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German Pages [176] Year 2010
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
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Regine Alegiani
Bewohntes Land Psychotherapie als Öffnung zur Welt
Mit einer Einführung von Kurt Hemmer
Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40114-9 eISBN 978-3-647-40114-0 Umschlagabbildung: Paula Modersohn-Becker, Worpsweder Landschaft, um 1900/Foto: akg-images © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Punkt für Punkt GmbH · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: l Hubert & Co , Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Inhalt Dr. Kurt Hemmer Einführung in die psychoanalytische Psychotherapie ..................... Berechtigte Bedenken .................................................................. Die Alternative ............................................................................. Das Unbewusste ist unser Schicksal ........................................... Psychoanalytische Therapie oder Verhaltenstherapie ............... Die Neurowissenschaften, das Unbewusste und Verhaltensveränderungen ........................................................... Das Unbewusste unter der Lupe oder das Ringen um erlösende Erkenntnis ................................................................... Eine Besonderheit zum Schluss ................................................... Vorbemerkungen .............................................................................. Übergänge ......................................................................................... In meiner Welt – ein Rückblick ......................................................... Rückkehr zum Lebensanfang ........................................................... Wohin mit meiner Wut ..................................................................... Zum Vorwurf der Entwertung analytischer Arbeit während destruktiver Phasen ........................................................................... Im Tunnel .................................................................................... Geben, Annehmen, Unterscheiden ............................................. Das Verschwinden des Wirklichen im sprachlichen Akt ................. Der Schatten des Ideals ..................................................................... Konturen des Anderen ...................................................................... Spannweiten des Begehrens .............................................................. Vorboten des Abschieds .................................................................... Meine Sprache bin ich ...................................................................... Warten Lernen ................................................................................... Männliches und weibliches Prinzip – Stadien einer Begegnung .... Ambivalenz und die Sehnsucht nach Ordnung ............................... Wirklichkeit und Übertragung ......................................................... Zugänge zum Wirklichen ............................................................ Übertragung als Durchgangswelt ............................................... Vom Glück, ich selbst zu sein ..................................................... Aneignung des Begehrens ........................................................... Ein unverstellter Blick ................................................................. Bewohntes Land .......................................................................... Schlussbemerkung ............................................................................. Dank ................................................................................................. Literatur ............................................................................................. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
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»Wenn man nach Selbsterkenntnis strebt, wie es uns Sokrates seit so vielen Jahrhunderten beizubringen versucht – befasst man sich dann wirklich mit dem eigenen Leben oder mit den Schatten, die es auf das Leben der anderen wirft? Geht es um die Dinge oder um die Beziehungen zwischen den Dingen? Um objektive Realität oder um den Fluchtpunkt einer Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven? Um das Prisma oder um den Regenbogen, den es erzeugt? Und was, wenn man die Wand ist? Wenn man nie einen eigenen Schatten geworfen, einen eigenen Regenbogen erzeugt hat, sondern nur das auffängt, was andere einem zuwerfen?« Wallace Stegner, Die Nacht des Kiebitz
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Einführung in die psychoanalytische Psychotherapie Der treffend gewählte Untertitel – Psychotherapie als Öffnung zur Welt – des vorliegenden zweiten Therapieberichts von Frau Alegiani ist mein Bezugspunkt, von dem aus ich eine komprimierte Einführung in einige Grundgedanken der Theorie und Praxis der analytischen Psychotherapie entwickeln möchte. Wo sich etwas öffnet, war vorher etwas verschlossen. Verschlossen sind der lebendige, freudige Bezug zur Welt sowie die engagierte Selbstgestaltung und produktive Selbstbewegung. Die Autorin nimmt den Leser mit auf einen spannenden und bewegenden Weg. Allmählich entwickeln sich passende Schlüssel. Der Verschluss öffnet sich; die Lebensgestaltung gewinnt an Optimismus und Eigensinn. Das Ergebnis – Bewohntes Land. Einfühlsam, sensibel, ohne laute exhibitionistische Untertöne lässt die Autorin den Leser teilhaben an den Beweggründen, die mehr und mehr zur Selbstverriegelung führten, gleichwohl aber den Lebens- und Gestaltungswillen nicht gänzlich einschließen konnten. Meine Skizze der analytischen Therapie soll es dem Leser ermöglichen, die oftmals hoch emotionalisierten Szenen des Therapieberichts theoretisch und praktisch einzuordnen. Es bleibt zu hoffen, dass der angebotene analytische Sinnhorizont zu einem tieferen Verstehen und besseren Nachvollzug all dessen führt, was die Autorin auf ihrem Weg der Wandlung erlebt hat. Und, so die weitergehende Idee, dass der Leser zugleich sein eigenes Welt- und Selbsterleben in einen erweiterten Verständnishorizont stellen kann. Der analytische Behandlungsprozess weist gewisse Ähnlichkeiten auf mit Dantes Weg durch die Tiefenschichten der Hölle. Nicht allein geht er diesen Weg, sondern in Begleitung des römischen Dichters Vergil. Der Aufstieg zum bewohnten Land, die Öffnung hin zur Welt, in der »Göttlichen Komödie« ist es das Paradies, gelingt erst nach der Erkundung der tieferen, unbewussten Gefühlswelten. Berechtigte Bedenken Wer weder selbst eine analytische Behandlung erlebt noch sich darüber informiert hat, dem dürften gewisse Gefühle, Szenen, Trauminterpretationen, Patient-Therapeut-Interaktionen, über die die Autorin berichtet, merkwürdig, wenn nicht sogar befremd7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
lich erscheinen. Die Fragezeichen mehren sich, werden die an den analytischen Prozess gebundenen Phänomene am Ziel der Behandlung gemessen: der Heilung, mindestens der Besserung des Leidens. Fördert es die Heilung, wenn der Analysand Abhängigkeits- und Liebesgefühle entwickelt? Wenn er in Ablehnungs-, Aggressions-, Hassaffekte gerät und darüber hinaus mit schmerzlichen Neid-, Rivalitäts-, Scham- und Schuldgefühlen in Berührung kommt? Wenn Trauer ihn erfasst? Heilt das alles wirklich: wenn all das Alte, lang Vergangene wieder aufgewühlt wird? Oder wird nur unnötig das mitgebrachte Leid verstärkt? Ist es da nicht besser, sich gleich einer Verhaltenstherapie anzuvertrauen? Die Alternative Gezielt und ohne tiefere »Suche nach Grund«1, insbesondere nach unbewusstem Grund, nimmt der Verhaltenstherapeut Symptome direkt in den Blick. Gemäß der Grundannahme, dass alles Verhalten, worunter auch Gefühle und Gedanken fallen, eine Lerngeschichte hat, regt der Verhaltenstherapeut Um- und Verlernprozesse an. Er hilft mit seinem Veränderungswissen dem Patienten, die komplexen und differenziert aufgestellten Umlernprozesse zu organisieren und erfolgreich abzuschließen. So wird nicht nach dem unbewussten Grund einer Depression, eines Angstanfalls oder einer Zwangserkrankung gefragt, sondern ein positives, ressourcenorientiertes Denken und Fühlen wird den negativen Gedanken und Gefühlen entgegengestellt und eingeübt. Das Unbewusste ist unser Schicksal Für die analytische Therapie beinhaltet das dynamische Unbewusste die Kräfte, die die psychischen und psychosomatischen Symptome am Bewusstsein vorbei erzeugen und am Leben erhalten. Und nicht nur das. Das Unbewusste bestimmt unsere Partnerund Berufswahl, nimmt großen Einfluss auf unser Sexualleben und Sozialverhalten und ist auf diese Weise entscheidend daran beteiligt, ob unser Leben gelingt oder misslingt. Da das Ich nicht 1
Alegiani, R. (2009). Die späte Suche nach Grund. Eine analytische Psychotherapie im höheren Alter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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»Herr in seinem eigenen Hause« (S. Freud) ist, geht es der Psychoanalyse um die Erforschung dieser unbewussten, unser Verhalten bestimmenden Motive und Gründe. Sie will das Ich möglichst darüber aufklären, was in ihm selbst vorgeht und wodurch sein Verhalten gesteuert wird. Die Psychoanalyse, um ein Beispiel zu nennen, will wissen, weshalb ein Mensch bis zur völligen Erschöpfung (Burnout) arbeitet, leistet und dabei seine Partnerschaften und sich selbst sowie das eigene Wohlergehen gänzlich aus den Augen verliert. Die Motive sind wahrscheinlich Anerkennung, Geltung, Perfektion. Aber was ist die tiefere Ursache für dieses hochgezogene Leistungsmotiv, das keine Grenzen mehr akzeptiert und das sogar bis in den Suizid führen kann? Die Psychoanalyse will also weiter zu den kognitiv-emotionalen Beziehungserfahrungen mit den relevanten Bezugspersonen vorstoßen, die letztlich dieses selbstschädigende Verhalten begründen. Unsere Persönlichkeit und somit unser Verhalten geht aus diesen Beziehungserfahrungen hervor, wenn auch unsere Veranlagung nicht ganz aus den Augen verloren werden darf. Aus analytischer Sicht liegen hierin die Ursachen für Angstanfälle, Zwangserscheinungen, Depressionen, Arbeitsstörungen, Versagensängste, Beziehungsprobleme, Sexualstörungen. Kurz zusammengefasst: Unsere Persönlichkeit sowie unser individuelles Verhalten gründen sich nicht vornehmlich auf Lernprozesse (Verhaltenstherapie), sondern werden durch frühe Beziehungserfahrungen generiert, die im Unbewussten abgelegt werden und subkutan weiterwirken. Die neurobiologische Forschung sowie die experimentelle Kleinkindforschung haben Belege dafür, dass diese unser aller Verhalten beeinflussenden Abspeicherungen schon von Geburt an vollzogen werden. Infolgedessen konzentriert der Analytiker seine Aufmerksamkeit auf entsprechende Manifestationen des Unbewussten. Da diese sich einem unmittelbaren Zugang verschließen, sich also nur indirekt zeigen, müssen sie langsam und Schritt für Schritt erschlossen werden. Das geht jedoch nicht ohne eine Überwindung gewisser Widerstände, die sich gegen ein Erhellen formieren. Alles, was wir Menschen verdrängt haben, war für uns im damaligen Erlebenszusammenhang sehr unangenehm, beschämend, ängstigend, mit Schuld, Strafe und Liebesentzug verbunden. Werden die Ereignisse erneut ins Bewusstsein gehoben, so kommen auch die damit assoziierten Gefühle ins Bewusstsein. Weil aber diese ins Bewusstsein strömenden 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Gefühle nichts von ihrer damaligen Qualität und Intensität eingebüßt haben, leistet unsere Psyche verständlicherweise Widerstand. Es formiert sich also genau gegen diesen Bewusstwerdungsprozess, der grundlegend ist für Gesundung, eine seelische Gegenbewegung. Der Analytiker bemüht sich nun in intensiver Zusammenarbeit mit dem Patienten, einen Zugang zu diesen verdrängten Beziehungserfahrungen herzustellen und die dabei auftretenden Widerstände zu erkennen und zu bearbeiten. Psychoanalytische Therapie oder Verhaltenstherapie Die vorstehenden Ausführungen arbeiten den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Therapieschulen heraus, ohne jedoch letztlich entscheiden zu können, was für den einzelnen Patienten das bessere oder angemessenere Verfahren wäre. Auch die empirische Wissenschaft kann für diesen Entscheidungsprozess noch keine eindeutigen Hilfestellungen anbieten. Während also die Verhaltenstherapie auf Lernprozesse setzt und sich hierauf konzentriert, betont die Psychoanalyse die Selbsterkundung und die Erforschung des Unbewussten. Ein Mensch, der sich nun überlegt, eine Therapie und einen Therapeuten für sich zu suchen, sollte darauf achten, ob er, von seinem Interesse und seinem Gefühl her gesehen, sich mehr auf den Forschungsund Erkundungsweg der Psychoanalyse einlassen will, ob er eine Reise ins eigene Unbewusste wagen möchte mit dem Ziel der Selbsterkundung, oder ob er an einer direkteren Behebung seiner Symptome interessiert ist, ohne über das Unbewusste gehen zu wollen. Der Analytiker ist für die Patienten auf diesem spannenden und emotional sehr bewegenden Erkundungsweg in die eigenen verschlossenen Tiefenschichten das, was in der »Göttlichen Komödie« Vergil für Dante ist: Er ist Führer und Begleiter. Auf diesen Weg ins menschliche Unbewusste nehmen uns auch die jahrhundertealten Märchen, Mythen, Sagen mit. Gleichermaßen führen Dichter, Komponisten, Filmemacher, Bildende Künstler auf diesen Weg, den zu gehen auch die Autorin gewagt hat und den mitzugehen sie uns in ihrem Buch anbietet. Entschließt man sich, diesen Weg auf sich zu nehmen, so wird nicht nur das Unbewusste erkundet und erforscht, sondern es kommen unweigerlich bedeutsame Lernprozesse in Gang. So wird der Patient in der Interaktion mit dem Therapeuten lernen, seine Probleme von einem Außenstandpunkt aus zu be10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
trachten; ein für die kritische Selbstreflexion notwendiger exterritorialer Standpunkt wird allmählich etabliert. Nach und nach wird er lernen, differenzierter auf seine Gefühle und die Gefühle anderer zu achten. Der zwischenmenschliche Diskurs gewinnt somit an Tiefe. Er wird kooperativer und verständnisvoller. Wir lernen auf diesem Erkundungsweg weiterhin zwischen Phantasie, Wunsch und Realität zu unterscheiden. So wird das Machbare von dem Nichtmachbaren getrennt, das Machbare zur Verwirklichung gebracht, das Nichtmachbare ertragen und aufgegeben. All diese Lernvorgänge werden implizit durch den analytischen Weg angestoßen und eingeübt. Wäre all das vorstehend Skizzierte geleistet und die dazugehörigen Beziehungserfahrungen korrigiert, dann wäre der Mensch, der an einem Burnout-Syndrom leidet, ich darf nochmals auf das Beispiel zurückkommen, von seinem Leiden befreit. Ich selbst greife in meinem therapeutischen Vorgehen da und dort gezielt verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen auf; meistens wenn es gilt, gewisse Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen durch eine Konfrontation mit der Lebensrealität zum einen herauszuschälen und zum anderen durch Übung umzuformen sowie das Geformte durch Ermutigung und Übung zu festigen. Jedoch geschieht dies immer mit intensivem Bezug zum lebensgeschichtlichen Hintergrund und den frühen Beziehungserfahrungen. Die beiden therapeutischen Verfahren, wie man sieht, können bei aller Gegensätzlichkeit sich durchaus befruchten und ergänzen. Dieses Vorgehen wird auch von der Autorin detailliert beschrieben. Diese therapeutische Strategie findet in der Metapher des zu bestellenden Ackers und der zu erwartenden Ernte – oder auch Missernte – ihre bildhafte Konkretisierung. Das dem Leser vorliegende, nun zweite Buch der Autorin ist der sicht- und fühlbare Beleg für eine Früchte tragende Arbeit auf einem grundsätzlich fruchtbaren Ackerboden, der aber immer wieder bestellt, gehegt und gepflegt werden muss. Die Neurowissenschaften, das Unbewusste und Verhaltensänderungen Die theoretische Psychoanalyse, die aus klinischen Beobachtungsdaten zur Annahme unbewusst wirkender Kräfte gekommen ist, kann sich inzwischen durch Daten der experimentellen Hirnforschung bestätigt sehen. Darüber hinaus konnte ebenfalls belegt 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
werden, dass ein stabiler Besserungsprozess mittels Integration vormals unbewusster Inhalte angestoßen und zu einem guten Ende gebracht werden kann. Weil die unbewussten Kräfte das psychische Leid auslösen und, sofern sie weiter wirken, auch am Leben erhalten, gilt die ganze Aufmerksamkeit diesen Wirkgrößen. Darüber hinaus bestätigten die Forschungsergebnisse das, was die Psychoanalyse mit dem Begriff des Durcharbeitens zu fassen versucht. Es geht, direkter gesprochen, hierbei auch um ein SichKonfrontieren, um Üben und Sich-Bemühen. Denn neue Nervenverbindungen, die Änderungen im Verhalten, Denken, Fühlen und Wollen speichern, müssen wachsen. Kurz: ohne Veränderungen im Gehirn keine Veränderungen im Verhalten. »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« (Goethe, Faust, Zweiter Teil) Das Unbewusste unter der Lupe oder das Ringen um erlösende Erkenntnis Die Autorin lässt den Leser Anteil nehmen an den Erkundungsprozessen ihres Unbewussten. Dabei skizziert sie auch die technischen Möglichkeiten, die dem Analytiker zur Verfügung stehen, um unbewusste Kräfte und Konflikte herausarbeiten zu können. Dies sind Traumdeutung, mikroanalytische Untersuchungen außertherapeutischer Ereignisse und Verhaltensweisen, Tagträume, Phantasien und das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen. Alle genannten Verhaltensbereiche reflektieren auf die eine oder andere Weise die frühen, im Unbewussten abgelegten kognitiv-affektiven Beziehungserfahrungen mit relevanten Bezugspersonen. Besonders möchte ich mich mit dem Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen befassen, weil dieses zum einen den unmittelbarsten Zugang zu den frühen Beziehungserfahrungen ermöglicht und zum anderen beide Bücher der Autorin sich um die Beschreibung dieser faszinierenden Phänomene zentrieren. Das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen beschreibt alle kognitiv-affektiven Aktionen und Reaktionen, die sich bewusst/unbewusst zwischen Analytiker und Patient aufbauen oder sich auch ganz spontan einstellen. Diese sich aus der Begegnung formenden Phänomene sind nicht auf den therapeutischen Raum beschränkt, sondern zeigen sich überall, wo Menschen miteinander in Kontakt treten. 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Unter dem Begriff »Übertragung« werden alle unbewussten Strebungen verstanden, die interagierende Personen aneinander herantragen. Unter Gegenübertragung fallen die Gefühls- und Reaktionstendenzen, die die Person spürt, auf die sich die Übertragung richtet. Die Gegenübertragung kann als eine Art Antwort, als ein Echo auf die Übertragung angesehen werden. Wird der Prozess der Übertragung inhaltlich aufgeschlüsselt, so erscheint mir mein Gegenüber so, wie meine unbewussten Beziehungsmuster ihn mir vorschreiben. Es legt sich ein unbewusstes Wahrnehmungsschema, das die frühen Beziehungsszenen reflektiert, über die Außensituation und lässt diese so erscheinen, als wäre das Außen nun mit dem Innen identisch, mindestens sehr ähnlich. So kann es vorkommen, dass mein Gegenüber – mein Lebenspartner, mein Chef, meine Kinder – in ein frühes, kognitiv-emotionales Schema rutschen und ich mich ihnen gegenüber gemäß diesem Schema verhalte. Es kann dann gespenstisch genau im momentanen Begegnungsprozess zu einer Art Auferstehung alter Geister kommen. Ich kann mich dann dem Partner gegenüber so verhalten und fühlen, als wäre er eine der primären Bezugspersonen. Ich selbst erlebe mich infolgedessen als das abhängige, ängstliche, neidische, unterdrückte, aber auch bockige, freche, unverschämte, schonungsbedürftige Kind. Oder ich selbst, weil auch dies ja in mir gespeichert ist, übernehme die Rolle meiner primären Bezugsperson und behandele meinen Partner so, wie ich selbst in der Kindheit behandelt worden bin oder wie ich es mir gewünscht habe, behandelt zu werden. Der Analytiker, auf den sich die Übertragung richtet, nimmt diese in sich auf und entwickelt eine Gegenübertragung. Auf einer inneren Bühne bilden sich im Analytiker, angeregt durch diese unbewussten Informationsübermittlungen, affektiv bedeutsame Szenen, die wichtige, dem Patienten unbewusste Beziehungsaspekte widerspiegeln. Der Analytiker lässt sich also einbeziehen, ohne jedoch in der Szene aufzugehen. Obwohl er mit einem Bein in der Szene und den damit einhergehenden Emotionen steht und mitspielt, bleibt er mit dem anderen Bein außerhalb der Szene stehen. Diese Distanznahme, bei gleichzeitiger szenischer Teilhabe, erlaubt es ihm, seiner Funktion zu analysieren weiterhin nachzugehen. Hat er aus dieser inneren Teilhabe heraus verstanden, was er miterlebt hat, so wird er seine Erkenntnisse dem Patienten mitteilen und ihn zu einer Überprüfung und weitergehenden Erkun13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
dung anregen. So kann in den inneren Szenen sich der Analytiker angeregt fühlen, die nährende, beschützende Mutter zu sein, er kann sich fühlen wie ein idealer Vater und Liebhaber, aber auch wie ein sadistischer Verführer und Vergewaltiger. Er kann sich klein, ohnmächtig, ängstlich, ausgeliefert fühlen, neidisch und dumm. Dies hängt davon ab, ob der Analytiker sich mit den Beziehungspersonen und mit deren Fühlen und Handeln identifiziert oder mit den Gefühlen und Verhaltensweisen des Kindes, das diesen Personen ausgesetzt war. Gleiches gilt für den Patienten. In ihm sind natürlich diese frühen Beziehungserfahrungen zeitgleich aktiviert. Gelingt über den Deutungsvorgang des Analytikers eine Distanznahme, dann beginnt der Prozess des Durcharbeitens und der Integration. Das Ich des Patienten erfährt auf diese Weise mehr über das, was sich in ihm selbst auf tieferen Schichten abspielt. Sein Einsichts- und somit Herrschaftsbereich über sich selbst wird erweitert. Eine Besonderheit zum Schluss Es ist nicht alltäglich, dass ein Mensch mit fast 70 Jahren sich einer derartigen Selbsterkundung stellt und diese dann noch mit gutem Erfolg für sich beendet. Es ist zu hoffen, dass durch die beiden Bücher gerade ältere Menschen ermutigt werden, den Schritt in eine therapeutische Behandlung zu wagen. Denn die Probleme und emotionalen Verstrickungen nehmen im Alter nicht ab, sondern in der Regel zu. Der Prozess des Älterwerdens und der Zustand des Altseins sind genauso wenig wie die Kindheit ein Ort des Glücks und der Zufriedenheit, nur weil beide Lebensphasen meist von der Notwendigkeit der täglichen Arbeit und vieler anderer Pflichten befreit sind. Ausgeprägte Schamgefühle sind bei älteren Menschen oft festzustellen, so meine Erfahrung, die sie daran hindern, sich einer professionellen Hilfe anzuvertrauen. Haben sie doch das Klischee des reifen, abgeklärten, über allem stehenden, wissenden älteren Menschen zu erfüllen. Das Bild der glücklichen Großeltern, das Bild eines zufriedenen Ruhestandes, natürlich mit einer erfolgreichen Lebensbilanz im Rücken, erweist sich in der Regel als ein kollektives Abwehrmuster. Dieses Abwehrmuster wird gegen all das errichtet, womit sich die Autorin in bewundernswerter Weise auseinandergesetzt hat. Unsere gemein14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
same Arbeit führte die Autorin und zugleich auch mich heran an die unabwendbaren dunklen, bedrohlichen Tatsachen des Älterwerdens. Hier sei nochmals auf die Allgegenwart des Übertragungs-/ Gegenübertragungsgeschehens hingewiesen. Entkommen wir diesem Abwehrmuster, dann begegnet man dem unaufhaltsamen körperlichen Verfall, der Sehnsucht nach jugendlicher Vitalität, Sinnlichkeit und Attraktivität, der nachlassenden geistigen und physischen Spannkraft und den nun sehr begrenzten Zukunftsentwürfen. Wir setzen uns mit dem gelebten Leben auseinander, mit den erfüllten und gescheiterten Lebensträumen. Wir beerdigen, und nun endgültig, manche Wunschvorstellung. Wir leisten Trauerarbeit, die dann den Weg frei macht und den Blick schärft für das noch Machbare. Wir setzen uns mit dem Tod auseinander und fragen im Anblick dieses eigentlich unmöglichen und unerhörten Ereignisses nach dem tieferen Sinn des Lebens. All dies und die zuvor referierten Auseinandersetzungen haben am Ende zu dem geführt, was die Autorin als von Selbsttäuschungen befreite Öffnung zur Welt erlebt und beschreibt. Spät zwar und daher umso wertvoller ist das Gefühl, nun in einem bewohnbaren Land zu sein und so als ehemals Vertriebene doch noch eine Heimat gefunden zu haben. Ich hoffe, dass diese Gedanken und Hinweise dazu verhelfen, mit noch mehr Gewinn den folgenden Therapiebericht zu lesen. Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis auf die Reichweite der analytischen Therapie. Mit Glück und Anstrengung, so äußerte sich schon Freud, können wir das neurotische Elend beheben. Das normale, alltägliche Elend jedoch nicht. »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Mit diesem pointierten Ausspruch von Albert Camus möchte ich meine Einführung beenden. Dr. Kurt Hemmer
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Vorbemerkungen In meinem früheren Buch (Alegiani, 2009) habe ich wesentliche Phasen des Entwicklungsprozesses im Rahmen einer mehrjährigen analytischen Psychotherapie nachzuzeichnen versucht. Mein Alter – zu Beginn der Therapie 69, inzwischen 74 Jahre –, die Erfahrungen des Alterns selbst und eine Flüchtlingskindheit im und nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten den Hintergrund analytischen Nachdenkens. Die Kapitelfolge in dieser ersten Erzählung, die sich mit dem Nachvollzug des Geschehens in den Stunden befasste, endete an einem Punkt des analytischen Prozesses, an dem mir zum Bewusstsein kam, dass eine Arbeit, die mich über mehrere Jahre beschäftigt und Denken und Fühlen beeinflusst hatte, sich unaufhaltsam auf ein Ende zu bewegte. Ich würde mich aus einer als fruchtbar erlebten Übertragung zu lösen haben und das Leben danach mit seinen durch das Alter eingeschränkten Inhalten und Perspektiven ins Auge fassen müssen. Damals entschied ich mich, den Erfahrungen mit Abschied und Trennung, die hiermit verbunden sein würden, in einem eigenen Arbeitsvorhaben nachzugehen. Es sollte mir helfen, die Beendigung einer für mein Selbstverständnis wesentlichen dialogischen Beziehung und der durch sie angestoßenen Erfahrungen und den Abschied von einem Menschen zu bewältigen, der von Bedeutung für mich und meine Entwicklung geworden ist. Ich würde mich auf ein seelisches Geschehen einlassen müssen, wie es mir schon Monate zuvor Beunruhigung, Traurigkeit und Verlustgefühle verursachte. Der zweite Teil der Erzählung, dem ich nun diese Einführung voranstelle, trug daher zunächst den Arbeitstitel »Trennungen«. Die Erfahrung, sich trennen zu müssen und damit immer wieder in menschliche Vereinzelung einzumünden, gehört vielleicht zu den schwierigsten und schmerzhaftesten, denen Menschen sich ausgesetzt sehen. Auch bezieht sich der Trennungsbegriff, wie ich ihn hier verstehen möchte, nicht nur auf die Trennung von geliebten Menschen. Das sich Lösen aus vertrauten, oft nur scheinbar Halt gebenden Zusammenhängen wird auch erfahren in nachhaltiger Ernüchterung, im Abschied von Illusionen, Größenvorstellungen, uneinlösbaren Utopien und anderen Wahnwelten. Menschen trennen sich, wenn Beziehungen, Lebensgrundlagen 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
oder Überzeugungen nicht mehr tragen. In der analytischen Therapie gehören die Versuche, eine vertrauensvolle Bindung einzugehen und sich am Ende daraus wieder zu lösen, von vornherein zu den seelischen Aufgaben, die zu leisten sind, wenn die oft jahrelange intensive Arbeit Erfolg haben und die innere Autonomie stärken soll. Schon in einer der ersten – noch probatorischen – Stunden hatte der Analytiker mich auf diese Perspektive aufmerksam gemacht, und ich hatte sie als eine der Grundbedingungen der gemeinsamen Arbeit angenommen. Trennung hinzunehmen, sie zu durchleiden und – hoffentlich – zu überwinden, erlaubt vielleicht mit der Zeit größere Offenheit und Gelassenheit im Umgang mit Erfahrungen, die wir ein Leben lang als Bedrohung erlebt und gegen die wir angekämpft haben: Begrenzung, Endlichkeit und Machtlosigkeit, Abhängigkeit und Verlust. Mit solchen Erfahrungen leben zu lernen setzt voraus, sich auf Verzichte und Trauer einzulassen. Die Trauer begleitet und beschützt schmerzhafte Erfahrungen. Sie öffnet den stillen, abgelegenen Raum, in den wir uns, wenn wir trauern, zurückziehen, um Verlusterfahrungen zu verarbeiten und dem Ich Wege zu neuer Hinwendung zur Welt zu bahnen. Zu einem späteren Zeitpunkt der Niederschrift habe ich den Titel »Trennungen« jedoch wieder aufgegeben. Je näher das Ende der Therapie rückte, umso weniger erschien mir der Abschied als ein nur gefahrvoller und schmerzlicher Schritt, der auch misslingen könnte. Vielmehr ergaben sich Sichtweisen, die diese mir zuweilen unerbittlich erscheinende Grenze, den unvermeidlichen Abschied tröstend und ermutigend mit einbezogen und in einen größeren Zusammenhang stellten. Ich ahnte, dass eine Trennung, die eine Beziehung beschließt, die den Blick für die Wirklichkeit neu öffnete und verbunden ist mit Empfindungen tiefer Dankbarkeit für etwas Wertvolles und Nährendes, das ich empfangen hatte, eine Kraftquelle sein konnte auf dem Weg, der in Zukunft allein zu gehen sein würde. Der erste Teil der Erzählung enthielt, neben Überlegungen zu einer Kindheit im Zweiten Weltkrieg, zum Altern und zu einzelnen Phasen des analytischen Prozesses, Anmerkungen zum therapeutischen Vorgehen, seinen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen und zu der Beziehung zwischen dem Analytiker und mir als Patientin, wie ich es in der gemeinsamen Arbeit so eindrücklich erlebt hatte. Ich schrieb damals – und schreibe auch jetzt – allein aus der Sicht der Patientin und meinem persönlichen Erleben. 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Um es dem Leser, der das erste Buch nicht kennt, zu ermöglichen, den bisherigen Verlauf der analytischen Arbeit und die Motive, mich ihr auszusetzen, nachzuvollziehen, gehe ich hier noch einmal zusammenfassend auf die aus meiner Sicht wesentlichen Züge ein. Ich habe das analytisch-therapeutische Vorgehen als eine vielschichtige, intensive Forschung an lange zurückliegenden krankmachenden Erfahrungen erlebt, deren zerstörerischen Einfluss auf mein persönliches Leben zurückzuweisen oder wenigstens zu begrenzen mir nicht gelungen war. Das geduldige, gleichsam mikroskopisch angelegte Arbeiten an seelischen Verwundungen ging von der Erfahrung aus, dass deren Spuren ihren Einfluss erst dann verlieren, wenn frühe Gefühle wieder belebt und betrachtet werden. Im Benennen und Aussprechen habe ich sie nacherleben können, und ihre einstige Bedeutung konnte beleuchtet und auf ihren Sinn für die Gegenwart hin befragt werden. Das nachholende Anerkennen sehr früher, als existentiell erlebter Bedürfnisse, die – nicht oder nur unzulänglich beantwortet – in ihrer einstigen Intensität auch in meinem späteren Leben fortbestanden, veränderte den Blickwinkel, von dem aus ich gewohnt war, meine Konflikte zu betrachten. Das unbewusste Festhalten an frühen Lösungsversuchen des Kindes hatte meine aktuell bestehenden Schwierigkeiten eher vertieft als behoben. Einem Erwachsenen standen reifere und wirksamere Methoden zur Verfügung, seelische Bedürfnisse wahrzunehmen und zu stillen. Diese sich zunächst nur aus einer Ahnung entwickelnde Einsicht trug dazu bei, neue, an der heutigen Wirklichkeit ausgerichtete Wege in den Blick zu nehmen und sie nach meinen Möglichkeiten zu begehen. Von ganz unterschiedlichen Seiten her geriet die Schädlichkeit bestimmter Verhaltensmuster in mein Blickfeld und konnte unter immer wieder anderen Aspekten analytisch betrachtet werden. Im Prozess des Durcharbeitens gewannen die Einsichten, die sich daraus ergaben, allmählich Konturen und erwiesen sich als hilfreich bei meinen Versuchen, problematische Impulse aufmerksamer wahrzunehmen und zu lenken. Je nachhaltiger ich den therapeutischen Klärungen ausgesetzt war, umso mehr verdichtete sich das, was ich erlebte, zu einer inneren Gestalt, auf die ich mich beziehen konnte, wenn ich über Träume, Bilder und die Deutungen des Analytikers nachdachte. Das Verständnis für Konflikte und ihre Ursachen erweiterte sich. Langsam ließ es mich Abstand gewinnen zu der ver18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
wirrenden inneren Welt, mit der ich lebte. Ich begann sie ruhiger, aber auch kritischer zu betrachten, ohne Denken und Handeln, wie früher, verächtlichen Bewertungen auszusetzen. Das Alleinsein konnte nun zu einem Möglichkeitsraum werden, in dem ich meiner selbst inne wurde und mich auf eigene Kräfte zu verlassen begann, anstatt mich Phantasien hinzugeben, wie ich durch andere von seelischen Lasten befreit werden könnte. Es ging von diesem Raum ein starker ermutigender Reiz aus, sich dem Leben und seinen sozialen Bezügen zuzuwenden und sich auch von Zweifeln und Rückschritten nicht abhalten zu lassen. Unmerklich ließ der Druck ungestillten Lebenshungers und eines wegen seiner Formlosigkeit beunruhigenden ziellosen Verlangens nach und verwandelte sich in ein Selbstvertrauen, das sich nicht mehr so schnell von Versagung und Begrenzung irritieren ließ. Ich konnte mich auf die eigenen und die dem Leben innewohnenden Kräfte als Quelle von Zufriedenheit manchmal schon verlassen. Aber das eigene Bemühen um Überwindung oder wenigstens ruhigere Annahme krankmachender Erfahrungen erschöpfte sich nicht in diesem zeitweise mühevollen Vorgang von Beobachtung, Analyse und dem Versuch, Erkanntes der inneren Erfahrung einzuschreiben. Die analytische Arbeit war eingebettet in eine zwischenmenschliche Beziehung, die – wenn auch klaren Regeln und Begrenzungen unterworfen – von ungewöhnlicher Offenheit, Vertrauen, Zuwendung und Respekt getragen war. Wo es gelang, meine anfängliche chaotische Gefühlswelt zu entwirren und sie allmählich neu zu ordnen, wurde sie für mich zu einem Modell für die Wahrnehmung und Entfaltung eigener innerer Möglichkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Als Patientin musste ich davon ausgehen, dass Fehlhaltungen und problematische Reaktionen im Verhältnis zum Analytiker ein Spiegelbild derjenigen Haltungen waren, die ich auch in meinen übrigen Beziehungen an den Tag legte und die mir die Konflikte eintrugen, um derentwillen ich therapeutische Hilfe suchte. Es wächst ein Bewusstsein dafür, wie seelische Beschädigungen und ihre Folgen die Überzeugung schwächen, verlässlich in einen sozialen Zusammenhang eingebunden zu sein, auf die legitimen Erwartungen gemeinschaftlichen Lebens zu antworten und – neben persönlichen Reifungsprozessen – daraus Freude und neues Vertrauen in das Leben zu ziehen. 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
In dieser Weise erlebt, ging der analytische Prozess in seiner Wirkung über den Versuch individueller Heilung hinaus. Er war zugleich darauf gerichtet, mich, die ich mich aufgrund meiner Störung von anderen zurückgezogen hatte oder meine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft mit ungeeigneten Mitteln verteidigte, einem weniger konfliktträchtigen Zusammenleben mit anderen wieder zuzuführen. Ich hatte mich gefürchtet vor Abhängigkeit und wagte es nicht mehr, auf andere vertrauensvoll zuzugehen. Aber es sind menschliche Nähe und ein Blick für die wechselseitigen Bedürfnisse nach Anerkennung und Selbstbehauptung, die den Menschen einbinden in das Zusammenleben mit anderen. Wo Beziehungen belastet sind mit Rückzug, Angst, Misstrauen und unterschwelliger Feindseligkeit, fällt es schwer, dem Leben zuversichtlich und hoffnungsvoll zu begegnen. Als ich mich entschloss, dem ersten Teil des Analyseberichts einen zweiten folgen zu lassen, habe ich mich noch einmal genauer nach den Gründen gefragt, die mich dazu veranlassten. Im ersten Bericht hatte ich mich offen über die klinische Diagnose, die damit einhergehende Symptomatik und über das therapeutische Vorgehen geäußert. Den Aufzeichnungen lag nicht die Motivation zugrunde, einen vierjährigen, von thematischer Dichte und hinsichtlich der mitgeteilten Konflikte von Intimität gekennzeichneten therapeutischen Dialog vor den Augen der Öffentlichkeit auszubreiten. Ich war mir der Gefahr von Missdeutungen bewusst und habe versucht, die analytischen Erkenntnisprozesse inhaltlich und sprachlich so zu schildern, dass dem Einwand, voyeuristischen Tendenzen und der Gefahr einer Banalisierung des analytisch-therapeutischen Vorgehens Vorschub zu leisten, hoffentlich überzeugend begegnet worden ist. Eines der wesentlichen Motive liegt – unabhängig von der eigenen Störungsproblematik – in meinem sich im Laufe der Zeit stetig vertiefenden Interesse am analytischen Prozess. Wenn ich gelegentlich zurücktrat und ihn herausgelöst aus dem engeren klinisch-therapeutischen Zusammenhang betrachtete, stellte er sich mir als eine intensive Arbeit an der eigenen inneren Erfahrung dar, deren Bedeutung mir über klinische Aspekte hinauszugehen schien. Es entstand der Wunsch, nicht nur erlebend durch diesen Prozess hindurchzugehen, sondern seine verästelten, oft verborgenen, sich gegenseitig bedingenden Bewegungslinien schreibend 20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
festzuhalten und ihrem Einfluss auf die Beziehung zu mir selbst und zur Außenwelt nachzugehen. Die Lebendigkeit und Ursprünglichkeit des analytischen Prozesses und seine inhaltliche Reichweite sollten anschaulich und begreiflich werden. Dies konnte nur gelingen, wenn ich den Wahrnehmungen in meiner inneren Erfahrung und dem Beziehungsgeschehen zwischen dem Analytiker und mir so dicht wie möglich folgte und an persönlichem Erleben den Verlauf dieses individuell erlebten Prozesses sichtbar zu machen versuchte. Eine sachliche Begründung sowohl für den ersten Versuch des Erzählens aus Sicht einer Patientin wie für seine Fortsetzung ist aber auch in folgender Beobachtung zu sehen: Es gibt – aus wissenschaftlich-theoretischen und aus Gründen klinischer Diskussion über Vorgehensweisen und Ergebnisse – naturgemäß eine große Zahl von Falldarstellungen, in denen Fachleute sich zu den vielschichtigen, verschlungenen Bewegungen therapeutischer Prozesse, zu den Problemen, Glücks- und Erfolgsmomenten und allgemein menschlichen und sozialen Inhalten äußern. Seltener sprechen Patienten aus ihrer persönlichen Sicht offen über das, was sie erleben, und unternehmen es, die Arbeit zu beschreiben, der sie sich ausgesetzt und die sie mitbestimmt haben. Zwar war es der Analytiker, der über das notwendige theoretische und klinische Wissen und über eine lange Erfahrung in der Behandlung seelischer Störungen verfügte. Von daher konnte er sehr viel mehr sehen und einordnen, als es mir als Patientin in meiner Eigenschaft als psychologischer Laie und von meiner inneren Verfassung her möglich gewesen wäre. Aber mit dem unbewussten – und unverstandenen – Material, das ich anbot, und den Vorstellungen, über die ich mich auf dem Hintergrund meines vielfach gebrochenen Verhältnisses zu mir selbst, zu anderen Menschen und zur Wirklichkeit mitteilte, trug ich zum Verständnis meiner Störung und zum Verlauf des Arbeitsprozesses vielleicht nicht unwesentlich bei. Wenn man die einzelnen Phasen des Behandlungsprozesses allein aus therapeutischer Sicht nachvollzieht, fehlen ergänzende Einblicke in die vielgestaltigen, schwer fassbaren, oft schöpferischen und phantasievollen inneren Bewegungen, mit denen Patienten auf Deutungen, kritische Befragungen und auf die Person des Therapeuten antworten, und in die Art und Weise, wie dies ihre innere Welt beeinflusst und verändert. Das Erleben des 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Patienten, der spezifische Widerhall des analytischen Beziehungsgeschehens in seinem Inneren, bleiben dann gleichsam stumm. Wie andere sah auch ich im analytischen Prozess zu Anfang ein ängstigendes und unter Umständen beschämendes Geschehen, dem auszusetzen ich mich fürchtete. Die zunehmende innere Freiheit, die entlastenden seelischen Umstrukturierungen, die Veränderung des Welt- und Menschenbildes, die diese Arbeit mit sich bringt, habe ich in der Weise, wie es dann geschah, nicht vorhersehen können. Ich war nicht vorbereitet auf die Glücksmomente, die sich ergaben, weil sich das Bewusstsein für die Kostbarkeit des Lebens vertieft, sich in mancher Hinsicht überhaupt erst einstellt und meine bittere Neigung abnahm, mich mit meinen Schwierigkeiten in Welt- und Menschenflucht zu retten. Ich habe in den vergangenen vier Jahren sehen und nachvollziehen können, was zu einer positiven menschlichen Entwicklung beiträgt und sie andererseits belastet und stört. Jenseits persönlicher Problematik habe ich erfahren, wie notwendig es ist, darüber nachzudenken, was es bedeutet, in der rechten Weise zu erziehen. Ich habe gesehen, wie zerbrechlich die frühkindlichen, noch nicht ausgereiften seelischen Strukturen sind, wie gegenwärtig die Gefahr ist, dass Erziehung scheitert – individuell innerhalb der Familie und durch äußere Einwirkungen wie Krieg, Heimatverlust, Armut –, und in welchem Ausmaß dies den inneren Frieden einzelner Menschen und den sozialen Frieden innerhalb der Gemeinschaft bedroht. Das zentrale Motiv für mein nie aufgegebenes Verlangen, die durch meine Störung bedingten Fehlhaltungen im Umgang mit mir selbst und mit anderen Menschen nachhaltig zu verändern, gewann deutliche Kontur schon im Erstgespräch am Beginn dieser Therapie. Damals sprach der Analytiker etwas an, was dann – unabhängig vom therapeutischen Vorgehen – leitmotivisch die gesamte spätere Arbeit stillschweigend begleitete und half, Krisen und Zeiten quälender Stagnation zu überwinden: Ich hatte mich, nach mehreren tiefenpsychologisch fundierten Therapien, die mir vorübergehend Linderung der Symptome, jedoch keine dauerhafte Veränderung gebracht hatten, ungeachtet meines Alters zu einer analytischen Psychotherapie entschlossen. Ein letztes Mal wollte ich versuchen, den Konflikten, die mein Leben begleiteten, auf den Grund zu ge22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
hen. Bei diesem ersten Kontakt, während der Analytiker den Arbeitsrahmen beschreibend absteckte, in dem wir uns voraussichtlich bewegen würden, wurde mir zum ersten Mal vorbehaltlos deutlich, wie die (frühe) Störung, an der ich litt, über eine neurotische Störung hinausging und zu einer tiefer gehenden seelischen Deformation, einer Charakterstörung geführt hatte, die Denken und Handeln auf vielen Ebenen verhängnisvoll mitbestimmte. Das offene, in klärender Absicht schonungslose Gespräch schärfte meinen Blick für die Intensität, mit der seelische Konflikte und deren Symptomatik in sozialen Beziehungen den Blick auf die Außenwelt trüben und die Fähigkeit schwächen, ethischen Vorstellungen, wie auch ich sie mir zu eigen gemacht hatte, zu folgen. Das, was die Philosophie ein »gutes Leben« nennt, kann dann nur schwer gelingen. Ich war dankbar, dass ich mit dieser Wahrheit konfrontiert wurde. Mir wurde der Abstand vor Augen geführt – und ich empfand ihn selbst – zwischen meinen Überzeugungen und den durch die Störung bedingten Fehlhaltungen, die eine Richtungsänderung immer wieder hatten scheitern lassen. Hier wurde ich endlich mit klar umrissenen Erwartungen konfrontiert. Ich erinnere mich, dass ich dem Analytiker, während er sprach, nachdenklich zuhörte und schließlich fragte: »Es geht also um einen Paradigmenwechsel.« Und seine Antwort lautete: »Wenn Sie so wollen, ja.« Ich war dem offenen Bezogensein auf andere Menschen und der Entwicklung von Eigenschaften, die dies gelingen lassen, lange ausgewichen. Minderwertigkeitsgefühle und Größenvorstellungen, Bindungsangst und Misstrauen hatten mich daran gehindert, mich auf menschliche Nähe vorbehaltlos einzulassen. Von heute aus betrachtet scheint mir der Paradigmenwechsel darin zu liegen, mich diesem Bezogensein und den damit vielleicht verbundenen Konflikten wieder auszusetzen in Kenntnis derjenigen Verhaltensweisen, die mich in Gefahr bringen könnten, Verbundenheit mit anderen und wechselseitige Anerkennung von neuem scheitern zu lassen. Der Weg dahin war langwierig und oft mühevoll. Aber mit der Zeit entstand ein Vertrauen in das Gelingen der gemeinsamen Arbeit, die vor mir lag. Wenn sie auch nur im Ansatz gelänge, bedeutete dies, dass Veränderung möglich war und es sinnvoll sein konnte, sich einem solchen Prozess im Hinblick darauf auszusetzen. 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Aus diesen Erfahrungen, die sich täglich verbinden mit dem, was ich in der Außenwelt an persönlichen und politischen Konflikten wahrnehme, erwuchs dann der Wunsch, einen gegen Resignation und Zerstörung gerichteten, Halt gebenden erzieherischen Vorgang – gleichermaßen geprägt von Forderung, Strenge und schonungsloser Klarheit wie von Wärme, Einfühlung und Geduld – in seinen wesentlichen Schritten und Phasen bis an sein Ende erzählend nachzuvollziehen. Obwohl solche ermutigenden Überlegungen mich oft schon trugen, waren aber die Wochen, in denen mir die Nähe des Abschieds zunehmend bewusst wurde, geprägt von einer verunsichernden Mischung aus Wehmut, Befürchtung und manchmal schon einem Anflug von Zukunftslust – ein Gefühl, das angesichts meines Lebensalters immer wieder eine vorsichtige Dämpfung erfuhr. Zumindest hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen können, was Zukunft in der durch die Nähe des Todes begrenzten Lebenssituation eines älteren Menschen heißen könnte. Dies blieb vorerst offen, aber auch darin äußerte sich eine neue Weise, mit Ungewissheit und Zweifel umzugehen. Ich wollte mich nicht mehr nach allen Seiten hin absichern, wo es ohnehin nicht in meiner Macht lag, mich zu schützen. Der Übergang in die abschließenden Phasen der Therapie soll hier in vier Schritten nachgezeichnet werden, von denen jeder den jeweils vorausgehenden zur Voraussetzung hatte. Die einzelnen Abschnitte führten von einer Phase scheinbaren Stillstands über die Versuchung zu Passivität und Ausweichen und nachfolgend einer zeitweise irritierenden Rückkehr an den Lebensanfang zu einer Art Zukunftsentwurf oder Zukunftsbild, das sich zu Beginn des letzten Therapiejahres auszubilden begann. Dieses Zukunftsbild nahm die Bedeutung eines Rahmens an, der alle wichtigen Aspekte zusammenfassen würde, die ich mit hinübernehmen wollte in das Leben ohne analytische Begleitung. Langsam, schrittweise sind in mir eine neue Aufmerksamkeit für seelische Vorgänge und ihre verborgenen, eigenwilligen Bewegungen entstanden und eine Hoffnung auf Veränderungen, dem Wirklichen näher und besser geeignet im Hinblick auf mein Verlangen, mich selbst zu führen.
