wird zum ersten Mal von Fichte eingeführt. Das Gesetz der Dialektik ist, dass »keine Antithese ohne eine Synthese möglich ist, weil die Antithese das Suchen nach dem Gegenteil des Gleichen ist« (Wissenschaftslehre, § 3, D, 3). Schelling definierte den Prozess als »Prozess, der von der These ausgeht und zur Synthese führt, also den Prozess, aufgrund dessen das Ich das Objekt stellt, sich ihm entgegensetzt und es schließlich in sich selbst versteht« (System des transzendentalen Idealismus, III, Kap. I; S. 58 ff.). Hegel hingegen bevorzugt anstatt »Synthese« den Begriff »Identität« oder »Einheit«,
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
dern ist die Ursache für eine Wechselbestimmung. Die Wechselbestimmung ist eine Beziehung, in der sich zwei entgegengesetzte Begriffe in einem gleichen, synthetischen Stadium befinden. Der eine Begriff ist hierbei die Bedingung der Möglichkeit des anderen und umgekehrt. Der Begriff »Wechselbestimmung« und der Begriff »Synthesis« stehen in engem Bezug zur Bedeutung und zur Funktion des Vorstellens. In der Interpretation Fichtes ist das Vorstellen eine erkennende Tätigkeit, die grundlegend ist und von der Einbildungskraft ermöglicht wird. Jede Erkenntnis ist eine Vorstellung, die für das Bewusstsein eine objektive Realität zusammenfasst oder die die Erkenntnis eines »Nicht-Ichs«, das außerhalb liegt und im Gegensatz zur Intelligenz steht, ermöglicht. »Ebenso ist in der ersten synthetischen Handlung, der Grundsynthesis (der des Ich und Nicht-Ich), ein Gehalt für alle mögliche künftige Synthesen aufgestellt, und wir bedürfen auch von dieser Seite nichts weiter. Aus jener Grundsynthesis muss alles sich entwickeln lassen, was in das Gebiet der Wissenschaftslehre gehören soll.« 35 Fichte behält die semantische Wechselbeziehung zwischen der Grundsynthesis und dem Gebiet der Wissenschaftslehre bei und schreibt: »Keine antithetische Handlung, dergleichen doch für die Möglichkeit der Analyse überhaupt vorausgesetzt wird, ist möglich, ohne eine synthetische; und zwar keine bestimmte antithetische, ohne ihre bestimmte synthetische. Sie sind beide innig vereinigt, eine und eben dieselbe Handlung, und werden bloß in der Reflexion unterschieden. Mithin läßt von der Antithesis sich auf die Synthesis schließen; das dritte, worin die beiden entgegengesetzten vereinigt sind, lässt sich gleichfalls aufstellen: nicht als Produkt der Reflexion, sondern als ihr Fund: aber als Produkt jener ursprünglichen synthetischen Handlung des Ich; die darum, als Handlung, nicht eben zum empirischen Bewusstsein gelangen muss, ebenso wenig, als die bisher aufgestellten Handlungen. Wir treffen also von jetzt an auf lauter synthetische Handlungen, die aber nicht schlechthin unbedingte Handlungen sind, wie die erstern. Durch unsre Deduktion aber wird bewiesen, daß es Handlungen, und Handlungen des Ich sind. Nämauch wenn er bemerkt, dass das Wort »Einheit« mehr auf eine subjektive Reflexion als auf eine Identität verweist. Die Einheit oder die Identität, die eine dialektische Dreiheit abschließt, ist eine objektive Verbindung. Nach Hegel könnte man sie besser Untrennbarkeit nennen – ein Begriff, der jedoch leider nicht die positive Natur der Synthese beinhaltet (Wissenschaft der Logik, I, Buch I, Teil I, Kap. I, Anm. 2, S. 85). 35 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794, S. 208.
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Logik und Wissenschaftslehre
lich, sie sind es so gewiß, so gewiß die erste Synthesis, aus der sie entwickelt werden, und mit der sie eins, und dasselbe ausmachen, eine ist; und diese ist eine, so gewiß als die höchste Tathandlung des Ich, durch die es sich selbst setzt, eine ist. Die Handlungen, welche aufgestellt werden, sind synthetisch; die Reflexion aber, welche sie aufstellt, ist analytisch.« 36 Keine Antithesis »ist möglich ohne Synthesis. Mithin wird eine höhere Synthesis als schon geschehen vorausgesetzt; und unser erstes Geschäft muss sein, diese, aufzusuchen, und sie bestimmt aufzustellen.« 37
4.
Logik und Wissenschaftslehre. Fichtes Kritik an Kants Synthesis der transzendentalen Logik
Die semantische Beziehung zwischen Grundsynthesis, Gebiet der Wissenschaftslehre, Vorstellung und Wechselbestimmung bei Fichte bestimmt die sich von der kritischen Philosophie Kants grundlegend unterscheidenden Definitionen der Logik und der Theorie der Erkenntnis. Fichte kritisiert insbesondere die Bedeutung von »Synthese« 38 in der transzendentalen Logik Kants. Worauf basiert diese Kritik? Warum ist die Bedeutung der Synthese in der transzendentalen Logik Kants so wichtig in Fichtes Wissenschaftslehre? Nach Kant löst die allgemeine Logik »nun das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft in seine Elemente auf, und stellet sie als Prinzipien aller logischen Beurteilung unserer Erkenntnis dar. Dieser Teil der Logik kann daher Analytik heißen, und ist eben darum der wenigstens negative Probierstein der Wahrheit, indem man zuvörderst alle Erkenntnis, ihrer Form nach, an diesen Regeln prüfen und schätzen muss, ehe man sie selbst ihrem Inhalt nach untersucht, um auszumachen, ob sie in Ansehung des Gegenstandes positive Wahrheit enthalten.« 39 In einer transzendentalen Logik »isolieren wir den Verstand (so wie oben in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserm Erkenntnisse heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat. Der Gebrauch dieser 36 37 38 39
Ebd., S. 210. Ebd., S. 212. Vgl. J. Benoist, Kant et les limites de la synthèse, Paris: PUF 1996. KrV, B 85/A 61.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
reinen Erkenntnis aber beruhet darauf, als ihrer Bedingung: dass uns Gegenstände in der Anschauung gegeben sein, worauf jene angewandt werden können. Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer Erkenntnis an Objekten, und sie bleibt alsdenn völlig leer. Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik, und zugleich eine Logik der Wahrheit.« 40 Die allgemeine Logik abstrahiert von jeglichem Inhalt der Erkenntnis. Im Gegensatz hierzu analysiert die transzendentale Logik die Mannigfaltigkeit der Erkenntnis in Verbindung mit der realen Möglichkeit der Gegenstände, die in der Erfahrung gegeben sind. Die transzendentale Logik hat die Aufgabe, den reinen Begriffen des Intellekts eine Materie zu geben, denn ohne diese Materie hätten sie keinen Inhalt. Raum und Zeit beinhalten eine Mannigfaltigkeit der reinen Anschauung a priori und stellen die Bedingungen der Möglichkeit der Rezeptivität dar. »Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen. Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, dass dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis.« 41 Kant versteht aber unter Synthesis »in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit). Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor gegeben sein, und es können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen. Die Synthesis eines Mannigfaltigen aber (es sei empirisch oder a priori gegeben) bringt zuerst eine Erkenntnis hervor, die zwar anfänglich noch roh und verworren sein kann, und also der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt, und zu einem 40 41
Ebd., B 87/A 62. Ebd., B 102/A 77.
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Logik und Wissenschaftslehre
gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.« 42 Kant hebt, auch wenn er an der Wechselbeziehung zwischen der Synthese und der Mannigfaltigkeit festhält, oft die semantische Unterscheidung zwischen allgemeiner Logik und transzendentaler Logik, zwischen analytischem und synthetischem Prozess, hervor. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, die Bedingungen der Möglichkeit und/oder die Prinzipien, die den subjektiven Prozess derjenigen Synthese konstituieren und charakterisieren, die Kant die »reine Synthese« 43 nennt, aufzufinden und zu bestimmen. Was bedeutet reine Synthese? Welche Funktionen haben diese Strukturen dem Transzendentalen gegenüber? Warum ist die Kritik Fichtes an der Bedeutung der reinen Synthese in der transzendentalen Logik Kants so wichtig? »Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen Verstandesbegriff. Ich verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht: so ist unser Zählen (vornehmlich ist es in größeren Zahlen merklicher) eine Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht. Unter diesem Begriffe wird also die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig. Analytisch werden verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff gebracht (ein Geschäfte, wovon die allgemeine Logik handelt). Aber nicht die Vorstellungen, sondern die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe zu bringen, lehrt die transzendentale Logik. Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori gegeben sein muss, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte zum
Ebd., B 103/A 78. Zur Analyse der Begriffs »reine Synthese« vgl. R. Bubner, »Was heißt Synthesis?«, in: G. Prauss (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt am Main 1986, S. 27–40 und Th. Seebohm, »Die reine Logik, die systematische Konstruktion des Prinzips der Vernunft und das System der Ideen«, in: Architektonik und System in der Philosophie Kants, hrsg. von H. F. Fulda und J. Stolzenberg, Hamburg: Meiner 2001, S. 204–231.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem Verstande.« 44 Die Funktion, die durch ein einziges Urteil alle unterschiedlichen Vorstellungen vereint, gibt auch durch eine einzige Anschauung eine Einheit, eine Synthese der unterschiedlichen Vorstellungen. Diese Einheit wird von Kant der reine Begriff des Intellekts genannt. So konstituiert und bestimmt der Intellekt durch die analytische Einheit die logische Form des Urteils. Durch die synthetische Einheit der gegebenen Mannigfaltigkeit in der Erfahrung wird dagegen ein transzendentaler Inhalt in die Vorstellungen eingeführt und bestimmt. Vor diesem Horizont sind diese Vorstellungen reine Begriffe des Intellekts, die sich a priori mit den Objekten der Erfahrung verbinden. Kants Begriff der »Synthese« in der transzendentalen Logik ist mit der Wissenschaftslehre von Fichte unvereinbar. Die Notwendigkeit, die Philosophie auf einen spontanen Akt und nicht auf eine »Tatsache« zu gründen, bringt nach Fichte einen radikalen Umsturz der Beziehung zwischen Logik und Philosophie mit sich. Auf der Grundlage der semantischen Unterscheidung zwischen allgemeiner Logik und transzendentaler Logik in der Transzendentalphilosophie 45 Kants hatte die formale oder allgemeine Logik der Philosophie gegenüber eine spezifischen Funktion beibehalten. Das Nicht-Bestehen eines Widerspruchs bleibt bei ihm eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung einer jeden Form des Wissens. Bei Fichte hingegen ist die Beziehung zwischen Logik und Philosophie grundlegend anders bzw. beruht auf dem Gegenteil. Eben diese andere Wechselbeziehung zwischen Logik und Philosophie ist es, die einen großen Einfluss auf den Verlauf des deutschen Idealismus hat. Die Philosophie als Wissenschaftslehre 46 hat nun die Aufgabe, die Logik zu begründen, und nicht umgekehrt, weil die Wissenschaftslehre die notwendigen Bedingungen hierfür aufzeigt. Diese Bedingungen sind nicht metaphysisch oder theologisch (wie die Präsenz einer bestimmten logischen Struktur der Dinge oder die Gewährleistung der Wahrheit unserer beschreibenden Prozesse durch Gott), sondern sie werden von demselben Prozess abgeleitet, durch den das Wissen konstituiert wird. KrV, B 104/A 78. Vgl. H. E. Allison, »Transcendental Idealism: the two aspect view«, in: New Essais on Kant, hrsg. von B. Ouden, New York 1987, S. 155–178. 46 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 55. 44 45
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Logik und Wissenschaftslehre
»Wenn man davon ausgeht«, sagt Fichte, »dass das erste Prinzip der Logik A = A« 47 universell anerkannt ist, so ist es trotzdem ein rein hypothetisches Prinzip der Logik, weil es bedeutet, dass ein gestelltes und bestätigtes A gleich A ist. Ein Beispiel: Wenn das Bewusstsein sich den Begriff »Dreieck« vergegenwärtigt, ist dieser Begriff sicher da, und das Objekt der Darstellung ist ein Dreieck, auch wenn keinerlei Notwendigkeit an sich besteht, dieses Objekt darzustellen; es könnte auch sein, dass die Menschen niemals geometrische Figuren, also auch Dreiecke, dargestellt haben. Es gibt nur einen Fall, in dem das Prinzip A = A nicht hypothetisch, sondern absolut ist und keiner weiteren Bedingungen bedarf: wenn der Begriff A auf das Ich verweist, also auf die reine und spontane Tätigkeit des menschlichen Geistes. In diesem Fall kann man nicht sagen, dass, wenn das Ich gegeben ist, es auch da ist, denn ohne das Ich ist kein Urteil möglich – und demzufolge auch kein Satz, in dem die Logik Gültigkeit hat. Die Logik besteht nur in Bezug zu den Formen des Wissens, oder den allgemeinen Bedingungen, nach denen der Prozess des Wissens vorgeht, ohne auf die besonderen Charakteristika des Inhalts einzugehen. Die Wissenschaftslehre hingegen hat die Aufgabe, beides aufzuzeigen: »Form und Inhalt des Wissens«. 48 Vor diesem Hintergrund ist die Wissenschaftslehre unbedingt, da sie die notwendigen Vorgänge, durch die der menschliche Geist zum Wissen gelangt, vorstellt. Die Logik ist im Gegenteil bedingt, weil sie aus einem Akt der Abstraktion hervorgeht, der die formalen Aspekte des Wissens vom Inhalt trennt. Laut Fichte ist die Logik eine künstliche Tätigkeit, eine Fiktion oder eine Erfindung, die zweifellos zu einer guten und sicheren Entwicklung der Wissenschaften beitragen, sie jedoch nicht begründen kann. Denn dies ist »die Aufgabe der Wissenschaftslehre«. 49
Ebd. Ebd. 49 J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni, S. 243. 47 48
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
5.
Die Untersuchung des absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatzes alles menschlichen Wissens bei Fichte
Nach Fichtes Wissenschaftslehre muss man das »absolut erste und unbedingte« 50 Prinzip des gesamten menschlichen Wissens suchen. »Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissen aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.« 51 Da es sich um ein absolut erstes Prinzip handelt, kann man es weder nachweisen noch bestimmen. Es muss diesen Akt, der sich nicht zeigt noch zwischen den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseins zeigen kann, ausdrücken. Er liegt auf dem Grund eines jeden Bewusstseins, das durch ihn überhaupt erst ermöglicht wird. Der Satz A = A ist ein Urteil. Jedes Urteil ist im empirischen Bewusstsein ein Akt des menschlichen Geistes, weil es im Bewusstsein alle Bedingungen der Möglichkeit des Akts des empirischen Selbstbewusstseins gibt. Die Grundlage dieses Akts ist nicht etwas, das auf etwas Höherem beruht, sondern auf dem »Ich bin«. Dieses ist die Grundlage, die auf sich selbst gründet, und deswegen hat es einen ursprünglichen Charakter. Das Ich setzt also sich selbst als reine Tätigkeit seiner selbst. So ist diese Tätigkeit eine ursprüngliche Tätigkeit. »Das Ich setzt sich selbst durch diese reine Tätigkeit.« 52 Das Prinzip der Wissenschaftslehre gilt als axiomatische Grundlage der Prinzipien 53 aller anderen Wissenschaften. Es handelt sich Vgl. R. Loock, »Das Bild des absoluten Seins beim frühen und späten Fichte«, in: Die Spätphilosophie J. G. Fichtes 1, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 17, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 83–102 und W. Lütterfelds, »Fichtes Konzept absoluter Einheit (1804) – ein performativer Selbstwiderspruch?«, in: Realität und Gewißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 6, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 401–422. 51 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 206. 52 Ebd. 53 Zur Analyse der axiomatischen Grundlage und der axiomatischen Prinzipien in Fichtes Wissenschaftslehre vgl. R. Lauth, La filosofia trascendentale di Fichte, Napoli: Guida 1986 und M. Ivaldo, I principi del sapere. La visione trascendentale di Fichte, Napoli: Bibliopolis 1987. 50
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Die Untersuchung des absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatzes
um eine Grundlage, die nicht begründet werden kann, weil sie sonst etwas Höheres voraussetzen würde. Das Prinzip an sich ist selbst sicher, weil es unmittelbar ist und nicht durch Begriffe beweisbar ist. Es ist ein Prinzip, das sicher und wahr ist, weil es einen selbstbegründenden Charakter hat. Nur dieses Prinzip kann diesen Charakter haben. Dieses Prinzip »ist der Grund« – so unterstreicht Fichte – »aller Gewißheit, d. h. alles was gewiß ist, ist gewiß, weil er gewiß ist; und es ist nichts gewiß, wenn er nicht gewiß ist. Er ist der Grund alles Wissens, 54 d. h. man weiß, was er aussagt, weil man überhaupt weiß; man weiß es unmittelbar, sowie man irgend etwas weiß. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.« 55 Jede Art von Wissen setzt die Emanation 56 des wesentlichen Prinzips voraus. Des Weiteren erlangt jede Wissenschaft ihre eigene Sicherheit von dem Prinzip, das sie bestimmt und ihr die Garantie der Wahrheit gibt. Jedoch ist dieses Prinzip seinerseits in dem einzigen, unnachweisbaren Prinzip begründet, welches die Basis der Wissenschaft von allen Wissenschaften ist und welches als axiomatische Voraussetzung jeglicher bestimmten, sinnvollen Behauptung fungiert. Die Wissenschaft mit jeder ihrer möglichen Spezifikationen geht von Prinzipien aus, die sie als Tatsachen ansieht und die sie in bestimmter Weise weiter entwickelt. Diese Tatsachen sind aus genetischer Sicht Tätigkeiten, die sich durch eine einzige Identität und Einheit differenzieren. Es handelt sich um das wesentliche Prinzip, das eine zentrale und vorrangige Rolle in der Struktur, im System und in der Zielsetzung des transzendentalen Idealismus spielt. Der transzendentale Idealismus ist für Fichte nicht eine Theorie unter anderen, sondern die einzig wahre Philosophie, 57 die der menschliche Geist endlich erkannt und erobert hat. Kant hat es nicht geschafft, seinen eigenen Entdeckungen eine systematische und einVgl. A. Schmidt, Der Grund des Wissens. Fichtes Wissenschaftslehre in den Versionen von 1794/95, 1804/11 und 1812, Paderborn 2004. 55 J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 121. 56 Vgl. I. Schlösser, Entzogenes Sein und unbedingte Evidenz in Fichtes Wissenschaftslehre 1804, in: Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt, FichteStudien, Bd. 20, Amsterdam/New York 2003, S. 145–159. 57 Vgl. P. Baumanns, J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, Freiburg 1990; vgl. Ch. Asmuth, »Von der Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie. Die Entgrenzung der Transzendentalphilosophie«, in: Kant und Fichte – Fichte und Kant, hrsg. von Christoph Asmuth, Fichte-Studien, Bd. 33, Amsterdam/New York 2009, S. 221–249. 54
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
heitliche Form zu geben. Damit die Philosophie eine Wissenschaft wird, muss man das Prinzip und das einheitliche Fundament der drei Kritiken suchen und bestimmen. Von diesem leitet man schließlich jeden Teil des Systems ab. Die Deduktion Fichtes ist somit mit einer systematischen Demonstration a priori gleichzusetzen – im Unterschied zur kantischen Deduktion der Kategorien, die die Rechtfertigung ihrer legitimen Anwendung in Bezug auf die sinnlichen Anschauungen bedeutete. Fichte kritisiert an Kant, dass er keine Struktur, die einer notwendigen Ordnung folgt, aufgestellt habe, sondern nur eine ungeordnete und willkürliche Aufzählung der Kategorien. Kritik übt er auch an den Kants Auffassung der Erkenntnisvermögen und an der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant. Laut Fichte ist die Philosophie in ihrer Struktur und Zielsetzung die Theorie und die Begründung des »Systems des Wissens«. 58 Die Philosophie ist die Wissenschaftslehre, sie ist die »Wissenschaft der Wissenschaften«. Ihr Aufgabe ist es, die Prinzipien nachzuweisen und eine systematische Form aller Wissenschaften zu begründen. Es handelt sich um Prinzipien und Formen, nicht um Bestimmungen oder besondere Inhalte. Die globale Struktur des Systems der Wissenschaften muss a priori bestimmt werden, sollte aber trotzdem offen für die unendliche Bereicherung durch die Inhalte sein, die nur mittels der Erfahrung möglich ist. Die Doktrin der Wissenschaften ist keine Metaphysik im traditionellen Sinne, da sie nicht a priori neue Objekte der Erkenntnis hervorbringt und so die Erfahrung ersetzt. Sie ist hingegen eine authentische Transzendentalphilosophie, weil sie nur eine Beschreibung und eine Darstellung des realen Denkens ist, also eine Rekonstruktion der Bedingungen des Bewusstseins und seiner subjektiven Tätigkeit.
Zur Struktur und Begründung des »Systems des Wissens« bei Fichte vgl. J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre (1804), Hamburg 1977 und C. Hanewald, »Absolutes Sein und Existenzgewißheit des Ich«, in: Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt, Fichte-Studien, Bd. 20, Amsterdam/New York 2003, S. 13–25.
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Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft
6.
Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft. Die Form der Form und das Wissen des Wissens
Die »Philosophie ist die Wissenschaft an sich, die Wissenschaft der Wissenschaft oder die Wissenschaftslehre«. 59 Der erste Schritt Fichtes ist die Behauptung, dass die Philosophie Wissenschaft sein müsse, damit sie unbedingt gültig sei. Deswegen muss sie auf einem absolut sicheren Prinzip aufbauen. Während für Kant die Philosophie die Kritik der unterschiedlichen Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis ist, bestimmt Fichte die Philosophie als Wissenschaftslehre. Aber was meint Fichte mit Wissenschaft? Die Wissenschaft ist ein System 60 von Sätzen, die durch notwendige Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Jedoch reicht diese Definition nicht aus, denn so könnte man z. B. eine scheinbare Wissenschaft begründen, deren Sätze durch – wie gesagt – notwendige Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Es ist hingegen wichtig, dass die Wissenschaft auf ein wesentliches Prinzip gründet, das »unmittelbar sicher und allgemeingültig ist«. 61 Die Wissenschaft ist das Wissen, das eine systematische Form aufweist, bzw. das Wissen, dessen Sätze auf ein einziges, wesentliches Prinzip, das nicht nachweisbar, aber unbedingt und sicher, ist, zurückzuführen sind. Das System ist das Wissen, das nach den Prinzipien des Wissens an sich strukturiert ist. Die systematische Form ist eine unveräußerliche Eigenheit der Wissenschaft, also der Philosophie als Wissenschaftslehre. Alle Wissenschaften basieren auf einem wesentlichen Prinzip, das feststeht. Was aber ist die Garantie für jene Sicherheit, Gültigkeit und Allgemeinheit dieser wesentlichen Prinzipien? Sie gründen alle auf einer wesentlichen Wissenschaft, die die Wissenschaft der Wissenschaft ist und deren erstes Prinzip absolut sicher ist. Diese Wissenschaft ist die Philosophie. Das erste Prinzip ist nicht etwas, was dem Bewusstsein erscheint, sondern ist das Substrat, die Bedingung der Möglichkeit eines jeden Aktes des Bewusstseins. Es ist Vgl. J. G. Fichte, Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre. Februar 1794 Nachschrift Lavater. Beilage aus Jens Baggesen Nachlass: Exzerptseite aus der Abschrift von Fichtes Züricher Vorlesungen über die Wissenschaftslehre, hrsg. von Erich Fuchs, München-Neuried: Ars Una 1996. 60 Vgl. K. Hammacher, »Wandlungen des System-Begriffs. Fichte und die Systemtheorie«, in: Fichte in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Helmut Girndt, FichteStudien, Bd. 22, Amsterdam/New York 2003, S. 223–236. 61 J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 205. 59
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
das »Unbedingte« 62, das das gesamte Bewusstsein konditioniert. Von ihm wird die Bestimmtheit der grundlegenden Prinzipien der besonderen Wissenschaften abgeleitet, die gleichzeitig besondere Prinzipien der Philosophie und die wesentlichen Prinzipien einer jeden Wissenschaft sind. Wenn man den Begriff der Philosophie als Wissenschaftslehre analysiert, kann man einige wesentliche Punkte erkennen, die die Bedeutung von Fichtes Philosophie der Philosophie verdeutlichen: a) Die Philosophie ist Wissenschaft bzw. ist Wissenschaft an sich. b) Die systematische Form ist das Mittel, mit dem sie ihr Ziel verfolgt und realisiert. c) Dieses Ziel besteht darin, die Bestimmtheit der Sätze (also der Theoreme) zu begründen, sie untereinander zu verbinden und sie somit auf systematische Art und Weise nachweisbar zu machen. d) Die Bestimmtheit der Sätze zu begründen bedeutet auch, die Bestimmtheit des Prinzips an sich, das die Wissenschaftslehre trägt, aufzuzeigen, und sich so mit der Selbst-Begründung der Wissenschaftslehre auseinanderzusetzen. e) Außerdem impliziert die Begründung der Bestimmtheit der Sätze, die Bestimmtheit aller anderen Wissenschaften aufzuweisen und rational zu rechtfertigen. Diese Wissenschaften basieren auch auf jenem einzigen Prinzip und werden erst durch dieses verständlich. f) Die Wissenschaftslehre ist das Wissen, das zu seinen Grundlagen zurückgeführt wurde. Sie ist das Wissen des Wissens und beschäftigt sich mit der Untersuchung der letzten Bedingungen der Möglichkeit, die das Wissen rational verständlich und nachweisbar machen. Das Wissen des Wissens legt den Weg der pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes dar, der die Wissenschaftslehre charakterisiert und konstituiert. Anhand des Begriffs der Philosophie als Wissenschaft kann man den wichtigen Schritt erkennen, den Fichte im Vergleich zu Kant machte. Für Kant liegen die unterschiedlichen Wissenschaften auf Ebenen, die übereinanderliegen und so auch voneinander getrennt sind. Die Mathematik liegt auf der Ebene der unmittelbaren Erkenntnis; die Naturwissenschaften bewegen sich auf der Ebene der begriffsmäßigen Erkenntnis; die Metaphysik liegt auf der Ebene der übersinnlichen Erkenntnis. Bei Fichte hingegen ist jede Wissenschaft wie Zur semantischen Korrelation zwischen Unbedingtem und Endlichkeit vgl. W. Weier, »Existenz zwischen Unbedingtheit und Endlichkeit. Die Grundfrage des neuzeitlichen Autonomie Gedankens im Problemhorizont der klassischen Metaphysik«, in: Perspektiven der Philosophie 14 (1988), S. 263–289.
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Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft
ein Strahl eines unendlichen Kreises, der von der Mitte ausgeht, die ihm Leben und Bedeutung gibt. Er führt ins Unendliche und hat die Fähigkeit, weitere Bestimmungen zu empfangen, bleibt aber immer mit dem Mittelpunkt verbunden. In diesem Kreis liegt das gesamte menschliche Wissen, das nicht unbestimmt oder zweifelhaft ist, da es von einem bestimmten Prinzip ausgeht. Es ist auch kein feststehendes quid, das unveränderbar ist und für immer bestehen wird. Es ist eine schrittweise Entwicklung von besonderen Bestimmungen, eine Entwicklung, die vom Zentrum ausgeht, um sich fortwährend in dem unermesslich großen Kreis, in dem sich die vielfältigen geistigen Formen des menschlichen Lebens überkreuzen und zeigen, auszuweiten. An diesem Punkt hat Fichte die Einheit 63 des Geistes eingeführt und die Prinzipien der historischen Entwicklung des Geistes aufgestellt. Dabei handelt es sich um ein subjektives Zentrum, in dem die unendlichen Einzelheiten allgemein werden und einem inneren, tiefliegenden Gesetz folgen, das unveränderlich ist und die Einheit des geistlichen Lebens darstellt. Diese besondere Wissenschaft basiert demnach auf einem wesentlichen Prinzip, das auch das besondere Prinzip der Wissenschaft der Wissenschaft ist. Diese geht von einem wesentlichen Prinzip aus und entwickelt den gesamten Inhalt des Bewusstseins oder – mit anderen Worten – konstruiert die Welt. Das wesentliche Prinzip ist nichts anderes als ein einfacher Akt, durch den das Wissen sich selbst erkennt. Es konstituiert die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, 64 in der etwas unmittelbar Bestimmtes und Sicheres existiert. Dieses Prinzip ist der Akt, durch den unsere Erkenntnis sich selbst erkennt. Außerhalb gibt es nichts Bestimmtes, weil alles, um bestimmt zu sein, auf dieser ersten Bestimmtheit aufbauen muss. Die absolute Bestimmtheit ist nicht die Substanz, sondern das Selbstbewusstsein. Das menschliche Wissen ist eine Gesamtheit, die auf sich selbst basiert – so wie die Erdkugel auf der Schwerkraft. Die Schwerkraft ist das erste Prinzip, weil sie unverwechselbar ist und keines Nachweises bedarf. Form und Inhalt bedingen sich in ihr Vgl. R. Barth, »Wahrheit als Sein von Einheit. Die gewissheitstheoretische Reformulierung des absoluten Wahrheitsbegriffs in Fichtes Phänomenologie von 1804-II«, in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 103– 116. 64 Vgl. Bild, Selbstbewusstsein, Einbildung, hrsg. von A. Schnell und J. Kuneš, FichteStudien, Bd. 42, Leiden/Boston: Brill Rodopi 2016. 63
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
wechselseitig. Eine Form steht nur für einen bestimmten Inhalt und umgekehrt. Fichte nennt sie intellektuelle Anschauung, d. h. den Akt, den unsere Subjektivität vollzieht, indem sie in sich selbst zurückgeht. 65 Es handelt sich um eine Tätigkeit unserer Subjektivität, eine Form der Form. Nach Fichte ist das Sein niemals ein prius, sondern immer eine Setzung des Denkens. Die intellektuelle Anschauung geht in sich selbst zurück, und das Erkennen erkennt auf unmittelbare Art und Weise sich selbst, d. h. es erkennt seine Form als reine Form; und vor diesem Hintergrund erhebt sich simultan und unmittelbar das wahre prius des Bewusstseins – der Akt des Geistes. Die intellektuelle Anschauung ist eine Erkenntnis der Form des Erkennens, und es gibt notwendige Arten des Seins des Bewusstseins oder des Wissens. Indem Fichte das Prinzip des Bewusstseins des Bewusstseins definiert, der Form der Form, also des reinen Selbstbewusstseins, 66 eröffnet er der modernen Philosophie einen neuen Horizont. Die künstlichen Konstruktionen der dogmatischen philosophischen Systeme lassen den Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität offen, und was klar und deutlich bleibt, ist dieses Bewusstsein des Bewusstseins, das Zentrum des Universums, von dem alles Leben ausgeht und zu dem es zurückkehrt. Schellings Begriff der Entwicklung und der absolute Idealismus Hegels basieren auf dieser Anschauung. Hegel meint, das größte Verdienst Fichtes sei es, das Wissen des Wissens ans Licht gebracht und somit aufgedeckt zu haben, dass Subjekt und Objekt im reinen, unmittelbaren Akt des Selbstbewusstseins identisch sind. Das Objekt ist jener subjektive Akt des Wissens, der wiederum zum Objekt des neuen Wissens wird.
Vgl. A. Mues, »Die Position der Anschauung im Wissen oder die Position der Anschauung in der Welt. Der Unsinn der Subjektphilosophie«, in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 29–44. 66 Zur Analyse des reinen Selbstbewusstseins bei Fichte vgl. C. Klotz, »Reines Selbstbewusstsein und Reflexion in Fichtes Grundlegung der Wissenschaftslehre (1794– 1800)«, in: Subjektivität, hrsg. von Klaus Hammacher, Richard Schottky und Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 7, Amsterdam/New York 1995, S. 27–48. 65
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Das Ich und die Subjektivität
7.
Das Ich und die Subjektivität: das Verhältnis zwischen dem endlichen Ich und dem unendlichen Ich
Der Idealismus vertritt die absolute Unabhängigkeit und Originalität der Subjektivität und des Ichs und befasst sich nicht mit dem Ding an sich, sondern mit dem Ich an sich. Das Ich, das absolut frei ist (weil es nicht von der Existenz des Noumenons begrenzt wird), ist die einzige Quelle der Erkenntnis, und aus ihm gehen die Erfahrungswelt und das Denken über diese hervor. Die philosophische Untersuchung soll keine Aufzählung oder statische, schematische und notwendige Beschreibung der Formen des Geistes sein, sondern ein aktiver, dynamischer, fortschreitender Prozess, durch den sich der Geist als freie, ursprüngliche und allgemeine Tätigkeit verwirklicht. Es handelt sich um eine Rekonstruktion derjenigen Akte, durch die das Ich das Sein hervorbringt, wobei Letzteres ein Moment des Gedankens ist. Dieser Prozess der Einigung des Denkens kann jedoch niemals vollständig vollendet werden. Wenn sich das absolut erste Prinzip, das nicht von der Totalität berührt wird, als solches behauptet, kann es nicht nachgewiesen oder bestimmt werden. Dieses Prinzip nennt Fichte das Ich. »Das Ich ist absolut aktiv und nur aktiv. Dies ist die absolute Voraussetzung.« Es handelt sich um das reine, allgemeine und absolute Ich 67 und nicht um das empirische Ich irgendeines Individuums. Von ihm ist das gesamte System des menschlichen Wissens abzuleiten. Fichte formuliert drei grundlegende logische Prinzipien, von denen er die Einheit des Wissens ableitet: a) »Das Ich setzt sich selbst.« Dieses Prinzip findet sich im Prinzip der Identität, das die Gleichung A = A gibt. Es ist absolut gültig, auch wenn es nichts über die Existenz von A aussagt, sondern nur über die Existenz einer notwendigen Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat. Diese Identität wird vom Ich und im Ich gesetzt; Voraussetzung hierfür ist, dass das Ich zuerst sich selbst setzt. Das Ich als Selbstbewusstsein ist die Bedingung einer jeden Erkenntnis. 68 67 Vgl. G. Zöller, »Das Absolute und seine Erscheinung«, in: Konzepte der Rationalität. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 1, Berlin/New York 2003, S. 165–182. 68 Vgl. R. Aschenberg, »Einiges über Selbstbewusstsein als Prinzip der Transzendentalphilosophie«, in: S. Blasche, W. R. Kohler, W. Kuhlmann und P. Rohs, Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main 1988, S. 51–69.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
In diesem ersten, ursprünglichen Akt ist die produktive Fähigkeit des Ichs noch unbewusst, auch wenn es die Bedingung jedes Bewusstseins ist. b) »Das Ich setzt, indem es sich selbst setzt, das Nicht-Ich.« Dies ist das Prinzip der Opposition, durch das das Ich sich selbst das Objekt des eigenen Gedankens, d. h. etwas, das, weil es in Opposition zum Ich steht, Nicht-Ich, also äußere Wirklichkeit, ist, entgegenstellt. Die Gegenüberstellung von Ich und Nicht-Ich ruft im reinen Ich eine Reflexion hervor, die Bewusstsein hervorbringt, und in dem Moment, in dem das Ich seine Begrenztheit erkennt, wird es Bewusstsein. c) »Das Ich stellt im Ich dem teilbaren Ich ein unteilbares Ich gegenüber.« In diesem Moment des dialektischen Prozesses wird sich das Ich der bestehenden Beziehung zwischen Ich und Nicht-Ich, die sich gegenseitig begrenzen, bewusst. Im Bewusstsein, das einzigartig ist, ist das reine Ich absolut und kann deshalb nicht begrenzt oder geteilt werden. Mit diesen drei Prinzipien unterstreicht Fichte die Existenz eines unendlichen Ichs, eines endlichen Ichs und eines Nicht-Ichs (also der Natur). Letzteres stellt sich dem endlichen Ich gegenüber, wird aber vom unendlichen Ich gegeben und ist in ihm enthalten. Das Ich erkennt das Nicht-Ich als Grenze und scheint selbst eine gegebene Grenze zu sein. In dem Moment, in dem es sich dieser Grenze bewusst wird, überwindet das Ich mit einer unermesslichen Kraft in einem unendlichen Prozess diese Grenze, sodass sich die Grenze fortwährend verschiebt, ohne jemals zu verschwinden. Das Ich ist unendlich, »weil es durch seine eigene, absolute Tätigkeit gegeben ist«. Und weil es zur gleichen Zeit ein Nicht-Ich setzt, begrenzt es sich selbst und wird endlich. Aber in diesem dynamischen Prozess muss das Ziel beseitigt werden: Alle Grenzen müssen verschwinden, und es soll nur das unendliche Ich, das Ein und Alles, übrig bleiben.
8.
Die Deduktion des »reellen Bewusstseins«. Endliches Ich und Nicht-Ich: Hemmung, Widerstand, Anstoß und Grenze
Die intellektuelle Anschauung des Ichs als reine Tätigkeit wird durch die philosophische Abstraktion hervorgehoben: Eine konkrete Erfahrung steht niemals nur für sich. Sie ist eine notwendige Bedingung des Bewusstseins, aber als solche nicht ausreichend. Damit ein reelles 52 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Deduktion des »reellen Bewusstseins«
Bewusstsein bestehen kann, muss es eine Opposition zwischen einem Subjekt und einem Objekt geben. Was ist das reelle Bewusstsein? Nach Fichte zeichnet sich das Bewusstsein, das eine essenzielle und typische Eigenschaft des vollendeten menschlichen Wesens ist, durch eine unüberwindbare Struktur aus, die aus Subjekt und Objekt besteht. Den Ursprung dieser Struktur möchte die Wissenschaftslehre ableiten. Dieses Ableiten impliziert einen Prozess. Die Deduktion ist die rationale Rechtfertigung, die die tatsächliche Erkenntnis als Basis ansieht. Diese wird somit genetisch verständlich. Die reine Tätigkeit des Ichs muss jedoch, um eine repräsentative Tätigkeit werden zu können, auf eine Hemmung treffen; sie muss gegen ein Nicht-Ich stoßen. Nur so kann sie sich bestimmen und einen Inhalt haben. Der Anstoß 69 geschieht, wenn das Ich »stolpert« und seine Tätigkeit umschlägt, denn sonst würde es geradezu ins Unendliche gehen. Der Begriff »Anstoß« deckt in Fichtes Philosophie einen mehrdeutigen semantischen Bereich, verschmilzt mit den Begriffen »Hemmung«, »Hindernis« und »Widerstand« und wird quasi mit dem Begriff »Grenze« gleichgesetzt. Eine Hemmung oder ein Hindernis ist eine Begrenzung der Tätigkeit. Was bedeutet eine bestimmte Tätigkeit, und wie bildet sie sich? Eine bestimmte Tätigkeit ist das Resultat des Zusammentreffens mit einer Hemmung oder einem Hindernis. 70 Vor diesem Hintergrund ist es nötig, ein zweites Prinzip der Wissenschaftslehre aufzustellen: »Dem Ich steht ein Nicht-Ich gegenüber.« Nur wenn ein Objekt in die Vorstellung tritt, wird ein individuelles und lebendiges Subjekt geboren, ein endliches Ich, das also vom Objekt bedingt ist. In der Wissenschaftslehre gilt der menschliche Verstand immer als endliche Intelligenz. Das theoretische Ich, Zur Analyse des Begriffs »Anstoß« bei Fichte vgl. H. Eidam, »Fichtes Anstoß. Anmerkungen zu einem Begriff der Wissenschaftslehre 1794«, in: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 10, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 191–208; A. K. Soller, »Fichtes Lehre vom Anstoß, Nicht-Ich und Ding an sich in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Eine kritische Erörterung«, in: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 10, Amsterdam/ Atlanta 1997, S. 175–190; vgl. J. Rivera de Rosales, »Die Begrenzung. Vom Anstoß zur Aufforderung«, in: Zur Einheit der Lehre Fichtes. Die Zeit der Wissenschaftslehre Nova Methodo, hrsg. von Helmut Girndt und Jorge Navarro-Pérez, Fichte-Studien, Bd. 16, Amsterdam/Atlanta 1999, S. 167–190. 70 J. G. Fichte, Sittenlehre (1798), Einleitung, VI, in: Werke IV, S. 7. 69
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
das im Dualismus der Vorstellung agiert, ist nicht mehr das absolute Ich (ohne die Grenzen der philosophischen Abstraktion), sondern ein bestimmtes Subjekt, das in eine Beziehung mit einem bestimmten Objekt, die auf einer gegenseitigen Begrenzung beruht, eingebunden ist. Damit es ein Bewusstsein gibt, reicht es nicht aus, dass Gegensätze bestehen. Diese Gegensätze müssen ihrerseits auch in einer dialektischen Beziehung und Einheit zueinander stehen, und das Objekt ist ein Objekt, weil es das Subjekt gibt, und umgekehrt. Mit anderen Worten: Die Antithese (Ich – Nicht-Ich) des zweiten Prinzips wird in der Einheit mit dem Bewusstsein zur Synthese. Dies geschieht mittels der These des ersten Prinzips (das Ich setzt sich selbst), das die ursprüngliche Identität der geistigen Tätigkeit als Bedingung einer jeden bestimmten und erkennenden Erfahrung sieht. Damit das Ich ein Objekt denken kann, muss es einen einheitlichen geistigen Akt (These) geben, der als solcher eine intensive Beziehung (Synthese) zwischen dem Objekt in Gedanken und dem Bewusstsein aufbaut, indem er das Objekt begrenzt (Antithese). So bekommt das Objekt eine Bedeutung. Die höchste Synthese des reellen Bewusstseins drückt sich im dritten Prinzip aus: Ich stelle im reinen Ich dem teilbaren (endlichen) Ich ein unteilbares (endliches) Nicht-Ich gegenüber. Fichtes Anliegen ist es, eine genetische Deduktion des allgemeinen Bewusstseins zu konstruieren. Wie man sieht, ist das, was am Anfang der Kette der philosophischen Demonstration steht (das reine Ich, die unbestimmte Tätigkeit) nicht das, was sich am Anfang der reellen Erfahrung des Bewusstseins zeigt. These, Antithese und Synthese müssen nicht als aufeinanderfolgende Vorgehensweisen, die vom Geist getrennt sind, verstanden werden, sondern als Ergebnisse einer philosophischen Analyse. Diese drei Akte sind nichts anderes als ein einziger Akt, und nur durch Reflexion 71 können die einzelnen Momente dieses Aktes unterschieden werden.
Zur Bedeutung des Begriffs »produktive Reflexion« vgl. W. Janke, Fichte: Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin: de Gruyter 1970 und W. Metz, »Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewusstseins«, in: Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt, Fichte-Studien, Bd. 20, Amsterdam/New York 2003, S. 69–99. 71
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Das empirische Ich und das »Ich denke«
9.
Das empirische Ich und das »Ich denke«. Das reine Ich und das absolute Ich
In einer jeglichen bewussten Erfahrung besteht ein Dualismus, und zwar eine Opposition eines denkenden Subjekts und eines gedachten Objekts. In der philosophischen Reflexion kann man von jeder besonderen Bestimmung eines Objekts abstrahieren – das Objekt bleibt trotzdem im Allgemeinen ein Objekt für ein Subjekt. Jeder Inhalt des Bewusstseins kann nur eine subjektive Vorstellung sein. Man kann nichts denken, ohne zur gleichen Zeit das Ich als sich seiner selbst bewusst zu denken; man kann davon niemals abstrahieren, wenn man von dem eigenen Selbstbewusstsein ausgeht. Das Selbstbewusstsein ist demnach eine grundlegende Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins. Die Struktur des Selbstbewusstseins reproduziert den Gegensatz des Bewusstseins. Das Ich teilt sich in ein Ich-Subjekt, das sich selbst denkt, und ein Ich-Objekt, das gedacht wird, auf. Man muss die Basis der Vorstellung erkennen, nämlich das Ich als geistige Tätigkeit. Wenn dieses auf ein Objekt zurückgeführt wird, ist es kein wahres Ich mehr, sondern ein Ding. Fichte meint, dass man einen Standort jenseits der Opposition von Selbstbewusstsein und Objektivierung, jenseits der Teilung des Ichs, die im Ich geschieht, finden müsse, um zum ersten Prinzip des Bewusstseins zu gelangen. Man muss das Ich als reine Tätigkeit ansehen. Das reine Ich ist die absolute Identität von Subjekt und Objekt: Subjekt-Objekt vor ihrer Trennung im Bewusstsein. Es ist das, wovon man nicht abstrahieren kann, weil es selbst die Abstraktion vornimmt. Da das reine Ich eine ursprüngliche Tätigkeit ist, die jeder vorstellenden Tätigkeit des empirischen Bewusstseins zugrunde liegt, kann es nicht der Inhalt einer Vorstellung oder das Objekt eines Bewusstseins oder einer Erfahrung sein. Es würde nämlich so wieder zu einem Ding werden, und es würde erneut der Dualismus der Reflexion vorherrschen. Die einzige nicht-reflexive Möglichkeit, das absolute Ich zu erfassen, ist die intellektuelle Anschauung, ein unmittelbarer Akt, in dem das anschauende Subjekt und das angeschaute Objekt identisch sind. Es handelt sich um dasselbe reine Ich, das sich selbst erkennt. Im Prozess der Abstraktion sieht der Philosoph von jedem bestimmten Inhalt seines Bewusstseins, also von jedem gedachten Objekt ab, aber auch von seinem eigenen individuellen Ich, das das Objekt des Selbst55 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
bewusstseins ist. Er erreicht so die »reine Anschauung der absoluten, inneren Spontaneität«, die keine persönlichen oder individuellen Elemente aufweist, weil sie jeder Vorstellung eines Objekts vorausgeht und sie erst ermöglicht. Sie ist die reine Tätigkeit des Denkens, der sein Handeln unmittelbar erkennt. Laut Kant kann die menschliche Vernunft nicht das Ding an sich durch eine intellektuelle Anschauung erkennen, weil unsere Vernunft an die empirische Anschauung und an die reinen, apriorischen Formen von Zeit und Raum gebunden ist. Fichte glaubt die Philosophie Kants nicht zu negieren, da das reine Ich (die reine Tätigkeit) kein Objekt, kein Noumenon und kein Phänomen ist. Seiner Meinung nach besteht die Revolution des transzendentalen Idealismus Kants darin, dass dieser kein Ding, kein Wesen und keine Tatsache (z. B. Substanz, Natur, Gott) zum Prinzip der Philosophie erklärt hat, sondern einen ursprünglichen Akt. Das reine Ich ist keine Seele oder metaphysische Substanz, sondern ist reine, geistige Tätigkeit ohne jeglichen Inhalt. Das Ich bei Fichte ist nicht wie bei Kant ein gnoseologisches Prinzip, das eine gegebene sinnliche Mannigfaltigkeit synthetisiert; es ist vielmehr ein ontologisches Prinzip, das die Objekte setzt, während es sich selbst setzt. Fichte macht aus dem »Ich denke« 72 ein absolutes Ich, das nicht mehr die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis ist, sondern der erste, absolute und unbedingte Grund der ganzen Wissenschaftslehre 73 bzw. der Philosophie. Nach Fichte setzt das Ich sich selbst, und seine Tätigkeit an sich ist eine reine Tätigkeit. 74 Das Ich ist und setzt sein Sein 75 um seines reinen Daseins willen. Seine reine Tätigkeit besteht im Setzen seiner selbst. »Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Tätigkeit desselben. Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins. Es ist zugleich das Handelnde, und das Vgl. K. Cramer, »Kants Ich denke und Fichtes Ich bin«, in: Konzepte der Rationalität. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 1, Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 57–92. 73 Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 16. 74 Ebd., S. 181. 75 Vgl. Stolzenberg, »Fichtes Satz Ich bin. Argumentanalytische Überlegungen zu Paragraph 1 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95«, in: Realität und Gewißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, FichteStudien, Bd. 6, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 1–34; vgl. W. Stelzner, »Selbstzuschreibung und Identität«, in: Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen, hrsg. von Wolfram Hogrebe, Frankfurt am Main 1995, S. 126–134. 72
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Theoretisches und praktisches Ich
Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der einzigen möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muß.« 76 Indem das Ich sich selbst setzt, bestimmt es auch, weil es ein absolutes Ich 77 ist, sein Gegenteil: das »Nicht-Ich« (die Welt der Objekte). Letzteres kann sich, da es aus dem absoluten Ich resultiert, diesem nicht entgegensetzen, aber stellt sich dem empirischen Ich gegenüber. Daraus folgt, dass die beiden Funktionen reines Ich und empirisches Ich 78 bei Fichte zwei hierarchische Instanzen werden, von denen die eine (das absolute Ich) die andere setzt. Das reine Ich ist die ursprüngliche und unmittelbare Gewissheit, von der die Ableitung des gesamten Systems des Wissens ausgeht. Weil es sich um ein Prinzip handelt, dass eine Kette von Nachweisen begründet, kann es selbst nicht nachgewiesen oder von einer höheren Bedingung bestimmt werden. Es ist absolute und unbedingte Freiheit. Das erste Prinzip der Wissenschaftslehre ist folglich: »Das Ich setzt sich selbst.«
10. Theoretisches und praktisches Ich Das Ich begrenzt sich, indem es das Nicht-Ich setzt, um sich selbst als ethische Tätigkeit zu verwirklichen. Die fortdauernde Anstrengung des Ichs, um die Grenze zu überwinden, die vom Nicht-Ich gesetzt wird, hat einen praktischen Charakter. Was ist das praktische Ich? Worin besteht der Unterschied zwischen praktischem und theoretischem Ich? Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 16. Vgl. H. Traub, »Transzendentales Ich und absolutes Sein. Überlegungen zu Fichtes veränderter Lehre«, in: Zur Einheit der Lehre Fichtes. Die Zeit der Wissenschaftslehre Nova Methodo, hrsg. von Helmut Girndt und Jorge Navarro-Pérez, Fichte-Studien, Bd. 16, Amsterdam/Atlanta 1999, S. 39–55 und P. L. Oesterreich, Die Rede vom Absoluten in der Spätphilosophie Fichtes, in: Die Spätphilosophie J. G. Fichtes 1, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 17, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 169– 188. 78 Zur semantischen Distinktion zwischen reinem Ich, empirischem Ich und absolutem Ich vgl. W. H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 und P. Paimann, Die Logik und das Absolute. Fichtes Wissenschaftslehre zwischen Wort, Begriff und Unbegreiflichkeit, Würzburg 2006. 76 77
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Das theoretische Ich ist ein Ich, weil es mit einem unbestimmten Nicht-Ich verbunden ist, das es begrenzt und seine Tätigkeit behindert. Im Gegensatz dazu steht das praktische Ich, das danach strebt, sein Bedürfnis zu befriedigen und sich die Wirklichkeit anzueignen. Aus dieser Eigenart des Ichs geht das, was sein muss, hervor, die Totalität des Idealen. Durch die unaufhörliche Überwindung der Grenze erobert das Ich seine eigene Freiheit. Die moralische Tätigkeit des praktischen Ichs ist ein Akt des Subjekts am Objekt, und die empirische Welt stellt nur das Instrument dar, das notwendig ist, um sie zu zeigen. Ziel der Tätigkeit ist es, die Unendlichkeit der geistigen Freiheit zu unterstreichen, die niemals erreicht werden kann, weil die Überwindung des Hindernisses ebenfalls niemals erreicht werden kann. Das moralische Gesetz besteht im Handeln gemäß Überlegung und Gewissen, also nicht blind und den Impulsen folgend und niemals entgegen seiner eigenen Meinung: Handle immer nach deiner Auffassung der Pflicht, bzw.: Handle deinem Gewissen folgend. Ebenfalls auf der ethischen Ebene erkennt Fichte die Existenz von anderen Individuen an. In der Tat kann der Einzelne nicht alleine den harten und unaufhörlichen Kampf zur Überwindung seiner Endlichkeit bestehen, sondern braucht jemanden neben sich, der ihm hilft und ihn dabei unterstützt, seine Aufgabe durchzuführen. Jedes Individuum muss die eigene Freiheit durch die Möglichkeit der Freiheit des Anderen begrenzen. Diese gegenseitige Begrenzung nennt sich juristische Beziehung und konstituiert das Prinzip des Rechts bzw. der Gerechtigkeit. Der Staat muss das Eigentum der Individuen verteidigen. Und da diese Verteidigung illusorisch wäre, wenn es Individuen ohne Eigentum gäbe, muss der Staat auch sichern, dass alle Eigentum und Arbeit haben. Damit der Staat seine Aufgabe erfüllen kann und damit er unabhängig und einheitlich ist, muss er im Bewusstsein der Bürger verankert sein und in ihnen Vertrauen in seine moralische Mission erwecken. Fichte antwortet auf die Anschuldigungen wegen Atheismus in seinen letzten Schriften damit, dass er neben dem reinen Ich das wahre und ursprüngliche Prinzip in der absoluten Einheit anerkennt: Gott, der sich selbst gleicht und der unveränderlich, ewig und unendlich ist.
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Das Gefühl der Begrenzung
11. Das Gefühl der Begrenzung. Bedürfnis, Missbehagen und Leere des Ichs »Die reine in sich selbst zurückgehende Tätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar, ein unendliches Streben. Dieses unendliches Streben ist ins Unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit allen Objekts: kein Streben, kein Objekt.« 79 Das Streben ist die Anstrengung des Ichs, während es sich selbst setzt, ist also eine Bedingung der Möglichkeit eines jeden Objekts. Die Anstrengung des Ichs ist zur gleichen Zeit endlich und unendlich. Die unendliche Anstrengung neigt zur Überwindung jeder Grenze und jedes bestimmten Hindernisses, das sich dem Ich als Negativum, als Nicht-Ich, entgegenstellt. Das Zusammentreffen der unendlichen Tätigkeit des Ichs, sich selbst zu setzen, mit seinem Negativum, das es behindert, begründet den subjektiven Status des Gefühls. In der Definition Fichtes ist das Gefühl eine äußere Begrenzung, die vom Ich gegeben wird, bzw. sein »Nicht-Können«: »Die Äußerung des Nicht-Könnens im Ich heißt ein Gefühl. In ihm ist innigst vereinigt Tätigkeit – Ich fühle, bin leidend, und nicht tätig; es ist ein Zwang vorhanden. Diese Beschränkung setzt nun notwendig einen Trieb voraus, weiter hinaus zu gehen. Was nichts weiter will, bedarf, umfasst, das ist – es versteht sich, für sich selbst – nicht eingeschränkt: […] das Gefühl ist lediglich subjektiv.« 80 Ursprünglich geschieht das Zusammentreffen des Ichs mit dem Nicht-Ich also nicht im Denken, sondern im Fühlen. Es ist für Fichte kein erkennender Akt, der bei dem Zwang (des Ichs) eine Rolle spielt, sondern das subjektive Fühlen. Nur durch eine Reflexion über die subjektiven Bedingungen kann das Ich das Objekt geben und sich seines Zwangs bewusst werden. Was bedeutet die Tatsache, dass das Gefühl ausschließlich subjektiv ist? Es bedeutet, dass es ein Sichselbst-Fühlen und kein Objekt-Fühlen ist: das Gefühl der eigenen Kraft, die aber begrenzt und behindert ist; das Gefühl eines Fehlens, das Gefühl, nicht zu können. Während das Ich über das Gefühl und seine eigene Schranke nachdenkt, bringt es sein Negativum hervor – ein reelles Objekt. Außerdem wird es sich der ideellen Notwendigkeit bewusst, sich die Realität anzueignen, geht so über jedes Objekt 79 80
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 179. Ebd., S. 206.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
hinaus und begibt sich in eine Position, die unrealisierbar und flüchtig ist, nämlich die in einer Welt, die von jeglicher Negativität frei ist. »Es wird demnach, inwiefern es bestimmt ist durch den Trieb, beschränkt durch das Nicht-Ich. Im Ich ist die immer fortdauernde Tendenz über sich selbst zu reflektieren, sobald die Bedingung aller Reflexion – eine Begrenzung – eintritt. Diese Bedingung tritt hier ein; das Ich muss demnach notwendig über diesen seinen Zustand reflektieren. In dieser Reflexion nun vergisst das Reflektierende sich selbst, wie immer, und sie kommt daher nicht zum Bewusstsein. Ferner geschieht sie auf einen bloßen Antrieb, es ist demnach in ihr nicht die geringste Äußerung der Freiheit, und sie wird, wie oben, ein bloßes Gefühl. Es ist nur die Frage: Was für ein Gefühl?« 81 Die Tätigkeit des Ichs ist einem Objekt zugewandt, oder besser gesagt: einer Ganzheit von Objekten, die es niemals in sich aufnehmen kann. In diesem Sinn kann man sagen, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die immer und notwendigerweise auf ein Objekt gerichtet ist. In seiner Subjektivität fühlt das Ich sein »Nicht-Können«, seine Unbehaglichkeit, seine Grenze. Das Ich muss demnach notwendig über diesen seinen Zustand reflektieren. Das Bedürfnis, das Missbehagen und die Leere des Ichs suchen nach Befriedigung; diese Suche endet nie. »Das Objekt dieser Reflexion ist das Ich, das getriebene, mithin idealiter in sich selbst tätige Ich; getrieben durch einen in ihm selbst liegenden Antrieb, mithin ohne alle Willkür, und Spontaneität. Aber diese Tätigkeit des Ich geht auf ein Objekt, welches dasselbe nicht realisieren kann, als Ding, noch auch darstellen, durch ideale Tätigkeit. Es ist demnach eine Tätigkeit, die gar kein Objekt hat, aber dennoch unwiderstehlich getrieben auf eins ausgeht, und die bloß gefühlt wird. Eine solche Bestimmung im Ich aber nennt man ein Sehnen; einen Trieb nach etwas völlig Unbekanntem, das sich bloß durch ein Bedürfnis, durch ein Mißbehagen, durch eine Leere, die Ausfüllung sucht, und nicht andeutet, woher? – offenbart. – Das Ich fühlt in sich ein Sehnen; es fühlt sich bedürftig.« 82
81 82
Ebd., S. 219. Ebd., S. 218–219.
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Das Gefühl des Sehnens
12. Das Gefühl des Sehnens Der subjektive Trieb führt das Ich dazu, aus sich hinauszugehen (idealiter), und so wird es dazu veranlasst, etwas außerhalb von sich zu produzieren. Da es begrenzt ist, kommt das Gefühl des Sehnens in ihm auf. Was ist das Gefühl des Sehnens? »Umgekehrt, wenn das Ich sich nicht als sehnend fühlte, so könnte es sich nicht als beschränkt fühlen, da lediglich durch das Gefühl des Sehnens das Ich aus sich selbst herausgeht – lediglich durch dieses Gefühl im Ich und für das Ich erst etwas, das außer ihm sein soll, gesetzt wird. Dieses Sehnen ist wichtig, nicht nur für die praktische, sondern für die gesamte Wissenschaftslehre. Lediglich durch dasselbe wird das Ich in sich selbst – außer sich getrieben; lediglich durch dasselbe offenbart sich in ihm selbst eine Außenwelt. Beide sind demnach synthetisch vereinigt, eins ist ohne das andre nicht möglich. Keine Begrenzung, kein Sehnen; kein Sehnen, keine Begrenzung. Beide sind einander auch vollkommen entgegengesetzt. Im Gefühl der Begrenzung wird das Ich lediglich als leidend, in dem des Sehnens auch als tätig gefühlt.« 83 Durch das Sehnen wird das Ich aus sich selbst hinausgetrieben und entdeckt so die Außenwelt. Gerade weil das Sehnen von einer bestimmten und konkreten Begrenzung getrennt ist, ist es die ursprüngliche und unabhängige Manifestation des Zwangs des Ichs. Trotzdem steht das Sehnen in Beziehung zu einem Objekt, das das Ich produziert. Das Gefühl des Sehnens und das Gefühl der Begrenzung stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Wenn das Ich sich nicht sehnen würde, könnte es sich nicht begrenzt fühlen, weil es nur dank des Gefühls des Sehnens aus sich hinausgeht. Wenn es Begrenzung gibt, so gibt es das Sehnen; wo es das Sehnen gibt, da gibt es auch Begrenzung. Das Ich wird sich in eben dieser Begrenzung, durch den Zusammenstoß (Nicht-Ich), seiner Endlichkeit bewusst, und es bemüht sich, die Realisierung des Ideals an sich zu sein, das unaufhörlich in der ununterdrückbaren Spannung zwischen Freiheit und Unendlichkeit steht. Weil das Ich diese Unendlichkeit nicht verwirklichen kann (auch aufgrund seiner subjektiv-objektiven Eigenstruktur) ist es – und wird es immer – unendlich-endlich und begrenzt-unbegrenzt sein. Unter dem Gesichtspunkt der Praxis ist das Ich für Fichte eben diese Synthese aus unauflösbaren Gegensätzen. Es stellt sich fortwährend gegen das eigene Negativum, ohne sich aus83
Ebd., S. 220.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
zulöschen oder diesem Konflikt zu unterliegen. Es zwingt sich dabei dauerhaft, weiterzugehen, es stößt immer wieder auf Objekte, die sein Sehnen hervorrufen, und füllt so mit der Selbst-Produktion und mit dem eigenen Wachstum die Leere, die die Impulse hinterlassen haben.
13. Ohne Unendlichkeit keine Begrenzung – ohne Begrenzung keine Unendlichkeit Im dritten Paragraphen (»Dritter, seiner Form nach bedingter Grundsatz«) des ersten Teils (»Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre«) der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre definiert Fichte die Bedeutungen von »einschränken« und »Schranke«: »Etwas einschränken, heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Teil aufheben. Mithin liegt im Begriffe der Schranken, außer dem der Realität und der Negation, noch der der Teilbarkeit (der Quantitätsfähigkeit überhaupt, nicht eben einer bestimmten Quantität). Dieser Begriff ist das gesuchte X und durch die Handlung Y wird demnach schlechthin das Ich sowohl als das NichtIch teilbar gesetzt.« 84 Vor dem Hintergrund dieser Gedanken stellt Fichte eine bedeutsame semantische Korrelation zwischen dem Begriff »einschränken« und dem Begriff »Schranke« auf. »Aber im Begriffe der Schranken liegt mehr, als das gesuchte X, es liegt nämlich zugleich der Begriff der Realität, und der Negation, welche vereinigt werden, darin. Wir müssen demnach, um X rein zu bekommen, noch eine Abstraktion vornehmen.« 85 Diese Abstraktion betrifft und charakterisiert die Unterscheidung-Beziehung zwischen Unendlichkeit und Begrenzung. Ohne Unendlichkeit gibt es keine Begrenzung, und ohne Begrenzung gibt es keine Unendlichkeit. Unendlichkeit und Begrenzung sind in einem einzigen synthetischen Begriff vereint. »Ohne Unendlichkeit des Ich – ohne ein absolutes in das Unbegrenzte, und Unbegrenzbare hinausgehendes Produktions-Vermögen desselben, ist auch nicht einmal die Möglichkeit der Vorstellung zu erklären.« 86
84 85 86
Ebd., S. 176. Ebd. Ebd., S. 410.
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Produktive Einbildungskraft
Wenn die Tätigkeit des Ichs nicht ins Unendliche ginge, könnte das Ich auch nicht seine Tätigkeit einschränken, Schranken setzen – was es aber dennoch tun muss. Die Tätigkeit des Ichs besteht im uneingeschränkten Sich-Setzen, und dagegen kommt eine Resistenz auf. Wenn es dieser Resistenz nachgäbe, wäre also diese Tätigkeit, die die Schranke der Resistenz überwindet, zerstört und verschwunden; und deswegen würde das Ich – allgemein gesprochen – nichts mehr setzen. Aber es muss trotzdem, jenseits dieser Tatsache, etwas setzen. Es muss eine unbestimmte, unbegrenzte, unendliche Schranke setzen, und um dies tun zu können, muss es selbst unendlich sein. In diesem Prozess hat die produktive Einbildungskraft, durch die das Ich sich begrenzt, eine wichtige Funktion. Nur durch die Einbildungskraft kann etwas in den Verstand gelangen. Der Wechsel des Ichs – dass es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ist das Vermögen der Einbildungskraft, die zwischen Endlichem und Unendlichem liegt. Die Realität entsteht durch die Einbildungskraft.
14. Produktive Einbildungskraft Die Einbildungskraft spielt in Fichtes Idealismus eine große Rolle. Was ist Einbildungskraft? Wie und warum ist die Einbildungskraft so wichtig in Fichtes System des transzendentalen Idealismus? Die Einbildungskraft 87 ist nach Fichte »die theoretische und produktive Fähigkeit schlechthin«. Sie schwankt zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Endlichkeit und Unendlichkeit (Begriffe, die nicht unmittelbar zu vereinen sind) und ermöglicht das Ich an sich, insofern es Intelligenz ist. »Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt; und demnach wird durch sie allerdings A + B zugleich durch das bestimmte A und zugleich durch das unbestimmte B bestimmt, welches jene Synthesis des Einbildungskraft ist, von der wir soeben redeten. Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt; sie bringt Christian Wolff unterscheidet die Einbildungskraft (gr. φαντασία; lat. imaginatio, phantasia) als »Fähigkeit die Wahrnehmungen der abwesenden, sensiblen Dinge zu produzieren« (Empirische Psychologie, § 92) von der facultas fingendi, die aus dem »Produzieren mittels der Division und der Komposition der Abbildungen, die Abbildungen von Dingen sind, die niemals von den Sinnen wahrgenommen werden, besteht« (ebd., § 138).
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor.« 88 Laut Fichte ist die Einbildung der wechselseitige Akt und der Kampf zwischen dem endlichen und dem unendlichen Aspekt des Ichs. Es handelt sich um die Aspekte, aufgrund deren das Ich seiner produktiven Tätigkeit eine Grenze setzt und aufgrund deren es sich selbst überwindet. Das Schwanken dieser Schranke (die letzten Endes die Vorstellung ist) des Produkts macht die Einbildungskraft zu einem zwischen Realität und Irrealität fließenden Element. »Die Einbildungskraft« – sagt Fichte – »produziert die Wirklichkeit. Jedoch liegt in ihr keine Wirklichkeit. Nur nachdem die Einbildungskraft vom Intellekt hervorgebracht wurde, wird ihr Produkt reell.« 89 Die produktive Einbildungskraft ist die einzige Bedingung der Möglichkeit der bewussten Einheit und somit der Einheit des Wissens. Die produktive Einbildungskraft ist in jedem erkennenden und vorstellenden Akt wirksam, weil das Vorstellen an sich in der Produktion von Synthesen besteht. Wenn man diesen dynamischen Prozess, in dem sich die produktive Einbildungskraft verwirklicht, analysiert, stellt man fest, dass sich die antithetischen Begriffe – endlich und unendlich, begrenzt und unbegrenzt – durch ihre qualitativen Unterschiede auszeichnen. Diese Beziehung der Begriffe untereinander wird durch die Einbildung ermöglicht. Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit, die entsprechenden Begriffe einander gegenüberzustellen, eine Fähigkeit, die »zwischen der Bestimmung und der Nicht-Bestimmung schwebt, zwischen Endlich und Unendlich«. Fichte setzt diese wichtige semantische Korrelation zwischen dem Begriff der »Einbildungskraft« und dem Begriff eines »Wechsels« des Ichs. »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproduziert, indem das Ich Unvereinbares vereinigen will, jetzt das Unendliche in die Form des Endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder außer derselben setzt, und in dem nämlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft.« 90 Die Einbildungskraft hat also als Bezugssystem kein 88 89 90
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 408. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre, 1794, S. 55. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 134 f.
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Produktive Einbildungskraft
Objekt, sondern eine antagonistische Beziehung. Diese besteht in einem Wechsel, der sich zwischen zwei entgegengesetzten Begriffen vollzieht. Sie durchläuft deren unüberwindbare Distanz und erhebt sich über ihre ungelöste Spannung. Die Einbildungskraft drückt eine »antithetische Neigung zur Zusammenfassung« und ein Festhalten an der absoluten Gegenüberstellung sowie an der Aufgabe, diese durch die Einigung der Gegensätze zu lösen, aus. »In diesem Streite verweilt der Geist, schwebt zwischen beiden; schwebt zwischen der Forderung und der Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, und in diesem Zustande, aber nur in diesem, hält er beide zugleich fest, oder, was das gleiche heißt, macht sie zu solchen, die zugleich aufgefaßt und festgehalten werden können – gibt dadurch, dass er sie berührt, und wieder von ihnen zurückgetrieben wird und wieder berührt, ihnen im Verhältnis auf sich einen gewissen Gehalt und eine gewisse Ausdehnung (die zu seiner Zeit als Mannigfaltiges in der Zeit und im Raume sich zeigen wird). Dieser Zustand heißt der Zustand des Anschauens. Das in ihm tätige Vermögen ist schon oben produktive Einbildungskraft genannt worden.« 91 Die produktive Einbildungskraft ist nicht erklärbar, sie ist nur von der Einbildung selbst her anschaubar. Ohne die produktive Tätigkeit der Einbildungskraft ist kein Denken, keine Vorstellung und kein endliches Bewusstsein möglich. Noch nicht einmal die Wissenschaftslehre kann ohne die Fähigkeit der Einbildungskraft erfasst werden. »Man stelle sich die ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit vor unter dem Bilde einer geraden Linie, die von A aus durch B nach C usw. geht. Sie könnte angestoßen werden innerhalb C oder über C hinaus; aber man nehme an, daß sie eben in C angestoßen werde; und davon liegt nach dem Obigen der Grund nicht im Ich, sondern im Nicht-Ich. Unter der gesetzten Bedingung wird die von A nach C gehende Richtung der Tätigkeit des Ich reflektiert von C nach A. Aber auf das Ich kann, so gewiß es nur ein Ich sein soll, gar keine Einwirkung geschehen, ohne daß dasselbe zurückwirke. Im Ich läßt sich nichts aufheben, mithin auch die Richtung seiner Tätigkeit nicht. Mithin muß die nach A reflektierte Tätigkeit, insofern sie reflektiert ist, zugleich zurückwirken bis C. Und so erhalten wir zwischen A und C eine doppelte mit sich selbst streitende Richtung der Tätigkeit des Ich, in welcher sich die von C nach A als ein Leiden, und die von A nach C als bloße Tätigkeit ansehen läßt; welche beide ein und eben91
Ebd., S. 144 f.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
derselbe Zustand des Ich sind. Dieser Zustand, in welchem völlig entgegengesetzte Richtungen vereinigt werden, ist eben die Tätigkeit der Einbildungskraft«. 92 Vor diesem Hintergrund ist die produktive Einbildungskraft die »theoretische und produktive Fähigkeit schlechthin«, die zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, zwischen endlich und unendlich schwankt und das Ich als Intelligenz erst ermöglicht. Nach Fichte spielt diese kreative und produktive Funktion der Einbildungskraft eine bedeutende Rolle im romantischen Idealismus. Der produktiven Funktion der Einbildungskraft schreibt Fichte eine größere Bedeutung zu, als Kant ihr in den Grenzen der formalen Bedingungen zugesteht. Kant sieht in der Einbildungskraft die Fähigkeit zu Anschauungen auch ohne das Vorhandensein eines Objekts und unterscheidet zwischen der »produktiven Einbildungskraft« (exhibitio originaria) – der Macht der ursprünglichen Vorstellung des Objekts, die der Erfahrung vorausgeht – und der »reproduzierenden Einbildungskraft« (exhibitio derivativa), die »eine vorhergehende empirische Anschauung im Geist wiedererweckt«. Nur die reinen Anschauungen des Raumes und der Zeit sind Produkte der produktiven Einbildungskraft. Die reproduzierende Einbildungskraft ist, auch wenn sie »poetisch« genannt wird, niemals kreativ, da sie keine gegebene Darstellung, die nicht schon vorher der Sinnlichkeit gegeben war, erschaffen kann. Der Begriff einer produktiven Einbildungskraft ist nach Kant rein formal, weil er nur die Bedingungen der Anschauung (Raum und Zeit) hervorbringt. Kant gebraucht ihn häufiger in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der er von einer Synthese der Produktion der Einbildungskraft spricht, die als Bedingung der begriffsmäßigen Synthese der Apperzeption angesehen wird.
15. Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre bestimmt Fichte die intellektuelle Anschauung als begründendes Element einer jeden Philosophie. »Die intellektuelle Anschauung ist der einzige, feste Standpunkt für alle Philosophie.« 93 Worin besteht die intellektuelle 92 93
Ebd., S. 147. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 219.
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Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie
Anschauung? Warum ist der Begriff der intellektuellen Anschauung im System des transzendentalen Idealismus von Fichte so wichtig? »Dieses dem Philosophen« – so bemerkt Fichte – »angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtsein, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue.« 94 Die intellektuelle Anschauung erscheint somit als die Eröffnung eines doppelten Horizonts des Bewusstseins und im Bewusstsein. Es zeigt sich ein theoretischer Sinn der Erfahrung des Handelns, und der Philosoph ist sich des Wesens der Aktion (ihres Was) bewusst und demnach, lato sensu, auch des Wesens der Erfahrung. Außerdem steht das Dass für die Existenz, die Schelling später als eine organische Beziehung zwischen Ich und Natur 95 interpretieren wird. Der Idealismus Fichtes wird so erweitert. Laut Fichte besteht zwischen der intellektuellen Anschauung 96 und der Transzendentalphilosophie eine tiefgreifende Verbindung. Es handelt sich um eine Philosophie, in der Erkenntnistheorie und Metaphysik nicht zu trennen sind und in der jede Aussage, die sich auf das, was ist, bezieht, durch eine Neufassung der Formen der Realisierung im Ich und für das Ich gerechtfertigt werden muss. Objektives Bewusstsein und Selbstbewusstsein existieren, weil das Ich eine Anschauung ist. Diese Anschauung verwirklicht sich durch den ursprünglichen Akt des Anschauens und besteht nicht in einem einfachen »etwas Setzen«, sondern in einem Ich, das zu sich selbst zurückkehrt. Es handelt sich um eine Anschauung des Ichs im doppelten Sinne, da sie objektiv und subjektiv zugleich ist. Die Wurzel des Ichs ist diese Anschauung, die dem Ich gehört und es betrifft. Diese Anschauung des Ichs ist die intellektuelle Anschauung, deren begründende Funktion für das Bewusstsein, und zwar für jedes Bewusstsein, Fichte unterstreicht. Der Verstand sieht sich selbst als GA, I, 4, S. 216. Vgl. H. Traub, »Schellings Einfluß auf die Wissenschaftslehre 1804«, in: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und Michael Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 77–92. 96 In Bezug auf der semantischen Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie und intellektuelle Anschauung vgl. A. Philonenko, »Die intellektuelle Anschauung bei Fichte«, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hrsg. von Klaus Hammacher, Hamburg: Meiner 1981, S. 91–106; vgl. J. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart: Klett-Cotta 1986. 94 95
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
einfach oder als rein an. In dieser Selbst-Anschauung liegt seine Essenz. Der Philosoph wird sich ihrer bewusst, indem er mit sich selbst experimentiert. In diesem Sinne ist sein Bewusstsein der Anschauung das Produkt einer Abstraktion und einer Reflexion. Fichte meint in der Tat, dass man niemals ein unmittelbares und isoliertes Bewusstsein der intellektuellen Anschauung haben kann, und dass man diese erreicht indem man Rückschlüsse aus offensichtlichen Tatsachen des Bewusstseins zieht. Kein Handeln eines Bewusstseins ist als Handeln eines Bewusstseins, eines reellen Ichs, denkbar, ohne dass dieses von einem Handeln bestimmt wird, das in es zurückkehrt und das als solches gegeben ist, d. h. ohne die Präsenz der intellektuellen Anschauung. Letztere wird als Prinzip des Lebens 97 verstanden, das von innen das Leben des reellen Bewusstseins strukturiert. »Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektuelle Anschauung meines Selbstbewusstseins in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, dass ich es tue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objekte des Handelns. Jeder, der sich eine Tätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod.« 98 Es ist nötig, einen wichtigen Punkt der Theorie der intellektuellen Anschauung zu klären: die Möglichkeit ihrer Legitimation. Die intellektuelle Anschauung ist für den Philosophen ein Faktum; für das ursprüngliche Ich hingegen ist sie ein Akt. »Sonach findet der Philosoph diese intellektuelle Anschauung als Faktum des Bewusstseins (für ihn ist es Tatsache; für das ursprüngliche Ich Tathandlung), nicht unmittelbar, als isoliertes Faktum seines Bewusstseins, sondern, indem er unterscheidet, was in dem gemeinen Bewußtsein vereinigt vorkommt, und das Ganze in seine Bestandteile auflöst.« 99 Nun ist es die wichtigste Aufgabe der Transzendentalphilosophie, vom Ereignis zur Möglichkeit zu gelangen. Es ist notwendig, die Möglichkeit de jure, die Rechtfertigung eines Prinzips, zu beachten. Dieser Prozess verwirklicht sich nur, wenn der Glaube an die Wirklichkeit (der intellektuellen Anschauung) fest ist. Er ist der Ausgangspunkt des trans-
Vgl. L. Vos, »Der Gedanke des Lebens in den späten Schriften Fichtes«, in: Grundund Methodenfragen in Fichtes Spätwerk«, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 125–134. 98 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 219. 99 GA I, 4, S. 221. 97
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Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie
zendentalen Idealismus. 100 Es ist notwendig, nachzuweisen, dass sich das Interesse, auf das sich die Anschauung gründet, in der Vernunft an sich befindet. 101 Andererseits ist es nur mit dem System der gesamten Vernunft 102 möglich, der Kritik an der intellektuellen Anschauung zu begegnen. Wie kann aber die Wissenschaftslehre die Glaubwürdigkeit und die Legitimität der intellektuellen Anschauung nachweisen? In der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre bestimmt Fichte die Bedeutung, die Funktion und die Zielsetzung seiner Philosophie und behält dabei die semantische Beziehung zwischen intellektueller Anschauung und Wissenschaftslehre bei. »Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres: ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst. Auch bei der flüchtigsten Selbstbeobachtung wird jeder einen merkwürdigen Unterschied zwischen den verschiedenen unmittelbaren Bestimmungen seines Bewußtseines, die wir auch Vorstellungen nennen können, wahrnehmen. Einige nämlich erscheinen uns als völlig abhängig von unserer Freiheit, aber es ist uns unmöglich zu glauben, dass ihnen etwas außer uns, ohne unser Zutun, entspreche. Unsere Phantasie, unser Wille erscheint uns als frei. Andere beziehen wir auf eine Wahrheit, die, unabhängig von uns, festgesetzt sein soll, als auf ihr Muster; und unter der Bedingung, dass sie mit dieser Wahrheit übereinstimmen sollen, finden wir uns in Bestimmung dieser Vorstellungen gebunden. In der Erkenntnis halten wir uns, was ihren Inhalt betrifft, nicht für frei. Wir können kurz sagen: einige unserer Vorstellungen sind von dem Gefühle der Freiheit, andere von dem Gefühle der Notwendigkeit begleitet.« 103 Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen stellt Fichte zwei grundlegende Fragen: »Warum werden die Darstellungen, die von der Freiheit abhängen, auf diese Art und Weise bestimmt? […] Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühl der Notwendigkeit
Ebd. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova metodo WS 1798/99 – Nachschrift Krause, GA IV, 3, S. 335. 102 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 223. 103 J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 1, Berlin: de Gruyter 1971, S. 422–423. 100 101
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
selbst?« 104 Laut Fichte ist es die Aufgabe der Philosophie, auf diese Fragen zu antworten. »Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Philosophie; und es ist meines Bedünkens nichts Philosophie, als die Wissenschaft, welche diese Aufgabe löst. Das System der von dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen nennt man auch die Erfahrung; innere sowohl, als äußere. Die Philosophie hat sonach – dass ich es mit anderen Worten sage – den Grund aller Erfahrung anzugeben.« 105
16. Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre und das Transzendentale in Fichtes ethischem Idealismus Im fünften Paragraphen der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre sagt Fichte, dass die Glaubwürdigkeit und die Legitimität der intellektuellen Anschauung nur möglich sei, wenn in uns das Vorhandensein eines Sittengesetzes oder eines ethischen Gesetzes bestätigt werde. »In dem Bewußtsein dieses Gesetzes, welches doch wohl ohne Zweifel nicht ein aus etwas anderem gezogenes, sondern ein unmittelbares Bewusstsein ist, ist die Anschauung der Selbst-Tätigkeit und Freiheit begründet; ich werde mir durch mich selbst als etwas, das auf eine gewisse Weise tätig sein soll, gegeben, ich werde mir sonach durch mich selbst als tätig überhaupt gegeben; ich habe das Leben in mir selbst, und nehme es aus mir selbst. Nur durch dieses Medium des Sittengesetzes erblicke ich mich; und erblicke ich mich dadurch, so erblicke ich mich notwendig als selbsttätig; und dadurch entsteht mir das ganz fremdartige Ingrediens der reellen Wirksamkeit meines Selbst in einem Bewusstsein, das außerdem nur das Bewusstsein einer Folge meiner Vorstellungen sein würde.« 106 Nach Fichte ist das Bewusstsein des Sittengesetzes ein unmittelbares Bewusstsein, das nicht von einem anderen Bewusstsein abgeleitet wird. Es ist ein ursprünglicher Akt der Vernunft, der die Anschauung des Ichs als wiederkehrendes Handeln an sich begründet. Das Bewusstsein des Sittengesetzes vermittelt nicht nur eine Erkenntnis im praktischen Sinne, sondern gibt die Basis der Realität 104 105 106
Ebd., S. 423. Ebd. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4. S. 219.
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Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre
der Anschauung des Ichs als intellektuelles Handeln in der Ganzheit all seiner Momente. In der empirischen Anschauung steht man etwas anderem, das unabhängig ist, passiv gegenüber. Das Bewusstsein ist demnach spontan realistisch und kann auch gar nicht anders sein. Es ist sich der Existenz der äußeren Dinge sicher. Die Transzendentalphilosophie hingegen kann diesen Realismus nicht teilen, weil sie ihn in der Genesis des Bewusstseins erklären muss. Die kopernikanische Revolution 107 Kants hat gezeigt, dass alle Bestimmungen der Objekte der Erfahrung nichts anderes sind als Konstruktionen aus der phänomenischen Materie der Formen a priori des erkennenden Subjekts (Raum und Zeit). Die Existenz der Materie der Erfahrung an sich, also die Tatsache, dass es Phänomene gibt (nicht wie diese erscheinen oder konstruiert werden), hängt nicht von der Aktivität des theoretischen Subjekts ab. Diese Tatsache zeigt sich dem Ich als gegeben, und das Ich ist ihr gegenüber passiv und rezeptiv. Kant drückte diese Grenze des endlichen, menschlichen Intellekts mit dem Begriff des »Dinges an sich« aus, das vom Ich unabhängig ist und Voraussetzung der Phänomene ist. Fichte nimmt die kritischen Positionen der Post-Kantianer, die das Ding an sich als dogmatisches Überbleibsel der kritischen Philosophie ansehen, wieder auf und entwickelt sie weiter. Auch er hält es für einen absolut unannehmbaren Begriff. Aus transzendentaler Sicht ist der Begriff des Objekts an sich nicht anderes also einer der beiden Pole der Vorstellung, der in eben dieser liegt; ein Objekt kann ein solches nur für ein Subjekt sein, und zwar in der Opposition, die das Bewusstsein konstituiert. Die Idee, dass ein Ding an sich existiert und von einem Subjekt unabhängig ist, ist ein Widerspruch. Jedes Dasein des Ichs und des Nicht-Ichs ist eine Veränderung des Bewusstseins. Ohne Bewusstsein gibt es kein Dasein. Fichte hält jede Philosophie, die einen der beiden Pole des Bewusstseins in reelle und unabhängige Substanz umformt, um schließlich zu dem anderen Pol eine Beziehung aufzudecken, die die Erkenntnis und den Zusammenhang zwischen dem Gedanken und den Dingen erklärt, für eine dogmatische Metaphysik, die unhaltbar sei. Das sei ein »dogmatischer Realismus« 108, der mit dem allgemeiVgl. R. Brandt, »Kants Revolutionen«, in: Kant-Studien 106 (2015), S. 3–35. Zum Verhältnis zwischen dogmatischem Realismus und Idealismus bei Fichte vgl. L. Schüssler, Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wis107 108
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
nen Bewusstsein den Glauben an ein außerhalb der Polarität der Vorstellung bestehendes Sein teilt und der das erkennende Subjekt im Ausgang vom Vorhandensein des Objekts erklären möchte. Ein Beispiel hierfür ist die Philosophie von Spinoza. Auf der anderen Seite ist ein ebenso »dogmatischer Idealismus« derjenige, der das Sein von einem schon bestehenden Subjekt als geistige Substanz ableiten möchte. Die Philosophie Berkeleys ist ein Beispiel dafür. Der kritisch-transzendentale 109 Idealismus hingegen soll den Widerstand des Nicht-Ichs, das sich dem theoretischen Subjekt (dem theoretischen Ich) entgegensetzt und es begrenzt, mit einbeziehen, ohne auf ein schon bestehendes Sein, das von der Tätigkeit des Geistes unabhängig ist, zurückzugreifen. Im Unterschied zu den dogmatischen Philosophien vor Kant kann die gesamte Wissenschaftslehre, weil sie eine transzendentale Lehre ist, nicht vom Ich absehen und es übergehen. Die Passivität des erkennenden Subjekts mit seiner Endlichkeit, die sich in der Theorie der Wissenschaftslehre als Tatsache zeigt, kann auch in der Praxis gründen – im Primat der Ethik. Auf einer tieferen, ursprünglichen Ebene des Bewusstseins ist das Ich für Fichte vor allem moralische Freiheit und unaufhörliche Tätigkeit – es ist praktische Vernunft. Wie Kant gelehrt hat, ist der moralische Imperativ absolut autonom und unabhängig; das praktische Ich ist sich selbst Gesetz und bestimmt sich selbst, überwindet jedes Hindernis und kämpft gegen jede Konditionierung. Auch für Fichte ist unser Ich – das einzige, das wir kennen – eine unendliche Vernunft, die die Vollkommenheit anstrebt. Diese bleibt für uns ein Seinmüssen, ein Ideal, das niemals wirklich erreicht werden kann. Unser Leben ist ein unaufhörliches Streben nach einer reinen, moralischen Vernunft, eine ewige endliche Annäherung an das Unendliche. Unsere Endlichkeit drückt sich in eben diesem Streben aus, das seiner Natur nach einen Widerstand beinhaltet, der bei seiner Überwindung nur verschoben, aber niemals ganz entfernt wird. Gäbe es keinen Zusammenstoß, keinen Widerstand, dann hätte dieses Handeln keinen Inhalt und keinen Realitätsanspruch; auch das praktische Ich verschwände – und mit ihm die Mannigfaltigkeit der individuelsenschaftslehre. Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre 1794/5. Zweite Darstellung der Wissenschaftslehre 1804, Frankfurt am Main 1972. 109 Vgl. H. Eidam, »Die Identität von Ideal- und Realgrund im Begriff der Wirksamkeit. Fichtes Begründung des kritischen Idealismus und ihr Problemzusammenhang«, in: Fichte und seine Zeit, hrsg. von Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 21, Amsterdam/New York 2003, S. 29–43.
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Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre
len, endlichen und unendlichen Subjekte; und somit wäre dann Raum für ein leeres Handeln, das von einer unendlichen und unpersönlichen Vernunft noch nicht einmal gedacht werden könnte. Das reine Ich, von dem die Wissenschaftslehre ausgeht, zeigt somit in der Praxis seine wahre Bedeutung: Es ist nicht so sehr ein reelles Prinzip der Dialektik des lebenden Ichs als ein ideelles Ziel, das unerreichbar bleibt. Im ewigen »inneren Kampf des Ichs gegen sich selbst« zeigt sich der Widerstand in allem, was sich der Vernunft entgegenstellt: die Natur, die Instinkte und die Gefühle, die noch nicht verstanden und gebändigt sind. Eine der Fähigkeiten des Ichs, die produktive Einbildungskraft, ist spontan und konstruiert alles in der Form eines Objekts, eines Nicht-Ichs, das dem theoretischen Ich als im Bereich des Bewusstseins gegeben erscheint. Die Vorgänge der Einbildungskraft sind unbewusst; deswegen ist die sinnliche Anschauung als ein unabhängiges und schon bestehendes Phänomen, als äußere Natur, in Wirklichkeit das Produkt eines Vermögens des Ichs. Im Unterschied zur Position Kants führt die Wissenschaftslehre nicht nur die Formen, aber auch die Inhalte der Erfahrung auf die transzendentale Tätigkeit des Ichs zurück. Das theoretische Ich und seine Endlichkeit wird durch die Tätigkeit (die Spannung und den inneren Kampf) des praktischen Ichs erklärt. Die Vernunft kann weder theoretisch noch praktisch sein. Die Freiheit der Welt der Moral und der Determinismus der phänomenischen Welt, die in Kants Werk einen unauflösbaren Widerspruch bildeten, sind nun wieder miteinander verbunden, und der »Primat der praktischen Vernunft«, 110 von dem auch Kant schon sprach, hat ein festes Fundament. Dass das Nicht-Ich ein Produkt des Ichs ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Welt eine willkürliche und phantastische Kreation eines jeden individuellen Subjekts wäre. Man sollte nicht vergessen, dass die menschliche Vernunft immer endlich ist und niemals kreativ. Die Phänomene und die Objekte der Erfahrung erscheinen als von Gesetzen geregelt, die stabil und unabhängig sind, auch wenn sie
110 Zum Primat der praktischen Vernunft bei Fichte vgl. D. Breazeale, »Der fragwürdige Primat der praktischen Vernunft in Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, in: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 10, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 253–272.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
von der formativen Tätigkeit a priori des Ichs herrühren. Für Fichte ist die reelle Konsistenz der Welt, die kein privater Traum ist, durch die Tätigkeit des Ichs motiviert. Fichte meinte immer, dass sein transzendentaler Idealismus 111 mit der Realismus des allgemeinen Bewusstseins zu vereinbaren sei, und lehnte deshalb den Vorwurf des Solipsismus – aufgrund der Reduzierung des Nicht-Ichs auf eine bloße Erscheinung – ab. Indem er sich von jedem dogmatischen Idealismus distanziert, unterstreicht er, dass die Wissenschaftslehre ein kritischer Idealismus ist, den man einen »Real-Idealismus« oder einen »Ideal-Realismus« nennen könnte.
17. Philosophie der Freiheit. Fichtes Vorträge in Jena Nach Fichtes eigener Meinung ist sein philosophisches System das erste System, dass den Vorrang einer Philosophie der Freiheit zuspricht. Er bezeichnet sein philosophisches System als das erste »System der Freiheit«, das die Philosophie von dem Problem des Dinges an sich befreit und sie unabhängig macht. Doch welche Bedeutung hat für Fichte der Begriff »Freiheit«? Warum ist der Begriff »Freiheit« in seinem philosophischen System so wichtig? Was ist eine Philosophie der Freiheit? Für den jakobinischen Fichte der Zeit in Jena – wie auch für seine Nachfolger und Gesprächspartner – hat auch die abstrakte philosophische Diskussion eine besondere Wertigkeit, denn sie zieht ethische und politische Konsequenzen nach sich. 1794 hält Fichte in Jena neben den Vorlesungen über die reine Spekulation auch öffentliche und sehr besuchte Voträge über die Bedeutung und Mission der Philosophie, über den Begriff Freiheit und über die Aufgabe des Gelehrten, in denen er den Vorrang der praktischen Vernunft in ihrem Kontext unterstreicht. Frei zu handeln, um immer freier zu werden: dies ist nach Fichte das eigentliche Ziel des Menschen oder – wie er oft sagt – seine Mission als Mensch und als Philosoph. Die Wahl einer Philosophie hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Nur wer wirklich fähig zur Spontaneität und Freiheit ist, kann die Falschheit des Dogmatismus und die Wahrheit des Idealis111 Vgl. K. Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke: die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes (Vorträge der Internationalen Fichte-Tagung in Zwettl/Österreich vom 8.–13. August 1977), Hamburg: Meiner 1981.
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Philosophie der Freiheit
mus verstehen und realisieren. Diese freie und spontane Tätigkeit des Menschen als endliches Bewusstsein bringt bei ihrer Verwirklichung immer ein Hindernis mit sich, ein Hindernis, das niemals absolut sein kann, weil es nur durch das Bewusstsein aufkommt und nur in Abhängigkeit von ihm bestehen kann. Das bedeutet, dass der ethische Aspekt der Tätigkeit des Ichs nicht nur ein Aspekt ist, der dem theoretischen untergeordnet ist, sondern dass er – im Gegenteil – dessen wahre und tiefe Essenz ist. Wenn man bedenkt, dass das Nicht-Ich das Gegenteil des Ichs ist, also eine Begrenzung, einen Mechanismus, eine Notwendigkeit beinhaltet, ist es nicht schwierig zu verstehen, dass es genau dem gleichkommt, was normalerweise als Natur bezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund manifestieren sich die moralische Bedeutung und die offene Struktur der Dialektik Fichtes. Die Natur besteht nur in ihrer Funktion für die Freiheit, als Instrument ihrer Realisierung: Denn ohne die Natur, ohne die Grenze, würde die Spontaneität des Ichs leer, unbestimmt und unverwirklicht bleiben. Andererseits besteht diese Grenze nur deswegen, um ständig überwunden zu werden, und nicht, um der Freiheit im Wege zu stehen. Wir benötigen einen Inhalt, da er die Voraussetzung der Erkenntnis ist. Das wahre Ziel unseres Lebens ist jedoch nicht die Erkenntnis, sondern die Freiheit. Die Tatsache, dass die vollständige und absolute Realisierung der Freiheit für den Menschen ein Ideal ist bzw. ein Ziel, dem er fortwährend zustrebt, ist kein Zufall, sondern hängt mit der Struktur der Freiheit des Menschen zusammen, der ein endliches Wesen ist, und somit spontan, aktiv und gleichzeitig begrenzt. Aufgrund dieser Aspekte hat die Philosophie Fichtes einen tiefen Einfluss auf den romantischen Idealismus. Sie erneuert die Anschauung des Lebens und steht in einem Gegensatz zu den Formen des Materialismus und des Mechanizismus, die in der Aufklärung vertreten wurden, weil die gesamte Realität in ihr mit den moralischen Bestrebungen des Menschen verbunden ist und weil diese Realität als der Bereich, in dem die Freiheit des Bewusstseins verwirklicht wird, zu verstehen ist. Aus dieser Perspektive hat nach Fichte die Freiheit immer einen ethisch-rationalen Charakter. Ihre Entwicklung – und zwar sowohl die Entwicklung der Freiheit des Individuums als auch die der Gesellschaft, der einzelnen Nationen und der gesamten Menschheit – stellt eine fortschreitende Eroberung der Rationalität dar, die den Menschen von Grund auf charakterisiert. So steht in Fichtes Text über die Französische Revolution das ethische Ideal im Vordergrund, das 75 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
die Befreiung des Menschen zum Ziel hat und das die Grundlage des Urteils über die Legitimität der politischen Ordnungen und der Institutionen ist. Vor diesem Hintergrund kommt Fichte von der Theorie des Rechts zur Revolution und unterstreicht, das jeder Wunsch nach der Unveränderlichkeit einer politischen Ordnung der absoluten Autonomie unseres moralischen Gesetzes widerspricht. Das Besondere in diesem Zusammenhang ist, das Fichte auf der Grundlage dieser Philosophie auch in ihren formalsten und abstraktesten Bereichen, wie z. B. in der Logik, einen unmittelbaren Akt der Freiheit aufdeckt, ohne den die Philosophie sich nicht als Wissenschaftslehre entwickeln könnte. Der dogmatische Realismus ist nach Fichte nicht nur deswegen zu verurteilen, weil er ein theoretischer Fehler ist, sondern auch weil er ein ethisches Verhalten impliziert, das einer freien und heldenhaften Menschheit nicht würdig ist. In der Ersten Einleitung zur Wissenschaftslehre bemerkt er, dass die Wahl einer Philosophie davon abhängt, was für ein Mensch man ist. Ein philosophisches System ist nicht unbeweglich, sondern vom Geist des Menschen erfüllt. Das Ich der Objektivität eines unabhängigen Dinges an sich unterzuordnen, bedeutet, einem praktischen Fatalismus zu verfallen und jede Möglichkeit, die Freiheit zu erklären, a priori auszuschließen – und damit auch unsere Aufgabe, die Welt und das Leben umzuformen, auszuschließen. Wenn unsere Philosophie von einem natürlichen System oder von einer Ordnung des gegebenen Seins ausgeht, können wir auf nichts anderes treffen als auf Determinismus und Notwendigkeit. Im transzendentalen Idealismus wird jedes Dasein aus der Tätigkeit des Ichs abgeleitet, und zwar als eine endliche Objektivierung unseres unendlichen Strebens. Zwar befindet sich unsere endliche Natur nach jedem überwundenen Hindernis vor einer neuen Aufgabe – es handelt sich noch einmal um ein Nicht-Ich, das uns widerspricht. Es ist jedoch auch wahr, dass keine einzelne Realität als solche eine absolut unüberwindbare Schranke sein kann. Wenn man die Wissenschaftslehre fragen würde, wie die Dinge an sich aussehen, so könnte sie nur antworten, dass diese aus der Notwendigkeit unseres Produzierens hervorgehen. Das radikal Böse im Individuum und auch in der Geschichte fällt für Fichte mit der geistigen Faulheit und Unbeweglichkeit zusammen, die das Ich auf die Existenz eines Dinges oder auf die Natur reduzieren. Das Ich steht am Anfang der Erkenntnis. Insbesondere diese Intention Fichtes ruft den Enthusiasmus der Romantiker hervor. Friedrich Schlegel begrüßt die Wissenschaftslehre als eine der drei grundlegenden Ten76 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Religion und Moralphilosophie
denzen der Epoche, zusammen mit der Französischen Revolution und dem Wilhelm Meister Goethes. Hölderlin schreibt an Hegel, Fichte sei ein Titan, der für die Menschheit kämpfe. Diese starke ethische Valenz steht für die Auffassung, dass es beim Idealismus nicht um ein bloß theoretisches Problem geht. Der Zugang zur Wissenschaftslehre 112 verlangt von jedem Leser, die intellektuelle Anschauung zu vollziehen, also einen absolut freien Akt, der nicht begriffsmäßig zu erklären ist. Fichte erklärt mehrmals, dass es keinen definitiven Text seiner Philosophie gebe, und fährt bis zu seinem Tod fort, neue Auslegungen zu entwerfen. Er meint, dass der tiefste und authentischste Kern der Wissenschaftslehre nicht adäquat ausgesprochen werden kann – und empfiehlt dem Leser, so lange zu lesen, bis gewissermaßen ein Funke überspringt.
18. Religion und Moralphilosophie. Eine ethische Religion der menschlichen Natur Die religiöse Inspiration räumt in Fichtes Jugendjahren das Feld, um für die Philosophie Kants und seine politische Leidenschaft Platz zu schaffen. Nach 1800 wird diese sehr dominant und drückt sich in der hohen Würde aus, die Fichte der Mission des Gelehrten zuschreibt. Die Ethik betrifft und charakterisiert die tiefsten Bedürfnisse des Bewusstseins. Sie ist nicht auf Bedürfnisse oder materielle Impulse bezogen, sondern auf den reinen Impuls des Bewusstseins, d. h. auf die gewünschte Freiheit für die Freiheit. 113 Frei zu handeln, um immer freier zu werden – dies ist das einzig wahre Ziel, das zum Menschen passt, seine Mission. Fichte, der mehrere Male Reden hielt, hält deren Inhalt in den populären Schriften fest, die eine große Leserschaft ansprechen sollen und somit einer Art ethischer Religion der Menschheit dienen. In den ersten Vorträgen in Jena, die Sonntagmorgens stattfinden, definiert Fichte sich selbst als Priester der Wahrheit. Diese profanen Vorträge 112 Vgl. R. P. Horstmann, »Fichtes antiskeptisches Programm. Zu den Strategien der Wissenschaftslehre bis 1801–1802«, in: Metaphysik. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Bd. 5, Berlin/New York 2007, S. 47–89. 113 Vgl. J. Stolzenberg, »Fichtes Deduktionen des Ich 1804 und 1794«, in: Fichtes Spätwerk im Vergleich, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz, FichteStudien, Bd. 30, Amsterdam/New York 2006, S. 1–13.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
fordern die Proteste des lokalen Konsistoriums heraus. 1806, vor der Niederlage von Jena, bietet sich Fichte ohne zu zögern als Redner im Auftrag des Staates für die preußischen Truppen an. In der Ersten Wissenschaftslehre, in der kein Ding an sich zugelassen ist, gibt es auch keinen Gott, der Sein oder Substanz wäre. Der Gott beim jungen Fichte steht im Einklang mit dem Gott bei Kant: 114 Wie bei Kant, so ist auch der Gottesbegriff des jungen Fichte mit der moralischen Ordnung der Zwecke verbunden. Fichte ist dabei noch radikaler als Kant: Religion ist reine Moral. Wenn die übernatürliche Ordnung, die sich in jedem von uns als moralischer Imperativ manifestiert, durch den Gottesbegriff objektiviert wird, so hängt dies nur von den Grenzen unserer Intelligenz ab. Ein derartiger Begriff von Religion ruft harte Anschuldigungen wegen Atheismus hervor, und das Jahr 1798, das Jahr des höchsten akademischen und kulturellen Triumphes Fichtes, bedeutet auch gleichzeitig die Unterbrechung dieser Karriere in Jena. In den auf diese schmerzhafte Polemik folgenden Jahren überdenkt der Philosoph das Thema der Religion neu 115 und führt schließlich die Idee von Gott als absolutem Sein, von dem das endliche Bewusstsein und das menschliche Wissen Abbild und Ausdruck ist, in die Wissenschaftslehre ein. Es kommen die Verweise auf das Johannes-Evangelium und neuplatonische Bezüge auf: Das Wort ist unaussprechliches Licht, es ist die Einheit von Sein und Gedanken, und es manifestiert sich in der Welt und in der Geschichte. Gott ist kein totes und objektives Dasein wie in den traditionellen Ontologien, sondern vielmehr ein unendliches Leben, das nicht zu objektivieren ist und in jedem endlichen Leben präsent ist.
19. Die Bestimmung des Menschen und die Epochen der Geschichte Die Aufgabe, die Freiheit zu verwirklichen, betrifft nicht nur die jeweils einzelnen Menschen, sondern die gesamte Menschheit. Die 114 Vgl. M. M. Olivetti, »Zum Religions- und Offenbarungsverständnis beim jungen Fichte und bei Kant«, in: Praktische und angewandte Philosophie, hrsg. von Helmut Girndt und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 23, Amsterdam: Rodopi 2003. 115 Zur Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie und Religion bei Fichte vgl. M. Ivaldo, Filosofia e religione. Attraversando Fichte, Napoli: La Scuola di Pitagora Editrice 2016.
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Die Bestimmung des Menschen und die Epochen der Geschichte
Geschichte kann nur als schrittweise Realisierung dieses Ziels verstanden werden. Laut Fichte kann man auf dem historischen Weg der Menschheit fünf grundlegende Schritte oder Epochen unterscheiden: a) die Epoche, in der die Vernunft mittels des Instinkts dominiert, bzw. den Status der Unschuld des Menschengeschlechts b) die Epoche, in der der rationale Instinkt zur äußeren, zwingenden Autorität wird, bzw. das Stadium der Sünde des Anfangs c) die Epoche der totalen Auflehnung gegen jede äußere Autorität, jeden rationalen Instinkt; vor diesem Hintergrund kommt es zur vollständigen Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit und der Freiheit; es handelt sich um das Stadium der totalen Sündhaftigkeit. d) die Epoche, in der die Wahrheit neu erkannt und als höchstes Gut respektiert wird; der Beginn des Stadiums der Rechtfertigung. e) die Epoche, in der die Menschheit als treues Abbild der Vernunft lebt und handelt; es ist das Stadium der vollkommenen Rechtfertigung und Heiligung. Die Menschheit der Geschichte kehrt zum ursprünglichen Stadium der Unschuld und der Vollkommenheit, das verloren war, zurück. Dies bedeutet aber nicht, das der historische Prozess eine überflüssige und unnötige Anstrengung ist. Im Gegenteil: Nur so wird das, was die Menschheit im ursprünglichen Stadium bereits unmittelbar besaß (im biblischen, irdischen Paradies), zur Frucht einer freien Eroberung. Die Geschichte ist Teil eines religiösen Konzepts, das Fichte in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts immer mehr vertiefte und das aus einer Wiederaufnahme und philosophischen Interpretation des Johannes-Evangeliums besteht, insbesondere der Theorie des Wortes. Die Wirklichkeit zu verstehen, die Freiheit zu erlangen und sich auf die göttliche Ebene des Lebens zu erheben und somit die Glückseligkeit zu erreichen, werden so zu einem einzigen Akt des Menschen. 116 Der Enthusiasmus über die rationale Freiheit des Menschen und die energische Forderung nach Moralität als Liebe in Freiheit und ohne Interessen fließen in ein erzieherisches Programm ein, das jeder Form von Utilitarismus und Materialismus polemisch gegenübersteht. Nur durch die Zurückführung des Menschen auf die rationale 116 Vgl. H. Bergson, La destinazione dell’uomo di Fichte, hrsg. von Felice Ciro Papparo, Milano: Guerini e Associati 2003, S. 65.
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Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Grundlage seines Bewusstseins und seiner Freiheit ist es möglich, die Entwicklung seiner besten Energien zu unterstützen. Hierbei handelt es sich um eine Aufgabe, die nicht nur das Individuum betrifft, sondern die für die Geschichte der einzelnen Völker und der gesamten Menschheit entscheidend ist. Fichte gründet auf diese Erneuerung der Moral und auf die geistige Freiheit sein Programm einer nationalen Wiedergeburt Deutschlands, das zu seiner Zeit als unterdrückt galt und geteilt war. Das pädagogische Ideal, das er hier vorstellt, geht jedoch weit über diesen spezifischen Kontext hinaus und hat schließlich einen bedeutenden Einfluss auf das Denken und die Geschichte des 19. Jahrhunderts.
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II. Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie. Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung in Schellings Idealismus »Philosophie heißt Liebe, Streben nach Weisheit.« »Die Transzendental-Philosophie ist nichts anderes als ein beständiges Potenzieren des Ichs, ihre ganze Methode besteht darin, das Ich von einer Stufe der Selbstanschauung zur andern bis dahin zu führen, wo es mit allen den Bestimmungen gesetzt wird, die im freien und bewußten Akt des Selbstbewußtseins enthalten sind.« »Die Schranke wird reell nur durch das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke.« Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
1.