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Übergänge Die Beendigung des ersten Therapieberichts und seine Veröffentlichung hatten zu innerer Befriedigung und Beglückung geführt. Die seit Jahrzehnten andauernde Schreibhemmung, einer der Gründe für den Beginn der Analyse, war behoben. Doch breitete sich wider Erwarten nicht lange danach Leere in mir aus, gefolgt von einer beunruhigenden, sich über Wochen hinziehenden Ziellosigkeit. In meiner Wahrnehmung schleppte sich der analytische Prozess in mir wie ein dünnes Rinnsal in einem ausgedörrten Flussbett dahin, bis ich eines Tages über meine innere Lage nachzudenken begann, um ihm, soweit sein Fortgang von mir abhing, wieder Auftrieb und Nahrung zu geben. Aus den zurückliegenden Jahren waren mir Phasen scheinbaren Stagnierens vertraut. In den Stunden hatte ich sie beschrieben als ein Gehen auf der Talsohle, zwischen hohen Bergen, die mich einschlossen und mir Empfindungen von Vergeblichkeit und Rückschritt vermittelten. Aber meist hatte ich mir ein Bewusstsein für das Vorübergehende solcher Stimmungen bewahren können, getragen von einem inneren Bild, das auf eine vor vielen Jahren unternommene Fahrt durch die Savoyer Berge auf dem Weg in die Provence zurückging. In jenem Frühjahr war ich in der Nähe des Lac d’Annecy mit dem Auto unterwegs. Dichter Nebel hing zwischen den Bergen, es regnete ohne Unterlass, die Luft war feucht und kalt, und die hängenden, goldgelben Zweige der Trauerweiden an den Ufern der Rhône berührten, schwer vom herabströmenden Regen, den Wasserspiegel. Dunkle Wolken jagten über den Himmel, es war April, ich war von zu Hause aufgebrochen mit einer großen Sehnsucht nach Wärme und Licht und empfand eine kaum erträgliche Enttäuschung darüber, dass sich diese Erwartung nicht einlösen wollte. Doch während ich auf der Landstraße dahinfuhr und mich über das trübe Wetter und die Kälte grämte, öffnete sich unversehens der Blick nach vorn, und jenseits der Berge, am äußersten Rand der grauen Wolkenfelder, die die Landschaft eintrübten, entfernt, doch weithin sichtbar, leuchtete ein breiter Streifen wolkenlosen, tiefblauen Himmels. Ich brauchte nichts anderes zu tun, als meine Fahrt in südlicher Richtung fortzusetzen. Oder ich rief mir, wenn die Zuversicht mich verlassen wollte, einen Traum aus den ersten Wochen der Therapie in das Gedächtnis zurück: 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Am späten Abend gehe ich einen schmalen, von Brennnesseln und Disteln gesäumten Pfad entlang, der an ein Meer führt. Die Dämmerung hüllt Land und Meer in weiches, blaues Tuch, das Wasser ist warm und nur leicht bewegt. Ich gleite hinein und schwimme hinaus – ohne Furcht, vertraut mit den Wellen, ihren sanften, wiegenden Rhythmen. Ich habe ein Ziel, nur schaffe ich es nicht, darauf zuzuschwimmen. Es besteht in einem fernen, bergig ansteigenden Küstenstreifen, an dessen Hängen eine Vielzahl von Lichtpunkten auf eine bewohnte Stadt und dort lebende Menschen hindeutet. Dorthin will ich. Aber immer wieder zieht die Strömung mich zurück ins Meer. Ich komme nicht von der Stelle, und die Entfernung zur Küste scheint sich nicht zu verringern. Als ich dem Analytiker diesen Traum erzählte, sagte er zu mir: »Nun, vielleicht leuchtet auch hier in der Therapie irgendwann ein Licht, auf das Sie zugehen können.« Diese Bilder aus den Anfängen analytischen Arbeitens hatten viel zu tun mit Hoffnung. Sie deuteten eine Richtung an, an die ich mich zu halten versuchte, wenn ich auch bald ahnte, dass der Weg, der an diese Küste führte, lang und steinig sein würde. Mit ihrer Hilfe konnte ich die Talsohlen durchschreiten und hoffen, die Berge, die sie in meiner Phantasie umschlossen und den Blick verstellten, würden eines Tages zurückweichen und den Blick nach vorn öffnen. Hingegen hatte das, was ich nun – am Übergang aus dem Aufgehobensein in der analytischen Situation in ein langsames Abschiednehmen – als seelische Trockenheit und zugleich vage als Zäsur wahrnahm, andere, fremdere Züge. Es glich weder den Tälern, die ich durchschritten hatte, noch dem Auf- und Niedergleiten im nächtlichen Meer vor einer unerreichbar erscheinenden Küste. Was bedeutete diese Zäsur? Was wurde in diesen Wochen durchtrennt oder doch gelockert? Die innere Bilderwelt – auf die ich immer dann zurückgreifen konnte, wenn meine Neigung, Inhalte vor allem kognitiv zu verarbeiten, mich daran hinderte zu spüren, was mich beschäftigte – gab mir wertvolle Hinweise: Sie führt mich nach Oberitalien, die Alpen sind durchquert, hohe Berge und einsame Wegstrecken liegen hinter mir. Vor meinen Augen erstreckt sich eine weite, sonnige Ebene und lädt mich ein, sie zu betreten. Ich 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
aber kann den Weg nicht fortsetzen, stehe bewegungsunfähig, wie angewurzelt, verunsichert durch eben diese Weite und eine gewisse Strukturlosigkeit, als sei die Ebene noch nicht erschlossen. Noch scheinen dort kaum Menschen zu leben, und offenbar gibt es weder geordnete Verkehrswege noch einen erkennbaren Ort, an dem ich wohnen und einüben könnte, was ich gesehen und mir zu eigen gemacht habe. Unter methodischem Aspekt hatte der Analytiker mir einige Wochen zuvor – am Beginn des vierten Therapiejahres – gesagt, wir würden von der analytischen Vorgehensweise abgehen und von da an tiefenpsychologisch fundiert an der Bewältigung aktueller Konflikte arbeiten. Auf eine schwer zu beschreibende Weise fühlte ich mich seither auf mich selbst zurückgeworfen. Der Analytiker glich von Stunde zu Stunde mehr einer Schattengestalt, die sich langsam in den Hintergrund zurückzog. Obgleich sich in der Arbeitsweise keine merkbaren Veränderungen ergaben, er spürbar gegenwärtig blieb, Antwort gebend, kommentierend und, wie immer, gerade rückend, worüber ich in den Stunden laut nachdachte, war mir doch, als weiche er unmerklich zurück. Der Abstand zwischen ihm und mir schien zu wachsen, und zögernd begann ich, diese Veränderung anzunehmen, sie zu begreifen als Öffnung in einen erweiterten Raum, in dem ich mehr als bisher meinen Weg zu finden und zu versuchen hätte, das in den Gesprächen Erarbeitete anzuwenden. Bewegungslust und Wirklichkeitsverlangen nahmen zu, aber zugleich fühlte ich mich manchmal unsicher, verloren und allein. Doch ließ mich von da an auch das Bild jener Ebene nicht mehr los. Ich betrachtete das vor mir liegende Land, unverändert heiter, empfangsbereit und überstrahlt von Wärme und Licht. Und es erstaunte mich, dass ich nicht imstande sein sollte, es zu betreten. In diesen Wochen erinnerte ich mich kaum an meine Träume. Statt der lebhaften Erzählungen, die das Unbewusste so oft in reicher Vielfalt hochschwemmte und deren ich mich in und zwischen den Stunden bedient hatte wie einer bilderreichen zweiten Sprache, breitete sich eine enttäuschende Kargheit in mir aus. Sie ließ mich ohne Anhalt, was zu tun wäre, um mich wieder zu fühlen. Schließlich fürchtete ich, in eine Depression geraten zu sein, und äußerte dies in einer der Stunden. Aber der Analytiker riet, ich 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
möge es anders, zuversichtlicher sehen, es könne sich um eine Art Inkubation handeln, ein inneres Moratorium, damit dem Ich Zeit bliebe, die nächsten Schritte zu bedenken. Noch trug dieser Hinweis zur Erleichterung wenig bei, ich konnte ihn nicht mit Inhalt füllen. Aber auf eine behutsame Art, wie ein Anklang an etwas, das sich vorbereitete, bewirkte dieser Rat, dass ich mich einer neuen Sicht auch nicht verschloss. Eines Morgens, nach langen Wochen inneren Schweigens, erinnerte ich zum ersten Mal wieder einen Traum: Ich habe eine der oberen Treppenstufen eines riesigen Amphitheaters erklommen, das ganz aus weißem Marmor gebaut ist. Ich will weitergehen, aber ich bin auf der Treppenstufe, auf der ich stehe, festgewachsen und kann nicht vor und nicht zurück. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche, mich loszureißen, beginne ich verzweifelt um Hilfe zu rufen, bis endlich jemand kommt, mich von hinten umfängt und mich sicher die Treppe bis zur nächsten Plattform hinauf geleitet. Ich erzählte diesen Traum in der Stunde, aber wider Erwarten ging der Analytiker nicht auf ihn ein, und wir setzten die Arbeit an einem Konflikt fort, der mich zu der Zeit sehr bedrängte. Arbeiten Therapeut und Patient länger zusammen, so kennen sie nach einiger Zeit die Arbeitsweise des jeweils anderen in den wesentlichen Zügen – was nicht bedeutet, dass ich als Patientin Einblick habe in die klinischen Erwägungen des Analytikers, die sein therapeutisches Eingreifen und dessen ausgewählte Schwerpunkte leiten. Nach einigem Nachdenken vermutete ich aber, der Analytiker folge therapeutischen Überlegungen, wenn er diesen Traum, der beim Erwachen Gefühle von Schwäche und Hilflosigkeit in mir erzeugt hatte, kommentarlos überging. Im späteren eigenen Nachdenken fand ich diese Vermutung bestätigt. Der Trauminhalt erschloss sich mir als Verlangen, die quälende innere Dürre zu überwinden, indem ich gleichsam kindhaft umfangen und unterstützt zu werden begehrte, um das unfruchtbare Verharren in Passivität beenden zu können. Das Schweigen des Analytikers hatte mir auferlegt, die festgefahrene Situation selbst zu lösen. Mit Hilfe dieser Einsicht konnte ich den Wünschen des inneren Kindes Widerstand entgegensetzen und neue Hoffnung schöpfen, ohne dass diese allerdings zu diesem Zeitpunkt schon konkrete Gestalt annahm. 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Ich war nicht wirklich allein gelassen worden. Im konsequenten Schweigen des Analytikers hatte therapeutische Zurückhaltung gelegen und verhindert, dass, wie es in Familien oft geschieht, Eltern dem Kind handelnd zuvorkommen und den schon vorhandenen Raum eigener Aktivität und selbständigen Denkens einengen. Nach kurzer Irritation hatte ich sein Schweigen als Aufforderung zum eigenen Handeln verstanden. An diesem Kreuzungspunkt von Verunsicherung, Geborgenheitswünschen und erwachenden Kräften kehrten jedoch Zuversicht und Hoffnung in tragfähiger Form erst zurück im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen, auf die ich später näher eingehe. Hier mag es vorerst genügen zu erwähnen, dass Erinnerungsspuren, die in den Stunden in meinen Erzählungen – nicht immer von mir selbst bemerkt – auftauchten und vom Analytiker aufgenommen wurden, eine Richtungsänderung bewirkten. Sie führten mich noch einmal weit zurück in die früheste, so bisher nicht berührte Phase des Kindseins und zu Verhaltensweisen, die das Kind entwickelt hatte, um mit belastenden Erfahrungen fertig zu werden. Ich näherte mich seinem Erleben in früher, vorsprachlicher Welt – Eindrücke und Gefühle, die ich nicht erinnern, kaum wahrnehmen und in Worte fassen konnte. Ich spürte sie als dunklen inneren Druck, als erratischen Block und archaische Bedrohung, vorerst noch unzugänglich für das beobachtende und erkennende Ich. Das, was sich hier in mir regte, scheute das Licht, schien sein eigenes Spiel mit mir zu treiben. Es bedurfte langwieriger und angestrengter Arbeit, bis ich mich diesen Gefühlen nähern, mich ihren beängstigenden Inhalten stellen und mich mit ihnen vertraut machen konnte. Bisher hatte ich diese früheste Periode kindlicher Entwicklung, die ersten Lebensmonate, allenfalls gestreift. Vielleicht aber war das vorausgegangene Arbeiten an späteren Phasen die Vorbedingung gewesen, dass ich mich nun auf Empfindungen einlassen konnte, die anzuschauen ich zuvor nur schwer hätte aushalten können. Etwas in mir war wachsam geblieben und verwehrte es mir, den analytischen Weg in der bisherigen Richtung fortzusetzen. Es war ein Umweg zu gehen, der mich zurückführte an den Lebensanfang. Hier zeichnete sich jedoch eine Schwierigkeit ab: Ich bewegte mich auf eine andere, gleichsam frühgeschichtlich-biographische Zeit 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
zu, überflutet einerseits von Bildern und heftigen Gefühlsäußerungen, die aus einer nicht erinnerbaren Vergangenheit aufstiegen, und auf der anderen Seite aufgestört und angezogen von dem Blick auf jene unbeirrt mich lockende Ebene, in die ich mich nicht hineinwagte. Zum ersten Mal sah ich mich sprachlos, fand für das, was in mir vorging, keine Worte, die Empfinden und Erkennen verbunden und in zusammenhängenden Bildern dem Bewusstsein zugänglich gemacht hätten. In solchen Augenblicken begann ich intensiver zu suchen nach einer Verbindung, einer inneren Brücke, die den Anfang des Lebens und die letzte Phase, der Sinn und Inhalt zu geben war, aufeinander bezog. In den nachfolgenden Wochen dachte ich hin und wieder über Entwürfe nach, die geeignet sein könnten, das Material für meine zweite Erzählung zu organisieren. In dieser Zeit zeichnete sich langsam ein gangbarer Weg ab. Ich ging aus von dem inneren Anlass, der mich Jahre zuvor bewogen hatte, mich auf den analytischen Prozess einzulassen, und versuchte einen Bogen zu spannen von der frühen Vergangenheit und der dort entstandenen seelischen Störung hinüber zu der sich öffnenden Ebene. Sie symbolisierte eine, wenn auch begrenzte, Zukunft und bot sich als Entfaltungsraum an. Während ich über die einzelnen Schritte in der vorliegenden Arbeit nachdachte, stellte sich mir die Frage nach der Rolle, die ich als Patientin im Rahmen der Therapie über meine individuelle Störung hinaus verkörperte. Was charakterisierte mich jenseits der Tatsache, dass ich an einer Störung litt, die ich verstehen und, soweit möglich, beheben wollte? In meinen Augen kam ich von draußen, und die Konflikte charakterisierten mich als jemanden, dem es in bestimmten Bereichen nicht gelungen war, sich der Gemeinschaft, in der er lebte, sinnvoll einzugliedern. Gemeinschaft stellte sich mir als ein von Übereinkünften und Regeln bestimmter sozialer Raum und als ein von kulturell bedingten Wahrnehmungsweisen unterschiedlichster Prägung gekennzeichnetes Umfeld dar, in denen die Welt auf sehr verschiedene Weise erlebt wird. Dort sind Menschen untereinander in ein vielfältiges Beziehungsgeschehen mit sowohl tragenden wie konfliktträchtigen Gegebenheiten eingebunden. Vor langer Zeit hatte ich mich aus diesem vielgestaltigen, unter gesellschaftlich definierten Bedingungen und Regeln Zugehörigkeit anbietenden Raum 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
zurückgezogen in den von anderer Ordnung bestimmten, bewertungsfreien, jedoch keineswegs amoralischen Raum der Therapie und einer nachholenden und ordnenden zwischenmenschlichen Beziehung. In der therapeutischen Situation habe ich die Daseinsbedingungen im sozialen Raum und die eigene Rolle darin unter dem korrigierenden Einfluss des Analytikers eingehend betrachten können. Ich habe meine Annahmen über die eigene psychische Wirklichkeit und die der äußeren Welt zu verändern und miteinander in Einklang zu bringen versucht, wo ich sie als Konfliktquellen und meine Lösungsversuche als unangemessen und wirkungslos erkannte. Welche Aufgaben stellen sich demnach, wenn später der Versuch, die in Prozessen analytischen Nachdenkens überprüften Haltungen und Überzeugungen mit neuem Leben zu füllen, zumindest in einigen Bereichen gelungen scheint? Was trägt dazu bei, die Furcht vor der »Einsamkeit des moralischen Subjekts« (Bauman, 1993/1995, S. 86) auszuhalten und den als recht erkannten Maßstäben gemeinschaftlichen Verhaltens zu folgen, auch und gerade dann, wenn unbewusste dissoziale Strebungen in mir selbst das Gemeinschaftsgefühl immer wieder von innen her schwächten? Oder wenn Widerstand notwendig schien, wo scheinbar verbindliche Regeln des Zusammenlebens sich erschöpften in der Regulierung gleichgültigen Nebeneinanderher-Lebens? Dies stand jenem umfassenderen Für-Sein (Bauman 1993/1995, S. 138 ff.) entgegen, das den Anderen einbezieht und eine Weise des Urteilens und Handelns einschließt, wie Hannah Arendt es in einem 1964 in Boston unter dem Titel »Responsibility under Dictatorship« vorgetragenen Text so eindrücklich beschreibt, dass ich ihn hier zitieren möchte: »Diejenigen, die nicht mitmachten, von der Mehrheit als verantwortungslos bezeichnet, waren die einzigen, die aus eigener Kraft urteilen konnten, und dazu waren sie nicht in der Lage, weil sie ein besseres Wertesystem hatten oder weil die alten Maßstäbe von richtig und falsch noch fest in ihrem Geist oder Gewissen verwurzelt waren, sondern, so vermute ich, weil ihr Gewissen sozusagen nicht automatisch funktionierte – als hätten wir einen Fundus von erlernten oder angeborenen Regeln, die wir dann jeweils auf den Einzelfall anwenden [...] Ihr Kriterium war meiner Meinung nach ein anderes; sie fragten sich, inwieweit sie noch im 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Frieden mit sich selbst leben konnten, nachdem sie bestimmte Taten begangen haben würden [...] Die Voraussetzung für diese Form des Urteilens ist keine hoch entwickelte Intelligenz oder moralphilosophische Akrobatik, sondern bloß die Gewohnheit, bewusst mit sich selbst zusammenzuleben, das heißt, sich auf den schweigenden Dialog mit sich selbst einzulassen, den wir seit Sokrates und Platon gewöhnlich Denken nennen [...] Viel zuverlässiger als die, die Werte anbeten und an moralischen Normen und Maßstäben festhalten, werden die Zweifler und Skeptiker sein, und zwar nicht, weil der Skeptizismus gut oder der Zweifel heilsam ist, sondern weil [...] solche Menschen [...] daran gewöhnt sind, Dinge zu untersuchen und sich ein Urteil zu bilden« (zitiert nach YoungBruehl, 1982/1986, S. 515). Die moralischen Forderungen, die stillschweigend hinter derartigen Überlegungen stehen, sind nicht leicht zu erfüllen, sie laden zu Versagen geradezu ein. Und ob sich die Fähigkeit, ihnen nachzukommen, in einer Therapie zuverlässig entwickeln wird, lässt sich nicht vorhersehen. Aber meine Erfahrung geht dahin, dass moralisches Bewusstsein und Urteilsvermögen geschärft, in manchen Aspekten sogar erst geweckt werden. Ich sammelte tief reichendes, vielschichtiges Wissen über die psychische Realität und die Gefährdungen durch unbewusste Impulse und erfuhr Entscheidendes zu den untergründigen Strebungen, die meine Handlungen lenkten, ohne dass ich es merkte, und zu den Problemen, die sich daraus ergeben. Ich lernte – und versuchte, es zu leben –, die Möglichkeit des Scheiterns einzubeziehen, ohne andere dafür verantwortlich zu machen, und diese Erfahrung zu nutzen, um angesichts der offensichtlichen Begrenztheit menschlicher Einsichten mein Handeln und meine Überzeugungen immer wieder neu zu bedenken. Auch das bedeutet noch nicht, dass die erreichten Veränderungen tief genug gehen, um die seelische Struktur dauerhaft zu durchdringen. Aber wenigstens die Voraussetzungen sind benannt. Vielleicht könnte man sagen, das wichtigste Ergebnis einer Therapie sei, es zu lernen, bewusst – und konstruktiv – an sich selbst zu zweifeln. In Geschichten, so der Philosoph Odo Marquard in einem seiner Essays, erzählen Menschen in einer Art schöpferischem Prozess sich selbst. In diesen Erzählungen sprechen sie sich und ihrem Leben Sinn und Bedeutung zu. Zugleich sind sie – in vielfälti32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
gen Beziehungen zu anderen und zur Welt – in Geschichten »verstrickt oder mitverstrickt« (Schapp, 1953/2004, zitiert nach Marquard, 2007, S. 55 ff.). Hier sind die unendliche Komplexität menschlicher Beziehungen und die durch sie bedingten Konfliktmöglichkeiten in einem einleuchtenden Bild zusammengefasst. Auf diese Inhalte musste ich mich einlassen, mich auf sie beziehen, wenn ich mich mit anderen im Licht meiner Einsichten auseinandersetzen will, ohne zu resignieren – mir selbst oder dem Anderen gegenüber. Die therapeutische Arbeit bildete die Brücke, nach der ich auf die Suche gegangen war, um den beschädigten Lebensanfang und die sich öffnende Ebene – Symbol zukünftigen Lebens und des Zusammenseins mit anderen – zu verbinden. In der Betrachtung des Raums zwischen Lebensbeginn und Gegenwart wurde ich der frühen Beschädigungen und ihrer Folgen inne und konnte sie betrauern. Ich begann zu verstehen, wie verhängnisvoll das menschliche Grundbedürfnis, für den Anderen und mit ihm zu sein, anstatt ihn wie eine Sache wahrzunehmen, durch unbewusstes Übertragen eigener Vorstellungen auf andere und ähnliche Formen von Abwehr beeinträchtigt wird. Unter dem Vorzeichen nahenden Abschieds betrachtet, wünschte ich mir, es gelänge, das in einem Prozess kritischen Verstehens Erarbeitete später nicht wieder gleichsam im Sande eines erneuten Rückzugs von den Erwartungen verlaufen zu lassen, die das Leben in der Gemeinschaft an die Menschen heranträgt, die den sozialen Raum bewohnen und ihn prägen. Von einem bestimmten Zeitpunkt an – als die therapeutische Arbeit Tiefenwirkung zu entfalten begann – wurde dies zu einem Rahmen, der die Versuche, die individuelle Not zu artikulieren und zu beheben, verband mit dem wachsenden Bewusstsein, mit anderen zu leben, sie zu brauchen und davon auszugehen, dass auch sie mich brauchen und sich auf mich verlassen möchten.
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In meiner Welt – ein Rückblick Von der ersten Stunde an hatte der Analytiker mich darauf aufmerksam gemacht, wie ich – bemüht, meinen seelischen Bestand zu schützen – mich eingerichtet hatte in einer inneren Welt, die mit dem Wirklichen wenig zu tun hatte. Die Versuche, mich in der als fremd und unsicher, als gefahrvoll und feindselig erlebten Welt zurechtzufinden und zu behaupten, waren geprägt von Verfahrensweisen, die ihre Inhalte aus frühkindlichen Konflikten bezogen. Sie ignorierten die Erfahrung, dass dem Erwachsenen reifere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich und die Beziehung zur Welt zu beeinflussen. Meine Welt war ein aus frühen vereinsamenden Erfahrungen entstandenes Refugium, das mich nur scheinbar schützte. In Wirklichkeit isolierte es mich und entfremdete mich der äußeren Welt. Anschaulicher als eine sachliche Erörterung der spezifischen Symptomatik möge eine zusammenfassende Rückerinnerung an Träume, Bilder, Dialoge und entscheidende Stellungnahmen des Analytikers zeigen, worin diese Welt zu Beginn der Therapie bestand und was sie kennzeichnete. Für diejenigen Leser, die meinen ersten Bericht nicht kennen, fasst dies die inneren Voraussetzungen noch einmal zusammen, die zu den in späteren Kapiteln beschriebenen Konflikten beitrugen. Zu Anfang träumte ich sehr oft von dem Haus, in dem der Analytiker wohnte und seine Praxis hatte. Es herrschte in diesen Träumen reges Leben und es ereigneten sich viele Dinge, die im Kontext der Arbeit ganz unterschiedliche Bedeutung erhielten. Träumend begegnete ich dort meinem alten Vater. Er war mit 89 Jahren gestorben, ohne dass ich ihm je hatte nahe kommen können, obgleich ich mich, nachdem er Witwer geworden war, mehrere Jahre um ihn kümmern musste. Bei der Besprechung dieses Traums machte mich der Analytiker darauf aufmerksam, dass ich darin meinen Vater zum ersten Mal in der Realität seines wirklichen Alters wahrgenommen hatte und nicht als den strahlend schönen jungen Mann, um den ich die Mutter beneidete, den ich für mich haben wollte und an den ich mich – letztlich vergeblich – gewandt hatte, als die mütterliche Brust und das, was sie in meiner inneren Welt bedeutete, mich aus äußeren Gründen nicht zu stillen vermochte. 34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Ein anderes Mal bevölkerte eine Fülle junger Menschen im Traum das analytische Haus – Studenten und Patienten, die zusammensaßen oder meine Stunde unterbrachen, indem sie in das Therapiezimmer eindrangen und den Analytiker zu sprechen begehrten –, während ich schon draußen stand und heftige destruktive Empfindungen zu bewältigen suchte. Immer wähnte ich mich ausgeschlossen oder schloss mich selbst aus, stand am Rand, unfroh und bedrückt, erfüllt von heftigem Neid, von Hass und Eifersucht und zugleich voller schmerzlicher Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Wärme und Fröhlichkeit. Ich wanderte im Traum durch die Zimmer des analytischen Hauses und beobachtete durch ein Fenster, wie nebenan ein neues Haus errichtet wurde mit hellen, freundlich gestrichenen Mauern und großen Fenstern, durch die das Licht flutete. Und während ich noch dort stand und hinausblickte, sah ich mich zugleich außen vor dem Haus stehen, durch das ich doch eben noch gegangen war, und klingeln, um eingelassen zu werden. Aber weder das bergende mütterliche Haus öffnete sich mir, noch konnte ich hoffen, eines Tages das neue Haus, an dem nebenan gearbeitet wurde, zu bewohnen, ja das Richtfest überhaupt zu erleben. In anderen Träumen stieg ich nach der Stunde die Treppe hinunter, die von der im obersten Stockwerk gelegenen Praxis nach unten führte, Stufe um Stufe, ungenährt, alt und vereinsamt, während eine Rolltreppe eine endlose Reihe junger Leute nach oben beförderte, die dort bekommen würden, was sie brauchten und für sich in Anspruch nahmen – die Gegenwart des Analytikers. Ich schloss hinter mir die Haustür und wanderte durch trostlose Straßen, ohne Ziel, freudlos, nicht wissend, wohin und wozu. Und manchmal war im Traum, auf dem Weg zur Praxis, das analytische Haus nicht mehr zu finden. Ich irrte durch ein labyrinthisches Gewirr von Straßen, die sich kreuzten und diejenigen schnitten und versperrten, durch die ich gerade hatte gehen wollen, weil mir schien, ich hätte die richtige Straße endlich gefunden. In den Monaten, in denen solche Träume häufiger wiederkehrten, war ich damit beschäftigt, das Alter anzunehmen und die kränkenden Einsichten zu verarbeiten, die sich für eine Frau damit verbinden. Die Träume spiegelten das Verlangen nach Beheimatung und Bestätigung wider, nach vorbehaltloser Annahme in 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
der analytischen Beziehung, die sich doch in der Voraussetzungslosigkeit und Unbedingtheit, wie ich sie ersehnte, nicht mehr erfüllen würde. Es bedeutete intensive, von Angst, Wut und Widerstand belastete Arbeit an Größenvorstellungen und den mit ihnen einhergehenden Wirklichkeitsverkennungen, die alles, was in der Realität gut ist, verdecken. Der Verlust eines Selbstwertgefühls, das sich auf falsche Selbstbilder stützen muss, um sich aufrechtzuerhalten, ist in solchen Phasen schwer zu ertragen. Und doch war mir immer bewusst, dass jedes Ausweichen die schon hinter mir liegende Arbeit gefährden, sie zunichte machen konnte. Der einzig gangbare Weg, zu Vorstellungen zu gelangen, die die eigene Wirklichkeit widerspiegeln und Beheimatung in mir selbst gewähren konnten, bestand – vor allen auf den Aufbau einer besseren Selbstwahrnehmung gerichteten Schritten – in dem schmerzhaften Abbau des falschen, aufgeblasenen Selbst. Traurig machte es mich, wenn ich gelegentlich Mitgliedern der Familie des Analytikers begegnete. In den Wahrnehmungsbahnen meiner inneren Welt atmete alles im analytischen Haus Ruhe und Frieden, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit, Verständnis und Halt gegenüber den Kindern, die ich – obgleich sie erwachsen waren – als kleine Kinder phantasierte, die von guten Eltern behütet, genährt und geliebt wurden. Andere Phantasien galten der Liebe und dem gegenseitigen Verstehen des Elternpaares, das einander beheimatete und die Kinder als Teil seiner selbst mit einbezog. Erst später, da diese tiefe, fast unüberwindlich erscheinende Sehnsucht nach solchen Daseinsbedingungen sich im Erleben des verlässlichen seelischen Halts, den auch ich in der Therapie erfuhr, nachhaltig zu beruhigen begann, ahnte ich etwas von der äußersten Verlorenheit, in der ich mich zu Beginn der Analyse befand. Von dem verzweifelten Hunger nach ausgleichender Liebe und Geborgenheit und dem verzehrenden Neid auf das, was andere an Gutem und Schützendem, an Glück besaßen. Dieser Neid beschattete meine Tage, verdunkelte das Gute in meinem eigenen Leben und vielleicht auch in mir selbst. Die lange, an Verzichten und Grenzziehungen reiche Arbeit an dieser inneren Zusammenhanglosigkeit und Verwirrung ist in ihren einzelnen, oft nicht einmal mir selbst unmittelbar deutlich werdenden Entwicklungsschritten nicht leicht zu vermitteln. Wie 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
gelang es dem Analytiker, mir einen Weg zu meinen eigenen Gesundungskräften zu bahnen angesichts meiner Bedürfnisse, mich anzuklammern, Widerstand zu leisten, das verlangende Kind zu bleiben, als das ich kam? Oft genug musste er mir diese Wünsche mit einer verbalen Klarheit vor Augen stellen, die ich zunächst als gewaltsam und vernichtend erlebte. Aber bald konnte ich ruhiger auf solche Klärungen eingehen und mich nach geeigneten Möglichkeiten umsehen, mit meinen Konflikten umzugehen. Es machte mir großen Eindruck, wenn er in den Anfängen der Therapie – in Momenten, in denen erste Einsichten sich ihren Weg in mein Bewusstsein bahnten –, sagte, ich möge dies zu spüren versuchen und – es halten. Indem er diese letzten beiden Worte fest und beinahe beschwörend aussprach, pflegte er seine Hände mit einer nachdrücklichen Geste zusammenzunehmen – eine Bewegung, die mich unmittelbar körperlich erreichte. Ich verstand damals noch nicht, worauf er hinauswollte und was er meinte, wenn er mich aufforderte, etwas in mir zu halten. Auch fragte ich nicht nach. Aber ich nahm diese einprägsame Geste auf und bewahrte sie in meinem Körpergedächtnis. So oft ich diese Bewegung seiner Hände beobachten konnte, war mir, als werde ein neuer Pfosten in den Boden getrieben und ein Schutzzaun errichtet, der Erfahrungen von Halt und Begrenzung ermöglichte in meinem inneren Land, das sich weit und strukturlos dehnte und in dem ich umherirrte auf der unablässigen Suche nach Orientierung. Und immer häufiger gab es dann Stunden, in denen die ziellose Sehnsucht nachließ, die mich umtrieb, ich die Hände öffnen, mich selbst loslassen konnte und Frieden in mich einströmte. Dann nahm ich den tröstlichen Abstand wahr, der schon bestand zwischen dem erwachsenen Ich und dem Kind, das sich weigerte, die Wirklichkeit anzunehmen und sich aus der Wahnwelt zu entfernen, in der es sich eingerichtet hatte.
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Rückkehr zum Lebensanfang In vollem Umfang verstand ich die Ursachen für mein Zurückweichen und das Zögern, die sich mir öffnende Ebene zu betreten, erst in einer Phase der Rat- und Ziellosigkeit zu Beginn des vierten und letzten Jahres. Die analytische Arbeit näherte sich dem Ende. Immer öfter stellte ich es mir vor – manchmal bereitwillig, oft widerstrebend und voller vorauseilender Trauer. Alles, was ich erlebte, versuchte ich von da an in Beziehung zu setzen zu der Zeit danach. Noch erschien sie mir leer, einsam und ohne menschliches Echo, aber ich wollte dem Gedanken daran auch nicht ausweichen. Der Blick war also manchmal schon vorausgerichtet, und vorsichtig versuchte ich, mich mit dem bevorstehenden Verlust vertraut zu machen. Aber wider alles Erwarten kehrte ich in diesen Wochen zurück zu den frühesten Stufen kindlicher Entwicklung, und die innere Welt fand dafür Bilder, die mich in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit beeindruckten. Aus großer Tiefe drängten sie in das Bewusstsein und warfen Licht auf seelische Landschaften, die in langem Schlaf gelegen hatten. In dieser Zeit war ich mir sehr fremd. Die Sprache, über die ich bisher sicher verfügt hatte, schien sich mir zu entziehen. Ich konnte das, was sich in mir abspielte, nur schwer in Worte fassen, um es der Bearbeitung zugänglich zu machen. Zwei Begebenheiten öffneten mir den Zugang zu diesen frühen Entwicklungsphasen. Aber zunächst war ein Weg zu finden, mich ihren Inhalten und den sie begleitenden Gefühlen zu nähern. Das Erleben in dieser Frühzeit konnte ich mit konkreten Anlässen und bestimmten Personen nur schattenhaft verbinden und es daher kaum erinnern. Es bereitete mir Mühe, es überhaupt ausreichend wahrzunehmen. Da griff ich zurück auf ein vertrautes Verfahren, das mir oft geholfen hatte, an tief liegende Konflikte und abgewehrte Gefühle heranzukommen: das automatische Schreiben. Ohne inneren Zensor und sprachlichen Ehrgeiz, ohne längeres Nachdenken, wie unter innerem Diktat, schrieb ich nieder, was aus dem Unbewussten spontan und ungeordnet aufstieg. Der Vorgang ähnelte, wenn ich mich ihm überlassen konnte, einem ungehinderten gedanklichen und sprachlichen Strömen und förderte Bilder und Verknüpfungen zutage, wie es im Erinnern und angestrengten Nachdenken nur schwer zu erreichen ist. 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Der Analytiker und ich arbeiteten in jenen Wochen an einem Beziehungskonflikt, den ich in feindseliger Weise ausagiert hatte. Die Arbeit daran öffnete mir den Blick auf eine nachhaltige innere Verunsicherung und ließ mich die eigentlichen Gründe der zumindest für mich überraschenden Rückkehr auf eine so tiefe seelische Schicht besser verstehen. Der Grundkonflikt, der sich langsam herausschälte, machte mir die Gewalt verständlich, mit der ich auf einen anderen Menschen gleichsam verbal eingeschlagen und ihn, mit dem mich allerdings noch keine längere Beziehung und eine entsprechend sichere Gefühlsbasis verband, nachhaltig verletzt hatte. Zur Verdeutlichung des zugrunde liegenden Geschehens möge es hier genügen zu sagen, dass ich in einem bestimmten Zusammenhang mehrfach Übersetzungen wissenschaftlicher Arbeiten ausführte, die erhebliche Zeit und Mühe beanspruchten, ohne dass ich eine Vergütung erhalten hätte oder wenigstens namentlich als Autorin dieser Übersetzungen genannt worden wäre. Ich hatte zu Anfang angeboten, die eine oder andere Arbeit ohne finanzielle Gegenleistung zu übernehmen. Seit mehr als zehn Jahren aus dem Beruf, war ich mir meines fachlichen Könnens nicht mehr ganz sicher. Es zeigte sich, dass ich mich auf meine übersetzerischen Fähigkeiten weiterhin verlassen konnte, aber zu gleicher Zeit nahmen die Bitten um unbezahlte Übersetzungen zu und drängten meine eigene literarische Arbeit zeitlich an den Rand. Das beunruhigte mich, ohne dass ich mich darüber mitteilte, rechtzeitig Grenzen setzte und klare Bedingungen aushandelte. In meiner unsicheren inneren Welt, in der Mangel- und Minderwertigkeitsgefühle überwogen und mir Uneigennützigkeit nicht oder doch nur da gestatteten, wo eine verlässliche Beziehung bestand, erlebte ich diese Situation als Beraubung, als räuberische Entleerung meines Inneren und Zerschlagung eigener Produktivität. In meiner Phantasie griffen fremde, gierige Hände in mich hinein. Sie weideten mein Inneres aus und bedrohten, was sich – angesichts einer belastenden Arbeitsstörung, die einer der Gründe für den Beginn der Therapie gewesen war – schon als Bewusstsein von Fülle und Kreativität etabliert hatte und sich als starker Drang nach eigenem schöpferischem Schreiben äußerte, dem ich meine Zeit widmen wollte. Wäre das Ich stärker und wären die Ich-Grenzen nach außen hin schon gefestigter gewesen und hätte ich nicht, aufgrund von 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Vernichtungsangst zu nüchterner Überlegung kaum fähig, aus der inneren Wahnwelt heraus gehandelt, dann hätte ich rechtzeitig Einspruch erhoben gegen das, was ich angesichts eigener Arbeitsbelange bald als zeitliche Überbeanspruchung und wachsende Bedrängnis empfand. Vor allem hätte ich mich, als mir dies bewusst wurde und Ansprüche von außen meine eigene Arbeit zu behindern begannen, ruhig zu meinen eigenen Bedürfnissen äußern können. In einer Aussprache hätte sich sicherlich lösen lassen, was unter den gegebenen Umständen in einen schmerzhaften Konflikt führte. In diesem Zusammenhang förderte das automatische Schreiben ein eindrucksvolles Bild zutage aus, wie mir schien, der tiefsten Schicht des Unbewussten: eine lange Reihe neugeborener Kinder (die Übersetzungen), die einander an den Händen halten, strömt aus meinem Mund, und mein Gegenüber ergreift eines dieser Kinder nach dem anderen und frisst es auf. Die Wut und die Kälte, die ich empfand, und die Angst um meinen inneren Bestand sind mir in nachdrücklicher Erinnerung. Sie verdeckten alles Gute in der Person des Gegenübers, verzerrten den Anderen zu einer Art Ungeheuer, das kleine Kinder raubte und sich einverleibte und einen Anderen entleerte. Das analytische Durcharbeiten dieses Konflikts förderte jedoch einen weiteren Aspekt zutage, der sich als ein bedeutsames Motiv für mein scheinbar großzügiges Angebot kostenloser Übersetzungen erwies – und für meine Unfähigkeit, dieses Angebot im Hinblick auf meine eigene Arbeit dann auch wieder zu begrenzen. Unbewusst hatte ich soviel mehr geben wollen, als mir an Zeit und Kraft zur Verfügung stand, um mir Zuwendung und Respekt zu sichern. Als stattdessen die Erwartungen an mich selbstverständlich wurden, fühlte ich mich getäuscht und reagierte mit Feindseligkeit. Aber auch mein Angebot war nicht zweckfrei gewesen, es war, wenn auch nicht bewusst, berechnend. Der Analytiker machte mir die unbewusste Motivation klar, indem er eine Formulierung zitierte, die ihm zufolge aus der Kommunikationstheorie stammt und als »Rabattmärkchen kleben« bezeichnet wird. Ich hatte scheinbar großzügig gehandelt, um ein Guthaben anzusammeln, das ich dem Anderen würde entgegenhalten können, wenn mir 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
nicht zurückgegeben wurde, was ich erhoffte: Zustimmung und uneigennützige Nähe. Aber Uneigennützigkeit war weder auf der anderen noch auf meiner Seite gegeben, und die Enttäuschung hatte mich mit dem ganzen Gewicht dessen, was ich eingesetzt hatte, zurückschlagen lassen. Dabei gerieten in meiner inneren Welt die guten Eigenschaften des Anderen aus dem Blick. Erfahrbar blieb mir dieser Andere nur noch als die angsterregende Gestalt, die mir meine Kinder entwendete, um sie selbst zu besitzen und mich leer zurückzulassen. Diese ernste, als vernichtend erlebte Differenz zwischen mir und einem anderen Menschen konnte entstehen, weil ich – bedürftig nach Freundlichkeit und Zuwendung – den Zwischenraum zwischen mir und einem Anderen, die anfänglich bestehende Fremdheit zu schnell hatte einebnen wollen. Es ist aber dieser Zwischenraum, der am Beginn einer Beziehung nüchtern zu prüfen erlaubt, ob eine vertrauensvolle und nahe Beziehung und eine Haltung entspannten Gebens und Nehmens von der Wesensart der Beteiligten her im Kontext dieser spezifischen Beziehung überhaupt möglich ist. Es war dies nur eine von vielen Begegnungen mit meinen feindseligen Regungen und mangelnden Ich-Grenzen, die ich in meinem voranalytischen Leben niemals in dieser Konsequenz wahrgenommen hatte. Aber zum ersten Mal erkannte ich als eine der Quellen frühe, durch (damals) mächtige Andere verursachte Ängste des Verschlungen-, Beraubt- und Ausgelöschtwerdens. Wenn sie das Gute und Freundliche in den Erfahrungen des sehr kleinen Kindes überwiegen, bedingen sie spätere feindselige Neigungen und nähren das Gefühl, unentrinnbaren Gefahren ausgesetzt zu sein, denen nur mit Flucht oder mit zerstörerischen Angriffen zu begegnen ist. Bald darauf kam es zu einer Gegenerfahrung, die mich tief berührte und die abwehrbereiten Impulse, denen ich mich oft fast wehrlos ausgeliefert fand, beruhigte: Ich hatte in der Stunde über den soeben beschriebenen Konflikt berichtet und meine unnachgiebige Haltung mit harten, anklagenden Worten zu begründen versucht. Der Analytiker ließ sich von meiner Beweisführung nicht beirren und wies mich beharrlich, jedoch ohne Vorwurf hin auf die Verlagerung eigener Neid- und Hassgefühle und Vernichtungstendenzen in einen Anderen. Ich hatte meine Angst vor Gefühlen 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
der Ohnmacht und also mein Bedürfnis, mächtig und unangefochten zu sein, in den Anderen verlegt und konnte mich selbst als Opfer fühlen. Gleichwohl warf ich dem Analytiker nun vor, er stelle sich auf die Seite derer, die mir – in meiner Wahrnehmung – zugemutet hatten, Zeit und Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, ohne dass ich eine greifbare Anerkennung erhielt. Aber der Analytiker erwiderte nur gelassen, er stelle sich auf die Seite des Babys. Ich schwieg eine Weile, um diese Äußerung zu verdauen. Es waren wenige Worte, aber sie öffneten mir eine verschlossene Welt. Sie lösten den Konflikt aus der akut ängstigenden Situation heraus und verschoben ihn auf eine Ebene, von der aus er von seinem Ursprung in der kindlichen Gefühlswelt her betrachtet werden konnte. Es ging hier um etwas, das sich meiner Erinnerung entzog und das ich nicht hatte einordnen können: wie früh ein Kind sich schon Gefühlen der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und den hiermit verbundenen Ängsten gegenüber sieht, die es zwingen, mit unzulänglichen Mitteln, mit archaischen Gefühlen, mit Hass, Neid oder Unterwerfung zu reagieren, um die sie begleitenden Vernichtungsängste auf ein erträgliches Maß zu senken. Die Urteilsmaßstäbe reifer Moralvorstellungen lassen sich auf das Verhalten des Kindes in dieser frühen Lebensphase nicht anwenden. Die eigentlichen Ursachen der Angriffslust, unter der ich insgesamt litt und die ich so oft nicht beherrschen konnte, gingen indes auf die ersten Lebensjahre zurück. Oft hatte ich mich, wenn der Analytiker feindselige Empfindungen, die er vermutete, schonungslos benannte, bewertet, angeklagt und erschrocken gefühlt. Ich urteilte aufgrund erwachsener Kriterien und fühlte mich schuldig. Aber das, was der Erwachsene – als Erwachsener zu Recht – als kritikwürdig, als unangemessen und der Veränderung bedürftig erlebt, trifft beim sehr kleinen Kind noch nicht auf ein entwickeltes moralisches Bewusstsein. Die Fähigkeit, moralisch zu denken und zu handeln, beruht auf einem langen Reifungsvorgang, auf Identifikation, Nachahmung, Erfahrung, auf der Belehrung durch die Außenwelt und später auch auf der Kenntnis und einem kritischen Vergleich überlieferter Moralvorstellungen. Die Quelle von Wut und Angriffsbereitschaft auf sehr frühen Entwicklungsstufen sind hingegen unmittelbare starke Angst, Verlust- und Vernichtungsempfindungen, denen das Kind sich wehrlos ausgesetzt sieht. Die 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Wirkung feindseligen Handelns kann es, anders als der Erwachsene, weder vorhersehen noch kontrollieren noch überhaupt als schädigend erkennen. Denn abgesehen davon, dass Erkennen ein Benennen und wenigstens rudimentäre Sprachbeherrschung voraussetzt, fehlen dem Kind hier noch Erfahrung, Vergleichsmöglichkeit und die sich erst später entwickelnde Fähigkeit, Nähe und Distanz nach eigenen Bedürfnissen zu regulieren und dem Anderen zumindest mit Achtung zu begegnen. In gewissem Sinn war ich auf dieser Stufe stehengeblieben, und es bedurfte mühevoller Arbeit und immer wieder korrigierender Eingriffe des Analytikers, um es mir zu ermöglichen, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten, die damit zusammenhängenden Gefühle zu spüren und sie wirksamer als bisher zu lenken. Der Analytiker schlug mir vor, das Baby mit in die nächste Stunde zu bringen, um seine innere Situation eingehender zu betrachten. So würde ich die Gefühle und Reaktionen auf jener frühen Stufe verstehen lernen, anstatt sie, wenn ich heute unter ihr Diktat geriet, zu bewerten, abzuwehren, zu verleugnen oder auszuagieren. Angesichts dieses als entlastend und tröstlich erlebten Vorschlags konnte ich mich einfühlen in dieses Kind, ahnte, dass für es Sorge zu tragen sei. Es würde ihm besser gehen, wenn ich es kennen lernte mit seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten, anstatt es zu überfordern, zu beschuldigen und seine in mir fortbestehenden Ängste an anderen auszulassen. Ich hasste dieses Kind, lehnte es ab und verstand es nicht – ein böses, gieriges Kind, das haben wollte, rücksichtslos nehmen, von einem zum anderen wandernd in der Hoffnung, dort zu bekommen, was ihm fehlte: Liebe, Anerkennung, Schutz und Beheimatung. Ich schämte mich seiner, schämte mich seiner Angst, seines Verlangens, seiner unbefriedigten Sehnsüchte, seiner Gier, seiner Abhängigkeit und seiner Wut. Dieser einfache Vorschlag, das Kind mitzubringen und sich in den Stunden mit ihm zu beschäftigen, gab mir einen Eindruck davon, wie Güte und Freundlichkeit Gefühle von Scham, Hass und Angst und die Bereitschaft, ständig mit erhobenen Fäusten dazustehen, mildern können. Es wirkte angstmindernd, löste seelische Erleichterung und Dankbarkeit aus, als ich spürte, wie – neben den mitunter schmerzhaften und ängstigenden Deutungen, die ich in klärender Absicht erfuhr – Einfühlung, Wärme und Geduld seitens 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
des Analytikers meine Kräfte und den Willen stärkten, der Auseinandersetzung mit mir nicht auszuweichen. Wenig später rundete ein weiteres Erlebnis diese verwirrenden Vorgänge zu einem vollständigen Bild. Es stellte alle Teilaspekte dieser vielschichtigen Erfahrung an den ihnen zukommenden Platz und ließ mich das Ausmaß frühkindlicher Entbehrung und den Zusammenhang erkennen mit dem verlangenden, nicht zu beruhigenden Kind, das in mir noch immer wütete. Unter dem Eindruck dieser seelischen Wirren und der dadurch verursachten Gefährdung innerer Grenzen war ich vor der nächsten Stunde zur Praxis gekommen, aufgestört und begierig nach einem Verstehen dessen, was in mir vorging. Ich läutete und bekam keine Antwort. Ich wartete eine Weile, vergewisserte mich in Gedanken, dass ich nicht einen der Anschläge an der Tür des Praxiszimmers überlesen hatte, die auf Brückentage oder auf andere Gründe aufmerksam machten, aus denen die Praxis geschlossen bleiben würde. Das Auto stand vor der Tür, niemand hatte mich angerufen, um die Stunde abzusagen oder zu verlegen. Ich bekam es mit der Angst. Ich läutete ein zweites Mal und auch diesmal wurde nicht geöffnet. In mir breiteten sich Enttäuschung und Leere aus – Gefühle, die ich mit Vernunftgründen wegdrängte, und ich entschied mich zu gehen, wenn ein dritter Versuch unbeantwortet bliebe. Diesmal aber ertönte der Summer, und ich ging hinauf. Es erwies sich, dass der Analytiker in seiner unter der Praxis liegenden Privatwohnung die Klingel nicht gehört hatte und mir nun, wie mir schien, verärgert, bedeutete, ich möge in solchen Fällen dort läuten. Auf diesen Gedanken war ich nicht gekommen und wäre dazu auch nicht in der Lage gewesen. Das Private des Analytikers war tabu, und erst später, als wir offen darüber sprachen, begriff ich, mit wie viel unnötiger Angst und Verkrampfung ich eine Trennlinie zwischen der analytischen und der privaten Person des Analytikers und seines Umfeldes zog. Die eigentlichen Gründe hierfür blieben mir jedoch noch verborgen. Hier ist vielleicht eine Zwischenbemerkung hilfreich: Ich berichte im folgenden Abschnitt über ein inneres Geschehen im Rahmen der Übertragung von Empfindungen auf den Analytiker und seine Umgebung. Es ist hier nicht der mehr oder weniger nachhaltige Eindruck beschrieben, wie ihn jede unmittelbar per44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
sönliche Begegnung mit einem anderen Menschen in mir hervorrief, sofern ich nicht achtlos, mit Scheuklappen durch die Welt ging. Vielmehr versuche ich, den besonderen Niederschlag wiederzugeben, den auch flüchtige Begegnungen und der Aufenthalt in der für mich bedeutsamen Umgebung der Praxis in meinem Unbewussten fanden und sich dort zu ganz eigenen Erzählungen entfalteten – Erzählungen, bestimmt von frühen Erfahrungen, Prägungen und Phantasien. Mit der Realität hatten diese Erzählungen oft kaum etwas gemeinsam. Die wirklichkeitsfremden seelischen Vorstellungen, die in ihnen zum Ausdruck kamen, ließen sich nur dann verstehen, wenn ich akzeptierte, dass ich frühere Bedeutungsinhalte auf meine gegenwärtige Wirklichkeit übertrug und anerkannte, dass die heutige Realität sich mit der individuellen Wahrheit und der Glaubwürdigkeit frühkindlicher Erfahrung nicht mehr deckte. Die Verknüpfungen zwischen Innen und Außen wie zwischen Früher und Jetzt, die das Unbewusste in seiner besonderen Art der Wirklichkeitserfahrung vornimmt, konnten Sinn und Bedeutung nur aus dem Blickwinkel meiner inneren Welt beanspruchen, nicht aber hinsichtlich der Zusammenhänge in der Wirklichkeit. Sie symbolisierten frühe Konflikte, Befürchtungen und Wünsche und bildeten die individuelle und angesichts meiner Störung eben auch irritierende Weise des Selbstund Auf-andere-Bezogenseins ab. Dieses besondere Echo, das Begegnungen mit Menschen und Dingen in mir auslösten, war bewusster Kontrolle weitgehend entzogen. Ich erlebte es als schöpferischen seelischen Prozess, mit dem ich Eindrücke zu ordnen und das, womit ich konfrontiert war, in die innere Erfahrung einzufügen suchte. Bei einer Störung bewegen sich aber solche Versuche, Erleben und Erfahrung zu verarbeiten, in den Wahrnehmungsbahnen früher Konflikte. Diese Art des Umgangs mit seelischen Schwierigkeiten machte mir verständlich, worin meine Welt sich von der äußeren Wirklichkeit unterschied. Ich konnte sehen, wie sie mein Denken und Handeln durchdrang, bis ich zu einer nüchtern-objektiven Sicht dessen, was sich zutrug – und der Menschen, die solche Konflikte auslösten oder stellvertretend repräsentierten –, nicht mehr vorstoßen konnte. An der Privatwohnung des Analytikers zu klingeln anstatt bei der Praxis, bedeutete in meiner Welt, in einen verbotenen Bezirk 45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
einzudringen. Gegen die unbewussten Wünsche und Befürchtungen, die dahinter standen, musste ich mich durch Verleugnung schützen. Als ich jedoch dann, nach erstem Nachdenken über diesen Konflikt im analytischen Gespräch, selbst versuchte, zu den unbewussten Motiven meiner Ängste und Gehemmtheiten vorzudringen, erinnerte ich mich früherer Telefongespräche mit der Frau des Analytikers, wenn sie einen Termin verlegte. Mir fiel auf, dass ich jeder Terminverlegung gerne und sofort, fast eifrig zustimmte. Ich war pensioniert und konnte mich nach den Belangen der Praxis richten. Das aber war nur eine Vernunfterwägung in der obersten Bewusstseinsschicht. Darunter verbarg sich ein Bedürfnis, die Frau des Analytikers zu besänftigen, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie sollte mich nicht bitten müssen, keinerlei Mühe mit mir haben. »Besänftigen ...« Der Analytiker greift meine Wortwahl auf und fragt: »Warum besänftigen?« Und in der Phantasie verwandele ich mich, während ich noch überlege, in ein zudringliches Kind, das jedes Tabu missachtet, in den privaten Bereich eindringen will, diesem Bereich keinen Respekt entgegenbringt und mit wilden, aggressiven Armbewegungen das Paar zu trennen trachtet. Ich begehre in der Nähe des Analytikers zu sein, nicht von seiner Seite zu weichen. Nur dort ist Vertrauen, Heimat, Ruhe und angstlösende Sicherheit. Deshalb muss ich den zu ihm gehörenden Menschen besänftigen, um mit meinen eruptiven Wünschen und Verdrängungsabsichten nicht Zorn und Strafe auf mich zu ziehen. Und wieder ist es das automatische Schreiben, das mich in die Nähe jenes Verlangens führt, das auf der frühesten seelischen Schicht die eindringenden, begehrlichen Regungen nährt. Ich lasse den ursprünglichen Text hier folgen, da ich das innere Erleben in seiner Unmittelbarkeit nicht ein zweites Mal wiedergeben könnte: Er versucht, mich zu unterstützen. Aber ich kann es nicht fühlen, ich höre es falsch. Mir ist, als klage er mich an wegen meiner Unzulänglichkeiten, meines Versagens, mit all den Eigenschaften, die zu den schlimmsten gehören, die Menschen haben können. Es ist, als grabe er mich um, und ich verlöre alle Sicherheit und meinen tiefsten Grund. Als sei die Wurzel des Ich krank, und er schiebe die Hand darunter und versuche, sie zu lockern und auszuheben. Ich wehre mich, denn es tut alles weh. Ich möchte ihm in den Arm fallen und will doch auch 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
durch die Dinge durch, möchte ablegen, was mich schwach, unzulänglich und zugleich voller Verlangen sein lässt. Doch finde ich den Ort nicht, an dem ich stehen könnte. Er greift in mich hinein, dringt vor zu dem Bösen, legt offen, was ich nicht ansehen und zugeben kann, und das zu erleben, tut weh. Es gibt nichts Gutes in mir, keine Liebe, nicht Heiterkeit noch Kraft oder Gelassenheit und keinerlei Freude. Alles ist kalt, abgewandt, ohne Hoffnung und voller Hass. Die Zeit verrinnt, ich sitze am Grab von irgendetwas und weine, kann nicht Abschied nehmen, die Verluste nicht still betrauern, mich nicht nähren von dem, was in mir ist. In anrührender Weise, ruhig und voller Wärme – und ich hörte atemlos zu – benannte der Analytiker, nachdem ich zu ihm über diesen Text gesprochen hatte, einzeln die Wünsche des kleinen Kindes, die ich noch mit mir herumtrug, die ich jedoch tief in mir verbarg, derer ich mich schämte und die ich andere niemals wissen lassen wollte: Begehren, Verlangen nach Berührung und Schutz, nach Wärme und Nähe als Bollwerk gegen zerstörerischen Neid. Ein anderer besaß etwas in meinen Augen Wertvolles, das ich nicht hatte, und daraus erwuchsen mir schmerzhafte Mangelgefühle, Sehnsüchte und Ängste. In dieser Benennung erlebte ich das Annehmen verdrängter Gefühle durch einen wichtigen anderen Menschen und öffnete mich lange abgewehrten Empfindungen, die mir in meinem Alter unannehmbar erschienen und mich gezwungen hatten, friedfertig und einsichtig zu reagieren, wo ich erfüllt war von Verlangen, Wut, Enttäuschung und Trauer. Ich empfand Dankbarkeit und Erleichterung, als der Analytiker nun auch das Begehren des Kindes auf dieser Entwicklungsstufe ausdrücklich unterschied von einem sexuell getönten Begehren. Eine solche Phase in der Übertragung hatte ich vor langer Zeit überwunden, und das daran Verstandene schien mir verlässlich in das Ich integriert. Die Arbeit daran noch einmal aufnehmen zu müssen, hätte zu sehr großer Enttäuschung über mich selbst und zu verzweifelten Gefühlen des Rückschritts und der Vergeblichkeit geführt. Der Analytiker hingegen gab, leise und eindringlich sprechend, den Empfindungen, die mich bewegten und sich in wärmender und tröstender Fülle in mir ausbreiteten, die Bedeutung von Zärtlichkeit, und es war dies wie eine endliche Aufhebung des Verbots, intensiv zu fühlen und es zeigen zu dürfen. Ungehindert ließ ich 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
die Zuneigung des Kindes in mir zu. Sie entfaltet sich in einer ungeahnten Fülle, wenn seine Weise, sich der Welt zuzuwenden, anerkannt und angenommen wird als Ausdruck seines Wesens. Die Gefühle glichen jener Liebe, die ich so oft der Natur zuwandte. Sie fing die zärtlichen, hoffnungsvollen Empfindungen auf, die die Menschen, die meine Kinderjahre begleiteten, nicht wirklich beantworten konnten. Aufgestaute, Schmerz und Traurigkeit auslösende Empfindungen, deren Stärke und Berechtigung ich hier spüren konnte und die diese Gefühle noch einmal lebendig werden ließen. Als die innere Wärme Stunden später langsam nachließ, die Bilderwelt sich zurückzog in den Schatten und ich mich wieder in die Erwachsene verwandelte, die ich war, strömte eine nachhaltige, doch sanfte, wohltuende Trauer in mich ein, die mehrere Tage anhielt und meinen Alltag begleitete. Währenddessen war das beobachtende Ich dem Geschehen aufmerksam gefolgt, bemüht um Unabhängigkeit und Nüchternheit, mit dem inneren Kind empfindend, sich mit seinen Bedürfnissen, wenn diese auch hinterfragend, identifizierend. Es wusste, dass die Empfindungen, die in der Stunde so unbehelligt von Zurückweisung und Abwertung strömen durften, im erwachsenen Leben, jenseits der Übertragung, kein Objekt hatten, auf das sie sich richten konnten. In dem gleichen Augenblick, in dem sie benannt und vorbehaltlos angenommen worden waren, war das Ich sich der Notwendigkeit des Verzichts bewusst. Die Zärtlichkeit war angehalten, ihr Licht auf etwas anderes zu richten, ein verfügbares Objekt zu finden, auf das sie sich sammeln könnte. Erlebnisse dieser Art halfen mir, Verluste zu betrauern und langsam zu überwinden. Jeder Text, an dem ich arbeite, wird – im Sinne eines ersehnten Objekts, auf das ich Liebe und Begehren richten kann – zu jener einst unerreichbaren Küste mit unzähligen winzigen Lichtpunkten, auf die ich zuschwimme und an der ich manchmal schon an Land gehe. Nach Tagen zärtlicher Traurigkeit sehe ich mich – in einem abschließenden inneren Bild – in einem imaginären Flur stehen, den ich nie gesehen und betreten hatte. In seiner Mitte stehen der Analytiker und seine Frau. Sie stehen eng bei einander, fast überlebensgroß, und in ihrer spürbaren Verbundenheit warm und Vertrauen weckend. Freundlich blicken sie auf das vor ihnen stehende Kind, und das Kind weiß: Alles ist gut. 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Auch dieses Bild wurde zu einer der Grenzmarkierungen, wie sie mir im Verlauf des analytischen Prozesses das Gefühl vermittelten, die innere Brüchigkeit höbe sich langsam auf und es festigten sich die unsicheren Bezugspunkte zwischen mir und der Welt. Die Wahrnehmungsqualität aber, die hier zugrunde lag, unterschied sich von dem Aufnehmen und Verarbeiten früherer Grenzinstallationen (Hemmer, 2007, S. 99 ff.) in der Anfangsphase der Therapie. Dort galten die energischen, mich manchmal verstörenden und zunächst irritierenden Begrenzungen mittels analytischen Eingreifens zwar ebenfalls erkennbaren seelischen Konfliktlagen. Sie richteten sich aber notwendigerweise zunächst gegen vehemente, ausufernde und deshalb unangemessene Verhaltensweisen des Erwachsenen, die ich, obgleich ich sie vage als störungsbedingt erkannte, zunächst weder durchschauen noch lenken konnte. Diese anfänglichen Begrenzungen bewirkten, dass sich überhaupt ein erstes Bewusstsein für den Kern meiner Konflikte entwickelte und ich dies als Grundlage des Arbeitens ansehen und nutzen konnte. Ich verglich dies manchmal bei mir mit dem Vorgehen des Bildhauers, der das Material, dem er eine bestimmte Form geben möchte, in groben Umrissen zurechtschneidet, bevor er mit der eigentlichen Arbeit beginnt. In dieser Phase skizziert er andeutungsweise die schöpferische Idee, die ihm vorschwebt, und beseitigt die größten Unebenheiten am Material, damit sie die spätere Arbeit an den feineren Zügen des Bildes nicht stören und ablenken. Dieser Vergleich gilt zu Beginn der Therapie vielleicht sowohl für den Analytiker und sein auf den diagnostizierten Konflikt bezogenes therapeutisches Konzept wie für den Patienten, sofern er die Arbeit an seinen Konflikten in dieser Weise betrachten und angehen und die ersten ungewohnten, vielfach von Angst und Scham begleiteten Interventionen aushalten und verarbeiten kann. Dieses Vorgehen in der Frühphase der Therapie hatte – aus meiner heutigen Sicht – zum Ziel, gleichsam einen Sicherungszaun um mich und meine Verhaltensweisen zu ziehen. Ein erster Handlungsraum war zu öffnen, der das wilde, von unbewussten Motiven gelenkte sich Äußern eingrenzte, seine problematische Wirkung eindämmte, um Zugang zu den Gefühlen und Vorstellungen zu bekommen, die – in roher Form – mich überschwemmten. Sie steuerten Wollen und Handeln, ohne dass ich sie schon kognitiv erfassen und der Betrachtung zugänglich machen konnte. Ich 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
fühlte mich durch diese therapeutische Führung zunehmend geschützt und gehalten. Impulsive Handlungen ließen sich immer öfter als treibende innere Kräfte identifizieren. In ihren Äußerungsformen erkannte ich sie allmählich als durch die Störung verursacht und brachte sie in die Stunden, anstatt mich weiterhin ihrem verwirrenden Druck auszuliefern. Die Grenzziehung hingegen, die sich in dem imaginären Flur in der Begegnung mit dem analytischen Elternpaar in mir vollzog, war von grundlegend anderer Art. Obgleich der Ausgangspunkt in heftigen, aggressiven Wünschen des Kindes gelegen hatte, das Elternpaar zu trennen und den Vater für sich haben zu wollen – Wünsche, die zweifellos der Begrenzung bedurften –, lagen diesen Wünschen in meiner Wahrnehmung in diesem Stadium nicht mehr in erster Linie die unkontrollierten, unbewusst ablaufenden inneren Vorgänge zugrunde, wie ich sie für die Frühphase der Therapie zu schildern versuchte, sondern andere, bedeutsamere Bestrebungen: Dieses Kind wusste um sich. Es war verzweifelt ob seiner inneren Lage und sehnte sich danach, dass die Eltern sich als die Stärkeren erweisen würden, damit es von seinem aggressiven, spürbar gegen Ordnungen gerichteten Begehren nicht zerstört würde. Es verlangte danach, dass die Eltern ihm deutlich machten, dass sie zusammengehörten und dies einschloss, dass sie zum Schutz des Kindes da wären, seine Not sähen und mit ihr unterstützend und fördernd umzugehen wüssten. Die Not des Kindes wäre nur dann wirklich schlimm, wenn dieser Schutz, das Wissen und die größere Lebenserfahrung nicht merkbar in den Umgang der Eltern mit dem Kind einflössen und es nichts gäbe, das zur seelischen Entlastung des Kindes beitragen könnte. Unter der Begehrlichkeit des Kindes und seiner Suche nach Nähe zum Vater, die diese Szene symbolisierte, verbargen sich Abhängigkeit und eine als verletzlich und gefahrvoll, vielleicht als verboten empfundene Liebe – und die Hoffnung, sie würde angenommen und von beiden Eltern als stark und berechtigt gewürdigt, anstatt zurückgewiesen, ausgenutzt und hintergangen zu werden. Als Halt gebend und entlastend von Schuldgefühlen erschien es mir in jenem Bild, dass über die sichtbare Verbundenheit beider Eltern im Erleben des Kindes auch die Mutter zurückgewonnen und in ihre Rechte eingesetzt wurde. In der ersten Zeit der Analyse hatte ich die Begrenzungen, die mir zuteil wurden, in ihrer notwendigen Strenge und Deutlichkeit 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
noch oft als ängstigend, beschämend, manchmal auch als vernichtend empfunden und sie – noch nicht ganz eingetaucht in die Übertragung – überwiegend auf der Ebene und im Wertesystem des Erwachsenen zu verarbeiten versucht. Die in der beschriebenen Szene sich vollziehende Aufrichtung einer Grenze zwischen Eltern und Kind erlebte ich jedoch auf einer anderen, viel früheren Ebene und nah an einer tiefen, vielleicht grundlegenden Wunde. Ich hatte den Eindruck, angekommen zu sein an einer blutenden Stelle, von der vor langer Zeit alle Verwirrung ihren Ausgang genommen hatte. Die Erfahrung einer Grenze, die sich hier szenisch in mir selbst entfaltet hatte – während andere Begrenzungen vom Analytiker ausgingen und gleichsam in mich eingepflanzt werden mussten, damit sie Bestand hatten –, war spürbar getragen von eigener Einsicht, dem Wunsch nachzugeben, sich zu fügen und sich anzuvertrauen. Sie trug liebevolle und dankbare Züge und befreite das Kind (in mir) von Allmachts- und Besitzwünschen, von Neid, Eifersucht und Angst. In diesem Bild sahen sich Eltern wie Kind eingebunden in die sinnvolle Ordnung der Generationenfolge und waren sich der jeweils damit verbundenen Aufgaben bewusst: Schutz des Kindes vor Überflutung mit Forderungen, die es nicht bewältigen kann, auf Seiten der Eltern, und auf der Seite des Kindes die Einwilligung, sich den Eltern zu beugen und ihren Absichten zu vertrauen, auch wenn es sie oft nicht versteht. Dies führte zu dauerhaften und immer wieder nachvollziehbaren Empfindungen inneren Friedens und blieb ein Angelpunkt zum Durchhalten, auf den ich zurückgreifen konnte, als der analytische Prozess mich kurze Zeit später für Wochen in eine dunkle, ängstigende Welt stieß. Seither denke ich manchmal nach über das Schreiben, diesen unstillbaren Drang, etwas, mit dem Denken und Empfindung beschäftigt sind, in Worte zu fassen, um es wiederzufinden und zu bewahren – ein Verlangen, das der Analytiker Begehren nennt. Wenn er so spricht, erlebe auch ich, wie im Schreiben eine starke Liebe ihren Ort findet, an dem sie sich entfalten kann, begleitet von Lust- und Zärtlichkeitsempfindungen und dem Wunsch nach Verständigung mit anderen – Gefühle, einst gebunden an Menschen, die dies aus vielen Gründen nicht so erwidern konnten, wie das Kind es zu einer ungestörten Entwicklung gebraucht hätte. Sprache und Schrift – und jedes andere als schöpferisch empfundene Tun – sind Orte, die die Liebe aufnehmen, die wir woan51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ders nicht haben unterbringen können, Orte, an denen sich nicht beantwortete Empfindungen in Substanz und Sinn verwandeln. Während ich schreibe, scheint es mir manchmal, als wendete ich mich noch immer an die Menschen, die ich einst nicht erreichen konnte. Zugleich aber gebe ich mir aus eigenem Antrieb Halt in der wirklichen Welt, indem ich arbeite an dem, was mich beschäftigt und was ich zur Sprache bringen und mit anderen teilen möchte. Ich habe aber an den Berichten über den analytischen Prozess, wie ich ihn erlebte, niemals arbeiten können, solange sich Einsichten vorbereiteten und ich auf dem Weg dahin mit Widerständen, Angst und Gefühlen von Vergeblichkeit zu kämpfen hatte. In solchen Perioden, die zuweilen sehr lange dauern konnten und in denen der Prozess zum Stillstand zu kommen schien, absorbierten die gemeinsame Arbeit, das auf beiden Seiten eindringliche und beharrliche Bemühen zu verstehen und sich über Herkunft und Natur der Widerstände klar zu werden, alle Kräfte. Aber irgendwann zeichnete sich ein tieferes, angstfreieres Verständnis ab für das, was in mir vorging. Meist geschah dies durch eine Deutung des Analytikers, die alle Fäden, an denen entlang wir uns fragend und forschend bewegt hatten, zu einem einleuchtenden zentralen Gedanken zusammenfasste, der mich unmittelbar erreichte, auf den ich manchmal sogar gewartet zu haben schien, ohne davon zu wissen. Dann konnte ich den gesamten Verlauf des Prozesses, der dahin geführt hatte, in seinen wesentlichen Schritten nachzeichnen. Während des Schreibens fühlte ich mich in solchen schöpferischen Perioden auf eine ruhige und vertrauensvolle Weise mit mir verbunden. Es war, als beuge ich mich über die innerseelische Struktur, bewege mich entlang den Bauelementen, aus denen sie gefügt ist, und überschriebe einen vorläufigen, nicht gänzlich befriedigenden Text mit immer neuen, genauer durchdachten Fassungen. Und jedes Mal schien es mir dann, als holte ich Teile von mir in mich zurück, die ich verloren gegeben hatte und die nun heimkehrten. Wenn ich auf diese Weise schrieb, fließend, ohne abzusetzen, dicht entlang der inneren Erfahrung, die mir die Gespräche mit dem Analytiker vermittelt hatten, dann wusste ich, dass ich dem verlässlichem Grund, nach dem ich suchte, wieder ein wenig näher gekommen war. 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Wohin mit meiner Wut Ich stehe vor einem Hochhaus, im obersten Stockwerk liegt meine Wohnung. Ich steige die Treppen hinauf, finde die Tür offen, gehe hinein. Die Wohnung ist sparsam möbliert, durch die Fenster flutet das Tageslicht. Alles ist einfach, nicht überladen, sachlich. Doch wächst mitten in der Wohnung aus dem rotbraunen Holzfußboden ein schöner Baum mit einem aufrechten, schlanken und nicht sehr hohen Stamm. Er trägt eine kleine runde Krone. Sie ist frisch und grün, vom Wind leise bewegt. Ich betrachte den Baum, finde ihn anrührend und lebendig, obgleich ich etwas erstaunt bin darüber, dass er hier in meiner Wohnung wachsen konnte. Dann schaue ich nach oben in den Dachgiebel und denke, dass es von dort donnern und blitzen wird. Es ist eine gefährliche, bedrohliche Ecke, und es kommt mir vor, als sei da ein Auge, das mich beobachtet. Ich versuche mit diesem Traum zu arbeiten, geleitet von der Erfahrung, dass ich zerstörerische Phantasien – obgleich ich mir ihrer bewusst bin – überwiegend im Anderen und von außen kommend erlebe. Ich kann daher mit feindseligen Regungen im eigenen Inneren nicht gut umgehen, nehme sie nicht als eigene Impulse wahr, bekomme sie nur im Gegenüber zu fassen und bekämpfe sie dort anstatt in mir selbst. Der Andere wird dann gespalten in nur freundlich (in ausgeglichenen Perioden) oder nur bedrohlich dort, wo Abstand und Fremdheit und die dadurch verursachte Spannung vorherrschen. Auf diese Weise werde ich von feindseligen Attacken überwältigt, ohne Abstand nehmen zu können und sie ruhig zu betrachten. Ich kehre also in Gedanken noch einmal in die Wohnung zurück und betrachte den Baum genauer. Ein schöner, kleiner Baum. Es ist ein bisschen ungewöhnlich, dass er da mitten in meiner Wohnung steht. Aber ich will mich nicht mehr wundern. Er ist da und nicht wegzuleugnen. Dann sehe ich hinauf zur Decke und bedeute den Blitzen und dem Donner dort oben und dem eifersüchtig wachenden Auge, sie sollen herunterkommen. Ich will mich mit ihnen von Angesicht zu 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Angesicht konfrontieren. Was da aber dann neben mir steht, als sie meiner Aufforderung Folge leisten, ist etwas anderes als das Erwartete: ein Wesen, eigentlich kaum menschlich zu nennen und doch in menschlicher Gestalt. Soviel ich erkennen kann, ist es ein etwa fünfjähriges Kind. Aber es ist so verdreckt und entstellt, dass man es weniger erkennen als nur erahnen kann. Es hat langes, struppiges Haar, völlig verfilzt, und glühende kohlschwarze Augen, die wild um sich blicken. Es ist in Lumpen gehüllt und über und über mit Kot beschmiert. Seine beiden Hände sind zu Fäusten geballt, fremd steht es da, isoliert und, das kann man sehen, verzweifelt. Ich versuche, es anzusprechen. Ich: Was ist mit dir? Warum bist du so wütend? Es: Der Baum da ... er muss weg. Ich: Aber warum denn? Es: Ein Baum in einer Wohnung. Das habe ich noch nie gesehen. Es ist gegen jede Regel. Wie kann er hier so einfach blühen! Was will er hier? Dies ist eine Wohnung und kein Garten. Er soll weg. Man soll den Stamm zersägen, die Wurzeln ausreißen, die Krone beschneiden, in lauter kleine Schnipsel. Alles zusammenpacken und weg in den Müll. Dann war hier kein Baum. Dann ist alles wieder ordentlich und wie immer, so, wie es war, leer und ordentlich. Ich: Was hat er dir getan, der Baum? Es: Er blüht. Aber ich will nicht, dass er blüht. Es macht Angst. So einfach ist das nicht mit dem Blühen. Es wird zerstört, immer. Deshalb will ich kein Blühen. Ich will ihn weg, ausgerissen, aus der Wohnung. Es ist eine Lüge. Das da ist nur ein leichtfertiger, verlogener Baum. Ich: Aber sieh ihn dir doch an. Ist er wirklich leichtfertig und verlogen? Es (nachdenklich): Vielleicht ist leichtfertig nicht das richtige Wort. Vielleicht ist er unbekümmert und voller Hoffnung, vielleicht auch möchte er sich zeigen, seine schöne grüne Krone. Er hat sich ja aufgerichtet. Aber das ist es ja, was Angst macht. Es gibt keinen Ort auf der Welt. Das Beste ist, sich nicht mehr zu bemühen, einfach aufzugeben, 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