Die Fichte’schen Anfänge der Philosophie Schellings: Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Über das Unbedingte im menschlichen Wissen
Das frühe Schelling’sche Denken stellt noch einige philosophische Thematiken dar, die mit Kants Ding an sich verbunden sind. Im Alter von 19 bis 21 Jahren versuchte Schelling eine kritische Analyse von Fichtes Idealismus. Schelling zufolge ist es nicht notwendig, Kants Philosophie zu vertiefen, weil Fichtes Wissenschaftslehre den wahren Weg repräsentiert, dem man folgen sollte: Objektivität und äußere Welt sind dabei uninteressant, stattdessen ist die »Subjektivität« 1 der Kern, auf den man sich konzentrieren sollte. 1 Vgl. K. Cramer (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990; W. Jaeschke, »Absolute Subject and Absolute Subjectivity in Hegel«, in: Figuring the Self. Subject, Absolute, and Others in Classical German Philosophy, hrsg. von David E. Klemm und Günter Zöller, Albany 1997, S. 193–205; C. Asmuth, »Anfang und Form der Philosophie. Überlegungen zu Fichte, Schelling und Hegel«, in: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Aus der Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) lässt sich Schellings metaphysische Interpretation der Fichteschen Wissenschaftslehre mit ihrer Unterscheidung von »bedingt« und »unbedingt« und der Beziehung zwischen diesen beiden Kategorien 2 herauslesen. Demzufolge ist das reine Ich das absolute Ich: nicht eine numerische Einheit des Individuums, sondern das unveränderliche Ein und Alles. Das Ich ist nicht das Bewusstsein, weder ein Gedanke noch eine Personalität, sondern es entspringt aus der Subjektivität. Laut Schelling ist Fichtes Freiheitsbegriff sowie sein Begriff der intellektuellen Anschauung sehr wichtig. Des Weiteren kann eine abgrenzende Bezugnahme auf die Philosophie Spinozas den metaphysischen Gedanken Schellings akzentuieren. Spinoza repräsentiert den Dogmatismus, weil er das Objekt, das Nicht-Ich als absolut darstellt. Fichte hingegen hebt durch den Vorrang der intellektuellen Anschauung nicht das absolute Objekt, sondern das absolute Subjekt hervor. In seinen Jugendwerken ist bereits absehbar, dass nicht nur in metaphysischen Interpretationen das Ich als absolutes erscheint, sondern auch neue Perspektiven hinzukommen, die den Schelling’schen Idealismus charakterisieren werden. Im Einzelnen wird Schelling versuchen, a) die Idee der Vollendung auf den Ebenen der absoluten Subjektivität Fichtes und in Spinozas Philosophie als deren Gegenpol zu beleuchten und gegeneinander abzuwägen und b) die Lücken von Fichtes System zu füllen bzw. dessen Grenzen zu präzisieren, die sich aus der Reduktion auf das reine Nicht-Ich ergeben; durch diese Reduktion verliert jegliche Identität ihr Spezifisches und ist so gut wie aufgehoben. Ab 1797 wertet Schelling somit die Natur auf und bemüht sich um Ergänzungen der Philosophie Fichtes. Jedoch kritisiert er Fichtes Wissenschaftslehre und definiert den Begriff des Idealismus neu.
Michael Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 403–417; vgl. T. Grundmann (Hrsg.), Anatomie der Subjektivität: Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 2 Zur semantischen Korrelation zwischen »bedingt« und »unbedingt« vgl. J. Jantzen, »Der Ausdruck des Unbedingten. Schellings Systementwürfe«, in: Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein: Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling, hrsg. von Jörg Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 1–35.
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Die Einheit von Geist und Natur
2.
Die Einheit von Geist und Natur. Die Bedeutung des »Urselbst«
Schelling geht von einer Einheit und Identität von Geist und Natur aus: »Das System der Natur ist das System des Geistes.« 3 Die zentrale Behauptung lautet: »Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven in unserem Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das Bewußte, diese als das Bewußtlose. Nun ist aber in jedem Wissen ein wechselseitiges Zusammentreffen beider (des Bewußten und des an sich Bewußtlosen) notwendig; die Aufgabe ist: dieses Zusammentreffen zu erklären.« 4 »Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven.« 5 Die Übereinstimmung, d. h. die Entsprechung zwischen subjektiven Vorstellungen und äußeren Objekten, bildet die Basis der wirklichen Erkenntnis. »Im Wissen selbst – indem ich weiß – ist Objektives und Subjektives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und eins.« 6 Natur und Geist sind eine innere und verbundene Einheit. Auf dieser Sichtweise gründet sich der Begriff des ursprünglichen Einen: das Urselbst oder das absolut Identische setzt sich als principium essendi et cognoscendi in Schellings transzendentalphilosophischem System durch. Das Urselbst ist die ursprüngliche Identität des Absoluten, das den universellen Grund seiner permanenten Harmonie in sich trägt. Aber was ist nun die Natur, wenn sie nicht das reine Nicht-Ich ist? Schelling denkt, dass dieses Problem gelöst werden kann, wenn man F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 53, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Werke, Bd. 2, Leipzig 1907, Erstdruck: Tübingen (Cotta) 1800. Der Text folgt dem Abdruck in Schellings Sämtlichen Werken, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart (Cotta) 1856–1861 (Originalausgabe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke [SW], hrsg. von K. F. A. Schelling, Bd. I– XIV [urspr. erschienen in 2 Abteilungen, 1. Abt.: Bd. 1–10 (I–X); 2. Abt.: Bd. 1–4 (X– XIV)], Stuttgart/Augsburg 1856–1861). 4 Ebd., S. 13. 5 Ebd. 6 Ebd. 3
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
eine Existenz annimmt, die in einer Einheit von Idealem und Realem, von Geist und Natur besteht. Wenn das Natursystem das System unseres Geistes ist, impliziert dies, dass man auf die Natur übertragen muss, was Fichte selbst mit Erfolg auf das Leben unseres Geistes angewendet hat. Laut Schelling müssen die gleichen Prinzipien, die den Geist beschreiben, auch der Natur angemessen sein. Wenn es so ist, dass die Natur die gleiche Intelligenz zum Ausdruck bringt, die das Ich definiert, dann ist es notwendig, jene reine Tätigkeit, die Fichte als Wesen des Ichs entdeckt hat, auf die Natur zu übertragen. Schelling kommt daher zu dem Entschluss, dass die Natur ein Produkt einer unbewussten Intelligenz ist, die sich, der internen Struktur dieser Intelligenz folgend, teleologisch weiterentwickelt, d. h. die nachfolgenden Ebenen konstituieren sich nach inneren und strukturierten Zwecken. Die Natur ist die totale Objektivität und zugleich vom formativen Impuls unserer Subjektivität durchwirkt. Sie ist Freiheit und Subjektivität in fieri. 7 Die Natur stellt die »Odyssee des Geistes« dar, der suchend in sich selbst flieht; sie ist die weltlich gewordene Idee zwischen Fortführung und Begrenzungen. Der Geist identifiziert sich mit dem Ich und der Philosophie, die sich mit dem transzendentalen Idealismus auseinandersetzt. Der Geist ist die lebende Intelligenz, und diese macht intellektuelle Anschauung möglich. Das Prinzip der Schelling’schen Naturphilosophie ist das folgende: Die Natur muss der sichtbare Geist sein, der Geist muss die unsichtbare Natur sein. Hier, in der absoluten Einheit des Geistes in uns und der Natur außerhalb von uns, ist das Problem gelöst, wie es möglich ist, eine Natur außerhalb von uns zu denken. Die Natur ist die »Odyssee des Geistes«.
Vgl. L. Hühn, »Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels«, in: Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794–1802, hrsg. von Jörg Jantzen, Thomas Kisser und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 25, Amsterdam/New York 2005, S. 93–111; vgl. J. F. Marquet, Liberté et existence. Étude sur la formation de la philosophie de Schelling, Paris: Cerf 2006.
7
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Natur als graduelle Erweiterung der unbewussten Intelligenz
3.
Natur als graduelle Erweiterung der unbewussten Intelligenz
Wenn der Geist und die Natur von denselben Prinzipien abstammen, muss sich in der Natur eine ähnlich sich ausbreitende, dynamische Kraft finden, die einer Schranke gegenübersteht, wie in Fichtes Begriff des Ichs. Aber der Widerstand dieser Schranke hält die um sich greifende Kraft nur augenblickshaft auf, da letztere kontinuierlich und dynamisch fortschreitet, um dann von der nächsten Schranke aufgehalten zu werden, usw. Jede Phase des Zusammentreffens von expansiver und limitierender Kraft entspricht der Entstehung einer Stufe der Natur, die so mit der Zeit immer reicher wird. Das erste Zusammentreffen von positiver, expansiver und negativer, begrenzender Kraft bringt die Materie hervor (die also ein dynamisches Produkt der Kräfte ist). Das Wiederaufnehmen der Expansion der unendlichen, positiven Kraft und das wiederholte Zusammentreffen mit der negativen, begrenzenden Kraft bringt den universalen Mechanismus, den allgemeinen dynamischen Prozess hervor. An diesem Punkt verwendet Schelling die wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit (mit denen er sich viel befasst hat), um die beweglichen Manifestationen der Kräfte, ihre Polaritäten und Gegensätze anhand des Magnetismus, der Elektrizität und des Chemismus nachzuweisen. Dieses Denkschema dient ihm auch dazu, die höchste organische Stufe der Natur zu erklären. Schelling beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Prinzipien der Empfindlichkeit und der Nachbildung, die den Wissenschaftlern seiner Zeit wichtig waren. Analog zu diesen Prinzipien stehen auf einer höheren Stufe, aber durch eine vergleichbare Dynamik charakterisiert, der Magnetismus, die Elektrizität und der Chemismus. Zusammenfassend kann man sagen, dass für Schelling die Natur auf einer einzigen und identischen Kraft (der unbewussten Intelligenz) basiert, die sich wie oben erklärt zusammensetzt und sich schrittweise auf immer höheren Stufen manifestiert, um schließlich zum Menschen zu gelangen, bei dem das Bewusstsein, die Intelligenz, zur Erkenntnis wird.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
4.
Die Weltseele und die Natur des Menschen. Leben als der »Atem des Universums«
Wie ist die Beziehung zwischen der Seele der Welt und der Natur des Menschen? Was ist der Sinn des Lebens? Welches ist der wichtigste Aspekt, der die Natur des Menschen ausmacht? Für die Beantwortung dieser Fragen sind einige Aussagen von Schelling von besonderer Bedeutung: Es gibt ein einheitliches Prinzip, das die anorganische und die organische Natur verbindet. Die einzelnen Dinge der Natur konstituieren die Glieder einer Kette des Lebens. Und jedes Glied ist für die gesamte Kette unabdingbar. Das Leben ist der »Atem des Universums«, die Materie ist erstarrter Geist. Das, was als nicht lebendig in der Natur erscheint, ist nur schlafendes Leben. 8 Es ist verständlich, dass Schelling das antike Konzept der Weltseele als Hypothese zur Erklärung des universellen Organismus wieder aufnehmen und populär machen konnte. Diese seit Platon prominente theoretische Figur ist nach Schelling nichts anderes als die unbewusste Intelligenz, die die Natur hervorbringt und trägt. Sie kommt jedoch erst durch die Geburt des Menschen zum Bewusstsein. Der Mensch, der Teil der Unendlichkeit des Kosmos ist, erscheint zwar aus physischer Sicht sehr klein, ist aber das letzte Ziel der Natur, weil sich in ihm der Geist manifestiert, der auf allen anderen Stufen der Natur verborgen bleibt. Auch in der Konstruktion des transzendentalen Idealismus legt Schelling wie in der Naturphilosophie den Schwerpunkt auf die Polarität der Kräfte und nimmt so das Prinzip von Fichte, wenn auch abgewandelt, wieder auf. Der Gedankengang Schellings ist folgender: Das Ich ist die ursprüngliche Tätigkeit, die unendlich ist. Es handelt sich um eine produktive Tätigkeit, die sich selbst zum Objekt wird (sie ist also selbstschöpferische intellektuelle Intuition). Aber die reine, unendliche Produktion des Ichs muss sich auch Schranken setzen, um nicht nur zu produzieren, sondern auch Produkt werden zu können. Die Tätigkeit des Ichs setzt nicht nur seiner Unendlichkeit eine Schranke, sondern überwindet diese auch Schritt für Schritt, um eine immer 8 Vgl. Th. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg: Meiner 1992; vgl. M. Blumentritt, Begriff und Metaphorik des Lebendigen. Schellings Metaphysik des Lebens 1792–1809, Würzburg 2007.
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Die Weltseele und die Natur des Menschen
höhere Stufe zu erreichen. Schelling nennt die Tätigkeit, die produziert, reelle Tätigkeit (weil sie produziert). Die ideelle Tätigkeit ist die, die sich ihrer selbst bewusst wird und an die Schranke stößt. Die beiden Tätigkeiten setzen sich wechselseitig voraus, und aus ihnen geht die Aktivität des Ichs hervor. Aus dieser Sicht erweitern sich jedoch die Horizonte der Wissenschaftslehre Fichtes. Der subjektive Idealismus wird zum Ideal-Realismus, wie Schelling erklärt: »Beide Tätigkeiten, ideelle und reelle, setzen sich wechselseitig voraus. Die reelle ursprünglich ins Unendliche strebende, aber zum Behuf des Selbstbewußtseins zu begrenzende Tätigkeit ist nichts ohne ideelle, für welche sie in ihrer Begrenztheit unendlich ist. Hinwiederum ist die ideelle Tätigkeit nichts, ohne anzuschauende, begrenzbare, eben deswegen reelle. Aus dieser wechselseitigen Voraussetzung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseins wird der ganze Mechanismus des Ich abzuleiten sein. So wie sich beide Tätigkeiten wechselseitig voraussetzen, so auch Idealismus und Realismus.« 9 In der theoretischen Philosophie wird, wie Schelling darstellt, »die Idealität der Schranke erklärt (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich nur für das freie Handeln existiert, Begrenztheit für das Wissen werde), die praktische Philosophie hat die Realität der Schranke (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich eine bloß subjektive ist, objektiv werde) zu erklären. Theoretische Philosophie also ist Idealismus, praktische Realismus, und nur beide zusammen das vollendete System des transzendentalen Idealismus. Wie sich Idealismus und Realismus wechselseitig voraussetzen, so theoretische und praktische Philosophie, und im Ich selbst ist ursprünglich Eins und verbunden, was wir zum Behuf des jetzt aufzustellenden Systems trennen müssen.« 10 Theoretische Philosophie und praktische Philosophie 11 bestimmen das System des transzendentalen Idealismus. Schelling stellt die Transzendentalphilosophie als drittes Moment dar, das sich qualitativ von der theoretischen und der praktischen PhilosoF. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 59. Ebd., S. 61. 11 Zur Korrelation zwischen der praktischen und theoretischen Philosophie und zur Analyse von Schellings Begründung der praktischen Philosophie vgl. J. Stolzenberg, »Autonomie. Zu Schellings Begründung der praktischen Philosophie im System des transzendentalen Idealismus von 1800«, in: System als Wirklichkeit: 200 Jahre Schellings System des transzendentalen Idealismus, hrsg. von Christian Danz, Claus Dierksmeier und Christian Seysen, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 6, Würzburg 2001, S. 41–55. 9
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
phie unterscheidet. Sie ist nämlich deren Synthese und beruht auf einer einheitlichen und ursprünglichen Tätigkeit, die der Grund der beiden anderen Momente des Systems ist.
5.
Schellings Naturphilosophie: »Natura naturans« und »Natura naturata«
Die Bindung der Naturphilosophie an die Transzendentalphilosophie bringt die Doppelung der Idee der Natur als Subjekt wie als Objekt notwendig mit sich. »Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).« 12 Die Terminologie der spinozistischen Substanzmetaphysik aufgreifend, nennt Schelling die Natur als bloßes Produkt »natura naturata«, die Natur als Produktivität »natura naturans«. Hier wird die Natur in einer Hinsicht als determiniertes System (natura naturata) konzipiert, in komplementärer Hinsicht hingegen als determinierendes System (natura naturans). Beide verhalten sich zueinander als Gesetztes (Bedingtes) und Setzendes (Unbedingtes). Der Unterschied zwischen Gesetztem und Setzendem ist also ein Selbstunterschied der Natur: Die Natur ist als »natura naturata« zugleich »natura naturans«, und sie wird als »natura naturans« zugleich als »natura naturata« gedacht. »Wir müssen, was Objekt ist«, schreibt Schelling, »in seinem ersten Ursprung erblicken. Vorerst also ist alles, was in der Natur ist, und die Natur, als Inbegriff des Seyns, selbst für uns gar nicht vorhanden. Über die Natur philosophieren heißt die Natur schaffen. Jede Thätigkeit aber erstirbt in ihrem Produkte, denn sie ging nur auf dieses Produkt. Die Natur als Produkt kennen wir also nicht. Wir kennen die Natur nur als thätig, denn philosophiren läßt sich über keinen Gegenstand, der nicht in Thätigkeit zu versetzen ist.« 13 Ein wichtiges Motiv der naturalistischen Strömungen wiederaufnehmend, fasst Schelling die Natur zugleich als »natura naturans« und »natura naturata«. Die Phänomene der Natur (natura naturata) F. W. J. Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft, SW III, 284. 13 F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, SW III, 13. 12
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Schellings Naturphilosophie: »Natura naturans« und »Natura naturata«
stellen die unaufhörliche Metamorphose der »natura naturans«, der ewigen Natur, dar, die in der Einheit mit ihrem Gegenteil, der ideellen Welt, das Absolute konstituiert. 14 Vor diesem Hintergrund ist die »natura naturata« das Symbol des Absoluten, weil sich in ihr das Absolute gleichzeitig verbirgt und manifestiert, indem sie sich im Endlichen äußert. Sie folgt einer Entwicklung, die immer höheren Formen entgegenstrebt, um schließlich das Bewusstsein zu erreichen. Aus genau diesem Grund kann die Naturphilosophie nicht von der Transzendentalphilosophie getrennt werden. Denn nur wenn die Einheit von Bewusstem und Unbewusstem erreicht wird, die das Absolute ausmacht, kann man den Lauf der Natur mit ihren flüchtigen und vielgestaltigen Elementen und ihre Funktion als Ursprung des Geistes verstehen. Die Natur ist für Schelling nicht die Summe von Dingen oder Gegenständen, sondern das Prinzip der Objektivität in unserem Vorstellen und Denken. In Anlehnung an Spinoza unterscheidet er zwischen »natura naturata« und »natura naturans« – der Natur als Produkt und als Produktivität. In seinem System des transzendentalen Idealismus entwickelt Schelling die Theorie der Komplementarität von Natur und Geist. Er erklärt Natur und Transzendentalphilosophie zu zwei gleichwertigen und gleichursprünglichen Grundwissenschaften der Philosophie. Schelling versucht die beiden Aspekte seines Ansatzes zu einem absoluten Identitätssystem zusammenzufassen. Der Differenz von Subjekt und Objekt gehe eine absolute Identität, eine »totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven« (SW IV 114) als Bedingung voraus. Diese ist für ihn in der absoluten Vernunft gegeben. Die absolute Vernunft ist für Schelling weder Subjekt noch Objekt; er bezeichnet sie auch als »Identität der Identität«. 15 Sie wird von ihm nicht nur in Ontologisch geht die »natura naturata« aus der »natura naturans« hervor, gnoseologisch entwickeln wir die Idee der »natura naturans« aus der Gegebenheit der »natura naturata«. Vgl. dazu W. Wieland, »Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur«, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hrsg. von M. Frank und G. Kurz, Frankfurt am Main 1975; vgl. H. H. Holz, »Der Begriff der Natur in Schellings spekulativem System. Zum Einfluß von Leibniz auf Schelling«, in: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings, hrsg. von H. J. Sandkühler, Frankfurt am Main 1984, S. 221. 15 Vgl. H. Folkers, »Zum Begriff des Individuums in der Identitätsphilosophie Schellings«, in: Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens, Bd. 2, hrsg. von Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 403–409; vgl. B. Rang, Identität und Indifferenz: eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie, Frankfurt am Main 2000. 14
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
einem epistemologischen Sinne als absolut gesetzt, sondern auch in einem ontologischen Sinne als »das Absolute« betrachtet: »Alles, was ist, ist die absolute Identität selbst« (SW IV 119). Im Unterschied zum reflektierenden Verstand ist die absolute Vernunft die »absolute Erkenntnisart«. Sie ermöglicht es, in der intellektuellen Anschauung das Allgemeine im Besonderen bzw. das Unendliche im Endlichen »zur lebendigen Einheit vereinigt zu sehen« (SW IV 361 f.). »Die absolute, in Ideen gegründete Wissenschaft der Natur (die Naturphilosophie)«, beobachtet Schelling, »ist demnach das Erste und die Bedingung, unter welcher zuerst die empirische Naturlehre an die Stelle ihres blinden Umherschweifens ein methodisches, auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes Verfahren setzen kann. Denn die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß ein solches Konstruiren der Erscheinungen durch das Experiment, als wir gefordert haben, jederzeit nur in einzelnen Fällen wie durch Instinkt geleistet worden ist, daß also, um diese Methode der Naturforschung allgemein geltend zu machen, selbst das Vorbild der Construktion in einer absoluten Wissenschaft erfordert wird. […] Wissenschaft der Natur ist an sich selbst schon Erhebung über die einzelnen Erscheinungen und Produkte zur Idee dessen, worin sie eins sind und aus dem sie als gemeinschaftlichem Quell hervorgehen. Auch die Empirie hat doch eine dunkle Vorstellung von der Natur als einem Ganzen, worin Eines durch Alles und Alles durch Eines bestimmt ist. Es hilft also nicht, das Einzelne zu kennen, wenn man das Ganze nicht weiß. Aber eben der Punkt, in welchem Einheit und Allheit selbst eines sind, wird nur durch Philosophie erkannt, oder vielmehr die Erkenntniß von ihm ist die Philosophie selbst.« 16
6.
Die transzendentale Begründung der Naturphilosophie
In seinem ersten der Natur gewidmeten Werk, den Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), geht es Schelling um die Frage nach der »Möglichkeit einer Natur« 17 überhaupt. Wie ist Natur überhaupt möglich? WelF. W. J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, SW V, S. 323 f. 17 F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), SW II, S. 11. 16
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Die transzendentale Begründung der Naturphilosophie
ches ist die Funktion und was ist das Ziel der Naturphilosophie Schellings? Warum nimmt die Naturphilosophie einen so besonderen Platz in seinem transzendentalen Idealismus ein? Das Zustandekommen dieser Frage selbst ist für ihn das Ergebnis einer ursprünglichen Trennung, einer Entzweiung von Mensch und Natur, mit der wesentlich die Entstehung der menschlichen Freiheit verbunden ist. 18 Nach dem in der Aufklärung beliebten Modell postuliert Schelling die Wiedergewinnung der verlorenen ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur durch die Freiheit. Schelling stellt sich die Frage, wie ein Ding eine Wirkung auf ein freies Wesen haben kann, das selbst nicht Ding ist. Das System der Natur könne nicht mechanizistisch erklärt werden, denn der lebendige Organismus ist nicht Ursache oder Wirkung eines Dings außerhalb seiner selbst, sondern er »produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst« 19 in einer Bewegung, die stets zu sich selbst zurückkehrt. Wie für Kant ist es auch für Schelling die Charakteristik des lebenden Organismus, 20 Ursache und Wirkung seiner selbst zu sein, notwendige Wechselwirkung zwischen Teilen und Ganzem; das Leben »organisiert sich selbst, d. h. es gründet sich auf einen Begriff«. 21 Die Natur ist eine »Odyssee des Geistes«, und indem sie sich sucht, flieht sie vor sich selbst, während sie in Wirklichkeit jene ideelle Welt ist, die zwischen fortwährenden Schranken liegt. Die Naturphilosophie ist ein Teil des zweiteiligen Systems, dessen anderer Teil die Philosophie des Geistes ist. Schelling geht vom Objektiven aus, um zur Subjektivität und zur Freiheit zu gelangen. Mit der Schrift Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft beginnt die eigentliche Naturphilosophie Schellings. In dieser Schrift formuliert Schelling sowohl einen grundsätzlichen programmatischen Entwurf der Naturphilosophie als auch die Idee der Naturphilosophie 22 im Allgemeinen. Ebd., SW II, S. 12. Ebd., SW II, S. 40. 20 Vgl. M. Boenke, Transformation des Realitätsbegriffs. Untersuchungen zur frühen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 und vgl. K. Gloy, »Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling«, in: Realität und Gewißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 6, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 253–275. 21 F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797), SW II, S. 41. 22 Vgl. M. Rudolphi, Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001. 18 19
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
In der Vorrede der Ideen zu einer Philosophie der Natur drückt er seine Intention aus: »Mein Zweck (ist) nicht […], Philosophie auf Naturlehre anzuwenden. Mein Zweck ist vielmehr, die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anders als Naturwissenschaft. Es ist wahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik die Sylben, Mathematik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, daß es der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.« 23 In der Vorrede der Ideen spricht Schelling auch von dem vorläufigen Charakter der Naturphilosophie: »Was aber die Ausführung betrifft, so sagt der Titel schon, daß diese Schrift kein wissenschaftliches System, sondern nur Ideen zu einer Philosophie der Natur enthält. Man kann sie als eine Reihe einzelner Abhandlungen über diesen Gegenstand betrachten.« 24 In der Schrift Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft 25 geht Schelling genauer auf das Verhältnis von Transzendental- und Naturphilosophie ein. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ihre Komplementarität: 26 Nach Schelling sind sie zwei mögliche und notwendige Gestaltungsformen ein und desselben identischen Prinzips. »Wenn es nun Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist, das Reelle dem Ideellen unterzuordnen, so ist es dagegen Aufgabe der Naturphilosophie, das Ideelle aus dem Reellen zu erklären: beide Wissenschaften sind also Eine, nur durch die entgegengesetzten Richtungen ihrer Aufgaben sich unterscheidende Wissenschaft; da ferner beide Richtungen nicht nur gleich möglich, sondern gleich nothwendig sind, so kommt auch beiden im System des Wissens glei-
F. W. J. Schelling, Ideen, SW II, S. 6. Ebd., SW II, S. 4. 25 In Bezug auf »spekulative Physik« in Schellings Naturphilosophie vgl. H. Poser, »Spekulative Physik und Erfahrung. Zum Verhältnis von Experiment und Theorie in Schellings Naturphilosophie«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hrsg. von Ludwig Hasler, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 129–138. 26 Vgl. D. Engelhardt, »Prinzipien und Ziele der Naturphilosophie Schellings. Situation um 1800 und spätere Wirkungsgeschichte«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hrsg. von Ludwig Hasler, StuttgartBad Cannstatt 1981, S. 77–98; vgl M. L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986. 23 24
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Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
che Nothwendigkeit zu«. 27 Transzendental- und Naturphilosophie sind Modifikationen der unbedingten Produktivität, die Schelling für das identische Prinzip hält: Die Transzendentalphilosophie ist bewusste und freie Produktivität des Geistes, dagegen ist die Naturphilosophie bewusstlose und blinde Produktivität der Natur. Ihre Einheit besteht im identischen Prinzip der unbedingten Produktivität, ihre Differenz besteht in den jeweiligen Modi und Richtungen der Produktivität.
7.
Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie in Von der Weltseele
Die Naturphilosophie Schellings nimmt die Natur zum Ausgangspunkt, um zum Geist zu gelangen. Im Unterschied zu Fichte hat bei Schelling die Natur ein eigenständiges Wesen, ohne jedoch als Mechanismus, der im Kontrast zum Geist steht, betrachtet zu werden. Die Natur ist hingegen ein lebendiger Organismus, der von der allumfassenden »Weltseele« platonischen Ursprungs getragen wird. Die Einheit der Natur ist nicht statisch, sondern dynamisch: Es handelt sich um eine Einheit von Gegensätzen. Im Jahre 1798 legt Schelling das Werk Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Nebst einer Abhandlung über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts vor. Schelling beschreibt hier die Natur als das Ergebnis zweier entgegengesetzter Kräfte. Es gibt eine positive Kraft der Natur, die Bewegung hervorruft und erhält, und eine negative Kraft, die alle Erscheinungen »in den ewigen Kreislauf zurückdrängt«. 28 Diese beiden einander entgegengesetzten Kräfte stellen für Schelling eine Einheit dar. In der Natur besteht eine ursprüngliche Anlage zur Organisation, ohne die es keinerlei Kohäsion, sondern nur formlose Materie gäbe. 29 Sie zeigt sich als »allgemeine Bildungskraft«, 30 die jedem lebendigen Organismus zugrunde liegt. 27 28 29 30
Einl. Entwurf, SW III 272 f. F. W. J. Schelling, Weltseele, SW II, S. 381. Ebd., SW II, S. 565. Ebd., SW II, S. 566.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
In Von der Weltseele wird die Natur vor allem als Tätigkeit, kreative Spontaneität und Erzeugerin von Formen und Ereignissen erläutert, die sich durch unendliche und unaufhörliche Dynamik auszeichnet. Aber wie äußert sich und auf was basiert diese dynamische Tatkraft der Natur? Sie äußert und manifestiert sich in einer Polarität von entgegengesetzten Kräften: der negativen Kraft (Repulsion; Abstoßung) und der positiven Kraft (Anziehung). Aus beiden resultiert die Geschichte der Natur, die drei Stufen, drei reelle Kräfte aufweist: Die erste Stufe ist die Stufe der Materie oder der Realität. Es handelt sich um die unorganische Stufe: Magnetismus, Elektrizität und Chemismus. In diesem Zusammenhang nutzt Schelling die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit von Galvani, Volta und Lavoisier, um eine »spekulative Physik« auszuarbeiten. 31 Die zweite Stufe ist die Stufe des Lichts; dieses ist die Manifestation oder Emanation der Natur als Idealität. Die dritte Stufe ist die Stufe des Organismus oder der Einheit, die Synthese von Realität und Idealität, an deren Spitze der Mensch steht. Die Charakteristiken (Polarität, Finalität, Einheit und Totalität) der Natur gründen auf der Weltseele, die den Organismus vereinheitlicht; durch diese Stufen wird die Natur sich im Menschen ihrer selbst bewusst. Die Naturphilosophie geht von der Objektivität aus und durchläuft die natürlichen Zustände. Sie verweist auf die Erscheinung des Menschen und auf die Manifestation der Vernunft, die jede Stufe der Realität begründet. Die Transzendentalphilosophie ist zur Naturphilosophie komplementär und befasst sich nicht nur mit der beobachtenden Vernunft und der Philosophie, die im weitesten Sinne abstrakt und spekulativ ist, sondern auch mit dem Selbstbewusstsein und mit der Vernunft, die im Leben verwurzelt ist. Die Subjektivität wird sich, indem sie sich selbst bestimmt, schrittweise ihrer Produktivität bewusst. Beide, Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie, heben hervor, dass das Wissen seinen Inhalt selbst produziert. Erstere zeigt, dass die lebendige Realität ein empfindsamer Organismus ist, der auch sein eigenes Abbild hervorbringt, also das Wissen von sich selbst. Letztere, die Transzendentalphilosophie, macht die Selbstrealisierung des Geistes in der
Vgl. R. Lauth, »Die Genese von Schellings Konzeption einer rein aprioristischen spekulativen Physik und Metaphysik aus der Auseinandersetzung mit Le Sages spekulativer Mechanik«, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 76; vgl. B. O. Küppers, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt am Main 1992, S. 73. 31
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Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Erschaffung des natürlichen Lebens sichtbar, welches sich nach einem bestimmten Gesetz behauptet. Im Unterschied zur Naturphilosophie geht das System des transzendentalen Idealismus vom Geist aus, um zur Natur zu gelangen. Aus dieser Sicht ist die erste sichere Tatsache das Ich. Das Problem ist, zu wissen, wie man vom Ich zur Natur gelangt; und wie es möglich ist, zum »Nicht-Ich« 32 Fichtes zu gelangen. Vor diesem Horizont bemerkt man den Einfluss Fichtes auf Schellings Begründung, warum das Ich etwas, was außer ihm liegt, produziert und warum der Geist sich in der Natur manifestiert. Der Grund ist, dass sich der Geist nur in der Endlichkeit der Natur realisiert. In diesem Zusammenhang unterscheidet Schelling auf synthetische Art und Weise zwei Tätigkeiten des Ichs: eine reelle und eine ideelle Tätigkeit. Die reelle Tätigkeit basiert auf der Anschauung und ist durch eine Anschauung charakterisiert, die aktiv, aber unbewusst ist. Das Ich bringt mit ihr das endliche Objekt hervor (analog zur produktiven Vorstellung von Fichte). Die ideelle Tätigkeit liegt in der Reflexion der bewussten Tätigkeit des Objekts, mit der unsere Subjektivität das Objekt außerhalb der Schranken des subjektiven Ichs schrittweise als andersartig entdeckt. Diese Reflexion muss, um das Bewusstsein der Identität von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Ideellem und Realem, Bewusstem und Unbewusstem zu erlangen, mehrere Stufen durchlaufen: von der untersten, der Empfindung, die durch Vielfältigkeit und Passivität gekennzeichnet ist, über die Intelligenz, die durch ihre Einheit und Tätigkeit eine höhere Stufe bildet, bis zur ästhetischen intellektuellen Anschauung, der höchsten Stufe, die absolute Spontaneität in der Einheit bedeutet. 33 Aus dieser Perspektive ist das Wissen der transzendentalen Philosophie ein Wissen, das sich jener Produktivität des Geistes bewusst ist. Es ist in der intellektuellen Anschauung begründet. »Wenn es also eine Transzendental-Philosophie gibt, so bleibt ihr nur die entgegengesetzte Richtung übrig, vom Subjektiven als vom Ersten und AbsoVgl. I. Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt am Main: Klostermann 1973; R. Lauth, Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre, Freiburg/München: Alber 1975; vgl. J. Hennigfeld, »Schellings Identitätssystem von 1801 und Fichtes Wissenschaftslehre«, in: Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 12, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 235–246. 33 Vgl. W. G. Jacobs, »Schelling im Deutschen Idealismus. Interaktionen und Kontroversen«, in: Schelling, hrsg. von H. J. Sandkühler, Stuttgart/Weimar 1998. 32
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
luten auszugehen und das Objektive aus ihm entstehen zu lassen. In die beiden möglichen Richtungen der Philosophie haben sich also Natur- und Transzendental-Philosophie geteilt, und wenn alle Philosophie darauf ausgehen muß, entweder aus der Natur eine Intelligenz, oder aus der Intelligenz eine Natur zu machen, so ist Transzendental-Philosophie, welche diese letztere Aufgabe hat, die andere notwendige Grundwissenschaft der Philosophie.« 34
8.
Der Begriff des Transzendentalen in Schellings Idealismus. Von der Notwendigkeit und Beschaffenheit eines höchsten Prinzips des Wissens
Als Schelling im Winter 1799/1800 das System verfasste – er war 25 Jahre alt –, hatte er schon eine bemerkenswerte philosophische Produktion hinter sich: Man denke nur an die Texte Vom Ich, die Philosophischen Briefe, die Ideen und die Weltseele, die Goethe, Novalis und Schlegel zu Fragen, Diskussionen und Beobachtungen veranlassten und eine Auseinandersetzung mit den neuesten philosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Theorien der Zeit beinhalteten. »Das transzendentale Wissen ist ein Wissen des Wissens, insofern es rein subjektiv ist.« 35 Mit diesen Worten definiert Schelling das transzendentale Wissen in der Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus. Was bedeutet das Wissen des Wissens? Vor welchem semantischen Horizont ist es möglich, ein Wissen des Wissens zu definieren und zu postulieren? Welche Funktion und welche Bedeutung hat das Transzendentale im Idealismus 36 Schellings? Warum ist es in seinem Idealismus so wichtig? Im ersten Abschnitt (Von der Notwendigkeit und Beschaffenheit eines höchsten Prinzips des Wissens) des ersten Hauptabschnitts (Vom Prinzip des transzendentalen Idealismus) analysiert Schelling das Konzept »Wissen des Wissens« und stellt eine philosophischF. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 16. Ebd., S. 19. 36 Vgl. B. Sandkaulen, »Was heißt Idealismus? Natur- und Transzendentalphilosophie im Übergang zur Identitätsphilosophie. Schellings Systemskizze vom 19. 11. 1800«, in: Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794– 1802, hrsg. von Jörg Jantzen, Thomas Kisser und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 25, Amsterdam/New York 2005, S. 57–69. 34 35
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Der Begriff des Transzendentalen in Schellings Idealismus
semantische Verbindung zwischen dem Transzendentalen, dem »Wissen des Wissens« und der Bestimmung eines höchsten Prinzips des Wissen her. »Nun ist aber offenbar, dass, wenn es nicht eine absolute Grenze des Wissens – etwas gäbe, das uns, selbst ohne daß wir uns seiner bewußt sind, im Wissen absolut fesselt und bindet und das uns, indem wir wissen, nicht einmal zum Objekt wird, eben deswegen, weil es Prinzip alles Wissens ist – daß es alsdann überhaupt nie zu einem Wissen, nicht einmal zu einem Einzelnen kommen könnte.« 37 Laut Schelling setzt »das eigentliche Wissen ein Zusammentreffen von Entgegengesetztem voraus, dessen Zusammentreffen nur ein Vermitteltes sein kann. Es muß also etwas allgemein Vermittelndes in unserem Wissen geben, was einziger Grund des Wissens ist.« 38 Da jedes wahre System den Grund seines Bestehens in sich selbst haben muss, so muss, wenn es ein System des Wissens gibt, das »Prinzip desselben innerhalb des Wissens selbst liegen«. 39 Dieses Prinzip ist »mittelbar oder indirekt Prinzip jeder Wissenschaft, aber unmittelbar und direkt nur Prinzip der Wissenschaft alles Wissens, oder der Transzendental-Philosophie. Durch die Aufgabe, eine Wissenschaft des Wissens, d. h. eine solche, welche das Subjektive zum Ersten und Höchsten macht, aufzustellen, wird man also unmittelbar auf ein höchstes Prinzip alles Wissens getrieben.« 40 Worin besteht dieses höchste Prinzip des Wissens? Wie kann man es bestimmen? Mittels welcher Methode kann die Transzendentalphilosophie das höchste Prinzip des Wissens definieren? Der »Transzendental-Philosoph fragt nicht: welcher letzte Grund unseres Wissens mag außer demselben liegen, sondern: was ist das Letzte in unserem Wissen selbst, über das wir nicht hinauskönnen. Er sucht das Prinzip des Wissens innerhalb des Wissens (es ist also selbst etwas, das gewußt werden kann). Die Behauptung, es gibt ein höchstes Prinzip des Wissens, ist nicht wie die, es gibt ein absolutes Prinzip des Seins, eine positive, sondern eine negative, einschränkende Behauptung, in der nur so viel liegt: es gibt irgendein Letztes, von welchem alles Wissen sich anfängt, und jenseits dessen kein Wissen ist. Da der Transzendental-Philosoph überall nur das 37 38 39 40
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 28. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 28.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Subjektive sich zu m Objekt macht, so behauptet er auch nur, daß es subjektiv, das heißt, daß es für uns irgend ein erstes Wissen gebe; ob es, abstrahiert von uns, jenseits dieses ersten Wissens noch überhaupt etwas gebe, kümmert ihn vorerst gar nicht, und darüber muß die Folge entscheiden.« 41 Dieses »erste Wissen ist für uns nun ohne Zweifel das Wissen von uns selbst oder das Selbstbewußtsein. Wenn der Idealist dieses Wissen zum Prinzip der Philosophie macht, so ist dies der Beschränktheit seiner ganzen Aufgabe gemäß, die außer dem Subjektiven des Wissens nichts zum Objekt hat. Daß das Selbstbewußtsein der feste Punkt sei, an den für uns alles geknüpft ist, bedarf keines Beweises.« 42 Vor diesem Hintergrund ist die Transzendentalphilosophie »nichts anderes als ein beständiges Potenzieren des Ichs; ihre ganze Methode besteht darin, das Ich von einer Stufe der Selbstanschauung zur anderen bis dahin zu führen, wo es mit allen den Bestimmungen gesetzt wird, die im freien und bewußten Akt des Selbstbewußtseins enthalten sind«. 43
9.
Was heißt anschauen? Empirische Anschauung und intellektuelle Anschauung
Schelling kritisiert sowohl das theoretische Wissen als auch das praktische. Die Philosophie kann nicht auf einer theoretischen oder praktischen Vernunft gründen, da beide den Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Die Philosophie geht aus der Reflexion hervor, aus der Entzweiung vom Absoluten als ursprünglicher Identität. 44 Wenn aber keine Form von Reflexion ein Organon der Philosophie sein kann, ist es notwendig, einen neuen Horizont für die Philosophie zu finden. Dieser Horizont basiert auf einer subjektiven Tätigkeit, die zugleich rezeptiv und produktiv ist. Das Wissen muss ein unmittelbares sein, qualitativ frei, und es soll sich grundsätzlich von dem theoretischen Wissen unterscheiden, das nicht frei Ebd., S. 29. Ebd. 43 Ebd., S. 124. 44 Zur Analyse der Identitätsphilosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus vgl. X. Tilliette, »Schelling an der Furt der Identitätsphilosophie«, in: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, hrsg. von Albert Mues, Hamburg 1989, S. 396–407. 41 42
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Was heißt anschauen?
ist, weil es von den individuellen Darstellungen der Objekte abhängt. Um frei zu sein, muss das Wissen sein eigenes Objekt hervorbringen, also eine perfekte Identität von Sein und Darstellung realisieren; es muss eine Form der Anschauung sein. Aber was versteht man unter Anschauung? Was bedeutet anschauen? Warum hat die Anschauung eine solch besondere Funktion in der Philosophie Schellings? Unter Anschauung versteht Schelling ein Wissen, das auf der Unmittelbarkeit und der Simultaneität des intellektuellen und intuitiven Aktes beruht. Dieser Akt bedarf keiner Demonstration, die ihm auch nicht möglich ist, weil jede Demonstration eine Intuition voraussetzt und etwas unmittelbar Gegebenes beinhaltet. Das Organon der Philosophie kann nicht irgendeine Anschauung sein, sondern sollte sich eindeutig von der empirischen Anschauung unterscheiden. Letztere bringt nämlich, wie die Erfahrung zeigt, ihr eigenes Objekt nicht hervor, sondern setzt es vielmehr voraus. Es muss also eine intellektuelle Anschauung sein, in der das Anschauen und die Intuition zusammenfallen. Die Tätigkeit des Bewusstseins erfährt sich im eigenen Handeln und realisiert so tatsächlich das Selbstbewusstsein. Weil die intellektuelle Anschauung den Akt des Selbstbewusstseins, 45 der die Entwicklung des Ichs beinhaltet, zum Ausdruck und zur Geltung bringt, ist sie der Angelpunkt, der den Grund und die Voraussetzung des transzendentalen Idealismus bildet. Vor diesem Hintergrund ist Schelling der kantischen Definition der Anschauung gegenüber sehr kritisch. Nach Kant ist die Anschauung die Vorstellung, die als eine wirkliche Erkenntnis mit der Erfahrung verbunden ist, in der das Objekt gegeben ist. Kant stellt die Anschauung dem Denken einerseits, dem bloßen Empfinden anderseits gegenüber. Die Anschauung ist für Kant ein Zustand der Rezeptivität des Bewusstseins: »intuitus nempe mentis nostrae semper est passivus.« 46 Die Anschauung ist »eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar Zur Korrelation zwischen der intellektuellen Anschauung und dem Akt des Selbstbewusstseins vgl. G. Römpp, »Sich-Wissen als Argument. Zum Problem der Theoretizität des Selbstbewusstseins in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Kant-Studien 80 (1989), S. 303–323; vgl. D. Sturma, »Grund und Grenze. Erträge der idealistischen und analytischen Philosophie des Selbstbewusstseins«, in: Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 3, Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 38–58. 46 I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, I, § 10. 45
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
von der Gegenwart des Gegenstandes abhängen würde«, 47 mithin eine »Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann«. 48 Sie enthält nur die Art, »wie wir von Gegenständen affiziert werden«, beruht auf Affektion. Anschauung und Begriff sind »ganz verschiedene Vorstellungsarten, und erstere ist nicht eine verworrene Erkenntnis.« 49 »Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne vermögen nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 50 Die Anschauung muss, um Erkenntnis zu verschaffen, erst kategorial verarbeitet werden. Empirisch ist sie, wenn »Empfindung darin enthalten ist« oder wenn sie sich »auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht«. Die reine Anschauung enthält »lediglich die Form, unter welcher etwas vorgestellt wird«, sie ist eins mit der Anschauungsform, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet. In diesem semantischen Horizont unterscheidet Kant die empirische von der intellektuellen Anschauung. Die empirische Anschauung ist die eines endlichen und begrenzten denkenden Seins, dem das Objekt den reinen Formen der Rezeptivität des Subjekts entsprechend gegeben ist. Kant versteht unter intellektueller Anschauung eine schöpferische, Objekte setzende (nicht bloß nachbildende) Intuition. »Divinus autem intuitus, qui obiectorum est principium, non principatum, cum sit independens, est archetypus et propterea perfecte intellectualis.« 51 Die intellektuelle Anschauung ist hingegen ursprünglich und kreativ. Das Objekt existiert für sie, ist für sie geschaffen worden; es ist vom Schöpfer, von Gott, gegeben worden. Die intellektuelle Anschauung ist, mit anderen Worten, die göttliche Anschauung der traditionellen Philosophie. Die Präsenz des Objektes ist in dieser Anschauung unvermeidbar, weil das Objekt von der Anschauung selbst geschaffen wurde. Diese kantische Unterscheidung wurde in der Romantik beibehalten; jedoch nur mit dem Ziel, die intellektuelle oder kreative Anschauung auf den Menschen statt, wie in der Antike, auf Gott zurückzuführen. Die menschliche Erkenntnis ist
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I. Kant, Prolegomena, § 8. I. Kant, KrV, B 132. I. Kant, Fortschritte der Metaphysik, S. 120. I. Kant, KrV, B 76. I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, II, § 10.
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Was heißt anschauen?
für die Romantiker dieselbe Art von Erkenntnis, durch die der absolute Geist oder der Schöpfer sich selbst erkennt oder in der er ein Aspekt oder ein Moment ist. Im Unterschied zu Kant vertritt Schelling die Auffassung, dass die Transzendentalphilosophie immer von der intellektuellen Anschauung begleitet sein muss und dass das Ich eine fortlaufende intellektuelle Anschauung ist, weil es sich selbst erschafft. Schelling zufolge ist Philosophie ohne intellektuelle Anschauung nicht möglich. »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige anzuschauen; diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben.« 52 Diese intellektuelle Anschauung ist das Vermögen, »gewisse Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzuschauen, so daß das Produzieren des Objekts und das Anschauen selbst absolut eins ist«. 53 Sie ist »der Punkt, wo das Wissen und das Absolute und das Absolute selbst eins sind«. 54 Aus dieser Perspektive ist die intellektuelle Anschauung 55 nach Schelling die Transformation der Subjektivität in eine höhere Tätigkeits- und Wissensform, in der das Bewusste und das Unbewusste sich decken und die Kontraposition von Subjekt und Objekt aufgehoben wird. Die Existenz der Anschauung ist die Garantie, dass die Philosophie ihre Aufgabe erfüllen kann. »Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Prinzip, das als das absolute Prinzip auch zugleich das schlechthin Identische ist. Ein absolut Einfaches, Identisches läßt sich nicht durch Beschreibung, überhaupt nicht durch Begriffe auffassen oder mitteilen. Es kann nur angeschaut werden. Eine solche Anschauung ist das Organon aller Philosophie. Aber diese Anschauung, die nicht eine sinnliche, sondern eine intellektuel-
F. W. J. Schelling, Briefe über Dogmatismus und Kritizismus, I, S. 318. F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 43. 54 F. W. J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, IV, S. 361. 55 Vgl. S. Peetz, »Voraussetzung und Status der intellektuellen Anschauung in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: System als Wirklichkeit: 200 Jahre Schellings System des transzendentalen Idealismus, hrsg. von Christian Danz, Claus Dierksmeier und Christian Seysen, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 6, Würzburg 2001, S. 23–39. 52 53
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
le ist, die nicht das Objektive oder das Subjektive, sondern das absolut Identische, an sich weder Subjektive noch Objektive, zum Gegenstand hat, ist selbst bloß eine innere, die für sich selbst nicht wieder objektiv werden kann: sie kann objektiv werden nur durch eine zweite Anschauung. Diese zweite Anschauung ist die ästhetische.« 56 Aber wie kann man nachweisen, dass die ästhetische Anschauung wirklich existiert und dass sie kein unbeweisbares Postulat ist? Gerade dieses Problem bringt Schelling dazu, eine tiefe Bindung zwischen Kunst und Philosophie einzuführen: Die Kunst bildet mit ihrer Essenz und Reinheit den Höhepunkt des Lebens des Geistes.
10. Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung in Schellings System des transzendentalen Idealismus Im System des transzendentalen Idealismus legt Schelling dar, dass die Kunst das einzige wahre und ewige Organon der Philosophie ist. »Die Kunst ist das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produzieren und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten.« 57 Vor diesem Horizont bildet sich eine tiefe Verbindung zwischen Kunst und Philosophie. Die Kunst ist der Höhepunkt des Lebens des Geistes, weil nur das Kunstwerk das konkrete, äußerliche und reale Zeugnis der Möglichkeit ist, den Dualismus von Geist und Natur zu überwinden. Das erste Ziel der intellektuellen Anschauung 58 ist es, die Geschichte des Selbstbewusstseins zu rekonstruieren, in deren Verlauf die intellektuelle Anschauung die volle Übereinstimmung von bewusst und unbewusst, von Subjekt und Objekt, von Freiheit und Notwendigkeit realisiert. Die Tätigkeit der intellektuellen Anschauung ist nur dem Genie möglich, das beim Hervorbringen eines Kunstwerks einen Sinn für die unendliche Harmonie hat. Die Schön-
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 299. Ebd., S. 301. 58 Vgl. M. Vater, »Intellectual Intuition in Schelling’s Philosophy of Identity 1801– 1804«, in: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und Michael Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 213–234. 56 57
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Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung
heit macht mit ihrer ursprünglichen Reinheit den Charakter eines vollendeten Werks aus, in dem das Unendliche ausgedrückt wird. In diesem Zusammenhang unterscheidet Schelling drei grundlegende Bedeutungen von Anschauung: a) die produktive Anschauung; b) die intellektuelle Anschauung; c) die ästhetische Anschauung. In der theoretischen Philosophie ist die produktive Anschauung die Tätigkeit, die den fortwährenden Zustand der Expansion und der Kontraktion des Ichs bewirkt; dessen Bedingung der Möglichkeit ist die absolute Kontraktion. Im Gegensatz hierzu ist die intellektuelle Anschauung, indem sie den Akt des Selbstbewusstseins, der das Ich hervorbringt, repräsentiert, die Grundlage und Voraussetzung des transzendentalen Idealismus. 59 Das Selbstbewusstsein ist der Grund des gesamten philosophischen Systems. Es ist der absolute Akt, durch den jedes Ding dem Ich gegeben ist. Seine fortlaufende Geschichte ist mit der Geschichte der Philosophie identisch. Aus dieser Perspektive ist die ästhetische Anschauung die objektiv gewordene intellektuelle Anschauung, und dies erlaubt es der Kunst, das Organon der Philosophie zu sein. Wenn die ästhetische Anschauung nicht als eine transzendentale Anschauung, die objektiv geworden ist, angesehen wird, versteht es sich von selbst, dass die Kunst das einzige und ewige Organon der Philosophie ist. Nur sie bezeugt das, was die Philosophie nicht nach außen repräsentieren kann, nämlich das Unbewusste im Erschaffen und Hervorbringen und dessen ursprüngliche Identität mit dem Bewussten. »Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß. Die Ansicht, welche der Philosoph von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber Vgl. H. M. Baumgartner, »Der spekulative Ansatz in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807), hrsg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1993, S. 127–143; vgl. Perspektiven der Tranzendentalphilosophie im Anschluß an die Philosophie Kants, hrsg. von André Giorgi und Reinhard Hiltscher, Freiburg/München: Alber 2002, S. 55.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten. Jedes herrliche Gemälde entsteht dadurch gleichsam, daß die unsichtbare Scheidewand aufgehoben wird, welche die wirkliche und idealische Welt trennt, und ist nur die Öffnung, durch welche jene Gestalten und Gegenden der Phantasiewelt, welche durch die wirkliche nur unvollkommen hindurchschimmert, völlig hervortreten. Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Philosophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen erscheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existiert.« 60 Schelling zufolge ist ein System vollendet, wenn es auf sein Anfangsstadium zurückgeführt worden ist. »Ein System ist vollendet, wenn es in seinen Anfangspunkt zurückgeführt ist. Aber eben dies ist der Fall mit unserem System. Denn eben jener ursprüngliche Grund aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven, welcher in seiner ursprünglichen Identität nur durch die intellektuelle Anschauung dargestellt werden konnte, ist es, welcher durch das Kunstwerk aus dem Subjektiven völlig herausgebracht und ganz objektiv geworden ist, dergestalt, daß wir unser Objekt, das Ich selbst, allmählich bis auf den Punkt geführt, auf welchem wir selbst standen, als wir anfingen zu philosophieren.« 61
11. Kunst und Philosophie über die Grenzen der Vernunft: Philosophie der Kunst und Philosophie der Offenbarung Die Kunst ist der Schlüssel des gesamten transzendentalen Idealismus von Schelling. Die Kunst bringt die Wahrheit, die absolute Identität von Bewusstem und Unbewusstem, von Freiheit und Notwendigkeit hervor. Die Kunst ist für den Philosophen das Höchste, das Tiefste und das Erhabenste in der menschlichen Erkenntnis. »Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie
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Kunst und Philosophie über die Grenzen der Vernunft
im Denken, ewig sich fliehen muß.« 62 Mit dieser Bedeutungszuschreibung wird die Überlegenheit der Kunst gegenüber der theoretischen und praktischen Philosophie klargestellt und ihre Funktion der Transzendentalphilosophie gegenüber bestimmt: nämlich über die Schranken der Vernunft hinauszugehen. In der theoretischen Philosophie erscheinen die Objekte als unveränderlich, und auch die Vorstellungen scheinen von ihnen bestimmt zu sein. Die Welt erscheint als wohlbestimmtes Außen. In der praktischen Philosophie hingegen erscheinen die Objekte durch unsere Subjektivität als veränderlich. Es handelt sich also um einen Widerspruch (wenigstens scheint es so), weil im ersten Fall eine Herrschaft der sinnlichen Welt über den Gedanken und im zweiten Falle eine Vorherrschaft des Gedankens (über das Ideale) postuliert wird. Man könnte meinen, dass man auf die Praxis verzichten müsste, um eine theoretische Sicherheit zu haben; und um eine praktische Sicherheit zu haben, müsste man die Theorie beiseitelegen. Nach Schelling muss man sich auf die Identität und die Einheit von Bewusstem und Unbewusstem beziehen. Es handelt sich hierbei um etwas Tiefergehendes als die prästabilierte Harmonie, von der Leibniz sprach, da die Identität im Prinzip selbst liegt. Es handelt sich um eine Tätigkeit, die bewusst und zugleich unbewusst ist und deswegen sowohl im Geist als auch in der Natur, die alle Dinge hervorbringt, präsent ist. Diese »bewusst-unbewusste« Tätigkeit ist die ästhetische Tätigkeit. Sowohl die Produkte des Geistes als auch die der Natur rühren von dieser Tätigkeit her: Die Kombination des einen mit dem anderen (des Bewussten mit dem Unbewussten) konstituiert die reelle Welt, sofern sie sich ohne Bewusstsein vollzieht; sofern sie sich hingegen mit Bewusstsein vollzieht, konstituiert sie die ästhetische (und geistige) Welt. Die objektive Welt ist die primitive Poesie, die sich des Geistes nicht bewusst ist: Das ist die Philosophie der Kunst. 63 Die Kombination von Bewusstem und Unbewusstem bringt die reale Welt hervor; zusammen mit dem Bewusstsein entsteht die Ebd., S. 302. Zur Verbindung zwischen Philosophie der Kunst und Schellings System des transzendentalen Idealismus vgl. T. Kisser, »Wie kann eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit ihre eigene Wahrheit zeigen? Bemerkungen und Fragen zu Struktur und Funktion der Kunst in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794–1802, hrsg. von Jörg Jantzen, Thomas Kisser und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 25, Amsterdam/New York 2005, S. 133–150.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
ästhetische Erkenntnis. Die objektive Welt ist die noch unbewusste Dichtung des Geistes. Das universelle Organon der Philosophie und das zentrale Thema des gesamten Systems ist die Philosophie der Kunst. »Die Philosophie beruht also ebensogut wie die Kunst auf dem produktiven Vermögen, und der Unterschied beider bloß auf der verschiedenen Richtung der produktiven Kraft. Denn anstatt, dass die Produktion in der Kunst nach außen sich richtet, um das Unbewußte durch Produkte zu reflektieren, richtet sich die philosophische Produktion unmittelbar nach innen, um es in intellektueller Anschauung zu reflektieren. Der eigentliche Sinn, mit dem diese Art der Philosophie aufgefaßt werden muss, ist also der ästhetische, und eben darum die Philosophie der Kunst das wahre Organon der Philosophie.« 64
12. Die Aktivität der Kunst und die Wesensart der künstlerischen Schöpfung In der künstlerischen Schöpfung vollzieht sich eine Einheit und eine Synthese zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Das künstlerische Produkt ist endlich, aber hat durch seine Authentizität eine unendliche Bedeutung. Die Meisterwerke der menschlichen Kunst sind genauso zahlreich wie die Meisterwerke der kosmischen Kunst. Die Kunst wird so »zur einzigen und ewigen Enthüllung«. Vor diesem Horizont träumt Schelling von einer zukünftigen Menschheit, die die Wissenschaft zurück zu den Ursprüngen der Poesie führt und so eine neue Mythologie begründet, die nicht im Einzelnen wurzelt, sondern in einer heil gewordenen Gesamtheit von Menschen. Nur die Kunst ist fähig, das, was der Philosoph nicht erkennen und aufzeigen kann, objektiv und universal darzustellen. Die Aktivität der Kunst ist die Wesensart der »künstlerischen Erschaffung«. Laut Schelling ist die ästhetische Anschauung die transzendentale Anschauung, die objektiv geworden ist. Die Kunst ist das einzig wahre, ewige Organon der Philosophie, das, einer ständigen Erneuerung unterliegend, das zeigt, was die Philosophie nicht äußern kann, nämlich das Unbewusste während der Erschaffung und dessen ursprüngliche Identität mit dem Bewussten.