die Arme sinken zu lassen, sich nicht mehr zu waschen, nicht mehr zu denken, nicht mehr lieb zu haben und sich so mit Dreck einzuschmieren, dass man nicht mehr erkannt werden kann. Wenn mich niemand erkennt, dann ist Ruhe. Dann ist alles besiegelt. Müde, dreckig und allein. Weiter nichts. Ich: Du beschreibst eine ziemlich schlimme Situation. Gibt es keinen Ausweg? Es: (die Augen sehnsuchtsvoll auf den Baum gerichtet): Der Baum ist zu schön. Er ist unwirklich, und eines Tages wird er verwelkt sein. Ich: Jetzt aber steht er in voller Blüte, wie du siehst. Du brauchst dich ihm nur ein wenig zu nähern, vielleicht den Stamm mit der Hand berühren. Es: Ich kann nicht. Ich will den Baum nicht. Er soll tot sein. Ich fasse den kleinen wütenden Unhold am Arm und führe ihn nah an den Baum heran. Eine Weile steht er stumm und bewegungslos, legt aber dann doch die Hand vorsichtig, sie immer wieder an sich ziehend, an den Stamm. Nach einer Weile ergreife ich beide Hände und führe sie sanft am Stamm auf und ab. Über uns ist die Krone lebendig, die Blätter rascheln ein wenig, als sängen sie ein leises, verhaltenes Lied. Ich: Willst du den Baum nicht umarmen? Da umfasst das Wesen den Baum mit beiden Armen, schmiegt sein Gesicht an den Stamm und beginnt bitterlich zu weinen, Tränen der Sehnsucht nach Nähe, nach Liebe und Gehaltensein, nach Angstfreiheit und nach Besänftigung des Zerstörerischen, das ihm so oft nicht erlaubt, etwas anderes zu fühlen als nur Hass. Es ist ein verzweifeltes, hoffnungsloses Weinen. Und unter dem struppigen kleinen Waldschrat, der aus dem Giebel Donner und Blitze auf mich und den Baum schleuderte, erkenne ich ein hilfloses, sich selbst gegenüber ganz und gar wehrloses Kind. Jemand müsste ihm beistehen, der ruhiger ist und nicht so ergriffen von Wut und Verzweiflung. Behutsam löse ich seine Arme, die sich krampfhaft um den Stamm geschlungen haben, und bringe das Kind dazu, sich unter dem Baum niederzulegen. Aus der Krone ertönt noch immer das leise Lied und der Baum breitet sein Blätterkleid über das Kind, um es zu beruhigen und vor sich selbst zu schützen. 55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Es ist mein Baum und mein Kind. Ich wünschte mir zu erfahren, wie ich diesem immer wieder so verlorenen, so zerstörerischen wie zerstörten Kind besser helfen kann, als ich es bisher konnte. Diese szenische Vergegenwärtigung in der inneren Welt macht es mir leichter, die in einen Anderen hineinverlegte Feindseligkeit zu mir zurückholen. Sie zu spüren als Teil meiner selbst, ohne den Blick auf andere zu richten, weil ich Feindseligkeit anders nicht erleben kann. Wenn ich mich feindselig fühle, versuche ich mir die Gegenwart des Kindes neben mir bewusst zu machen und meine oft ungerichtete Wut ihm zuzuordnen. So bleibt sie bei mir, anstatt sich, um erlebt zu werden, ein Objekt suchen zu müssen, an das sie sich hängen kann. Auf diese Weise kann ich mich leichter mit ihr befassen, sie erst einmal anerkennen, ihre Ursachen – und die Bedingungen in der Zeit ihrer Entstehung – verstehen und sie – vielleicht – mit der Zeit besser aushalten und abmildern. In den Morgenstunden, am Ende der Nacht, in der ich den Kerninhalt dieses Textes aufschrieb, damit er mir nicht verloren ging, träume ich den folgenden Traum: Ich wandere durch eine Gerölllandschaft zwischen hohen Bergen. Es ist ein schöner, sonniger Tag, die Steine leuchten und sind ganz warm. Die Landschaft ist karg und wild, einsam und herb, aber schön, so, wie ich es liebe. Denn sie schweigt und drängt sich nicht auf. Ich stehe an einem Abhang und bin schon mehrmals eine Art Treppe hinabgestiegen, die sich aus großen, unregelmäßig geformten Felsbrocken gebildet hat. Es ging jedes Mal ohne Schwierigkeiten, langsam bin ich von Stufe zu Stufe abwärts gegangen. Aber plötzlich sind die einzelnen Stufen vor mir so hoch, dass ich sie nicht mehr bewältigen kann. Ich müsste hinunterspringen und dazu bin ich zu alt. Vor mir versperrt mir außerdem eine riesige flache Steinplatte den Weg. Ich überlege einen Augenblick. Dann hebe ich sie mit dem rechten Fuß an und schleudere sie kraftvoll und energisch zur Seite, damit der Weg wieder frei wird. Von meiner eigenen Kraft und Entschlossenheit erschreckt, bekomme ich Angst. Und im nächsten Moment bebt auch die Erde leicht und aus dem steinigen Geröllfeld vor mir steigen kleine wütende Blasen. Wie kleine Geysire sprudeln sie aus dem unruhigen Boden. Aber schnell beruhigt sich alles, und es ist wieder still und friedlich. Und auch die Treppe ist wie vorher. Begehbar. 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Ich verspürte, als ich aus dem Traum erwachte, deutliche Befriedigung. Ich hatte eine schwierige Situation überwunden und aus eigener Kraft Hindernisse beseitigt. Ich fühlte mich freudig und sicher, als ich dem Analytiker diesen Traum erzählte. Er aber, nach einigem Nachdenken, deutete ihn anders, nüchterner, bedenklicher: In diesem Traum erkenne er Allmachtsphantasien. Er erinnerte mich an mein Alter, daran, dass die Schwierigkeiten, mit Treppen fertig zu werden, real waren. Um wie viel realer mussten sie sein, wenn plötzlich Stufen doppelt so hoch waren und leichtfüßiges Überspringen nicht mehr in Frage kam. Und woher sollte die Kraft kommen, mit der ich allein mit der Spitze meines Fußes die schwere Steinplatte fortgeschleudert hatte, die in meinem Weg lag und ihn versperrte? »Alles soll so bleiben, wie es immer war«, gab er mir zu bedenken. »Es gibt keine Begrenzungen, keine Alterseinbußen, keine Hindernisse. In diesem Traum darf nichts sich verändern und Sie dazu zwingen, auf Dinge zu verzichten, die nicht mehr möglich sind, Grenzen anzuerkennen und nach anderen, weniger vergeblichen Wegen zu suchen, um zu tun, was der Tag verlangt.« Ich bin enttäuscht. Im ersten Moment scheint mir, der Analytiker habe Freude daran, meine Zuversicht in Zweifel zu ziehen und meine Hoffnungen zu erschüttern, buchstäblich zu zerstückeln, und Wut und der Wunsch, ihn anzugreifen, machen mir einen Augenblick lang zu schaffen. Aber dann gebe ich nach, sehe, wie diese Mahnung, die Realität zu beachten, in die gesamte Arbeit der vergangenen Monate hineinpasst. Ich spüre Entlastung bei dem Gedanken, die Dinge, die mich vom Alter her zunehmend einschränken, anzunehmen und mich mit Grenzen abzufinden und auszusöhnen, ohne mich allzu sehr entmutigen zu lassen. Zum Schluss bin ich dankbar für die Botschaft, die der Traum und seine Deutung mir vermitteln: Du lebst und vieles ist noch möglich, aber nicht alles. Ich empfinde die Wirklichkeitsnähe, das Tröstliche und Entlastende, das diese Botschaft enthält, indem sie mich für diesmal befreit von der Neigung zu kränkenden Vergleichen mit anderen und mich der Versuchung zum Neid, zu verkrampften Machtgesten und der Abwehr von Mangel und Schwäche enthebt, die mich vom Wirklichen entfernen, anstatt mich mit ihm auszusöhnen. »Es wäre besser, Sie blieben einmal liegen ...« Der Analytiker entgegnete mir dies, als ich ihm in einer der folgenden Stunden 57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Empfindungen der Mutlosigkeit und Vergeblichkeit bekannte, wenn es darum ging, das Aufflammen von Feindseligkeit, von Ohnmachts- und Allmachtsvorstellungen zu sehen und darauf zu vertrauen, dass sie sich bekämpfen und damit überwinden ließen. Ich hatte versucht, ihm zu vermitteln: »Ich liege auf dem Boden – allein, resigniert, wertlos, voller Hass auf mich und alle, die sich mir nähern. Neben mir eine hohe Bank, auf die ich mich immer wieder zubewege, mich an ihr hochzuziehen versuche, um endlich wieder oben zu sein – dort, wo ich mich sicher fühle, nicht schwach bin, nicht abhängig, wo ich leistungsfähig bin und andere beeindrucken kann, sodass ihre Bewunderung und ihr Neid mich nähren und absichern gegen das Erleben von Ohnmacht. Dann kann ich leben, dann wird mir nichts passieren, und alles wird sein wie immer.« Nur zögernd nahm ich wahr, wie der Kampf gegen feindselige Impulse und die darunter liegenden Gefühle von Ohnmacht und Minderwertigkeit, in den ich mich immer wieder verstrickte, eher zu einer Verdichtung von Feindseligkeit führt anstatt zu beruhigen. Von Gelassenheit und konstruktivem Umgang mit Konflikten entfernte mich dies immer mehr. Die Selbstverneinung und das Schuldgefühl, die dies nach sich zog – und meine Vergeltungsphantasien, die ich, um den letzten Rest von Selbstachtung zu schützen, in andere hineinverlegte –, durften nicht unterdrückt werden. Ich musste sie anerkennen, sie aushalten und mich ihnen in den analytischen Stunden aussetzen. Denn dort war ich nicht ungeschützt, konnte mich den schwierigen Seiten in mir zuwenden, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Im Erleben dieser Gefühle würde sich ihre ganze entwertende Macht zeigen und – langsam und schrittweise – eine paradigmatische Wendung sich anbahnen, die mich die wechselseitige Abhängigkeit von Ohnmacht und Allmacht, von Selbstverlust und seiner Abwehr durch Feindseligkeit erkennen ließ. Und vielleicht würde es dann gelingen, die einzelnen Fäden dieser unseligen Verkettung zu entwirren und die irritierenden Zuordnungen aufzulösen, die das Kind in seiner Ohnmacht vorgenommen hatte. Ich konnte mich jedoch lange nicht in dieser Weise preisgeben. Ich wäre mir entblößt vorgekommen. Jeder würde sehen, von welchen Obsessionen ich beherrscht war und wie schlecht ich sie zähmen konnte. Alles Freundliche und Zuversichtliche, so schien mir 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
in schwierigen Wochen, war im Laufe der Jahre unter dem Druck von Konflikten zerstört worden. Aber ich sehnte mich auch nach innerer Ruhe, nach Aussöhnung und Vergebung. Erst sehr spät, im vierten Jahr der Analyse, begann ich zu verstehen, dass zwischen geduldigen Bemühungen um innere Freiheit und Unabhängigkeit und meinem Leistungszwang, der panischer Abwehr von Versagensangst und Minderwertigkeit diente, ein entscheidender Unterschied bestand. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und angemessenen Schritten, ihr näher zu kommen, waren Äußerungen meines Wesens, mit denen ich einverstanden sein konnte. Ich empfand sie als zu mir gehörig. Meine Wünsche entsprangen dem Interesse an der Außenwelt, an Gespräch und Bewältigung der damit zusammenhängenden Aufgaben. Hingegen hatten die feindseligen Regungen – anderen und mir selbst gegenüber – ihre Wurzeln in der verzweifelten Abwehr von Schwäche, Begrenzung und Abhängigkeit, wie das Kind sie einst erlebte und wodurch seine Gegenwehr so verhängnisvolle Formen annahm, wo Erwachsene über seine Schutz- und Nähebedürfnisse ohne Einfühlung hinweggingen. Äußerer Anlass der Verleugnungs- und Verweigerungshaltung, die sich in Scham über meine Unbeherrschtheit, in Wut und Abbruchphantasien äußerte, war in dieser zerbrechlichen Phase eine kleine gesellschaftskritisch orientierte Arbeit zur Globalisierung und ihren Auswirkungen auf die Lebensverläufe von Menschen, die sich den Anforderungen schwer durchschaubarer Prozesse an Flexibilität, Bindungsverzicht und Veränderungsbereitschaft nicht gewachsen zeigen. Der Analytiker hatte diese Arbeit gelesen, da sie sich unter anderem auf Aspekte der Therapie bezog, und sie als einseitig und mein Denken als destruktiv bezeichnet. Ich hatte inzwischen selbst eingesehen, dass die Arbeit Mängel hatte. Das Thema betraf ein ernstes gesellschaftliches Problem, und seine Wahl hing eng mit meiner eigenen Problematik – dem Schwanken zwischen Ohnmacht und Allmacht – zusammen. Aber es geht um eine komplexe Thematik. Die Auseinandersetzung mit ihr erfordert breites Wissen, die Kenntnis unterschiedlicher Argumentationen, Sorgfalt und Abgewogenheit. Anklage, Hass auf unumkehrbar erscheinende Prozesse und pauschale Verurteilung waren ungeeignete Instrumente, um den damit zusammenhängenden Besorgnissen zu begegnen. 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Der Analytiker hatte mir sachlich zu bedenken gegeben, dass mein Denken aggressive Züge zeige und ich zu dem Thema, das mich beschäftigte, wenig Hilfreiches würde beitragen können, solange ich mir nicht der unbewussten Motive für Richtung und Inhalte meiner Begründungen bewusst geworden war. Auf dem Hintergrund unsicheren Selbstgefühls, der großen Bedeutung, die Denken und Schreiben für mich hatten, und meiner Neigung, Kritik mit Großartigkeit abzuwehren, bedeuteten seine Einwände aber intellektuelle Vernichtung. Ich war gekränkt und entmutigt, obgleich sich die kritischen Bemerkungen nicht grundsätzlich auf meine Fähigkeit zu denken und zu schreiben bezogen, sondern ausschließlich auf die für ihn hinter meinem Text erkennbare psychische Realität. Sie ließ mich auf äußere Machtfülle (hier der Globalisierung) mit Verachtung, Wut, Hass und zugleich insgeheim mit Neid reagieren – Denkweisen, die abgewogenes Urteil über erkennbare Missstände kaum erlauben. Was aber bedeutete in diesem Zusammenhang, liegen zu bleiben, wie der Analytiker es mir hatte nahe legen wollen, als ich ihm das Bild mit der hohen Bank vor Augen gestellt hatte? Seit Wochen litt ich unter dem Eindruck von Vergeblichkeit. Es wollte mir nicht gelingen, das Ruder herumzuwerfen, da ich so unerwartet wieder auf eine frühe Stufe seelischer Entwicklung zurückgekehrt war und mich kaum noch zurechtfand. Stärker als je zuvor bedrängt von feindseligen Gedanken und Impulsen auch – was ich zuvor nur selten gewagt, mir verboten hatte zu empfinden – gegenüber dem Analytiker, befand ich mich dauernd in einer latenten Panik. Sie ging einher mit Wut und Angriffslust auf der einen und heftigen Verlustängsten und Anklammerungswünschen auf der anderen Seite, die ich nur unter Mühen bezwang. Ich möchte die Erfahrung von Ohnmacht, Angst und Hass, durch die ich meinen inneren Bestand bedroht sah, mit einem Text verdeutlichen, den ich einige Zeit vor Beginn der Analyse schrieb. Er handelt von Antigone, zum Tode verurteilt und lebendig begraben, weil sie es wagte, sich gegen ihren Onkel, König Kreon, aufzulehnen. Sie ging hin und bestattete ihren im Kampf um Theben getöteten Bruder Polyneikes, obwohl Kreon dies verboten hatte: Komm, die Nacht wird kalt werden. Hier, nimm deinen Mantel, dass er dich ein wenig wärmt. 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Schon kehren die Vögel zurück in ihre Nester, in die flachen Schirme der Pinien gebaut. Wie arthritische Glieder sehr alter Frauen krümmen sich die Zweige in die Windrichtung. Ein letztes Mal, bevor der Abend hereinbricht, flattert ein Vogelschwarm auf, steigt rasch und erregt in den leeren Himmel. In großen Abständen der dumpfe Ruf einer Eule, Gefährtin aller, die keinen Schlaf finden. Mit weit nach außen gebogenen Fingern tastet die Frau sich vor in den engen, ummauerten Raum, langsam, planvoll sich fortbewegend, als wollte sie das Eingeschlossensein ihrem Körper einschreiben. Er soll sich gewöhnen, um nicht überwältigt zu werden von der andrängenden Furcht, dunkle Welle, die die Frau fortzureißen droht. Sie presst die Handwurzeln gegen die Mauern, stößt sich ab, gleitet weiter, fühlt den nackten, weißen Mörtel. Der ist noch feucht an einigen Stellen, weich und formbar. Immer wieder hält sie inne, nimmt die Hände zurück, sieht zu, wie das Blut in die von der Anstrengung weißen Knöchel schießt. Kälte lähmt die angespannten Glieder, lässt die Kräfte erlahmen. Aber bald nehmen die Hände ihre wirklichkeitsgierige Erkundung von neuem auf. Keine Täuschungen. Nicht abwenden will sie den Blick von dem, was ihr da widerfährt, will den Raum wahrnehmen, ihn ausmessen, der ihre Auslöschung, das endliche Verstummen vollenden wird. Der herbe Duft von Thymian dringt durch den schmalen Spalt, den sie ihr zum Atmen gelassen haben. Grabkammer zwischen Geröll vor den Toren der Stadt. Wenn sie sich reckt, kann sie die hellen Steine sehen, sonnenwarm, solange es Tag ist, feucht und kalt, wenn die herannahende Nacht das Leuchten der Steine löscht. Ist da noch jemand in der Nähe oder ist sie ganz allein. Schwaches Licht dringt durch den Spalt, aber das Gefühl für die Zeit hat sie verlassen. Sie weiß nicht, ist es die Morgenröte, deren Widerschein sie zu sehen vermeint, oder jenes inständige Glühen, mit dem der Tag sich seinem Ende zuneigt. Dann aber, da ein Vogel nach dem anderen verstummt, begreift sie, es ist die Stille des Abends, die sich herabsenkt auf das karge, ausgedörrte Land. Und später die lautlose Nacht, den Steinen, Pflanzen und Tieren vertraut, der Frau dort drinnen stumme Drohung, der sie 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
sich wehrlos fügt. Stunden, die unendlich langsam in die Zeit fallen. Da beginnt sich die Ordnung der Gedanken aufzulösen, und in das Bewusstsein dringt, was sich bei Tag noch abweisen ließ. Im Winkel zweier Mauern der Krug mit Wasser, den sie ihr gelassen haben, obgleich es ihnen verboten war. Schuldbewusst waren sie, wussten, dass das, was sie hier taten, gegen das Gesetz war. Aber sie waren geübt im Gehorchen, Auflehnung gehörte nicht zu ihren Pflichten. Ohne Zusammenhang, nirgends Halt, nur würgende Angst. Finger, die das Gesicht ertasten, wie schon zerbrochen die Züge, in Scherben zerfallen, notdürftig von Haut noch umschlossen. Und wieder und wieder das scharfe Einziehen der Luft, als sei die jetzt schon verbraucht. Flacher Atem, raue Stimme, kaum noch vernehmbar, als sie auf einmal aufschreit, um ein Echo zu erzwingen. Darauf warst du doch aus, Kreon, seit du mich aufnahmst in dein Haus: mich zum Schweigen zu bringen, mir meine Stimme zu entwenden. Wie ich dem Rat, liegen zu bleiben und mich dem Verlangen zu widersetzen, Macht über mich und andere zu behalten, Folge zu leisten versuchte, möge das folgende Erlebnis zeigen. Es führte aus einer tief empfundenen Erfahrung von Ohnmacht zu einer Folge von Bildern, die mich verstehen ließ, was der Analytiker mir hatte sagen wollen. Eine Freundin hatte zwei Frauen und mich zu einem Essen in ein am Rhein gelegenes Restaurant eingeladen. Es war ein warmer, leuchtender Sommerabend, wir Frauen mochten uns und fühlten uns wohl miteinander. Nur ich war empfindlich und angespannt, denn am Vormittag hatte ich die analytische Stunde gehabt mit den zuvor beschriebenen Inhalten. Im Verlauf des Abends kamen wir auf unser Lebensgefühl zu sprechen. Die Freundin, die in ihrem Leben schwere Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen, sagte, sie sei zufrieden, alles, was ihr begegne und begegnet sei, habe Sinn, sie werde immer ausgeglichener und gelassener. Und mehrfach wiederholte sie, wie alles in ihrem Leben seinen Sinn habe. In demselben Maße, in dem sie diesen Sinn vor uns ausbreitete und ihre Worte mit ausholenden Gesten, gleichsam die Welt umfassend, begleitete, fühlte ich mich einem – in meiner Wahrnehmung von außen kommenden – 62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Zerstörungsprozess ausgesetzt. Der von der neben mir sitzenden Freundin beschworene Sinn schien anzuschwellen wie eine riesige Wolke, die sich über mir zusammenzog und mir den Atem benahm. Ich fühlte mich ausgelöscht, erlebte einen fast völligen Selbstverlust. Meine innere Welt wurde dunkel, das Leben wertlos, meine Kämpfe um seelischen Bestand waren nur noch lächerlich. Ich hatte ein zurückhaltendes Verhältnis zu der Vokabel Sinn. Für mich lag der Sinn des Lebens darin, es zu leben. Ich wehrte mich gegen Überhöhung, Pathos und die Bewältigung von Verlusten mit Hilfe der Sinnmetapher. Aber in diesem Augenblick erlebte ich meine Skepsis und meine Zweifel als existentiellen Mangel, Beweis meiner Minderwertigkeit, der mich von anderen trennte. Der Abend, die vor uns liegende Landschaft erschien mir schön, nun aber schmerzhaft, verletzend schön und ohne Zusammenhang mit mir. In diesem Augenblick regte sich ein Impuls, mich durch Angriff gegen die Überflutung mit peinigenden Empfindungen zu schützen. Ich wandte mich zur Freundin und fragte sie – mit einiger Schärfe und Provokation in der Stimme: »Und ... was soll das sein, dieser Sinn?« Aber in der gleichen Sekunde erinnerte ich mich der Mahnung des Analytikers und befahl mir, nicht weiter zu gehen in dem Wunsch, die Freundin zu kränken, sondern liegen zu bleiben. Ich gehorchte und ließ es zu, dass eine gestaltlose, inhaltleere Trauer und äußerste Verwundbarkeit in mich einflossen. Und zugleich wuchs von den Rändern der Trauer her ein unbezähmbarer Hass, der die Trauer zu überfluten drohte wie die heranrollende Flut das den Schiffbrüchigen rettende und bergende Land. Die feindseligen Regungen näherten sich langsam und leise, schleichend und gemein. Sie waren hier weniger nach außen als vielmehr gegen mich selbst gerichtet, gegen meine Unfähigkeit, Sinn zu erleben, gegen meine Schwäche und Verlorenheit und auch gegen die Wärme und den lebensvollen Schutz trauriger Gefühle, die mich am Leben halten und retten, mein eigenes, in meinen Erfahrungen begründetes Empfinden bewahren wollten. Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Satz Jesu im Garten von Gethsemane: »Ich bin betrübt bis an den Tod.« Nichts hätte die Tiefe und Unausweichlichkeit meines Fühlens besser wiedergeben können als diese einfachen Worte. Und während ich noch über sie nachsann, erinnerte ich mich an einen zweiten 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Ausspruch Jesu, als er zu seinen Jüngern sagt: »Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?« Mir kam die analytische Stunde in den Sinn. Was konnte ein solcher Satz in diesem Zusammenhang bedeuten? Welche Aufgabe sollte hier dem Analytiker zukommen? Ging es mir um Halt? Dies konnte ich überzeugt verneinen. Ich hatte viel verlässlich tragenden Halt erfahren, und mir schien, es war nicht das, was ich in diesem Augenblick entbehrte. Bis zu einem gewissen Grad konnte ich mich auch schon selbst halten. Aber was bedeutete es dann zu denken, er möge mit mir wachen? Eine erste Antwort fand sich in dem folgenden Bild, das nun sehr klar auf einer inneren Leinwand erschien: Mein Körper ist eine liegende Acht. Der rechte Kreis, den Leib darstellend, ist groß und gewölbt, wie bei einer hochschwangeren Frau. Er ist bis zum Bersten mit Exkrementen angefüllt, gleicht einer dunklen, tiefen Höhle. Dort herrscht ein furchtbares Schlachtgetümmel, ein wildes Hauen und Stechen, mit Schwertern und mit Stangen, ein Blitzen von Messern, erstickendes Wüten und Toben, Geschrei und Vernichtung. Nicht schwanger bin ich mit einem schönen, gesunden, geliebten Kind, sondern mit teuflischen, unbeherrschbaren Kräften, die mich von innen her zu zerstören trachten. In dem anderen, oberen Teil der Acht, im Kopf ist es totenstill. Dieser Kopf ist im Verhältnis zu dem aufgetriebenen Bauch winzig klein. In ihm verbirgt sich das Selbst, in die äußerste Ecke gedrängt und in Verteidigungsstellung. Aber da ist ein Rest von Selbsterhaltungstrieb. Das Selbst bewahrt sich ein Verlangen zu wachsen, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den beiden Räumen der liegenden Acht, die gemeinsam einen vollständigen Körper bilden, dessen Teile jedoch in einem Missverhältnis zueinander stehen. Das Selbst hat nicht das Bedürfnis, den wütenden Teil zu verleugnen und zu verdrängen. Es möchte ihn bezähmen und ordnen und ihm furchtloser und abwartender begegnen, anstatt so überwältigt und auf seinen bloßen Kern reduziert zu werden. Aber es ist schwach und ratlos und es wünscht sich den Rückhalt des Analytikers, um zu Kräften zu kommen. Es weiß nicht, wie es das anstellen soll, und es wendet sich an den Analytiker: »Bitte helfen Sie mir, mich im rechten Augenblick gegen Zerstörung von innen und Feindseligkeit nach außen zu schützen.« 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Was trug dazu bei, dass ich mich in den folgenden Stunden aus Empfindungen von Vergeblichkeit, Verlassenheit und Abwehr herauslösen und auf eine Einsicht zu bewegen konnte, die mich dem Analytiker, dem Arbeitsprozess und dem ruhiger wahrnehmenden Ich wieder näher brachte? Ich möchte hier versuchen, die einzelnen Schritte dorthin gleichsam in Zeitlupe noch einmal zu gehen. Auf diese Weise lässt sich vielleicht zeigen, wie eine Vielzahl unterschiedlicher Bezüge nach mühevoller Arbeit plötzlich zu einem breiten Strom zusammenfließen und über einer verdunkelten inneren Landschaft, in der ich ziellos und verwirrt umherirrte, ein klares Licht aufleuchtete. Es führte die in den Gesprächen zwischen dem Analytiker und mir berührten gedanklichen Linien zu einer zusammenhängenden Sicht zusammen, sodass ich ihre Inhalte verstehen und in mich aufnehmen konnte. In der nächsten Stunde berichtete ich dem Analytiker von meiner Zusammenkunft mit den Frauen, meinem feindseligen inneren Erleben, der Abwehr gegenüber den Sinn-Erfahrungen der Freundin und von der Erinnerung an die Worte Jesu im Garten von Gethsemane. Er äußerte die Vermutung, heftiger Neid auf das gute und versöhnliche Lebensgefühl der Freundin müsse letzten Endes die tiefste Ursache des gesamten Erlebens gewesen sein. Nicht eine Absicht der Freundin, mich zu kränken und sich über mich zu erheben – also nicht jene Wolke aus Sinn, die mir den Atem benommen und durch die ich mich vernichtet gefühlt hatte – habe den inneren Zusammenbruch verursacht. Vielmehr hätten feindselige Impulse in meinem Inneren das Gute in der Freundin vernichten wollen. Eigene Not, Minderwertigkeit und Erfahrungen des Ausgeschlossenseins hätten es mir nicht erlaubt, mich einzufühlen und, wenn schon nicht ähnlich zu empfinden, der Freundin doch ihre Zufriedenheit und Ausgeglichenheit nach der Überwindung verstörender Erfahrungen zu lassen. Der Betrübnis bis an den Tod, wie ich sie am nächsten Tag in Identifikation mit der Verzweiflung Jesu in Gethsemane empfunden hatte, lagen Gefühle der Minderwertigkeit zugrunde, erwachsen aus dem Vergleich mit einer Fähigkeit, die die Freundin in meinen Augen gleichsam erhöhte, während ich meine Unfähigkeit, Sinn zu erfahren, als existentiellen Mangel erlebte, der unter Strafe 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
zu stellen war. Sinn zu erfahren war unzweifelhaft etwas moralisch Wertvolles, und da ich diese Erfahrung nicht nachvollziehen konnte, musste ich wertlos sein. Das Kind in mir sah keine Möglichkeit, sich anders als selbstzerstörerisch oder feindselig aufzulehnen gegen diejenigen, die ihm mächtiger und bedeutender vorkommen, mehr zu wissen und zu können scheinen, über mehr Möglichkeiten verfügen als es selbst in seiner Schwäche, Abhängigkeit und seinem Anderssein. Und solange ich mich danach sehnte, die vermeintliche Übermacht eines Anderen mit dem Versuch zu beantworten, meinerseits Macht über ihn zu gewinnen, um das innere Gleichgewicht wiederherzustellen, verstrickte ich mich in einen hoffnungslosen Kampf. Sehnsucht nach Trost, Verständnis, nach eigenem Nachgeben und sich Anvertrauen ringen dann mit dem Verlangen, das machtvolle, als triumphierend und kalt erlebte Objekt zu besiegen, es zu verhöhnen und anzugreifen. Ich wollte seine vermeintliche Allmacht und Großartigkeit zerstören, um die Bedrohung durch Ohnmachtsgefühle im eigenen Inneren abzuwehren. Auf diese von eigenen frühen Erfahrungen geprägte Weise sah ich auch Jesus mit seinem Vater ringen. Auf der Couch liegend, gab ich meinem Hass endlich Ausdruck. Dem Hass auf den Vatergott, der sein Kind umbringen ließ, seine eigenen schmerzlichen Gefühle beiseite schiebend. Ich glaubte ihm seine Trauer nicht, vermochte mir keine sinnvollen Gründe vorstellen, die einen Vater bewogen haben könnten, seinen Sohn ermorden zu lassen. Ich hasste diesen Gott in seiner Vermessenheit, die Schuld der ganzen Menschheit tilgen zu wollen, indem er seinen Sohn hingab. Lehnte mich auf gegen die anmaßenden Machtgesten, die Verfügungsgewalt über andere nach seinem Willen. Wehrte mich dagegen, dass er es für sein Recht hielt, ohne Einspruch von außen, ohne den geringsten Zweifel an der Berechtigung seines Vorgehens sein Kind dem Tod zu überantworten, anstatt es in die Arme zu nehmen und zu trösten. Der Analytiker in seinem Sessel hinter mir schwieg lange, ein ruhiges, Raum gebendes Schweigen, während ich auf der Couch lag, zornig und erregt gegen den Wunsch ankämpfend aufzuspringen, mich umzudrehen und ihm meinen Hass entgegenzuschleudern – voller Aufbegehren gegen die Mächtigen, voller Selbsthass ob meiner Ohnmacht und zugleich voller Sehnsucht, widerlegt zu 66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
werden, nachzugeben und zu vertrauen, lieben zu dürfen. Und es entspann sich der folgende Dialog: Analytiker: Ich denke gerade daran, dass Jesus zum Schluss in Gethsemane zu Gott sagt: »Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.« Patientin: Ah ja, sich beugen, sich unterwerfen ... Neulich haben Sie noch kritisch angemerkt, dass ich mich einer herrschsüchtigen Freundin gegenüber, die mich gekränkt hatte, zu Unterwerfungsgesten bereitgefunden hatte ...« Analytiker (ruhig und einfühlsam): »Gott hat damals das Liebste hingegeben, was er hatte ...« Patientin (bissig, voller Spott und Hohn angesichts der Vorstellung, Gott habe Liebe und Schmerz empfunden, vielleicht sogar Unsicherheit, Gewissensbisse und Schuld wegen seines Tuns): »Ach, und was ist mit den Gefühlen des Sohnes, den er umbringen lässt?« Analytiker (ruhig): »Das ist ein Angriff!« Patientin: »Ja!« Dieses Ja, die Bestätigung meines Angriffs, war begleitet von nachhaltiger Befriedigung, Triumph – und großem Erstaunen –, dass ich es gewagt hatte, dem Analytiker zu widersprechen, obwohl er doch gesagt hatte, dass ein Vater sein Kind lieben könne, auch wenn er ihm Lasten und Nöte auferlege. Dass dieser Gott-Vater menschliche Züge annehme, sich spürbar zuwende, Schmerz empfinde, sich vielleicht auch voller Zweifel fühle und dennoch seinen Einsichten und Absichten folgen müsse. So hatte ich meine Kindheit und die Menschen, die mich erzogen, nicht oft erlebt. Eigene seelische Konflikte hatten sie daran gehindert, sich ihren Kindern offen zuzuwenden. Und auch die späteren Lehrer in den Schulen der Nachkriegszeit hatten sich den ihnen anvertrauten Kindern nicht in der Weise zuwenden können, wie diese es gebraucht hätten. So aber hatte ich den Analytiker erfahren. Und als ich in diesen schwierigen Wochen, da Wut und Aufbegehren sich noch so viel nachdrücklicher offenbarten, als ich es in meinem ersten Bericht beschrieben hatte, mit Abbruchphantasien kämpfte, war es das beobachtende Ich, das mir entgegentrat: »Und dann«, so hatte es spöttisch gefragt«, was soll dann werden? Die mühevolle Arbeit zweier Menschen entwerten und vernichten? Den Analytiker bestrafen?« 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Dieser Stimme habe ich mich beugen können. In der letzten Frage dieser mein Denken und Tun beobachtenden inneren Instanz lag der Keim der Erkenntnis, was ich dem Analytiker verdankte an Wissen, Geduld und Verständnis und wie viel Dankbarkeit ich ihm entgegenbrachte. Dankbarkeit entstand vor allem dann, wenn ich mich entgrenzt fühlte und unbewusst nach Begrenzung verlangte, sie mir aber zunächst nicht anders als streng, beschämend und ohne Einfühlung in mein Empfinden vorstellen konnte. Aber die Grenzen, die die analytischen Einreden und Klarstellungen aufrichteten, erlebte ich bald als ordnend, als Halt gebend und Angst mindernd. Wie ein solches Eingreifen des Analytikers aussehen konnte und wie rasch und sicher es mich in kritischen Augenblicken erreichte, möge hier anhand eines Erlebnisses aus der Frühzeit der Therapie anschaulich werden. Es hatte – wenn auch in milderer Form als in späteren Phasen, noch eher spielerisch – bereits damals Aufbegehren und Angriffslust zum Inhalt. Es passt zu der hier abgehandelten Thematik und beeindruckt mich, so oft ich mich daran erinnere: Ich hatte zum ersten Mal vorsichtig Ärger auf den Analytiker geäußert. Er hatte das ruhig aufgenommen, ich fühlte mich irgendwie ermutigt, wollte die neue Erfahrung, ohne größere Ängste über meinen Ärger gesprochen zu haben, wohl noch ein wenig auskosten und sagte schließlich: »Ich könnte ja zum Beispiel jetzt diese Lampe hier nehmen und ...« Da ertönte hinter mir ein leises, warnendes: »Vorsicht!« Augenblicklich lenkte ich ein, betroffen und ein wenig erschrocken. Ich war der Grenzüberschreitung innegeworden, die in diesem leichtsinnigen Spiel mit dem Feuer gelegen hatte. Das Kind probierte Grenzen aus, löckte wider den Stachel, versuchte herauszufinden, wie weit es gehen könnte. Als Erwachsene, die ich Grenzen seit langem verinnerlicht haben sollte, beging ich eine Grenzüberschreitung, ließ mich von unkontrollierten – und überdies unbegründeten – aggressiven Phantasien leiten, die, umgesetzt in Handlung, eine reife Beziehung beschädigen müssten. Durch die rechtzeitige, warnende Intervention des Analytikers erfuhren sowohl der unter dem Druck seiner Störung stehende Erwachsene wie das Kind, das herauszufinden suchte, wie weit es gehen könnte, wirksamen, weil deutlich grenzziehenden Schutz. In mir bewirkte dies nachhaltige Gefühle der Dankbarkeit für eine 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Erfahrung, die ich in dieser Form nicht kannte, nach der ich mich jedoch unbewusst gesehnt haben muss. Ich konnte mich unmittelbar einfühlen in den Analytiker und seine berechtigte Warnung, fühlte Zuneigung, Respekt und den Wunsch, ihm rücksichtsvoll zu begegnen. Ich habe gewalttätige Impulse dieser Art in der Realität nicht oft oder bin zumindest nur in sehr kränkenden und angsterregenden Situationen versucht, sie auszuagieren. Aber wenn ich den Vorgängen im Inneren aufmerksam folge, dann weiß ich, sie sind vorhanden und wirksam, oft nur mühsam gebändigt von Erziehung und Moral. Ein solches intuitiv im richtigen Moment erfolgendes therapeutisches Eingreifen setzte nachholend eine Grenze, die eine besonders empfindliche und gefährdete Stelle, eine Art Riss in mir schließen half. Es hätte mir in meinen ersten Lebensjahren sehr geholfen, hätte ich Grenzen auf diese feste und bestimmte, aber nicht beschämende oder meine Gefühle übergehende Art erfahren. An dieser vernachlässigten und geschwächten Stelle in der seelischen Struktur fühlte ich mich auch später immer wieder ungeschützt, weil ich wichtige Erfahrungen nicht machen und sie daher auch nicht verinnerlichen konnte. Ich vernahm die in dem Wort Vorsicht enthaltene leise, auch in diesem kritischen Augenblick noch an die Einsicht des Kindes appellierende Warnung wie eine Botschaft, auf die ich lange hatte warten müssen. Sie vermittelte mir ein Bild von der Beziehung zwischen mir und einem Anderen, die durchaus hierarchisch angelegt sein konnte, die ich aber in ihren Äußerungsformen als achtungsvoll und unterstützend erlebte. Es waren solche Momente, die mich mit Dankbarkeit erfüllten und in mir den Wunsch entstehen ließen, gute Erfahrungen zurückzugeben, indem ich auf unangemessene Regungen in meinem Verhalten, die mir Konflikte einbringen konnten, aufmerksamer achtete. Es ist ein ungewöhnliches Angebot, das ein Analytiker seinen Patienten macht, indem er seine Person zur Verfügung stellt und es erlaubt, dass sich die Stürme der Konflikte an ihm brechen, verstehbar werden und in jenen Zustand inneren Friedens übergehen, der sich immer wieder auch in mir ausbreitete.