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Der Unterschied und die Beziehung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem
13. Der Unterschied und die Beziehung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem Im zweiten Kapitel (Allgemeine Deduktion des transzendentalen Idealismus) des Systems des transzendentalen Idealismus bezieht sich Schelling auf die semantische Korrelation des Begriffs Schranke und der Tätigkeit des Ichs und beschreibt einige Gedanken, die für das Verständnis der Unterscheidung »begrenzt/unbegrenzt« von großer Bedeutung sind: Was ist das Unbegrenzte? Wieso ist die Unterscheidung »begrenzt/unbegrenzt« (und die Beziehung zwischen ihnen) in der Philosophie Schellings so wichtig? Worin liegt die Beziehung zwischen dem Begriff Schranke und der Tätigkeit des Ichs? Das Ich ist der ursprüngliche Akt des Selbstbewusstseins, der in der intellektuellen Anschauung begründet ist. Es ist das Subjekt-Objekt, das der transzendentale Idealismus dank absoluter Freiheit erreicht. Nach Schelling ist das Ich ursprünglich ein reines Produzieren: »Das Ich ist ursprünglich reines ins Unendliche gehendes Produzieren, vermöge dessen allein es niemals zum Produkt käme. Das Ich also, um für sich selbst zu entstehen (um nicht nur Produzierendes, sondern zugleich Produziertes zu sein, wie im Selbstbewusstsein), muss seinem Produzieren Grenzen setzen.« 65 Das Ich kann sein Produzieren nicht begrenzen, ohne sich etwas entgegenzusetzen. Indem es sich selbst beim Produzieren begrenzt, wird das Ich zu etwas, das sich selbst manifestiert. Jedes Bestimmen setzt ein absolut Unbestimmtes voraus. So setzt z. B. jede geometrische Form einen unbegrenzten Raum voraus, so dass jede Bestimmung einer Verneinung der absoluten Realität (bzw. der Negation) gleichkommt. Die Negation eines Negativen mittels einer Entziehung ist jedoch nicht möglich. Möglich ist nur eine reelle Entgegensetzung. Insofern beinhaltet das Konzept »stellen« auch das Konzept »gegenüberstellen« und die Tätigkeit des »Sich-selbst-Stellens« bedeutet, etwas zu stellen, das dem Ich entgegengesetzt ist: Die Tätigkeit des Sich-selbst-Stellens ist zugleich identisch und synthetisch. »Das Ich ist eine ganz in sich geschlossene Welt, eine Monade, die nicht aus sich heraus, in die aber auch nichts von außen hereinkommen kann. Es würde also nie etwas Entgegengesetztes (ein Objektives) in sie kommen, wenn nicht durch die ursprüngliche Handlung des Selbst-
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Ebd., S. 54.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
setzens zugleich auch jenes gesetzt wäre.« 66 Wie ist aber diese semantische Korrelation zwischen subjektiver Tätigkeit des Ichs und der Unterscheidungsbeziehung zwischen »begrenzt« und »unbegrenzt« genau beschaffen? »Daß das Ich nicht nur begrenzt sei, sondern auch sich selbst anschaue als solches, oder dass es, indem es begrenzt wird, zugleich unbegrenzt sei, ist nur dadurch möglich, daß es sich selbst als begrenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt.« 67 Die Tatsache, dass das Ich eine Begrenzung hervorbringt, bedeutet nach Schelling, dass das Ich sich selbst als »absolute Tätigkeit hervorhebt und d. h., es hebt sich überhaupt auf. Dies ist aber ein Widerspruch, der aufgelöst werden muß, wenn nicht die Philosophie in ihren ersten Prinzipien sich widersprechen soll.« 68 Die ursprüngliche unendliche Tätigkeit des Ichs begrenzt das Ich und ist somit (im Selbstbewusstsein) eine endliche Tätigkeit. Dies zeigt sich daran, dass man nachweisen kann, dass das Ich nur so weit unbegrenzt ist, wie es begrenzt ist, und dass es nur so weit begrenzt ist, wie es unbegrenzt ist. »Dass das Ich nicht nur begrenzt sei, sondern auch sich selbst anschaue als solches, oder daß es, indem es begrenzt wird, zugleich unbegrenzt sei, ist nur dadurch möglich, daß es sich selbst als begrenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt.« 69
14. Das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke Vor dem Horizont des transzendentalen Idealismus sagt Schelling: »Das Ich ist als Ich unbegrenzt, nur indem es begrenzt wird.« 70 Dieser Gedanke ist mit einer anderen wichtigen Aussage verbunden: »Die Schranke wird reell nur durch das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke.« 71 Was meint Schelling mit »Schranke«? Und was bedeutet der Ausdruck »das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke«? Die Beziehung des Ichs zu der Schranke erläutert Schelling nicht als Trennung, sondern als Unterscheidungsbeziehung zwischen den Begriffen »Begrenztheit« und »Unbegrenztheit«. »Nun ist aber die 66 67 68 69 70 71
Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 58.
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Das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke
Schranke Bedingung der Unbegrenztheit nur dadurch, daß sie ins Unendliche erweitert wird. Aber das Ich kann die Schranke nicht erweitern, ohne auf sie zu handeln, und nicht auf sie handeln, ohne daß sie unabhängig von diesem Handeln existiert. Die Schranke wird also reell nur durch das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke. Richtete das Ich nicht seine Tätigkeit dagegen, so wäre sie keine Schranke für das Ich, d. h. (weil sie nur negativ, in bezug auf das Ich setzbar ist) sie wäre überhaupt nicht.« 72 Die Tätigkeit des Ichs, das gegen die Schranke ankämpft, ist die Tätigkeit des Ichs, die ursprünglich auf das Unendliche 73 orientiert war. Diese Tätigkeit ist ein fortwährender Prozess, der dynamisch ist und von Schelling als die Tätigkeit definiert wird, die dem Ich jenseits des Selbstbewusstseins zukommt. »Die Tätigkeit, welche gegen die Schranke sich richtet, ist nach dem Beweis von B keine andere als die ursprünglich ins Unendliche gehende Tätigkeit des Ichs, d. h. diejenige Tätigkeit, welche allein dem Ich jenseits des Selbstbewusstseins zukommt. Nun erklärt aber diese ursprünglich unendliche Tätigkeit allerdings, wie die Schranke reell, nicht aber, wie sie auch ideell wird, d. h., sie erklärt wohl das Begrenztsein des Ichs überhaupt, nicht aber sein Wissen um die Begrenztheit oder sein Begrenztsein für sich selbst.« 74 Schelling zufolge muss die Schranke reell und zugleich ideell sein. Die Schranke ist reell, weil sie vom Ich unabhängig ist, und sie ist ideell, weil sie eine Abhängigkeit vom Ich impliziert. Realität und Idealität der Schranke werden von einem einheitlichen Prinzip abgeleitet, dem des Selbstbewusstseins. Wie lässt sich die Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Schranke erklären? Warum ist im Idealismus Schellings das Konzept der Idealität und der Realität der Schranke so wichtig? »Nun muß aber die Schranke zugleich reell und ideell sein. Reell, d. h. unabhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht wirklich begrenzt ist, ideell, abhängig vom Ich, weil das Ich sonst sich nicht selbst setzt, anschaut als begrenzt. Beide Behauptungen, die, daß die Schranke reell, und die, daß sie bloß ideell sei, sind aus dem Selbstbewußtsein zu deduzieren. Das Selbstbewußtsein sagt, daß das Ich für Ebd., S. 59. Vgl. D. Unger, Schlechte Unendlichkeit. Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in der Philosophie des Deutschen Idealismus, Freiburg/München: Alber 2015. 74 F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 59. 72 73
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
sich selbst begrenzt sei; damit es begrenzt sei, muß die Schranke unabhängig sein von der begrenzten Tätigkeit, damit begrenzt für sich selbst, abhängig vom Ich.« 75 Schelling bemerkt, dass die Schranke vom Ich abhängt. Das heißt: Im Ich ist außer der begrenzten eine weitere Tätigkeit, von welcher es unabhängig sein muss. »Es muß also außer jener ins Unendliche gehenden Tätigkeit, die wir, weil sie allem reell begrenzbar ist, die reelle nennen wollen, eine andere im Ich sein, die wir die ideelle nennen können. Die Schranke ist reell für die ins Unendliche gehende, oder – weil eben diese unendliche Tätigkeit im Selbstbewußtsein begrenzt werden soll – für die objektive Tätigkeit des Ichs, ideell also für eine entgegengesetzte, nicht-objektive, an sich unbegrenzbare Tätigkeit, welche jetzt genauer charakterisiert werden muß.« 76
15. Ideelle und reelle Tätigkeit des Ichs. Die Idealität und die Realität der Schranke Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen analysiert und definiert Schelling die grundlegenden Aspekte, die die Begriffe »Tätigkeit«, »Idealität«, »Realität« und »Schranke« charakterisieren, und behält die semantische Korrelation von ideeller und reeller Tätigkeit bei. Wie ist die Beziehung zwischen dem Prozess der ideellen und dem der reellen Tätigkeit? Warum bezieht sich Schelling immer auf eine semantische und dynamische Verbindung von Realität und Idealität der Schranke? »Die zweite ideelle oder nicht-objektive Tätigkeit muß also von der Art sein, daß durch sie zugleich der Grund des Begrenztwerdens der objektiven und des Wissens um dieses Begrenztsein gegeben ist. Da nun die ideelle ursprünglich nur als die anschauende (subjektive) von jener gesetzt ist, um durch sie die Begrenztheit des Ichs als Ich zu erklären, so muß angeschaut und begrenzt werden für die zweite, objektive Tätigkeit eins und dasselbe sein. Dies ist zu erklären aus dem Grundcharakter des Ich. Die zweite Tätigkeit, wenn sie Tätigkeit eines Ich sein soll, muß zugleich begrenzt werden und angeschaut werden als begrenzt, denn eben in dieser Identität des
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Ebd. Ebd.
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Ideelle und reelle Tätigkeit des Ichs
Angeschaut-werdens und Seins liegt die Natur des Ich. Dadurch, daß die reelle Tätigkeit begrenzt ist, muß sie auch angeschaut, und dadurch, daß sie angeschaut wird, auch begrenzt werden; beides muß absolut eines sein.« 77 Beide Tätigkeiten, ideelle und reelle, setzen sich wechselseitig voraus. Die reelle, ursprünglich ins »Unendliche« strebende, aber für das Selbstbewusstsein zu begrenzende Tätigkeit ist nichts ohne die ideelle, für welche sie in ihrer Begrenztheit unendlich ist: »Hinwiederum ist die ideelle Tätigkeit nichts, ohne anzuschauende, begrenzbare, eben deswegen reelle. Aus dieser wechselseitigen Voraussetzung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseins wird der ganze Mechanismus des Ich abzuleiten sein.« 78 So wie sich beide Tätigkeiten wechselseitig voraussetzen, so setzen auch Idealismus und Realismus einander voraus: »Reflektiere ich bloß auf die ideelle Tätigkeit, so entsteht mir Idealismus, oder die Behauptung, daß die Schranke bloß durch das Ich gesetzt ist. Reflektiere ich bloß auf die reelle Tätigkeit, so entsteht mir Realismus, oder die Behauptung, daß die Schranke unabhängig vom Ich ist. Reflektiere ich auf beide zugleich, so entsteht mir ein Drittes aus beiden, was man Ideal-Realismus nennen kann, oder was wir bisher durch den Namen transzendentaler Idealismus bezeichnet haben.« 79 Laut Schelling ist die Idealität der Schranke der grundlegende Aspekt, der den Bereich der theroetischen Philosophie charakterisiert, während die Realität der Schranke der grundlegende Aspekt ist, der den Bereich der praktischen Philosophie definiert: »In der theoretischen Philosophie wird die Idealität der Schranke erklärt (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich nur für das freie Handeln existiert, Begrenztheit für das Wissen werde), die praktische Philosophie hat die Realität der Schranke (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich eine bloß subjektive ist, objektiv werde) zu erklären. Theoretische Philosophie also ist Idealismus, praktischer Realismus, und nur beide zusammen bilden das vollendete System des transzendentalen Idealismus.« 80
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Ebd., S. 60. Ebd. Ebd. Ebd., S. 61.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
16. Die Deduktion des Absoluten im Akt des Selbstbewusstseins Vor diesem Hintergrund schreibt Schelling in der Deduktion der absoluten im Akt des Selbstbewußtseins enthaltenen Synthesis: »Der ursprüngliche Akt des Selbstbewußtseins ist zugleich ideell und reell.« 81 Die Grundstruktur des Selbstbewusstseins ist ideell, und dank ihm wird das Ich für uns reell. »Durch den Akt der Selbstanschauung wird das Ich unmittelbar auch begrenzt; angeschaut werden und Sein ist eins und dasselbe.« 82 Nur dem Selbstbewusstsein wird eine Schranke gesetzt. »Dieser Akt ist das Höhere, das Begrenztsein, das Abgeleitete.« 83 Das Selbstbewusstsein ist der Akt und die Schranke; um Schranke zu sein, muss es vom Ich zugleich abhängig und unabhängig sein. Dies ist nur denkbar, weil es möglich ist, zwei sich unterscheidende und einander entgegengesetzte Tätigkeiten in der authentischen Struktur des Ichs zu bestimmen. Welches sind diese Tätigkeiten des Ichs? »Das Ich ist eine Handlung, in welcher zwei entgegengesetzte Tätigkeiten sind, eine, die begrenzt wird, von welcher eben deswegen die Schranke unabhängig ist, und eine, die begrenzend, eben deswegen unbegrenzbar ist.« 84 Das Ich ist ein Akt, in dem zwei entgegengesetzte, aber komplementäre Tätigkeiten 85 enthalten sind: Eine wird begrenzt, d. h. sie wird von einer Schranke bestimmt und begrenzt; die andere ist begrenzend, d. h. sie wird durch einen aktiven, dynamischen Prozess des Begrenzens bestimmt, den sie zugleich konstituiert. Das Selbstbewusstein ist genau diese Aktion: »Diese Handlung ist eben das Selbstbewusstsein.« Außerhalb des Selbstbewusstseins ist das Ich reine Objektivität. »Dieses bloß Objektive (eben deswegen ursprünglich Nicht-Objektive, weil Objektives ohne Subjektives unmöglich ist) ist das Einzige an sich, was es gibt. Erst durch das Selbstbewußtsein kommt die Subjektivität hinzu. Dieser ursprünglich bloß objektiven, im Bewußtsein begrenzten Tätigkeit wird entgegen-
Ebd., S. 64. Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Vgl. S. Schwenzfeuer, Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schellingschen Naturphilosophie, Freiburg/München: Alber 2012. 81 82
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Die Deduktion des Absoluten im Akt des Selbstbewusstseins
gesetzt die begrenzende, welche eben deswegen selbst nicht Objekt werden kann.« 86 Entsprechend dieser semantischen Disposition stellt Schelling fest, dass »zum Bewusstsein kommen und begrenzt sein eins und dasselbe ist«. 87 »Die Begrenztheit muß als unabhängig von mir erscheinen, weil ich nur mein Begrenztsein erblicken kann, nie die Tätigkeit, wodurch es gesetzt ist.« 88 Warum ist die semantische Unterscheidung zwischen begrenzender und begrenzter Tätigkeit des Ichs in der Struktur und der Zielsetzung von Schellings System des transzendentalen Idealismus so wichtig? Wenn man von der Unterscheidung zwischen begrenzender Tätigkeit und begrenzter Tätigkeit ausgeht, ist das Ich die Tätigkeit, die weder begrenzend noch begrenzt ist. »Diese Unterscheidung zwischen begrenzender und begrenzter Tätigkeit vorausgesetzt, ist weder die begrenzende noch die begrenzte Tätigkeit die, welche wir Ich nennen. Denn das Ich ist nur im Selbstbewußtsein, aber weder durch diese noch durch jene isoliert gedacht, entsteht uns das Ich des Selbstbewußtseins.« 89 Die begrenzende Tätigkeit des Ichs wird sich nicht ihrer selbst bewusst, wird nicht zum Objekt. Sie ist die Tätigkeit des reinen Objekts. Aber die Tätigkeit des Selbstbewusstseins ist kein reines Subjekt, sondern Subjekt und zugleich Objekt. Im Gegensatz hierzu steht die begrenzte Tätigkeit des Ichs, die allein zum Objekt wird, »das bloß Objektive im Selbstbewußtsein«. Aber das Ich des Selbstbewusstseins ist nicht nur reines Subjekt oder reines Objekt, sondern beides zusammen. Das Ich konstituiert sich weder mittels der begrenzten und der begrenzenden Tätigkeit noch durch beide zusammen. Schelling zufolge geht das Ich des Selbstbewusstseins aus einer dritten Tätigkeit hervor, die durch eine vereinende Synthese der anderen beiden entsteht. Was ist diese dritte Tätigkeit des Ichs? »Diese dritte, zwischen der begrenzten und der begrenzenden schwebende Tätigkeit, durch welche das Ich erst entsteht, ist, weil Produzieren und Sein vom Ich eins ist, nichts anderes als das Ich des Selbstbewusstseins selbst.« 90 Das Ich
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F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 64. Ebd. Ebd. Ebd., S. 65. Ebd.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
ist also selbst eine zusammengesetzte Tätigkeit, das Selbstbewusstsein selbst ein synthetischer Akt. Um diese dritte, synthetische Tätigkeit näher zu bestimmen, ist es nötig, zuerst den Streit zwischen den entgegengesetzten Tätigkeiten zu erläutern, aus dem sie resultiert.
17. Das Selbstbewusstsein als ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten In der Deduktion der Mittelglieder der absoluten Synthesis schreibt Schelling: »Das Selbstbewußtsein (das Ich) ist ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten. Die eine, ursprünglich ins Unendliche gehende, werden wir die reelle, objektive, begrenzbare nennen, die andere, die Tendenz sich in jener Unendlichkeit anzuschauen, heißt die ideelle, subjektive, unbegrenzbare.« 91 Es werden also zwei Tätigkeiten unterschieden: a) eine reelle, objektive und begrenzbare Tätigkeit, die Schranken unterliegt und von ihnen bestimmt wird; b) eine ideelle, subjektive und unbegrenzbare Tätigkeit, die nicht von Schranken limitiert wird. Schelling schreibt: »Jener Streit ist nicht sowohl ein Streit ursprünglich dem Subjekt als viel mehr den Richtungen nach entgegengesetzter Tätigkeiten, da beide Tätigkeiten eines und desselben Ichs sind. Der Ursprung beider Richtungen ist dieser. Das Ich hat die Tendenz, das Unendliche zu produzieren, diese Richtung muß gedacht werden als gehend nach außen (als zentrifugal), aber sie ist als solche nicht unterscheidbar, ohne eine nach innen auf das Ich als Mittelpunkt zurückgehende Tätigkeit. Jene nach außen gehende, ihrer Natur nach unendliche Tätigkeit ist das Objektive im Ich, diese auf das Ich zurückgehende ist nichts anderes als das Streben, sich in jener Unendlichkeit anzuschauen. Durch diese Handlung überhaupt trennt sich Inneres und Äußeres im Ich, mit dieser Trennung ist ein Widerstreit im Ich gesetzt, der nur aus der Notwendigkeit des Selbstbewußtseins zu erklären ist. Warum das Ich sich seiner ursprünglich bewußt werden müsse, ist nicht weiter zu erklären, denn es ist nichts anderes als Selbstbewußtsein. Aber im Selbstbewußtsein eben ist ein Streit entgegengesetzter Richtungen notwendig.« 92
91 92
Ebd., S. 72. Ebd., S. 65.
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Das Selbstbewusstsein als ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten
Das Ich des Selbstbewusstseins bestimmt sich durch eine Tätigkeit, die in entgegengesetzte Richtungen geht. »Das Ich des Selbstbewußtseins ist das nach diesen entgegengesetzten Richtungen gehende. Es besteht nur in diesem Streit, oder vielmehr es ist selbst dieser Streit entgegengesetzter Richtungen. So gewiß das Ich seiner selbst bewußt ist, so gewiß muß jener Widerstreit entstehen und unterhalten werden.« 93 Schelling legt dar, dass die Identität, die sich im Selbstbewusstsein ausdrückt, nicht ursprünglich ist, sondern produziert wird und daher mittelbar ist. Ursprünglich ist hingegen der Streit der entgegengesetzten Richtungen im Ich, während die Identität aus diesem Streit hervorgeht: »Das Ursprüngliche ist der Streit entgegengesetzter Richtungen im Ich, die Identität das daraus Resultierende.« 94 Wir sind uns ursprünglich nur der Identität bewusst. Nachdem Schelling die Bedingungen des Selbstbewusstseins untersucht hat, kommt er zu dem Schluss, dass diese Identität nur mittelbar und synthetisch sein kann. Was ist eine mittelbare und synthetische Identität? Worin besteht sie? »Das Höchste, dessen wir uns bewußt werden, ist die Identität des Subjekts und Objekts, allein diese ist an sich unmöglich, sie kann es nur durch ein Drittes, Vermittelndes, sein. Da das Selbstbewußtsein eine Duplizität von Richtungen ist, so muß das Vermittelnde eine Tätigkeit sein, die zwischen entgegengesetzten Richtungen schwebt.« 95 Im Ich des Selbstbewusstseins ist ursprünglich der Gegensatz von Subjekt und Objekt angelegt. Das eine hebt das andere auf bzw. das eine ist ohne das andere nicht denkbar. »Im Ich sind ursprünglich Entgegengesetzte, Subjekt und Objekt; beide heben sich auf; und doch ist keines ohne das andere möglich. Das Subjekt behauptet sich nur im Gegensatz zum Objekt, das Objekt nur im Gegensatz zum Subjekt, d. h., keines von beiden kann reell werden, ohne das andere zu vernichten, aber bis zur Vernichtung des einen durch das andere kann es nie kommen, eben deswegen, weil jedes nur im Gegensatze gegen das andere das ist, was es ist. Beide sollen also vereinigt sein, denn keines kann das andere vernichten; doch können sie auch nicht zusammen bestehen. Der Streit ist also nicht sowohl ein Streit zwi-
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Ebd., S. 66. Ebd. Ebd., S. 67.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
schen beiden Faktoren als zwischen dem Unvermögen, die unendlich Entgegengesetzten zu vereinigen auf der einen Seite und der Notwendigkeit es zu tun, wenn nicht die Identität des Selbstbewußtseins aufgehoben werden soll, auf der anderen Seite. Gerade dies, daß Subjekt und Objekt absolut Entgegengesetzte sind, setzt das Ich in die Notwendigkeit, eine Unendlichkeit von Handlungen in einer absoluten zusammenzudrängen.« 96 Wäre im Ich keine Entgegensetzung, so wäre in ihm überhaupt keine Bewegung, keine Produktion, also auch kein Produkt. Das Selbstbewusstsein ist ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten. Die eine, ursprünglich ins Unendliche gehende, werden wir die reelle, objektive, begrenzbare nennen; die andere, die Tendenz, sich in jener Unendlichkeit anzuschauen, heißt die ideelle, subjektive, unbegrenzbare. »Das Selbstbewusstsein ist der absolute Akt, durch welchen für das Ich alles gesetzt ist.« 97 Nach Schelling ist das Selbstbewusstsein die Grundlage des gesamten Systems der Philosophie. Die fortschreitende Geschichte des Selbstbewusstseins ist die Geschichte der Philosophie selbst. Schelling zufolge findet im Selbstbewusstsein ein unendlicher Widerstreit statt. In einem einzigen Akt sind unendlich viele Handlungen vereint und konzentriert: »Da sonach im Selbstbewußtsein ein unendlicher Widerstreit ist, so ist in dem einen absoluten Akt, von dem wir ausgehen, eine Unendlichkeit von Handlungen, welche ganz zu durchschauen Gegenstand einer unendlichen Aufgabe ist.« 98 Daher kann die Philosophie nur die Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewusstseins eine Rolle spielen, unter Berücksichtigung ihrer Verbindungen untereinander aufzählen. Die Philosophie«, so Schelling, »ist eine Geschichte des Selbstbewusstseins, die verschiedene Epochen hat und durch welche jene in einer absoluten Synthesis sukzessiv zusammengesetzt wird.« 99
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Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73.
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Die Epochen des Selbstbewusstseins
18. Die Epochen des Selbstbewusstseins »Der ganze Gegenstand unserer Untersuchung ist nur die Erklärung des Selbstbewusstseins.« 100 Schelling definiert die Philosophie als eine Geschichte des Selbstbewusstseins, die sich in den unterschiedlichen zeitlichen Epochen äußert. Welches sind die Epochen des Selbstbewusstseins? Wieso sind diese Epochen für die Beziehung zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie so wichtig? Die Naturphilosophie geht von der reinen Objektivität aus und durchläuft die natürlichen Seinsformen, um die Erscheinung des Menschen und die Manifestation der Vernunft 101 als Grundlage jeder Stufe der Realität aufzuzeigen. Die Transzendentalphilosophie steht in einem komplementären Verhältnis zu ihr. In ihr ist die Vernunft nicht nur eine beobachtende Vernunft einer im weitesten Sinne abstrakten und spekulativen Philosophie, sondern sie ist als Selbstbewusstsein im Leben selbst verankert. Das Selbstbewusstsein wird sich seiner Produktivität, die anfangs unbewusst war, bewusst, indem es sich selbst bestimmt. Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie zeigen, dass das Wissen sich selbst und seinen Inhalt produziert. Die Naturphilosophie weist nach, dass die vitale Realität der Natur ein empfindsamer Organismus ist, der sein eigenes Abbild, also sein Wissen von sich selbst, produziert; die Transzendentalphilosophie legt die Selbstverwirklichung in der Produktion des natürlichen Lebens des Geistes dar. Das Wissen des transzendentalen Idealismus ist ein Wissen, das sich jener Produktivität des Geistes, deren Wurzel in der intellektuellen Anschauung liegt, bewusst ist. Durch diesen inneren, intuitiven Akt zeigt sich dem ideellen Bewusstsein des Philosophen die Entstehung des Ichs im reinen Akt des Selbstbewusstseins. Diesen Prozess unterteilt Schelling in drei Phasen, die voneinander zu unterscheiden, aber auch komplementär sind: a) von der ursprünglichen Empfindung zur produktiven Anschauung; b) von der produktiven Anschauung zur Reflexion; c) von der Reflexion zum absoluten Akt des Willens. Diese Unterteilung erläutert die Geschichte des Selbstbewusst-
Ebd., S. 129. Vgl. L. Pareyson, »Lo stupore della ragione in Schelling«, in: ders., Romanticismo, esistenzialismo, ontologia della libertà, Milano: Mursia 1979, S. 137–180; wieder abgedruckt unter dem Titel: »Lo stupore della ragione e angoscia di fronte all’essere«, in: ders., Ontologia della libertà, Milano: Einaudi 2012, S. 385–437. 100 101
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
seins und zeigt auf, dass das Ich als Prinzip der Philosophie, als absolute Freiheit in seiner Selbstproduktion nicht unmittelbar in Erscheinung tritt. Das Ich ist diese unendliche Tätigkeit und zeigt sich selbst, indem es sich objektiviert und endlich wird. Das Ich begrenzt sein reines, unbegrenztes Produzieren, um zu produzieren und Produkt zu werden. Daher entfalten sich zwei entgegengesetzte Kräfte, die die Basis des gesamten inneren Lebens des Selbstbewusstseins sind: die unbegrenzt-unendlich-reelle Tätigkeit und die begrenzend-endlich-ideelle Tätigkeit.
19. Von der ursprünglichen Empfindung zur produktiven Anschauung Die erste Epoche des Selbstbewusstseins, die die Gleichheit von Geist und Natur voraussetzt, umfasst drei unterschiedliche Akte. Diese bestimmen den Weg von der »ursprünglichen Empfindung« zur »produktiven Anschauung« und äußern sich in den drei Kräften der Materie und in den drei Momenten ihres Aufbaus. Schelling ist der Auffassung, dass die Materie nichts anderes sei als der angeschaute Geist, dessen Tätigkeiten im Gleichgewicht sind. Diese erste Epoche, die auf dem ursprünglichen Akt (der Empfindung und der produzierenden Anschauung) basiert, ist durch antagonistische Aktivitäten gekennzeichnet, die sich gegenseitig begrenzen und die ein Gleichgewicht erreicht haben. Gemeinsam bringen sie ein Produkt hervor: die reine Materie, d. h. die Materie, die Ausdruck des Gleichgewichts der entgegengesetzten Aktivitäten ist. Den Faktoren der produktiven Anschauung, den entgegengesetzten Tätigkeiten des Ichs, entsprechen die konstruktiven Faktoren der Materie, die entgegengesetzten Kräfte, die nichts anderes als ruhende, gefestigte, gleichsam erstarrte Tätigkeiten sind. Der unbegrenzten, reellen (positiven) Tätigkeit entspricht die expansiv-repulsive Kraft; der begrenzenden, ideellen (negativen) Tätigkeit entspricht die anziehende Kraft. Jedoch verwirklichen sich Anschauung und Materie nur in der dritten, synthetischen Tätigkeit und in der dritten, produktiven und kreativen Kraft. Diesen drei Kräften entsprechen die drei Dimensionen der Materie (Länge, Breite und Dicke) und die drei Stufen des dynamischen Prozesses (Magnetismus, Elektrizität, chemischer Prozess). Der erste Akt, von dem die gesamte Geschichte der Intelligenz ausgeht, ist der ursprüngliche, der noch nicht vom Unbewussten des 118 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Von der ursprünglichen Empfindung zur produktiven Anschauung
Ichs befreit ist. Das Ich ist ursprünglich ein Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Tätigkeiten: der reellen und der ideellen. Das intuierende, anschauende Ich erkennt sich in der reellen Tätigkeit als begrenzt und intuiert seine Grenzen. Die ideelle Tätigkeit wird zu der Funktion, die es dem Ich erlaubt, sich als begrenzt wahrzunehmen. Empfinden heißt, die Schranke als ein Gefühl, das auf einem NichtIch beruht, in sich zu finden. Die Möglichkeit der Empfindung beruht nach dieser Deduktion: »a) auf dem gestörten Gleichgewicht beider Tätigkeiten. Das Ich kann also auch nicht in der Empfindung schon sich als Subjekt-Objekt, sondern nur als einfaches begrenztes Objekt anschauen, die Empfindung also ist nur diese Selbstanschauung in der Begrenztheit; b) auf der unendlichen Tendenz des ideellen Ichs sich in dem reellen anzuschauen. Dies ist nicht möglich, als mittelst dessen, was die ideelle Tätigkeit (das Ich ist jetzt sonst nichts) und die reelle miteinander gemein haben, d. h. vermittelst des Positiven in ihr; das Gegenteil wird also vermittelst des Negativen in ihr geschehen. Das Ich wird also auch jenes Negative in sich nur finden, d. h. nur empfinden können.« 102 Das Ich könnte sich nicht als begrenzt empfinden, wenn das ideelle Ich nicht versuchen würde, sich selbst als reell zu sehen. Da es sich nicht selbst als objektiv begrenzt und als anschauendes Objekt erkennen kann, sieht es seine Begrenzung nicht. Diese Unmöglichkeit begründet die Wirklichkeit der Empfindung. »Die Realität der Empfindung beruht darauf, daß das Ich das Empfundene nicht anschaut als durch sich gesetzt. Es ist Empfundenes, nur insofern es das Ich anschaut als nicht gesetzt durch sich. Daß also das Negative durch das Ich gesetzt sei, können zwar wir, aber unser Objekt, das Ich, kann es nicht sehen, aus dem sehr natürlichen Grund, daß angeschaut und begrenzt werden vom Ich eins und dasselbe ist. Das Ich wird (objektiv) begrenzt dadurch, daß es sich (subjektiv) anschaut; nun kann aber das Ich nicht zugleich sich objektiv anschauen und sich anschauen als anschauend, also auch nicht sich anschauen als begrenzend. Auf dieser Unmöglichkeit, im ursprünglichen Akt des Selbstbewußtseins zugleich sich Objekt zu werden und sich anzuschauen als sich Objekt werdend, beruht die Realität aller Empfindung.« 103
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F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 80. Ebd.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Dieser Prozess impliziert einen zweiten Akt des Ichs, in dem Schelling zwei Tätigkeiten und die ihnen entsprechenden dynamischen Prozessen unterscheidet. Um ein empfindsames Subjekt zu werden, muss das Ich eine Tätigkeit ausüben, die die Schranke überschreitet und die es ihm erlaubt, seine unterdrückte, reelle Tätigkeit in sich zu finden. Daraus folgt, dass die Schranke in der ideellen Tätigkeit und somit jenseits der Schranke liegen muss – und dass die Tätigkeit, die die Schranke überwindet, begrenzt sein muss. Dieser Widerspruch kann nur durch die Identifikation der Begrenzung und der Überwindung der Schranke mit dem ideellen Ich aufgehoben werden. Die Identifikation und der Gegensatz werden beide durch eine dritte Tätigkeit ermöglicht, die den Abstand überbrückt, die Gegensätze überwindet und die Tätigkeiten zusammenführt. Diese dritte Tätigkeit, die ideell und reell zugleich ist, ist die produktive Tätigkeit: »Daß der Gegensatz als solcher, oder daß die beiden Entgegengesetzten als absolut (nicht bloß relativ) Entgegengesetzte ins Bewußtsein kommen, ist Bedingung der produktiven Anschauung.« 104 Der unaufhebbare Gegensatz kann nicht im Ich liegen, außer wenn das Ich ihn als solchen wahrnimmt. Die produktive Anschauung ist die Tätigkeit, die gleichsam zwischen Ideellem und Reellem changiert und etwas hervorbringt, das zwischen Subjektivem und Objektivem liegt. Sie bewirkt daher einen permanenten Zustand der Expansion und Kontraktion des Ichs, und die Bedingung der Möglichkeit hierfür ist der absolute Gegensatz. Das Produkt, das aus dem Zusammentreffen und dem Ausgleich der ideellen und der reellen Tätigkeit resultiert, ist durch die Spuren dieser Tätigkeiten charakterisiert. Schelling kommt also zu dem Ergebnis, dass im Ich eine unbegrenzbare Tätigkeit liegt. Wie ist es möglich, diese unbegrenzbare Tätigkeit des Ichs zu definieren? Welches ist die semantische und dynamische Beziehung zwischen dieser Tätigkeit des Ichs und dem Konzept der produktiven Anschauung? »Es ist im Ich eine unbegrenzbare Tätigkeit, aber diese Tätigkeit ist nicht im Ich als solchem, ohne daß das Ich sie setzt als seine Tätigkeit. Aber das Ich kann sie nicht anschauen als seine Tätigkeit, ohne sich als Subjekt oder Substrat jener unendlichen Tätigkeit von dieser Tätigkeit selbst zu unterscheiden. Aber eben dadurch entsteht eine neue Duplizität, ein Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Das Ich als Subjekt jener 104
Ebd., S. 107.
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Von der produktiven Anschauung zur Reflexion
unendlichen Tätigkeit ist dynamisch (potentia) unendlich, die Tätigkeit selbst, indem sie gesetzt wird als Tätigkeit des Ichs, wird endlich; aber indem sie endlich wird, wird sie aufs neue über die Grenze hinaus ausgedehnt, aber indem sie ausgedehnt wird, auch wieder begrenzt. Und so dauert dieser Wechsel ins Unendliche fort.« 105 Das Ich, das so zur Intelligenz erhoben wird, befindet sich also in einem unendlichen Stadium der Ausdehnung und Begrenzung: »Das auf diese Art zur Intelligenz erhobene Ich ist sonach in einen beständigen Zustand von Expansion und Kontraktion versetzt, aber eben dieser Zustand ist der Zustand des Bildens und Produzierens. Die Tätigkeit, welche in jenem Wechsel geschäftig ist, wird daher als produzierende erscheinen müssen.« 106
20. Von der produktiven Anschauung zur Reflexion. Die Begrenzung des inneren Sinns Die Produktion der ersten Epoche 107 ist noch »blind und ohne Bewusstsein«. Die zweite Epoche, die von der produktiven Anschauung zur Reflexion fortschreitet, hat zum Ziel, aufzuzeigen, wie das produktive Ich schrittweise sich selbst erkennt. Welches sind die Phasen, die den Weg der Subjektivität zur produktiven Anschauung und zur Reflexion konstituieren und charakterisieren? Was ist Reflexion? »Die erste Epoche schließt mit der Erhebung des Ichs zur Intelligenz […]. Aber das Ich, indem es anschauend ist, ist auch im Produzieren völlig gefesselt und gebunden und kann nicht zugleich Anschauendes sein und Angeschautes. Die Produktion ist nur darum eine völlig blinde und bewußtlose. Nach der hinlänglich bekannten Methode der Transzendental-Philosophie tritt also jetzt die Frage ein, wie das Ich, welches bis jetzt bloß für uns anschauend und Intelligenz ist, dasselbe auch für sich selbst werde, oder als solches sich anschaue. Nun läßt sich aber schlechterdings kein Grund denken, der das Ich Ebd., S. 106. Ebd. 107 Vgl. H. Höfling, »Der Epochenbegriff in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 12 (1958), S. 507–514; vgl. W. Marx, »Aufgabe und Methode der Philosophie in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Schelling: Geschichte, System, Freiheit, hrsg. von Werner Marx, Freiburg/München: Alber 1977, S. 63–99. 105 106
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
bestimmte, sich selbst als produktiv anzuschauen, wenn nicht in der Produktion selbst ein Grund liegt, der die ideelle im Produzieren mitbegriffene Tätigkeit des Ichs in sich zurücktreibt, und sie dadurch über das Produkt hinauszugehen veranlaßt. Die Frage, wie das Ich sich selbst als produktiv erkenne, ist also gleichbedeutend mit der, wie das Ich dazu komme, sich selbst von seiner Produktion loszureißen und über dieselbe hinauszugehen.« 108 Die bewusste Empfindung des Ichs ist seine unbegrenzte Tendenz, sich selbst zu erkennen und die Grenzen zu überwinden. Vor diesem Horizont bestimmt Schelling die bewusste Empfindung des Ichs als inneren Sinn. »Im Selbstgefühl wird der innere Sinn, d. h. die mit Bewusstsein verbundene Empfindung sich selbst zum Objekt. Es ist eben deswegen von der Empfindung völlig verschieden, in welcher notwendig etwas vom Ich Verschiedenes vorkommt. In der vorhergehenden Handlung war das Ich innerer Sinn, aber ohne es für sich selbst zu sein.« 109 Wie wird denn nun aber das Ich als innerer Sinn zum Objekt? »Einzig und allein dadurch, daß ihm die Zeit (nicht die Zeit, insofern sie schon äußerlich angeschaut wird, sondern die Zeit als bloßer Punkt, als bloße Grenze) entsteht […]. Die Zeit ist nicht etwas, was unabhängig vom Ich abläuft, sondern das Ich selbst ist die Zeit in Tätigkeit gedacht. Da nun das Ich in derselben Handlung sich das Objekt entgegensetzt, so wird ihm das Objekt als Negation aller Intensität, d. h. es wird ihm als reine Extensität erscheinen müssen. Das Ich kann also das Objekt sich nicht entgegensetzen, ohne daß in ihm innere und äußere Anschauung sich nicht nur trennen, sondern auch als solche zum Objekt werden.« 110 Nun ist aber die Anschauung, durch welche der innere Sinn sich zum Objekt wird, die Zeit, und die Anschauung, wodurch der äußere Sinn sich zum Objekt wird, ist der Raum. Dem inneren Sinn, der sich in der Zeit objektiviert, entspricht der äußere Sinn, der sich im Raum objektiviert. Das Objekt impliziert sowohl Extensität als auch Intensität, es ist also Substanz und Akzidens: Die Substanz ist ewig; ihre Größe ist räumlich und liegt in einem Abschnitt, der mit dem äußeren Sinn verbunden ist. Die Akzidenzien hingegen verändern sich. Ihre Größen sind zeitlich und mit dem Werden des inneren Sinns verbunden. 108 109 110
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 128. Ebd., 140. Ebd.
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Von der produktiven Anschauung zur Reflexion
Laut Schelling müssen ferner wieder »drei Tätigkeiten im Ich sein, eine einfache und eine zusammengesetzte, und eine dritte, welche beide voneinander unterschiede und aufeinander bezöge. Diese dritte Tätigkeit muss nun notwendig selbst eine einfache sein, denn ohne das könnte sie die zusammengesetzte nicht als solche unterscheiden.« 111 Die einfache anschauende Tätigkeit hat nur das Ich selbst zum Objekt, die zusammengesetzte das Ich und zugleich das Ding an sich. »Die letztere geht eben deswegen zum Teil über die Grenze oder sie ist in- und außerhalb der Grenze zugleich. Nun ist aber das Ich nur diesseits der Grenze Ich, denn jenseits der Grenze hat es sich für sich selbst in das Ding an sich verwandelt.« 112 Die Anschauung, die über die Grenze hinausgeht, geht also zugleich über das Ich selbst hinaus und erscheint insofern als äußere Anschauung. Die einfache anschauende Tätigkeit bleibt innerhalb des Ichs und kann insofern innere Anschauung heißen. Die einzige Grenze der inneren und äußeren Anschauung ist die Grenze des Ichs und des Dings an sich. Wenn diese Grenze weggenommen wird, fließen innere und äußere Anschauung zusammen. Der äußere Sinn fängt da an, wo der innere aufhört. »Was uns als Objekt des äußeren erscheint, ist nur ein Begrenzungspunkt des inneren Sinns, beide, äußerer Sinn und innerer Sinn, sind also auch ursprünglich identisch, denn der äußere ist nur der begrenzte innere.« 113 Soll das Ich sich selbst als produzierend anschauen, so müssen erstens innere und äußere Anschauung in ihm sich trennen und zweitens muss eine Beziehung beider zueinander hergestellt werden. Es entsteht also zunächst die Frage, auf welche Weise eine solche Beziehung zustande kommen kann. »Das Beziehende ist notwendig etwas beiden Gemeinschaftliches.« 114 Eine »Beziehung beider aufeinander« ermöglicht es den beiden Tätigkeiten, ihre gegenseitige Bestimmung auf eine einzige Tätigkeit zu gründen: Eine positive Bestimmung der ersten beinhaltet eine negative Bestimmung der zweiten und umgekehrt. Die Intelligenz wird niemals einer der Bestimmungen nachkommen können, ohne auch der anderen zu folgen, weil beide Richtungen, die der Tätigkeit ent-
111 112 113 114
Ebd., S. 131. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd.
123 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
gegengesetzt sind, in einem einzigen Sinn liegen: in der Simultaneität der Substanz und des Akzidens. »Unmittelbar dadurch also, daß die ideelle Tätigkeit in der Produktion begrenzt wird, wird dem Ich der innere Sinn durch die Zeit in ihrer Unabhängigkeit vom Raum, der äußere Sinn durch den Raum in seiner Unabhängigkeit von der Zeit zum Objekt; beide also kommen nicht als Anschauungen, deren das Ich sich nicht bewußt werden kann, sondern nur als Angeschaute im Bewußtsein vor.« 115 Nun muss aber dem Ich Zeit und Raum selbst wieder zum Objekt werden; das ist die zweite Anschauung dieser Epoche, durch welche in das Ich eine neue Bestimmung, nämlich »die Sukzession der Vorstellungen gesetzt wird, vermöge welcher es für das Ich überhaupt kein erstes Objekt gibt, indem es sich ursprünglich nur eines zweiten durch die Entgegensetzung gegen das erste als sein Einschränkendes bewußt werden kann, wodurch also die zweite Begrenztheit vollständig ins Bewußtsein gesetzt wird«. 116 Schließlich muss dem Ich das Kausalitätsverhältnis selbst wieder zum Objekt werden. Dies geschieht durch Wechselwirkung, die dritte Anschauung in dieser Epoche. So sind also die drei Anschauungen dieser Epoche nichts anderes als die Grundkategorien alles Wissens, nämlich die der Relation. Die Wechselwirkung ist selbst nicht möglich, ohne dass dem Ich die Sukzession selbst wieder eine begrenzte wird. Dies geschieht durch Organisation, welche, insofern sie den höchsten Punkt der Produktion bezeichnet, als Bedingung einer dritten Begrenztheit zu einer neuen Reihe von Handlungen überzugehen zwingt.
21. Reflexion, transzendentale Abstraktion und transzendentaler Schematismus In der dritten Phase, die von dem schrittweisen Übergang »von der Reflexion bis zum absoluten Willensakt« charakterisiert ist, analysiert Schelling die Begriffe »Reflexion«, »transzendentale Abstraktion« und »transzendentaler Schematismus«. Der Standpunkt der Reflexion ist identisch mit dem Standpunkt der Analysis, es kann also auch »von demselben aus keine Handlung im Ich gefunden werden, die nicht schon synthetisch in dasselbe gesetzt wäre. Wie aber das Ich 115 116
Ebd., S. 178. Ebd.
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Reflexion, transzendentale Abstraktion und transzendentaler Schematismus
selbst auf den Standpunkt der Reflexion gelange, dies ist weder bis jetzt erklärt, noch kann es vielleicht überhaupt in der theoretischen Philosophie erklärt werden. Dadurch, daß wir jene Handlung, vermöge welcher die Reflexion in das Ich gesetzt wird, auffinden, wird sich der synthetische Faden wieder anknüpfen und von jenem Punkt aus ohne Zweifel ins Unendliche reichen.« 117 Vor dem Hintergrund dieses Gedankengangs schreibt Schelling, dass »die Intelligenz, solange sie anschauend ist, mit dem Angeschauten eins und von demselben gar nicht verschieden ist; so wird sie zu keiner Anschauung ihrer selbst durch die Produkte gelangen können, ehe sie sich selbst von den Produkten abgesondert hat, und da sie selbst nichts anderes als die bestimmte Handlungsweise ist, wodurch das Objekt entsteht, so wird sie zu sich selbst nur dadurch gelangen können, daß sie ihr Handeln als solches absondert von dem, was ihr in diesem Handeln entsteht, oder, was dasselbe ist, vom Produzierten […]. Jenes Absondern des Handelns vom Produzierten heißt im gewöhnlichen Sprachgebrauch Abstraktion.« 118 Die Abstraktion wird als die erste Bedingung der Reflexion bestimmt. Wie ist das Verhältnis von Reflexion und Abstraktion? Was ist die Funktion und die Finalität der Abstraktion? Welches sind die Grenzen und die Möglichkeiten der Abstraktion im subjektiven Prozess der Reflexion vor einem transzendentalen Horizont? »Als die erste Bedingung der Reflexion erscheint also die Abstraktion. Solange die Intelligenz nichts von ihrem Handeln Verschiedenes ist, ist kein Bewußtsein desselben möglich. Durch die Abstraktion selbst wird sie etwas von ihrem Produzieren Verschiedenes, welches letztere aber eben deswegen jetzt nicht mehr als ein Handeln, sondern nur als ein Produziertes erscheinen kann.« 119 Schelling bringt den Begriff »Abstraktion« zuerst mit dem Begriff des »Urteils« und schließlich mit dem Konzept »Schematismus« in Verbindung. »Wenn nun aber Begriff und Objekt ursprünglich so übereinstimmen, daß in keinem von beiden mehr oder weniger ist als im andern, so ist eine Trennung beider schlechthin unbegreiflich ohne eine besondere Handlung, durch welche sich beide im Bewußtsein entgegengesetzt werden. Eine solche Handlung ist die, welche durch das Wort Urteil sehr expressiv bezeichnet wird, indem durch 117 118 119
Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
dasselbe zuerst getrennt wird, was bis jetzt unzertrennlich vereinigt war, der Begriff und die Anschauung. Denn im Urteil wird nicht etwa Begriff mit Begriff, sondern es werden Begriffe mit Anschauungen verglichen. Das Prädikat ist an sich vom Subjekt nicht verschieden, denn es wird ja, eben im Urteil, eine Identität beider gesetzt. Also ist eine Trennung von Subjekt und Prädikat überhaupt nur dadurch möglich, daß jenes die Anschauung, dieses den Begriff repräsentiert. Im Urteil sollen also Begriff und Objekt erst sich entgegengesetzt, dann wieder auf einander bezogen und als einander gleich gesetzt werden. Diese Beziehung ist nun aber bloß durch Anschauung möglich. Allein diese Anschauung kann nicht dieselbe sein mit der produktiven, denn sonst wären wir um keinen Schritt weiter, sondern es muß eine bis jetzt uns völlig unbekannte Anschauungsart sein, welche erst abgeleitet zu werden verlangt […]. Eine solche Anschauung ist der Schematismus, welchen jeder nur aus eigener innerer Erfahrung kennen lernen […] kann.« 120 Nur das Schema kann Begriff und Anschauung vereinigen, indem es die sinnliche Anschauung mit der Regel konfrontiert, nach der ein bestimmtes Objekt produziert werden kann. Unsere Sinnlichkeit benötigt die Voraussetzung einer transzendentalen Abstraktion und keiner empirischen. Die transzendentale Abstraktion kann jedoch nur erklären, wie die Intelligenz Begriff und Anschauung trennt, und nicht, auf welche Art und Weise (und durch welchen Prozess) ihre Synthese im Urteil möglich ist. Deswegen ist ein transzendentaler Schematismus notwendig. Das Schema ist ein Begriff, der zwischen innerem und äußerem Sinn vermittelt. Es hat eine dynamische Funktion, die die Produktion leitet. Das transzendentale Schema kann auf sehr originelle Art und Weise zwischen innerem und äußerem Sinn vermitteln. »Die transzendentale Abstraktion ist Bedingung des Urteils, aber nicht das Urteil selbst. Sie erklärt nur, wie die Intelligenz dazu kommt, Objekt und Begriff zu trennen, nicht aber, wie sie beide im Urteil wieder vereinigt. Wie der an sich völlig anschauungslose Begriff mit der an sich völlig begrifflosen Anschauung des Raums sich zum Objekt wieder verbinde, ist ohne ein Vermittelndes nicht denkbar. Aber was den Begriff und die Anschauung überhaupt vermittelt, ist das Schema. Also wird auch die transzendentale Abstraktion wieder aufgehoben werden durch einen Schematismus, den wir zum 120
Ebd., S. 182.