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Zum Vorwurf der Entwertung analytischer Arbeit während destruktiver Phasen Ich möchte im Zusammenhang mit dem Vorigen, bevor ich diese Thematik weiter verfolge, auf das Problem der Entwertung des Analytikers und seines therapeutischen Vorgehens eingehen. Als ich zwischen den Stunden über meine Assoziation zu den Worten Jesu nachdachte, die Jünger mögen eine Stunde mit ihm wachen, und feststellte, dass ich mir offenbar das Gleiche vom Analytiker wünschte, habe ich mich gefragt, was diesem Wunsch zugrunde liegen mochte. Ich befand mich in einer mit feindseligen Gefühlen aufgeladenen Periode analytischen Arbeitens und fühlte mich hilflos, vereinsamt und wertlos. Zwischen dem Analytiker und mir schien sich durch eigenes Versagen, durch meine Unfähigkeit, in dieser Phase Nähe zu erleben, eine unheilvolle Leere, ein nicht überschreitbarer Abstand zu öffnen, die in meiner Wahrnehmung die Arbeit in den Stunden belasteten. Veröffentlichungen zufolge, die ich in dieser Zeit las, besteht in solchen Phasen die Gefahr, dass der Patient die Arbeit des Analytikers zu entwerten sucht, indem er seine Arbeitsweise angreift, mit Abbruch droht, die Ergebnisse bisheriger therapeutischer Mühen leugnet und in seinem Verhalten bekundet, dass es ihm besonders schlecht gehe und die Besserung im Befinden eine Illusion sein müsse. Ich brachte dem analytischen Prozess tiefes Interesse und Vertrauen entgegen und hatte mich der therapeutischen Führung im vollen Bewusstsein des Könnens des Analytikers, seines Interesses und seiner Einfühlung stets überlassen. Deshalb habe ich die an Patienten gerichtete Zuweisung von Entwertungstendenzen als ängstigend und verstörend erlebt. Ich möchte mich mit einem solchen Verdacht daher hier kritisch auseinandersetzen. Als Laie habe ich keine Erfahrungen, die es mir erlauben, die verschiedenen Formen des Widerstands im Verhalten von Menschen mit frühen Störungen, wie sie auch bei mir diagnostiziert wurden, zu übersehen und zu beurteilen. Insofern kann ich nicht mit Überzeugung sagen, dass ich mich selbst stets zutreffend sehen und einschätzen kann. Ich habe mich jedoch in Phasen schwierigen Arbeitens im Wesentlichen anders erlebt. Der Vorwurf der 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Entwertung, der mir in den Kommentaren manchmal einen Unterton von Anklage und depressiv getönter Kritik am Patienten zu enthalten schien, hat mich – obwohl ich ihn vom Gesamtgeschehen in solchen Phasen her verstehe – betroffen gemacht. Auch ich habe dem Analytiker gegenüber, wenn innere und nach außen gerichtete feindselige Regungen mich im Griff hatten, Abbruchphantasien geäußert – wenn auch, wie ich glaube, sehr selten. Aber, soweit ich ausreichenden Einblick in meine innere Welt beanspruchen kann, beruhten derartige Äußerungen – oder eher Andeutungen – stets auf einem unaufhebbar erscheinenden Gefühl von Wertlosigkeit und Verächtlichkeit gegenüber mir selbst, und ich habe sie, wenn ich darüber sprach, mit Bedacht als Phantasien nicht nur bezeichnet, sondern sie auch so erlebt. Sie hatten Inhalte, die ich als fremd und nicht zu mir gehörig empfand. Indem ich über Abbruch sprach, wollte ich einem phantasierten Abbruch seitens des Analytikers zuvorkommen, den ich erwartete, weil ich mich als schlecht, wert- und erfolglos in der seelischen Veränderung empfand und eine Fortsetzung der Arbeit nicht mehr zu verdienen glaubte. Häufig überfiel mich dann auch eine lähmende seelische Müdigkeit, fast eine Art Todessehnsucht, deren Inhalt vor allem in einem Gefühl von Vergeblichkeit bestand, meine Konflikte verstehen und lösen oder doch langfristig mildern zu können. In der Realität wäre ich zu allen Zeiten außerstande gewesen, die analytische Arbeit, deren Wirkungen tief in mich eindrangen, vor dem Zeitpunkt zu beenden, zu dem der Analytiker und ich gemeinsam übereinkommen würden, dass sie beendet werden könne und auch beendet werden sollte. Da mir Vergleichsmöglichkeiten und klinisches Wissen fehlen, kann ich mich hier nicht mit der Frage befassen, inwieweit der geäußerte Vorwurf im Einzelfall zutreffen könnte. Ich möchte mich darauf beschränken, auf die verunsichernden Gefühle, die mich selbst in solchen Phasen bedrängten, detaillierter einzugehen. Vielleicht kann dies den Einblick in die Vorgänge im Inneren eines Patienten erweitern und den Vorwurf der Entwertung ein wenig entschärfen oder auch nur anders gewichten. In destruktiven Phasen sah ich mich als Objekt eines mir unüberwindlich erscheinenden Widerstands, dessen Ursachen dunkel blieben, der aber einen hoffnungslosen Zustand von Stillstand 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
erzwang und die bisherigen Besserungen im Befinden – klärende Einsichten, erweiterte Handlungsfreiheit und eine Zunahme an Daseinsfreude und Zuversicht – zunichte zu machen, mithin die bisherige Arbeit des Therapeuten tatsächlich zu entwerten schien. Ich erlebte diesen Widerstand, als wohne in mir eine fremde Person, gegen deren feindselige Attacken ich nichts ausrichten konnte. Sie hielt mich mit eiserner Faust von jedem vertrauenden, nachgiebigen Schritt zurück und beraubte mich der Möglichkeit, mich in meiner Verstörung mitzuteilen. Dennoch überwogen insgesamt andere Empfindungen: Gerade das Bewusstsein, kontinuierliche Fortschritte erlebt und mich entwickelt zu haben, führte angesichts des vermeintlichen Stillstands zu Verzweiflung, Mutlosigkeit und Scham und dem Gefühl, die zuverlässige Gegenwart, Aufmerksamkeit und Geduld des Analytikers nicht zu verdienen. Ich empfand mich wie ein Auto, das trotz ernsthafter Anstrengungen nicht mehr anspringen will. Ich konnte tun, was ich wollte, es ging nicht weiter. Denken und Fühlen gingen ihre eigenen, scheinbar ungerichteten Wege und legten das Ich, vor allem den Beobachter in mir, weitgehend lahm. Der Analytiker schien, je länger eine solche Phase dauerte, zurückzuweichen, und alle Anstrengungen, die Verbindung zu ihm wiederherzustellen, erwiesen sich als vergeblich. In dieser Situation entstanden Angst und Schuldgefühle angesichts des Verrats, den ich an seiner Arbeit zu begehen glaubte, und Verzweiflung, ein wütendes Rütteln an der eigenen unumkehrbar erscheinenden inneren Verstummung, einer Art – vielleicht durch die feindseligen Gefühle verursachten – Paralyse aller kognitiven und auch aller dem Therapeuten zugewandten affektiven Regungen. Gleichwohl war ich mir auf dem Grund der Seele eines auf eine hellere Zukunft gerichteten und haltenden Impulses – manchmal vage, manchmal deutlicher, immer aber sehnsuchtsvoll – bewusst. Möglicherweise kann ein solcher Impuls von der behandelnden Seite aus nicht ausreichend wahrgenommen werden, weil der Patient sich aus tiefer Resignation vorübergehend abgewandt hat. Ich befand mich aber, trotz meiner unzugänglichen Verfassung und wachsender Panik, in einem angespannten Erwartungszustand, hoffte und wartete, dass die in den Jahren analytischen Arbeitens entstandene zuversichtliche Verfassung sich wieder einstellte. Aber vor allem wartete ich auf mich selbst. In Erinnerung 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
an die Überwindung früherer Hürden mit Hilfe des Analytikers sah ich den Vorgängen in meinem Inneren zu und wartete auf eine Antwort aus meiner inneren Welt. Dabei wusste ich, dass ich das Bemühen um Ordnung und Klarheit, mit dem die Seele beschäftigt war, nicht beeinflussen noch beschleunigen konnte. Wie ein Kind war ich vollauf von dem mühevollen, stockenden Entziffern eines schwierigen, dunklen Textes in mir in Anspruch genommen, das alle Energien band. Dies zwang mich, mich zurückzuziehen und abzukapseln, obwohl mich dies von dem Analytiker zeitweilig trennte. Die Fragen, die meinen Entzifferungsversuchen zugrunde lagen, lauteten etwa so: »Warum ist plötzlich soviel Dunkelheit in mir und Tod? Gibt es keine Brücke mehr zum Anderen? Wird jemand da sein, der mich hält? Wer seid ihr, die ihr mich bedrängt? Warum zerstört ihr mich und macht, dass ich andere zerstören will? Wie kann ich euch begegnen, euch bändigen und mich behaupten? Den Totalangriff im Inneren abwenden, indem ich mit euch spreche, anstatt mich euren feindseligen Absichten zu unterwerfen? Wie kann ich eure Macht brechen? Kann ich etwas tun, um euch zu beruhigen?« Und vielleicht sollte ich hinzusetzen: »Jemand soll kommen und mich in den Arm nehmen …« Zugleich lag meiner scheinbaren Abwendung, meinen Angriffen und der heftigen Gegenwehr auf eine verquere Art ein verzweifeltes Beziehungsverlangen, vielleicht sogar ein Beziehungsangebot zugrunde. Nur konnte ich es in anderer Form jetzt nicht äußern. Das Kind in mir fühlte sich schuldig und verworfen, seiner buchstäblich nicht mächtig und damit beschäftigt, bedrängt von den Wogen feindseliger Angriffe in seinem Inneren, halbwegs an Deck zu bleiben. Ich habe in solchen Phasen weder den Analytiker noch den bisherigen Erfolg der Therapie anzweifeln wollen. Vielmehr arbeitete es in mir mit aller Kraft, deren ich fähig war. Ich benötigte Geduld, Vertrauen und Zuversicht und nicht den Vorwurf, dass ich entwertete und es an Dankbarkeit fehlen ließ. Allerdings haben meine Erfahrungen in solchen kritischen Phasen mich – auch wenn ich es mir manchmal anders gewünscht habe – davon überzeugt, dass es mir gut tat und mich verlässlich stützte, dass der Therapeut seine ruhige Zurückhaltung nicht aufgab und nicht der Versuchung erlag, mir mit mehr Empathie entgegenzukommen, als ich sie ohnehin immer erfuhr. Denn es war 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
diese Zurückhaltung, die den Raum anbot und sicherte, in dem ich mich bewegen, zu mir und zur Besinnung kommen konnte. Sie stellte gleichsam die Wand dar, gegen die ich schlug, die mich hielt und vor innerem Zerfall bewahrte und mich, wenn auch kaum bewusst, darauf vertrauen ließ, sie möge ihrerseits standhalten und nicht zerbrechen. Auch wenn es lange Zeit nicht so aussah, strebte ich eine Überwindung des inneren Aufruhrs an. Dazu benötigte ich offenbar den seelischen Druck, den mir diese schwierige Erfahrung, durch die ich ging, und die Angst, der Analytiker werde sich seinerseits abwenden, auferlegte. Dieser Druck hielt den angespannten Erwartungszustand und die damit verbundene Anstrengung, mir über den inneren Zustand klar zu werden, so lange aufrecht, bis sich die Verdunkelung allmählich aufhob und einer Einsicht wich. Um dies zu verdeutlichen, gebe ich hier eine Szene wieder aus einer Phase der therapeutischen Arbeit, in der ich alles als zerbrechlich erlebte und mich bedroht durch den Analytiker wie durch mich selbst wähnte. Ich kam in die Stunde, bereit zu arbeiten und mich mit meinen Konflikten auseinanderzusetzen, zugleich aber auch ängstlich, verunsichert, mich schuldig fühlend und vergleichsweise hoffnungslos. Der Analytiker, sonst herzlich, warm und ermutigend, begrüßte mich merklich kühl und distanziert, ohne den Anflug eines Lächelns. Augenblicklich kochte in mir Wut hoch. Es gelang mir aber, sie zu beherrschen, ich legte mich auf die Couch und die Stunde nahm einen normal ruhigen Verlauf, sodass sich meine Wut unter dem Eindruck der Nähe des Analytikers und des gemeinsamen Arbeitens ein wenig beruhigte. Nach der Stunde verabschiedeten wir uns freundlicher, aber immer noch mit einer gewissen Distanz, die mir wehtat, die ich aber hinnahm und die mir auf den Nachhauseweg in Form von Scham, Traurigkeit und innerer Einsamkeit noch sehr zu schaffen machte. Die Zurückhaltung des Analytikers hatte Wut erzeugt, aber auch einen Ring von Kälte um mich gelegt. Während ich auf die Couch zuging und mich hinlegte, fühlte ich mich wie eine Verurteilte, verlassen, wie geschlagen, verdunkelt, böse und wertlos. Hinzu kamen eine peinigende Selbstverachtung und Körperscham, da ich wegen sichtbar zunehmender Alterserscheinungen manchmal ohnehin mit Scham und Ablehnung meiner selbst zu kämpfen 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
hatte. Zugleich aber wurde ich eines verzweifelten Verlangens gewahr: Ich wollte das Lächeln, die entspannte Freundlichkeit des Analytikers wiederhaben, sein Interesse an der gemeinsamen Arbeit, das vermeintlich verloren gegangen war, die Zuversicht, die diese immer wieder in mir auslösen konnte. Ich wollte – mit anderen, mit den Worten des Kindes – wieder gut sein, damit auch er wieder gut wäre und mich annähme. Wäre er mir in diesen Augenblicken mit gewohnter Herzlichkeit und Offenheit anstatt mit dieser leisen, aber deutlich spürbaren Distanz begegnet, hätte ich ihn nicht wahrnehmen können als jemanden, den ich verletzen konnte. So aber stellte sich – über meine Sehnsucht nach wieder gut sein – eine Verbindung her zwischen meinem Verhalten und dessen Wirkung auf ihn. Ich empfand Trauer über das, was ich ihm zufügte, und ein Verlangen, nachzugeben und mich anzuvertrauen mit dem, wie mir wirklich zumute war: traurig, wütend, hilflos, sehnsüchtig und zutiefst abhängig und ratlos. Ich hatte über die Empfindungen, die seine scheinbare Abwendung in mir ausgelöst hatte, nicht sprechen können, hatte sie – in dem Bemühen, an Deck zu bleiben – buchstäblich heruntergeschluckt. Erst viel später sah ich, dass ich die durch die kühle Begrüßung in mir ausgelöste Selbstverachtung in ihn hineinverlegt und alle verächtlichen Gefühle als von ihm ausgehend erlebt hatte, die ich mir selbst entgegenbrachte. Da konnte ich die auf ihn übertragenen Gefühle zu mir zurücknehmen und mich bereit finden, mich den zugrunde liegenden tiefen Gefühlen von Vereinsamung und Minderwertigkeit zuzuwenden. In krisenhaften Situationen der Therapie war ich in diesem Sinne ganz besonders darauf angewiesen, den Analytiker als authentisch – das heißt, als glaubhaft und vertrauenswürdig in seinen unmittelbaren Reaktionen – zu erleben, auch dann, wenn sie Distanz ausdrückten. Nur so konnte ich den gefährdeten Rest von Vertrauen aufrechterhalten und mich nach wie vor an ihm orientieren. Immer kam dann ein Moment, da ich mir der Übertragung bewusst wurde und es für möglich hielt, dass ich in ihn Gefühle hineinverlegte, die mich selbst erfüllten und die ich nicht wahrzunehmen wagte. Die dann einsetzende Entlastung besteht – neben dem inneren Frieden, der sich einstellt – in der wachsenden Fähigkeit, den Therapeuten als durch Feindseligkeit verletzbaren Anderen wahrzunehmen, von dem nicht erwartet werden kann, dass er stets 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
vorbehaltlos zugänglich bleibt, unabhängig davon, wie der Patient sich verhält. Aber zugleich erlebte ich erleichtert und dankbar, wie der durch feindselige Gefühle gleichsam gestaute analytische Prozess sich wieder öffnete, sich Verhärtungen auflösten und dies den Blick auf bedeutsame, ganz neue Fragen freigab, denen wir uns nun gemeinsam zuwenden konnten. Hier ging es dann vielleicht um das, was ich im Sinn hatte, wenn ich mir – in Analogie zu der Verzweiflung Jesu im Garten von Gethsemane – wünschte, der Analytiker möge trotz allem mit mir wachen: eine nicht strafende, nicht an mir zweifelnde Begleitung, ein Vertrauen, dass ich meine innere Arbeit fortsetzte, auch wenn es über weite Strecken so aussah, als hätte ich mich aufgegeben und wolle die Schuld an der schmerzlich empfundenen Blockierung seinen unzureichenden Fähigkeiten zuschreiben. In solchen Phasen hatte ich Angst, das Arbeitsbündnis würde zerbrechen oder aufgekündigt. Denn auch das beobachtende Ich in mir war in die Irritationen zwischen dem Analytiker und mir einbezogen und konnte seine kritische Funktion nur noch bedingt wahrnehmen. Vielleicht wird die Entstehung von Entwertungstendenzen immer dann begünstigt, wenn ein Patient sich in diesen verletzlichen Phasen des analytischen Prozesses kein sicheres Gefühl mehr bewahren kann, vom Analytiker trotz der Spannungen verstanden zu werden in seiner fortdauernden Bereitschaft, sich den Vorgängen in seinem Inneren von neuem zuzuwenden, sobald es ihm wieder möglich ist und er endlich eine Sprache findet für das, was ihn verstört. Die mir stets bewusste Folie in Perioden, in denen Feindseligkeit vorherrschte, war das Wissen um die Fähigkeit und Bereitschaft des Analytikers, da zu sein, mich notfalls zu halten und mich nicht zu verwerfen – auch wenn dieses Wissen manchmal gefährdet schien und ich mich nur unter Mühen innerlich darauf beziehen konnte. Ich litt dann unter dem Eindruck zu versagen bei der mutigen Überwindung von Widerständen und den Versuchen, auch jetzt brauchbares Material aus meinem Inneren herauszubefördern, damit es analytisch betrachtet werden konnte – Material, das ich nicht verstand, das mir in diesen Phasen der Therapie fremd und feindlich begegnete und das ich – da es aus früher, vor76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
sprachlicher Zeit herrührte – auch kaum in Worten, allenfalls in Bildern vermitteln konnte. Vielleicht ist aber auch dies für einen erfahrenen Analytiker schon Material, das es ihm ermöglicht, den Wald im Auge zu behalten, den der Patient vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Ich habe mich in besonders lang andauernden Phasen von Zerstörungswut als Zumutung erlebt und habe dies dem Analytiker auch bekannt, als wir uns für diesmal durch die Konflikte hindurchgearbeitet hatten. »Warum als Zumutung?«, wollte er daraufhin wissen. Anstatt meine Empfindungen näher zu definieren, entschied ich mich, ihm den Weg, den ich im Zusammenhang mit diesen Konflikten zwischen den Stunden zurückgelegt hatte, in Bildern und Dialogen zu beschreiben. Diesem Vorgehen folge ich auch auf den folgenden Seiten. Im Tunnel Das letzte ruhevolle und tröstliche Bild, an das ich mich vor meinem Eintauchen in die Dunkelheit feindseliger Regungen noch erinnern konnte, war das des imaginären Flurs und des einander verbundenen analytischen Elternpaares, das freundlich auf das vor ihm stehende Kind schaut und ihm das Gefühl vermittelt, alles sei gut. Diese Szene hatte mir die Getrenntheit zwischen Eltern und Kind bewusst gemacht, ohne dass dies schmerzliche oder neidische und räuberische Impulse ausgelöst hatte. Nach dieser das Aufbegehren des Kindes beruhigenden Erfahrung geriet ich unerwartet in nachhaltige Bedrängnis. Vor sehr langer Zeit, als mir Wirkungsweise und Möglichkeiten analytischen Arbeitens erst langsam aufzugehen begannen, hatte der Analytiker, vielleicht um mich einzustimmen, geäußert, die Reise, die wir uns anschickten zu unternehmen, könne irgendwann zu einer Höllenfahrt werden. Damals hatte ich ihm nur zugestimmt und leise geantwortet: »Ich weiß ...« Jetzt schien es soweit zu sein, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Es war der im Zusammenhang mit meinem Aufsatz zu den Folgen der Globalisierung ausgesprochene Satz des Analytikers, ich könne zwar denken, aber mein Denken sei destruktiv, der Vernichtungsgefühle ausgelöst und mich in diese schwierige Periode 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
feindseliger Angriffe im Inneren – gegen mich selbst – und nach außen getrieben hatte. Blind vor Gekränktheit sah ich nicht, dass es um einen Aspekt des Denkens ging, der zu verändern wäre, wenn ich anerkannte, wie ich noch immer befangen war in einer Abwehrhaltung vor allem als Folge von Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühlen. Ich hatte, als der Kritik über bestimmte Aspekte des Aufsatzes analytisch Ausdruck gegeben wurde, dies als Kritik an meiner gesamten Person und meinen intellektuellen Fähigkeiten erlebt und beschrieb es ihm in einer Stunde so: »Mir war, als schalteten Sie mit Ihren Worten das Licht aus und alles war in tiefe Dunkelheit getaucht. In diesen letzten Wochen bin ich durch einen langen, dunklen Tunnel gegangen, ohne dass ich ein Ende hätte absehen können. Obgleich das beobachtende Ich sich noch aufrecht hielt, ich nachzudenken und zu träumen imstande war, empfand ich mich als in meiner Substanz vernichtet – böse und hasserfüllt, ohne gute Eigenschaften, an die ich mich hätte halten können, nichts wert, ohne Bedeutung, ein Niemand. Ich konnte weder Sie noch mich selbst deutlich wahrnehmen. Ich wanderte durch den Tunnel, tagelang, blindlings auf alles einschlagend, vor allem auf Sie und auf mich selbst. Aber ich nahm die Wut an, entzog mich nicht, lebte sie auf meinem Weg durch den Tunnel aus. Und erst ganz zum Schluss, als ich aufzutauchen versuchte, mich vage daran erinnernd, wie viele Menschen in meiner Umgebung mir Freundlichkeit und Nähe entgegenbringen und mit mir umgehen möchten, empfand ich zum ersten Mal etwas, das mich berührte wie eine Aufhebung der schmerzlichen Spaltung zwischen Gut und Böse. Sie hatte mich von mir getrennt gehalten, ließ mich entweder nur dunkel und zerstörerisch sein oder nur ruhig und verdächtig friedfertig, weil ohne jedes Erinnern an die eigene Feindseligkeit. Nie umschloss mein Wesen beides, sodass freundlichere Empfindungen sich ausgleichend auf die Feindseligkeit, die ich mir selbst und anderen entgegenbrachte, hätten auswirken können. Niemals mehr will ich durch einen solchen Tunnel von Zerstörungslust gehen.« Nach längerem Schweigen die ruhige Frage des Analytikers: Analytiker: »Warum wollen Sie nicht noch einmal durch den Tunnel gehen?« Patientin: »Ich fürchte diese tödliche innere Dunkelheit, will sie nicht noch einmal durchleben.« 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Analytiker: »Wir können der Destruktivität in uns nicht ausweichen. Nur wenn wir immer wieder durch diesen Tunnel gehen, unserer Zerstörungslust gewahr werden und sie annehmen, verlieren Neid, Wut, Hass und Angst mit der Zeit ihre überwältigende Bedrohlichkeit. Nur wenn wir sie wahrnehmen als Teil des Selbst, können sie sich beruhigen, und es wird gelingen, gewalttätige Regungen besser zu handhaben.« Diese gelassen klärenden Worte durchdrangen die Schichten von Abwehr und Selbstverteidigung, die das seelische Zentrum in mir schützen sollten, und ich konnte spüren, wie sehr ich Beruhigung des inneren Tobens ersehnte anstatt der Verleugnung dessen, was mich in jedem Augenblick mit seinen gewaltigen Kräften überfallen und wehrlos machen konnte. Wenig später erweiterte sich diese erlösende Erfahrung jedoch noch um einige weitere Aspekte. Sie führten in das Zentrum der Kränkung, die ich durch die Einwände des Analytikers erlebt hatte, und schlossen diesen gesamten Vorgang auf eine erhellende und das Verstehen fördernde Weise ab: Obwohl mir früh selbst bewusst geworden war, dass jener Text in den wesentlichen Aspekten einer Kritik nicht standhalten würde, saß der Einwand gegen ihn in mir wie ein schmerzender Stachel, dessen augenscheinliche Tiefenwirkung ich jedoch offenbar noch nicht verstanden hatte. Als ich mich den inneren Vorgängen, die sich um diese Situation bewegten, schreibend zuwandte, dachte ich auch über die analytische Beziehung nach, genauer, über die Bereiche, in denen sich die Arbeit bewegte, und die Bedeutung, die die im analytischen Dialog jeweilig angesprochenen Themen für mein eigenes Nachdenken im Laufe der Zeit gewonnen hatten. Insgesamt fühlte ich mich auf vielen unterschiedlichen Ebenen, die in den Stunden berührt wurden, verstanden. Meine eigene Beteiligung an der gemeinsamen Arbeit wurde auf eine Weise gelenkt, dass ich mich frei bewegen konnte und wesentliche Konflikte zur Sprache kamen. In frustrierenden Phasen versuchte ich durchzuhalten, und Konflikte wurden mit erheblichem Erkenntnisgewinn durchgearbeitet. Während schwieriger Wegstrecken fassten Deutungen und Kommentierungen des Analytikers immer wieder die in mir eher verstreuten, bruchstückhaften Einsichten einleuchtend zusammen, und an Stelle inneren Gespaltenseins baute sich eine Art seelischer Mitte auf, von der ich ausgehen konnte. 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Dem fraglichen Aufsatz lag aber – abgesehen von meinem eigenen echten Interesse an der Lage überforderter und scheiternder Menschen im Rahmen globaler Prozesse – offenbar eine Motivation zugrunde, die mir bis dahin nicht zugänglich geworden war: Ich wollte aus der Verarbeitung persönlich-biographischer Not einmal ausbrechen – und damit auch aus der anstrengenden Konfrontation mit mir in der Analyse – und mich auf das Feld gesellschaftlicher Analyse begeben, um meinen Wahrnehmungshorizont zu erweitern. Das wäre an sich nicht schon bedenklich, ein solcher Wunsch ließe sich vielleicht noch im Sinne erwachenden Strebens nach Verselbständigung verstehen. Doch wie in jenen russischen Holzpuppen, in denen man, nimmt man sie auseinander, immer wieder auf kleinere Puppen trifft, bis man endlich die innerste Puppe in der Hand hat, lag unter diesem Wunsch ein neues Begehren verborgen: Ich wollte mit dem Analytiker konkurrieren, verlangte danach, es ihm intellektuell gleichzutun. Die jahrelange Erfahrung, dass ich zwar dem analytischen Prozess gut folgen und meinen Beitrag leisten konnte, aber doch immer wieder das überlegene Wissen und die erstaunliche Einfühlung des Therapeuten in die eigentlichen, mir oft nicht bewussten Inhalte meiner Gedankengänge erkennen und anerkennen musste, war manchmal frustrierend. Ich erlebte mein durch innere Impulse oft eingeschränktes, unscharfes Denken als schmerzlichen Mangel, und Scham und Aufbegehren waren häufige Begleiter. Unbewusst muss ich mich nach Aufhebung der oft quälenden Asymmetrie gesehnt haben, die zwischen ihm und mir naturgemäß bestand. Als ich nun seiner Kritik zu begegnen suchte, indem ich meine Lektüre erweiterte mit der Absicht, die Arbeit umzuschreiben und (trotzig) doch noch einen Text zu verfassen, der einer Überprüfung standhalten würde, sah ich, dass das nicht leicht sein würde. Ich hatte mich inzwischen mit den Arbeiten von Richard Sennett (1998/2008; 2002/2007) beschäftigt. Dort werden berechtigte Bedenken hinsichtlich bestimmter durch Globalisierung und Modernisierung bedingter problematischer Entwicklungen gelassen und sorgsam entfaltet und begründet und vorsichtig Alternativen entwickelt, die auf jahrelanger wissenschaftlicher Durchdringung dieser wichtigen, aber auch komplexen Thematik beruhen. Die Erkenntnisse, die sich für mich durch diesen mühevollen, mich zeitweise beschämenden, bald aber eher entlastenden Gedan80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
kengang ergaben, führten – zu Ende gedacht und ohne innere Gegenwehr aufgenommen – zu deutlicher Erleichterung, einem Nachlassen der seelischen Spannung und zu einer Zustimmung auch zu mir selbst, wie sie Einsicht in die Realität der Dinge hervorrufen kann: Ich anerkannte einen Unterschied zwischen dem Analytiker und mir und fühlte mich bereichert, weil ich mit jemandem arbeiten durfte, von dem ich so Vieles lernen konnte. Als in der Folge dieser Einsicht die Gekränktheit sich auflöste, lösten sich auch Unterlegenheitsgefühle, Neid und aggressive Konkurrenzwünsche auf. Stattdessen bekam ich wieder Kontakt mit meinem eigenen Selbstwertempfinden und verließ mich mit neuer Freude auf die Arbeit an dem, was ich in den Grenzen eigener Begabungen und angesichts abnehmender Kräfte durch das Alter auch weiterhin würde entwickeln können. Dazu gehörte die Niederschrift dessen, was in den Stunden geschah und wie ich es erlebte. Hier hielt ich mich ganz an meine eigene innere Erfahrung, verzichtete bewusst darauf, auf theoretisch-fachliche Aspekte Bezug zu nehmen, und verpflichtete mich zu Aufrichtigkeit in der Argumentation da, wo mir solche Bezüge, soweit ich sie in der Therapie kennen gelernt hatte, nicht entgingen und ich sie auch verstanden hatte, sie mir aber im erweiterten analytischen Kontext und in ihrer vollen klinischen Bedeutung letztlich nicht zugänglich sein konnten. Viele Monate später geschah, was dieser Episode, meinem Ausflug in einen eher unvertrauten Teil der intellektuellen Welt, abschließende Bedeutung verlieh: In einem Buch, das ich las, fand sich eine mit einem längeren Text beschriebene Seite als Lesezeichen. Ich entfaltete das Papier, überflog den Inhalt und registrierte, dass es die alte, mit Korrekturen versehene Seite eines Manuskripts sein musste. Ich las den Text aufmerksamer durch, es ging um Kritik an bestimmten Seiten der Globalisierung, und die Diktion erschien mir befremdlich vorwurfsvoll, im Ton stellenweise schneidend scharf und verurteilend. Erst nach mehrmaligem Durchlesen dämmerte mir langsam, dass es sich um eine Seite aus dem Manuskript der vom Analytiker kritisierten Arbeit zur Globalisierung handelte. Das Bewusstsein hatte es vorgezogen, den Text, obgleich er mir vage bekannt schien, nicht zu erkennen, weil ich die feindselige, anklagende Stimmung und die entsprechende Sprache, die mir da entgegentraten, am liebsten verleugnet hätte. Denn jetzt, da 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ich Inhalt und Ausdrucksweise aus zeitlichem Abstand wahrnahm, beschämte mich beides in seiner Einseitigkeit. Sichtlich erleichtert berichtete ich dem Analytiker in der folgenden Stunde von diesem Intermezzo und bekannte voller Überzeugung: »Sie hatten Recht. Es ist ein einseitig anklagender Text.« Geben, Annehmen, Unterscheiden Ein zweites Bild, dem Analytiker nach den Gesprächen über den Tunnel vor Augen gestellt, um ihm die Inhalte der Selbstbefragungen zwischen den Stunden zu vermitteln, hatte eine mich nachhaltig entlastende, ordnende Wirkung in meinem unmittelbaren Verhältnis zu ihm. Einige Wochen zuvor hatte er mir erzählt, dass er Großvater geworden sei und von seinem neugeborenen Enkel gesagt: »... er trinkt und trinkt und trinkt ...« Mich berührten die offensichtlichen Gefühle von Freude, Stolz, Staunen und Bewunderung, die diese Worte begleiteten. Ich konnte mich einfühlen in diese Empfindungen, hatte ich doch selbst Enkel und erinnerte mich an die erste glückliche Zeit im Zusammenhang mit der Geburt meiner beiden Kinder. Als ich aber nun, noch befangen in der Erinnerung an meine gewalttätigen Phantasien im Tunnel, die mich so sehr entfernt hatten vom Analytiker und von mir selbst, noch einmal an diese Worte zurückdachte, erschienen sie mir wie ein Sesam öffne dich. Die seelische Verdunklung hob sich auf, und ich sah die Dinge in einem neuen Licht: »Sie haben von Ihrem Enkel gesprochen, von seinem Trinken, dem Empfangen der Nahrung, die die Brust für ihn bereithält. Und als ich in diesen Tagen über meine innere Lage nachdachte und nach Wegen suchte, aus der Dunkelheit aufzutauchen und mich an den analytischen Prozess wieder anzuschließen, da kam mir zum Bewusstsein, dass auch ich das hier getan habe. Ich habe getrunken und getrunken und getrunken. Sie haben gegeben, und ich habe nehmen dürfen. Und bis heute habe ich gedacht, ich muss dies alles zurückgeben, indem ich mich anstrenge und Leistung zeige. Aber dies dachte ich nicht in erster Linie, weil ich Ihre Arbeit anerkannte. Sondern ich war neidisch auf Ihre Macht und Ihre Fähigkeiten, ja, auf Ihr ganzes Wesen, das im Anderen soviel Zuneigung 82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
hervorruft. Ich wollte ein Stück eigener Macht und eigenen Wertes dagegensetzen, wollte das Ungleichgewicht mildern, die schmerzlich empfundene Abhängigkeit. Aber jetzt weiß ich, Sie geben, weil Sie etwas haben, das ich nicht habe. Ich kann nur empfangen, und das Einzige, das mir zu tun bleibt, ist, was ich empfange, zu verarbeiten, es zu »verdauen«, es in mich aufzunehmen.« Übertragen in meine konfliktreiche Welt bedeutete dies: Stärke und Überfluss sind in diesem Augenblick beim Anderen, ich darf mich ausliefern, mich zeigen, wie ich bin, mit Mängeln und Schwächen, ohne Bewertung und Ausschluss fürchten zu müssen. Ich kann, was ich im Anderen als Fülle erlebe, annehmen. Und in diesem Annehmen, diesem wachsenden Gefühl von Geordnetheit und Dankbarkeit besteht vielleicht die Gegengabe, eine gute Spiegelung dessen, was mir zuteil geworden ist. Als ich diesen Gedanken zu Ende dachte, rückten in meiner Vorstellung der Analytiker und ich auseinander, und zwischen ihm und mir öffnete sich ein Zwischenraum, in dem ich mich nicht mehr überwältigt von Furcht, Scham, Selbsthass und Unterlegenheit bewegte. Ich fühlte mich getragen von einem neuen Verständnis für Andersartigkeit und von der Klarheit, die sich einstellte, wenn ich Unterschiede anerkannte, anstatt sie leugnen und einebnen zu wollen. Diese Entwicklung in der analytischen Beziehung erfüllte mich mit Dankbarkeit und Achtung, mehr und bewusster, als es die gemeinsame Arbeit ohnehin immer begleitet hatte. Und zugleich entstand eine vorsichtige Ahnung, mehr Frage als schon Überzeugung, auch ich sei vielleicht ein eigenständiger Mensch mit Eigenschaften, die sich von den bewunderten und neidvoll ersehnten des Analytikers unterschieden und dennoch wertvoll waren und mich vollständig sein ließen. Sie würden es mir vielleicht erlauben, mich in die Gemeinschaft anderer Menschen wieder einzugliedern, aus der ich mich als herausgefallen erlebte, und mich wohl zu fühlen anstatt abgelehnt, zurückgewiesen oder überfordert. In diesen wenigen entscheidenden Augenblicken wurde die vorbehaltlose Anerkennung des Anderen als eines eigenen Selbst zu einer ersten vorsichtigen Erfahrung guter Getrenntheit. In dem gleichen Maße, wie der Analytiker jenseits des zwischen ihm und mir entstandenen Zwischenraumes frei blieb von meinen Übertragungen, bildete sich auch in mir die Vorstellung eines Selbst aus 83 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
mit eigener Fülle und eigener Kontur, ohne dass dieser Vorgang – letztlich eine Vorform von Trennung – von Verlustgefühlen begleitet war. Es war, als gehe ein Aufatmen durch mich hindurch, als erkenne ich in der Person des Analytikers und in mir selbst zum ersten Mal zwei voneinander unabhängige Menschen mit je eigenen Eigenschaften. Dieses Aufatmen galt sowohl ihm wie mir, als sei das gegenseitige Verhältnis endlich aus schmerzlicher und hemmender Verwirrung und hoffnungsloser Verklammerung eingemündet in einen Augenblick der Gegenseitigkeit und die Ahnung innerer Freiheit. Die Wahrnehmung von Zwischenraum und Abstand, von Zweiheit und Anderssein schließt ambivalente Gefühle und Grenzverlust im Sinne einer zeitweiligen Auflösung von Ich-Grenzen vielleicht ebenso wenig aus wie ein sich langsam festigendes Bewusstsein für Unterscheidung. Aber der in zwischenmenschlichen Verhältnissen immer gegenwärtige Zweifel am Denken und Tun des jeweils Anderen, die damit verbundene gegenseitige Verunsicherung und die Anstrengung, auf einer anderen Ebene zu neuer Verständigung zu finden, wirkten sich aus auf meine Art, andere Menschen und meine Beziehung zu ihnen zu erleben. Es waren nicht mehr überwiegend Kriterien von Oben und Unten, nicht Machtausübung und wechselseitige Unterdrückung, die meine Wahrnehmung bestimmten. Vielmehr nahm ich die eigene und die Position des Anderen wahr – und versuchte, sie auszuhalten – als die Haltungen getrennter Individuen. Und manchmal entwickelte sich dann trotz des Abstands, der sich in der Verschiedenartigkeit öffnet, eine Form gegenseitiger Achtung, die die Wahrnehmung von Ungleichheit einschloss, ohne diese um jeden Preis einebnen zu müssen. Es blieb für mich schwierig, dies anzunehmen und in wechselnden Situationen durchzuhalten. Aber Austausch und wechselseitige Anerkennung wurden möglich anstatt des Verlangens, Sieger zu bleiben und den Anderen symbolisch zu töten, um den eigenen Bestand zu sichern.
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Das Verschwinden des Wirklichen im sprachlichen Akt Einen Augenblick möchte ich hier innehalten in dem Versuch, die inneren Bewegungen zu schildern, die darauf gerichtet sind, den Zwischenraum zwischen anderen und mir wahrzunehmen und anzuerkennen. Mich beschäftigt ein Aspekt der therapeutischen Arbeit, bei dem es im Kern um die Frage geht, was erreicht werden kann und wo ich mich mit dem Erreichten begnügen muss, ohne in dieser Begrenzung ein Scheitern zu sehen oder Wesentliches als noch unbearbeitet zu erkennen. Im Alter stellt sich diese Frage mit besonderer Schärfe, weil nicht zu übersehen ist, wie die innere Bereitschaft zur Veränderung an seelische und körperliche Barrieren stößt, die einem alten Menschen vielleicht unübersteigbare Grenzen setzen. Als der therapeutische Prozess sich gut entwickelte, habe ich eine besondere Art von Glück erlebt, wie es mit zunehmendem Verständnis für Zusammenhänge und wachsender Fähigkeit, zu Einsichten zu gelangen, wohl immer verbunden ist. Zu Beginn ist dies mit großen Hoffnungen auf ein konfliktfreieres Leben aufgeladen, und Hoffnung auf Veränderung und Interesse an den hinter dem analytischen Vorgehen stehenden Überlegungen tragen die gesamte Arbeit. Die Wochen, in denen ich – im dritten Jahr der Analyse – den ersten Teil meines Berichts niederschrieb, hatte ich als nachhaltig befriedigend erfahren. Mit eigenen Worten hatte ich nachzuvollziehen versucht, was sich in den Stunden ereignete und welche Interventionen des Analytikers – in Form von Deutungen, Klärungen und Reaktionen auf mein Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich – die Klarheit bewirkten, die ich zunehmend empfand. Ich hatte den ersten Teil meines Berichts begonnen in der Absicht, die in gemeinsamer Arbeit gewonnenen Erfahrungen in Worte zu fassen, um sie nicht wieder zu verlieren, und dem Analytiker zu zeigen, dass ich seine Deutungen aufgenommen und verarbeitet hatte. Aber im Verlauf der Niederschrift schrieb ich mich dann zunehmend frei. Eigene Möglichkeiten begannen sich zu entfalten und manchmal ging ich in der nachträglichen Verarbeitung schon eigene Wege – immer jedoch in enger Anlehnung an das, was in den Stunden Gegenstand der Gespräche gewesen war. 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Aber nun, am Übergang aus dem Rückzugsraum in den Versuch, die Berührung mit der Außenwelt wieder aktiv aufzunehmen, gebe ich einem Verlangen nach, das sich nicht mehr abweisen lässt: einem Zweifel zu folgen, der sich immer nachdrücklicher meldet, und seiner Bedeutung für die Sicht auf den analytischen Prozess und für den Übergang in einen Alltag ohne therapeutische Begleitung nachzugehen. Ich folge damit einem Verfahren, dessen Bedeutung als Instrument konstruktiver Auseinandersetzung mit anderen, aber vor allem auch mit sich selbst sich mir erst anhand einer Veröffentlichung des Analytikers erschloss. In dieser Arbeit (Hemmer, 2007, S. 102 ff.) ist auf den Zweifel Bezug genommen als ein Instrument des Denkens und des Dialogs, mit dessen Hilfe sich eigene wie Möglichkeiten und Grenzen des Anderen ausloten lassen. Im wechselseitigen Argumentieren und Infragestellen vergewissern sich Menschen ihrer Überzeugungen und nehmen zugleich den Anderen deutlicher und zutreffender wahr. Zum ersten Mal machte ich mir Gedanken darüber, was es für mein persönliches Leben bedeuten könnte, furchtlos und ohne feindselige Hintergedanken zu zweifeln. Mit Erstaunen erkannte ich im Zweifel – vor dem ich, wenn er mir selbst galt, immer Angst gehabt hatte – eine schöpferische Möglichkeit der Nähe – zum Anderen und zu mir selbst. Denn hinter seiner scheinbar verneinenden Funktion entdeckte ich die an einen Anderen und seine Sache gerichtete interessierte Frage. Damit wurde der Zweifel zu einem Kernstück der Verständigung. Entgegen meinen bisherigen Überzeugungen – und oft auch entgegen meinen Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen – ging es darin nicht um Machtfragen, und zu zweifeln bedeutete nicht, die Überzeugungen anderer anzugreifen, abzuwerten, zu vernichten. Vielmehr wird ein wohlwollend-kritisches gegenseitiges Hinterfragen der Argumente möglich. Eigenes wie fremdes Denken gewinnen in der gegenseitigen Befragung an Überzeugungskraft und bewegen sich auf neue Verständnisebenen zu. Mein Verlangen, einen Zweifel einzuführen, galt allerdings nicht einem gedachten Anderen, sondern mir selbst. Denn das zuvor Gesagte lässt sich übertragen auf die Verständigungsprozesse zwischen den widerstreitenden Stimmen in der eigenen inneren Erfahrung. 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Mein spezifischer Zweifel ergab sich aus der wiederholten Lektüre des ersten Berichts. Mir wurde deutlich, wie nachhaltig ich von dem Erleben des analytischen Prozesses geprägt, eigentlich überwältigt worden bin. Inzwischen führt dies zu einer Gegenbewegung, die sich nicht gegen das Überwältigtsein selbst richtet, sondern der Gefahr zu begegnen sucht, in dieser Überwältigung, diesem enthusiastischen Eingenommensein von dem analytischen Vorgehen und seiner großen Reichweite am Ende steckenzubleiben. Es geht – um einen anderen vom Analytiker in der zuvor genannten Arbeit verwendeten Begriff zu übernehmen – um Zerstückelung, die Rücknahme überhöhender Identifizierung, um die Zerschlagung ihrer beglückenden und zugleich überwältigenden Macht, damit der Kern des analytischen Prozesses in der Ernüchterung bewahrt und im nicht mehr analytisch begleiteten Leben fruchtbar bleiben kann. Es ist die – manchmal beunruhigende – Stärke der Identifizierung, die mich nach dieser Ernüchterung verlangen lässt, nach einem Zunehmen kritischer Impulse im Sinne von Unterscheidung, Abweichung und Ergänzung aus den Quellen persönlichen Erlebens. Zusätzlich zu dem mir in der Therapie zugewachsenen Wissen öffneten sie vielleicht einen Denkraum, in dem das Erlebte auf eigene Weise verarbeitet und der inneren Erfahrung eingefügt werden kann. Mir scheint, als könne erst dies den großen inneren Reichtum, der mir in diesen Jahren zugewachsen ist, lebendig werden und mich gleichzeitig dauerhaft ankommen lassen in einer Ernüchterung, die sich aus der Beschneidung von Allmachts- und Größenvorstellungen durch den Analytiker, aus der nicht mehr so verzweifelt abgewehrten Einsicht in Schwächen und Mängel und aus dem Bewusstsein grundsätzlicher menschlicher Begrenzungen und Bedingtheiten ergibt. Angesichts des Schwankens zwischen Hoffnung und Befürchtung, das ich von Zeit zu Zeit erlebe zwischen Gestern und Morgen, Vergangenheit und Zukunft, analytischer Arbeit und dem Übergang in die letzte Phase des Lebens, ist mir eine Eigenschaft von Sprache deutlich geworden, die der Zweifel mich hat erkennen lassen und der er gelten soll: Die neuerliche Lektüre einzelner Passagen des früheren Berichts zeigt mir, dass Einsichten und ihre einleuchtende sprachliche Dar87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
stellung nicht schon mit einem sich darauf berufenden angemessenen Handeln gleichgesetzt werden können. Zwischen Einsicht und Handeln besteht ohnehin – und beim Patienten als einem Menschen, der nicht auf eine organische innere Entwicklung zurückblicken kann, ganz besonders – ein Bruch, ein großer, von mir mitunter als unüberbrückbar erlebter, schmerzhaft empfundener Abstand. In dem durch diesen Abstand gekennzeichneten Raum zwischen Einsicht und Handeln entfalteten sich die Symptome auch meiner Konflikte, indem sie störend, verzerrend oder verhindernd in die sinnvolle Abfolge von Schritten eingriffen, die Einsichten mit entsprechendem Handeln verbinden. Die Sprache, wo sie Erkenntnisse, Folgerungen und daraus abgeleitete Ziele beschreibt und damit zugleich festlegt, verführt leicht zu der täuschenden Annahme, sie selbst sei schon die Brücke, die Einsicht und Handeln verlässlich zusammenführte. Aber als Instrument der Symbolbildung steht sie noch ganz an der Seite der Einsichten, möchte diese zu fassen bekommen, ihnen eine mitteilbare Form geben, sie vor dem Zurückgleiten in das Unbewusste retten. Zur Verringerung des Abstands trägt sie allenfalls die Absicht bei, ihn zu überwinden, den Versuch einer Annäherung immer wieder neu zu unternehmen. Einer ihrer wichtigsten Funktionen folgend, formuliert sie Vorstellungen, benennt Voraussetzungen und skizziert Zusammenhänge. Aber zugleich täuscht sie eine verführerisch einleuchtende Folgerichtigkeit vor, die die Möglichkeit, dass Handeln auch scheitern könnte, ausblendet. So bleibt die für das Gelingen des therapeutischen Prozesses entscheidende Frage, ob Einsichten und das, was Sprache in Handlung zu überführen sucht, adäquate Umsetzung erfahren und in die seelische Struktur Eingang finden, auch im Fall durchdachter und überzeugend formulierter Vorstellungen vorerst offen. Zudem gehen Versuche, Gedankengänge in die symbolhaltigen Formen von Sprache einzubetten, nicht allein, vielleicht nicht einmal in erster Linie auf die sachliche Begründung zurück, Überlegungen sprachlich zu verdichten und so zum Verständnis ihres Inhalts beizutragen. Denn wenn ich mich nach Gründen für das Verlangen fragte, Gedanken zur Sprache zu bringen, dann spürte ich, wie der Impuls, Welt zu beschreiben, einem Begehren entspringt, begleitet ist von Lustempfindungen und einem unwiderstehlichen Drang, sich der Dinge und ihrer Inhalte mittels der 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Sprache zu bemächtigen. Wünsche, Antriebe, Vorstellungen und innere Bilder fließen ein in den sprachlichen Akt, umkreisen Bedeutungen und gehen in ihren lustvoll assoziativen Bewegungen oft weit über das hinaus, was sich im Handeln als durchaus nüchterner, als widerstands- und durchhaltefähiger, zielgerichteter Impuls erweisen muss. Im Sprachakt geraten Einsichten zu kunstvollen Gebilden des Intellekts und laden dazu ein, sich an ihnen zu berauschen. Einsichten können darin eine Tiefe und eine Schönheit gewinnen, die begehrenswert und erreichbar erscheinen lassen, was – nüchtern betrachtet – im Hinblick auf das Handeln zunächst vor allem Härte bedeutet, Selbsterkenntnis, Kraft und Ausdauer verlangt und das Scheitern als Möglichkeit einschließt. Und selbst da, wo ich die Schwierigkeiten des Zugangs zu Konflikten voraussah, mich mit ihnen auseinandersetzte und daraus wirklichkeitsnahe Lösungsansätze abzuleiten versuchte, war es vor allem die schlüssige sprachliche Form, die mich mühelos überzeugte, auf dem richtigen Weg zu sein und tun zu können, was ich tun wollte. Aber der passende Ausdruck, das genaue Wort, der vorausgehende Überlegungen schlüssig abrundende Satz setzen sich in ihrer einleuchtenden Folgerichtigkeit hinweg über den zwischen Erkennen und Handeln bestehenden Abstand und können so verschleiern, dass das Bemühen um Veränderung auch zum Scheitern verurteilt sein kann. Wie ich mir bald mit aller Konsequenz klar machte, kann Sprache also kaum mehr leisten als Absichten zu formulieren, sie zu begründen, Vorbedingungen zu benennen. Sie ordnete Gedankengänge und setzte sie zueinander in Beziehung. Darin lag ihre wesentliche Aufgabe und Bedeutung für die Überwindung des Abstands zwischen Einsicht und Handeln. In ihr spiegelten sich die Bewegungen meines Denkens und – wenn ich genauer hinsah – deren Begrenztheit. Und nicht immer war es mir möglich, an den Stellen im analytischen Prozess, an denen ich glaubte, etwas verstanden zu haben und es klar formulieren zu können, mich mit Hilfe des Zweifels einer kritischen Selbstbefragung auszusetzen. Um zurückzukehren zum analytischen Prozess und meiner skeptischen Betrachtung des ersten Berichts: Die scheinbare Vollständigkeit und Überzeugungskraft von Gedankengängen in einem solchen Text und die darauf beruhenden Handlungsentwürfe können die fortgesetzte Selbstvergewisserung über konfliktreiche 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
innere Impulse und ihre Spiegelungen im Verhalten nicht ersetzen. Und wo ich später in Gefahr käme, trotz eindringlicher analytischer Arbeit die Eigenwilligkeit, die nicht an reife Moralvorstellungen und Ordnungen gebundene archaische Kraft unbewusster Impulse noch immer zu verkennen, könnten Einsichten ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben. Der Zweifel, dem ich nachgehe, soll also mir selbst gelten, meiner spezifischen Art, den analytischen Prozess zu erleben und von ihm zu erzählen. Denn dem vorübergehenden Wohnen und Aufgehen in der analytischen Situation wohnt auch eine Gefahrenseite inne. Sie liegt in der Überhöhung der Möglichkeiten, sich zu verändern, in der kindlichen Neigung, die Grenzen, die einer Veränderung durch genetische Faktoren, neuronale Prägungen und Einbußen im Alter gesetzt sind, mit einem Federstrich beiseite zu wischen und sich noch einmal alles zuzutrauen – mithin in einer partiellen Auferstehung überwunden geglaubter Allmachtsphantasien. Mit Hilfe des Zweifels, der dem Analytiker dazu diente, in dem, was ich ihm erzählte, die Widersprüche und unbewussten Impulse aufzuspüren und auf den Prüfstand zu stellen, erfuhren solche Phantasien Korrektur und Eingrenzung, ohne mich dem anderen Extrem, Gefühlen von Ohnmacht und Wertlosigkeit, von neuem auszuliefern. Mit der Zeit trocknet dieser sich wiederholende Vorgang die Neigung zu Großartigkeit aus, und die Wirklichkeit mit ihren realen, auf Arbeiten und Geduld beruhenden Belohnungen kann an ihre Stelle treten. Ich habe hier eine Seite der Sprache zu schildern versucht, die Fallen bereitstellt gerade im Hinblick auf das, was vielleicht am häufigsten – vielfach unbewusst, öfter noch in voller Absicht – verletzt und missachtet wird: das Bemühen um die Wahrhaftigkeit des Sprechens, die beruht auf einer Übereinstimmung von Empfinden, Erkennen und Ausdruck. Der Analytiker und ich selbst mussten einer nicht immer leicht aufzuspürenden Gefahr Aufmerksamkeit schenken. Sie ging von mir als Patientin aus, die ich Einsichten zu formulieren versuchte, um sie halten zu können, und bezog sich auf die der Sprache innewohnende Fähigkeit, unliebsame Fragen und Zusammenhänge zu verschleiern und Ambivalenz, Nichtwissen und Unordnung in einleuchtenden Formulierungen zu glätten und darin scheinbar aufzuheben. 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Wenn ich aber – vor allem, wo ich mich entmutigt fühle – die Texte, denen einerseits mein Zweifel gilt, lese und wieder lese, wird andererseits eine andere, hoffnungsvollere Seite der Sprache sichtbar. Sie setzt meinen Zweifeln die ruhige Stimme des Analytikers entgegen. Die Stimme ruft mir in Erinnerung zurück, was ich gewollt hatte. Während ich ihr zuhöre, gehe ich noch einmal die Möglichkeiten durch, die sich als gangbar erwiesen und herausführten aus dem verzweifelten Ungenügen an mir selbst und anderen. In den das analytische Arbeiten begleitenden Erzählungen hielt die Sprache Einsichten fest und umschrieb die vielfältigen Wege, die dorthin geführt hatten. Auf diese Weise habe ich die Stimme des Analytikers verinnerlichen können. Seine wirkliche – die lenkende und deutende – Stimme, gleichsam die äußere Stimme, konnte zuweilen schonungslos sein, um mich zu erreichen und Selbsttäuschungen, die sich dann auch in meinem Sprechen zeigten, offenzulegen. Aber sie gab Halt und mahnte zur Geduld, wo verletzliche Empfindungen und schmerzhafte Zusammenhänge berührt wurden, die der Behutsamkeit bedurften, um ausgehalten zu werden. Die verinnerlichte Stimme spricht anders zu mir, sie konzentriert sich auf Ermutigen und Erinnern. Herausgelöst aus der realen therapeutischen Situation, wird sie zu einer Stimme, die die Klärungen und Einsichten wiederholt und erneuert und die Erinnerung stützt an das, worüber in den Stunden nachgedacht worden war. Sie spricht gelassen und freundlich und ohne jedes Drängen. Sie hilft mir, im Wiederlesen des Geschriebenen die korrigierenden Wege, die wir gegangen waren, nachzuvollziehen und sie in Gedanken ein weiteres Mal zu gehen. Immer wieder belebt sie die Hoffnung, die kränkenden Erlebnisse, die sich der inneren Erfahrung vor langer Zeit einschrieben, seien wirksam mit etwas Neuem, zuverlässig Haltgebendem überschrieben worden. So ist diese Stimme zugleich Gegenstimme zu den verächtlichen, entwertenden Bekundungen in meiner inneren Welt, die nie ganz zum Schweigen zu bringen sind. Sie bringt Gefühle von Vergeblichkeit und Hoffnung immer wieder in ein Gleichgewicht, erinnert mich an die Wärme der Stunden, in denen die Welt mir freundlich und zuversichtlich erschien und ich von diesen Gefühlen erfüllt war, ohne Zuversicht herbeireden zu müssen, um nicht aufzugeben. 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
So ist mit Hilfe der Sprache eine Stimme auf mich übergegangen, die, wäre sie immer schon Organ meiner inneren Welt gewesen, sich den strengen Bewertungen hätte entgegenstellen können, die mich so oft einengen und seelisch in Schach halten: eine entlastende, beruhigende Stimme, die mir bedeutet, die menschlichen Kräfte seien begrenzt und es genüge, auf mich und meinen Umgang mit anderen zu achten und mich um das zu bemühen, was das gemeinsame Nachdenken mich hatte verstehen lassen.