126 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie
Unterschied gegen den früher abgeleiteten den transzendentalen nennen werden.« 121 Vor diesem semantischen Horizont unterscheidet Schelling das empirische Schema vom transzendentalen Schema. Das empirische Schema wird als die sinnlich angeschaute Regel erklärt, nach der ein Gegenstand empirisch hervorgebracht werden kann. Das transzendentale Schema ist die sinnliche Anschauung der Regel, nach welcher ein Objekt überhaupt oder transzendental hervorgebracht werden kann. Das Schema ist also »überhaupt ein Vermittelndes des inneren und äußeren Sinns«. 122 Das Schema muss sowohl vom Bild als auch vom Symbol unterschieden werden, mit welchen es sehr häufig verwechselt wird. »Das Bild ist immer von allen Seiten so bestimmt, daß zur völligen Identität des Bildes mit dem Gegenstand nur der bestimmte Teil des Raumes fehlt, in welchem der letztere sich befindet. Das Schema dagegen ist nicht eine von allen Seiten bestimmte Vorstellung, sondern nur Anschauung der Regel, nach welcher ein bestimmter Gegenstand hervorgebracht werden kann. Es ist Anschauung, also nicht Begriff, denn es ist das, was den Begriff mit dem Gegenstand vermittelt. Es ist aber auch nicht Anschauung der Regel, nach welcher ein solcher hervorgebracht werden kann.« 123
22. Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie: von der absolut-unendlichen Identität zur differenzierten endlichen Realität Im System der gesammten Philosophie (1804) definiert Schelling das Konzept der Philosophie der Identität und arbeitet eine Konstruktion des gesamten ideellen und reellen Seins aus, indem er das vollendete und systematische Schema der Kräfte verwendet. Was ist eine Philosophie der Identität? Welches ist ihre Funktion und ihre Zielsetzung im philosophischen System Schellings? Wie ist die Beziehung zwischen einer Philosophie der Identität und dem Begriff des Absoluten? Wie ist die Wechselbeziehung zwischen unendlicher, absoluter Identität und endlicher, differenzierter Realität? 121 122 123
Ebd., S. 190. Ebd. Ebd., S. 182.
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Das Verständnis der Kunst bzw. der ästhetischen Anschauung als derjenigen Anschauung, die die Einheit von Ideellem und Reellem herstellt, und die Definition der Transzendentalphilosophie als IdealRealismus implizieren eine neue Konzeption des Absoluten, die stark von den einseitigen Begriffen Kants und Fichtes wie Subjekt, Ich, Selbstbewusstsein usw. abweicht. Nun wird eine philosophische Formulierung gesucht, die das Absolute als ursprüngliche Identität des Ichs und des Nicht-Ichs, des Subjekts und Objekts, von Bewusstem und Unbewusstem, von Geist und Natur (also als coincidentia oppositorum) versteht. Das Absolute ist mithin diese ursprüngliche Identität von Ideellem und Reellem, und die Philosophie ist das absolute Wissen des Absoluten, das auf die Anschauung dieses Absoluten gegründet ist – eine Anschauung, die die Bedingung jeden weiteren Wissens ist. Dieses Absolute wird Vernunft genannt, und die Sichtweise der Vernunft ist die Sichtweise des absoluten Wissens. Die Philosophie ist eine absolute Wissenschaft. Der Umsturz der Position Kants ist nun vollbracht, und auch die zukünftige Perspektive Hegels wird vorweggenommen, auch wenn sie gegenüber Schellings Konzeption noch einige Veränderungen beinhaltet. Es ist evident, dass diese Konzeption eine Synthese von Fichtes und Spinozas Gedanken in Form eines pantheistischen Spiritualismus (oder spiritualistischen Pantheismus) darstellt. Alles ist Vernunft, und die Vernunft ist alles. Sie ist einzigartig. Die einzige absolute Erkenntnis ist die Erkenntnis der absoluten Identität, die unendlich ist. Also ist alles, was ist, Identität, die als solche niemals zum Verschwinden gebracht werden kann. Jedes Ding wird so, wie es an sich ist, betrachtet und liegt in dieser unendlichen Identität, existiert nur in ihr und nicht außerhalb von ihr. Diese Identität geht nicht (aus sich selbst) hervor und hat kein Außen, sondern im Gegenteil: Alles ist in der Identität. Laut Schelling ist der größte Fehler einer jeden (früheren) Philosophie die Annahme, dass die absolute Identität außerhalb der Subjektivität liege. Die absolute Identität ist folglich das Ein und Alles, und außer ihr existiert kein Ding an sich. Sie ist das Universum. Die einzelnen Dinge sind phänomenologische Manifestationen, die in der qualitativen Differenzierung von Subjektivem und Objektivem, aus der das Endliche hervorgeht, ihren Ursprung haben. Jede einzelne Existenz ist die qualitative Differenzierung der absoluten Identität; sie bleibt nicht nur in der Identität (als ihrem Grund) verwurzelt, sondern setzt immer auch die Totalität der einzelnen Dinge voraus, an die sie strukturell und organisch gebunden ist. 128 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie
Schelling zufolge zeigt sich die Indifferenz oder die ursprüngliche Identität in der doppelten (phänomenologischen) Abfolge von Kräften, d. h. in der Serie von Kräften, in denen das Moment der Subjektivität vorherrscht (A), und in der Serie, in der die Objektivität vorherrscht (B); aber wenn A vorherrscht, ist B mit einbegriffen, wie im umgekehrten Falle A mit einbegriffen ist. Die Identität bleibt in der Totalität bestehen und behauptet sich in jeder Differenzierung. Es ist verständlich, dass diese neue Perspektive von Schelling es sehr schwierig macht, zu erklären, wie und warum aus der unendlichen Identität Differenzierung und das Endliche hervorgehen. In dieser Phase versucht Schelling diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er die platonische Ideenlehre wiedereinführt. In der Vernunft, die als absolute Identität und als Einheit des Universellen und Einzelnen angesehen wird, liegen besondere Einheiten (die Ideen), die der Ursprung der endlichen Dinge sein müssen. Schelling ist der Auffassung, dass die Dinge nur für uns, also nur für unser empirisches Bewusstsein, 124 Dinge in der Erkenntnis sind. Es wird deutlich, dass Schelling hier mit einem komplizierten Problem kämpft: dem Problem des Ursprungs des Endlichen aus dem Unendlichen. An diesem Punkt angelangt, war es ihm weder möglich, den Kreationismus (der das Endliche aus dem freien Willen des Schöpfers hervorgehen lässt, diesen also als transzendental ansieht) noch den Spinozismus (der das Endliche auslöscht und somit eine präidealistische Position vertritt) aufzunehmen. Und so nimmt er das antike Konzept der Gnosis wieder auf, das schon vorher der deutsche Mystizismus verwendet hatte. Nach diesem Konzept setzen die Existenz der Dinge und ihr Ursprung einen ursprünglichen Abfall, eine ursprüngliche Entzweiung, eine Trennung von Gott voraus. Laut Schelling kann man den Ursprung der sinnlichen Erkenntnis angesichts dieser Trennung vom Absoluten nur durch einen Sprung erklären. Dies ist das zentrale Thema der theosophischen Phase der Philosophie Schellings, die, wenn auch in wechselnder Intensität, von irrationalen Echos gekennzeichnet ist. 125 124 Zur Analyse des Begriffs »Bewusstsein« nach Schelling vgl. V. Jankélévitch, L’Odyssée de la conscience dans la dernière philosophie de Schelling, Paris: L’Harmattan 2005; vgl. J. F. Courtine, Schelling. Entre temps et éternité. Histoire et préhistoire de la conscience, Paris: Vrin 2012. 125 Vgl. Hermann Krings, »Vorbemerkungen zu Schellings Naturphilosophie«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hrsg. von L. Hasler, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 73; vgl. Th. Buchheim, »Die Idee des
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Die Lösung des Problems bringt eine Revision der gesamten Problematik des Absoluten mit sich. Schelling akzeptiert es mittlerweile, als Pantheist bezeichnet zu werden, aber nur, wenn man unter Pantheismus versteht, dass alles, was ist, in Gott ist, und nicht umgekehrt, dass Gott alles ist. Außerdem akzeptiert Schelling, dass man Gott als Person betrachtet (was Spinoza und Fichte ausgeschlossen hatten). Die Gegensätze, die für Schelling vorher im Absoluten vereint wurden, versteht er nun als im Kampf mit dem Absoluten begriffen: Gott hat eine dunkle und blinde Seite, die der irrationale Wille ist, und eine positive und rationale Seite. Das Leben Gottes ist der Sieg des Positiven über das Negative. Gott ist nicht nur reiner Geist, sondern auch Natur.
23. Schellings Kritik an Hegel in der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie und in der Philosophie der Offenbarung: Negative und positive Philosophie In der letzten Phase seiner Philosophie setzt sich Schelling mit Hegel auseinander und entwickelt eine klare semantische Unterscheidung zwischen »negativer« und »positiver Philosophie«. 126 Der Gedankenweg Schellings schließt mit der Polemik gegen das philosophische System Hegels. Letzterer wird angeklagt, die vitalen Gründe des Idealismus auf ein geschlossenes, logisches und dialektisches Schema zu reduzieren, das abstrakt ist. Schelling sieht in der Philosophie Hegels eine Art von Philosophie, die alles in der Entwicklung der Idee aufgehoben wissen möchte und so ein logisches, sich selbst genügendes System begründet. Die Totalität des Reellen wird mit dem Rationalen identifiziert: »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Aus diesem Grund bestimmt Schelling die Hegel’sche Philosophie negativ, nämlich als eine Philosophie, Existierenden und der Raum. Vernunfthintergründe einer Welt äußerer Dinge nach Schellings Darstellung des Naturprocesses von 1843/44«, in: Kant-Studien 106 (2015), S. 36–66. 126 Zur semantischen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie vgl. S. Jürgensen, »Schellings logisches Prinzip: Der Unterschied in der Identität«, in: Schelling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und Michael Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 113–143; vgl. M. Guschwa, Dialektik und philosophische Geschichtserzählung beim späten Schelling, Würzburg: Ergon 2013.
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Schellings Kritik an Hegel
die der reine Gedanke sein möchte und die keine Konfrontation mit etwas Gegensätzlichem zulässt, das nicht ausschließlich auf den Gedanken zurückzuführen ist. Somit zeigt sich die Philosophie Hegels als eine leere, spekulative Konstruktion. Laut Schelling zielen die Philosophie und die Logik Hegels darauf, die Essenz der Dinge zu erfassen; dies jedoch niemals in ihrer reellen Existenz. Die Hegel’sche Philosophie geht von der Vernunft aus und beachtet somit nicht die Ganzheit der Existenz der Wirklichkeit, mit der sich hingegen die positive Philosophie beschäftigt. Eine solche Philosophie wie die Hegel’sche ist negativ, »weil es ihr nur um die Möglichkeit (das Was) zu thun ist, weil sie alles erkennt, wie es unabhängig von aller Existenz in reinen Gedanken ist; zwar werden in ihr existierende Dinge deducirt (sonst wäre sie nicht Vernunft, d. h. apriorische Wissenschaft, denn das a priori ist dieß nicht ohne ein a posteriori), aber es wird in ihr darum nicht deduziert, daß die Dinge existieren; negativ ist jene, weil sie auch das Letzte, das an sich Actus (daher gegenüber von den existierenden Dingen überexistierend ist), nur im Begriff hat. Positiv dagegen ist diese; denn sie geht von der Existenz aus, der Existenz, d. h. dem actu Actus-Seyn des in der ersten Wissenschaft als notwendig existirend im Begriff (als natura Actus seyend) Gefundenen.« 127 Man muss nun die beiden Formen der Philosophie verbinden. »Ist aber gleich die positive Philosophie eine von der negativen abgesetzte und andere, so ist demungeachtet der Zusammenhang, je die Einheit beider zu behaupten. Die Philosophie ist doch nur Eine, nämlich die Philosophie, die sowohl ihren Gegenstand sucht, als ihren Gegenstand hat und ihn zur Erkenntnis bringt. Die positive ist es, die auch in der negativen eigentlich ist, nur noch nicht als wirkliche, sondern erst als sich suchende: wie dieß diese ganze nun zu Ende gekommene Entwicklung gezeigt hat.« 128 Vor welchem Horizont ist eine Verbindung oder Synthese zwischen beiden Philosophien möglich? Warum ist die semantische Unterscheidung zwischen positiver und negativer Philosophie so wichtig für die letzte gedankliche Phase Schellings? Was ist die Funktion und was ist das Ziel einer negativen Philosophie? Was ist positive Philosophie?
F. W. J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, S. 604. 128 Ebd., S. 606. 127
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Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Schelling zufolge ist die negative Philosophie eine rein rationale Philosophie, die auf einer reinen, logischen Vorgehensweise beruht. Die positive Philosophie hingegen ist durch eine Vorgehensweise gekennzeichnet, die die Realität untersucht, die die historischen Manifestationen des Göttlichen, 129 also die Mythologie und die Religion, miteinbezieht. Während die negative Philosophie auf der Vernunft beruht, beruht die positive Philosophie auf der Religion und der Offenbarung. Die objektive (positive) Existenz der Realität sollte nicht durch die Vernunft erklärt werden, sondern durch den Glauben. Wenn man sich also bei der negativen Philosophie der Vernunft bedienen kann, kann man sich der positiven Philosophie nur mittels des Glaubens annähern. Die Aufgabe der positiven Philosophie ist es, sich ohne Unterlass mit etwas auseinanderzusetzen, das dem Gedanken entgegengesetzt ist, mit etwas, das sich als unerschöpflich erweist: mit Gott. Schelling vertritt die Auffassung, dass die positive Philosophie ein Zwischenschritt zur philosophischen Religion ist. Diese ist frei, bewusst und geistlich, weil sie mit dem Akt der Wiederaneignung der religiösen Inhalte, die von der Mythologie, der Erfahrung, der Tradition oder der Offenbarung vermittelt werden, durch eine rationale Untersuchung gleichzusetzen ist. Die philosophische Religion unterscheidet sich vom Rationalismus im weitesten Sinne, weil dieser im logischen Bereich verbleibt und entsprechend begrenzt ist, während die philosophische Religion auf Gott und die religiösen Phänomene in ihrer Ganzheit und mit ihrem geschichtlichen Hintergrund konzentriert ist. Das Konzept der negativen Philosophie wie auch das Schema, das der Lehre der Kräfte zugrunde liegt, reiften schon früh in Schelling. Der Weg seiner Theorie wird schon in den Vorlesungen, die er ab 1827 in München über die Geschichte der modernen Philosophie gehalten hat, und in den Vorlesungen von 1836 über den philosophischen Empirismus vorweggenommen. Die einzelnen theoretischen Ansätze, die in diesen Vorlesungen zum Vorschein kommen, werden jedoch erst später und bis zu seinem Tode in seiner letzten Philosophie von ihm vertieft: Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie (1839); Philosophie der Offenbarung (1841–1842); Phi129 Vgl. D. Korsch, Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte der positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk Schellings, München 1980.
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Schellings Kritik an Hegel
losophie der Mythologie (1842); Der Monotheismus (1842); Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (1847–1854); Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (1842–1843); Das Tagebuch 1848. Philosophie der Mythologie und demokratische Revolution (1848–1849). Die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung stellen den Versuch dar, eine positive Philosophie 130 zu realisieren, deren Ziel es ist, die Realität zu erklären, ohne sie in Schemata zu drängen, die rein begrifflich sind. Die positive Philosophie impliziert die Überwindung des negativen Moments, der eintritt, wenn die Vernunft, nachdem sie sich das Sein durch logische Begriffe angeeignet hat, erkennt, dass sie nicht selbst das absolute Prinzip ist, sondern dass ihr Denken von etwas herrühren muss, das dies erst ermöglicht. Die Philosophie wird so zu einer philosophischen Religion, die zwei Phasen durchläuft: die der natürlichen oder mythologischen Religion und die der offenbarten Religion. Hieraus folgt die Aufteilung der positiven Philosophie in eine Philosophie der Mythologie und in eine Philosophie der Offenbarung. Die Aufgabe der positiven Philosophie ist es, die Wahrheit der Mythologie und der Offenbarung zu erfassen und sich somit Gott zuzuwenden.
130 Vgl. M. Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewusstseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«, Berlin/New York: de Gruyter 2006.
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III. Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
»Das was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft.« »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewusstsein, wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus, als des natürlichen.« »Die Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist, so wie ihr Aufgehobensein, also in sich pulsiert, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu sein. Sie ist sichselbstgleich, denn die Unterschiede sind tautologisch, es sind Unterschiede, die keine sind.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel
1.
Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität. Hegels Kritik an Fichte und Schelling in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie
In dem Abschnitt »Prinzip einer Philosophie in der Form eines absoluten Grundsatzes« seiner Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) bemerkt Hegel: »Die Philosophie als eine durch Reflexion produzierte Totalität des Wissens wird ein System, ein organisches Ganzes von Begriffen, dessen höchstes Gesetz nicht der Verstand sondern die Vernunft ist; jener hat die Entgegengesetzten seines Gesetzten, seine Grenze, Grund und Bedingung richtig aufzuzeigen, aber die Vernunft vereint diese Widersprechenden, setzt beide zugleich und hebt beide auf. An das 134 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
System als eine Organisation von Sätzen kann die Forderung geschehen, daß ihm das Absolute, welches der Reflexion zum Grunde liegt, auch nach Weise der Reflexion, als oberster absoluter Grundsatz vorhanden sei.« 1 Anhand dieser Betrachtung möchte Hegel aufzeigen, dass das Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d. h. in seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll (und nichts anderes ist mit Spekulation gemeint), gar nicht anders als in sich widersprüchlich gedacht werden kann: als Antinomie. Er erklärt: »Soll das Prinzip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn nämlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muß, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweiung, ausdrücken.« 2 Ebenfalls in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie schreibt Hegel, dass der Verstand, da Wissen die Synthese von Subjektivität und Objektivität ist, zugleich die Identität (A = A) und die Nicht-Identität (A = B) behaupten muss. Dies führt jedoch zur Verstrickung in eine Antinomie. Einziger Ausweg ist: entweder die Nicht-Identität zu negieren oder auf die Wahrheit des Wissens zu verzichten. Hegel unterstreicht daher: »[W]enn man bloß auf das Formelle der Spekulation reflektiert und die Synthese des Wissens in analytischer Form festhält, so ist die Antinomie, der sich selbst aufhebende Widerspruch, der höchste formelle Ausdruck des Wissens und der Wahrheit.« 3 Insofern die Spekulation »von der Seite der bloßen Reflexion angesehen wird, erscheint die absolute Identität in Synthesen Entgegengesetzter, also in Antinomien; die relativen Identitäten, in die sich die absolute differenziert, sind zwar beschränkt, und insofern für den Verstand und nicht antinomisch; zugleich aber weil sie Identitäten sind, sind sie nicht reine Verstandesbegriffe; und sie müssen Identitäten sein, weil in einer Philosophie 1 G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, hrsg. von H. Brockard und H. Buchner, Hamburg: Meiner 1979, S. 25. 2 Ebd., S. 26–27. 3 Ebd., S. 28.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
kein Gesetztes ohne Beziehung aufs Absolute stehen kann; von der Seite dieser Beziehung aber ist selbst jedes Beschränkte eine (relative) Identität, und insofern für die Reflexion ein antinomisches; und dies ist die negative Seite des Wissens, das formale, das von der Vernunft regiert, sich selbst zerstört. Außer dieser negativen Seite hat das Wissen eine positive Seite, nämlich die Anschauung. Reines Wissen, das hieße Wissen ohne Anschauung, ist die Vernichtung der Entgegengesetzten im Widerspruch; Anschauung ohne diese Synthese Entgegengesetzter ist empirisch, gegeben, bewußtlos.« 4 Die Spekulation ist somit zum Denken des Absoluten bestimmt, das der damit notwendig verbundenen Erfahrung der Antinomie standhält und sich vor ihr nicht in die vermeintlichen Sicherheiten des reflektierenden Verstandes flüchtet. »Das Vermögen der Spekulation« heißt sowohl bei Hegel als auch bei Schelling Vernunft, die vom Verstand unterschieden wird. Dieser soll von sich aus den Widerspruch ausschließen, weil der Widerspruch irrational ist. Mit diesem Begriff der Spekulation haben Hegel und Schelling den traditionellen Begriff der Dialektik übernommen und zugleich grundlegend neu formuliert. Dies wird offensichtlich, wenn man den Hegel’schen Begriff der Dialektik mit dem Schelling’schen Begriff in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803 konfrontiert. 5 Die Wege von Hegel und Schelling trennen sich sowohl aus philosophischer Sicht als auch aus persönlicher, als es darum geht, die in der Perspektive des abstrakten Verstandes irrationale Spekulation nun selber rational zu bestimmen. Es ist interessant, zu bemerken, dass Hegel in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie von 1801 noch mit der Schelling’schen Lehre der intellektuellen Anschauung übereinstimmt und erklärt: Das Absolute, d. h. die absolute Identität zwischen Subjektivität und Objektivität, erscheint dem Verstand als eine Form der Antinomie; im Gegensatz dazu erscheint die Vernunft als das Vermögen der Spekulation und erfasst in der »Nacht des Verstands« auch die Identität des in der Antinomie Entgegengesetzten, und zwar als nicht-empirische, intellektuelle oder transzendentale Anschauung. »Dadurch, dass die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des SubEbd., S. 30. Vgl. F. W. J. Schelling, Studium generale. Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, hrsg. von Glockner, Stuttgart: Kröner 1954, S. 81. 4 5
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Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
jektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt ist, ins Bewußtsein […]. Das Produzieren des Bewußtseins dieser Identität ist die Spekulation, und weil Idealität und Realität in ihr Eins sind, ist sie Anschauung.« 6 Ausgehend von dieser Auffassung unterstreicht Hegel im Abschnitt »Transzendentale Anschauung« der Differenzschrift, dass »das transzendentale Wissen beides vereinigt: Reflexion und Anschauung. Es ist Begriff und Sein zugleich. Dadurch, daß die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt sind, ins Bewußtsein; das Wissen, insofern es transzendental wird, setzt nicht nur den Begriff und seine Bedingung oder die Antinomie beider, das Subjektive, sondern zugleich das Objektive, das Sein, voraus. Im philosophischen Wissen ist das Angeschaute eine Tätigkeit der Intelligenz und der Natur, des Bewußtseins und des Bewußtlosen zugleich; es gehört beiden Welten, der ideellen und reellen zugleich an – der ideellen, indem es in der Intelligenz, und dadurch in Freiheit gesetzt ist, – der reellen, indem es seine Stelle in der objektiven Totalität hat, sozusagen als ein Ring in der Kette der Notwendigkeit deduziert wird. Stellt man sich auf den Standpunkt der Reflexion oder der Freiheit, so ist das Ideelle das Erste und das Wesen, und das Sein nur die schematisierte Intelligenz; stellt man sich auf den Standpunkt der Notwendigkeit oder des Seins, so ist das Denken nur ein Schema des absoluten Seins.« 7 Im transzendentalen Wissen ist beides vereinigt, Sein und Intelligenz; ebenso ist »transzendentales Wissen und transzendentales Anschauen Eins und dasselbe; der verschiedene Ausdruck deutet nur auf das Überwiegende des ideellen oder reellen Faktors. Es ist von der tiefsten Bedeutung, daß mit so vielem Ernst behauptet worden ist, ohne transzendentale Anschauung könne nicht philosophiert werden.« 8 Einige Jahre später kritisiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) die »tranzendentale Anschauung« und bezeichnet sie als philosophischen Obskurantismus – und beleidigt so zutiefst Schelling, mit dem er seine ersten philosophischen Gedanken geteilt 6 G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, S. 32. 7 Ebd., S. 31. 8 Ebd.
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hatte. Hegel erklärt in der Differenzschrift von 1801, dass »in der transzendentalen Anschauung alle Entgegensetzung aufgehoben, aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz, und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden Organisation vernichtet [ist]«. 9 Im Gegensatz dazu beschreibt er im Vorwort der Phänomenologie des Geistes von 1807 das Resultat dieser Vernichtung in einem absolut negativen Sinne. In der Differenzschrift erklärt Hegel, dass das philosophische System Schellings die Natur nicht nur als negatives Moment der unendlichen Tätigkeit des Ichs auffasse, sondern auch als Erschaffung und Entwicklung seiner selbst: Es gibt eine Einheit von Geist und Natur, von Subjektivität und Objektivität, von Ideellem und Reellem, und am Ursprung dieser Einheit steht das gleiche Prinzip. Aber was liegt diesem Prinzip zugrunde? Warum ist die kritische Interpretation dieses Prinzips als Ursprung dieser Einheit und Synthese in der Hegel’schen Philosophie so wichtig? Laut Hegel möchte Schelling in der Natur die gleichen Momente der Selbsterschaffung wiederfinden, die er in der Wissenschaftslehre Fichtes in der Tätigkeit des Ichs gefunden hatte. So kommt er zu dem Schluss, dass die Natur ein unbewusstes Produkt der Intelligenz ist und dass sie sich Schritt für Schritt weiterentwickelt: von der Materie über das Organische bis hin zum Menschen, in dem schließlich die Intelligenz zur Erkenntnis reift. Der Mensch ist so das höchste Ziel der Natur; in ihm offenbart sich der Geist, der auf allen anderen Stufen der Natur versteckt bleibt. Schelling nutzt die wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit (den Magnetismus, die Elektrizität, den Chemismus) und vertritt die Auffassung, dass die Natur sich durch das Aufeinandertreffen zweier fundamentaler Kräfte realisiere: Anziehung und Abstoßung, die die unterschiedlichen Stufen der Natur hervorrufen. Das Prinzip der Naturphilosophie Schellings lautet: »Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist ist die unsichtbare Natur.« Wenn die Natur ein unbewusster Geist ist, kann man sie nicht mehr als eine Ganzheit von Phänomenen, die durch notwendige Gesetze geordnet werden, ansehen. Die Natur kann nicht als Mechanismus verstanden werden, da sie ein lebendiger Organismus ist; der Organismus zeigt sich in der Tat als ein mechanisch Mehrfaches, das zwar aus einzelnen Teilen besteht, aber auch in sich eine Einheit hat,
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Ebd.
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Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
der das Prinzip der Entwicklung sowie notwendige Beziehungen der Teile mit dem Ganzen zugrunde liegen. Hegel kritisiert in der Differenzschrift von 1801 Schellings Naturphilosophie, 10 die den Prozess der Natur als unbewusste Intelligenz 11 versteht, welche mittels »sukzessiver und ansteigender Stufen« bis zum menschlichen Bewusstsein aufsteigt. Schellings System des transzendentalen Idealismus geht vom Subjektiven aus und leitet das Objektive von ihm ab (ein Prozess, der sich im Vergleich zur Naturphilosophie in umgekehrter Richtung vollzieht). Es gibt also zwei Wege, die die Philosophie durchlaufen soll: vom Objekt zum Subjekt (von der Natur zum Geist), das ist die Aufgabe der Naturphilosophie; und vom Subjekt zum Objekt (vom Geist zur Natur), das ist die Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Die theoretische und die praktische Philosophie ergeben als Synthese das System des transzendentalen Idealismus. Der Ausgangspunkt des transzendentalen Weges ist das Ich oder das Selbstbewusstsein: Die transzendentale Philosophie ist die Geschichte des Selbstbewusstseins, das alle Stufen des inneren Prozesses des Bewusstseins durchläuft, von der Empfindung zur Reflexion, 12 von der Reflexion zum Willen. Die erste Phase (die der Empfindung) ist die, in der das Bewusstsein das Objekt als außerhalb von sich liegend erkennt. Die zweite Phase der Reflexion ist die, in der das Bewusstsein sich selbst im Objekt erkennt und es als Ergebnis seiner Handlung versteht. Die dritte Phase ist die des Willens, in der das Bewusstsein sich selbst als eigenes Objekt konzipiert und sich als Wille erkennt. Der theoretische und der praktische Aspekt des Bewusstseins stellen sich somit als Gegensatzpaar heraus, so dass die Transzendentalphilosophie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie unterscheiden kann. Die theoretische Philosophie sieht unsere Darstellungen als von den Objekten hervorgerufen an. Die praktische Philosophie hingegen sieht Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Von der wirklichen, von der seyenden Natur: Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 11 Vgl. W. C. Zimmerli, »Die Frage nach der Philosophie. Interpretation zu Hegels Differenzschrift«, in: Hegel-Studien, Beiheft 12, Bonn: Bouvier 1974; vgl. R. Stern, Hegel, Kant and the Structure of the Object, New York 2006. 12 Vgl. M. Gabriel, »The Mythological Being of Reflection. An Essay on Hegel, Schelling, and the Contingency of Necessity«, in: M. Gabriel und S. Žižek, Mythology, Madness and Laughter. Subjectivity in German Idealism, London/New York: Continuum 2009, S. 15–94. 10
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
die Objekte als von den Darstellungen bestimmt und modifiziert an. Und hier liegt der Widerspruch: Im ersten Falle postuliert man, dass die sinnliche Welt über dem Gedanken steht, im zweiten Falle, dass der Gedanke über der sinnlichen Erkenntnis steht. Weder das theoretische Bewusstsein noch das moralische können das Organon der Philosophie sein, weil sie diese Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Nur die ästhetische Aktivität, die Kunst, ist das Organon der Philosophie. Sie ist der Höhepunkt des Lebens des Geistes, da nur das Kunstwerk ein konkretes, reales Zeugnis von der Möglichkeit gibt, die Trennung von Geist und Natur zu überwinden. Schelling sieht in der ästhetischen Tätigkeit die einzige Möglichkeit, intuitiv das Absolute als Identität von unbewusster Natur und bewusstem Geist zu erkennen. Im Kunstwerk drückt sich das Unendliche in endlichen Formen aus. Die Kunst ist die einzige und ewige Enthüllung des Absoluten. In der Schelling’schen Auffassung der Kunst und der ästhetischen Tätigkeit als einziger Möglichkeit, die Einheit von Realem und Idealem, von Subjekt und Objekt zu erreichen, sieht Hegel die neue Konzeption des Absoluten, die sich qualitativ tiefgehend von Kants und Fichtes Bestimmungen des Subjekts, des Ichs und des Selbstbewusstseins unterscheidet. In der Definition Schellings ist das Absolute die ursprüngliche Identität von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Geist und Natur als coincidentia oppositorum. Das Absolute verwirklicht sich nur durch eine ursprüngliche Anschauung, nämlich die der Philosophie, die eine absolute und bedingungslose Wissenschaft ist, weil ihr Ursprung nicht in den Grundsätzen anderer Wissenschaften liegt. Dieses Absolute wird bereits Vernunft genannt, und die Philosophie ist die Sichtweise der Vernunft. Alles ist Vernunft und Vernunft ist alles. All das, was vernünftig ist, ist wirklich. Diese absolute Identität ist unbegrenzt und kann nie aufgehoben werden. Laut Schelling besteht die echte Philosophie in der Darstellung dieser unaufhebbaren absoluten Identität. Alles ist Identität von Natur und Subjektivität – ein Prinzip, das nur Spinoza erkannt hatte, jedoch ohne einen vollständigen Beweis geliefert zu haben. Die einzelnen Dinge gehen aus der qualitativen Differenzierung jener zwei Kräfte (Anziehung und Abstoßung) hervor, in denen sich das Absolute äußert. Hierbei überwiegt entweder das subjektive Moment oder das objektive Moment. Schelling akzeptiert weder das künstlerische Schaffen (welches 140 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung von Endlichem und Unendlichem
das Endliche aus der Handlung des freien Willens des Schöpfers erwachsen lässt) noch den Spinozismus (der das Endliche widerlegt, indem alles auf Gott zurückgeführt wird). Er nimmt folglich das antike gnostische Konzept wieder auf, nach dem die Existenz der Dinge und deren Herkunft eine ursprüngliche Loslösung, eine Abkehr von Gott voraussetzen. Und das ist das zentrale Thema der theosophischen Phase der Schelling’schen Philosophie. Erst die Überprüfung und die Umformung der eigentlichen Thematik des Absoluten in der letzten Phase der Philosophie Schellings bringt die Lösung des hier dargestellten Problems mit sich: Die Gegensätze, die Schelling zuerst im Absoluten als vereinigt angesehen hatte, sind für ihn nun in der Philosophie der Mythologie und in der Philosophie der Offenbarung durch einen Kampf untereinander im Absoluten charakterisiert. In Gott liegen ein obskures, irrationales Prinzip und zugleich ein positives, rationales Prinzip. Das Leben Gottes entfaltet sich als ein Sieg des Positiven über das Negative. Das menschliche Drama eines Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Freiheit und Zwang, ist nichts anderes als die Widerspiegelung eines ursprünglichen Konfliktes zwischen den gegensätzlichen Kräften in Gott.
2.
Die Wechselbeziehung von Endlichem und Unendlichem
Die Erklärung des Endlichen im Unendlichen ist eine der Hauptthesen des Hegel’schen Idealismus. Mit dieser Theorie erklärt Hegel die Wirklichkeit nicht als eine Gesamtheit von selbständigen Substanzen, die separat vorliegen, sondern als einen einheitlichen Organismus, in dem alles, was existiert, eine Manifestation des Geistes 13 ist. Dieser Organismus deckt sich mit dem Absoluten oder Unendlichen, und seine unterschiedlichen Manifestationen verweisen auf die Unendlichkeit. Demzufolge existiert das Endliche als solches nicht, da es eine Emanation des Unendlichen ist. Um das Konzept des Unendlichen zu definieren und um die dialektische Korrelation »endlich – unendlich« 14 zu bestimmen, führt Hegel die sprachlich-semantische Unterscheidung zwischen dem bösen Unendlichen und dem echten 13 Vgl. J. Russon, Infinite Phenomenology: The Lessons of Hegel’s Science of Experience, Evanston: Northwestern University Press 2015. 14 Zur Korrelation »endlich – unendlich« in Hegels Philosophie vgl. Das Endliche und
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Unendlichen ein. »Die schlechte Unendlichkeit ist die sinnliche Unendlichkeit.« 15 Die falsche Unendlichkeit ist die mathematische Unendlichkeit des unendlichen Fortschritts. Dieser Prozess ist durch einen kontinuierlichen Fortschritt charakterisiert. Der Fortschritt im Unendlichen verweist auf das dem Endlichen Gegenüberstehende, das jedoch nie erreicht wird; deshalb ist die Verneinung des Endlichen ein Seinmüssen. Das echte Unendliche hebt diesen Widerspruch auf. Es verneint die Wirklichkeit des Endlichen und löst es in sich auf. Die wirkliche Unendlichkeit ist, anders ausgedrückt, das, was ist: die Wirklichkeit. In der Wissenschaft der Logik erläutert Hegel, dass die wahrhafte Unendlichkeit Wirklichkeit ist. Nur das böse Unendliche ist nicht wirklich, weil es die Verneinung des Endlichen ist. Die wirkliche Unendlichkeit als ein Sein, das sich gegen die abstrakte Verneinung stellt, ist eine Wirklichkeit, die somit konkret ist: Nicht das Endliche ist wirklich, sondern das Unendliche. 16 Vor diesem semantischen Horizont ist das Unendliche die Kraft der Existenz und die Seele der Welt, durch die sich die Einheit von Vernunft und Wirklichkeit realisiert: Was vernünftig ist, das ist wirklich. »Diese einfache Unendlichkeit, oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist, so wie ihr Aufgehobensein, also in sich pulsiert, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu sein. Sie ist sichselbstgleich, denn die Unterschiede sind tautologisch, es sind Unterschiede, die keine sind.« 17 Die Unendlichkeit oder »diese absolute Unruhe des reinen sich selbst Bewegens, daß, was auf irgend eine Weise, zum Beispiel als Sein, bestimmt ist, vielmehr das Gegenteil dieser Bestimmtheit ist, ist zwar schon die Seele alles bisherigen gewesen, aber im Innern erst ist sie selbst frei hervorgetreten. Die Erscheinung oder das Spiel der Kräfte stellt sie selbst schon dar, aber als Erklären tritt sie zunächst
das Unendliche in Hegels Denken, hrsg. von L. Illetterati und F. Menegoni, Stuttgart: Klett-Cotta 2003. 15 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 343. 16 Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, I, Teil I, Kap. II, S. 161–162 und S. 163. 17 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 252.
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frei hervor; und indem sie endlich für das Bewußtsein Gegenstand ist, als das, was sie ist, so ist das Bewußtsein Selbstbewußtsein.« 18 Im romantischen Idealismus dient dieses Konzept des »Unendlichen« 19 dazu, die Wirklichkeit als solche zu rechtfertigen und den Anspruch des abstrakten Verstandes, die unüberwindbaren Grenzen des Verstandes zu beurteilen und zu bestimmen, abzulehnen. Durch den Begriff der Unbegrenztheit und der Unendlichkeit der Macht ist jede einzelne Wirklichkeit das, was sie sein muss. Das Unendliche benötigt, um zu sein, nichts, was außer ihm liegt, und ist deswegen die unbegrenzte Macht des Daseins. Dieses Konzept der Unendlichkeit kann man bis zu Plotin zurückverfolgen, der in den Enneaden das Unendliche als Unbegrenztheit der Macht definiert hat. Für Hegel ist die Unendlichkeit die Wirklichkeit selbst, weil sie eine unbegrenzte Macht der Verwirklichung, d. h. eine absolute Macht ist. Aus dieser Sicht ist das Endliche irreal und findet seine Wirklichkeit nur im Unendlichen und als Unendliches. Daher ist die Unendlichkeit das Absolute. Es ist zur gleichen Zeit Objekt und Subjekt der Philosophie und wird oft unterschiedlich definiert. Es bleibt weiterhin durch seine positive Unendlichkeit charakterisiert und ist jenseits von jeder endlichen Wirklichkeit. Außerdem trägt es jede endliche Wirklichkeit in sich. Im Vorwort der Phänomenologie des Geistes legt Hegel dar, dass das Absolute das wesentliche Ergebnis ist, das erst am Ende der Entwicklung Wirklichkeit ist. Auf der Grundlage dieses Prinzips identifiziert sich der absolute Geist mit den höchsten Stufen der Wirklichkeit, insofern er sich selbst als das Prinzip des unendlichen Selbstbewusstseins in der Religion, in der Kunst und in der Philosophie bestimmt. Deshalb ist das Absolute ohne Einschränkungen, ohne Grenzen, ohne Bedingungen. Das Absolute ist die Wirklichkeit, welche auf Grenzen und Bedingungen verzichtet. Es ist die höhere Wirklichkeit des Geistes oder die höhere Wirklichkeit Gottes. Das Absolute ist das wahre Unendliche.
Ebd., S. 254. Zum Begriff der Unendlichkeit bei Hegel vgl. M. Baum, »Zur Vorgeschichte des Hegel’schen Unendlichkeitsbegriffs«, in: Hegel-Studien 11 (1976), S. 89–124 und U. Majer, »Das Unendliche als eine bloße Idee«, in: Revue Internationale de Philosophie 186 (1993), S. 319–341.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
3.
Hegels Kritik an Kant in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss: Die Natur des Erkennens
In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß schreibt Hegel: »Die Kantische Philosophie kann am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat und nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben, enthält.« 20 Bei Kant erreicht die Phänomenologie des Geistes als Bewusstsein nicht das Niveau der Philosophie, d. h. der Wissenschaft im strikten Sinn. Die Phänomenologie des Geistes kann darum nur dann zur Wissenschaft werden (zur Wissenschaft des erscheinenden Wissens oder zur Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstsein), wenn man über Kant hinausgeht, aber im Sinne des kritischen Denkweges. Im Kapitel »Kritische Philosophie der Enzyklopädie« bemerkt Hegel: »Es kann eine allgemeine Bemerkung über das Resultat gemacht werden, welches sich aus der kritischen Philosophie für die Natur des Erkennens ergeben, und zu einem der Vorurteile d. i. allgemeinen Voraussetzungen der Zeit erhoben hat. In jedem dualistischen System, insbesondere aber im Kantischen gibt sich sein Grundmangel durch die Inkonsequenz das zu vereinen, was einen Augenblick vorher als selbständig somit als unvereinbar erklärt worden ist, so wird sogleich vielmehr für das Wahrhafte erklärt, daß die beiden Momente, denen in der Vereinung als ihrer Wahrheit das Für-sich-bestehen abgesprochen worden ist, nur so, wie sie getrennte sind, Wahrheit und Wirklichkeit haben […]. Es ist darum die größte Inkonsequenz einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt: das Erkennen könne nicht weiter, dies sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen Wissens. Die natürlichen Dinge sind beschränkt, und nur natürliche Dinge sind sie, insofern sie nichts von ihrer allgemeinen Schranke wissen, insofern ihre Bestimmtheit nur eine Schranke für uns ist, nicht für sie.« 21 Welches ist die Funktion und worin besteht die Bedeutung der Schranke, und worin liegen die Grenzen der Möglichkeit des menschlichen Bewusstseins? 20 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 202. 21 Ebd., S. 143–144.
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Hegels Kritik an Kant
Wodurch ist die Beziehung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem im Hegel’schen Idealismus charakterisiert? Hegel schreibt: »Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. Die lebendigen Dinge haben das Vorrecht des Schmerzes vor den leblosen; selbst für jene wird eine einzelne Bestimmtheit zur Empfindung eines Negativen, weil sie als lebendig die Allgemeinheit der Lebendigkeit, die über das Einzelne hinaus ist, in ihnen haben, in dem Negativen ihrer selbst sich noch erhalten und diesen Widerspruch als in ihnen existierend empfinden. Dieser Widerspruch ist nur in ihnen, insofern beides in dem Einen Subjekt ist, die Allgemeinheit seines Lebensgefühls, und die gegen dasselbe negative Einzelheit. Schranke, Mangel des Erkennens ist ebenso nur als Schranke, Mangel bestimmt, durch die Vergleichung mit der vorhandenen Idee des Allgemeinen, eines Ganzen und Vollendeten. Es ist daher nur Bewußtlosigkeit nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von Etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist.« 22 Hegel kritisiert 23 an der Philosophie Kants und Fichtes, dass sie Philosophien des Bewusstseins geblieben seien, da sie das Bewusstsein nicht als eine objektive und absolute Wissenschaft betrachteten. »Die Kantische Philosophie kann am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat, und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält. Sie betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes, das in seiner abstrakten Bestimmung das Ding-an-sich heißt, und nur nach dieser Endlichkeit faßt sie sowohl die Intelligenz als den Willen. Wenn sie im Begriffe der reflektierenden Urteilskraft zwar auf die Idee des Geistes, die Subjektivität-Objektivität, einen anschauenden Verstand usw., wie auch auf die Idee der Natur kommt, so wird diese Idee selbst wieder zu einer Erscheinung, nämlich einer subjektiven Maxime, herabgesetzt. Es ist daher für einen richtigen Ebd., S. 144. Zur Hegel’schen Kritik an der Philosophie Kants und Fichtes vgl. W. C. Zimmerli, »Fichte contra Hegel. Umwertungsversuche in der Philosophiegeschichte«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1973), S. 600–606 und W. Janke, »Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre«, in: Fichte-Studien Supplementa, Bd. 22, hrsg. von Helmut Girndt, Amsterdam/New York 2009.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Sinn dieser Philosophie anzusehen, daß sie von Reinhold als eine Theorie des Bewußtseins, unter dem Namen Vorstellungsvermögen, aufgefaßt worden ist. Die Fichte’sche Philosophie hat denselben Standpunkt, und Nicht-Ich ist nur als Gegenstand des Ich, nur im Bewußtsein bestimmt; es bleibt als unendlicher Anstoß, d. i., als Ding-an-sich. Beide Philosophien zeigen daher, daß sie nicht zum Begriffe und nicht zum Geiste, wie er an und für sich ist, sondern nur, wie er in Beziehung auf ein Anderes ist, gekommen sind.« 24 In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß bemerkt Hegel, dass »in der kritischen Philosophie […] das Denken so aufgefasst [wird], dass es subjektiv und dessen letzte, unüberwindliche Bestimmung die abstrakte Allgemeinheit, die formelle Identität sei; das Denken wird so der Wahrheit als in sich konkreter Allgemeinheit entgegengesetzt. In dieser höchsten Bestimmung des Denkens, welche die Vernunft sei, kommen die Kategorien nicht in Betracht. Der entgegengesetzte Standpunkt ist, das Denken als Tätigkeit nur des Besonderen aufzufassen und es auf diese Weise gleichfalls für unfähig zu erklären, Wahrheit zu fassen.« 25 Diese Aussage von Hegel lässt den radikalen Unterschied zwischen den beiden Denkern erkennen: Bei Kant überwiegt ein gnoseologischer Ansatz, der von der Bestimmung der Grenzen der menschlichen Vernunft charakterisiert ist. Hegel überschreitet genau diese Grenzen, um zu einer Erkenntnis der unendlichen Vernunft zu gelangen, die durch die Revolution des absoluten Idealismus 26 zum Ausdruck kommt. Wenn man Kants Transzendentalphilosophie folgt, ist die Erkenntnis abhängig von den reinen Formen a priori der Sinnlichkeit und den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, mittels deren die Subjektivität das empirische Material und die gegebene Mannigfaltigkeit ordnet. Dieser Prozess bringt methodologische Konsequenzen mit sich: Die reine Erkenntnis unterscheidet sich von der empirischen, die Welt der Phaenomena ist von der Welt der Noumena getrennt, die Sinnlichkeit unterscheidet sich vom Intellekt und die Welt der Noumena, der Dinge an sich, geht über die Erkenntnis24 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 202–203. 25 Ebd., S. 148. 26 Vgl. J. Ebbinghaus, Relativer und absoluter Idealismus. Historisch-systematische Untersuchung über den Weg von Kant zu Hegel, Leipzig 1910 und W. Vossenkuhl, »Das System der Vernunftschlüsse«, in: Architektonik und System in der Philosophie Kants, hrsg. von H. F. Fulda und J. Stolzenberg, Hamburg: Meiner 2001.
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Hegels Kritik an Kant
möglichkeiten der Menschen hinaus. Im Gegensatz hierzu sind bei Hegel die reine Vernunft und das empirische Erkennen (das rationale und das reale) nicht trennbar, die Sinnlichkeit und der Verstand sind dialektische Momente eines dynamischen und verbindenden Prozesses; zwischen Phänomen und Noumenon wird kein Unterschied gemacht, da der Begriff des Dings an sich, einer nicht zu erkennenden Welt, wegfällt. Mit Hegel verliert die Unterscheidung zwischen der Ebene der Realität und der Ebene des Gedankens an Bedeutung. Es gibt keine unabhängige Realität, die über den Gedanken bzw. die Subjektivität hinausgeht. Der offensichtlichste Streitpunkt betrifft die rationale Kosmologie. Kant zufolge gelangt die Vernunft zu widersprüchlichen Annahmen über die Welt, wenn sie annimmt, dass die Materie aus einfachen Teilen zusammengesetzt ist, oder wenn sie im Gegenteil annimmt, dass sie unendlich teilbar ist. 27 (Und wenn die Welt als ein Ganzes betrachtet wird, wird sie ein metaphysisches Gebilde, ist also nicht mehr wissenschaftlich.) Dieser innere Widerspruch der Vernunft ist für Kant der Beweis für die Inkonsistenz der Metaphysik (als einer unendlichen Vernunft, die von den Grenzen der Phänomene befreit ist). Für Hegel hingegen wird das Widersprüchliche zum eigentlichen Motor der Vernunft: einer »unendlichen Vernunft«, 28 die als Ganzheit und als Prozess, der mit der Realität zusammenkommt, zu verstehen ist. Hegel kritisiert Kants Theorie der Erkenntnis und den Begriff des Endlichen sehr nachdrücklich. 29 Letzterer ist mit den Begriffen endlicher Intellekt, endliches Sein und endliche Natur verbunden. Kant zufolge kann das Endliche nur unter bestimmten Bedingungen existieren bzw. handeln. Kant nennt den Menschen ein endliches und denkendes Sein, weil seine Möglichkeiten der Erkenntnis durch die sinnliche Anschauung begrenzt sind. Diese Anschauung 27 Vgl. R. Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft, Hürtgenwald 2006. 28 Vgl. A. F. Koch, »Die schlechte Metaphysik der Dinge. Metaphysik als immanente Metaphysikkritik bei Hegel«, in: Metaphysik, hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 5, Berlin, New York 2007, S. 189–210. 29 Vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde., Tübingen: Mohr/Siebeck, 3. Aufl. 1977 und X. Tilliette, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2015.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
hängt von den gegebenen Objekten ab. Auch aus moralischer Sicht ist der Mensch ein endliches Sein. 30 Durch den Willen hat der Mensch die Freiheit, zu entscheiden, seine Maximen mit dem moralischen Imperativ in Einklang zu bringen. Auch die Möglichkeit des ästhetischen Urteils gründet als solche auf der endlichen Natur des Menschen, also auf der Begrenzung seiner Möglichkeiten der Erkenntnis, weil diese das Objekt nicht als Ganzes bestimmen, sondern nur dessen Form. Diese Unterschiede zwischen den beiden Denkern spiegeln sich im ethischen Gedanken wider. In Kants praktischer Vernunft ist Gott ein Ideal, das unbeweisbar ist. Für Hegel hingegen ist das Göttliche Ganzheit, ein innerer Prozess. Es ist die unendliche Vernunft, die sich in der Realität entfaltet.
4.
Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen
Hegel vertritt die Auffassung, dass das Bewusstsein der Ausgangspunkt der Philosophie sein müsse. Es sei ihr gesamter Inhalt, und die Aufgabe der Philosophie sei die begriffliche Ausarbeitung dieses Inhalts, der durch die Ausarbeitung absolut wahr und real und somit Geist oder Begriff wird. Die Phänomenologie des Geistes ist in der Tat der Weg des Bewusstseins zum Geist. Aber was bedeutet Bewusstsein für Hegel? »Die Erfahrung, welche das Bewußtsein über sich macht, kann ihrem Begriffe nach nichts weniger in sich begreifen, als das ganze System desselben, oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes, so daß die Momente derselben in dieser eigentümlichen Bestimmtheit sich darstellen, nicht abstrakte, reine Momente zu sein, sondern so, wie sie für das Bewußtsein sind, oder wie dieses selbst, in seiner Beziehung auf sie auftritt, wodurch die Momente des Ganzen, Gestalten des Bewußtseins sind. Indem es zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, auf welchem es seinen Schein ablegt, mit fremdartigem, das nur für es und als ein anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, seine Darstellung hiermit mit eben diesem Punkte der eigentlichen Wissenschaft des Geistes zusammenfällt, und endlich, indem es selbst Vgl. R. Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Ausgang von Kant. Philosophische Perspektiven zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz, Berlin: Akademie-Verlag 2014.
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Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen
dies sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen.« 31 Infolge dieser Notwendigkeit ist dieser Weg »zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft und nach ihrem Inhalt hiermit Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. 32 Das »unmittelbare Dasein des Geistes, das Bewußtsein, hat die zwei Momente in sich: das Wissen und die dem Wissen negative Gegenständlichkeit. Indem in diesen Elementen sich der Geist entwickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen dieser Gegensatz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseins auf. Die Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht.« 33 Die Phänomenologie des Geistes ist die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, weil dieses ein allgemeines Phänomen des Geistes ist: Das Bewusstsein ist »das unmittelbare Dasein des Geistes« 34, ist also die allgemeine, phänomenologische Existenz des Geistes und vereint somit in sich die Bedeutungen Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist und Religion. »Geist ist also Bewußtsein überhaupt, was sinnliche Gewißheit, Wahrnehmen und den Verstand in sich begreift, insofern er in der Analyse seiner selbst, das Moment festhält, daß er sich gegenständliche, seiende Wirklichkeit ist, und davon abstrahiert, daß diese Wirklichkeit sein eignes Fürsichsein ist. Hält er im Gegensatz das andre Moment der Analyse fest, daß sein Gegenstand sein Fürsichsein ist, so ist er Selbstbewußtsein. Aber als unmittelbares Bewußtsein des an und fürsichseins, als Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins ist er das Bewußtsein, das Vernunft hat, das, wie das Haben es bezeichnet, den Gegenstand hat als an sich vernünftig bestimmt, oder vom Werte der Kategorie, aber so, daß er noch für das Bewußtsein desselben den Wert der Kategorie nicht hat. Er ist das Bewußtsein, aus dessen Betrachtung wir soeben herkommen. Diese Vernunft, die er hat, endlich als eine solche von ihm angeschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und die seine Welt ist, so ist er in seiner Wahrheit; er ist der Geist, er ist das wirkliche sittliche Wesen.« 35 Was aber ist dann das Bewusstsein? Hegel erinnert »an die abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit, wie sie an 31 32 33 34 35
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 166. Ebd. Ebd., S. 90. Ebd. Ebd., S. 592.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
dem Bewußtsein vorkommen. Dieses unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein für Anderes unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird ebenso von ihm unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung: die Seite dieses Ansich heißt Wahrheit.« 36 Wissen ist das Bezogensein des Seins auf das Bewusstsein (Für-es-Sein oder relatives Sein), und Wahrheit meint die Unabhängigkeit des Seins vom Bewusstsein (Ansichsein oder objektives Sein). Darum bezeichnet Hegel das Bewusstsein terminologisch auch als »An-und-für-sich-sein« und dies bedeutet: Das Bewusstsein ist ein Sein, das sich selbst bestimmt und unabhängig ist. Das Bewusstsein 37 ist die Einheit von Ansichsein und Fürsichsein, Unterscheidung und Beziehung, Differenz und Einheit, Nichtidentität und Identität. »Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst sein; denn die Unterscheidung, welche soeben gemacht worden ist (zwischen der Wahrheit und dem Wissen), fällt in es. Es ist in ihm eines für ein Anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmung des Moments des Wissens an ihm; zugleich ist ihm dies Andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung oder an sich; das Moment der Wahrheit. An dem also, was das Bewußtsein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen. Nennen wir das Wissen den Begriff, das Wesen oder das Wahre aber das Seiende oder den Gegenstand, so besteht die Prüfung darin, zuzusehen, ob der Begriff dem Gegenstande entspricht. Nennen wir aber das Wesen oder das Ansich des Gegenstandes den Begriff und verstehen dagegen unter dem Gegenstande ihn als Gegenstand, nämlich wie er für ein Anderes ist, so besteht die Prüfung darin, daß wir zusehen, ob der Gegenstand seinem Begriffe entspricht. Man sieht wohl, daß beides dasselbe ist; das Ebd., 76. Zur semantisch-philosophischen Analyse des Bewusstseins in Hegels Philosophie vgl. E. Behler, »Die Geschichte des Bewußtseins. Zur Vorgeschichte eines Hegel’schen Themas«, in: Hegel-Studien 7 (1972), S. 169–216 und C. Iber, »Hegels Paradigmenwechsel vom Bewusstsein zum Geist«, in: Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würzburg 2006, S. 125–140.