92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Der Schatten des Ideals Die Sommerferien nahten – und damit die Analyseferien. In diesem Jahr waren die Stunden seltener und jeweils weniger lang durch Ferienzeiten unterbrochen worden, und auch diese Ferien würden kürzer sein als in den vergangenen Sommern. In mir hatte sich ein verlässliches Gefühl von Kontinuität entwickelt. Ich hatte heftige und belastende Konflikte durcharbeiten und Wissen ansammeln können um die für mich und oft auch für andere problematischen Seiten in mir und Wege, sie zu verändern. Seit dem vergangenen Herbst war der Analytiker fast immer da gewesen. Dies hatte mir Halt gegeben, während ich mich mit belastenden äußeren und inneren Konflikten auseinanderzusetzen hatte gegenüber Menschen, von denen ich mich bedrängt fühlte und gegen die ich mich nicht abgrenzen konnte. So glaubte ich, ihn mit Ruhe und Verständnis für seine eigenen Bedürfnisse nach Abstand und Erholung gehen lassen zu können. Aber diese Hoffnung bewegte sich – ungeachtet der Tatsache, dass ich die Ferien meist in innerer Ruhe, wenn auch dann stets mit Vorfreude auf den Wiederbeginn der Stunden erlebt hatte – nur auf der Erwachsenenebene. Die Empfindungen auf der frühen Entwicklungsebene, zu der ich in den letzten Monaten – so unerwartet und in ihren Inhalten so befremdlich – zurückgekehrt war, vermochte ich nicht zur Kenntnis zu nehmen. Beim Abschied blieben sie verdeckt unter einem dunklen Tuch, das ich nicht zu heben wagte, um nicht sehen zu müssen, was sich darunter verbarg. Ich spürte den Abschied scheinbar kaum oder doch nur, dass ich etwas hinunterschluckte. Ich wollte nicht wissen, was ich da in das Unbewusste zurückschob in dem gleichen Moment, da ich es als aufkeimendes Gefühl hätte annehmen und festhalten können. Ich hatte den Analytiker gehen zu lassen. Nichts hätte bewirkt, ihn zu halten. Ich war machtlos und musste mich fügen. Und ich tat dies, indem ich mich abwandte und mich auf dem Nachhauseweg dazu zwang, die Gedanken auf meine eigenen Dinge zu richten. Das, was ich wirklich empfand, hätte ich noch nicht zugeben und aushalten können, ohne den Analytiker im Augenblick des Abschieds anzugreifen oder mich gegen mich selbst zu wenden. Und beides konnte ich mir angesichts der dreiwöchigen Sommerpause nicht leisten, ohne Gefühlen der Vernichtung ausgesetzt zu sein. 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Die Ferien gingen zu Ende, und die Stunden wurden wieder aufgenommen. Zu Anfang flammte noch einmal kurz die Angst auf vor weiteren Erfahrungen mit einem Analytiker, der mir kühl und distanziert begegnen würde. Auch fürchtete ich mich vor meinen – noch nicht voll wahrgenommenen – Wünschen, ihm Gleichgültigkeit vorzuwerfen und mich meinerseits kühl und gelassen zu geben. Aber das wollte mir ohnehin nicht gelingen, denn jede Stunde erlebte ich wie einen Hafen, den ich dankbar ansteuerte, um sprechen zu können, Nähe zu spüren, mich sicher und gegenwärtig zu fühlen. Ich dachte viel darüber nach, wie mit diesen neuen Erfahrungen umzugehen sei, fragte mich, was sie im Kontext des therapeutischen Prozesses bedeuteten. Manchmal versuchte ich es mit Anpassung, mit dem Versuch, mich gehorsam zu zeigen, meine Unabhängigkeitswünsche – die ich als solche noch gar nicht wahrnahm – einzugrenzen und sie den Allmachtsfiktionen zuzuordnen, die ich ablegen wollte. Ich konnte nichts mehr unterscheiden, sah keine Richtung. Es blieb nur, dem Analytiker meine Wahrnehmungen mitzuteilen und zu hoffen, er werde sehen, was ich nicht sah. Andererseits sehnte ich mich danach, mich in Gegenwart des unfehlbar erscheinenden Ideals mutig und diskussionsbereit zu äußern und mich der Kritik durch ihn auszusetzen, ohne zu verstummen aus Angst, mich bloßzustellen. Aber dies hätte auch bedeutet, das Ideal zur Disposition zu stellen, das ich mir von mir selbst geschaffen hatte. Es behinderte mich noch immer, wenn Denken und Tun sich als unfertig und korrekturbedürftig erwiesen. Langsam aber sah ich, worum es in diesen Stunden ging: Das Ideal soll enttarnt werden; ich musste meine und die Wirklichkeit des Analytikers sehen, meine partielle Erblindung musste sich aufheben. Noch undeutlich, aber immer dringlicher sehnte ich mich danach, den Analytiker als den Menschen zu erleben, der er war und dem ich eines Tages ohne Überhöhung und Scheu, in Freiheit und der Anerkenntnis sowohl seines wie meines eigenen Wesens entgegentreten könnte. Aber noch war mir diese innere Freiheit nicht zugänglich. Wenn ich am Analytiker zweifelte oder ihn menschlicher, vielleicht auch mit Schwächen behafteter wahrnehmen würde, als mein Ideal es mir erlaubte, dann fände ich nicht den Mut, die Augen zu öffnen und zu sehen. Ich glaubte, der Analytiker werde nicht aushalten, was ich nicht aushielt: das Wirkliche. 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Die Realität war (noch) tabu, und ich fürchtete den Zusammenbruch des Ideals, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was dann sein würde. Vielleicht bräche die Welt auseinander, und die Folgen wären Verlassenheit, Leere und Angst. Für mich sah es immer so aus, als bewege sich auch der Analytiker in seiner Selbstwahrnehmung alle Zeit in jener Glorie, in die ich ihn eingesponnen hatte. Ich erkannte ihn nicht, sah nur das Ideal, das ich mir erhalten und zugleich preisgeben wollte, weil es mich hoffnungslos überschattete und in meinem Entfaltungsdrang behinderte. Jenes Eigene und »Eigentliche« (Hemmer, 2007, S. 100), nach dem ich verlangte – noch verbarg es sich hinter dem Ideal. Aber wenig später erkannte ich, wie es gelingen kann, es in den Blick zu bekommen und wahrzunehmen. In diesen Wochen hatte ich nur einen einzigen Traum, an den ich mich erinnern konnte. Aber dieser Traum beschäftigte sich mit dem Ideal. Ich hatte mit meiner jüngeren Tochter – im Traum war sie etwa fünf Jahre alt – das Restaurant betreten, in dem ich während der Woche manchmal aushalf. Wir stiegen eine Treppe hinauf in den Oberstock. Aber bald darauf war das Kind wieder verschwunden, und beim Blick über eine Balustrade entdeckte ich es unten im Gastraum, wo es sich vergnügte. Ich wollte auch wieder hinuntergehen. Aber das war nicht möglich, es gab keine Treppen mehr und alle Auswege waren versperrt. Kurz darauf erlosch auch das Licht, und ich stand allein in einem gleißenden Lichtkegel einem großen, kräftigen Mann gegenüber, der mehrere Perücken auf dem Kopf trug, Perücken mit langen, schwarzen Haaren, sodass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Ich aber wusste, es ist der Analytiker. Schließlich begann er sich eine Perücke nach der anderen vom Kopf zu nehmen und sie beiseite zu legen. Dabei lachte er, und ich fühlte mich verhöhnt. Unter den Perücken war der Kopf kahl. Als ich in der Stunde über diesen Traum berichtete, fragte mich der Analytiker nach meinen Assoziationen. Ich wollte jedoch nicht mit der Sprache heraus. Der Analytiker war ein anziehender Mann, anziehend in dem Zusammenspiel von Körperlichkeit, emotionalem und intellektuellem Wesen. Dies beeinflusst Art und Richtung und vielleicht auch die Tiefe der Übertragung. Eine jüngere Frau wird, wenn es 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ihr gelingt, sich aus einer Übertragung wieder zu lösen, sich vielleicht neuen Beziehungen zuwenden. Nach einer gelingenden Therapie werden diese weniger stark von früheren Störungen geprägt sein. Sie wird vielleicht Kinder bekommen oder ihr Leben auf anderen Gebieten neu entwerfen. Mit anderen Worten: Sie hat eine Zukunft, die noch beinahe alle Möglichkeiten in sich trägt, die das Leben bereithält. Eine alte Frau erlebt dies entscheidend anders: Sie weiß, es ist nach menschlichem Ermessen das letzte Mal, dass sie – auf der Ebene sehr früher Empfindungen – auf diese tiefe und vorbehaltlose Weise liebt und bewundert. Wenn die Wirklichkeitsverkennungen, die sie zugleich aber gefangen halten, sich aufheben und sie die Ebene reiferer Beziehungsfähigkeit erreicht, geht es am Ende der Therapie um Abschied und endgültigen Verzicht, auf vielen Ebenen, die das Leben in früheren Jahren reich, farbig und erwartungsvoll sein ließen. Wenn sie das machtvolle Ideal aufgibt, dann steht sie – so kommt es ihr vor – gleichsam wie nackt vor dem letzten Abschnitt ihres Lebens. Nichts wird mehr geschehen, das das Leben antreibt und ihm Richtung gibt. Entwicklung wird es nur noch innen geben – so verengt sieht sie es in schmerzhaften Augenblicken. Wenn sie die Analyse beendet, ist sie allein und sieht sich einer Zukunft gegenüber, von der sie nur weiß, dass sie begrenzt sein wird. Allenfalls kann sie tun, was der Analytiker einmal so formulierte: »die letzte Lebenszeit sinnvoll gestalten«. Es waren dies Einsichten, in denen Verlustgefühle und Trauer immer wieder aufbrachen und schwer auszuhalten waren, nicht zuletzt, da mir auch die Realität des Todes verborgen bleiben würde bis zu dem Tag, an dem ich ihm unmittelbar begegnen würde. Als Grenze war er in meinem Bewusstsein nun immer gegenwärtig. Doch haftete dem Gedanken an ihn zugleich etwas Unwirkliches, beinahe Undenkbares an, das durch keine andere Erfahrung aufgehoben werden konnte als durch die Erfahrung des Todes selbst. Jeder Impuls, auch im Alter noch Zukunft zu denken, stößt sich an dieser Grenze, die unsichtbar bleibt, obwohl alles, was das fortschreitende Alter beinhaltet, auf sie zuläuft und von dem Wissen um sie geprägt ist. Aber während die Bewegung nach vorn, die in jüngeren Jahren einen so wichtigen Antrieb für die Gestaltung des Lebens darstellt, sich an dieser Grenze wundzustoßen droht, erwächst manchmal aus dieser schmerzlichen und zeitweise 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
bedrohlichen existentiellen Erfahrung ein neues Gefühl für den gegenwärtigen Augenblick und den Raum, den er bietet für das Erleben von Tagen, die nicht von Eile bestimmt sind, sondern von zunehmender Ruhe und einem gelassenen Begriff von Zeit. Hatte ich zu meinem Traum wirklich keine Assoziationen? Doch, ich ahnte sie, aber ich war nicht imstande, mich zu ihnen zu bekennen und sie auszusprechen, sodass der Analytiker sie nach ein paar Minuten des Schweigens selbst benannte. Er erinnerte daran, dass auch sein Kopf kahl war, und deutete die Traumszene dahingehend, dass in meinem Unbewussten wohl »auch der Analytiker ein Schamproblem haben müsse«. Auf der realen Erwachsenenebene sah ich keinen Anlass zur Scham. Auch enthielt diese Bemerkung nichts, was etwas darüber gesagt hätte, wie der Analytiker selbst damit umging. Er hatte sich darauf beschränkt, den Trauminhalt zu benennen und zu deuten. Aber ich schien im Traum in der Tat nach einer Achillesferse zu suchen, als Ausgleich vielleicht für mein oft schmerzlich empfundenes Bewusstsein, alt geworden zu sein und gleichsam nicht mehr in Frage zu kommen. Es war ein verzweifelter Angriff auf das mächtige Ideal, das der Analytiker verkörperte. Vor allem aber war die Verhöhnung, die ich träumend empfunden hatte, als er lachend eine der Perücken nach der anderen wegnahm, die Maskierung einer peinvollen Verletzung desjenigen Idealbildes, das ich selbst vom Analytiker in mir trug. Der, als den ich ihn sehen wollte, kannte Begrenzungen nicht, noch empfand er jemals Scham und Bedauern über sich, er war geborgen in seinem Leben, unangefochten, immer sicher, stets überzeugt von seinen Möglichkeiten. Scheitern, Abschiede und Trauer waren ihm fremd. Ich war angekommen bei schmerzlichen und als schuldhaft empfundenen Versuchen, das Ideal zu zerstören, ohne mich zumindest in dieser für mich so wichtigen Beziehung schon auf die Erfahrung stützen zu können, welche Ruhe zwischen Menschen entsteht, die sich der eigenen und der Wirklichkeit eines Anderen zu öffnen vermögen. In diesen Wochen hatte ich das Gefühl, durch ein Fegefeuer einander widerstreitender Empfindungen zu gehen, abwechselnd erfüllt von Traurigkeit, Vergeblichkeit, Verlustgefühlen und verdeckter Wut und Angst. Lebhafte und inhaltreiche Traumerzählungen zogen durch meinen Schlaf, aber am Morgen erinnerte ich mich nicht mehr, verstand die Sprache 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
des Unbewussten nicht, fand keinen Zugang, schien unwiderruflich festzusitzen. Nach diesen wenigen Wochen, in denen ich sowohl um den Analytiker in mir, das offenbar noch immer so dringend benötigte und nicht angreifbare Ideal, zugleich aber um meinen eigenen seelischen Bestand kämpfte, kam es unerwartet noch einmal zu einer dreiwöchigen Unterbrechung der Therapie. Der Analytiker würde in den Bergen an einer Gipfelbesteigung teilnehmen und die Herbstferien daher um ein paar Wochen vorverlegen. Bevor er ging, bot er mir, zusätzlich zu der letzten Stunde vor diesen neuerlichen Ferien, eine weitere Stunde an, die ich gerne annahm. Beide Stunden lagen an zwei aufeinander folgenden Tagen, während ich sonst nur noch ein Gespräch in der Woche hatte. Ich hatte, seit wir ein Jahr zuvor von zwei Wochenstunden auf diese Stundenfrequenz übergegangen waren, die Verringerung der Stundenzahl gut vertragen. Aber jetzt fühlte ich, dass der Gedanke an diese unverhoffte Stundendichte mir aus irgendeinem Grund besonders wohl tat. Ich konnte an zwei aufeinander folgenden Tagen bei ihm sein. Undeutlich spürte ich, dass dieses bei ihm sein notwendig und von Bedeutung war. In den zurückliegenden Sommerferien hatten die Zeitungen über zwei erfahrene Bergsteiger berichtet, die bei der Besteigung des Nanga Parbat verunglückt waren. Einer der beiden Bergsteiger war dabei ums Leben gekommen. Als sein Gefährte zurückkehrte und interviewt wurde, erzählte er, dass er schon einmal gemeinsam mit einem Freund in Bergnot geraten sei. Der Freund sei abgestürzt und alles habe dafür gesprochen, dass Rettung nicht möglich sein würde. Ihn selbst habe das vor die Entscheidung gestellt, es dennoch zu versuchen oder das Seil zu kappen, um nicht auch selbst abzustürzen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, zu dem Freund zu gelangen, war er sicher, dass er ihm nicht mehr würde helfen können. Er entschied, das Seil, das ihn noch mit dem Freund verband, zu durchschneiden, um das eigene Leben zu retten. Der Freund wurde gefunden und überlebte. Er habe, so der Bergsteiger, später Verständnis für die existentielle Entscheidung des Gefährten geäußert, aber sie seien danach nie wieder gemeinsam auf einen Berg gegangen. Dieser innere Konflikt zwischen Selbstverleugnung und Selbstrettung hatte mich sehr berührt. Ich hatte darüber lange nachdenken müssen. 98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Wenig später berichteten die Zeitungen über zwei Bergsteiger, die bei einem Gipfellauf zur Zugspitze ums Leben gekommen waren. Im Vertrauen auf anhaltend gutes Wetter nur leicht bekleidet, waren sie von einem Wettersturz überrascht worden und erfroren. Erfahrene Bergsteiger kritisierten später die ungenügende Vorbereitung als leichtsinnig. Nun brach auch der Analytiker zu einer Bergtour auf, und ich erzählte ihm, wie sehr mich diese Berichte – da ich schon lange wusste, dass auch er in die Berge ging – beschäftigt hatten. Und ich äußerte überzeugt und mit spürbarer Dringlichkeit: »So leichtsinnig würden Sie doch niemals handeln.« Beide schwiegen wir eine Weile, und in diesen stillen Augenblicken wurde mir bewusst, dass ich ihm soeben eine Frage gestellt hatte: »Würden Sie auch so handeln? Würden Sie weggehen, ihren eigenen Bedürfnissen folgen, Ihre Familie und Ihre Patienten im Stich lassen, um Ihren Freuden und Interessen nachzugehen? Und würden Sie dabei auch so leichtsinnig sein?« Der Analytiker hatte die Frage vernommen, obgleich ich sie nicht ausgesprochen hatte, und entgegnete mir: »Wenn ich sehr kleine Kinder hätte, würde ich so nicht handeln. Und Ihr Ideal würde so auch nicht handeln. Aber ich, jetzt, ... wer weiß ...!« Dieses wer weiß hing in der Luft als provozierende Gegenfrage, die mich ganz neuen Fragen öffnete: Kenne ich ihn überhaupt? Wie ist er in dem Leben, das unabhängig von mir verläuft? Was ist ihm wichtig und was beschäftigt ihn? Wer ist das, den ich so verzweiflungsvoll und hartnäckig verschwinden lasse hinter einem Ideal? Und zögernd und stockend berichtete ich ihm von dem inneren Bild, das jene Zeitungsmeldungen in mir hervorgerufen hatten und dessen begleitende Gefühle und Vorstellungen ich noch kaum zur Kenntnis zu nehmen wagte: Er liegt auf einem Felsvorsprung. Er ist abgestürzt. Er ist tot. Und ich sitze neben ihm und weine. Ich verschränkte, nachdem ich dies ausgesprochen hatte, auf der Couch liegend, die Arme über der Brust, um meine Gefühle einzuschließen, wollte aufspringen, schlug die Beine übereinander, um mich daran zu hindern, wandte mich den Buchrücken auf dem Bord neben der Couch zu, um mich abzuwenden und mein 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Gesicht zu schützen. Und nach Minuten, in denen ich vor Tränen nicht sprechen konnte und zugleich etwas in mir hochdrängte als Zorn, Verzweiflung und Bekenntnisdrang, stieß ich schließlich hervor: »Ich fühle mich hier jetzt so preisgegeben mit meinen Gefühlen ...« »Was sind das für Gefühle?« Er fragte es leise und ruhig. Einen Augenblick lang dachte ich nach, weil es mich so sehr nach Genauigkeit verlangte, und sagte dann, immer noch unter Tränen: »Liebe, es ist Liebe und Wut ...« »Ja«, bestätigte er, »ich bin tot und Sie beweinen mich. Ich gehe fort, obgleich Sie so sicher waren oder doch hofften, ich würde bleiben. Ich nehme Sie nicht mit. Und überdies werde ich in diesen Ferien etwas tun, bei dem nicht nur auf der phantasmatischen Ebene die Gefahr besteht, dass mir etwas passiert, sondern auch in der Realität. Sie haben keine Möglichkeit, mich daran zu hindern, können mich nicht kontrollieren. Sie haben bei Ferienbeginn in all den Jahren immer gewusst, ich würde wiederkommen, und dies hat Sie die Ferien ertragen lassen. Aber diesmal können Sie nicht wissen, ob ich wiederkomme. Und eines Tages werde ich ohnehin nicht mehr da sein, und dies macht sie wütend. Es ist diese Wut, mit der wir uns hier beschäftigen müssen. Sie haben Ihre Ambivalenz entdeckt. Tun Sie nichts, versuchen Sie nichts anderes, als Ihre Wut anzuerkennen. Im Augenblick geht es allein um sie.« Wenn ich die Wut zu fühlen wagte, würde dies zu allererst mich selbst treffen, weil ich die Anwesenheit des Analytikers so dringend brauchte. Aber ich fühlte auch einen scharfen Zwiespalt, wünschte mir zugleich, er wäre tot. Dann würde ich frei von einer Liebe, die mich abhängig machte und feindselig, weil ich sein Anderssein und die Not des Getrenntseins nicht aushalten zu können glaubte. In diesem Augenblick setzte er noch einmal nach: »Sie möchten mitkommen, möchten, dass ich Sie mitnehme auf meine Abenteuer, möchten meine Erlebnisse und meine Welt teilen.« Ich musste ein wenig lächeln und begehrte zugleich auf, als wäre dies nur eine reine Unterstellung, und fragte mit einiger Schärfe zurück: »Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie nicht gehen lassen kann?« Er entgegnete mir gelassen, alles, was er beobachte, weise darauf hin. Ich wies dies zurück, weil ich mir – auf der Erwachsenenebene – vorstellte, wie ich mich mit 73 Jahren bei einer Bergwanderung oder auf einer Motorradfahrt ausnehmen würde. 100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Aber ich wusste, auf einer anderen, der frühen Ebene hatte der Analytiker Recht. Mit ihm wollte ich sein, ungetrennt, ohne Verlustangst und ohne die Notwendigkeit, mich dem eigenen Leben zuzuwenden, ja überhaupt wahrzunehmen, dass ich eines hatte und dass vieles darin gut war. Zugleich war ich mir dessen bewusst, wie ich mich in der Therapie erlebend und erfahrend beständig zwischen zwei Ebenen bewegte – der frühen Erlebnis- und Entwicklungsebene des Kindes und der des Erwachsenen. Aus der scheinbar antithetischen Beziehung zwischen diesen beiden hatte ich bedeutsame korrigierende Erfahrungen über die Wirklichkeit gewinnen können, in der beide Ebenen miteinander sprechen, ohne einander zu unterdrücken und abzuspalten. Dies vollzog sich nun auch in dieser Stunde, und zum ersten Mal konnte ich ohne Anstrengung die Verbindung und gegenseitige Befruchtung beider Ebenen wahrnehmen. Der Analytiker, indem er diese Stunde abschloss, nahm den Faden noch einmal auf und fügte dem bisher Gesagten hinzu: »An dieser Stelle, wo das Primärobjekt sich entfernt, um seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen, reagieren manche Patienten mit Hass auf das sich entfernende Objekt und andere mit Selbsthass und Depression.« Gab es eine dritte Möglichkeit? Noch sah ich sie nicht. Ich verließ die Praxis mit einem betäubenden Gefühl von Einsamkeit, Schmerz und Verlassenheit. Ich konnte nichts »machen«, hatte keine (All-)macht. Er ging auf den Berg und ich zurück in mein Leben, das mir schal, flach und grau erschien, wertlos und ohne Ereignis. Ich empfand einen tiefen, quälenden Neid und große Hoffnungslosigkeit. Aber noch an diesem Tag geschah, was mir am nächsten Morgen, als auch die letzte Stunde vor seiner Abreise zu Ende gegangen war, zeigte, dass es jene dritte Möglichkeit gab und wie sie aussehen konnte, wenn das, was sie beinhaltete, sich festigen würde. Als ich die Praxis verlassen hatte, hätte ich mich gerne in die Stille zurückgezogen, um mich meinen Empfindungen zu überlassen. Aber ich hatte mich anschließend mit einem Freund zu gemeinsamem Musizieren verabredet. Wir spielten Flötensonaten von Johann Sebastian Bach, und ich begleitete den Freund auf dem Cembalo. Obgleich ich mich erschöpft und traurig fühlte, 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
empfand ich dankbar seine lebendige Gegenwart, genoss das Gespräch und die Tasse Tee, mit der wir das Musizieren immer einzuleiten pflegten. Während ich die langsamen Sätze begleitete, war mir, als fände ich eine dichte, wortlose Sprache für Gefühle großer Zärtlichkeit, Sehnsucht und Trauer. Sie galten einem geliebten inneren Objekt. Sie erfüllten mich ganz, ich fühlte mich lebendig, vollständig und verwundbar zugleich. Währenddessen hörte ich auf das Spiel des Freundes und bemühte mich, seinen musikalischen Absichten zu folgen, sein Spiel zu stützen und zu tragen. Einer kaum wahrnehmbaren Beimischung von Verlustgefühl begegnete ich, indem ich den Widerstand der Tasten bewusst wahrnahm und mit jedem Ton, den ich anschlug, überwand. Dieser Widerstand, den die Tasten entgegensetzen und der technisch in einer spezifischen Form bewältigt werden muss, entsteht beim Cembalo dadurch, dass die Töne erzeugt werden, indem ein Kiel die Seiten anreißt, anstatt sie anzuschlagen. Den Cembalisten zwingt dies zu einer großen Nähe der Finger zu den Tasten und zu einem raschen, entschlossenen und präzisen Anschlag. Dies schützte mich davor, von Trauer überwältigt zu werden. Ich fand zurück zu meiner eigenen Kraft. Der, dem meine Liebe galt, war in diesen Augenblicken in mir bewahrt, sodass ich ihn außen loslassen konnte. Er würde fortgehen, und es würde lange dauern, bis er zurückkehrte. Aber in der Zwischenzeit, jetzt, in diesem Moment, war jemand da, ich war nicht ganz verlassen. Die Verzweiflung über die durch das bevorstehende Fortgehen des Analytikers verursachte Verdunkelung der Tage war aufgehoben in der realen Gegenwart eines Anderen. Neid und Anklammerungstendenzen milderten sich, ohne Trauer und Verlustgefühle, die ich empfand, zu schwächen und zu verdrängen. Beides, Zuversicht und Wehmut wie Sehnsucht lagen dicht neben einander, sodass ich mich in meiner Gefühlswelt trotz des nahenden Abschieds bereichert und ergänzt fühlte. Gegen Mittag, als der Freund gegangen war, drohten Niedergeschlagenheit und Müdigkeit sich in mir auszubreiten, und ich war in Versuchung, mich beidem hinzugeben. Dennoch ging ich wenig später noch in meine Schreibgruppe, ein Ensemble von Menschen, die zwei Stunden miteinander arbeiten, sich ihre Texte gegenseitig vorlesen – wohlwollend, bewertungsfrei und in respektvollem Umgang mit dem, was der andere denkt und zu Papier zu bringen ver102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
sucht. Wie am Vormittag war ich in diesen zwei Stunden auch hier ganz gegenwärtig. Trauer und Sehnsucht blieben im Hintergrund spürbar bestehen, ohne mich in meiner Zuwendung zur Arbeitsgruppe zu behindern. Gleichwohl setzte sich die seelische Unterströmung später noch einmal durch. Den Abend verbrachte ich mit Gefühlen von Verlassenheit und Verlust, ohne dass ich in die Versuchung geriet, sie abzuwehren oder zu entwerten. Ich versuchte sie auszuhalten, ließ mich von ihnen erfüllen, begegnete ihnen mit Geduld und Einverständnis. Zu Beginn der letzten Stunde bekannte ich dem Analytiker diese Empfindungen ohne Rückhalt, Angst oder Scham. Ich fühlte mich offen und nachgiebig. Was ich empfand und aussprach, war der Zwiespalt zwischen Zuneigung und Dankbarkeit und einem starken Verlangen nach innerer Freiheit. Beides schien mir aus meinen Erfahrungen heraus unvereinbar. Er entgegnete mir: »Ihnen wird Ihre Abhängigkeit bewusst, und zugleich nehmen Sie die eigentliche und grundsätzliche Getrenntheit zwischen sich und mir wahr.« Ich bestätigte dies – und wie um mich ein letztes Mal zu behaupten und die Vermutung von Abhängigkeit zurückzuweisen, erzählte ich ihm von den befriedigenden Ereignissen des vergangenen Tages und sagte – mit leisem Trotz, Triumph und auch Stolz in der Stimme: »Eine Depression habe ich gestern nicht bekommen ...« Der Analytiker reagierte mit einer kleinen humorvollen Pantomime: »Ja, da ist das Kind zu den Nachbarn gegangen und hat sich dort stundenlang aufgehalten. Und am Abend ist es heimgekommen und hat gesagt: »Dort ist es viel schöner als bei euch. Die Suppe hat tausendmal besser geschmeckt als hier. Und überhaupt, die sind viel, viel netter zu mir als ihr.« Und dann, wieder ernst: »Sie wollen mich neidisch machen«, und als ich energisch den Kopf schüttelte: »oder wenigstens befürchten Sie, dass ich neidisch sein und Ihre Wünsche nach Unabhängigkeit als Angriff erleben könnte.« Und er machte mich darauf aufmerksam, dass der Versuch, mich an andere zu wenden und mich dort wohl zu fühlen, zweifellos einen Angriff darstelle auf die Macht des Primärobjekts. Einen Angriff, der eine Trennungsandrohung beinhalte und den zu denken ich mich fürchtete, da er ihn beschädigen und er mich zur 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Strafe verlassen könnte. Aber, so der Analytiker, ein solcher Angriff sei notwendig und legitim, wenn ich frei werden wollte von Lebensangst und Gebundenheit. Ich erkannte hier zum ersten Mal deutlicher, dass es eine ausschließlich auf gewaltsame Zerstörung gerichtete und eine Form von Aggression gibt, die anderen Grenzen setzt, der Durchsetzung eigener berechtigter Bedürfnisse gilt und manchmal nicht vermieden werden kann. Aber auch diese – nicht eigentlich zerstörerische – Form von Aggression war nicht zu haben, ohne schuldig zu werden. Jemand wurde zurückgewiesen, und immer bliebe dies ein Angriff, verbunden mit Schuld, weil Abgrenzungswünsche Schmerz zufügen. Es war eine ähnliche Situation wie die, in der sich jener Bergsteiger befand. Er nahm Schuld auf sich, als er sich entschied, sein eigenes Leben vor das eines anderen zu setzen, indem er das Seil durchschnitt, an dem er den Freund wusste. Ich schwieg. Ein inneres Bild aus den letzten Tagen drängte in mein Bewusstsein: Ich hatte den Analytiker zurückgelassen. Langsam und unaufhaltsam hatte sich seine Gestalt immer weiter von mir entfernt. Der Raum zwischen ihm und mir hatte sich erweitert, und ich hatte Schmerz und Verlust empfunden und zugleich eine innere Notwendigkeit, eine eigene Sehnsucht nach Distanz. Und wenig später, als ich in der Nacht wach lag, hatte sich noch ein anderes Bild vor dieses erste geschoben: Ich hob die flachen Hände und legte sie ihm auf die Brust in einem unwillkürlichen Impuls, ihn wegzuschieben. Dann aber trat ich selbst einen Schritt zurück und nahm auch meine Hände wieder zu mir. Ich ließ ihn bestehen und ging stattdessen, noch immer mit erhobenen Händen, langsam rückwärts – auf einen Raum zu, in dem ich mein eigenes Leben vermutete. Das erste dieser beiden Bilder hatte ich damals noch nicht annehmen können. Zu groß wurden die seelischen Schmerzen, und mir schien, ich beschädigte das Wertvollste, was ich besaß, wenn ich ihn aus den Augen verlor. Aber jetzt – unterstützt von dem zweiten Bild – nahm ich den eigentlichen Impuls in mir deutlicher wahr und entgegnete vorsichtig und leise fragend: »Bedeutet das, Sie sind nicht neidisch? Und heißt dies, auch ich kann, ich darf gehen, ohne dass Sie sich beschädigt und entwertet fühlen – oder ...?« 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Meine Worte hingen im Raum als zaghafte, ungläubige Frage und Hoffnung. Der Analytiker antwortete nicht. Hinter mir hörte ich seinen Stift über Papier eilen, hin und wieder mit einem leise kratzenden Geräusch, wenn der Stift einen Widerstand überwand, um danach weiter zu eilen. Ich lag auf der Couch, erfüllt von Ruhe und Frieden. Meine Hände lagen auf dem Sonnengeflecht und ich dachte: »Dort ist er und hängt seinen Gedanken nach. Und ich will und brauche ihn dabei nicht zu stören. Ich kann in Ruhe meinen eigenen Gedanken nachgehen. Ich erlebe Getrenntheit und zugleich Nähe. Ich darf mich manchmal schon entfernen, und es wird ihn nicht beschädigen. Und auch er wird sich entfernen können, ohne dass ich mich verraten fühlen, ihn festhalten und angreifen müsste.« Eine ganze Weile herrschte dieses selbstverständliche, von keiner Scham und Verunsicherung belastete Schweigen, wie ich es sonst kaum je erlebt hatte. Ich war ohne Scheu, erwachsen, gelassen und gegenwärtig. Und dann wurde mir doch noch Antwort zuteil, indem der Analytiker nachdenklich fragte: »Können Sie sich nicht vorstellen, dass ich mich freue, wenn Sie Ihrem Expansionsdrang nachgeben? Wenn Sie sich wohl fühlen in anderen Zusammenhängen, sich entfalten beim gemeinsamen Musizieren und Schreiben?« Wir waren irgendwo angelangt. Ich übersah noch nicht sicher, wo dies war, aber ich fühlte, es war ein guter, zukunftsträchtiger Ort. Vielleicht würde ich ihn noch einige Male verlassen und wiederfinden müssen, bevor ich ihn ganz besaß. Aber er war da, ich konnte ihn sehen. Ich würde darauf zugehen und ihn in Besitz nehmen, ohne den Ort, an dem mir diese Erfahrung geschenkt wurde, verloren zu geben. Der Analytiker hatte mir gezeigt, wie man loslässt und einen Anderen zur Freiheit ermutigt. Mein eigenes Leben, auf das er mich soeben mit seinen letzten Worten zu schauen gelehrt hatte, wurde ein wenig heller, gewann an Inhalt und stand gleichwertig neben dem seinen, an dem ich so verzweifelt hatte teilhaben wollen. Am Beispiel des Analytikers konnte auch ich lernen, die Hände zu öffnen und loszulassen. Und unwillkürlich kamen mir die Worte in den Sinn, die er einmal – einen mir nicht bewussten inneren Impuls aufnehmend – zu mir gesagt hatte vor sehr langer Zeit, als ich noch kaum etwas einordnen konnte: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« (1. Buch 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Mose, 32 ff.). An den Zusammenhang erinnerte ich mich nicht mehr, obgleich diese Worte mich auch damals spürbar erreichten. Aber sie hatten sich noch nicht mit Inhalt füllen lassen. Dies wurde erst in diesem Augenblick möglich, als ich es wagte, mein Verlangen nach Unabhängigkeit wahrzunehmen und zuzulassen. Zugleich verspürte ich eine vorsichtige Hoffnung, die gewachsene Beziehung zu einem wichtigen Menschen werde unabhängig von körperlicher Gegenwart eine Trennung überdauern, ohne mich zu fesseln und einzuengen oder von neuem in unlösbare Konflikte zu verstricken. So erhielten die vor langer Zeit ausgesprochenen Worte in diesem Augenblick eine Bedeutung, die mich ein zweites Mal nachhaltig berührte und Verlustängsten Hoffnung und Zuversicht entgegensetzte. Noch übersah ich nicht, wie der Prozess, den diese beiden dicht aufeinander folgenden Stunden zum Inhalt gehabt hatten, sich fortentwickeln und festigen würde. Aber mir schien, ich hatte an diesen beiden Tagen entscheidende Schritte nach vorn getan, und vielleicht war ich dabei, neues, noch unbekanntes Gebiet zu betreten bei meinen Versuchen, mich selbst zu verstehen und die Außenwelt anders wahrzunehmen, als unbewusste Impulse es mir ein Leben lang nahe gelegt hatten.