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Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen
Wesentliche aber ist, dies für die ganze Untersuchung festzuhalten, daß diese beiden Momente, Begriff und Gegenstand, Für-ein-Anderes- und An-sich-selbst-Sein, in das Wissen, das wir untersuchen, selbst fallen und hiermit wir nicht nötig haben, Maßstäbe mitzubringen und unsere Einfälle und Gedanken bei der Untersuchung zu applizieren; dadurch, daß wir diese weglassen, erreichen wir es, die Sache, wie sie an und für sich selbst ist, zu betrachten.« 38 Das so bestimmte, ganze Bewusstsein hat nichts außer sich, es hängt von nichts Äußerem ab, und in diesem Sinne ist es absolut. Das Bewusstsein aber ist »für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst; mit dem Einzelnen ist ihm zugleich das jenseits gesetzt, wäre es auch nur, wie im räumlichen Anschauen, neben dem Beschränkten.« 39 In der Phänomenologie des Geistes spielt die Unterscheidung der Begriffe Bewusstsein und Gewissen eine große Rolle. Das Gewissen, als Gewissheit, leitet sich vom Adjektiv gewiss ab und hat seine semantischen Wurzeln im Verb wissen. Hegel definiert das Gewissen als eine besondere Figur auf dem phänomenologischen Gedankenweg: Gewissen ist die moralische Selbstsicherheit, in der die Sache selbst zum Subjekt wird. »Substantialität überhaupt hat die Sache selbst in der Sittlichkeit, äußeres Dasein in der Bildung, sich selbst wissende Wesenheit des Denkens in der Moralität, und im Gewissen ist das Subjekt, das diese Momente an ihm selbst weiß. Wenn das ehrliche Bewußtsein nur immer die leere Sache selbst ergreift, so gewinnt dagegen das Gewissen sie in ihrer Erfüllung, die es ihr durch sich gibt. Es ist diese Macht dadurch, daß es die Momente des Bewußtsein als Momente weiß, und als ihr negatives Wesen, sie beherrscht.« 40 Als Figur ist das Gewissen das gewissenhafte Bewusstsein. Dieses ist vom moralischen Bewusstsein und vom moralischen Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Aufgrund des moralischen Bewusstseins liegt die Realisierung der Moralität bei einem anderen Ansich, bei einem ethischen Gesetzgeber: »Es fällt also die Pflicht überhaupt außer es in ein anderes Wesen, das Bewußtsein und der heilige Gesetzgeber der reinen Pflicht ist.« 41 Beim moralischen 38 39 40 41
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77. Ebd., S. 156. Ebd., S. 852. Ebd., S. 814.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Selbstbewusstsein hingegen liegt die Realisierung der Moralität in der »subjektiven Darstellung und nicht in der Realität«. 42 Die erste Figur der Phänomenologie des Geistes ist die, die am mittelbarsten und am wenigsten problematisch erscheint: die sinnliche Gewissheit. 43 Sie erscheint als eine bestimmte und reiche Erkenntnis, aber man entdeckt bald, dass sie in Wirklichkeit arm und unbestimmt ist. In ihrer Unmittelbarkeit kann die sinnliche Gewissheit ihr Objekt nicht selbst bestimmen. Sie müsste dazu auf Begriffe zurückgreifen, die Frucht einer Reflexion sind. Sie kann noch nicht einmal von dem Objekt sprechen, weil jeder sprachliche Begriff, auch ein einfaches Adjektiv oder Substantiv, Unterscheidungen, Beziehungen und Klassifizierungen beinhaltet. Ihr unaussprechliches Objekt kann nur als ein Dieses, Hier und Jetzt gedeutet werden. Dies bedeutet, dass auch die unbestimmten Ausdrücke Abstraktionen sind. Das behauptete unmittelbare Wissen sieht die angenommene Konkretisierung seiner naiven Wahrheit schwinden und wird der dialektischen Bewegung der Meditation angepasst. Später glaubt das Bewusstsein eine feste Position in Gestalt der Wahrnehmung gefunden zu haben. Unterschiedliche Eigenschaften werden unterschiedlichen Sachen zugeordnet. Das Objekt beginnt aufgrund des Widerspruches zwischen Einheit (Salzkristall) und Vielfältigkeit (weiß, kubisch, salzig) zu schwanken. Zum einen wird die Einheit im Objekt an sich gesehen, während der Ursprung der vielen Eigenschaften der Subjektivität des Bewusstseins zugeschrieben wird. Zum anderen wird die Einheit als Werk des Bewusstseins verstanden, während sich das Objekt in den unterschiedlichen Eigenschaften auflöst. Mittels der Begriffe Kraft und Gesetz kann das Bewusstsein als Verstand eine Beziehung zwischen dem Inneren und Übersinnlichen der Dinge und der Vielfältigkeit der Phänomene, in denen es manifest wird, herstellen. Nun kommt der Begriff der Unendlichkeit als lebendige Einheit in der unendlichen Differenzierung hinzu: die Seele der Welt, das allgemeine Blut (wie Hegel formuliert), dessen Fluss von keinem Element und keinem Unterschied unterbrochen wird. Diese dialektische Einheit ist kein geheimnisvolles Ding an sich. Es handelt Ebd., S. 821. Vgl. D. Heidemann, »Kann man sagen, was man meint? Untersuchungen zu Hegels sinnlicher Gewissheit«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 84/1 (2002), S. 46–63.
42 43
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Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
sich um nichts anderes als um einen absoluten Begriff, den Gedanken. Das Bewusstsein überwindet so den naiven Realismus, von dem es ausging, und sieht nun im Objekt, das vorher fremd erschien, sich selbst und seine eigene konstruierende und ordnende Tätigkeit. Das Bewusstsein ist zum Selbstbewusstsein geworden. »Mit dem Selbstbewußtsein sind wir also nun in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten.« 44
5.
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im transzendentalen Idealismus und im absoluten Idealismus
Was ist Selbstbewusstsein? Worin besteht der semantische Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Bewusstsein? Warum ist der Begriff »Selbstbewusstsein« in Hegels Idealismus so wichtig? Worin besteht die semantische Veränderung des Begriffs in der Zeitspanne vom transzendentalen Idealismus zu Hegels absolutem Idealismus? »Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines andern Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir. Der Ausdruck vom Selbstbewußtsein ist Ich = Ich, abstrakte Freiheit, reine Idealität. So ist es ohne Realität, denn es selbst, das Gegenstand seiner ist, ist nicht ein solcher, da kein Unterschied desselben und seiner vorhanden ist.« 45 Der Begriff »Selbstbewusstsein« unterscheidet sich im Bedeutungsgehalt grundlegend von dem Begriff »Bewusstsein«. 46 Letzterer bedeutet nicht, sich seiner selbst bewusst zu sein in dem Sinne, dass man sich der eigenen Anschauungen, Taten, Wahrnehmungen und Ideen bewusst ist. 47 Der Begriff ist auch nicht im Sinne einer RückG. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 260. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 213. 46 Vgl. U. Utz, »Selbstbezüglichkeit und Selbstunterscheidung des Bewusstseins in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würzburg 2006, S. 158–162. 47 Vgl. W. Jaeschke, »Das Selbstbewusstsein des Bewusstseins«, in: Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt, hrsg. von Thomas Sören Hoffmann, Hamburg 2009, S. 15–30. 44 45
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
kehr zu einer inneren Realität, die zu bevorzugen ist, zu verstehen. Des Weiteren hat der Begriff auch nichts mit dem Selbstbewusstsein als der mittelbaren Erkenntnis, die der Mensch von sich hat und die eine der endlichen Entitäten ist, zu tun. »Aber in der Tat ist das Selbstbewußtsein die Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt, und wesentlich die Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung; aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist bei ihm der Unterschied, unmittelbar als ein Anderssein aufgehoben; der Unterschied ist nicht, und es nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich.« 48 Das Selbstbewusstsein ist »die Negativität des Begriffs, die nicht nur für sich ist, sondern auch über ihr Gegenteil übergreift«. 49 Bei Hegel kommt dem Begriff »Selbstbewusstsein« eine besondere Bedeutung, Funktion und Zielsetzung in der systematischen Struktur des absoluten Idealismus zu. In der Philosophischen Propädeutik (Doktrin des Begriffs, § 22) stellt Hegel fest, dass das Ich sich selbst betrachtet im Modus des Selbstbewusstseins. Dieser Prozess zeigt sich in seiner Reinheit: Ich = Ich, oder Ich bin Ich. In der Enzyklopädie unterstreicht Hegel, dass die Wahrheit des Bewusstseins das Selbstbewusstsein ist. »Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), ich weiß daher darin von mir.« 50 In der höchsten Form ist das Selbstbewusstsein allgemeines Selbstbewusstsein, also die absolute Vernunft. Nach Hegel ist »das Selbstbewußtsein so die Gewißheit, daß seine Bestimmungen ebensosehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind, ist die Vernunft, welche als diese Identität nicht nur die absolute Substanz, sondern die Wahrheit als Wissen ist. Denn sie hat hier zur eigentümlichen Bestimmtheit, zur immanenten Form den für sich selbst existierenden reinen Begriff, Ich, die Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit. Diese wissende Wahrheit ist der Geist.« 51 Die Vernunft ist Substanz oder die absolute Realität der Welt. In der Philosophie Hegels ist das Bewusstsein der Andersartigkeit des Objektes zugewandt, während das Selbstbewusstsein die
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 262. Ebd., S. 757. 50 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 213. 51 Ebd., S. 228. 48 49
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Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
Rückkehr zu sich selbst aus dem Andersartigen in der Welt bedeutet. Um die Identifizierung des Ichs mit sich selbst zu erlangen, muss das Selbstbewusstsein die Opposition des Objektes verneinen. Es handelt sich um eine unaufhörliche Zerstörung des Andersartigen, die ein theoretisches, vor allem aber ein praktisches Moment impliziert. Das Selbstbewusstsein zeigt sich so vor allem als Trieb. Vor ihm hat die empirische Welt, die nur ein zu negierendes, den Trieb befriedigendes und zu konsumierendes Objekt ist, keinen Bestand. Die Bewegung des Triebs und dessen Befriedigung eröffnen keine wirkliche Dialektik und führen zu keinem höheren Niveau. Es handelt sich um eine einfache Wiederholung innerhalb des biologischen Zyklus, der der ganzen tierischen Welt eigen ist. Auf die Befriedigung der Notwendigkeit folgen jedes Mal eine neue Notwendigkeit und ein neues, anzupassendes Objekt. Das Andersartige manifestiert sich so unendliche Male. Das Selbstbewusstsein ist ein besonderes Privileg des Menschen und überwindet den Widerspruch der empirischen Erkenntnis, indem es entdeckt, dass das wahre Objekt des eigenen Wunsches nicht das Ding an sich ist, ein einfaches Mittel um sich selbst zu behaupten, sondern es selbst. Es sucht durch die Zerstörung des Objekts die eigene Identität. Das Selbstbewusstsein kann nur befriedigt werden, wenn das Andere keine einfache Sache, sondern ein anderes Selbstbewusstsein ist. Um sein eigenes Ich sehen zu können, muss das Selbstbewusstsein es zuerst in der Figur eines Andersartigen finden. In dieser Doppelung trifft jedes Selbstbewusstsein auf ein anderes Selbstbewusstsein mit einem analogen Wunsch. 52 Die Begierde, die nicht auf eine Sache gerichtet ist, sondern auf ein anderes Selbstbewusstsein, wird zum Wunsch des Wunsches des anderen Selbstbewusstseins: das Andere wird nicht als Objekt in Anspruch genommen, sondern als Wille oder als Wunsch. Der typische menschliche Wunsch geht über die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse hinaus. Er ist der Wunsch des Wiedererkennens. Das Individuum kann sich selbst nur als Subjekt bzw. als freien Willen erkennen, wenn es als Subjekt von einem anderen Subjekt erkannt wird. Es muss also vom Anderen in all seiner Würde als selbstbewusst erkannt werden.
Vgl. B. Bowman, »Kraft und Verstand. Hegels Übergang zum Selbstbewusstsein in der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt am Main 2008, S. 153–168.
52
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Die Möglichkeit des Menschen, Ich zu sagen, die in die Welt des Geistes führt, ist nur durch eine intersubjektive Beziehung möglich. Am Anfang konfrontieren sich die Individuen als Bewusstseinsformen in der Zeit des Lebens wie unmittelbare Existenzen. Das Selbstbewusstsein jedoch, als eigentliche menschliche Welt, kann nur die Unmittelbarkeit des natürlichen Lebens aufgreifen: Die Beziehung zum Tod ist hier notwendig, um die menschliche Subjektivität von den Fesseln der gegebenen Existenz zu befreien. Das Selbstbewusstsein kann sich als absolut unabhängig von jedem unmittelbaren Wesen geben, wenn es sich als fähig erweist, das Leben zu verneinen. Es negiert das Leben in sich selbst, auch wenn es so das eigene Leben riskiert. Es negiert außerdem das Leben in sich selbst und negiert es im Anderen und zielt auf dessen Tod. Die Beziehung zwischen den beiden Selbstbewusstseinen, die beide entschieden danach streben, als unkonditionierte Freiheit anerkannt zu werden, stellt sich als ein Kampf für das Leben und für den Tod dar. Ein jedes möchte erkannt werden, möchte aber nicht im Anderen erkennen, um sich nicht abhängig zu zeigen. Falls der Kampf mit dem Tod eines der Selbstbewusstseine endet, kann man davon ausgehen, dass das Wiedererkennen fehlt. Die Tötung des Gegners ist eine natürliche und unmittelbare Negation des Lebens und zerstört die dialektische Beziehung. Man kann nicht von einem Toten erkannt werden. Damit eine dialektische, spirituelle Negation stattfinden kann, darf das Andere nicht als selbständiges Selbstbewusstsein vorhanden sein, sondern muss ein lebendiges Wesen mit einem abhängigen Bewusstsein sein. Derjenige, den als ersten die Angst überwältigt, zieht sich vom Kampf zurück und zeigt damit eine größere Verbundenheit zur Natur als der Mensch zur Freiheit. Er entzieht sich dem Kampf als untergebenes Selbstbewusstsein. Nur indem man sein Leben aufs Spiel setzt, bleibt man frei. Das Selbstbewusstsein wird nicht als wesenseigene Essenz in der Zeit des Lebens betrachtet. Das Andere, das das Leben herausgefordert hat, hat sich über die tierische Knechtschaft des Lebens erhoben: Es ist das herrschaftliche Selbstbewusstsein. Die komplexe Herr-Knecht-Dialektik, die in einem Umsturz der Ausgangspositionen mündet, ist nicht im realistischen Sinne zu verstehen und auch nicht einer bestimmten historischen Phase zugeordnet. Es handelt sich um ein begriffliches Moment, das in abstrakter Art und Weise von der phänomenologischen Erfahrung isoliert ist. Eher als ein Stadium der menschlichen Geschichte repräsentiert 156 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
die dialektische Entwicklung des Selbstbewusstseins 53 die Geburt des Menschen als historisches und geistiges Wesen und seine Befreiung vom biologischen Zyklus der Natur. Der Knecht erkennt den Herrn als freies Subjekt an. Der Herr erkennt den Knecht nicht an, garantiert ihm aber das Leben. Der Knecht akzeptiert, dass sein Leben von jemand anderem abhängt und erniedrigt sich selbst als Sache, die Eigentum des Herrn ist. Durch sein Festhalten am Leben kann er sich nicht über das unmittelbare Sein erheben, das seine Sklavenkette ist, von der er sich selbst durch Kampf nicht befreien kann. Der Herr hingegen kann die Natur, ja sogar sein eigenes Leben als natürliche Konditionierung ablehnen und erhält so die absolute Gewalt über die Dinge und auch über den Knecht, der von den Dingen abhängt. In der Beziehung des Herrn zu den Dingen ist der Knecht ein Bindeglied, weil er dem Herrn durch seine Arbeit Dinge gibt, die, der Natur entnommen, schon für den Konsum vorbereitet sind. Dem Selbstbewusstsein des Herrn bleibt es erspart, sich im alltäglichen Leben mit der Welt zu konfrontieren; es verneint jedes Objekt im vergänglichen Augenblick der Freude. Der Sieg des Herrn erweist sich jedoch als illusorisch und steril, unfähig, sich dialektisch weiterzuentwickeln. Der Herr wird von jemandem erkannt, dem er selbst keinen Wert zuerkennt, weil es sich um eine Sache handelt. Deswegen hat das Erkennen durch den Sklaven für ihn keine Bedeutung. Außerdem ist der Herr nur unabhängig von der Natur, weil er von der Arbeit des Sklaven abhängt. Sein Selbstbewusstsein ist abstrakt. Es ist nicht durch eine tatsächliche Erfahrung mit der Andersartigkeit der Natur entstanden. Diese Bewegung setzt sich in der Arbeit des Knechtes fort. Hier erfolgt die dialektische Negation der Natur; eine Negation, die das Objekt als fremde und unabhängige Essenz ablehnt, es jedoch als fügsames Produkt nach der Verwandlung akzeptiert und behält. Der Knecht, der zur Arbeit und zur Disziplinierung der eigenen, unmittelbaren Impulse gezwungen ist, macht die alltägliche Erfahrung der menschlichen Herrschaft über die Natur und über die eigene Natur. Die Bildung des Objekts ist zur gleichen Zeit auch Bildung und Erziehung des Subjekts. Bildung ist Kultur. Der Knecht sieht seine eigene menschliche Aktivität und die Würde seines SelbstbewusstZur dialektischen Entwicklung des Selbstbewusstseins vgl. P. Stekeler-Weithofer, »Wer ist der Herr, wer ist der Knecht? Der Kampf zwischen Denken und Handeln als Grundform des Selbstbewusstseins«, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt am Main 2008, S. 205–237.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
seins in der von ihm gegebenen, dauerhaften Form des Produkts objektiviert. Die Befreiung vom unmittelbaren Sein, die der Herr durch die abstrakte Auseinandersetzung mit dem Tod erreicht, wird beim Knecht zu dem konkreten und langwierigen Prozess, sich von der Abhängigkeit von der Natur zu emanzipieren. Die Kultur als Befreiung von der Äußerlichkeit der Welt ist eine Errungenschaft, die nicht vom arbeitenden Knecht wahrgenommen wird; sie wird vielmehr von einer neuen Art von Selbstbewusstsein vertreten, das in der Geschichte im Stoizismus zum Ausdruck kommt. So wie durch die Arbeit den Dingen die Form des Subjekts gegeben und das Andersartige entfernt wird, so bestimmt der Gedanke die allgemeine Form des Ichs von jedem gedachten Objekt. Der weise Stoiker ist fähig, sich unter jeglichen äußerlichen Bedingungen wiederzufinden: Das Selbstbewusstsein befreit von Sklavenketten, so wie es vom Handeln und Leiden befreit, und es zieht sich immer in die einfache Essenz des Gedankens zurück. Es handelt sich um eine abstrakte und leere Freiheit, die über den zufälligen Unterschieden des Lebens steht, sie ignoriert, aber auch bestehen lässt. Die nachfolgende Figur des Skeptizismus greift direkt das bestimmte Sein an, von dem der Stoiker sich einfach nur zurückzog. Die zerstörende Kritik des Skeptikers entzieht dem Gedanken jede negative Kraft und löst so das naive Vertrauen in die Objektivität der Welt auf. Diese Figur ist nichts anderes als die bewusste Erfahrung der dialektischen Bewegung des Gedankens, die die Nichtigkeit einer jeden vollständigen Endlichkeit des Inhalts und die Armut jeder bestimmten Realität aufzeigt. Das Selbstbewusstsein als »unbegrenzte« Subjektivität 54 impliziert absolute Freiheit und Selbstsicherheit. Dieser Aspekt ist gegen das skeptische Bewusstsein gerichtet, das zufällig, aber besonders ist. Daraus resultiert ein destabilisiertes Selbstbewusstsein, das zwischen den Extremen der Selbstsicherheit einerseits und der Mobilität des Ichs andererseits, das sich von den Unterschieden und der Mannigfaltigkeit beeinflussen lässt, schwankt. Die innere Spaltung des skeptischen Bewusstseins kommt im unglücklichen Bewusstsein zum Ausdruck. These und Antithese zeigen sich an den gegensätzlichen Figuren des Knechts und des Herrn Zur Bedeutung des Selbstbewusstseins als »unbegrenzte« Subjektivität vgl. W. Jaeschke, »Die Unendlichkeit der Subjektivität«, in: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, hrsg. von L. Illetterati und F. Menegoni, Stuttgart 2004, S. 103–116.
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Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
und kommen nun durch die innere Krise des Bewusstseins zum Ausdruck. Das Bewusstsein lebt das Drama des Subjekts, das seine Authentizität verloren hat, da es bis zu den Grenzen der reinen Subjektivität vorgedrungen ist. Am Anfang, der vom Geist des Judentums bestimmt ist, projiziert das Bewusstsein die eigene, allgemeine Charakteristik außerhalb seiner selbst und identifiziert sich mit der zufälligen und wandelbaren Seite. Es entwürdigt sich vor einem transzendenten und unnahbaren Gott als nichtige Existenz. Als das Allgemeine sich in Christus, dem Symbol der Einzigartigkeit, äußert, gibt es eine Hoffnung auf Versöhnung. Die christliche Religion jedoch sucht vergebens die Ewigkeit, ein unbegrenztes Jenseits, das nicht erkennbar und nicht erreichbar ist und das verschwindet, sobald man es ergreifen möchte. Die mittelalterliche asketische Lebensweise mit ihrer Verneinung der Welt und ihrer Ablehnung des Fleisches beinhaltet und veranschaulicht den Versuch des Bewusstseins, sich von der Nichtigkeit der eigenen Individualität zu befreien und das Ich, das das Einswerden mit dem Unendlichen verhindert, zu vernichten. Hegel leitet aus dem Sinn und der Bedeutung des Selbstbewusstseins den Begriff des Bewusstseins ab, der mit den Figuren des Kampfes um Leben und Tod, Stoizismus, Skeptizismus, unglücklichem Bewusstsein und mit der Herr-Knecht-Beziehung verbunden ist. »Der sich selbst wissende Geist ist in der Religion unmittelbar sein eigenes reines Selbstbewusstsein.« 55 Diese Überlegungen machen deutlich, inwiefern im Hegel’schen transzendentalen Idealismus dem Begriff Selbstbewusstsein eine ganz andere Bedeutung zugewiesen wird als in Kants Kritizismus. Kant stellt in einer Anmerkung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht seine Definition der Begriffe »Bewusstsein« und »Selbstbewusstsein« vor und unterstreicht den semantischen Unterschied zwischen Reflexion, Rezeptivität, Wahrnehmung und empirischer und reiner Apperzeption: »Wenn wir uns die innere Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die Reflexion, die Empfänglichkeit (Rezeptivität), wodurch eine Wahrnehmung (perceptio), d. i. empirische Anschauung möglich wird, die Apprehension, beide Akte aber mit Bewusstsein vorstellen, so kann das Bewusstsein seiner selbst (apperceptio) in das der Reflexion und 55 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 896.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
das der Apprehension eingeteilt werden. Das erstere ist ein Bewusstsein des Verstandes, das zweite der innere Sinn; jenes die reine, dieses die empirische Apperzeption, da dann jene fälschlich der innere Sinn genannt wird. In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellektuelle Bewusstsein an die Hand gibt. Hier scheint uns nun das Ich doppelt zu sein (welches widersprechend wäre): a) das Ich, als Subjekt des Denkens in der Logik, welches die reine Apperzeption bedeutet (das bloß reflektierende Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist. b) Das Ich, als Objekt der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes, was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung moglich machen.« 56 Das Selbstbewusstsein ist also nicht das (empirische) Bewusstsein (von sich). Es ist das rein logische Bewusstsein, das das Ich von sich als Subjekt des Gedankens in der philosophischen Reflexion hat. In der reinen transzendentalen Apperzeption hat man das Bewusstsein von einem reinen Ich, das Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als stabiles und fortdauerndes Ich, das das Korrelat von all unseren Vorstellungen ist, beschreibt, während in der zweiten Auflage dieses Ich eine rein formale Funktion erhält, ohne eigene Realität, jedoch eine Bedingung jeder Erfahrung, ja sogar das höchste Prinzip der Erkenntnis darstellt, weil es eine Bedingung der Möglichkeit der objektiven Synthese ist, in der die Erfahrung besteht. Aufgrund seiner funktionalen oder formalen Natur ist das reine Ich oder das transzendentale Selbstbewusstsein kein unbegrenztes Ich. Fichte macht aus Kants funktionalem Konzept ein substantielles Konzept: Das Ich wird zum unbegrenzten Ich. Es ist absolut und kreativ und sieht das Selbstbewusstsein als Selbsterschaffung. Das Selbstbewusstsein ist demnach nicht nur das Prinzip der Erkenntnis, sondern auch das Prinzip der Realität; das Prinzip ist nicht als Kondition zu verstehen, sondern es drückt eine Kraft oder eine produktive Tätigkeit aus. Sich selbst reproduzierend, produziert das Ich gleichzeitig das »Nicht-Ich«: die Welt, das Objekt, die Natur. Fichte sagt, dass man an nichts denken kann, ohne gleichzeitig an sein Ich 57 zu denken. Es ist nicht möglich, den Begriff des Selbstbewusstseins zu abstrahieren. Dieses Konzept des Selbstbewusstseins ist in Wirklichkeit das kreati56 57
I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 416. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre, § 1, 7.
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Das »unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie des Geistes
ve Prinzip der Welt und laut Fichte ist das Ich eines jeden die einzige, höchste Substanz. Außerdem kritisiert er Spinoza, indem er sagt, dass die Essenz der kritischen Philosophie auf der Tatsache beruhe, dass das absolute Ich unbedingt 58 und unbestimmbar ist. Dieser Begriff des Selbstbewusstseins 59 spielt eine wichtige Rolle im ästhetischen Idealismus Schellings. Schelling zufolge ist das Selbstbewusstsein eine absolute Tätigkeit, und durch diese wird nicht nur das Ich in sich selbst bestimmt, sondern alles ist auch vom Ich bestimmt. Die Tätigkeit ist gleichzeitig ideell und reell. Durch diesen Akt wird »das Ideelle reell und das Reelle ideell«. 60
6.
Das »unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie des Geistes
Das »unglückliche Bewusstsein« kann als der Schlüsselbegriff der Phänomenologie des Geistes angesehen werden, weil es nur mit seiner Hilfe möglich ist, eine Aussöhnung und Vereinigung von Endlichem und Unendlichem im dialektischen Sinne zu erreichen. Was ist das unglückliche Bewusstsein? Welche Funktion und welche Bedeutung hat dieses Konzept in der gesamten Philosophie Hegels? Hegel zufolge ist es für das Bewusstsein das größte Unglück, wenn Dualismen des Veränderbaren und Unveränderbaren, der sinnlichen und der übersinnlichen Realität, des Endlichen und Unendlichen vorliegen. Diese Dualismen drücken sich in der radikalen Scheidung von Mensch und Gott aus. Der Mensch entfremdet sich selbst, um sich zu projizieren und den einzigen Wert in Gott zu sehen. So werden die Religionen geboren, die vom Christentum und vom Judentum repräsentiert werden. Diese Heilslehren können jedoch nicht die Vorstellung des Menschen befriedigen, dass er in einer besonderen und sinnlichen Präsenz ein Absolutes finden kann, da dieses Absolute unerreichbar scheint. Laut Hegel liegt in der Philosophie des Mittelalters die Synthese des Skeptizismus und des Stoizismus, weil diese Strömungen einem Widerspruch unterliegen: dem
Ebd., § 3, 6. Vgl. G. Römpp, Ethik des Selbstbewusstseins. Der Andere in der idealistischen Grundlegung der Philosophie: Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Berlin: Duncker & Humblot 1999. 60 Vgl. F. W. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, III, Vorwort. 58 59
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Widerspruch zwischen Aussage und Negation, weil sie zwei unvereinbare externe Begriffe sind. Der innere Widerspruch des Skeptizismus wird im Mittelalter dramatisch, da er ein Kontrast zwischen zwei Bewusstseinsformen ist. Das eine Bewusstsein ist unveränderlich, weil es göttlich ist, das andere ist veränderlich, weil es menschlich ist. Dieser Kontrast konstituiert das unglückliche Bewusstsein. Der unglückliche Status des Bewusstseins besteht darin, dass das Bewusstsein sich nicht selbst als Einheit der beiden Bewusstseinsformen erkennt und sich nicht mit dem unveränderlichen Bewusstsein identifiziert. Das Unglück des Bewusstseins wird von Hegel in folgenden Stationen eines Wegs beschrieben: a) die Andacht: Hier kann der religiöse Gedanke nicht zum Begriff werden. b) das Tun, Durchführen: Hier versucht das Bewusstsein sich in der Welt und in der Arbeit auszudrücken und verzichtet auf einen unmittelbaren Kontakt zu Gott; es erkennt jedoch seine Taten als zu Gott gehörig an. c) die Auslöschung seiner selbst: Hier löst sich die ganzheitliche, asketische Negation des Ichs für Gott auf. Der niedrigste und unglücklichste Punkt auf diesem Weg verbindet sich dialektisch mit dem höchsten Punkt, und zwar in dem Moment, in dem das Bewusstsein vergebens versucht, Gott, das universale, absolute Subjekt, zu erreichen. Die Andacht ist ein erster Versuch, den Widerspruch zu überwinden, indem das veränderliche Bewusstsein dem unveränderlichen Bewusstsein untergeordnet wird. Es erwartet vom unveränderlichen Bewusstsein, die Dinge wie unentgeltliche Gaben zu bekommen. Der Höhepunkt der Andacht ist der Asketismus, in welchem das Bewusstsein das Unglück und das Elend des Fleisches erkennt und nun versucht, sich davon zu befreien, indem es sich mit dem unveränderlichen Bewusstsein, also mit Gott, vereint. Diese Vereinigung steht am Ende des Zyklus des unglücklichen Bewusstseins, da es sich als unveränderliches Bewusstsein erkennt und sich somit als das erkennt, was es ist: ein Geist oder ein absolutes Subjekt. 61 Diese Figur drückt das Prinzip der Hegel’schen Philosophie aus, dem zufolge die Realität ein Bewusstsein ist, das als rationale und unendliche Substanz verstanden wird. Ein glückliches Bewusstsein ist nur jenes, welches sich als Totalität der Realität erkennt. 61
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, I, IV, B.
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Die Phänomenologie des Geistes
Das unglückliche Bewusstsein ist das tragische Ergebnis der gesamten Dialektik des Selbstbewusstseins. Nachdem dieses seine Freiheit durch die Trennung vom Leben erreicht hat, entdeckt es schließlich seine innere Zerissenheit, die in der extremen Subjektivität, 62 die es von der eigenen, substantiellen Wahrheit trennt, begründet ist. Die Versöhnung mit dem Allgemeinen geschieht in der Figur der Vernunft. Dieser Übergang vollzieht sich, historisch gesehen, parallel zum Aufkommen des Humanismus und des Naturalismus der Renaissance. Das Selbstbewusstsein findet jetzt sein Wesen – die allgemeine Wahrheit, die vorher im Jenseits lag – in der Welt. Die Realität erscheint nicht mehr als bedrohliche Andersartigkeit, sondern enthüllt ihre immanente Rationalität. Vor diesem semantischen Horizont ist die Vernunft gleichzeitig Sein und Gedanke; sie ist die dialektische Synthese des Bewusstseins (das sich der Objektivität des Seins zuwendet) und des Selbstbewusstseins (der Bejahung der Subjektivität des Gedankens).
7.
Die Phänomenologie des Geistes: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins und Wissenschaft des erscheinenden Wissens
Was ist Phänomenologie? Was bedeutet Phänomenologie des Geistes nach Hegel? Was ist die Funktion und die Zielsetzung der Phänomenologie im Zeitraum der Entwicklung der Hegel’schen Philosophie? Wie und warum spielt die Phänomenologie des Geistes eine entscheidende Rolle in der Philosophie Hegels? Der Begriff »Phänomenologie« kommt aus dem Griechischen und ist aus den Wörtern »phainómenon« und »logos« zusammengesetzt. »Phainómenon« ist das, was sich zeigt, sich offenbart oder erscheint, und »logos« bedeutet Wort, Rede, Vernunft. Der Begriff »Phänomenologie« bedeutet also Wissenschaft des Erscheinens und des Sich-Zeigens. Die Phänomenologie ist die Beschreibung dessen, was erscheint, oder die Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung befasst. In der Zeit Hegels ist der Begriff »Phänomenologie« in dem Werk Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und BeVgl. D. Köhler, Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels Phänomenologie des Geistes und Schellings Freiheitsschrift, München: Fink 2006.
62
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
zeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein (1764) von Johann Heinrich Lambert eingeführt worden. Der Begriff wurde wahrscheinlich schon von der Schule Christian Wolffs geprägt. Lambert benutzt ihn als Titel des 4. Teils (Phänomenologie oder Lehre von dem Schein) seines Neuen Organon und versteht ihn als Studium der Fehlerquellen. Jene ›Erscheinung‹, deren Beschreibung die Phänomenologie ist, wird von ihm als trügerisch angesehen. Die »Phänomenologie« wird als »Lehre von dem Schein« 63 bestimmt. Die Theorie des Scheins und seines Einflusses auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der menschlichen Erkenntnis hat ihm zufolge den Zweck, den »Schein zu vermeiden, um zu dem Wahren durchzudringen«. Herder, Novalis und Fichte haben diese Bedeutung des Begriffs wieder aufgenommen. Auch Hegel folgt dieser philosophischen Tradition und erarbeitet ein persönliches Konzept der Phänomenologie, das sich jedoch von Kants Interpretation der Phänomenologie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) unterscheidet. Kant hatte den Begriff Phänomenologie benutzt, um auf den Teil der Theorie der Bewegung zu verweisen, der die Bewegung oder die Ruhe der Materie in Bezug auf jene Modalitäten erklärt, in denen die Materie unserer äußeren Wahrnehmung erscheint. Im Gegensatz hierzu nennt Hegel »Phänomenologie des Geistes« die Geschichte der unterschiedlichen Stufen des Bewusstseins, das durch seine anfänglichen, sinnlichen Erscheinungen seine eigene, wahre Natur, d. h. sich selbst als unendliches und allgemeines Bewusstsein entdeckt. In diesem Sinn wird die Phänomenologie des Geistes von ihm als das Werden der Wissenschaft oder des Wissens identifiziert. Hegel sieht in ihr den Weg, den das einzelne Individuum zurücklegt und auf dem es schrittweise die Stufen der Herausbildung des absoluten Geistes durchläuft. Nach Hegel ist die Phänomenologie des Geistes die Wissenschaft des erscheinenden Wissens und die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. 64 Die Phänomenologie ist das »System der Erfahrung des Geistes«, 65 ein System, das nur das Phänomen des Geistes beVgl. J. H. Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein, Berlin: de Gruyter 2014, S. 55. 64 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 80. 65 Ebd., S. 167 und S. 93. 63
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Die Phänomenologie des Geistes
inhaltet. Im Vorwort zur Phänomenologie des Geistes definiert Hegel die Bedeutung der Phänomenologie so: »Dies Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten.« 66 Aufgrund dieser Notwendigkeit ist dieser Weg »zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft, und nach ihrem Inhalt hiermit Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. 67 Diese Definitionen, die sich auf die wichtigen Begriffe der »Erscheinung« und der »Erfahrung« beziehen, die ihrerseits auf den Geist Bezug nehmen, charakterisieren das Thema und die Methode der Hegel’schen Phänomenologie und unterstreichen den radikalen Unterschied zu jeder anderen vorhergehenden oder folgenden Phänomenologie. Das Konzept »Phänomenologie« ist mit den Konzepten der Wahrheit, des Geistes und der Wissenschaft verbunden: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein nur das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme, dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, ist es, was ich mir vorgesetzt. Die innere Notwendigkeit, daß das Wissen Wissenschaft sei, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.« 68 Das Objekt dieser systematischen Wissenschaft ist das Phänomen des Geistes. Das Objekt der phänomenologischen Darstellung ist die Gesamtheit der Erscheinungen des Geistes in der Sphäre der konkreten Existenz, im Bewusstsein und in der Geschichte der Welt. Somit ist die Phänomenologie des Geistes die systematische Darstellung jener Existenz, die durch die Emanation des Geistes 69 Ebd., S. 31. Ebd., S. 167. 68 Ebd., S. 52. 69 Vgl. W. Bonsiepen, »Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel. Einführung in seine Philosophie, hrsg. von Otto Pöggeler, Freiburg/München: Alber 1977, S. 59–74 und R. K. Westphal, »Hegels Phenomenological Method«, in: The Blackwell Guide to Hegel’s Phenomenology of Spirit, hrsg. von Kenneth R. Westphal, Chichester 2009, S. 15–24. 66 67
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
charakterisiert ist, durch die Erscheinung des existierenden Geistes vor sich selbst. Diese Selbst-Erscheinung wird zum Objekt und ermöglicht daher Erfahrung. Was ist für Hegel Erfahrung? »Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an sich selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.« 70 Die Erfahrung 71 ist das Werden des Geistes, der sich in sich selbst reflektiert. »Denn die Erfahrung ist ebendies, daß der Inhalt – und er ist der Geist – an sich, Substanz und also Gegenstand des Bewußtseins ist. Diese Substanz aber, die der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist. Und erst als dieses in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist.« 72 Hegel zufolge ist die Methode der Phänomenologie notwendigerweise dialektisch. Die dialektische Bewegung und Entwicklung der Selbst-Erscheinung des existierenden Geistes ist eine dynamische Bewegung, die in ihrer Gesamtheit gesehen wird, bis der Geist sich schließlich als Geist erkennt. Dies ist das eigentliche Objekt der Hegel’schen Phänomenologie. »Der Geist, der sich so entwickelt als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut. […] Der Anfang der Philosophie macht die Voraussetzung oder Forderung, daß das Bewußtsein sich in diesem Elemente befinde. Aber dieses Element erhält seine Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens. Es ist die reine Geistigkeit, als das Allgemeine, das die Weise der einfachen Unmittelbarkeit hat; dies Einfache, wie es als solches Existenz hat, ist der Boden, der Denken, der nur im Geist ist.« 73 Daher muss man den Ausdruck »Phänomenologie des Geistes« wie folgt verstehen: Es handelt sich um die phänomenologische Darstellung 74 des erscheinenden Wissens, d. h. des Prozesses des Werdens des Wissens zur Wissenschaft, beginnend mit jenem bloßen Schein G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 164. Vgl. R. Beuthan, »Hegels phänomenologischer Erfahrungsbegriff«, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt am Main 2008, S. 79–94. 72 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 585. 73 Ebd., S. 76. 74 Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 70 71
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Die Phänomenologie des Geistes
oder jener bloßen Erscheinung des Wissens, wie sie sich auf der Stufe des unmittelbaren Geistes oder des geistlos-sinnlichen Bewusstseins findet. Die Phänomenologie des Geistes ist die phänomenologische Beschreibung des langen Weges, durch den sich der unmittelbare Geist als sinnliche Gewissheit 75 in einem mühsamen Bildungsprozess hindurchzuarbeiten hat, bis hin zu dem Stadium, in dem das eigentliche, nicht mehr bloß scheinhafte Wissen erscheint oder auftritt. Weil Hegel dieses wahre Wissen als absolutes Wissen 76 versteht, handelt es sich bei dieser Phänomenologie um die Epiphanie des Wissens des Absoluten; erst hier hat ihm zufolge das Wissen das Element der Wissenschaft, erreicht, was ihr reiner Begriff ist. »Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist.« 77 Die Phänomenologie ist die Beschreibung des Werdens der Wissenschaft im Allgemeinen, also des Wissens des Geistes. »Dies Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der umittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es durch einen langen Weg hindurch zu arbeiten.« 78 Hiermit schließt die Phänomenologie des Geistes. »Was er in ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie.« 79 Vor diesem Hintergrund ist die Phänomenologie 80 die Darstel75 76 77 78 79 80
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 82. Ebd., S. 575. Ebd., S. 80. Ebd., S. 78. Ebd., S. 92. Vgl. A. F. Koch, »Die Prüfung des Wissens als Prüfung ihres Maßstabs. Zur Me-
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
lung des Weges des natürlichen Bewusstseins zum wahren Wissen. Sie ist der Weg der Seele, die sich gereinigt hat und zum Geist strebt. 81 Die Phänomenologie »kann von diesem Standpunkte aus, als der Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.« 82
8.
Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
Ist es möglich, die komplexe Struktur von Hegels philosophischem System in seiner Gesamtheit zu bestimmen? Welche Beziehung besteht zwischen der Logik, der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes? Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse ist das einzige Werk Hegels, das das gesamte System definiert und vorstellt, während in anderen Texten des Philosophen die einzelnen Teilgebiete vertieft werden. Die Konzeption des Wahren als System impliziert, dass der Philosophie eine enzyklopädische Aufgabe zukommt. Es handelt sich nicht einfach nur darum, schon bestehende Wissenschaften nebeneinanderzustellen, sondern auch die Prinzipien aller positiven Wissenschaften aus spekulativer Sicht zu überdenken, um sie dem Konzept entsprechend in einer allgemeinen und notwendigen Ordnung wiederzufinden. Die dialektische Bewegung der Vernunft durchdringt den Bereich jeder Wissenschaft und befreit sie aus ihrer Isolierung, indem sie Beziehungen zu anderen Wissenschaften herstellt. Sie geht dabei so weit, dass alle Wissenschaften im System als Momente einer einzigen, lebendigen Totalität vermittelt werden. Das Hegel’sche System ist vielleicht der letzte Versuch, jene intellektuelle Arbeitsteilung zwischen den Wissenschaften, die für die Neuzeit charakteristisch ist, zu überwinden, um eine theoretische
thode der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würzburg 2006, S. 21–34. 81 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 153. 82 Ebd., S. 152.
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Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
Vision zu erreichen, die die gesamte natürliche und menschliche Realität, zusammen mit dem Erbe der gesamten westlichen Zivilisation, umfasst. Es kommt dabei zu einer Spannung zwischen dem Ziel der Einheit und dem Ziel der höchsten Konkretheit, insofern das Gesamte nur in der Vielfältigkeit seiner Bestimmungen lebt; die Integration unter eine höchste semantische Einheit tendiert dazu, die Autonomie und die Besonderheiten der einzelnen Inhalte zu opfern. Das System ist in drei Teile untergliedert: a) Logik, oder die »Wissenschaft an sich und für sich«; b) Philosophie der Natur, oder »die Wissenschaft der Idee und ihre Entfremdung von sich selbst«; c) Philosophie des Geistes, oder »die Wissenschaft der Idee, die aus ihrer Entfremdung zu sich selbst zurückkehrt«. Die Philosophie schöpft in sich selbst das Bewusstsein von allen Dingen aus, und so ist es für die Erkenntnis der gesamten Realität nicht nötig, auf eine andere Wissenschaft zurückzugreifen. Um diese Funktion zu erfüllen, muss die Philosophie in einzelne Teile untergliedert werden, die sich auch semantisch voneinander unterscheiden: Logik, Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes. Diese Gebiete der Philosophie dürfen aber nicht mit den analogen Gebieten der Tradition verwechselt werden. Die neue Logik 83 geht von einer tiefgehenden, kritischen Analyse der aristotelischen Logik aus. In der Einleitung der Wissenschaft der Logik erklärt Hegel, warum die Philosophie nicht mit anderen Wissenschaften vergleichbar ist. Bei Hegel ist die Philosophie nicht wie bei Fichte die Basis der Wissenschaft, nicht Wissenschaftslehre. Im Gegenteil: Für Hegel ist die Philosophie die Wissenschaft des Gedankens und demzufolge die Wissenschaft des Realen in seiner organischen, systematischen und dynamischen Ganzheit. »Für den Anfang, den die Philosophie zu machen hat, scheint sie im allgemeinen ebenso mit einer subjektiven Voraussetzung wie die anderen Wissenschaften zu beginnen, nämlich einen besonderen Gegenstand, wie anderwärts Raum, Zahl usf., so hier das Denken zum Gegenstande des Denkens machen zu müssen. Allein es ist dies der freie Akt des Denkens sich auf den Standpunkt zu stellen, wo es für sich selber ist und sich hiermit seinen Gegenstand selbst erzeugt und gibt. Ferner muß der Standpunkt, welcher so als unmittelbarer erVgl. J. H. Trede, »Hegels frühe Logik (1801–1804)«, in: Hegel-Studien 7 (1972), S. 123–168.
83
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
scheint, innerhalb der Wissenschaft sich zum Resultate, und zwar zu ihrem letzten machen, in welchem sie ihren Anfang wieder erreicht und in sich zurückkehrt. Auf diese Weise zeigt sich die Philosophie als ein in sich zurückgehender Kreis, der keinen Anfang im Sinne anderer Wissenschaften hat, so daß der Anfang nur eine Beziehung auf das Subjekt, als welches sich entschließen will zu philosophieren, nicht aber auf die Wissenschaft als solche hat. Oder was dasselbe ist, der Begriff der Wissenschaft und somit der erste, und weil er der erste ist enthält er die Trennung, daß das Denken Gegenstand für ein (gleichsam äußerliches) philosophierendes Subjekt ist, muß von der Wissenschaft selbst erfaßt werden. Dies ist sogar ihr einziger Zweck, Tun und Ziel, zum Begriffe ihres Begriffes, und so zu ihrer Rückkehr und Befriedigung zu gelangen. Wie von einer Philosophie nicht eine vorläufige allgemeine Vorstellung gegeben werden kann, denn nur das Ganze der Wissenschaft ist die Darstellung der Idee, so kann auch ihre Einteilung nur erst aus dieser begriffen werden; sie ist wie diese, aus der sie zu nehmen ist, etwas Antizipiertes. Die Idee aber erweist sich als das schlechthin mit sich identische Denken und dies zugleich als die Tätigkeit, sich selbst um für sich zu sein sich gegenüber zu stellen und in diesem Andern nur bei sich selbst zu sein.« 84 So zerfällt, laut Hegel, die Wissenschaft in drei Teile: »die Logik, die Wissenschaft der Idee an und für sich, die Naturphilosophie als die Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein, die Philosophie des Geistes, als der Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt«. 85 Die Logik ist »die Wissenschaft der Idee an und für sich«; sie ist demnach »als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit ohne Hülle an und für sich selbst. Mann kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist. Anaxagoras wird als derjenige gepriesen, der zuerst den Gedanken ausgesprochen habe, daß der Nous, der Gedanke das Prinzip der Welt, daß das Wesen der Welt als der Gedanke zu bestimmen ist. Er hat damit den Grund zu einer Intellektualansicht des Universums gelegt, deren reine Gestalt die Logik sein muß.« 86 84 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 62–63. 85 Ebd., S. 63. 86 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 44.
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Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
In diesem Zusammenhang schreibt Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse: »[D]ie Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist, der Idee im abstrakten Elemente des Denkens. Es gilt von dieser, wie von andern in diesem Vorbegriffe enthaltenen Bestimmungen dasselbe, was von den über die Philosophie überhaupt vorausgeschickten Begriffen gilt, daß sie aus und nach der Übersicht des Ganzen geschöpfte Bestimmungen sind. Man kann wohl sagen, daß die Logik die Wissenschaft des Denkens, seiner Bestimmungen und Gesetze sei, aber das Denken als solches macht nur die allgemeine Bestimmtheit oder das Element aus, in der die Idee als logische ist. Die Idee ist das Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet.« 87 Der Nutzen der Logik betrifft das Subjekt, insoweit es sich um eine Art von Bildung zu anderen Zwecken handelt: »Die Bildung desselben durch die Logik besteht darin, daß es im Denken geübt wird, weil diese Wissenschaft Denken des Denkens ist, und daß es die Gedanken auch als Gedanken in den Kopf bekommet. Insofern aber das Logische die absolute Form der Wahrheit und noch mehr als dies auch die reine Wahrheit selbst ist, ist es ganz etwas anderes als bloß etwas Nützliches. Aber wie das Vortrefflichste, das Freiste und Selbständigste auch das Nützlichste ist, so kann auch das Logische so gefaßt werden. Sein Nutzen ist dann noch anders anzuschlagen, als bloß die formelle Übung des Denkens zu sein.« 88 Während die Logik von Hegel als »die Wissenschaft der Idee an und für sich« definiert wird, ist die Naturphilosophie für ihn die »Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein«. 89 »Was Physik genannt wird, hieß vormals Naturphilosophie, und ist gleichfalls theoretische und zwar denkende Betrachtung der Natur, welche einerseits nicht von Bestimmungen, die der Natur äußerlich sind, wie die jener Zwecke, ausgeht, andererseits auf die Erkenntnis des Allgemeinen derselben, so daß es zugleich in sich bestimmt sei, gerichtet ist – der Kräfte, Gesetze, Gattungen, welcher Inhalt ferner auch nicht bloßes Aggregat sein, sondern in Ordnungen, Klassen gestellt sich als eine Orga87 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 67. 88 Ebd., S. 68. 89 Ebd., S. 63.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
nisation ausnehmen muß. Indem die Naturphilosophie begreifende Betrachtung ist, hat sie dasselbe Allgemeine aber für sich zum Gegenstand und betrachtet es in seiner eigenen immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs.« 90 Die Naturphilosophie muss laut Hegel rationale Tätigkeit sein und bleiben, auch wenn sie sich von der Physik und den Naturwissenschaften unterscheidet: »Das, wodurch sich die Naturphilosophie von der Physik unterscheidet, ist näher die Weise der Metaphysik, deren sich beide bedienen; denn Metaphysik heißt nichts anderes als der Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen, gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen. Jedes gebildete Bewußtsein hat seine Metaphysik, das instinktartige Denken, die absolute Macht in uns, über die wir nur Meister werden, wenn wir sie selbst zum Gegenstande unserer Erkenntnis machen. Die Philosophie überhaupt hat als Philosophie andere Kategorien als das gewöhnliche Bewußtsein; alle Bildung reduziert sich auf den Unterschied der Kategorien.« 91 Wenn man diese Bemerkungen überdenkt, kommt die Frage auf, wie Hegel die Beziehung zwischen Erfahrung und Naturphilosophie bestimmt. Welche Funktion und welches Ziel hat die Erfahrung? »Von dem Verhältnis der Philosophie zum Empirischen ist in der Einleitung die Rede gewesen. Nicht nur muß die Philosophie mit der Naturerfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung. Ein anderes aber ist der Gang des Entstehens und die Vorarbeiten einer Wissenschaft, ein anderes die Wissenschaft selbst; in dieser können jene nicht mehr als Grundlage erscheinen, welche hier vielmehr die Notwendigkeit des Begriffs sein soll. Es ist schon erinnert worden, daß außerdem daß der Gegenstand nach seiner Begriffsbestimmung in dem philosophischen Gange anzugeben ist, noch weiter die empirische Erscheinung, welche derselben entspricht, namhaft zu machen und von ihr aufzuzeigen ist, daß sie jener in der Tat entspricht. Dies ist jedoch in Beziehung auf die Notwendigkeit des Inhalts kein Berufen auf die Erfahrung.« 92 Hegels Naturphilosophie unterscheidet sich von der empirischen Physik nicht, weil sie die Erfahrung vernachlässigt, sondern aufgrund der 90 91 92
Ebd., S. 14. Ebd., S. 19. Ebd., S. 16.
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Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
andersartigen Rolle, die sie der Erfahrung zuweist. Die Bedeutung der Erfahrung für die Entstehung der Philosophie der Natur wird von Hegel besonders betont. Dass die Erfahrung als Grundlage der Philosophie fungiere, wird hingegen verneint. Die Grundlage von allem wissenschaftlichen Wissen ist die Notwendigkeit des Begriffs. 93 Nicht die Begriffsbestimmung des Objekts muss der empirischen Erscheinung entsprechen, sondern das Phänomen muss die Begriffsbestimmung aufzeigen.
9.
Der Begriff der Natur
Was ist laut Hegel die Natur? In der Einleitung der Enzyklopädie (unter dem Titel »Betrachtungsweisen der Natur«) definiert Hegel das Konzept Natur so: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriffe als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist. Der Begriff aber ist in der Natur teils nur inneres, teils existierend nur als lebendiges Individuum; auf dieses allein ist daher existierende Metamorphose beschränkt.« 94 Die Natur, die in ihrem Wesen heilig ist, ist lebendiges, unmittelbares Werden des Geistes: »Dieses sein letzteres Werden, die Natur, ist sein lebendiges, unmittelbares Werden; sie, der entäußerte Geist, ist in ihrem Dasein nichts, als diese ewige Entäußerung ihres Bestehens und die Bewegung, die das Subjekt herstellt.« 95 Hegel bemerkt: »[D]ie Idee, welche für sich ist, nach dieser ihrer Einheit mit sich betrachtet, ist sie Anschauen; und die anschauende Idee Natur. Als Anschauen aber ist die Idee in einseitiger Bestimmung der Unmittelbarkeit oder Negation durch äußerliche Reflexion gesetzt. Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie nicht bloß ins Leben übergeht, noch als endliches Erkennen dasselbe in sich schei-
Vgl. C. Spahn, Lebendiger Begriff – begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G. W. F. Hegel, Würzburg 2007. 94 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 31. 95 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 590. 93
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
nen läßt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.« 96 Die negative Natur der Natur – ihre sich gegen die Idee verschließende Andersheit – bedingt auch ihre innere Struktur: »Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.« 97 Die Natur 98 ist also nicht äußerlich in ihrem Verhältnis zu Idee und Geist, sondern sie ist in sich selbst äußerlich. Sie besitzt kein synthetisches Prinzip, das ihr eine innere Einheit gibt. »Die Idee als Natur ist: a) in der Bestimmung des Außereinander, der unendlichen Vereinzelung, außerhalb welcher die Einheit der Form, diese daher als eine ideelle nur an sich seiende, und daher nur gesuchte ist, die Materie und deren ideelles System – Mechanik; b) in der Bestimmung der Besonderheit, so daß die Realität mit immanenter Formbestimmtheit und an ihr existierender Differenz gesetzt ist – ein Reflexionsverhältnis, dessen Insichsein die natürliche Individualität ist, – Physik; c) in der Bestimmung der Subjektivität, in welcher die realen Unterschiede der Form ebenso zur ideellen Einheit, die sich selbst gefunden und für sich ist, zurückgebracht sind, – Organik.« 99 »Der Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selbst äußerlich ist« 100 – das ist der Ausgangspunkt der Hegel’schen Naturphilosophie. In ihrer inneren Struktur und in ihrer organischen und dynamischen Ganzheit ist »die Natur an sich ein lebendiges Ganzes; die Bewegung durch ihren Stufengang ist näher dies, daß die Idee sich als das setze, was sie an sich ist; oder was dasselbe ist, daß sie aus ihrer Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich gehe um zunächst als Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese BestimmtG. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 393. 97 Ebd., S. 24. 98 Vgl. A. Schlemm, Wie wirklich sind Naturgesetze? Auf Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie, Münster 2005. 99 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 37. 100 Ebd., S. 34. 96
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Hegels Definition des »Geistes«
heit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe, und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist.« 101
10. Hegels Definition des »Geistes« Im vorhergehenden Kapitel wurde erklärt, dass die Natur, deren Wesen göttlich ist, nach Hegel das lebendige, unmittelbare Werden des Geistes ist. »Dieses sein letztes Werden, die Natur, ist sein lebendiges, unmittelbares Werden; sie, der entäußerte Geist, ist in ihrem Dasein nichts, als diese ewige Entäußerung ihres Bestehens und die Bewegung, die das Subjekt herstellt.« 102 Aus diesem Blickwinkel bekommt die Beziehung zwischen der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes 103 eine besondere Bedeutung. Was bedeutet Philosophie des Geistes? Was ist der Geist für Hegel? Welche Funktion und Zielsetzung hat er im Hegel’schen Idealismus? Hegels Definition des Geistes lautet: »Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes er ist. In dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden, und der Geist hat sich als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben, deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist. Diese Identität ist absolute Negativität, weil in der Natur der Begriff seine vollkommene äußerliche Objektivität hat, diese seine Entäußerung aber aufgehoben, und er in dieser sich identisch mit sich geworden ist. Er ist diese Identität somit zugleich nur, als Zurückkommen aus der Natur.« 104 Hier unterscheidet Hegel zwischen dem Ersten für uns und dem »absolut Ersten« und nimmt so die berühmte Unterscheidung von Aristoteles wieder auf: die Unterscheidung zwischen dem Ersten der Natur nach (proteron te physei) und dem Ersten für uns (proteron pros hemas). Ebd., S. 36. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 590. 103 Zur Verbindung zwischen der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes vgl. M. F. Bykova, »Der Begriff des Geistes in Hegels Phänomenologie des Geistes«, in: Phänomen und Analyse. Grundbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts in Erinnerung an Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), hrsg. von Wolfram Hogrebe, Würzburg 2008, S. 32–42. 104 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 17. 101 102
175 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Die Natur ist die Offenbarung des Geistes, und der Geist ist Gott, der die Welt aus Freiheit geschaffen hat: »Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. Das Wort und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Dies, was hier der Vorstellung gegeben, und was an sich das Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist Aufgabe der Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft und immanent gelöst ist, als der Begriff und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele ist.« 105 Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. Er ist »nicht irgend eine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung und Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre, so daß er nicht Etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst. Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit.« 106 Vor diesem Horizont sind die Begriffe »Möglichkeit« und »absolute Wirklichkeit« mit den Begriffen »Offenbaren« und »Werden der Natur« verbunden. »Das Offenbaren, welches als die abstrakte Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständige Natur ist. Das Offenbaren im Begriff ist Erschaffen derselben als seines Seins, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt.« 107 Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann deshalb »nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen«. 108 Die Bestimmungen und Stufen des Geistes sind wesentlich »nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höhern Entwicklungsstufen. Es geschieht dadurch, daß an einer niedrigern, abstraktern Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden zeigt, wie z. B. in der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder 105 106 107 108
Ebd., S. 30. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 11.
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Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes
Bestimmtheit. Oberflächlicherweise kann daher in der Empfindung, welche nur eine abstrakte Form ist, jener Inhalt, das Religiöse, Sittliche usf., wesentlich seine Stelle und sogar Wurzel zu haben, und seine Bestimmungen als besondere Arten der Empfindung zu betrachten notwendig scheinen. Aber zugleich wird es, indem niedrigere Stufen betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerklich zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet.« 109 Laut Hegel verläuft die Entwicklung des Geistes so, dass er a) »in der Form der Beziehung auf sich selbst ist, innerhalb seiner ihm die ideelle Totalität der Idee, d. i. daß das, was sein Begriff ist, für ihn wird, und ihm sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein, subjektiver Geist; b) in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist, objektiver Geist; c) in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs, der Geist in seiner absoluten Wahrheit, der absolute Geist«. 110
11. Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes Hegel betont die semantische Unterscheidung von Verstand und Vernunft. Warum ist diese semantische Unterscheidung in der gesamten Philosophie Hegels so wichtig? Was ist Verstand 111? Welche Grenzen Ebd., S. 17. Ebd., S. 32. 111 Der Begriff »Intellekt« (gr. νοῦς; lat. intellectus) hatte immer eine zweifache Bedeutung bei den Philosophen: 1. die allgemeine Bedeutung der Fähigkeit zu denken und 2. die bestimmte Bedeutung einer besonderen, kognitiven Tätigkeit. Diese zweite Bedeutung ist in dreierlei Art und Weise verstanden worden: a) als intuitiver Intellekt b) als handelnder Intellekt; c) als verstehender Intellekt oder Intelligenz. Diese allgemeine Bedeutung hat sich in der philosophischen Tradition bis zur Romantik erhalten. Thomas von Aquin drückt sie durch die Gegenüberstellung des Intellekts und der Sinne aus. Der Begriff Intellekt impliziert eine gewisse innere Erkenntnis; »intelligere« ist ein inneres Lesen (»intus legere«). Dies wird evident, wenn man den Unterschied zwischen dem Intellekt und den Sinnen betrachtet: Das Feld der sinnlichen Erkenntnis ist die äußere, sinnlich wahrnehmbare Qualität, und »die intellektuelle Erkenntnis dringt bis zur Essenz der Dinge vor« (Summa theologiae, II, S. 2). Zur gleichen allgemeinen Bedeutung gelangt man, wenn man, wie Locke, den Begriff 109 110
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
hat der Verstand? Was ist Vernunft? Laut Hegel sieht der Verstand das Endliche (oder alle Einheiten, die uns umgeben und die wir kennen, weil wir Menschen sind) als Begriffe, die antithetisch zueinander stehen. Die Vernunft hingegen versteht, dass kein endlicher Begriff selbstgenügsam in sich ist und dass jeder mittels der anderen in der Totalität der Dialektik der Gegensätze verstanden werden will. In der Einleitung zur Geschichte der Philosophie bemerkt Hegel, dass die Meinung, die Philosophie befasse sich nur mit Abstraktionen, während die Anschauung unseres empirischen Selbstbewusstseins das Gefühl 112 unserer selbst und der Sinn des Lebens das Konkrete an sich seien, ein verbreitetes Vorurteil ist. In der Tat lebt die Philosophie im Bereich des Gedankens. Sie hat es also mit der Universalität zu tun. Ihr Inhalt ist aber nur aufgrund ihrer Form abstrakt, während die Idee an sich wesentlich und konkret ist, weil sie die Einheit der unterschiedlichen Bestimmungen ist. Insofern differiert die vernünftige Erkenntnis von der reinen Erkenntnis des Verstandes. Es ist die Aufgabe der Philosophie, gegenüber dem Verstand zu klären, dass die Wahrheit und die Idee nicht aus leeren Abstraktionen bestehen, »sondern aus der allgemeinen Erkenntnis, die mit der besonderen Erkenntnis verschmilzt«. 113 Diejenigen Philosophien, die dem Bereich der Kriterien des Verstandes verschlossen bleiben und die Gegenüberstellung von Endlichem und Unendlichem 114 beibehalten, machen diese zerrissene Situation deutlich, welche sowohl auf der subjektiven als auch auf der dem Willen gegenüberstellt. Das Vermögen zu denken heißt Intellekt, und die Fähigkeit zu wollen heißt Wille: »[S]ie sind zwei Fähigkeiten der Seele, die Fähigkeit genannt wird« (Essay Concerning Human Understanding, II, 6, 2). Leibniz verstand unter Intellekt »die Perzeption, die mit der Fähigkeit der Reflexion verbunden ist«. (Nouveaux Essais sur l’entendement humain, II, 21, 5). Diese Bedeutung wird von Wolff wieder aufgenommen (Psychologia empirica, § 275). Die Definition des »Intellekts« als »Fähigkeit zu denken« ist im 18. Jahrhundert verbreitet und Kant wiederholt sie häufig. Bei Kant ist der Intellekt die Fähigkeit, »das Objekt der empirischen Anschauung zu denken« (KrV, Einleitung, I) oder »die Kraft im Allgemeinen zu erkennen« (Anthropologie, I, § 6, 40). 112 Vgl. F. Schick, »Die Rolle des Gefühls in der Genese des Bewußtseins. Überlegungen zu Hegel und Fichte«, in: Materiale Disziplinen der Wissenschaftslehre. Zur Theorie der Gefühle, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 11, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 331–349. 113 Vgl. G. W. F. Hegel, Einführung in die Geschichte der Philosophie, S. 60. 114 Zur semantischen Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem vgl. R. Bubner, »Das Endliche und das Unendliche und der Übergang«, in: Kant und der Frühidealismus, hrsg. von Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, S. 45–58.
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Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes
objektiven Ebene überwunden werden muss. Diese Überwindung ist noch nicht einmal in den höchsten Formen des Denkens der Neuzeit erreicht worden, etwa in den Philosophien von Kant, Jacobi und Fichte, die Hegel in Glauben und Wissen diskutiert. 115 In diesen Philosophien bleibt der Gedanke an den Verstand und an das Endliche gebunden: Die Gegenüberstellungen von Phänomen und Noumenon, Glauben und Wissen, Leben und Philosophie werden als unüberwindbar und als sich immer wieder erneuernd angesehen. Diese Philosophien sind in der Konzeption des Unendlichen als schlechtes Unendliches oder als unrealisierbares Ideal gefangen. Die Philosophie von den Grenzen des Verstandes zu lösen und auf die Ebene der Vernunft zu bringen, bedeutet, ein neues Konzept des »Unendlichen« aufzustellen, das das Unendliche nicht als einfache Negation des Endlichen (der Menschen, der naturgegebenen Objekte und der historischen Einheiten) versteht, sondern als Einheit und dialektische Versöhnung, die sich in der Geschichte verwirklicht. Die Kritik Hegels an den oben genannten Philosophien basiert auf einer tiefgehenden Kritik des Konzepts »Verstand«. Inwiefern unterscheidet sich Hegels Begriff des »Verstandes« grundlegend von den entsprechenden Konzepten bei Fichte und Kant? Welches sind die bedeutendsten Unterschiede in der Ausarbeitung des Konzepts »Verstand« im deutschen Idealismus? Bei Kant ist der Verstand »die Fähigkeit, das Objekt der empirischen Anschauung zu denken« 116 oder »die Kraft im Allgemeinen zu erkennen«. 117 In der Romantik hingegen verliert der Verstand seinen Wert als Erkenntnisvermögen im eigentlichen Sinne. Man entdeckt die Unbeweglichkeit des Verstandes. Diese Entdeckung geht auf Fichte zurück. Laut Fichte ist der Verstand eine geistige Tätigkeit, 118 die nicht aktiv ist. Im Verstand liegt das, was von der Einbildung produziert wurde. Und dieses Produkt muss von der Vernunft bestimmt werden. Es ist Hegel, der den Beiwörtern des Verstandes – unbeweglich, steif, abstrakt – besonderes Gewicht gibt: Der Gedanke als Verstand hört bei der steifen Bestimmung und deren Differenz zu anderen Bestimmungen auf. Dieses abstrakte und begrenzte Produkt ist
115 Vgl. J. D. Hodt, Hegel segreto. Ricerche sulle fonti nascoste del pensiero hegeliano, Milano: Guerini e Associati 1989. 116 Vgl. I. Kant, KrV, Einleitung, I. 117 Kant, Anthropologie in pragmatischen Hinsicht, § 6, S. 40. 118 Vgl. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre, 1794, II, S. 184.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
für den Verstand selbständig und existent. Der Verstand ist insofern durch Unbeweglichkeit und durch einfache, fixierende Bestimmungen charakterisiert. 119 Diese Unbeweglichkeit ist falsch; das zeigt sich etwa daran, wie der Verstand die Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem versteht und dadurch dem schlechten Unendlichen 120 Raum gibt. Das Fixieren, das Immobilisieren, das Festhalten und das absolute Bestimmen der endlichen Begriffe werden zu den wichtigsten Tätigkeiten des Verstandes. Diesen Tätigkeiten steht die Aktivität der Vernunft gegenüber, die der dialektischen Tätigkeit entsprechend die in sich geschlossene Individualität der Verstandesbestimmungen aufhebt und überwindet. Diese eigentliche Funktion des Verstandes, die allgemeinen Prinzipien des Denkens anzuschauen, wurde schon von Thomas von Aquin und in der scholastischen Philosophie neben der allgemeinen Funktion des Intellekts erkannt. 121 Kant unterschied vom allgemeinen Intellekt den Verstand als ein Erkenntnisvermögen, das neben dem Urteil und der Vernunft steht. Der Begriff Verstand, sagt Kant, wird auch in einem besonderen Sinn verstanden, wenn er als Teil einer Trennung dem Intellekt im allgemeinen Sinn, also »als höhere Möglichkeit, die aus Intellekt, Urteilskraft und Vernunft besteht, untergeordnet wird«. 122 In diesem Sinne ist der Verstand das Vermögen, zu urteilen; dieses Urteil ist ein bestimmendes, also ein Urteil, dessen Gesetzmäßigkeiten das natürliche Objekt im Allgemeinen (und insbesondere seine Form) begründen. Diese Gesetze sind vom Verstand a priori vorgeschrieben, also als Prinzipien seiner Arbeitsweise gegeben. 123 In diesem Sinne, als Urteilsvermögen, ist der Intellekt nicht intuitiv, steht also nicht in direkter Beziehung zum Objekt. Er steht vielmehr in einem mittelbaren Verhältnis zum Objekt, weil es sich um das Urteil einer Darstellung handelt und somit, nach Kant, um die Darstellung einer Darstellung. Aber er ist auch intuitiv im Sinne des intuitiven Verstandes bei Aristoteles. Er steht in unmittelbarer Beziehung zu den Gesetzen oder den grundlegenden Prinzipien, die die Basis der Wissenschaft und der Struktur ihrer Objekte sind. Der Unterschied zwischen der aristotelischen und der kantischen Auffassung lässt sich folgender-
119 120 121 122 123
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 5. Ebd., Teil I, Kap. 2, S. 157. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, 8, a 1. I. Kant, Anthropologie in pragmatischen Hinsicht, I, § 40. Vgl. KrV, Analytik der Begriffe, Teil I und KU, Einleitung, § IV.
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Vernunft, Realität und Wirklichkeit
maßen erläutern: Nach Aristoteles hat der Verstand die Aufgabe, die ursprünglichen Prinzipien, die von der demonstrativen, darstellenden Wissenschaft benutzt werden, zu formulieren und zu erklären; nach Kant nutzt der Verstand die Prinzipien, die ihn konstituieren und die er nicht auszuformulieren braucht, indem er seine Aufgabe, zu urteilen, erfüllt. Diese beiden Alternativen sind in der Geschichte die einzigen, die den Intellekt als spezifische, intuitive Möglichkeit interpretieren.
12. Vernunft, Realität und Wirklichkeit »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft.« 124 Indem er diese Definition als Grundlage nimmt, erklärt Hegel die Gleichartigkeit von Vernunft und Wirklichkeit. Was ist Vernunft? Welches ist die Bedeutung und was ist die Funktion des Begriffs »Vernunft« bei Hegel? Wie ist die Beziehung zwischen Vernunft, Realität und Wirklichkeit? Im Vorwort zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts greift Hegel diese Thematik auf und schreibt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewußtsein, wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus als des natürlichen.« 125 Der erste Teil der Aussage Hegels »was vernünftig ist, das ist wirklich« meint, dass das Vernünftige Wirklichkeit wird und sich in konkreten Formen zeigt. Ein vernünftiges Ideal wird früher oder später Wirklichkeit. Und wenn es nicht wirklich wird, heißt das, dass es nicht vernünftig ist. Hegel ist der Auffassung, dass die politischen Ideale und Manifeste deshalb nie verwirklicht worden sind, weil sie nicht vernünftig und somit wertlos sind; sie sind vergängliche Phantasien ohne Sinn und Bedeutung. Um zu wissen, ob eine Ideologie richtig und vernünftig ist, muss man sie in der Geschichte verwirklicht sehen. Der zweite Teil der Aussage »was wirklich ist, das ist vernünftig« weist darauf hin, dass in allem Wirklichen (in der Natur und in der Geschichte) eine innere Rationalität bzw. Vernunft liegt. Die Wirk124 125
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 61. Ebd., S. 58.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
lichkeit, bzw. die Gesamtheit der natürlichen Phänomene und der historischen Ereignisse, ist keine chaotische Materie, die vom Zufall bestimmt wird. Sie durchläuft eine logische Entwicklung und ist die Manifestation einer vernünftigen Struktur (Idee oder Vernunft), die der Natur unbewusst und dem Menschen bewusst ist. »Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor, und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen.« 126 Die Vernunft ist wirklich, weil sie sich in konkreten Formen in der Wirklichkeit äußert; sie ist kein abstraktes oder ideales Konzept, sondern in der konkreten Welt wiederzufinden, da alles, was sich realisiert, einen Grund dafür hat, sich zu realisieren. Alles, was existiert (das Wirkliche), ist eine konkrete Manifestation der Vernunft; in der Wirklichkeit gibt es nur Platz für den Gedanken, und jedes Ereignis ist, vielleicht unbewusst, von einer gewissen rationalen Struktur bestimmt. Das Vernünftige ist »das an und für sich Allgemeine«. 127 »Das an und für sich seiende Allgemeine ist überhaupt das, was man das Vernünftige nennt und was nur auf diese spekulative Weise gefaßt werden kann.« 128 Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, »überhaupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit, und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d. i., des allgemeinen substantiellen Willens, und der subjektiven Freiheit, als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens, und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln. Diese Idee ist das an und für sich ewige und notwendige Sein des Geistes.« 129 Hegel stellt eine semantische Beziehung zwischen Vernünftigkeit, Allgemeinheit und Einzelheit her, um die Übereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit zu erklären und um den Begriff der 126 127 128 129
Ebd., S. 60. Ebd., S. 530. Ebd., S. 112. Ebd., S. 418.
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Vernunft, Realität und Wirklichkeit
Vernunft mit ihrer organischen und dynamischen Struktur zu definieren. »Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen, und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten, sowie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen.« 130 Die vernünftige Betrachtung, das Bewusstsein der Idee, ist konkret und »trifft insofern mit dem wahrhaften praktischen Sinne, der selbst nichts anderes als der vernünftige Sinn, der Sinn der Idee ist, zusammen«. 131 In der Enzyklopädie erklärt Hegel das Konzept der »Vernunft« folgendermaßen: »Das Selbstbewußtsein so die Gewißheit, daß seine Bestimmungen ebensosehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge, als seine eigenen Gedanken sind, ist die Vernunft, welche als diese Identität nicht nur die absolute Substanz, sondern die Wahrheit als Wissen ist.« 132 Nach Hegel ist die Vernunft die Identität des Selbstbewusstseins als Gedanke mit seinen Manifestationen, welche Dinge und Ereignisse sind; die Vernunft ist die Identität des Gedankens und der Wirklichkeit. Hegel erklärt die Vernunft als die Sicherheit des Bewusstseins, das ein Bewusstsein der Wirklichkeit ist. 133 Vor diesem Hintergrund ist die Vernunft nicht diskursiv in dem Sinne, dass sie sprachliche Ausdrücke miteinander verbindet, sondern sie wird notwendigerweise zu einem dynamischen, dialektischen Prozess. Dieser Standpunkt lässt keine bloß formale Betrachtung der rationalen Vorgänge zu. Als Selbstbewusstsein ist die Vernunft nie formal. Sie ist immer zugleich die Wirklichkeit. Der Verstand ist laut Hegel die Bestimmung des Endlichen. Die Vernunft ist dialektisch, weil sie die individuellen Bestimmungen des Verstan-
Ebd., S. 62. Ebd., S. 520. 132 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 228. 133 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, I, V, 1, S. 209. 130 131
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
des überwindet. Sie ist positiv, weil sie das Allgemeine, in dem das Einzelne enthalten ist, hervorbringt. 134 Dies bedeutet, dass sie die Dinge oder die realen Bestimmungen enthält, die nichts anderes sind als ihre besonderen Manifestationen. Die Negation der formalen Logik ist unter diesem Gesichtspunkt ein Ausdruck der Vernunft. Man denke nur an Benedetto Croces Ablehnung der formalen Logik, die auf jener Hegel’schen Identität von Vernunft und Wirklichkeit beruht, die sich in der Form der Identität von Philosophie und Geschichte zeigt. Die Vielfältigkeit der Wirklichkeit, der Dinge und der Erfahrung scheint aufgrund der Trennung der Philosophie von der empirischen Wissenschaft in ihrer Ganzheit nicht durch den reinen Begriff der Philosophie bestimmt werden zu können. Diese Separation kann mittels der Synthese von Philosophie und Geschichte überwunden werden. 135 Im Idealismus Hegels beinhaltet die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Vernünftigkeit auch die Übereinstimmung von Sein und Seinmüssen. 136 Das, was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist vernünftig: Es ist gut, dass es ist. In diesem Zusammenhang kritisiert Hegel die Haltung der Aufklärer zur Wirklichkeit. Die Aufklärer machen aus dem Verstand den Richter der Geschichte. Dabei vergessen sie jedoch, dass die Wirklichkeit immer das ist, was sein muss. Die aufklärerische Kritik drückt nur individuelle Bedürfnisse und Bestrebungen aus; es sind die Träume der ewig Unglücklichen, die die Welt verbessern möchten, ohne zu bemerken, dass die Welt schon so ist, wie sie sein soll. Hegel möchte mit der Feststellung, dass Wirkliches und Vernünftiges von gleicher Identität ist, nicht sagen, dass alles, was passiert, bis ins kleinste Detail als vernünftig (und deswegen notwendig und richtig) anzusehen ist. Wahr ist, dass das Wirkliche rational ist, also notwendig; es ist aber nicht wahr, dass alles, was in einem bestimmten Moment existiert, auch wirklich ist. Hegel unterscheidet zwischen wirklich und existent. Nur die tiefsten und allgemeinsten Aspekte der Existenz sind wirklich und deswegen vernünftig. Einige besondere Äußerungen der Existenz hingegen sind in Wahrheit nicht wirklich. In der Politik z. B. sind es nicht die Gefühle und die Leidenschaften der Individuen, die wirkG. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Vorwort zur 1. Ausgabe, S. 5. Ebd., S. 392. 136 Vgl. R. Brandom, »Holism and Idealism in Hegel’s Phenomenology«, in: HegelStudien 36 (2001), S. 61–95. 134 135
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Vernunft, Realität und Wirklichkeit
lich sind, sondern der Staat und seine Einrichtungen. Genauso ist es in der Natur. Das einzelne Phänomen ist nicht wirklich, z. B. nicht das Schillern des Regenbogens; wirklich sind jedoch die Gesetze der Physik, die diese Phänomene hervorrufen. Wirklich ist also für Hegel nicht das Einzelne, das Individuum, sondern das Universale. Auch wenn man die Existenz des Zufalls in der Natur und in der Geschichte zulässt, sind für Hegel die Grundstrukturen des Universums und die Grundlagen unserer Welt notwendig und rational. Und wenn das Wirkliche rational ist, muss die Philosophie die Wirklichkeit akzeptieren, ohne ihr alternative Ideale entgegenzusetzen (denn die Wirklichkeit ist schon, wie sie sein soll). Die Aufgabe der Philosophie ist, nach Hegel, die historische Wirklichkeit wahrzunehmen und sie mittels der Vernunft zu erklären. Insbesondere die Rechtsphilosophie sollte die Vernünftigkeit, also das Positive der aktuellen Epoche und ihrer politischen Einrichtungen, etwa des Staates, aufzeigen. Nach Hegel hat die Philosophie ihre eigene, authentische Zeit, die im Gedanken verstanden wird. »Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« 137 Die Philosophie kommt nicht über ihr eigenes Zeitalter hinaus und kann nicht in die Zukunft schauen; sie darf nicht Förderin des Fortschritts sein und hat nicht die Aufgabe, neue Epochen zu deklarieren. Sie versucht hingegen das Jetzt zu verstehen und durch Reflexion dessen innere Notwendigkeit zu beweisen. Sie hat nicht die Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern, zu bestimmen oder zu leiten; sie soll die Gesellschaft erklären. Die Philosophie kann die Wirklichkeit allerdings nur am Ende eines Realisierungsprozesses erklären. Eine historische Zeitspanne kann nur am Ende ihrer Entwicklung verstanden werden, wenn sie sich in ihrer Ganzheit gezeigt hat. »Doch es ist Zeit, dieses Vorwort zu schließen; als Vorwort kam ihm ohnehin nur zu, äußerlich und subjektiv von dem Standpunkt der Schrift, der es vorangestellt ist, zu sprechen. Soll philosophisch von einem Inhalte gesprochen werden, so verträgt er nur eine wissenschaftliche, objektive Behandlung, wie denn auch dem Verfasser Widerrede anderer Art als eine wissenschaftliche Abhandlung der Sache selbst, nur für ein subjektives Nachwort und beliebige Versicherung gelten und ihm gleichgültig sein muß.« 138 Hegel vergleicht die Phi137 138
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 60. Ebd., S. 64.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
losophie mit der heiligen Eule Minervas, die erst nach Sonnenuntergang in der Dämmerung zu fliegen beginnt. Mit dieser Metapher möchte Hegel sagen, dass die Philosophie aufkommt, nachdem eine Zivilisation ihren Entwicklungsprozess durchlaufen hat und ihr Untergang beginnt. So kam beim Untergang der ionischen Staaten in Kleinasien die ionische Philosophie auf. Der Niedergang Athens brachte die Philosophie des Platon und des Aristoteles hervor. In Rom verbreitete sich die Philosophie beim Untergang der Republik und mit der Diktatur der Kaiser. Vor dem Hintergrund dieser Gedanken über die philosophischsemantische Beziehung zwischen Vernunft, Realität und Wirklichkeit ist es interessant, die Unterschiede zwischen dem Vernunftbegriff in Hegels absolutem Idealismus und dem Vernunftbegriff der Aufklärung und des kantischen Kritizismus aufzudecken. Welche Bedeutung hat der Begriff der Vernunft während der historischen Entwicklung des deutschen Idealismus? Welche Funktion hat er? Wie entwickelt sich seine philosophisch-semantische Bedeutung in der schrittweisen Umformung vom Kritizismus Kants zum absoluten Idealismus Hegels? Bei Kant hat der Begriff der Vernunft semantisch und funktional seine Wurzeln im Vernunftbegriff des Empirismus. Lockes Empirismus sah in der Vernunft eine grundlegende Bestimmung, die die einzige wirkliche Neuerung des modernen Begriffs gegenüber dem klassischen Konzept darstellte: Sie ist ein Organon sowohl der wahrscheinlichen als auch der gewissen Erkenntnis. Locke zufolge erkennt die Vernunft die »notwendige und unzweifelhafte Verbindung« 139 zwischen allen Begriffen der menschlichen Erkenntnis. Dadurch war die Vernunft für jene Funktion qualifiziert, die ihr die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zuwies: nämlich das Prinzip einer radikalen Traditionskritik und einer radikalen Erneuerung der menschlichen Erkenntnis zu sein. In diesem Sinne hat Kant versucht, das aufklärerische Ideal der Vernunft zu verwirklichen. Einerseits identifizierte er die Vernunft mit der Freiheit zur Kritik. Andererseits wollte er die Vernunft vor ihr eigenes Gericht bringen und eine Kritik der reinen Vernunft einführen, die die Felder, Bereiche, Grenzen und »Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis« 140 bestimmt. Der Philosoph aus Königsberg erkennt den diskursiven CharakVgl. J. Locke, Essay Concerning Human Understanding, IV, 17, 2. Vgl. B. Dörflinger, Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants, Berlin/New York: de Gruyter 2000.
139 140
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Vernunft, Realität und Wirklichkeit
ter der menschlichen erkennenden Aktivität an, meint jedoch, dass nur Gott über intuitive Erkenntnis verfügt, und unterscheidet ganz klar die Vernunft vom Verstand, auch wenn beide einen diskursiven Charakter haben. Die Vernunft ist das Vermögen, das die Begriffe aus sich selbst hervorbringt, und deswegen kann man sie die Fähigkeit der Prinzipien nennen. Aber die Begriffe, die die Vernunft hervorbringt, sind nicht in der Erfahrung verankert und sind deshalb vorgetäuscht. »Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann.« 141 Die Vernunft geht diskursiv vor wie der Verstand; sie sieht jedoch die diskursiven Vorgänge des Verstandes als in Ideen von Totalität und Einheit (Seele, Welt, Gott) vollendet an, die vollkommen, aber nicht mit der Erfahrung zu konfrontieren sind, also bloße Ideale der Vernunft bleiben. Außerdem sind diese Ideen nur die Quelle dialektischer Gedankengänge und somit sophistisch. Das Ergebnis dieser kantischen Unterscheidung ist, dass das einzig gültige diskursive Vorgehen das des Verstandes ist, dessen Begriffe direkt von der Erfahrung herrühren. Kant behält den Begriff »Realität« mit der Bedeutung der Realität der Dinge oder, wie er sagt, Sachheit bei und stellt ihm die Idealität des Raums und der Zeit, die reine Formen a priori der sinnlichen Anschauung sind, gegenüber. Anders als bei Kant ist im Idealismus Fichtes die Quelle einer jeden Realität das Ich. 142 Das Ich ist die Voraussetzung des Konzepts Realität. Von ihm geht, als unfehlbare Notwendigkeit, das gesamte System des Wissens aus, das zugleich das System der Realität ist. In diesem Zusammenhang spielt das Konzept der Vernunft als Selbstbewusstsein in der Philosophie Fichtes eine entscheidende Rolle. Es ist durch die Identifikation der Vernunft mit der Realität charakteri-
KrV, B 359/A 302. Vgl. J. Kopper, Das transzendentale Denken des deutschen Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989 und R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus. Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart: Kohlhammer 2004. 141 142
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
siert und setzt das Konzept der Vernunft als Erörterung voraus. Als Erörterung ist die Vernunft eine Deduktion; und als Deduktion hat sie ein einziges Prinzip, das das Ich ist. Die Gleichungen, auf denen diese Doktrin basiert, sind die folgenden: Vernunft = deduktives Wissen; deduktives Wissen = Realität; Realität und Wissen konstituieren und charakterisieren den eigentlichen Kern des Selbstbewusstseins. 143
13. Das Wirkliche, die Wirklichkeit und die Verwirklichung Im Kapitel »Die Wirklichkeit« in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse definiert Hegel die Bedeutung von »wirklich« und »Wirklichkeit«: »Die Wirklichkeit ist die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz, oder des Innern und des Äußern. Die Äußerung des Wirklichen ist das Wirkliche selbst, so daß es in ihr ebenso wesentliches bleibt, und nur insofern wesentliches ist, als es in unmittelbarer äußerlicher Existenz ist […]. Das Wirkliche ist das Gesetztsein jener Einheit, das mit sich identisch-gewordene Verhältnis; es ist daher dem Übergang entnommen und seine Äußerlichkeit ist seine Energie; es ist in ihr in sich reflektiert; sein Dasein ist nur die Manifestation seiner selbst, nicht eines Andern. Die Wirklichkeit, als dies Konkrete, enthält jene Bestimmungen und deren Unterschied, ist darum auch die Entwicklung derselben, so daß sie an ihr zugleich als Schein, als nur Gesetzte bestimmt sind.« 144 Im Hegel’schen Idealismus ist die Realität Geist: Die Realität ist also ein geistiges Subjekt, das einem unaufhörlichen Werdegang unterliegt. Die Realität ist keine statische, gegebene Substanz wie die Natur bei Spinoza, sondern ein dynamischer Prozess in Entwicklung. Die Realität ist für Hegel Bewegung, Werden, Aktivität, Prozess, Entwicklung. Sie ist nicht Statik oder Abstraktion, sondern ein lebendiges, konkretes, aktuelles Subjekt, das sich sowohl in der natürlichen Welt als auch in der historischen Welt zeigt. Die Realität ist der unendliche oder absolute Geist. Deswegen definiert Hegel seine Philoso-
143 Zur semantischen Korrelation zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis vgl. M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart: Reclam 1991. 144 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 302.
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Das Wirkliche, die Wirklichkeit und die Verwirklichung
phie als eine Form von Idealismus im doppelten Sinn, 145 einerseits, weil die wahre Realität eine Idee ist, also der Gedanke, der Geist, das Absolute, die Vernunft; andererseits, weil die Idealität die Nicht-Realität dessen ist, was wir endlich nennen. Für Hegel existiert das Endliche nicht für sich, sondern nur in einem Zusammenhang von Beziehungen. Mit anderen Worten: Wenn die Realität ein einheitliches Ganzes ist, ist das, was existiert, ein Teil davon. Das Endliche existiert nur im Unendlichen und aufgrund der Existenz des Unendlichen. Seine Philosophie ist als eine Art pantheistischer Monismus definiert worden, weil Hegel in der Welt (dem Endlichen) die Manifestation des Absoluten (des Unendlichen) sieht. Wenn die Realität auf einem unendlichen Entwicklungsprozess gründet, kann sie sich nur am Ende dieses Prozesses durch den Geist als das, was sie wirklich ist, offenbaren. »Die Wahrheit ist das Ganze«, sagt Hegel in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes, um zu unterstreichen, dass man das wahre Absolute nur am Ende des Entwicklungsprozesses erkennt. Erst wenn der Prozess vollendet ist, kann man die Rationalität dieses Prozesses vollständig verstehen. Wahrheit und Realität durchlaufen einen dynamischen und dialektischen Prozess, weil sie von einem Subjekt ausgehen, um dann zu ihm zurückzukehren, nachdem sie verstanden haben, dass das Objekt, das unabhängig und gegenläufig scheint, nichts anderes als ein Ausdruck des Subjekts ist. Diese geistige Realität, die das Ganze, die Totalität, also die Ganzheit eines jeden Dinges ist und außerhalb deren nichts ist, wird von Hegel das Absolute 146 und das Unendliche genannt. Die einzelnen Phänomene der Natur und der Geschichte repräsentieren hingegen das Endliche. Das Absolute ist keine Gesamtheit von autonomen Teilen, die unabhängig voneinander existieren können, sondern es ist ein ganzheitlicher Organismus, in dem jeder Teil dialektisch an andere Teile gebunden ist und nicht ohne sie sein kann. Die einzelnen historischen Tatsachen und die einzelnen Phänomene der Natur sind für Hegel nicht autonom und lassen sich nicht aus sich erklären, sondern nur in einer Kette von anderen Fakten und Phänomenen. Die historischen Tatsachen existieren innerhalb dieser Kette
Vgl. F. P. Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Berlin: de Gruyter 1989. 146 Zur Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Unendlichen bei Hegel vgl. A. Peperzak, Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philosophie des Geistes, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1988. 145
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und lassen sich daher nur innerhalb der gesamten menschlichen Geschichte erklären. Die Phänomene der Natur hingegen lassen sich nur innerhalb der Naturwissenschaften erklären. Zwei Beispiele: Das historische Ereignis der Schlacht von Issos 333 v. Chr. und das naturwissenschaftliche Phänomen, dass das Gewicht von Wasserstoff gleich eins ist, sind unumstößliche Wahrheiten, haben aber keinen Sinn für sich selbst. Man kann sie nur verstehen, wenn sie in den Kontext der Geschichte oder der Wissenschaft eingebettet werden. Genau betrachtet, existieren Fakten und Phänomene, lassen sich aber nur in Bezug zum Absoluten erklären. Es sind endliche Momente, deren Existenz durch das Ganze, das Unendliche, gerechtfertigt wird. Der Sinn der These Hegels, dass sich »das Endliche im Unendlichen auflöst«, ist der: Die endlichen Ereignisse der Natur und der Geschichte können nur innerhalb des Absoluten erklärt werden. Das Absolute, von dem Hegel spricht, ist nicht nur der Geist oder das Unendliche; es wird auch Idee oder Vernunft genannt, weil es von einer innewohnenden Rationalität charakterisiert ist. Laut Hegel sind »Vernunft« und »Wirklichkeit« identisch.
14. Was heißt »Idee« in Hegels subjektiver Logik? Der semantische Unterschied zwischen Idee und Begriff Was versteht Hegel unter ›Idee‹ ? Warum ist die semantische Unterscheidung zwischen Idee und Begriff im System der Philosophie Hegels so wichtig? Nach der synthetischen Definition Hegels ist »die Idee die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität«. 147 »Die Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Begriff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstellung, die er sich in der Form äußerlichen Daseins gibt und diese Gestalt in seiner Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr erhält. Die Definition des Absoluten, daß es die Idee ist, ist nun selbst absolut. Alle bisherigen Definitionen gehen in diese zurück. Die Idee ist die Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, daß die Objektivität dem Begriffe entspricht, nicht daß äußerliche Dinge meinen Vorstellun-
147 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 367.
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Was heißt »Idee« in Hegels subjektiver Logik?
gen entsprechen; dies sind nur richtige Vorstellungen, die Ich Dieser habe. In der Idee handelt es sich nicht um Diesen, noch um Vorstellungen, noch um äußerliche Dinge. Aber auch alles Wirkliche, insofern es ein Wahres ist, ist die Idee, und hat seine Wahrheit allein durch und kraft der Idee.« 148 Nach Hegel garantiert die Philosophie den intelligiblen Charakter der Erkenntnis, dem zufolge nichts wirklich ist, außer der Idee. Die Idee ist das Synonym von vernünftig. Die Idee ist die bewusste Identität von Form und Inhalt. »Die Philosophie hat es mit Ideen, und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu tun, sie zeigt vielmehr deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf, sowie daß der Begriff (nicht das, was man oft so nennen hört, aber nur eine abstrakte Verstandesbestimmung ist) allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt. Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf. Die Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist, zur Erkenntnis des Begriffs selbst, das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Momente der Idee.« 149 In ihrer konkreten Bedeutung ist die Form die Vernunft als begriffsmäßige Erkenntnis, während der Inhalt die Vernunft als substantielle Essenz sowohl der ethischen als auch der natürlichen Wirklichkeit ist. Die philosophische Idee ist die bewusste Identität von beiden. »Dies ist auch, was den konkreteren Sinn dessen ausmacht, was oben abstrakter als Einheit der Form und des Inhalts bezeichnet worden ist, denn die Form in ihrer konkretesten Bedeutung ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der sittlichen, wie der natürlichen Wirklichkeit; die bewußte Identität von beidem ist die philosophische Idee.« 150 Die Idee zeichnet sich durch zwei wesentliche Momente aus: den Begriff und die Realisierung dieses Begriffs, das Universale und das Einzelne. »Die Idee vereint das Subjektive und das Objektive in sich selbst. Das Formieren ist insofern die der Idee angemessenste Besitznahme, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt, übri-
148 149 150
Ebd., S. 368. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 72. Ebd., S. 62.
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gens nach der qualitativen Natur der Gegenstände und nach der Verschiedenheit der subjektiven Zwecke unendlich verschieden.« 151 Der Hegel’sche Begriff »Idee« unterscheidet sich grundlegend von dem Begriff »Idee« bei Platon, ebenso von den gleichnamigen Begriffen im Rationalismus Descartes’ und in der Transzendentalphilosophie Kants. Bei Platon ist die »Idee« (eîdos) das Modell der Realität und die Wahrheit der Erkenntnis und hat also eine Bedeutung, die man als metaphysisch bezeichnen kann. Bei Descartes hat die Idee eine ganz andere Bedeutung. Er spricht von klaren und bestimmten Ideen, und versteht darunter die wahren Erkenntnisse; die Bedeutung ist so nicht mehr metaphysisch und ontologisch, sondern eindeutig gnoseologisch. Für Kant sind die transzendentalen Ideen (die drei Ideen der Seele, der Welt und Gottes) keine Erkenntnisse, sondern Begriffe, denen kein Objekt entsprechen kann. Die transzendentalen Ideen 152 sind nicht Teil der erkennenden, sondern der begrifflichen Sphäre; sie haben jedoch eine Tendenz ins Metaphysische, die uns, wie auch Kant selbst, zum Gedanken Platons zurückführt. Bei Hegel bekommt das Wort »Idee« eine qualitative und tiefgehende Bedeutung. Nach der synthetischen Definition in der Enzyklopädie ist die Idee die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität. 153 Sie ist der Begriff, der sich in der Welt der Organismen, der Lebenden und des Lebens realisiert. In der Wissenschaft der Logik, in dem mit »Objektivität« betitelten Teil, beschreibt Hegel den Prozess, durch den sich der Begriff realisiert, und postuliert so eine äußere Realität. Mit Hilfe von Kant erreicht Hegel eine Stufe, 154 auf der die mechanische Struktur der physischen Welt nicht an sich ist, aber aufgrund der Leistung des Intellekts existiert, wie Kant sagen würde, oder aufgrund der Leistung des Vernunftbegriffs, wie Hegel darlegt. So beginnt das Begreifen sich zu realisieren, auch wenn es noch in einem unvollendeten Stadium ist, weil die doppelte Struktur des Urteils bestehen bleibt. Auch die Theologie beinhaltet für Hegel, im Gegensatz zu Kant, eine entscheidende Tugend, die nicht einem Urteil zugehörig ist, das von außen über die Einzelheiten reflektiert, sondern eine formale StrukEbd., S. 152. Vgl. S. Raedler, Kant and the Interests of Reason, Berlin: de Gruyter 2015. 153 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 367. 154 Vgl. M. Wladika, Kant in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt am Main: Peter Lang 1995. 151 152
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Dialektik und Synthesis
tur aufweist, die weniger dem Urteil als dem Syllogismus eigen ist. Der Begriff realisiert sich selbst also besser, weil er teleologisch die Objektivität prägt und formt, wie es in der Sphäre des Lebens geschieht. Für Hegel ist das Moment der inneren Zielsetzung das Moment, in dem die Realisierung des Begriffs und sein Einfluss auf die Objektivität die Vollendung erreichen. So gelangt man zur Ideenwelt. Hegel erklärt, dass die Idee weder eine metaphysische Wesenheit ist (wie bei Platon) noch eine Erkenntnis (wie bei Descartes) noch ein Begriff, der über die mögliche Erkenntnis hinausgeht, sondern dass sie die Einheit von Begriff und Objektivität darstellt; in der Logik Hegels bedeutet das Wort Idee genau dies. Die Idee drückt also die Einheit von Begriff und Objektivität aus. Aber was ist die absolute Idee, die der Endpunkt der Hegel’schen Logik ist? Die Idee, der dritte Teil der Doktrin des Begriffs, hat eine eigene Entwicklung. Hegel beschreibt das Leben als Idee, die sich in der Form von Unmittelbarkeit zeigt. Es führt zur Einheit von Begriff und Objektivität, die Idee genannt wird. Die Unmittelbarkeit bringt ihrerseits eine dialektische Entwicklung mit sich, so dass auf das Leben die Ideen des Wahren und des Guten folgen, also das theoretische und das praktische Leben. Am Ende steht die absolute Idee. Hegel sagt, dass der Begriff sich selbst realisiert hat (und dies geschieht erst, nachdem man die Sphären des Lebens, der Praxis und der Theorie durchquert hat). Die absolute Idee ist die Vollendung ihrer eigenen Logik.
15. Dialektik und Synthesis. Das Werden der Wirklichkeit und die Bedeutung der »Aufhebung« und des »Aufhebens« Die Dialektik ist nicht nur ein logisches Gesetz, das dazu dient, die Wirklichkeit oder das ontologische Gesetz der Entwicklung der Realität zu verstehen, sondern auch das Gesetz, das das Werden bestimmt und untrennbar mit ihm verbunden ist. Aber warum ist das Werden als dynamischer Prozess untrennbar mit der dialektischen Logik verbunden? Welches ist das Prinzip, das das Werden in der Realität charakterisiert? Welches ist das Fundament, das die Wahrhaftigkeit der dialektischen Logik Hegels garantiert? Das Absolute ist nach Hegel vor allem das Werden. Das Gesetz, das das Werden bestimmt, ist also das Gesetz des Absoluten, die Dialektik. Die Dialektik ist das Gesetz der Vernünftigkeit, das universelle 193 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Prinzip, das die Beziehungen der gegensätzlichen Begriffe des Gedankens bestimmt. Die Dialektik ist aber auch das Gesetz der Realität, d. h. der Schlüssel des Universums, da die Realität (die Natur und die menschliche Welt der Geschichte) eine Manifestation der Vernünftigkeit ist. Die Dialektik ist insofern Eigentum der Gedanken und Dinge. Auch die Welt mit all ihren Komponenten, der Natur und der Geschichte, zeigt die Spuren dieses Gesetzes. Das Konzept »Dialektik« hat in der Zeitspanne vom Kritizismus zum Idealismus unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Für Kant ist die Dialektik eine Aktivität der Vernunft, 155 die sich in unlösbare Widersprüche verstrickt, wenn sie den Bereich der Erfahrung verlässt. Fichte zufolge ist die Dialektik die Synthese der Gegensätze durch ihre gegenseitige Bestimmung. Die dialektische Entwicklung des Ichs besteht aus drei Momenten: einem positiven (These), einem gegensätzlichen, negativen (Antithese) und einem die Gegensätze durch Begrenzung versöhnenden (Synthese). Hegel nimmt diese Dreiteilung Fichtes wieder auf, führt aber eine tiefgreifende semantische Veränderung durch. Das erste Moment (These) ist als abstrakter Verstand definiert; das zweite Moment (Antithese) ist die negative oder dialektische Vernunft; das dritte Moment (Synthese) ist die positive oder spekulative Vernunft. Das erste Moment des »abstrakten Verstandes« besteht in der Betrachtung der gegensätzlichen Begriffe des Gedankens als einzelne und voneinander getrennte Elemente. Diese Art und Weise, die gegensätzlichen Begriffe als für sich stehend und ohne gegenseitige Beeinflussung zu verstehen (das Gute wird vom Bösen unterschieden, das Leben vom Tod), ist das Werk des Verstandes, der sich von dem Prinzip der Identität und der Nicht-Widersprüchlichkeit leiten lässt, nach dem jedes Ding nur sich selbst gleicht und sich von anderen Dingen grundlegend unterscheidet. Für den Verstand ist z. B. das Gute das Gute, das nur sich selbst braucht, um zu existieren; das Leben ist Leben und nichts anderes. Man muss daran erinnern, dass Hegel den Verstand als Möglichkeit des Teilens, der Klassifikation der Teile und der Trennung der Begriffe sieht. Die Vernunft hingegen ist das Vermögen, das die Begriffe in Bewegung setzt und ihre Einheit in der Ganzheit erfasst. Der Verstand ist der abstrakte Gedanke, die Vernunft ist der konkrete Gedanke.
155 Vgl. K. Düsing, Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2013.
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Dialektik und Synthesis
Im zweiten, negativ-dialektischen und vernünftigen Moment greift die Vernunft ein, indem sie Grenzen des Verstandes aufdeckt. Sie zeigt, dass jeder Begriff, um verstanden zu werden, nicht von allen anderen Begriffen getrennt werden darf, sondern im Gegenteil mit seinem Gegenbegriff, seiner Negation, in Beziehung gesetzt werden muss: das Gute muss, um verstanden zu werden, in Beziehung zum Bösen gesetzt werden, das Leben zum Tod. Und in der Tat ist das Gute nur im Verhältnis zum Bösen gut. Wenn man das Böse nicht kennt, kann man auch das Gute nicht kennen. Um zu erklären, was ein Ding ist, muss man zuerst erklären, was es nicht ist. Hegel meint, wenn man einen Begriff vollständig von seinem Gegensatz isoliere, verliere er an Bedeutung und verschwimme sogar mit ihm und werde schließlich zu seinem Gegensatz. Wenn man zum Beispiel das Leben vom Tod trennt, das Leben ohne den Tod denkt, kann man es auch nicht mehr als Negation des Todes verstehen. Man gehört somit selbst auf die Seite des Todes (da man, um den Tod zu negieren, das Leben in Beziehung zum Tod denken muss). Im dritten, positiv-vernünftigen oder spekulativen Moment wird sich die Vernunft dessen bewusst, dass jedes Paar von entgegengesetzten Ideen in einer anderen höheren Idee, die deren Synthese oder besser deren Wechselbeziehung ist, enthalten ist: Die Idee, zu verkaufen, ist der Gegensatz der Idee, zu kaufen, aber die eine Idee kann ohne die jeweils andere nicht bestehen. Beide sind in der Idee des Handels (Synthese) enthalten, die ihre Wechselbeziehung herstellt. Das dritte Moment wird auch das Moment der Negation der Negation genannt, weil die gegensätzlichen Teile in ihm durch ihre eigene Negation (durch ihre Trennung) negiert werden und mit ihrer Einheit einen höheren Begriff bilden. Schließlich wird das dritte Moment auch als das Moment der Überwindung oder der Aufhebung bezeichnet. Semantisch betrachtet hat der Begriff Aufhebung zwei Bedeutungen: a) entfernen, beseitigen, ungültig machen; b) bewahren. Im dritten Moment des dialektischen Dreischritts werden die Gegensätze in ihrer Isolierung jeweils aufgehoben und in ihrer Einheit bewahrt. Der Begriff »Aufhebung« unterstreicht den dynamischen Prozess einer simultanen und dynamischen Überwindung, die ein Entfernen ist, weil etwas negiert wird, und gleichzeitig auch ein Bewahren von etwas ist. Die Synthese bewahrt das, was in der Antithese überwunden wurde.