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Konturen des Anderen Wo ich den Anderen nicht sehen konnte als den, der er ist, und nicht wahrnahm, dass er sich von mir unterschied, sah und spürte ich auch mich selbst nicht. In einem Anderen zu sehen, was er nicht ist – und Bedürfnisse und Vorstellungen auf ihn zu übertragen, die ihn als Selbst auslöschen –, bedeutete, auch mich zu entleeren. Der Andere wurde zur Projektionsfläche. Als eigenständiges Selbst blieb er mir verborgen, so wie auch ich mich als schattenhaft und undeutlich erlebte. Die Zuschreibung von Eigenschaften, die ich im Anderen zu sehen glaubte, ohne dafür andere Anhaltspunkte zu haben als mein Begehren oder meine Befürchtungen, entsprang eigenen Gefühlen und ihrem Übertragungsgehalt und noch kaum gezähmten Impulsen. Und als sei ich ein Kind, agierte ich sie aus, anstatt sie zu betrachten und zu lenken. Dies löschte das eigene Selbstsein aus und die Möglichkeit, mir selbst zu helfen – ohne die Umwege über andere, die in ewigen Kreisbewegungen nur wieder an den unbefriedigenden Ausgangspunkt zurückführen. Die überhöhte Bedeutung für mein Leben, die ich dem Analytiker zuschrieb und die den Blick auf seine Wirklichkeit verstellte, war nicht in erster Linie abgeleitet von dem Einfluss, den sein eigentliches Wesen und Denken auf mich ausübten. Sie nährte sich in diesem Stadium noch aus meinen ungestillten Bedürfnissen. Das Eigentliche, mir Zugehörige stand mir noch nicht verlässlich zur Verfügung. Hier geriet die Problematik um den Anderen, um seine andere Wirklichkeit und das, was mir ein Mensch sein und nicht sein konnte, sich immer deutlicher abzeichnend, in meinen Gesichtskreis. Durch Lektüre eignete ich mir Wissen zu diesen Fragen an. Aber emotionaler Mittelpunkt, Impuls, Einsichts- und Übungsfeld blieb meine Beziehung zu dem Analytiker mit ihren untergründigen, mir selbst oft verborgenen Erscheinungs- und Äußerungsformen. Lektüre half mir, die Reichweite problematischer Haltungen zu erfassen. Aber das Fühlen, die seelische und oft auch körperlich sich ausprägende Erfahrung mit meinen Wünschen, Wirklichkeitsverkennungen, Gehemmtheiten und mit Fortschritt und Veränderung erlebte ich nur innerhalb der analytischen Beziehung – und sehr viel später erst bei den Versuchen, diese Erfahrungen auf meine Außenbeziehungen zu übertragen. Nur in diesem beispiel107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
haften zwischenmenschlichen Verhältnis entwickelte sich allmählich die Fähigkeit, andere und mich selbst als getrennt voneinander wahrzunehmen. Lange hatte der Schatten des Ideals den Analytiker als eigenständigen Anderen verdeckt. Ich habe zuvor berichtet, wie er den Perückentraum dahingehend deutete, seine Botschaft, ausgehend vom Unbewussten, sei offenbar meine Vermutung, vielleicht sogar Hoffnung, auch er habe ein Schamproblem. Ich wäre dann mit meiner Scham über zunehmende Alterserscheinungen nicht ganz allein. Erst in den nachfolgenden Gesprächen entwickelte sich in mir ein Gefühl dafür, wie meiner spontanen Entgegnung, ich sähe kein Schamproblem, mit der ich auf seine Deutung reagierte, ein gedankenloses Übergehen der Gefühle eines Anderen zugrunde lag und ich eigene tiefe Bedürfnisse – die Anerkennung meiner Weiblichkeit durch Männer –, ohne nachzudenken oder eine Hemmung zu fühlen, auf einen anderen Menschen übertragen hatte. Nicht das Übertragungsgeschehen selbst ist problematisch, sondern die ihm innewohnende Zwangsläufigkeit, mit der unreflektierte, wirklichkeitsferne innere Antriebe sich eines Anderen bemächtigen. Ich suchte mich damit zu schützen gegen Vergleich und Gegenübertragung – gegen eben jenen Vergleich, den ich selbst aber zog und der unbewusst Begründung meines eigenen Selbstschutzes war. Erst allmählich konnte ich den Analytiker – wenn auch noch tastend und unsicher – als getrennt, mit eigenen, mir im Wesentlichen unbekannten Gefühlen wahrnehmen und begreifen, was Übertragung zwischenmenschlich bewirkt und manchmal auch anrichtet. Denn vielleicht war es für ihn ohne jede Bedeutung, von Frauen anerkannt zu sein in ähnlicher Weise, wie ich selbst mich lange nach der Anerkennung als Frau durch einen Mann gesehnt hatte. Ich selbst mochte seine Erscheinung als anziehend empfinden, wenn es meinem Erleben entsprach. Doch bedeutete dies nicht, dass ein Gleiches für ihn und seine Selbstwahrnehmung galt. Wie es sich wirklich verhielt, musste offen bleiben. Der analytische Rahmen ließ persönliche Fragen dieser Art und deren offene Beantwortung nicht zu. Aber dies entband mich nicht von eigener Arbeit an diesem Problem. Indem ich die Möglichkeit zuließ, dass der Analytiker eine empfindliche Stelle haben könnte – oder auch 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
einfach nur anders über die Dinge dachte als ich –, nahm ich bewusst einen Unterschied, ein Anderssein wahr. Zugleich erlebte ich einen Moment der Einfühlung, dokumentiert in einer vielleicht nur im Inneren an den Anderen gerichteten aufmerksamen Frage, die nicht einmal einer Antwort bedurfte. Es waren dies erste Schritte hin zu einer Abschwächung des Ideals, die ich nicht als Angriff auf den Anderen und für mich als Verlust erlebte, sondern als Annäherung an seine Wirklichkeit. In solchen Momenten wurden die Kälte und Unpersönlichkeit der von mir geschaffenen und ängstlich gehüteten Idealvorstellung überlagert von der Offenheit und Wärme einer realen Beziehungserfahrung. Ich konnte mich, die Realität eines Anderen auslöschend, projektiv auf ihn beziehen. Ich konnte aber auch einen erwartungsvollen, noch nicht durch Vorurteile getrübten Blick auf den Anderen richten. Dies ermöglichte Beziehung, die auf wechselseitiger Anerkennung von Ähnlichkeit und Unterscheidung beruht. Vielleicht wechselt an solchen Stellen das Übertragungsgeschehen schon manchmal in einen Anflug reiferen Bezogenseins, indem der Blick sich richtet auf etwas, das sich zuvor in der langen und vielseitigen Arbeit vorbereitete. Ich verglich meine unsensible Reaktion mit dem Verlangen nach Einfühlung und Verstehen, das ich mit soviel Erwartungsdruck an den Analytiker herantrug, und fragte mich, was zu meinem oft als schmerzlich endgültig empfundenen Mangel an Einfühlung geführt hatte und wie ich eine bessere Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Empfindungen entwickeln könnte. So hatte der Perückentraum viele Wochen, nachdem ich ihn geträumt und er eine erste Deutung erfahren hatte, mir die Augen für neue Zusammenhänge geöffnet. Der Kern des Wahrnehmens anderer schien mir nun darin zu liegen, nach ihnen zu fragen. Wo ich nach dem Anderen frage, nehme ich ihn als eigenständigen Menschen wahr, den ich nicht kenne, aber durch Fragen erkennen kann. Aber auch ich werde zu einem eigenständigen Menschen, indem ich frage. Die Frage nach dem Anderen und die angstfreie Offenheit gegenüber seiner Andersartigkeit und vielleicht Fremdheit, die sich darin äußert, tragen dazu bei, auch ein deutlicheres Gefühl für sich selbst zu entwickeln. Nicht oft hatte mein Interesse den subjektiven Gefühlen und Erfahrungen des Analytikers gegolten, soweit ich sie unabhängig 109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
von mir zu denken hatte. Nun aber versuchte ich von mir abzusehen und meinen Blick zu schulen für eine andere, mir nicht ohne weiteres zugängliche Wirklichkeit. Deutlicher nahm ich den Schatten wahr, den mein Übertragen warf und sein Selbstsein meinen Blicken entzog, und wie dies sowohl die Beziehung zu anderen wie Inhalt und Qualität der eigenen Erlebniswelt verarmt. Der Schatten, den ich warf, war der Schatten meiner engen subjektiven Welt, der das Selbstsein anderer auslöschen konnte – als sei der Analytiker ein Gestirn, das hilfreich und haltend um mich kreiste in einer Bahn, die ohne eigene Gesetze und Eigenschaften war. Es war nur konsequent zu entdecken, dass dann auch ich mich in meinem Selbstsein nicht wahrnahm und verkannte, wie ich mich gleichermaßen auf einer eigenen Bahn bewegte und meine Bewegungen eigenen Gesetzen folgten, wenn ich es nur zuließ. Die Bewegungen eines Anderen auf einer anderen, entfernten Bahn anzuerkennen und sich der eigenen zu vergewissern, würde in menschlichen Beziehungen erst jene Spannung schaffen, die Beziehung fruchtbar sein lässt und Bindungen ermöglicht, die sich nicht in Gebundenheiten im Sinne von Abhängigkeit und dem Fehlen lebendigen Bezogenseins erschöpfen. Von da an versuchte ich, den Schatten zurückzunehmen zu mir und den Raum von Begegnung freizuräumen von meinen Möblierungen – ein mühevoller Prozess. Nichts daran war mir selbstverständlich. Ich musste vielfache widerstrebende Impulse in mir stilllegen, bis es manchmal gelang, den Blick frei zu bekommen und Erfahrung zuzulassen, ohne dass Ungeduld und Bewertung mich vorschnell reagieren ließen. Andererseits verstand ich aber nun auch besser, was dazu beigetragen hatte, Begegnungen mit anderen Menschen schon sehr früh ihre prinzipielle Offenheit zu nehmen. Denn am Beginn der veränderten Wahrnehmung anderer erschien der entstehende Abstand mir nicht als wohltuende und perspektivreiche Öffnung. Ich erwartete Kälte und Leere, fürchtete Fremdheit und Vereinsamung. In meiner inneren Welt bedeutete Getrenntheit Verlust. In dem Augenblick, in dem ich meinen Blick auf einen Anderen als eigenständigen Menschen richtete, gäbe es keine Verbindung mehr zwischen ihm und mir. Er würde sich losmachen, sich abwenden und fortgehen. Ich hätte keine Möglichkeit, ihn zu halten, keine Hoffnung, er werde sich zuwenden, keine Erwartung einer Nähe, die auch mich in meiner seelischen Subs110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
tanz wahrnähme. Ich hätte versucht anzuerkennen, ohne dass ich anerkannt worden wäre. Hier stieß ich auf einen bedeutsamen seelischen Mangel: die fehlende Erfahrung von Gegenseitigkeit. Und so schien in meiner Welt das Übertragen von Gefühlen und Eindrücken offenbar der einzige Weg, nahe zu bleiben, Berührung zu empfinden und zu versuchen, andere und die äußere Welt auf diese mir durch meine innere Welt vertraute Weise zu verstehen. Aber meine Sehnsucht nach wechselseitiger Anerkennung war stark und letztlich unabweisbar. Sie drängte mich, mich diesem Problem zuzuwenden, auch wenn mir zunehmend klar wurde, dass ich Anerkennung anderer zu lernen hatte wie eine fremde Sprache, die manchen Menschen in ihrer Kindheit mitgegeben wird, ohne dass sie sich darum bemühen müssen. Ich wollte diese Sprache erlernen. Die eigene Freiheit und die anderer lagen darin beschlossen, und indem ich andere anerkannte, würde ich auch mir selbst Anerkennung entgegenbringen können.
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Spannweiten des Begehrens In den Wochen, da mich diese Fragen beschäftigten, erkrankte ich zweimal und musste die Stunden absagen – das zweite Mal an einem Morgen unmittelbar vor der um neun Uhr beginnenden Stunde. Ich hatte mich danach, fiebrig und erschöpft, wieder hingelegt und versucht, ein wenig zu lesen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich lag dann einfach da, dachte nach und erinnerte mich daran, dass ich schon in den Tagen zuvor müde und traurig gewesen war und dem Analytiker hatte sagen wollen, ich wolle einfach eine Stunde lang nur auf der Couch liegen und still sein anstatt »zu arbeiten«. Ich empfand großes Verlangen nach Stille und nach seiner schweigenden Gegenwart. Als ich nun darüber nachdachte, erschien mir die Absage dieser morgendlichen Stunde – innerpsychisch gesehen – in einem anderen Licht: Zu schweigen und mich der seelischen Erschöpfung hinzugeben, wäre sicherlich eine Möglichkeit gewesen. Der Analytiker hätte dieses Bedürfnis gewiss verstanden und es mir überlassen, wie weit ich darin gehen wollte. Aber ich muss das Gefühl gehabt haben, ins Bodenlose zu fallen und nicht wieder zurückkehren zu können, wenn ich mich in Gegenwart des Analytikers diesem Stillebedürfnis hingab. Mir war, als überließe ich mich dann einer Nähe, aus der ich nicht mehr herausfände. Aber nun, hingegeben an die Ruhe jener Augenblicke, die ich krank zu Hause verbrachte anstatt in der Praxis des Analytikers, konnte sich ein zuvor so nicht wahrgenommenes Bedürfnis nach einem Moratorium artikulieren: In meiner Phantasie verwandelte sich die abgesagte Stunde in einen offenen Raum, an dessen Rand auf einer Seite der Analytiker stand und ich ihm auf der anderen Seite gegenüber. Vielleicht war meine Seele hinsichtlich der Erkrankung im Bunde mit meinem Körper gewesen, und beide hatten dafür gesorgt, dass der Raum zwischen ihm und mir, der durch die dem Analytiker zugeschriebenen Bedeutungen noch immer so schnell wieder zu einem schmalen Spalt zusammenlief, offen blieb. Ich konnte ihn – ein (auch) bedrohlicher, auf jeden Fall aber noch fremder Raum – ein erstes Mal betrachten. Dafür schien ich Ruhe, Stille und Rückzug zu brauchen. Und da alles dies an meinem inneren Auge vorüberzog und ich mich sammelte, um ein Fazit zu ziehen aus diesen verwirrenden und dennoch spürbar zielgerichte112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ten Strebungen, wurde ich mit einem klaren Bild belohnt. Es trug mir eine wichtige Botschaft zu: Diesen Anderen in seinem Anderssein ganz erfassen und ihm ohne Scheu, in innerer Freiheit und Abgelöstheit zu begegnen – dafür war es zu diesem Zeitpunkt noch zu früh. Deshalb versuchte ich zunächst, mich auf eine Art Vorstufe einzulassen: Da öffnete sich der Raum der Stunde, die nicht stattgefunden hatte und doch bedeutsam geworden war, vor mir in zweifacher Gestalt: als Zwischenraum (des Getrenntseins) zwischen mir und dem Analytiker und zugleich als ein offener Mund. Ein weiteres Mal entdeckte ich Zwiespältigkeit, symbolisiert im geöffneten Mund des Kindes, das auf Gegenwart, auf Nahrung und Tröstung hofft, und zugleich in jenem Zwischenraum, den ich offen zu halten und gegen mein Verlangen nach Verschmelzung zu verteidigen suchte, um auf dem Weg in die mühevolle Trennung nicht aufgehalten zu werden. Ich spürte beides, Mund und Zwischenraum, nebeneinander, ohne das Bedürfnis nach Genährtwerden zu verdrängen und jenes andere nach Eigenständigkeit preiszugeben. Das Kind begehrte in der schützenden Umgebung des Analytikers zu bleiben, und für eine Weile hatte ich mich entfernen müssen, um die damit verbundenen widersprüchlichen Gefühle zu begreifen und anzunehmen. Ohne den Analytiker auszukommen, um mich der Versuchung zu entziehen, mich in seiner Nähe weiterhin einzurichten. Andererseits aber ahnte ich, wie ich, indem ich mich abseits hielt, der spontanen menschlichen Fähigkeit, Zuneigung zu empfinden und sie offen zu zeigen, die mein Leben lebendig und wertvoll machen konnte, auswich. Liebe zu empfinden war ein Geschenk. Ich würde es annehmen, würde die Gefühle – nicht zurückgewiesen und aufs Neue verschlossen, sondern in langjähriger Arbeit geformt – als lebendige Möglichkeit in mir wahrnehmen. Es ging um die Anerkennung eigenen Begehrens, das – über die enge und einseitige Bedeutung sexuellen Verlangens hinaus – Zugewandtheit, Freude, Lust an Kommunikation und Austausch und das Annehmen eigener Wünsche meint, unabhängig von der Möglichkeit ihrer Erfüllung. Ich wusste – und vielleicht wagte ich es nur noch nicht, mich darauf zu verlassen –, ich würde dieses sich in vielfacher Gestalt äußernde Begehren, die LebensLust, das Bedürfnis nach Nähe und Gespräch regulieren und auch anderen Menschen zuwenden können. 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Indem ich es wagte, durch derartige Gefühle hindurchzugehen, erfuhr ich etwas über ihren inneren Gehalt, ihren Kern. Ich war erfüllt von Dankbarkeit und Zuneigung angesichts der Bereitschaft des Analytikers, Gefühle auf sich zu lenken und mich dabei zu unterstützen, ihre bedrängende Energie abzumildern und einzuordnen. Aber ich versuchte mich auch mit der Notwendigkeit zum Verzicht zu befreunden und den nahenden Verlust desjenigen Teils einer menschlichen Beziehung zu betrauern, der in der Wirklichkeit nicht gelebt werden konnte. Dann erst würde der Analytiker zu einem Anderen in aller Freiheit, und auch ich würde die Freiheit erleben, die im Loslassen liegt. Selbstwertgefühl, Anerkennung anderer und Realitätssinn würden sich zuverlässiger verbinden mit der Erfahrung, dass das besondere Verhältnis von Ähnlichkeit zu Verschiedenheit, von Vertrautheit zu Fremdheit jede menschliche Beziehung auf seine eigene, unverwechselbare Weise prägt. Es war für mich von großer Bedeutung, mich diesen Empfindungen zu nähern und sie mit aller Konsequenz zu durchleben. Hier nahm ich vorsichtigen Kontakt auf mit dem Teil der Gefühlswelt, den ich nicht oder nur in problematischer Form hatte leben können. Ich ließ mich nicht mehr so leicht beirren in dem Versuch, Stück für Stück freizulegen und zurückzugewinnen, was in Enttäuschung, Selbstzweifel, in Hass und Selbsthass untergegangen war. Der ursprüngliche Kern dieses verschlungenen, einander bedingenden und vorantreibenden inneren Geschehens ist vielleicht die Frage des Kindes: Wohin mit meiner großen, überwältigenden Liebe – zu den Menschen der ersten Jahre, zur Welt. Wer zeigt mir den Weg zu mir und wieder hinaus zu späteren erweiterten Lebenszusammenhängen, in denen Liebe und lebhaftes Interesse für die Außenwelt und das Verlangen nach Selbstbehauptung als scheinbar einander widerstrebende Antriebskräfte wirksam sind? Aber aus einer aus Geduld, Beispiel und Vorbild sich nährenden Liebe erwächst Verantwortung für die eigene Entwicklung, die zunächst zögernde, dann entschiedene Annahme des eigenen Lebens und der Anstrengung, es zu leben und zu gestalten mit Hilfe dessen, was Therapie geben kann. In der Weise, wie ich lange auf den Analytiker geschaut hatte, bevor ich mich selbst auszuprobieren begann, mochte einst das Kind erwartungsvoll auf seine ersten Bezugspersonen geschaut und gehofft haben, sie mögen es begleiten und anleiten. Seine noch unvollständige Welterfahrung und seinen 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Willen anerkennen, sich dem Leben zuzuwenden und darin von den Erwachsenen unterstützt zu werden, ohne ihnen gleich sein zu müssen. Sie vielmehr als Grenzmarkierungen und hilfreichen Widerstand zu erleben, von denen es sich abstoßen kann bei seinen Erfahrungen von Ähnlichkeit und Unterscheidung und einem organischen Übergang in Abschied und eigene Weiterentwicklung. Das erstaunliche Angebot, Kindheit noch einmal zu durchleben und zugleich als erwachsener Mensch neben sich zu stehen und zu versuchen, zwischen beidem eine Verbindung herzustellen, hält jene ordnenden und Grenzen aufrichtenden Erfahrungen bereit, die die analytische Arbeit so fruchtbar machen und spürbar zu seelischer Entlastung führen. Ich habe die intensive Arbeit an dem Versuch erlebt, die anfänglich von vorsichtiger Zurückhaltung wie Hoffnung durchsetzte Fremdheit zwischen dem Analytiker und mir im Sprechen aufzuheben. Im Schutz der analytischen Beziehung habe ich mich dem Wissen ausgesetzt, dass das Leben zugleich erfahrbar und unbegreiflich ist und alle Erkenntnis – auch die in einer langwierigen Therapie erworbene – Fragment. Aber dies grenzte den vielen meiner Konflikte zugrunde liegenden Allmachtswahn, das uneinlösbare Verlangen nach fragloser Daseinssicherheit und das vergebliche Bemühen um Vollkommenheit allmählich ein zugunsten einer Haltung, die mich mit Begrenzung und Verzicht zu rechnen lehrte, anstatt beides zu fürchten und dagegen anzurennen. Auf dem Hintergrund dieser verzweigten, sich bisweilen überschneidenden Überlegungen zeichnete sich zum Schluss ein Gesamtzusammenhang ab: das zu mir Kommen, das Getrenntheit zulässt und als notwendig mit vollzieht, beträfe in gelingender Entmischung von Bedürfnissen und Wünschen nicht nur den Anderen, sondern wesentlich auch mich selbst. Die Vorstellung des geöffneten Mundes als Ausdruck der Sehnsucht nach Genährtwerden und Schutz verlöre an Dringlichkeit, wenn ich – im Bewusstsein der Berechtigung und Reife meiner Empfindungen – aufhörte, mich meiner Erlebnisweise von Menschen und von Welt zu schämen. Die analytische Arbeit hat mich die Bedeutung von Grenzen in menschlichen Beziehungen gelehrt. Ich habe die Erfahrung machen können, wie hilfreich ein guter Umgang mit Grenzen dort ist, wo Menschen sich darum bemühen, sich bestehen zu lassen und einander nicht in die Defensive zu drängen. 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Vorboten des Abschieds Zu Beginn der nächsten Stunde teilte mir der Analytiker mit, dass er seinerseits vierzehn Tage nicht da sein werde und die nächste Stunde ebenfalls ausfallen müsse. Vielleicht hatten die vorangegangenen, noch eher tastenden Überlegungen zu Ähnlichkeit und Anderssein sich schon so weit gefestigt, dass ich diese Nachricht, die mir nach der durch meine Erkrankung versäumten Stunde eine weitere Pause auferlegte, mit Bedauern, aber auch mit Ruhe und Einverständnis entgegennahm. Ich konnte – und wollte – den Analytiker gehen lassen, wohin immer er auch ging. Aber das Unbewusste ging seine eigenen Wege, und Trauer und Verlustgefühle begleiteten dieses zusätzliche vierzehntägige Intervall. Im Herbst des nächsten Jahres würden die mir bewilligten Stunden zu Ende gehen. Wir schrieben November. Im gleichen Monat des kommenden Jahres wäre die gemeinsame Arbeit beendet, und ich hätte Abschied vom Analytiker genommen. Draußen war es dunkel, oft neblig und trübe, und so würde es auch dann sein. Etwas, das für mich von großem Wert war und mich über Jahre hinweg beschäftigt und ausgefüllt hatte, würde endgültig vorbei sein. Was aber war dieses »etwas« über die Person des Analytikers und die Nähe zu ihm hinaus? Gewiss waren es die Gespräche, das gemeinsame Nachdenken, die hilfreichen Deutungen und Richtigstellungen, die Tröstungen und Ermutigungen und nicht zuletzt die gelegentliche Strenge und Unnachgiebigkeit, wenn ich mich dem Fortgang des analytischen Prozesses verweigern wollte. Aber im Kern schien mir da noch etwas anderes zu sein, das alles dies vereinte und doch darüber hinausging: ein als grundlegend empfundener Schutz, erwachsend aus menschlicher Nähe, aus Geduld, Zuhören und Freundlichkeit. Als hielte der Analytiker die Hand über mich, und in seiner Gegenwart könne mir nichts zustoßen. Unabhängig vom jeweiligen Verlauf der Stunden hatte ich dies zu allen Zeiten empfunden, war in gewisser Weise während der Therapie noch immer vor dem Leben selbst und der Aufgabe geschützt, mich ohne Netz, verkörpert in der Person des Analytikers, dem Leben auszusetzen. Wenn Konflikte mich im Griff hatten, erinnerte ich mich der Stunden. Dorthin konnte ich bringen, was ich 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
meinte, nicht ertragen zu können, und meist öffneten sich Wege zu einem besseren Umgang und abnehmender Angst. Im kommenden Jahr würde ich allein sein, dem Leben ebenso ausgesetzt wie ich mich jetzt noch gehalten fühlte, mich darauf verließ und Kraft daraus zog. Ich wehrte mich nicht gegen diese Gedanken, sondern versuchte, mich zu ihnen zu verhalten wie zu den Erfahrungen mit meinen feindseligen Gefühlen. Je öfter ich mich in der verbleibenden Zeit Empfindungen vorausschauender Trauer überließ, sie wahrnahm und auf mich nahm, sobald sie sich zeigten, umso weniger konnten sie den Abschied als Bedrohung erscheinen lassen. In diesen Augenblicken waren es nicht mehr ambivalente Gefühle von Liebe und Wut, die mich angesichts der unausweichlichen Trennung erfüllten, sondern Liebe und Bejahung und ein Entschluss, die verbleibenden Stunden gut zu nutzen. Den Analytiker als einen von mir getrennten Menschen deutlicher als bisher wahrzunehmen und dennoch meine zugewandten Empfindungen nicht abzuwehren, sondern sie in der Überzeugung zu leben, sie seien gestaltet und respektierten den Anderen in seiner Eigenständigkeit. Denn ich selbst war nach wie vor in der Entfaltung meines Soseins und meiner Empfindungen gehemmt angesichts der frühen Erfahrung, in meinem Wesen zurückgewiesen worden zu sein – eine Erfahrung, die sich körperlich in mich eingeschrieben hatte in der konkreten Befürchtung, bei jeder – auch nur verbal zustimmenden – Berührung oder einem Wunsch, vor allem gegenüber einem Mann, abgeschüttelt zu werden. Spontane Gefühle von Zuneigung und Nähe zu einem Anderen empfand ich schnell als Zudringlichkeit und kindliche Formlosigkeit, die für ihn unerträglich sein musste. Ich unterdrückte solche Gefühle, verbarg sie hinter Zurückhaltung und Förmlichkeit und hatte oft die Empfindung, ich müsse andere vor mir und der Heftigkeit meines Fühlens schützen – obgleich ich mich nach dieser langen Therapie als spürbar geordneter und die Inhalte solcher Empfindungen als wertvoll und gut empfand. Deutlich zeigte sich dies auch in meinen menschlichen Beziehungen. Aber nicht den Analytiker – der sich notfalls würde zur Wehr setzen können – musste ich schützen vor Gefühlen, sondern letztlich mich selbst dort, wo sie noch immer Spuren kindlicher Wünsche nach Verschmelzung und bedingungslosem, die Zufälligkeit 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
des Lebens außer Kraft setzendem Schutz erkennen ließen. Solange ich sie in dieser Form spürte und mich von ihnen nicht befreien konnte, würden sie mich den späteren Abschied nicht als Tor zu seelischer Autonomie, sondern als einen bedrohlichen Akt erleben lassen. Ihre tiefste Wurzel waren Todes- und Vernichtungsangst als Ausdruck einer frühen Angst, nicht ich selbst sein zu dürfen und keinen eigenen Zugang zur Welt zu finden. Wenn ich aber meine Empfindungen anerkannte und lebte, ohne mich nach Verschmelzung mit einem mächtigen Anderen zu sehnen, würden Gegenwart und eine Zukunft, deren zeitliche Begrenzung wir nicht kennen, so erlebt werden, dass der Tod als natürliche Grenze und nicht als gewalttätige, Leben vernichtende Kraft erlebt wird. Ich hatte mich schon lange vor dem eigentlichen Ende gefragt, was der Abschied aus der analytischen Arbeit bedeutet, worin dieser Prozess eigentlich bestehe und was noch zu durchdenken wäre, um die Trennung als notwendige und fruchtbare Phase der gemeinsamen Arbeit zu erfahren. Es konnte nicht in erster Linie, wie ich lange vermutete, um Ablösung gehen im Sinne eines rigorosen Durchtrennens einer langsam gewachsenen, manchen Gefahren ausgesetzten und daher tiefen und nachhaltigen Bindung. Dies hätte aus meiner Sicht dem Prozesscharakter der gesamten Arbeit widersprochen und den wahrscheinlich bedeutenden Einfluss vernachlässigt, den diese Arbeit und das Erleben ihrer schöpferischen Inhalte wie der Person dessen, der dieses lenkte, weit über die Stunden hinaus haben würde. Die Antwort auf die Frage, worin die Lösung aus der Übertragung bestünde und wie sie gelingen könne, schloss diesen Aspekt einer Durchtrennung zwar ein, indem das Ende der Stunden und der gemeinsamen Arbeit unwiderruflich sein würde, aber ihr eigentlicher Kern musste in anderen Erwägungen liegen, die diesen Prozesscharakter berücksichtigten und aufnahmen. Ich versuchte, auf diese Frage persönliche Antworten zu finden. Sie orientierten sich an dem tiefsten meiner seelischen Bedürfnisse – dem Verlangen nach Sicherheit. Im Verlauf des therapeutischen Prozesses waren Wesen und Gestalt des Analytikers in meiner inneren Welt zu einem Zufluchtsort geworden, an dem ich mich beheimatet fühlte und von dem ich immer wieder ausgehen und mich in schwierigen Phasen neu orientieren konnte. Ich suchte diesen Ort auf, wenn ich Trost und Zu118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
wendung brauchte, und zog mich dorthin zurück, wenn ich nachdachte und mich dabei in einem wortlosen inneren Gespräch mit dem Analytiker befand. Dieser innere Ort war weitgehend identisch mit seiner äußeren Gegenwart oder vielleicht kann man sagen, beides werde parallel genutzt um eines verlässlichen Gehaltenseins willen. Der innere Ort bot Zuflucht in den Zeiten, da ich nicht mit dem Analytiker sprechen konnte. Aber zugleich war es seine verlässliche Gegenwart während der Stunden, die auf den inneren Ort und die Zeit zwischen den Stunden zurückwirkte und mich davor bewahrte, dort einer Einsamkeit ausgesetzt zu sein, die mich vielleicht in unerträglich erscheinende Ängste gestürzt hätte. An diesem Ort sprachen die verinnerlichte Stimme des Analytikers als vertrauenswürdige und wissende Instanz und das beobachtende Ich miteinander, das zwischen jener Stimme und meiner Gegenstimme vermittelte. Dieser lautlose Dialog, dessen Inhalte in den Stunden festgehalten, benannt und betrachtet wurden, erschien mir wie eine innerseelische Spiegelung des zwischen dem Analytiker und mir bestehenden Arbeitsbündnisses. Was bedeutete dann die Vorstellung eines gelingenden Abschieds? Ich stellte mir dies vor als immer wieder neu aufgenommene Versuche, die Begleitung des Analytikers entbehren zu lernen und die damit verbundene Trauer auszuhalten, da sich immer seltener Wünsche auf ihn sammeln, die nicht seiner realen Person, sondern ihm als einem Repräsentanten früherer Bezugspersonen gelten. Als der Mensch, der er jenseits von Übertragungen wirklich war, als erlebte Heimat und Stimme würde er mir lange, vielleicht immer gegenwärtig bleiben. Das Gespräch, das mit dem Beginn der Therapie seinen Anfang nahm und sich in mir und im unmittelbaren Austausch mit ihm in den Stunden entwickelte, hatte in den langen Jahren, in denen wir es führten, zu einem eigenen Rhythmus gefunden. Sein tastender Beginn, gefolgt von einem zunehmenden Strömen bewusst werdender, sich wechselseitig fördernder Inhalte bewirkte eine fortschreitende Vertiefung gegenseitigen Verstehens wie des Selbstverständnisses derer, die diesen Dialog führten und sich seinem Fluss überließen. Es gab Stockungen und Stauungen, Ab- und Irrwege und zuweilen Entfernungen. Wo das Gespräch nicht abgebrochen wird, weil Missverstehen und Vergeblichkeitsgefühle es scheitern lassen, tragen auch und gerade konfliktreiche Phasen zu seiner 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Dichte und seinem inhaltlichen Reichtum bei. Von diesem Rhythmus aus Stille, Warten und neuem Fließen ist das Sprechen getragen, und es ist die erlebte Fülle, die es schließlich einmünden lässt in einen Zustand, da das Wesentliche gesagt und durchgearbeitet erscheint, verglichen und geprüft. Trotz aller Trauer regte sich in mir der Wunsch, die gemeinsame Arbeit abzuschließen – um zur Ruhe zu kommen, mich zu mir zurückzuziehen und dem, was ich erfahren und erlebt hatte, Zeit zu lassen, sich zu festigen. Ich dachte mir den Abschied nicht als ein punktuelles Ereignis, sondern als einen Prozess, der mit dem Augenblick, in dem sich die Tür des Ortes, der Zuflucht geworden war und Denkraum, hinter mir ein letztes Mal schließen würde, nicht endet, sondern im Eigentlichen erst beginnt. Die Vorstellung von Abgrund und Leere, die sich im Gedanken an die Trennung zuweilen einstellt – eine Art vorweggenommener Tod oder scheinbar abgeschnittene Lebendigkeit, als ginge mir eine ganze Welt verloren –, vielleicht verwandelt sie sich in eine Bindung, die realer Gegenwart nicht bedarf, um mich Zeit meines Lebens als Halt und Kraftquelle zu begleiten.
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Meine Sprache bin ich Die Überschrift zu diesem Kapitel ist übernommen von einer Veröffentlichung der amerikanischen Psychoanalytikerin Beulah Parker (Parker, 1962/dt. 1970), die den gleichen Titel trägt. In ihrem Buch berichtet die Autorin in bewegender Weise über die Behandlung eines schizophrenen Jugendlichen. Der junge Patient hatte eine Privatsprache entwickelt, mit deren Hilfe er eine innere Welt darzustellen versuchte, die mit der Wirklichkeit kaum noch etwas gemeinsam hatte. Er war für seine Therapeutin anders nicht zu erreichen, als indem sie sich die von ihm verwendete Sprache aneignete. So konnte sie sich mit ihm verständigen, seine spezifischen Bezüge zur Welt, zu anderen und zu sich selbst nachvollziehen und Wege suchen, zwischen seiner Welt und der Wirklichkeit des Alltags therapeutisch zu vermitteln. Ein Auszug aus einer Rezension in »Psychoanalytic Review« (Strean, 1962; Übers. v. d. Verf.) zu Parkers Buch gibt den Sachverhalt sehr klar wieder: »›wenn du meine Sprache verstehst und anerkennst, wirst du mich verstehen und anerkennen. Meine Sprache bin ich‹. Uns wird hier die Geschichte eines an Schizophrenie erkrankten Jugendlichen erzählt, dessen Bildersprache und Symbolik quasi seine einzigen Möglichkeiten darstellen, sich zu anderen in Beziehung zu setzen; wie die meisten Schizophrenen vermag er Sprache nicht als Mittel der Kommunikation zu benutzen, sondern ausschließlich mit dem Ziel, sich zu schützen.« Ich hatte dieses Buch vor sehr langer Zeit gelesen und erinnerte mich spontan daran, als ich nach einer geeigneten Überschrift für dieses Kapitel suchte. Sprache als Selbstschutz spielte auch eine Rolle bei meinen Versuchen, andere und mich selbst als getrennt wahrzunehmen. Das Unvermögen, in wechselseitiger Kommunikation Realität zu gestalten, hatte Auswirkungen auf eine Fähigkeit, ohne die ein fruchtbarer Austausch mit anderen zum Scheitern verurteilt ist: Sprache zu begreifen als Teil eines Beziehungsgeschehens, dessen Gelingen auf Zuhören und auf Verständlichkeit des Mitgeteilten angewiesen ist. Sich so mitzuteilen, dass ein Anderer aufnehmen kann, was gemeint ist, bezeichnet ein aufmerksames inneres Bezogensein auf diesen Anderen. Aber mir fiel es schwer, unterschiedliche Standpunkte gelassen vorauszusetzen und auszuhalten und die Beiträge anderer wie die eigenen anzuerkennen. 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
In meinem ersten Bericht über den analytischen Prozess hatte ich beschrieben, wie ich mich zu Anfang der Therapie auf jede Stunde vorbereitete und sich der Analytiker sehr bald dagegen verwahrte. Ich schloss ihn damit gleichsam aus dem analytischen Dialog aus, und mein Vorgehen hinderte mich selbst daran, mich auf die seelischen Probleme und auf meine eigentliche Ratlosigkeit einzulassen. Diese damals noch zwanghaft unternommene Vorbereitung diente – unter anderem – dem Ziel, meine innere Welt darzustellen, meine Überzeugungen zu rechtfertigen und mich so davor zu schützen, dass das Ich, das ich umschrieb, durch therapeutische Klarstellungen angegriffen wurde und zu zerbrechen oder auseinanderzufallen drohte. Später erlebte ich meine Mitteilungen dessen, was ich mir zwischen den Stunden erarbeitet hatte, anders, um bestimmte Dimensionen erweitert und näher an der Wirklichkeit: Ich kam in die Stunden mit dem Wunsch, das, was ich mir überlegt hatte, dem Analytiker zu übergeben mit der stillschweigenden Bitte, er möge es festhalten und bewahren, auch überprüfen und mir wiedergeben in einer Form, die es in einen größeren Zusammenhang stellte, vertiefte und ergänzte, damit ich es eines Tages selbst halten konnte. In den Zeiten zwischen den Stunden war ich damit beschäftigt, Erinnertes zu bergen und zu sichern und mit meinem aktuellen Erleben zu verknüpfen. Obwohl das, was ans Licht gelangte, aus dem eigenen Inneren stammte, war es zunächst nur lose mit dem bewussten Denken verbunden – als noch unstrukturiertes Material bedeutsam, aber auch flüchtig und zerbrechlich, immer auf dem Sprung, sich zurückzuziehen dorthin, von wo es aufstieg, und daher angewiesen auf Deutung, Einordnung und das Bewahren der Inhalte, wo ich dies noch nicht leisten konnte. Wenn ich mir wünschte, der Analytiker möge meine Funde annehmen und mir so zurückgeben, dass ich sie halten und mit ihnen arbeiten konnte, verkannte ich allerdings, dass mit seiner Reaktion auf meine Mitteilungen eine Versachlichung, ein Objektivierungsvorgang in Gang gesetzt wird, der mit inhaltlichen Veränderungen und Gewichtsverschiebungen des Mitgeteilten einhergehen konnte. In seinen Kommentaren sprach der Analytiker zu mir als ein Anderer in seinem Selbstsein, mit seinen theoretischklinischen Erwägungen und seiner Lebenserfahrung. Erst als ich dies nach und nach besser aushalten konnte, fand ich Zugang zu der inneren Anspannung, die ich häufig empfand, 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
während ich auf eine Antwort von ihm wartete. Sie entsprang der Befürchtung, in dem, was mir da zurückgegeben wurde, meine eigenen Gedanken nicht mehr wiederzufinden. Meine Inhalte würden verdreht, mir entwendet, durch fremde Worte und fremdes Denken unkenntlich gemacht und vernichtet. Hier erfuhr ich in einer für meine Störung charakteristischen Form Unterschiedlichkeit oder Anderssein und wusste dem nicht anders zu begegnen als mit Furcht und negativer Erwartung. Ich konnte sehen und einbeziehen, dass andere anders denken und reagieren als ich selbst. Aber mir fehlten die sichere Erfahrung – und das Vertrauen –, dass auch Übereinstimmung im Bereich des Möglichen lag, wechselseitige Anerkennung bei gleichzeitigem Selbstsein nicht auf bloßem Wunschdenken beruhte und vom Analytiker vorgetragene Zweifel oder Widerlegungen nicht gleichzusetzen waren mit Vernichtung. In meiner durch frühe Erfahrungen eingeengten Wahrnehmung fürchtete ich, der Analytiker werde sich meines Denkens bemächtigen, es in Besitz nehmen, als seines ausgeben, und ich bliebe entleert zurück. Wenn, wie bei Beulah Parkers Patienten, Sprache gleichgesetzt ist mit dem Selbst und das Selbst geschützt werden muss, wird nachvollziehbar, als wie gefahrvoll Kommunikation erlebt werden kann. Sie ist immer verbunden mit der Möglichkeit von Zweifel und Widerlegung – aus meiner Sicht als Patientin also mit Angriff und Vernichtung. Die sicherste Schutzmaßnahme vor Selbstverlust liegt dann im Rückzug aus der Kommunikation, in Schweigen oder feindselig getönten Entgegnungen. Oft, wenn der Analytiker meine Mitteilungen aufnahm und sie, in – auch kritische – Erwägungen übersetzt und mit eigenen Erfahrungen angereichert, an mich zurückgab, verkrampfte sich mein Körper, und ich fürchtete, meine eigenen Denkinhalte unter dem – oft nur geringfügig veränderten – Bild dessen, was mir zurückgegeben wurde, nicht mehr zu finden. Schon mit einer unwesentlichen Umformulierung meiner Worte und Sätze schien er mir vermitteln zu wollen, meine Sprache sei unangemessen und falsch, die zugrunde liegenden Erfahrungen lächerlich und bedeutungslos. Die Folge waren körperliche Anspannung, Widerstand und Angst. Es brauchte Zeit, bis ich von einem eher passiven Erleiden dieses Versachlichungsvorgangs dazu überging, ihn zu wollen, weil ich ahnte, dass Gespräch nicht zwangsläufig mit Macht und Unterdrü123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ckung zu tun haben muss, sondern Rede und Gegenrede mit Genuss, mit Nähe und einer Stärkung des Selbstgefühls verbunden sein können. Der Analytiker griff das von mir Geäußerte und Entwickelte nur auf und übersetzte es in seine Erfahrungs- und Vorstellungswelt. Dabei erfuhren meine Argumente Ergänzung und Vertiefung und vielleicht wurden sie hier und da auch bezweifelt, entkräftet und widerlegt – Objektivierung als ein dem gemeinsamen Sprechen innewohnender Prozess, in dem ein Beitrag den folgenden bedingt und befördert, ohne den jeweils vorhergehenden zu entwerten. Ich habe die Unterschiedlichkeit und damit die Getrenntheit zwischen dem Analytiker und mir – oder, anders gesagt, sein und mein Selbstsein – lange gefürchtet und bin dieser Erfahrung oft genug ausgewichen. Zugleich war mir bewusst, dass gerade dies zu den Voraussetzungen gelingender und anregender Verständigung zählte. Aber es fiel mir schwer, Misstrauen und Vernichtungsangst zurückzustellen und auf eingefahrene Abwehrstrategien zu verzichten. Ich hatte wenig Vertrauen in meine Denkhaltungen und die sich daraus ergebenden Argumente, konnte Einreden nicht ernsthaft und angstfrei bedenken und den Austausch genießen. Andererseits spürte ich deutlich, wie meine Neigung zu Rückzug, Unterwerfung oder Aggression die Atmosphäre der Gespräche beeinträchtigte. Die gesamte Beziehung war dann geprägt von Distanz und Aneinander-vorbei-Reden, während Offenheit, Zuhören und Mut zu mir selbst mich vor dem befürchteten Verlust des Selbstgefühls schützten. Zuweilen wohnte dann den Gesprächen eine Leichtigkeit und Dichte inne, die ich sehr genießen konnte. Um mich sicher und wertvoll zu fühlen, war ich angewiesen auf zustimmende Spiegelung. Lange überzeugte nur sie mich davon, dass ich denken konnte und mich nicht dumm, schuldig und entwertet fühlen musste. Blieb die Zustimmung aus, fühlte ich mich fallengelassen und beschämt und reagierte mit Wut oder Selbstentwertung. Und auch wo es gelang, den Analytiker als eigenständig und mich als getrennt von ihm zu erleben und mein Bedürfnis nach Austausch zu spüren und ernst zu nehmen, stellte sich nicht schon automatisch eine Ahnung von Gleichwertigkeit ein. Vielmehr war in meiner Welt zwischen mir und einem Anderen alles zu Ende in dem Augenblick, in dem ich ihn in seinem Anderssein erkannte. Getrenntheit und Selbstsein im Dialog mit anderen erhiel124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ten dann die Bedeutung eines Absturzes in unaufhebbare Vereinzelung. Schon deshalb musste ich den Anderen mit Hilfe der Übertragung festhalten. Denn wenn diese ihn und seine Wirklichkeit auch nahezu vollständig verbarg, so war er in meiner Welt doch noch vorhanden und würde nicht fortgehen. Aber auf der Ebene des Erwachsenen verhehlte ich mir nicht, wie dies darauf hinauslief, dass ich nichts von ihm wusste und es keine Möglichkeit gab, mehr über sein Wesen und Denken zu erfahren, als ich auf dem Wege über seine Reaktionen auf meine Wirklichkeitsverzerrungen erfuhr. Die Welt und die menschlichen Beziehungen als Bühne offenen Austausches, wechselseitiger Anerkennung und Bereicherung waren mir nicht fremd, aber häufig nicht zugänglich. Wo ich des Anderen nicht sicher sein konnte, wagte ich es oft nicht, mich angstfrei und interessiert zu bewegen. Es bedeutete einen langen Lernprozess mit vielen Rückschlägen und Enttäuschungen, bis ich mir mehr Vertrauen entgegenbrachte und es manchmal gelang, die positiven Erfahrungen des analytischen Dialogs – und deren verändernden Einfluss auf meine innere Haltung gegenüber anderen Menschen – in meinen Umgang mit der Außenwelt zu übertragen und mich der Versuchung zu enthalten, mich gegen Verunsicherung, Minderwertigkeitsgefühl und Denkhemmung durch Entwertung und uneinfühlsames Bestehen auf meinen Ansichten gegenüber den Überzeugungen anderer zu schützen.