195 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
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16. Zum Begriff der Spekulation. Das Aufheben und die Dynamik des spekulativen Satzes Hegel benutzt die technischen Begriffe »Aufheben« und »Aufhebung«, um das spekulative Moment zu verdeutlichen. Aufheben bedeutet einerseits wegnehmen, verneinen und andererseits bewahren. Diese Ambivalenz der semantischen, linguistischen Verwendung des Begriffs, in der dasselbe Wort einen negativen und einen positiven Sinn hat, ist weder zufällig noch darf man ein Motiv der Anschuldigung gegen die Sprache darin vermuten, als sei Letztere eine Quelle von Verwirrung; im Gegenteil sollte man in dieser Ambivalenz den spekulativen Geist unserer Sprache erkennen, der über die einfache Alternative des Verstandes hinausgeht. Die griechische Philosophie hat die Bedeutung des Verstandes und im weitesten Sinne auch das zweite Moment, also das rationalnegative oder dialektische, ins Auge gefasst. Dies gilt z. B. für Zenon, der das spekulative Moment allerdings ignoriert hat. Auch die Idealisten vor Hegel haben dieses dritte Moment nicht aufgedeckt. Es handelt sich daher um eine eigentümliche Hegel’sche Entdeckung. Die Spekulation ist die Wiedererlangung des Positiven, das sich mittels der Negation der Negation der dialektischen Antithesen realisiert; sie ist also eine Aufhebung des Positiven der Thesen auf einem höheren Niveau. So ist z. B. der reine Zustand der Unschuld das Moment (These), in dem der Verstand erstarrt und dem er als Antithese die Erkenntnis und das Bewusstsein des Bösen entgegensetzt. Letzteres ist die Negation der Unschuld (ihre Antithese). Die Tugend ist genau die Negation des Negativen der Antithese (des Bösen) und das Wiederfinden des Positiven der Unschuld auf einem höheren Niveau, das nur durch die Negation der Starrheit, die ihr eigen war, möglich ist; also nur durch die Antithese, die positiv wird, indem sie diese Starrheit auflöst. Das spekulative Moment ist also ein Überwinden im Sinne von Entfernen und zugleich Bewahren. Nach Hegel ist diese Bewegung die dialektische Bewegung des Satzes an sich. Erst die Aussage dieser Bewegung ist die spekulative Darstellung. Ein Beispiel: Man sagt im Hegel’schen (spekulativen) Sinne ›das Wirkliche ist vernünftig‹ und meint damit nicht (wie in der früheren Logik), dass das Wirkliche das stabile und gefestigte Subjekt (die Substanz) und das Rationale das Prädikat (oder das Akzidens jener Substanz) sei, sondern im Gegenteil, dass das Universale den Sinn des Wirklichen ausdrückt. Der spe196 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Zum Begriff der Spekulation
kulative Satz bedeutet also, dass das Wirkliche sich im Rationalen ausdrückt und das Prädikat zu einem ebenso wichtigen Element des Satzes wie das Subjekt wird. Im spekulativen Satz können Subjekt und Prädikat die Stellung tauschen und bringen so eine dynamische Identität hervor. Hegel formuliert den Satz so: »Was wirklich ist, ist vernünftig und was vernünftig ist, ist wirklich«, und zeigt damit, wie das Subjekt zum Prädikat wird und umgekehrt. Kurz gesagt, der Satz der alten Logik verbleibt innerhalb der Grenzen der Endlichkeit des Verstandes. Der spekulative Satz ist der Vernunft eigen, die diese Grenze überwindet. Er ist ein Satz, der die dialektische Bewegung ausdrücken muss. Deswegen hat er eine dynamische Struktur, und die Wirklichkeit, die er ausdrückt, ist dynamisch, wie auch der Gedanke es ist, der sie formuliert. Laut Hegel heißt dialektisch denken, die Wirklichkeit als eine Ganzheit von Prozessen zu denken, die nach dem Schema These – Antithese – Synthese verlaufen. Es bedeutet auch die Bejahung eines Begriffs, seine Verneinung und schließlich die Vereinigung von Bejahung und Verneinung in einer höheren Synthese. Die Dialektik gründet auf drei Momenten: a) der Form eines abstrakten und limitierten Begriffs; b) der Negation dieses endlichen Begriffs, die im Übergang zur Antithese desselben Begriffs besteht; c) der Synthese als Überwindung der zwei vorhergehenden Bestimmungen. Jede erreichte Synthese stellt einen neuen Anfangspunkt dar: eine These, der sich eine neue Antithese entgegenstellt, woraus eine weitere Synthese hervorgeht usw. Hegel bezeichnet als These den Ausgangsbegriff (z. B. das Verkaufen), als Antithese dessen Gegensatz (z. B. das Kaufen), und Synthese nennt er das höhere Konzept, das sie verbindet (z. B. den Handel). These und Antithese sind abstrakte Momente. Nur die Synthese ist konkret. These und Antithese, unabhängig voneinander betrachtet, sind nicht wirklich; wirklich ist nur die Synthese. In der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel, das Wirkliche sei das Ganze. Die Wahrheit ergibt sich nur, wenn die einzelnen Begriffe nicht mehr in ihrer abstrakten Trennung, sondern als Momente und Artikulationen der Totalität (also der Synthese) gesehen werden, deren sie teilhaftig sind. Die Synthese jedoch wird ihrerseits zur These einer folgenden Dreiheit usw. Auf diese Art und Weise geht der Geist von einzelnen Synthesen zu immer weiteren Synthesen über. Der Markt ist z. B. nur eine der Komponenten einer erwei197 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
terten Synthese, nämlich der Gesellschaft, die ihrerseits Teil einer noch weiter gefassten Synthese ist, nämlich des Staates. Der dialektische Prozess ist für Hegel aber nicht die offene Synthese, sondern die geschlossene Synthese. Wenn der Prozess offen wäre, also niemals enden würde, würde das Absolute sich niemals offenbaren können. Daraus folgt, dass Hegel für »eine Dialektik mit einer geschlossenen Synthese« 156 plädiert, die ein bestimmtes Ziel hat (den absoluten Geist, wie man sehen wird). Nur die letzte Synthese ist wahrhaftig. Die definitive Wahrheit versteht man nur am Ende des dialektischen Prozesses, wenn alle seine Artikulationen durchlaufen worden sind. Die dialektische Logik Hegels unterscheidet sich grundlegend von der aristotelischen Logik. Diese zeichnete sich durch die Prinzipien der Identität und des Nicht-Widerspruchs aus, nach denen die Gegensätze niemals zusammen bestehen können. Hegel hingegen sieht das Wirkliche als Einheit (Synthese) von Gegensätzen. Die aristotelische Logik ist also unbrauchbar geworden; oder besser gesagt, sie ist die Logik des Verstandes, nicht der Vernunft. Nachdem die Dialektik auf die Welt der Konzepte, der Natur und der Geschichte übertragen worden ist, vollzieht sie sich in der Zeit. Die unterschiedlichen Momente (These, Antithese, Synthese) folgen chronologisch aufeinander. Hegel ist der Auffassung, dass die Synthese auch in der Natur und in der Geschichte das konkrete Moment ist, während These und Antithese abstrakt bleiben. Die Synthese ist das einzige konkrete Moment, weil sie das Ende der dialektischen Entwicklung der beiden vorhergehenden Momente bedeutet, die nur Zwischenschritte darstellen und nur existieren, um diese Funktion für die Synthese zu erfüllen. Zum Beispiel: In der Entwicklung einer Pflanze vom Samen (These) zur Blüte (Antithese) und schließlich zur Frucht (Synthese), ist es die Frucht, die die Entwicklung des Organismus bestimmt und das Ende der Entwicklung des Samens und der Blüte darstellt. Auch in der natürlichen und historischen Wirklichkeit vollzieht sich die Entwicklung durch Negationen: Der Samen muss, um Blüte zu werden, sterben, sich verneinen, und auch die Blüte muss sterben, um Frucht (Synthese) zu werden. Dementsprechend wird ein Kind nur jugendlich, wenn es sein Kindsein ablegt, und der Jugendliche wird nur erwachsen, wenn er sich selbst verneint.
156 Vgl. T. W. Adorno, »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
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Die dialektische Negation als Überwindung der Grenze
Hegels dialektische Konzeption der Welt ist sehr optimistisch. Auch das Moment der Opposition (der Antithese) trägt zum Guten bei. Das Leben und die Geschichte der Menschen sind zweifellos durch Dramen, Brüchen, Kontraste und Widersprüche charakterisiert. Aber diese Brüche sind notwendig, denn sonst wären das Leben und die Geschichte weniger bedeutend. Wenn der Samen nicht, gerade weil er Samen ist, sterben würde, würde er nicht zur Blüte werden und es gäbe keinerlei Entwicklung. Auf der Basis der von Hegel behaupteten Entsprechung von Rationalem und Wirklichem ist die Dialektik 157 nicht nur das Gesetz des Gedankens, sondern auch das Gesetz der Wirklichkeit. Die gesamte Wirklichkeit bewegt sich dialektisch. Die Dialektik drückt so den Prozess aus, der zum Ziel Hegels führt: der Wiedervereinigung des Vielfältigen in einer dynamischen und systematischen Ganzheit. Hegel zufolge ist die Dialektik die Natur des Gedankens. Die Dialektik ist die innere Auflösung der endlichen und begrenzten Bestimmungen des Verstandes. Die Dialektik ist die »Seele« 158 der Wirklichkeit und der Vernunft.
17. Die dialektische Negation als Überwindung der Grenze in Hegels Wissenschaft der Logik Die Hegel’sche Logik steht im Gegensatz zur traditionellen Logik, die auf dem Satz der Identität und der Widerspruchslosigkeit basiert, so dass die Gegensätze in ihrer Unmittelbarkeit und Isolierung eingeschlossen bleiben, ohne jemals eine Vermittlung zu erfahren bzw. ohne jemals die Einheit der Gegensätze in ihrer Synthese zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist der berühmte Beginn der Wissenschaft der Logik von großer Bedeutung, in dem das Sein, das Nichts und das Werden 159 und ihre dialektischen Beziehungen dargelegt werden. Es handelt sich nicht nur darum, zu erkennen, dass unser Verständnis von einem Sein, das nur für sich steht, völlig leer ist, nichts bedeutet (das, was wir kennen, ist immer eine begrenzte Wirklichkeit und kein
157 Vgl. G. Olañeta, Dialektik als subjektive und objektive Reflexion. Eine Diagnose des Bewusstseinsproblems bei Hegel, Marburg 2002. 158 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 370. 159 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 25.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
leeres und unbestimmtes Sein); nein, es handelt sich darum, zu verstehen, dass das Sein in seiner Unmittelbarkeit, Reinheit und Einfachheit leer ist und nur in Beziehung zu seinem Gegenteil Bestand hat, seiner Negation, dem Nicht-Sein, dem Nichts. Das Nicht-Sein hat nur in Verbindung mit dem Sein einen Sinn. Beide können nur in ihrem dialektischen Verhältnis verstanden werden. Im Werden wird die Gegensätzlichkeit von Sein und Nicht-Sein nicht durch gegenseitige Ausschließung linguistisch ausgelöscht, sondern sie wird durch eine Integration oder die Synthese einer reicheren und leichter zu verstehenden Einheit überwunden. Die Dialektik ist bei Hegel eng mit dem Begriff der Entwicklung verbunden. Es handelt sich jedoch nicht um eine unbegrenzte, unendliche Entwicklung, sondern um eine Entwicklung, die durch die Überwindung und Aufhebung der Abstraktheit, die jeder Opposition eigen ist, zum Konkreten tendiert. Der Begriff »abstrakt« ist kein logischer oder gnoseologischer 160 Begriff, weil er auf die Tatsache verweist, dass sich die Wirklichkeit in einem Prozess realisiert, in dem gegensätzliche Begriffe sich gegenseitig verneinen und sich in eine neue und reichere Einheit integrieren. Es geht darum, die fruchtbare und ununterdrückbare Funktion der Dialektik als Gesetz der Entwicklung der Wirklichkeit zu verstehen und nicht als Negation, die vom und im Gedanken ausgelöscht werden kann. Laut Hegel ist die einzige Möglichkeit, die Totalität der Wirklichkeit zu verstehen, die Erkenntnis dieses logischen Satzes: Das Negative ist zugleich positiv. Die dialektische Negation führt zu einem neuen Begriff, der etwas Höheres als die These und Antithese enthält. Die dialektische Negation ist niemals absolut, sondern immer die »Negation einer Schranke«, 161 die deren Aufhebung provoziert, indem sie die positiven Aspekte beibehält und gleichzeitig abschwächt (die Benutzung des Begriffs Aufhebung, 162 um Negation und Bewahrung auszudrücken, ist typisch für Hegel). Die dialektische Negation ist immer eine bestimmte Negation und steht dem höchsten Satz einer neuen und vollkommeneren Wirklichkeit zur Verfügung; vollkommener nicht im quantitativen Sinne einer bloßen Stufe, sondern im Gegenteil im Sinne des Übergangs zu einer neuen und anderen Vgl. H. G. Gadamer, La dialettica di Hegel, Torino: Marietti 1990. Vgl. D. Brauer, »Die dialektische Natur der Vernunft. Über Hegels Auffassung von Negation und Widerspruch«, in: Hegel-Studien 30 (1995), S. 89–104. 162 Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 43. 160 161
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Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
Art von Sein 163: wie im Fall der Idee, die sich in der Natur als etwas anderes manifestiert, um dann im Geiste zu sich zurückzukehren – wenn man sich an den breiten Rahmen der Hegel’schen Dialektik hält –, genauso aber auch in jedem der Momente der Entwicklung der Idee in der Logik (der Wissenschaft der reinen Idee), von der Philosophie der Natur angefangen bis zur Philosophie des Geistes.
18. Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen: Der absolute Idealismus in Hegels Phänomenologie des Geistes Die Originalität der Hegel’schen Philosophie liegt in der Konzeption der Dialektik, die nicht als ein Vorgang des Gedankens verstanden wird, der außerhalb der Wirklichkeit und des Objekts ist, sondern als ein inneres Prinzip, das genauso notwendig ist wie der Gedanke und die Wirklichkeit. Die Behandlung eines jeden Problems kann nur dialektisch sein, wenn sie philosophisch sein soll und die Wahrheit erfassen möchte. Bei Kant wurde die Metaphysik als spezifische philosophische Disziplin auf drei Themen zurückgeführt: Gott, Seele und Welt, die seit Jahrhunderten die klassischen Probleme des philosophischen Denkens waren; so wurde auch die theoretische Philosophie von der praktischen Philosophie, die Moral von der Erkenntnis eindeutig unterschieden. Mit Hegel hingegen kann man nicht mehr a priori und in abstrakter Art und Weise entscheiden, was philosophische Bedeutung hat und was nicht, weil es niemals möglich ist, in einem einzigen Begriff, in einem einzigen Inhalt die Wahrheit 164 zu finden. Jede Form von Wirklichkeit und Leben ist die Manifestation eines dialektischen Vorgangs, in dem »alles was vernünftig ist, wirklich ist, und alles, was wirklich ist, vernünftig ist«. Indem Hegel das Wirkliche und Vernünftige identifiziert, will er nicht die vollendete Tatsache verherrlichen und das Rationale in den Schatten der Wirklichkeit stellen, sondern möchte genau das Gegenteil erreichen: die Aufstellung eines Kriteriums, das in der Vielfältigkeit der Phänomene, die in der Geschichte und in der Natur aufeinander folgen, wie ein roter Faden wirkt, der es ermöglicht, sich zu orientieren und zu ver-
163 164
Vgl. F. Chiereghin, Rileggere la Scienza della logica di Hegel, Roma: Carocci 2012. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 45.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
stehen, was wirklich von Bedeutung und wirksam ist bzw. was im Gegenteil nur nebensächlich und unbedeutend ist. Hegel zufolge kann die Vernunft nur eine philosophische Spekulation ausarbeiten, wenn sie sich selbst zum Absoluten erhebt. Um das Absolute im Bewusstsein aufzubauen, muss man die Begrenzungen des Bewusstseins verneinen und überwinden und so das empirische Ich zum traszendentalen Ich, zur Vernunft und zum Geist führen. 165 Die Phänomenologie des Geistes ist von Hegel mit dem Ziel verfasst worden, das empirische, menschliche Bewusstsein zum Geist und zum »absoluten Wissen« 166 zu leiten. Was ist das absolute Wissen? »Das absolute Wissen ist die Wahrheit aller Weisen des Bewußtseins, weil, wie jener Gang desselben es hervorbrachte, nur in dem absoluten Wissen die Trennung des Gegenstandes von der Gewißheit seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat und die Wahrheit dieser Gewißheit sowie diese Gewißheit der Wahrheit gleich geworden ist. Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatz des Bewußtseins voraus. Sie enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist.« 167 Von diesem Standpunkt aus kann die Phänomenologie »als der Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist«. 168 In der Phänomenologie ist der Mensch nicht weniger mit einbezogen als das Absolute. In der Hegel’schen Philosophie kann das Endliche vom Unendlichen, das Einzelne vom Universalen nicht getrennt werden, denn das Unendliche offenbart sich im Endlichen und das Absolute ist das Prinzip aller Wirklichkeit. 169 Die Phänomenologie des Geistes ist der Weg, der das begrenzte Bewusstsein zum unendlichen Absoluten führt. 170 Dieser Weg Ebd., S. 28. Vgl. W. Jaeschke, »Das absolute Wissen«, in: Hegels Phänomenologie des Geistes heute, hrsg. von Andreas Arndt und Ernst Müller, Berlin 2004, S. 194–214. 167 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 43. 168 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 152. 169 Ebd., S. 32. 170 Vgl. R. P. Horstmann, »Hegels Ordnung der Dinge. Die Phänomenologie des 165 166
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Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
stimmt mit dem Weg überein, den das Absolute gegangen ist und noch geht, um zu sich selbst zu gelangen (und vom Anderssein in sich zu gehen). Die Phänomenologie ist ein notwendiger Schritt und ihre Methodologie kann nur streng wissenschaftlich oder dialektisch sein. In der Phänomenologie des Geistes gibt es zwei Bereiche, die sich überschneiden – oder zwei Gedankenlinien, die parallel geführt werden: a) den Bereich, der sich aus jenem Weg ergibt, den der Geist in der Geschichte der Welt durchlaufen hat, um zu sich selbst zu gelangen; dieser Weg ist für Hegel der Weg, durch den der Geist sich realisiert und sich selbst erkannt hat; b) den Bereich eines jeden einzelnen, empirischen Individuums, das denselben Weg gehen muss, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Geschichte des Bewusstseins des Individuums kann nichts anderes sein als das Durchlaufen der Geschichte des Geistes. Die phänomenologische Einführung der Philosophie ist genau das Durchlaufen dieses Weges. Der Einzelne muss die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des universalen Geistes durchlaufen. 171 Diese Stufen sind die der Geschichte der Zivilisation, die das individuelle Bewusstsein wiedererkennt und wiederfinden muss. Es handelt sich sozusagen um eine Projektion. Der Geist, der sich entwickelt und schließlich erscheint, ist das Bewusstsein im weitesten Sinne des Begriffs, der bedeutet, sich des Anderen (sei es eines inneren oder äußeren Anderen) bewusst zu sein. Das Bewusstsein beinhaltet immer eine bestimmte Beziehung zwischen einem Ich und einem Objekt, eine Beziehung »Subjekt – Objekt«. Der Gegensatz »Subjekt – Objekt« ist also ein Unterscheidungsmerkmal des Bewusstseins. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht in der schrittweisen Vermittlung dieser Gegensätzlichkeiten, um sie zu überwinden. In der Tat ist das Ziel, das Hegel verfolgt, die Überwindung der Trennung von Bewusstsein und Objekt und der Beweis, dass das Objekt nichts anderes als das Selbst des Bewusstseins ist, also das Selbstbewusstsein, jenes Selbstbewusstsein, das seit Kant im Mittelpunkt der Philosophie steht und das Hegel wissenschaftlich in einen dialektischen Prozess einbetten möchte. Zusammengefasst beinhaltet der phänomenologische Weg folgende Schritte: a) Bewusstsein; b) Selbstbewusstsein; c) Vernunft; d) Geist; e) Religion; f) absolutes Wissen. Hegel stellt die These auf, Geistes als transzendentalistisches Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen«, in: Hegel-Studien 41 (2006), S. 9–50. 171 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 32.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
dass jedes Bewusstsein Selbstbewusstsein ist (das Selbstbewusstsein als Wahrheit des Bewusstseins). Das Selbstbewusstsein seinerseits entdeckt sich als Vernunft (die Vernunft ist die Wahrheit des Selbstbewusstseins). Die Vernunft realisiert sich schließlich als Geist, der mittels der Religion seinen Höhepunkt im absoluten Wissen erreicht. Jede dieser Etappen zeichnet sich durch unterschiedliche Momente oder Figuren aus. Hegel legt jedes einzelne Moment bzw. jede einzelne Figur so dar, dass evident wird, wie begrenzt seine Bestimmtheit ist. Er zwingt seinen Leser dazu, das jeweilige Gegenteil zur Kenntnis zu nehmen, analysiert jede Stufe des Bewusstseins und verweist auf deren Endlichkeit, die durch die dialektische Logik überwunden wird. Hegel unterstreicht, dass die Triebfeder dieser dialektischen Phänomenologie in der Ungleichheit oder dem Unterschied zwischen dem Bewusstsein oder dem Ich und seinem Objekt und in der schrittweisen Überwindung dieser Ungleichheit liegt. Der erste Schritt ist im Bewusstsein begründet, das im gnoseologischen, also im engsten Sinne verstanden wird und die Art von Bewusstsein ist, die die Welt als andersartig und unabhängig von sich selbst anschaut und erkennt. Dieser Schritt ist in die drei aufeinanderfolgenden Momente: a) der sinnlichen Gewissheit; b) der Wahrnehmung; c) des Verstandes untergliedert. Der zweite Schritt des phänomenologischen Weges ist durch das Selbstbewusstsein gegeben, das sich durch die einzelnen Momente selbst erkennen lernt. Das Selbstbewusstsein ist von Trieb und Wunsch charakterisiert und zeigt sich als die Neigung, die Dinge zu vereinnahmen und alles von sich abhängig zu machen. 172 Von Anfang an schließt das Selbstbewusstsein jede Andersartigkeit aus, da es das Andere als unwesentlich und negativ ansieht. Jedoch ist es schließlich gezwungen, diese Haltung zu ändern, weil es sich mit anderen Selbstbewusstseinen konfrontiert und es unvermeidlich ist, dass es zu einem »Kampf auf Leben und Tod« kommt, durch den es sich verwirklichen kann. Die Vernunft wird in dem Moment geboren, in dem das Bewusstsein zu der Gewissheit gelangt, die Ganzheit der Wirklichkeit zu sein. 173 Dies ist die Haltung, die dem Idealismus eigen
Ebd., S. 64. Vgl. Schönecker, »Kein Sein, keine Unmittelbarkeit. Hegel über die Vernunft der sinnlichen Gewißheit«, in: Konzepte der Rationalität, hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg, Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 1, Berlin/New York 2003, S. 241–269. 172 173
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Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
ist. Die phänomenologischen Stufen der Vernunft 174 sind die Stufen des Geistes, der sich als Vernunft offenbart. Die höchste Stufe besteht darin, dass nun sowohl das Bewusstsein als auch die Vernunft gewiss sind, die Einheit des Gedankens zu sein. Der nächste Schritt ist, eben dies nachzuweisen. Darauf folgen drei weitere Stufen: a) die Vernunft, die die Natur betrachtet; b) die handelnde Vernunft; c) die Vernunft, die sich bewusst wird, Geist zu sein. 175 Der vierte Schritt ist der des Geistes. Die Vernunft verwirklicht sich in einem freien Volk und dessen Institutionen und ist das Bewusstsein, dass sich wieder mit der eigenen ethischen Natur verbindet. Dies ist der Geist. Der Geist ist das Individuum, das eine Welt begründet, die sich im Leben eines freien Volkes realisiert. Der Geist ist also die Einheit des Selbstbewusstseins in der totalen Freiheit und Unabhängigkeit. Es ist nur einleuchtend, dass die Figuren auf dem weiteren phänomenologischen Weg zu Figuren der Welt werden, zu Stufen der Geschichte, die uns den Geist zeigen, der sich durch diese Entfremdung verwirklicht, wiederfindet und zuletzt selbst erkennt. Die phänomenologischen Stufen des Geistes sind: a) der Geist an sich als Sittlichkeit, die von der griechischen und römischen Welt herrührt; b) der Geist, der sich selbst fremd wird, was für die Widersprüche der Neuzeit charakteristisch ist; c) der Geist, der sich seiner selbst gewiss wird. Die Phänomenologie zeigt noch eine weitere Stufe, bevor sie das absolute Wissen erreicht. In der Religion und ihren unterschiedlichen Manifestationen wird sich der Geist seiner selbst bewusst, jedoch nur aus der Sicht des Bewusstseins, das um seine absolute Essenz weiß. Die Religion ist das Selbstbewusstsein des Absoluten. Aber dieses Selbstbewusstsein ist noch begrenzt, ist noch nicht in der vernünftigen Form des Begriffs gegeben. Nachdem sich die Idee in der Geschichte als Freiheit verwirklicht hat, schließt sie ihre Rückkehr zu sich selbst im absoluten Sich-selbst-Erkennen ab. Der absolute Geist ist folglich die Idee, die sich auf absolute Art und Weise selbst erkennt: Dieses Selbstbewusstsein ist das Selbstbewusstsein von Gott, bei dem der Mensch eine große Rolle spielt. Diese Selbstkenntnis des Geistes ist keine mystische Anschauung, sondern ein dialektischer Prozess, der dreiteilig ist. Er realisiert sich in der Kunst, in der Reli174 Vgl. J. Hyppolite, Genesi e struttura della Fenomenologia dello spirito, Firenze: La Nuova Italia 2002. 175 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 70.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
gion und in der Philosophie. Dies sind die drei Formen, durch die wir Gott kennen und er sich selbst. Sie verwirklichen sich jeweils durch die sinnliche Intuition (Ästhetik), die Darstellung des Glaubens und den reinen Begriff. Dies sind die drei Formen, durch die wir Gott erkennen und Gott sich selbst erkennt. Sie werden durch die empirische Anschauung (Ästhetik), die Glaubensvorstellung und den reinen Begriff realisiert. Die Identität des Vernünftigen mit dem Wirklichen im absoluten Idealismus Hegels zu verstehen, bedeutet nicht nur ein Problem der Philosophie zu lösen, sondern auch die besondere Bedeutung der Geschichte aufzudecken. Diese These Hegels darf nicht nur im methodologischen Sinne interpretiert werden, als wäre sie das Resultat der Anwendung einer bestimmten Methode (der dialektisch-spekulativen), sondern sie ist das Resultat der Identität von Vernunft und Wirklichkeit. Wie die Phänomenologie des Geistes zeigt, ist die Eroberung des spekulativen oder absoluten Wissens das notwendige Ergebnis der gesamten geschichtlichen Entwicklung 176 des menschlichen Bewusstseins und seiner Erkenntnismöglichkeiten, von den einfachsten Formen des natürlichen, allgemeinen Bewusstseins bis hin zu den höheren Formen. Die Philosophie ist keine individuelle, sondern eine absolute Erkenntnis, die sich selbst und ihre Geschichte gefunden und verstanden hat. Das Problem der Wahrheit liegt also außerhalb einer jeden Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Methode und Inhalt, Vernunft und Wirklichkeit. Das Problem der Wahrheit wird zur inneren Suche nach der Totalität der Erkenntnis: Die Wahrheit ist das Ganze. Aber das Ganze ist niemals die Gesamtheit der Momente, sondern die organisch-dialektische und dynamische Totalität.
19. Subjektiver Geist und objektiver Geist Was ist der subjektive Geist? Welche Bedeutung hat die semantische Unterscheidung zwischen subjektivem Geist, objektivem Geist und absolutem Geist im philosophischen System Hegels? Die erste Stufe des Geistes, der subjektive Geist, betrifft die individuelle Dimension der menschlichen Existenz. Die dialektische Überwindung der Natur manifestiert sich zuerst in der Seele, die ein 176
Ebd., S. 43.
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Subjektiver Geist und objektiver Geist
Objekt der Anthropologie ist. Die einfachsten Formen des psychischen Lebens kommen nacheinander aus den dunklen Tiefen des Körpers hervor, so dass das Bewusstsein erwacht. Nachdem die Verbindung zum Bewusstsein wiederhergestellt ist, erlangt der subjektive Geist das volle Selbstbewusstsein und wird zu einem Objekt der Psychologie. Hegel protestiert gegen die intellektualistische Teilung der traditionellen Vermögen des Menschen. Das Moment des freien Geistes schließt die Psychologie und die gesamte Entwicklung des subjektiven Geistes ab und schafft eine dialektische Einheit zwischen Theoretischem und Praktischem, zwischen Bewusstsein und Wille. Die Freiheit des Geistes kann sich jedoch nur realisieren, indem der abstrakte Bereich des individuellen Lebens überwunden wird; sie kann nur einen Inhalt erlangen, indem man sich auf die Welt der konkreten sozialen Beziehungen und historischen Institutionen, die die individuellen Energien verstärken, einlässt. Der Geist wird objektiv, indem er seine eigene Existenz, also die Freiheit in der Wirklichkeit des Lebens, objektiviert. Was ist der objektive Geist? Welches ist seine Funktion und seine Zielsetzung im gesamten philosophischen System Hegels? Der objektive Geist ist das »Reich der Freiheit« 177 und nach der Natur des Menschen gebildet. Der objektive Geist konstituiert die Ganzheit der historisch-sozialen Beziehungen; ihm ist das wahrhafte Interesse zugewandt. Die erste Objektivierung des freien Willens ist die Person im juristischen Sinn, also das abstrakte Subjekt des Privatrechts; es handelt sich um ein formales und äußeres Recht, das von jeder konkreten Charakteristik des einzelnen Individuums absieht. Eine einfache Sache, der Besitz, wird zur externen Sphäre der Freiheit der Person, zum Bereich, in dem sie allgemein als autonomes und unabhängiges Subjekt anerkannt wird. Im Gegensatz zur naturrechtsphilosophischen Tradition sagt Hegel, dass es in der Natur keine Rechte geben kann. Diese sind vielmehr nach und nach entstanden, indem sie in den sozialen Beziehungen der Gesellschaft als solche anerkannt wurden. Die Beziehungen stehen im Gegensatz zum Individuum, als juristischem Subjekt, in seiner natürlichen Existenz. Laut Hegel ist der Naturstaat der naturrechtsphilosophischen Tradition ein ungerechter und unterdrückender Staat. Die einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen, ist die Flucht. Auf dieser abstrakten Ebene des objektiven Geistes weist die Freiheit einen negativen und 177
Vgl. F. Beiser, After Hegel, Princeton NJ: Princeton University Press 2016.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
leeren Charakter auf, da sie auf dem einfachen Verbot basiert, die Persönlichkeit des Anderen zu verletzen. Die Versuche der Naturrechtsphilosophie und des Kontraktualismus, die komplexe Wirklichkeit der politischen Institutionen zu begründen, erscheinen Hegel sinnlos und absurd. Die juristischen Normen implizieren in ihrer äußerlichen Objektivität nur einen formalen Gehorsam und keine innerliche Beteiligung oder Zustimmung. Der Schritt zur moralischen Sphäre vollzieht sich durch die Verinnerlichung der Pflicht, die im Kontrast zum statutarischen Gesetz steht. Der freie Wille spiegelt sich in der subjektiven Tiefe des Bewusstseins selbst wider und identifiziert sich nicht mehr mit dem gegebenen Objekt, dem privaten Besitz. Die Person im juristischen Sinn wird zum moralischen Subjekt. Die innere Freiheit charakterisiert für Hegel die moderne Form der Individualität; sie hat sich der Welt durch das Christentum manifestiert, das der einzelnen Person einen unendlichen Wert gibt. Hegels Urteil über das Christentum und die Trennung der Sittlichkeit von der klassischen Welt hat sich verändert. In seinen ersten Schriften erschienen diese Aspekte als Verfallserscheinungen. Nun sind es wichtige Schritte zu einer bestimmten Menschlichkeit, die der Vollendung bedarf. Das Prinzip der Innerlichkeit wird durch die protestantische Reformation bestätigt und in der praktischen Philosophie Kants wird es theoretisch klar dargelegt. Der Bürger des modernen Staates identifiziert sich im Unterschied zum Bürger der griechischen Polis nicht unkritisch und unmittelbar mit den kollektiven Werten und Normen; er kann es auch nicht wie der Untertan eines despotischen Staates hinnehmen, blind bestimmten Auflagen zu gehorchen. Die Forderungen des Bürgers an die politische und soziale Ordnung müssen auf dem Herz, dem Bewusstsein und der Vernunft beruhen. Bevor man ein guter Bürger wird, muss man die kantische unbedingte Selbstbestimmung des Willens erreicht haben. Der moderne Staat muss entsprechend die Subjektivität wie ein Heiligtum schützen, dessen Entweihung ein Sakrileg wäre. Der moralische Aspekt stellt aber nur einen Moment der Dialektik des objektiven Geistes dar und wird schließlich überwunden. Wenn die reine Intention des Bewusstseins als absolut angesehen wird, wie bei Kant, dann macht man sich von einem abstrakten, moralischen Formalismus abhängig, einem Seinmüssen, das kein begrenzter Inhalt befriedigen kann. Die Freiheit bleibt in einem leeren, engen Raum des Inneren eingeschlossen und nutzt sich in einer Rhetorik des Müssens um des Müssens willen ab. 208 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Subjektiver Geist und objektiver Geist
Die Pflicht hat durch die ethischen Aufgaben, die jedes Individuum betreffen, einen konkreten Inhalt. Diese Aufgaben sind von der familiären, sozialen und politischen Rolle des Individuums in der bestehenden Ordnung bestimmt. Das Gute ist kein unerreichbares Ideal des reinen Bewusstseins, sondern eine historische und soziale Welt, die gegenwärtig ist: im hier und jetzt als Rationalität im dynamischen Prozess. Die Sittlichkeit konstituiert die dialektische Synthese der Objektivität des Rechts und der Subjektivität der Moral, weil sie in der überindividuellen Realität der Gesetze und der Institutionen und gleichzeitig in der bewussten Teilnahme des Einzelnen existiert. In der universalen sittlichen Natur eines Volkes, also in einem System, das durch Werte definiert ist, die sich in einer bestimmten politischen Konstitution ausdrücken, erkennt das Individuum die eigene Wahrheit und gewinnt jene konkrete Konsistenz, die den abstrakten Figuren, etwa der Person im juristischen Sinn oder dem moralischen Subjekt, fehlt. In der Familie, der ersten Sphäre der Sittlichkeit, ist die natürliche und zufällige Beziehung der Geschlechter durch geistige Liebe gekennzeichnet, auf der die Ehe basiert. Hegel lehnt Kants Definition der Ehe als Vertrag als schimpflich ab. Die Familie als sittliche Gemeinschaft steht auf einem höheren Niveau als die isolierten und abstrakten juristischen Personen. Das Patrimonium ist eine Bedingung des familiären Lebens, die Erziehung der Kinder ist seine Erfüllung und realisiert sich in ihrer zweiten Geburt oder geistigen Geburt. Durch die Figur des Kindes als autonome Person vollzieht sich die Öffnung der Familie in Richtung auf die Arbeitswelt und die bürgerliche Gesellschaft, die zweite Sphäre der Sittlichkeit. Die erste Stufe der bürgerlichen Gesellschaft ist nach Hegel das System der Bedürfnisse, das von Adam Smiths Theorie der politischen Ökonomie beeinflusst ist. Die konkreten Subjekte, die besondere Bedürfnisse und Fähigkeiten haben, folgen ihren eigenen, individuellen Interessen. Die historische Entwicklung der modernen Wirtschaft ist der Triumph des privaten Geistes, der keine kollektiven Zielsetzungen beachtet und die Ablösung des Einzelnen von der Gemeinschaft verstärkt. Die bürgerliche Gesellschaft ist also der negative Aspekt der Sittlichkeit. Sie ist das Feld des privaten und individuellen Interesses, in dem alle gegen alle kämpfen. In der Aufteilung der Arbeit in der Gesellschaft kehrt sich der Egoismus des Einzelnen und seine scheinbare Isolierung in ein soziales System von universalen Abhängigkeiten um, in dem das Wohlbefinden des Einzelnen mit dem Wohlbefinden 209 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
und dem Recht aller übereinstimmt. 178 Dies ist nichts anderes als die Theorie der unsichtbaren Hand von Smith, die besagt, dass die Automatismen der kapitalistischen Wirtschaft, ohne dass die Subjekte davon wissen, die privaten Interessen in Richtung eines kollektiven Wohlstandes führen. Hegel denkt jedoch über die Ergebnisse dieser blinden Notwendigkeit weniger optimistisch und vertritt die Auffassung, dass sie ein unzureichender Faktor für den sozialen Zusammenhalt seien, der gleichsam unter der sittlichen und politischen Würde eines Staates liege. Auch wenn er zugibt, dass das Prinzip der Individualität als bürgerliche Freiheit, das Talent und Intelligenz stimuliert, ein positiver Gewinn der Neuzeit sei, beklagt er die unvermeidbaren Konflikte im System der Bedürfnisse. In dem Maße, in dem sich die Kluft zwischen Armut und Reichtum vertiefe, vermehrten sich die Arbeiten, die unsicher und ungesund sind. Der Unterhalt des Einzelnen hänge von der blinden Bewegung der Wirtschaftsmaschine ab, die in höchst zufälliger Art und Weise sein Wohlergehen oder seinen Niedergang bestimme. Der zweite Schritt der bürgerlichen Gesellschaft, die Verwaltung der Justiz, ändert nicht viel an diesem Bild, weil sie die Aufgabe hat, die Rechte des Besitzes und der freien Verfügung zu garantieren. Damit sind die Aspekte der öffentlichen Sicherheit und der verschiedenen gesellschaftlichen Stände und Schichten eng verbunden. Hegel konzipiert diesbezüglich eine interventionistische Politik, die die Dysfunktion des privaten Geistes korrigieren soll. Die öffentlichen Einrichtungen sollen die zerstörerischen Tendenzen der Interessenkonflikte bremsen und allen den Unterhalt garantieren. Hegel meint, dass die Lösung des Problems der Armut die partielle Begrenzung der Eigentumsrechte rechtfertigen kann; Letztere sind nämlich nicht heilig und unverletzbar. Die Schichten und Stände seiner Zeit spielen in seiner Philosophie für die Bedürfnisse der Gesellschaft und die politische Einheit des Staates eine vermittelnde Rolle. Die organische Kohäsion der Gesellschaft drückt sich im System der Klassen aus, weil eine Gesellschaft nur in einer organischen Ganzheit existieren kann. Die natürliche Klasse ist mit der Erde und der Tradition verbunden; die Klasse der Arbeiter in Industrie und Handel ist Teil der dynamischen Welt der Geschicklichkeit und des Reichtums; die Klasse der Intellektuellen wird von Hegel als Übergang von der privaten Sphäre der Gesellschaft zur öffentlichen des Staates erklärt. 178
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 55.
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Subjektiver Geist und objektiver Geist
Die Konzeption des Staates, drittes und letztes Moment der Sittlichkeit, beinhaltet viele Themen, die jahrzehntelang im Mittelpunkt der Interessen Hegels stehen. Schon während seiner Frankfurter Zeit hatte er seine frühere Idee der Philosophie als eines polemischen Gegensatzes zur Realität aufgegeben. Nun versucht er durch ein tiefgehendes Studium der politischen Ökonomie die moderne Welt zu analysieren. Seine theoretische Arbeit ist eng mit der besonderen politischen Erfahrung seiner Generation verflochten, die ohne Zweifel die ereignisreichsten Jahre der Weltgeschichte erlebte. Die letzten Seiten der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel kurz vor der Schlacht von Jena (1806), in der das Heer Napoleons die Preußen besiegt. Mit großer Begeisterung erzählt er in einem Brief, Napoleon auf seinem Pferd gesehen zu haben. Napoleon ist für ihn die Weltseele, die sich in einem Individuum konzentriert. In der napoleonischen Politik der Erneuerung Europas sieht er die Verwirklichung der positiven Prinzipien der Revolution und die Überwindung ihrer Grenzen. Nach dem Wiener Kongress stellt sich Hegel nicht auf die Seite der reaktionären Kräfte, sondern er meint, dass die Restauration die wichtigen juristischen und politischen Fortschritte, die Frankreich der gesamten Menschheit für immer gegeben habe, nicht zerstören könne. Das Modell eines rationalen Staates ist die konstitutionelle Monarchie, die teilweise vom preußischen Staat repräsentiert wird, dessen höchste kulturelle Autorität nun der Philosoph selbst mit seinem Lehrstuhl in Berlin ist. Die napoleonische Ordnung oder die konstitutionelle Monarchie sind in den Schriften seiner reiferen Jahre jedoch niemals einfache Ideale. Die Philosophie kann, insbesondere wenn es sich um politische Philosophie handelt, der Welt keine Ideale vorgeben. Ihre Aufgabe ist es, zu verstehen, was wirklich ist, denn was wirklich ist, ist vernünftig. Noch mehr als in der Natur liegt in der historisch-sozialen Welt die Idee, die sich auf einer Ebene unterhalb der nebensächlichen Erscheinungen als immanente Substanz oder Ewigkeit in ihrer Wirksamkeit erweist. Es entwickelt sich ein unendlicher Kampf gegen eine Welt, die abstrakt die einzelnen negativen Elemente einer Einrichtung oder einer politischen Ordnung isoliert, um eine oberflächliche Kritik daran zu üben. Aus dieser spekulativen Faulheit resultiert schließlich die Flucht ins reine Seinmüssen von impotenten politischen Idealen, die subjektiv der objektiven Wirklichkeit der Vernunft gegenübergestellt werden. Hegel wendet sich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mit großer Ablehnung (mit der sich auch persönliche Motive vermischen) gegen 211 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
politische Haltungen, die aus moralischen Gefühlen, Enthusiamus oder aus einer subjektiven Sichtweise statt aus einer tatsächlichen Wirklichkeit und einer theoretischen Analyse hervorgehen. Des Weiteren ist für ihn, wie oben dargelegt, die Wahrheit erst das Resultat der Vollendung des dialektischen Prozesses: »Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat.« 179 Die Philosophie kann nicht wie ein Prophet in die Zukunft schauen, im Gegenteil: »[W]enn sie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« 180 Dem Philosophen ist nicht der klare Blick Gottes gegeben, und sein Bewusstsein, wie das seiner Zeitgenossen, ist in seiner eigenen historischen Epoche begrenzt: Niemand kann den Grenzen seiner Zeit entkommen. Die Philosophie wieder mit der Realität zusammenzuführen, bedeutet, auf der spekulativen Ebene die existierenden, politischen Ordnungen zu rechtfertigen, aber nur, was ihre allgemeine rationale Struktur betrifft. Ihre einzelnen Bestimmungen hingegen können sich, da sie zufällig sind, als irrational und dem Untergang geweiht erweisen. Es ist eindeutig, dass der so analysierte Staat die preußische Monarchie nicht wahrheitsgetreu widerspiegelt. Die Hegel’sche Theorie des rationalen Staates formuliert eine Lösung des politischen Problems der Neuzeit, die die Geschichte scheinbar schon vorbereitet hat, nämlich sicherzustellen, dass das Prinzip der sittlichen Ganzheit durch die Autorität des Staates repräsentiert wird, ohne die Individualität und die Freiheit der Moral, die Freiheit der Religion, die Freiheit des zivilen und wirtschaftlichen Lebens der modernen Welt zu zerstören. Der Staat muss folglich ein artikulierter und komplexer Organismus sein, der es dem Bürger erlaubt, eine gewisse Urteilsfreiheit neben seinem Gehorsam zu bewahren und auch seine privaten Interessen zu verfolgen, während er für die Öffentlichkeit arbeitet. Wenn das Element des freien Willens wegfällt, wird der Staat zu einem reinen Mechanismus der Herrschaft. Damit eine lebendige Ganzheit besteht, darf sich die Autorität 179 180
Ebd., S. 64. Ebd.
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Subjektiver Geist und objektiver Geist
nicht unmittelbar auf das Individuum stützen, sondern muss sich in einer Hierarchie von institutionellen Organen artikulieren, deren Mitglieder lebendige Zentren des Handelns darstellen. Andererseits: Wenn der Staat als einfache Emanation des individuellen Willens und als Vertrag gedacht wird, liegt er auf der niedrigeren Ebene des abstrakten Rechts und des Atomismus der privaten Ziele. Für Hegel ist die politische Dimension, entgegen der liberalen Tradition, der höchste Ausdruck der Gesellschaft und nicht auf ein reines Gleichgewicht von Interessen, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft bildet, zu reduzieren. 181 Der Staat ist kein nützliches Instrument im Dienste des Wohlergehens und des Glücks der Individuen, sondern er ist der absolute Zweck, er ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als sich äußernder Wille. Als abschließendes Moment der Sittlichkeit ist dies das Resultat, das den gesamten Prozess begründet und der Familie und der zivilen Gemeinschaft eine wahrhafte und konkrete Realität zukommen lässt. Man kann keine Gesellschaft ohne eine politische Einheit des Volkes bestimmen. Das Individuum besitzt nur als Mitglied eines Staates Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit. Wenn man von der politischen Einheit, die den Monarchen an ihrer Spitze hat, absieht, ist das Volk nichts anderes als eine formlose Masse. Hegel lehnt allgemeine Wahlen und das liberale Prinzip des Parlamentarismus ab, weil sie die obere Gewalt auf eine unorganische Ansammlung von subjektiven Meinungen und privaten Interessen reduzieren. Die politische Rationalität 182 soll der exekutiven Gewalt der Regierung und dem hohen Sinn des Staates von einer Klasse von Funktionären, die wegen ihrer Bildung und ihrer Fähigkeiten ausgewählt wurden, anvertraut werden. Im politischen Denken Hegels liegen die Schwerpunkte auf der Autorität, dem Zusammenhalt des Staates und den öffentlichen Zielen und nicht auf der Freiheit des Einzelnen und dem Schutz des Privaten und seiner Bedürfnisse. Er kritisiert die liberale und naturrechtsphilosophische Idee einer negativen Freiheit, 183 die eine unüberwindliche Grenze darstellt und das Individuum entweder einem anderen oder dem besitzergreifenden Staat gegenüberstellt. Im Gegensatz zur formalen Freiheit des Rechts und des Willens 181 Vgl. E. L. Goodfield, Hegel and the Metaphysical Frontiers of Political Theory, Oxford: Routledge 2016. 182 Ebd., S. 55. 183 Ebd., S. 89.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
als reiner Willkür wird die positive und konkrete Freiheit des Einzelnen, die in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft objektiviert wird, nicht durch den Staat begrenzt, sondern kommt nur durch ihn zur Entfaltung. Die wahrhafte Freiheit realisiert sich in der Substanz der universalen Sittlichkeit, in der die Rechte und Pflichten zusammenfallen: Alles, was der Mensch ist, ist er dank des Staates. In diesem liegt seine Essenz.
20. Der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie Was ist der absolute Geist? Welche Rolle spielt der absolute Geist im philosophischen System Hegels? Was ist das absolute Wissen? Im Hegel’schen System ist der Staat Teil des Moments des objektiven Geistes. Jedoch wird dieser im dialektischen Prozess vom Reich der absoluten Idee überholt, wie Hegel dieses Reich nennt, das in »Kunst«, »Religion« und »Philosophie« unterteilt ist. Es sind hauptsächlich die Formen des kulturellen Lebens, die Teil der Sphäre des absoluten Geistes sind. Die höchste und universelle Aktivität des Menschen liegt in der ästhetischen Produktion, in der religiösen Haltung und in der philosophischen Reflexion. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Hegel zwischen dem Bereich des »Endlichen«, in dem die Sittlichkeit (also der Staat) liegt, und dem Bereich des »Unendlichen« unterscheidet, der niemals einer Sache, die außerhalb von ihm ist, untergeordnet sein kann. Deswegen sollte die höchste geistige Aufgabe niemals von einer externen Macht beeinflusst werden, sondern Frucht einer wirklichen Freiheit, Ausdruck des Geistes eines Volkes sein. Kunst, Religion und Philosophie unterscheiden sich nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern aufgrund ihrer Form: Die Kunst trifft in Form sinnlicher Anschauung, die Religion in Form einer Darstellung und die Philosophie als reiner Begriff auf die absolute Idee. Die Kunst oder die Schönheit kann jedoch die Wahrheit nur mittels eines sinnlichen Elements erfassen; die Religion in ihrer höchsten Manifestation (dem Christentum) zeigt das Absolute durch das Abbild eines persönlichen Gottes und verweist hiermit auf die Trennung von Gott und Welt im unglücklichen Bewusstsein. Dies sind Formen, die nicht vollständig dem absoluten Geist entsprechen, da dieser nur in der philosophischen Vermittlung die Wahrheit findet. Die Philosophie ist nicht nur die Einheit von Kunst und Religion, sondern führt 214 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
Der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie
als absolutes Selbstbewusstsein des Geistes die Bedeutung ihrer eigenen Geschichte zur Vollendung, indem sie die unterschiedlichen philosophischen Konzepte aufdeckt, die in der dialektischen Entwicklung der Bestimmungen der Idee aufeinander folgen. Hegel vereint die Philosophie mit der Geschichte der Philosophie und macht aus seinem System die Synthese aller partiellen, aber notwendigen Wahrheiten der Vergangenheit: die Totalität der Wahrheit in der Wirklichkeit. Der Geist lebt in der Kunst auf eine unmittelbare und intuitive Art und Weise die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur, die die Philosophie theoretisiert, indem sie sagt, dass die Natur eine Manifestation des Geistes ist. Das Kunstwerk ist immer durch Sinnlichkeit geprägt, sei es ein materielles Objekt, Klang oder Wort, und demnach kommt der Mensch durch die sinnlichen Formen zur Erkenntnis seiner selbst. Hegel zufolge ist die Kunstgeschichte in drei Phasen unterteilt: die symbolische Kunst der östlichen Völker, die auf Symbole zurückgreifen, weil sie den Geist nicht durch passende sinnliche Formen ausdrücken können; die klassische Kunst, die durch ein Gleichgewicht von geistigem Inhalt und sinnlicher Form gekennzeichnet ist, das sich in der menschlichen Gestalt ausdrückt; die romantische Kunst, in der der Geist sich bewusst wird, dass keine sinnliche Form das geistige Innere hinlänglich auszudrücken vermag; so kommt es zu einer Krise der Kunst. Hegel spricht vom baldigen Tod der Kunst, da ihre Rolle als intuitive Brücke zum Absoluten aufgrund der Entfaltung der Philosophie schwächer wird. Nur die Philosophie kann das Absolute 184 in seiner dialektischen Rationalität auffassen. Das Absolute ist eine dialektische Ganzheit und das Resultat eines Vermittlungsprozesses, der das Gegenteil der sinnlichen Unmittelbarkeit darstellt. Deswegen bleibt die Kunst unter den unterschiedlichen Wissensformen auf der niedrigsten Stufe. In der Religion bewegt sich das Absolute von der Objektivität der Kunst zur Interiorität des Subjekts. Dies bedeutet, dass die Beziehung zwischen Bewusstsein und Gott in der Religion grundlegend ist. Diese Beziehung ist durch den Glauben gegeben. Aber wenn dem wirklich so ist, kann der Glaube nicht die Gewissheit, dass Gott existiert, rechtfertigen. Die typische Art und Weise, Gott zu denken, ist 184 Vgl. K. Drilo, Leben aus der Perspektive des Absoluten. Perspektivwechsel und Aneignung in der Philosophie Hegels, Würzburg 2003.
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Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
die intellektuelle Anschauung, die auf halbem Wege zwischen der sinnlichen Anschauung der Kunst und dem Begriff der Philosophie liegt. In der religiösen Anschauung gibt es die Unterscheidung zwischen Gott, dem Schöpfer, und den Geschöpfen, so dass das Absolute noch nicht vollständig verstanden wird und mysteriös bleibt. Die Notwendigkeit einer Einheit von Schöpfer und Geschöpfen wird nur im Bereich des Kultes gefühlt, also im praktischen und nicht im begrifflichen Bereich. Das abschließende Moment des »absoluten Geistes« wird mit der Philosophie durch die Einheit von Kunst und Religion erreicht. Hier ist das Absolute in der Form des Begriffs, der vollkommensten Form, zu erkennen. Das Absolute erkennt sich endlich selbst und so kann die Idee sich selbst denken, und zwar als absolute und ganzheitliche Wahrheit. Die Philosophie, als Gedanke, der sich seiner selbst bewusst ist, ist das Resultat eines Entwicklungsprozesses, dessen Hauptfigur und Subjekt die Wirklichkeit in ihrer Konkretheit ist. Mit anderen Worten: Die Philosophie ist ein historischer Prozess, der sich mit der Geschichte der Philosophie selbst identifiziert. Die unterschiedlichen, vorhergehenden philosophischen Systeme sind die Schritte, die zur Wahrheit führen, das, was vorhergeht, überholen und selbst von dem, was folgt, überholt werden. Laut Hegel zeigt die Geschichte der Philosophie einerseits, dass die Philosophien, die unterschiedlich erscheinen, eine einzige Philosophie in unterschiedlichen Entwicklungsstufen sind. Andererseits sind die besonderen Prinzipien eines jeden philosophischen Systems Zweige, die auf ein einziges und gleiches Ganzes verweisen. Die Philosophie seiner Zeit ist das Ergebnis aller vorhergehenden Philosophien und beinhaltet schon die Geschichte der Philosophie der Vergangenheit. Hiermit schließt sich der kosmische Kreis des Bewusstseins und der Realität. Wie steht es um die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat in der Phänomenologie des Geistes – vor dem Hintergrund der semantischen Unterscheidung zwischen subjektivem Geist, objektivem Geist und absolutem Geist? Nach Hegel repräsentiert der Staat die Sittlichkeit oder den objektiven Geist. Durch ihn wird der Wille des Individuums wahrhaftig frei und bewusst, auch wenn er dem Gesetz unterliegt. Das Individuum identifiziert seine Interessen mit dem universellen Geist, der durch den Staat objektiviert wird. Es ist also nicht der Staat, der von den Individuen getragen wird, sondern es sind die Individuen, die dank eines Staates existieren, der ihnen im historisch-zeitlichen Sinne voraus ist, da die Individuen in 216 https://doi.org/10.5771/9783495817025 .
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einen schon bestehenden Staat hineingeboren werden. Außerdem ist der Staat ihnen auch im logischen Sinne voraus, weil er über ihnen steht. Der Staat muss nach Hegels Auffassung eine monarchischkonstitutionelle Ordnung beibehalten und nicht etwa eine demokratische oder liberale (wie ihn die kontraktualistischen oder naturrechtsphilosophischen Theorien dachten, von denen die Aufklärung beeinflusst war); so wird er zum Ausdruck des Geistes des Volkes, das dank der Gesetze existiert. Hegels Rechtsstaat beruht auf der Beachtung der Gesetze und der formalen Freiheit des Individuums und seines Besitzes. Er wird durch eine Konstitution geregelt, die aus dem Geist des Volkes in enger Beziehung mit dessen Geschichte, Traditionen und Besonderheiten hervorgeht. Der Staat ist für Hegel die Inkarnation des göttlichen Willens, der die Welt regiert und sich in der Geschichte zeigt. Im politischen Denken Hegels beinhaltet die Vernunft die Freiheit; die Entwicklung der Vernunft fällt mit dem dialektischen Prozess des Frei-Seins zusammen. Das Individuum ist nur wirklich frei, wenn es sich in sittlichen Organismen, die über ihm stehen, wie der Familie oder dem Staat, wiedererkennt. Aus Sicht des Individuums ist Universalität nicht zu erreichen, weil die wirkliche Vernunft nicht die des Individuums ist, sondern die des Geistes oder des Staates. Die Vernunft ist die Substanz (im etymologischen Sinne »sub-stantia«), also das Substrat, das jeden Akt des individuellen Lebens begründet. Die Ideen Hegels sind ihrem Inhalte nach mit Poppers Begriff der geschlossenen Gesellschaft verwandt, in der die Individuen durch strenge Verhaltensregeln eingeengt sind; Popper selbst hingegen vertritt die Idee der offenen Gesellschaft, in der der Bürger durch Institutionen geschützt wird, die demokratischer sind als bei Hegel. Hinsichtlich der historisch konservativen Aspekte der politischen Philosophie Hegels schreibt z. B. Bobbio: »Hegel ist kein Reaktionär, aber auch nicht liberal. Er ist ganz einfach konservativ, weil er den Staat vor das Individuum, die Autorität vor die Freiheit, den Gehorsam vor den Ungehorsam, die Spitze der Gesellschaft, den Monarchen, vor das Volk stellt.« 185 Der Rechtsstaat Hegels steht, auch wenn er nicht despotisch ist und die formale Freiheit der Person und ihren Besitz garantiert, den Ideen der Wahl und der demokratischen und parlamentarischen Repräsentation, die die Politik Europas grundlegend verändert haben, eindeutig feindlich gegenüber. 185
Vgl. N. Bobbio, Studi hegeliani, Torino: Einaudi 1997, S. 125.
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