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Warten Lernen Der nahende Abschied beginnt tiefere seelische Schichten zu berühren. Zweifel und Traurigkeit wechseln ab mit hoffnungsvollen Empfindungen und dankbarem, zuversichtlichem Blick nach vorn. Es stellen sich mir Fragen zu dem, was ich erreicht habe, was in analytischer Therapie erreicht werden kann und woran der Analytiker und ich erkennen werden, dass sie abgeschlossen werden sollte – wenn beide auch stillschweigend wissen, dass sie im Kern unabgeschlossen bleiben wird. Der therapeutische Prozess kann nur eine Wegstrecke bezeichnen im Fluss seelischer Entwicklung, und auch dort, wo er tiefe Spuren hinterlässt und weite Bereiche mit seiner erkennenden und verändernden Kraft durchdringen konnte, bleibt er begrenzt, jedoch offen für den Zufluss aus zukünftiger Erfahrung. Die Bewegungen, die ihn antrieben – meine ursprüngliche Störung und das Verlangen, ihre Symptomatik einzugrenzen –, haben ihre anfängliche Energie verloren. Der von der Störung ausgehende bedrängende Druck trug über die Jahre hinweg den Willen zur Veränderung. Mit zunehmender Einsicht in die Symptome, ihre Antriebe und Ursachen, milderte sich seine lähmende und zersetzende Kraft. Trotzdem kam es selbst in der Endphase noch zu vermeintlichen Rückschritten und Enttäuschungen, die mich daran zweifeln ließen, dass ich weitergekommen war. Langsam erkannte ich aber in solchen Augenblicken – und der Analytiker versuchte geduldig, mich immer wieder auf die Erde zurückzubringen –, dass ich dem alten Vollkommenheitswahn erlag, anstatt mein Leben anzunehmen und es zu würdigen. Dass es auch Dinge zu würdigen gab, dachte ich ein erstes Mal kurz vor dem endgültigen Ende der gemeinsamen Arbeit, nach einem letzten Aufbegehren und mich Aufbäumen gegen das, was das Leben an Unerfülltem und Schmerzlichem beinhaltet hatte. In dieser dennoch gelockerten und offenen seelischen Verfassung – im Alter eine störbare, schwankende Offenheit – suchte ich manchmal nach Bildern, die Abschied und Neubeginn zueinander in Beziehung setzten. Eines Morgens, in dem schwebenden Zustand zwischen Schlaf und Erwachen, fand ich eine vorsichtige Antwort auf meine Frage, was es denn eigentlich sei, das ich zurücklassen müsse. Ich kam einer Trauer auf die Spur, die das, was 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
fehlen würde – Begegnung, Gegenwart und Gespräch –, einbezog und zugleich überstieg. Über das hinaus, was ich bekommen hatte, entdeckte ich in mir fast schon vergessene Impulse von Lebendigkeit und Freude. In der Zeit vor der Therapie verloren gegangen, waren sie in den vergangenen Jahren neu genährt worden mit dem, was Zusammensein und gemeinsames Tun in mir weckte an Hoffnung und Abwesenheit von Besorgnis und Einsamkeit – Empfindungen, die mit der Zeit der Zone eines Urvertrauens so nahe kamen, dass auch konfliktreiche Phasen sie nicht auslöschen konnten. Den Verlust dessen, was ich in bestimmten Perioden analytischen Nachdenkens als späte Erfüllung erlebt hatte, die mich motiviert und getragen hatte, glaubte ich leisten zu können. Es gab in mir Elemente von Unabhängigkeit und freiwilligem Verzicht, auf die ich mich vielleicht verlassen konnte, auch wenn sie mir zeitweise noch zu entgleiten drohten. Aber auch der Gedanke an den Tod streifte mich immer öfter und ließ sich nie mehr ganz abweisen. Und da ich – angesichts des Lebens und der Schöpfung, die mir Bewunderung und Liebe einflößten – den Tod, der mir alles dies nehmen würde, als ein Ende allen Lebendigseins begriff, kam auch der Abschied aus der Therapie einer Art Tod nahe. Der Trauer angesichts der Vorstellung eines Nicht-mehr-Seins entsprach ein tiefes Bedauern über den bevorstehenden Verlust an lebendigem Vollzug, an Nähe und gemeinsamem Nachdenken und Austausch. Mit dem Ende der therapeutischen Arbeit würde durchtrennt, was ich als nährend und bereichernd erlebt hatte auch dann, wenn die Konflikte mir phasenweise unüberwindlich erschienen. Ich war beschenkt worden wie ein Kind, das in einer guten, haltenden Umgebung aufwächst, und sah mich vor die Aufgabe gestellt, die Instrumente, die die Therapie mir an die Hand gegeben hatte, zu nutzen, um jenseits des Tores des Todes (Hemmer, 2007, S. 91) meinem Verlangen nach Lebendigkeit, Selbstvertrauen und tragenden Beziehungen weiterhin nachzugehen. Das Tor war mir in diesen Jahren nahe gebracht worden als eines, das zum Selbstsein führte, zur Erfüllung des Daseins in seinen Möglichkeiten, zur Annahme auch seiner Daseinsbedingungen in Gestalt von Begrenzung, Zufälligkeit und Zerbrechlichkeit. Aber obgleich dieses Hindurchgehen Neubeginn beinhalten würde, gemahnte der Gedanke daran mich vorerst nur an das Ende, an das, was sterben würde und zurückgelassen werden musste. Nur zögernd ließ ich die Hoffnung zu, die 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Fülle, die ich erfahren hatte, wohne vielleicht nun auch in mir, und ich fände sie außerhalb des therapeutischen Ortes vor – in meinem eigenen Leben, meinen Tätigkeiten und menschlichen Beziehungen –, wenn ich sie nicht als selbstverständlich hinnahm und mich weiterhin um sie bemühte. Über viele Jahre hinweg hatte ich an dem Entwurf einer Erzählung gearbeitet, ohne im Manuskript entscheidend weiter zu kommen. Wegen einer Sprach- und Schreibhemmung, der ich in meinem früheren Bericht ein ganzes Kapitel gewidmet habe und die einer der Gründe für die Aufnahme der Therapie gewesen war, hatte ich sie nicht beenden können. Jetzt, da ich versuchte, mich mit der immer wieder aufbrechenden Trauer zu befreunden, holte ich das Manuskript hervor. Von neuem tauchte ich ein in den Text, und einen Augenblick lang regte sich die Freude, mit der ich anfangs daran gearbeitet hatte, mit vorsichtigem Flügelschlag. Aber dann zog sie sich wieder zurück, zu matt, um zu mir durchzudringen und mich zu tragen, zu schwach, um anzukommen gegen die Traurigkeit. Da legte ich alle Entwürfe noch einmal beiseite, um mich der Traurigkeit zu öffnen, ohne ihr Einhalt zu gebieten oder sie wegzudrängen. Ich stellte mir vor, es gäbe die Stunden schon nicht mehr, in denen ich den Analytiker sehen und mit ihm sprechen konnte, ihm zuhören und die Erfahrung machen, wie Ungeordnetes sich in Zusammenhang und Sinn verwandelte. Bewusst schaute ich auf die mir leer erscheinende Ebene jenseits des Tores und versuchte, nichts anderes mehr zu tun als zu warten. Zu warten, ohne zu wissen worauf, ohne Wille und Vorstellung. Zu warten auf etwas, das – vielleicht – mir zeigen würde, wie mit meinen Unsicherheiten und Befürchtungen umzugehen sei. Aus der Traurigkeit, von der ich mich begleiten ließ, erwuchs dann manchmal ein neues Wissen um das, was ein Kind, aber auch später noch den Erwachsenen antreibt, sich dem Leben zuzuwenden: der Impuls, sich neuen Erfahrungen zu überlassen, nach schöpferischen Formen zu suchen, in denen wir zum Ausdruck bringen und bewältigen können, was bedrückt und unüberwindlich wäre, wenn wir uns aus dem Leben zurückzögen. Als ich mir dies alles sagte, verwandelten sich das Schreiben und die damit verbundenen Größen- und Rettungsphantasien, mit denen ich Verlustempfindungen und Trauer hatte abwehren wollen, in ein Ausdrucksverlangen, das seine Antriebe nun aus der Wärme und 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Lebendigkeit des Trauerns selbst zog. Jetzt war es die Empfindungsfähigkeit in ihrer Fülle und Eindringlichkeit, die mir das Gefühl gab, über Quellen zu verfügen, aus denen ich schöpfen konnte, wenn die Quelle, die mich genährt hatte, nicht mehr da sein würde. Aber solche Überlegungen, obgleich ich sie als konkret und begründet empfand, waren meinen wirklichen Empfindungen oft noch voraus, und es gelang nicht immer, die Einsichten, aus denen sie hervorgingen, mit meinen inneren Möglichkeiten zu verbinden. Größenvorstellungen lagen dann im Widerstreit mit dem Bemühen, dem, was mir anfechtbar erschien und was ich ablegen wollte, weiterhin geduldig und wiederholt den Boden zu entziehen. Schwieriger noch schien es mir, neue Denk- und Handlungsmuster selbstverständlicher werden zu lassen und die – rechtzeitiger Wahrnehmung oft noch entzogenen – Impulse in neue Bahnen umzulenken. Der Analytiker versuchte, mir diese enttäuschenden Erlebnisse, wo sie mich mutlos und selbstdestruktiv machten, zu erleichtern. Er verglich meine Reaktionsweisen und die oft vergeblichen Anstrengungen, sie zu kontrollieren, mit einer Autobahn, auf der sie mit Höchstgeschwindigkeit dahinschießen, weil sie keine andere Straße kennen und oft noch kein anderes Ziel im Sinn haben, als andere angstgeleitet anzugehen, um mich zu schützen. Er regte an, mir neben diesen Bahnen eine Art Trampelpfad festzutreten, auf den ich ausweichen und auf dem ich innehalten konnte. Ich würde dann vielleicht den winzigen, aber entscheidenden Impuls spüren, der mich rechtzeitig wahrnehmen ließ, was in mir vorging. Dies würde mich davor bewahren, auf die Autobahn zu geraten und Neid, Abwehr und Eifersucht die Zügel schießen zu lassen. Das Gelingen der Versuche, automatisch ablaufende Reaktionsmuster rückgängig zu machen, hing nach aller Erfahrung, über die ich inzwischen verfügte, wesentlich davon ab, inwieweit mich Einsichten nicht nur in der mentalen Verarbeitung, sondern auch in der Gefühlswelt und ihren vielen Abkömmlingen erreicht hatten. Gefühle aber unterlagen in meiner Welt einem Verbot. Sie hatten etwas Unordentliches, Unkontrollierbares, das in Schach gehalten werden musste. Ich begegnete ihnen mit Misstrauen und suchte sie im Zaum zu halten mit Hilfe des Verstandes und seiner einseitigen Neigung, Einsichten aus ihrem emotionalen Zusammenhang zu lösen und mich dazu zu verpflichten, ihnen zu folgen ohne Rücksicht darauf, ob sie dem entsprachen, was ich insgesamt fühlte und zu tun wünschte. 129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Es gab wohl kaum ein Gebiet, auf dem die Erfahrung von Einschränkung und Begrenzung – nicht zuletzt auch infolge meines Alters und der langen hinter mir liegenden Lebenszeit – mich mehr beunruhigte, als wenn ich darüber nachsann, wie es – ungeachtet genetischer, neuronaler und durch Erziehung gegebener hartnäckiger Prägungen – gelingen konnte, die auf eingefahrenen Bahnen überschießenden Impulse ohne Bewertung wahrzunehmen und allmählich zu zähmen, ohne dass Gefühle von Vergeblichkeit mich vorzeitig aufgeben ließen. Auf einer tieferen Schicht bewegten sich meine Gedanken, neben manchen Selbstzweifeln, aber nach wie vor um das, was sich für mich mit dem Ende der Therapie verband, und ich hatte Anlass, die anschauliche und genaue Sprache der Träume zu bewundern und ihre Botschaften dankbar entgegenzunehmen. Denn in meinen Träumen gelang, was mir selbst oft nicht zugänglich war: Verstehen und Gefühl zu verbinden zu eindringlichen Bildern, die alles, was zu einer Empfindung, zu innerer Erfahrung und unbewusstem Erleben zu sagen war, benannten und zu einleuchtenden, wenn auch oft ungewöhnlichen Zusammenhängen ordneten. Wenn dann eine einfühlsame Deutung des Analytikers, bezogen auf meine inneren Konflikte, hinzukam, wurde beides zu einem Meilenstein auf dem Weg zu verstehen, was in mir vorging. Tote seelische Bereiche füllten sich mit neuen Bedeutungen und lebendiger innerer Erfahrung. Ich komme in die Therapiestunde. Das Zimmer ist mir vertraut, es ist gewiss das richtige Zimmer. Und doch sieht es heute anders aus als sonst. Es gibt dort keine Couch mehr, und auch die beiden Sessel – der des Analytikers und der andere, für die Patienten vorgesehene – sind offenbar entfernt worden. Die Rückwand des Zimmers ist voller Bücherregale, die beiden Flügeltüren sind weit in das Zimmer hinein geöffnet. Zimmer und Flur ähneln nicht mehr dem Geborgenheit und Zuhören gewährenden Binnenraum, den ich kenne. Vielmehr ist alles weit, licht und großzügig geöffnet. Ich stehe unschlüssig im Flur, und der Analytiker, der in die Stadt fahren will, bietet mir an, mich im Auto dorthin mitzunehmen. Während er geht, um die Autoschlüssel zu holen, kehre ich noch einmal in das Zimmer zurück, um mir die Bücher anzusehen. Aber da ist eine Zurückhaltung, ein leises Zögern. Ich will mich nicht mehr vertiefen, denn ich fürchte, mich nicht von dem Raum, den Büchern und ihrer stellver130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
tretenden Repräsentanz des Analytikers lösen zu können. Ich unterdrücke deshalb meinen Impuls, an den Reihen der Bücher entlangzugehen und sie zu berühren, und kehre in den Flur zurück. Dort wartet inzwischen der Analytiker mit den Autoschlüsseln, und aus irgendeinem Grund geben wir uns jetzt schon die Hände. Er hat einen kräftigen Händedruck, während mein Händedruck eher verhalten ausfällt und zögernd. Als ich aber seinen festen Händedruck spüre, drücke auch ich kräftig zu und er sagt zu mir: »Sehen Sie, so ist es recht.« Nach der Autofahrt, die der Traum nicht erzählt, erreichen wir einen großen Marktplatz. Ich steige aus, und das Erste, was ich erblicke, ist ein Leichenwagen. Er ist auf dem Platz geparkt, der Fahrer ist nirgends zu sehen. Ich schaue mich um. Eine dichte Menschenmenge flutet über den Platz. Der Analytiker ist nicht mehr da, ich bin allein. Ein Todes- und Abschiedstraum – so deutete ihn der Analytiker. Noch lange danach spüre ich meine wehmütige Abkehr von den Büchern. Den Händedruck erinnere ich als eine letzte Nähe, und die die zunehmende Festigkeit meines Händedrucks bestätigenden Worte, dies sei so recht, als Ermutigung, Abschied zu wollen und zu bejahen. Die Weite und Offenheit des Therapieraums schien mir der Bewegung zu gleichen, mit der eine Mutter ihr Vogeljunges aus dem Nest wirft und in die Wirklichkeit entlässt – verkörpert in dem Marktplatz, auf dem ich mich unter so vielen Menschen allein zurechtfinden muss. Aber was besagte dies im Kontext dieser letzten Monate? In meiner Beziehung zum Analytiker, der mir half, das Gefährt meines Lebens auf ein neues Gleis zu schieben, erlebte ich vorerst nur vorsichtige, eher zaghafte Wünsche nach Loslösung und innerer Freiheit, wie sie sich im Traum am Beginn und im Mittelteil erkennen ließen. In meinem Alltag gab es spürbare Impulse, mich aufzurichten, mich als allein stehend zu empfinden und mit meinen Tagen gelassener und ruhiger umzugehen. Aber ich drängte sie oft noch zurück. Ich traute ihnen nicht, wollte sie nicht wahrhaben, konnte sie nicht benennen und offen über sie sprechen in zunehmender Hoffnung, sie würden sich als ausreichend zuverlässig erweisen. Noch stand im Zentrum der Gefühle manchmal die Angst vor der Vereinzelung, dem Getrenntsein vom Analytiker als einer Instanz, die mich hielt und letzten Endes noch immer schützte vor einer Welt, die mir lange fraglich und wenig einladend erschienen 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
war. Zuweilen zogen sich die Verlustgefühle schon zurück, und ich empfand Zuversicht und vorbehaltlose Dankbarkeit für alles, was ich empfangen hatte. Aber es gab auch Perioden, in denen der Gedanke an das Ende der Stunden schwer zu ertragen war und mir die Landschaften, die sich jenseits der Therapie öffneten, überwältigend leer und einsam vorkamen. Aber gerade dieses Wechselspiel von Einverständnis auf der einen und Verunsicherung und Befürchtung auf der anderen Seite brachte mich allmählicher Beruhigung und dem Eindruck näher, auch ich begehrte den Übergang in ein nicht mehr so ausschließlich von den Rhythmen der Stunden bestimmtes Leben. Beides – die erlebte Nähe gemeinsamen Nachdenkens wie Trennung und Loslassen – war die Vorbedingung innerer Freiheit. Die Furcht vor dem Getrenntsein – Ursache für meine eigene seelische Unfreiheit wie für die Neigung, auch andere zumindest innerlich nicht loszulassen – wurde mir zunächst aber noch einmal unmittelbar bewusst, als ich eines Tages zufällig das Radio anmachte und in eine Sopranarie aus einer Bachkantate geriet. Anschaulich beschrieb die bildhafte Sprache des Arientextes die Haltung von Menschen, die sich weigern, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen, und glauben, den Schutz mächtiger Anderer nicht entbehren zu können. Sie beleuchtete den Zusammenhang von Abhängigkeit und hilfloser Gebundenheit, verbrämt – oder doch missverstanden – als Glaube, Bindung und Treue. »Meinen Jesum lass’ ich nicht, und so ist es meine Pflicht, klettenweis’ an ihm zu kleben …« Als ich diese Anfangszeilen der Arie in der Stunde zitierte, hatten der Analytiker und ich zunächst großen Spaß an diesem anschaulichen Sprachbild – ein Augenblick, der mir kostbar erschien und mir Freude bereitete. Dann aber wandten wir uns dem Problem des an einem Menschen Klebens zu. Schon während des Anhörens der Arie hatte ich mir eingestanden, wie sehr ich noch am Analytiker hing, oft abhängig von seiner Zustimmung und voller Bedenken, wenn ich an den Abschied dachte, das Durchschreiten des mythischen Tores des Todes – Sinnbild von Begrenzung, Verlust und Loslassen als eines Nährbodens zukünftiger Entwicklung. Ginge ich durch das Tor und ließe es hinter mir, würde dies zugleich Auferstehung bedeuten. Neue Räume würden sich öffnen, wenn ich Getrenntheit annahm und das Leben wieder in meine eigenen 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Hände nahm. Aber die Erfahrung selbst stand mir noch bevor und gelänge es nicht, bewusst und akzeptierend durch sie hindurchzugehen, würde ich auf immer klettenweis’ kleben müssen ohne die Aussicht, in der begrenzten Zeit, die mir blieb, zu entfalten, was mir gegeben worden war. Diese Phase analytischen Forschens forderte mir Geduld ab, hatte ich doch nach ruhigen Stunden ohne drängende innere und äußere Konflikte manchmal schon den Eindruck, es könne nichts Verstörendes mehr kommen und die Arbeit könne eigentlich beendet werden. Das Erleben plötzlichen inneren Zerfalls, oft hervorgerufen durch geringfügige äußere Anlässe, wurde seltener und konnte in den Stunden schnell und wirksam aufgefangen werden. Die therapeutischen Interventionen festigten, indem sie sich auf die durchgearbeiteten Themen immer wieder bezogen, die Ergebnisse zurückliegender Arbeit. Das gemeinsame Arbeiten wurde ruhiger und gelassener – als bewegte ich mich allmählich in flachem, durchsichtig-klarem Wasser und spürte Boden unter den Füßen. Wellenbewegung und eigener Pulsschlag beruhigten sich, und immer öfter war mir, als triebe ich in ruhiger See dahin, würde sanft auf ein bewohnbares Ufer zu getragen.
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Männliches und weibliches Prinzip – Stadien einer Begegnung Indessen kehrte eine Thematik auf die innere Bühne zurück, um die meine Gedanken seit langem kreisten und die Denken und Tun beeinflusste, ohne dass ich mir dessen immer bewusst war. Sie verdichtete sich in einer Szenerie, die mich lebhaft an die Bedrängnis des Odysseus zwischen Scylla und Charybdis erinnerte. Ich treibe in einem Ruderboot auf dem Meer, nahe einer Küste, die einem weiblichen Körper gleicht. Mir ist, als sei da in meinem Rücken noch ein anderes Land. Aber ich ahne es mehr, als ich es sehe, nehme nur das steil abfallende Ufer wahr und zwischen diesem und der als weiblich empfundenen Küste den schmalen Spalt einer Meerenge zwischen zwei hoch aufragenden Küstenabschnitten. Doch nehme ich zunächst nicht die Meerenge in den Blick, sondern wende mich den üppigen, weichen Formen der mir voraus liegenden Küste zu. Von dort geht ein starker Sog aus und scheint mein kleines Boot mit aller Kraft anzuziehen. Aber obgleich ich diesen Sog als Sehnsucht spüre und mich ihm nur mit Mühe entziehe, wehre ich mich gegen ihn. Mit einem Teil meiner inneren Energie treibt es mich in die entgegengesetzte Richtung, hinaus auf das offene Meer, vielleicht an eine fremde Küste, die mich nicht einsaugen und verschlingen, sondern beherbergen und beheimaten würde. Noch sehe ich sie nicht. Aber ich setze dem sehnsüchtigen Sog, der mich an die nahe Küste binden will, einen starken und eindeutigen Willen entgegen, ergreife beide Ruder, wende das Boot und steuere unter Aufbietung aller Kräfte in die Gegenrichtung. Eindrücklich sind mir die Kraft und Entschiedenheit, mit der ich der überwältigenden Verlockung jener Küste zu widerstehen suche. Hin und her gerissen zwischen Unabhängigkeitswünschen und Sehnsucht nach Geborgenheit, wurde ich hier offen mit einem Konflikt konfrontiert, der von Anfang an – wenn auch meist unausgesprochen – im Zentrum der analytischen Arbeit gestanden hatte: eine mein Leben durchziehende innere Spaltung, die Entfremdung zwischen männlichen und weiblichen Anteilen. Sie hatte verhindert, dass ich mich als seelisch vollständig erlebte und die ganze Reichweite in mir angelegter Möglichkeiten entfaltete. Ich denke hier nicht an die Aneignung des Männlichen in der Form, 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
dass ich mich an einen männlichen Anderen band, dessen Gegenwart den Mangel hätte beheben können. Vielmehr geht es um die innerseelische Vereinigung – der Analytiker sprach von Hochzeit – unbewusst als männlich empfundener Impulse wie Zugriff auf die Welt, Selbstbehauptung und Gestaltungskraft mit weiblichen Formen von Produktivität als Prinzipien, die beiden Geschlechtern innewohnen, von beiden entwickelt und gelebt werden können. Ich hatte zwischen männlichem und weiblichem Prinzip keine verlässliche Nähe herstellen können. Ein innerer Riss lief durch mich hindurch und ließ mich zwischen beidem hin und her wandern, ohne dass ich die heilsame und schöpferische Verbindung männlicher und weiblicher Elemente erlebte. Wenn ich mich nun diesem Konflikt zuwandte, würden beide Prinzipien, bisher darauf bedacht, Abstand voneinander zu halten, vielleicht in eine interessierte und fragende Beziehung treten und ihre Entfremdung überwinden können. Wenige Tage, bevor ich den im vorigen Kapitel beschriebenen Abschieds- und Todestraum träumte, hatte ein anderer Traum für dieses Gespaltensein anschauliche Bilder gefunden. Ich gehe eine Straße entlang und gelange nach einer Weile an eine zweiflügelige Glastür. Sie ist verschlossen, aber ich bleibe einen Moment stehen, um das dahinter liegende Zimmer zu betrachten. Nichts rührt sich, es ist niemand zu sehen. In diesem Augenblick fällt ein großer runder Wassertropfen von der Decke und bleibt auf dem Fußboden liegen, ohne zu zerplatzen. »Ah«, denke ich, »ein Wassertropfen!« Aber da bewegt sich der Tropfen wie von einem inneren Wachstumsimpuls angetrieben, verändert, justiert seine Form, dehnt sich nach allen Seiten hin aus und nimmt dabei eine – wenngleich noch immer weitgehend amorphe – menschenähnliche Gestalt an. Ich denke: »Das ist kein Wassertropfen, es ist Protoplasma.« Etwas scheint zu werden, ich bin Zeuge eines mühsamen und vielleicht schmerzhaften Gestaltwandels. Inzwischen lässt der Tropfen die Form eines Körpers erahnen, Hals und ein winziger Kopf bilden sich aus und richten sich auf wie auf einem Schlangenleib. Gesichtszüge sind nicht erkennbar, nur zwei Augen schauen mit brennendem Blick auf mich, und ich denke, dass es die Augen meiner Mutter sind, die sehnsüchtig und Hilfe suchend auf mich gerichtet sind. In diesem Augenblick verwandelt sich die einem formlos blassen Gespenst ähnelnde Gestalt in eine junge Katze mit weiß-braunem Fell. Sie kauert auf dem Boden und 135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
blickt zu mir auf. Während ich ihren Blick erwidere, sehe ich, wie sich aus dem Hintergrund ein dunkler Schatten löst. Ein großer schwarzer Kater erscheint und hält Kurs auf die Katze. Ich sehe ihn kommen, rüttle an der Tür und rufe der Katze von außen zu: »Da kommt jemand, der dir böse will. Die Tür ist verschlossen, ich kann dir nicht helfen. Er wird dich zerreißen.« Da wendet sich die Katze blitzschnell dem Kater zu, zieht sich wie zum Sprung zusammen und faucht ihn wütend an. »Vielleicht«, gab der Analytiker nach einigen Minuten des Schweigens zu bedenken, »haben Sie das Männliche oft nur angefaucht, anstatt eine neugierig wahrnehmende Begegnung zu wagen und wenigstens versuchsweise zu vertrauen.« Inneres Schweigen, Leere und Traurigkeit angesichts einer Erfahrung, die mir in dieser Form allenfalls bruchstückhaft zuteil geworden war. Einsichten, die mich immer dann zum Niederschreiben motivieren, wenn Denken und Fühlen zur Deckung oder doch einander nahe kommen, stellen sich nicht ein. Gestauter Fluss, vielleicht Widerstand. Aber wogegen ist er gerichtet? Ich erkenne die Bedeutung des Traums nicht, sehe nicht, was den Kreislauf unterbrechen könnte von Angriff und Verteidigung, Unterwerfung und Identifikation, Anziehung und Gefahr – und Projektion. Denn als ich in den kommenden Tagen das innere Bild des schwarzen Katers immer wieder einmal betrachte, kann ich nicht umhin zu sehen, dass er nichts anderes tut, als interessiert angeschlendert zu kommen. Feindselige Absichten lässt er eigentlich nicht erkennen. Dennoch kann ich zunächst an diesem Kapitel nicht weiter schreiben, es bleibt ein Torso. In meiner Welt bin ich an das Erleben des Katers als einer Bedrohung und an das feindselig abwehrende Fauchen der jungen Katze gekettet. Wehre mich noch gegen den aufsteigenden Verdacht, dass dieses gefährliche, dunkle Tier, das sich da der Katze nähert, von mir gemacht wird, der Einseitigkeit und Begrenztheit meiner Welt entspringt und sich aus früheren ängstigenden Erfahrungen nährt. Der Gedanke an die Möglichkeit freundlicher, offener, auch neugieriger Annäherung dringt nicht zu mir durch. Erst ein neuer Traum – und seine unmittelbare Deutung durch den Analytiker – bringen mich dem eigentlichen Konflikt unerbittlich näher. Ich sitze am Steuer eines großen amerikanischen Autos. Meine beiden Kinder sitzen auf dem Rücksitz. Wir fahren durch eine helle, südliche 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Gebirgswelt, vorbei an großen Pinienwäldern, und ich bin in leichter und froher Stimmung, weil ich die Gegend, die wir durchfahren, so schön finde und die Sonne so warm scheint. Schließlich erreichen wir ein Plateau, und ich parke den Wagen. Die Kinder steigen aus und sind plötzlich verschwunden. Ich schaue mich bewundernd in der Gegend um, kann von hier aus weit bis in das Land hineinschauen. Ich bemerke jedoch, dass das Plateau sehr schmal ist und so gut wie keinen Raum bietet, um den Wagen zu wenden. Ich komme von hier nicht mehr hinunter ins Tal. Im nächsten Moment ist auch das Auto verschwunden, und es steht stattdessen dort ein kleines, aber wohnliches Haus aus Holz, das sogar, wie ich beruhigt feststelle, eine Toilette hat. Es ist also in jeder Hinsicht bewohnbar. Von den Kindern höre und sehe ich nichts mehr, sie sind und bleiben verschwunden. Meine eigenen Gedanken zu diesem Traum sind einseitig und unsicher: Es ist eine schöne Gegend, in die ich da gekommen bin. Die Kinder waren wenigstens eine Zeitlang bei mir und in meiner Nähe. Ich habe das Plateau erreicht. Zwar kann ich nicht mehr wenden und die Kinder sind nicht mehr da. Aber ich deute mir dies als ein Loslassen, sie in ihr eigenes Leben entlassen, während ich – weil meine Aufgabe erfüllt scheint – mich zurückziehe in mein eigenes, zeitlich nur noch begrenztes Leben. Das Haus, das auf mich wartet, ist bescheiden, sodass mir auch Größenvorstellungen keine Rolle zu spielen scheinen. Alles scheint hell und in Ordnung. Die nachfolgende Deutung, ruhig und eindringlich vom Analytiker vorgebracht, tut mir weh, aber sie hebt Sichtbehinderung und Selbstschutz auf: »Sie sind – endlich – angekommen auf dem Plateau. Sie haben erreicht, was Sie wollten. Es ist eine wunderbare Gegend. Sie ähnelt den südlichen Gegenden, nach denen Sie sich so oft sehnen. Alles ist licht, weit und still. In dieser Welt sind Sie unangefochten, nichts erhebt dort Einspruch. Sie haben sogar ein eigenes kleines Haus. Aber: In diesem Haus und in dieser herrlichen Gegend, auf dem Höhepunkt sind Sie ganz allein. Ihre Kinder sind fort, Sie haben sie verloren. Und – Sie können nicht mehr wenden. Das Plateau ist zu eng, auch ist das Auto nicht mehr da. Sie müssen sich auf einsamer Höhe einrichten, ohne zurückzufinden, wenn Sie das wollten, ohne Wendemöglichkeit, ohne Berührung und Austausch mit einer weniger vollkommenen, dafür von Leben und dem Auf- und Abschwingen der Tage erfüllten Welt.« 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Zu der Zeit hatte ich in den Stunden von seelischen Störungen in der Familie eines meiner Kinder berichtet. Ich war besorgt, wieder war mir die transgenerationale Weitergabe eigener Störungen bewusst geworden, und ich fühlte mich unglücklich, ratlos und schuldig. Ich dachte viel über die Deutung des Analytikers zu den auf meinem Lebensweg verlorenen Kindern nach. Sie hatte mich erreicht, ich musste und wollte mich ihr stellen. Mit seiner Deutung hatte der Analytiker die innersten Antriebe des Lebens, das ich geführt hatte, benannt. Immer war ich auf der Suche gewesen nach Bedeutung, nach Leistung auf hohem Niveau, wie der Analytiker es ausdrückte, nach Ansehen, Abwesenheit von Angst und fraglosem emotionalen Halt in Form beruflicher und materieller Sicherheit. Die diesen Suchbewegungen zugrunde liegenden Größenvorstellungen – fehlgeleitete Antworten auf ein tief verborgenes Verlangen nach Wert, Liebe, Einfachheit und Geborgenheit – waren mir nicht bewusst. Leistung und Größe schienen mir als unbedingte Lebenspflicht früh aufgetragen. Auch in den Vortherapien hatte niemand mir diesen Zusammenhang geduldig nahe gebracht, ohne mir den inneren Zwang als ein moralisch verwerfliches Geltungsbedürfnis zur Last zu legen. Mein Vater pflegte bis tief in die Nächte hinein und auch an den Wochenenden zu arbeiten. Ungeachtet der Verantwortung für ein großes Ingenieurbüro und eine Familie mit fünf Kindern hatte er mit 60 Jahren noch promoviert und die Doktorarbeit seinen Kindern gewidmet, die unter anderem wegen dieser Arbeit seine Gegenwart entbehren mussten. In ähnlicher Weise war auch ich angewiesen auf das unaufhörliche Erbringen von Leistung. Anders waren in meinen Augen existentielle Sicherheit, Halt, Zuwendung und Gefühle eines eigenen Wertes nicht zu erlangen. Nur der ständige Aufenthalt auf den Höhen rechtfertigte meine Anwesenheit in der Welt und verlieh dem Leben Bedeutung. Der Vater hatte alles Weibliche an die Mutter delegiert. Mit den Jahren war in seinen Kindern eine tiefe, lebensbedrohliche Spaltung entstanden zwischen männlichem und weiblichem Prinzip. Auf je eigene Weise wanderten wir an den Grenzen unserer Entfaltungsmöglichkeiten hin und her, bald hier, bald dort und doch nie wirklich hier oder dort, ohne Richtung, ohne Ziel, gelenkt von dunklen Motiven, denen wir Folge leisteten, ohne sie zu verstehen 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
und ihnen zu misstrauen. Auf der einen Seite fragte ich mich, ob ich geliebt werden würde, wenn sich zeigte, dass ich denken konnte. Und andererseits war ich unsicher, ob ich es wagen dürfte zu denken, wo ich liebte. Die Vorstellung, dass sich beides in einem Menschen vereinen ließe und ich zum Partner einen Menschen hätte wählen können, der beides in sich vereinte und es im Anderen zuließ und förderte, lag außerhalb meiner Erfahrung. In diesem Traum, Ausdruck eines verkrampften Festhaltens an Höhepunkten als Daseinsziel, schien eine Entscheidung für das vermeintlich Männliche gefallen, das ich unsicher vermieden und dessen Forderungen ich zugleich gehorsam nachgekommen war. Ich verstand diesen Widerspruch nicht, bis der Analytiker mir die Deutung der verlorenen Kinder gab, und es dauerte Tage, bis ich sie ganz erfasste: Ich hatte mich wie mein Vater verhalten und alles Weibliche, Sorgende, Fühlende und Bewahrende delegiert an die von Anbeginn an geschwächte, gemiedene und vielleicht insgeheim verachtete weibliche Instanz in mir, an jenes Restgebilde, das sich in meiner Entwicklung nicht durchsetzen konnte, weil ich es nicht als Wert und produktive, eigenständige Kraft erfahren hatte. Nun schien ich angekommen, die frühere Arbeitsstörung hatte sich aufgehoben, ein Buch, die Veröffentlichung, der Jahrzehnte lang mein ganzes Wünschen gegolten hatte, lag vor mir. Aber auf dem langen Weg dahin waren mir die Kinder verloren gegangen, so wie mein Vater seine Kinder auf seinem Weg verloren, ihre Pflege und Behütung, das interessierte, Eigenart und Freiheit jedes seiner Kinder achtende Gespräch mit ihnen abgegeben hatte an die überforderte Mutter und später an Internate. Ich sah es und bekannte mich dazu, und in einer dieser Stunden sprach der Analytiker jenen Satz aus, der mir – zu spät – das Geheimnis verantwortlicher und liebender Erziehung öffnete und mir zugleich eigenes Versagen deutlich machte: »Eltern müssen ihren Kindern dienen.« Ich hatte meinen Kindern nicht dienen, mich ihnen nicht mit meiner ganzen Person unterstützend zuwenden können. Ich war in Anspruch genommen von dem Dienst an Bestrebungen, die ich als meine eigenen erlebte, während sie in Wirklichkeit die übernommenen Bestrebungen derer waren, die mich zur Welt gebracht hatten, ohne mich in Kindheit und Jugend im eigentlichen Sinn zur Welt bringen zu können. So war ich, bewusstlos getrieben von un139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
erfüllbaren Ansprüchen an mich selbst, an meinen Kindern ungewollt schuldig geworden. Nach der Trennung von ihrem Vater hatte ich ihnen – von der Vernunft und auch von der Realität her begründbar mit der Erhaltung der materiellen Existenz – während meiner Berufstätigkeit Dinge zumuten müssen, die auch mir zugemutet worden waren und in ihnen die gleichen Verwundungen verursachten, von denen ich mich jetzt im Alter zu befreien suchte: Angst, Vereinsamung, Selbstzweifel und Sehnsucht. Der Analytiker versuchte, mir die mit dieser Erkenntnis verbundene seelische Last erträglicher zu machen. Er gab zu bedenken, dass Erziehung und Maßstäbe, wie sie mir vermittelt worden waren – nicht nur durch die Eltern und deren als widersprüchlich und verunsichernd empfundene Rollenmuster, sondern auch durch die Atmosphäre und pädagogischen Vorstellungen in den Schulen und Internaten der Nachkriegszeit –, ein Beschreiten eigener Wege erschweren mussten. Geht die frühe seelische Störung tief, verbindet sie sich mit bestimmten seelischen und geistigen Anlagen in einem Kind und wird sie durch familiäre und gesellschaftliche Erziehung zu Größe und äußerstem Anspruch an sich selbst weitergetrieben und ausgebaut, dann ist es uns verwehrt zu wenden. Wir müssen unsere Häuser auf jenen überhöhten Plateaus bauen, an Orten, die vereinsamen, die inneren Kräfte lähmen und von einem achtsamen Umgang mit unseren Kindern und lebendigem Gespräch mit der Welt abschneiden. Der Analytiker nannte die Schuld, die dadurch auf manchen Menschen lastet, eine durch das Menschsein bedingte existentielle Schuld, die ihnen auferlegt ist, ohne dass sie es bewusst an Liebe, Zuwendung und Sorgsamkeit gegenüber den Kindern hätten fehlen lassen. Es ist die durch eigene frühe Erfahrungen bedingte seelische Vereisung, die es verwehrt, Kindern glaubhaft Halt und jene Geborgenheit und bedingungslose Annahme zu vermitteln, die allein imstande gewesen wären, sie inmitten einer schwierigen Welt sicher zu verankern. Der Moment, in dem der einfache, so unmittelbar einleuchtende Satz, dass Erziehung bedeute, den Kindern zu dienen, mich erreichte, gehört zu den Augenblicken, in denen eine mir durch den Analytiker zuteil gewordene Antwort mich im innersten Kern berührte. Auch gab sie mir das Gefühl einer gleichgewichtigen Begegnung, da nichts in mir sich auflehnte gegen seine Worte und ich Inhalt und Konsequenzen des vor langer Zeit Geschehenen vorbe140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
haltlos anerkannte. Hier ging es nicht um therapeutische Eingriffe und Richtigstellungen. Hier war eine Wahrheit ausgesprochen, die auf Überzeugung und Erfahrung beruhte und von mir als Patientin auch in dieser Weise aufgenommen werden konnte. Ich verstand, was der Analytiker mir sagen wollte, konnte den Gehalt dieser Aussage erfassen und zutiefst teilen, auch wenn ich ihr im Zusammensein mit meinen eigenen Kindern nicht hatte gerecht werden können. Da war kein Neid auf die Fähigkeit des Analytikers zu erziehen, die auch ich erfahren hatte, und nicht das Bedürfnis, mich vor ihm zu rechtfertigen. Ich akzeptierte, dass ich mich von ihm auf eine schmerzliche Weise unterschied, und nahm es hin ohne vorwurfsvolle und verurteilende Empfindungen mir selbst gegenüber, die ich zu anderen Zeiten der Therapie in ihn hätte hineinverlegen müssen, um sie auszuhalten. Ich blieb bei mir und den seelischen Lasten, die dieses neue Wissen mir noch einmal auferlegte im Zusammenhang mit dem, was mein Leben ohnehin belastete. Trauer und eine mit tiefen Verlustgefühlen durchsetzte, neu aufbrechende späte Liebe zu meinen beiden Kindern erfüllten mich nach dieser Stunde. Durch solches Versagen, das nicht ungeschehen gemacht werden kann, bleibt ein Leben geprägt, und Bedauern und Verlustgefühle werden sich wohl niemals wirklich geben. Die einzige Möglichkeit, mit ihnen umzugehen, ist, sie anzunehmen und auszuhalten und sich die Versäumnisse, vielleicht, eines Tages zu vergeben. Hiermit sind die schmerzlichen Umwege nachgezeichnet, die ich habe gehen müssen bei dem Versuch, mich einer idealisierten Vatergestalt zu nähern und mich ihr endlich zu entziehen, wo die Gefahr bestand, dass der Ertrag meines trotz der Störung gelebten Lebens sich in ein Nichts verwandelte – so wie der reiche Ertrag im Leben meines Vaters sich am Ende unter Selbstzweifeln und Selbstverachtung in ein Nichts verwandelt hatte. Das Leben aller seiner Kinder ist letztlich auf die eine oder andere Weise an diesen Erfahrungen zerbrochen, so wie mein Vater trotz äußerer Erfolge im Kern ein Zerbrochener war. Kurz bevor er starb, ging ich am Abend einmal zu ihm in seine Wohnung, um ihm Essen zu bringen. Er lebte in einer Parterrewohnung, es dunkelte schon, aber die Vorhänge am Fenster seines Arbeitszimmers waren offen. Er saß an seinem Schreibtisch, noch 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
kaum gebeugt, aufrecht, voller Würde. Seine rechte Hand hielt den Stift. Es lag Anmut in der Weise, wie er ihn führte und die Hand sich über das Papier bewegte, langsam und doch flüssig, methodisch, konzentriert. Er war ein sehr alter Mann, aber das Bild, das er bot, war zugleich das des bewunderten, versunken arbeitenden und konzentrierten Vaters, wie ich es kannte. Blindlings, ohne wahrzunehmen, dass er auch ein abwesender Vater war und ich für mein eigenes Leben daraus hätte Konsequenzen ziehen müssen, hatte ich ihm nacheifern wollen, nicht ahnend, was seine Lebensweise verbarg an Misstrauen in das Leben und die Nähe anderer Menschen, an Zwang und Angst vor dem Scheitern. Reglos stand ich dort draußen und sah meinem Vater beim Denken zu. Und wie ein kleines Mädchen dachte ich in einem Winkel meiner Seele noch immer: So will ich auch sitzen und denken. Aber dieses beeindruckende Bild des Denkens hatte sich nur selten gepaart mit Zärtlichkeit, Ausgeglichenheit und den Kindern geschenkter Zeit und Lebenszugewandtheit. Die Sehnsucht nach diesen Eigenschaften hatte sich in mir entwickelt zu einem ziellosen Verlangen, das sich nie erfüllte und nicht zur Ruhe kommen konnte. Weder im Denken noch im Fühlen hätte ich meinem Vater nahe kommen können und hatte doch alles in mir unterdrücken müssen, was an Möglichkeiten in mir angelegt war, ohne es zu kennen und entfalten zu können. Doch während ich dort im Dunkel des Abends stand, nahm ich auch die tiefe, ausweglose Vereinsamung des Vaters wahr. Zeit seines Lebens hatte er sich Ansprüchen und Geboten beugen müssen, die nicht aus ihm kamen und alle Leichte, Spontane, alle Glücksmöglichkeiten erstickten, ohne dass er es hätte ändern und die Kinder vor den Folgen der unbewussten Weitergabe seiner Störungen bewahren können. Die Trennungsthematik im Zusammenhang mit dem Abschied aus der Therapie erhielt hier neue Bedeutung: Indem ich die aus der Kindheit des Vaters herrührende Verurteilung zu einem eingeschränkten, von Existenz- und Versagensangst bestimmten Leben wahrnahm, würde ich – geleitet von der Deutung des Analytikers zu meinem Traum – vielleicht endlich die überhöhten verinnerlichten Ansprüche zurückweisen können. Vielleicht konnte ich dann darauf verzichten, das Männliche anzufauchen und seine auch in mir bereit liegenden produktiven Inhalte zu verleugnen. Der idealisierte Vater würde sterben dürfen angesichts der Er142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
kenntnis, in welchem Ausmaß seine mir überwältigend erscheinenden Leistungen dazu hatten dienen müssen, seine Ängste, sein Verlangen nach bedingungsloser Liebe, Anerkennung und emotionaler Geborgenheit zu verdecken, damit er nicht auseinanderbrach. Wenn ich dahin kommen konnte, würden sich auch die seltenen Manifestationen von Freundlichkeit, Sorge und Nähe in mein Vaterbild einfügen lassen, die ich nicht hatte wahrnehmen wollen, weil Hass, Angst und Fluchtinstinkte es ein Leben lang verhinderten. Ich hatte überragende Leistung, aber Ferne und Zurückhaltung bei Zärtlichkeit, Spontaneität und Leichtigkeit für das Männliche gehalten. Aber es musste etwas anderes beinhalten, als ich es erfahren hatte. Etwas war von Grund auf neu aufzurollen. Das, was der Analytiker die Hochzeit beider Prinzipien genannt hatte, würde dann vielleicht Gestalt annehmen. Indem ich bestimmte Wesenszüge des realen Vaters zurückwies, um mich ihrem Einfluss endlich zu entziehen, sah ich zugleich, dass der Analytiker mir nicht ersetzen konnte, was lange zuvor verloren gegangen war – und dies auch nicht Sinn der gemeinsamen Arbeit gewesen war. Die Überhöhung seiner Person, hinter der seine Realität verschwand, mein Neid auf seine menschlichen und geistigen Eigenschaften und die oft kaum erträgliche Sehnsucht, an ihnen teilzuhaben, weil dies meine Verwundungen aufheben würde, boten keine sinnvolle und befreiende Lösung für meine Mangelgefühle. Anders sah es aus, wenn ich mir bewusst machte, dass ich aufbauende und auf Ausgleich bedachte Erfahrungen hatte machen können, die mir eine neue Sicht auf das Leben geöffnet hatten. Er hatte mich die fehlenden Erfahrungsebenen des Männlichen und des Weiblichen in einem mühsamen Entzauberungs- und späteren Aufbauprozess sehen lassen und mir – anhand kreativer Prozesse, deren Voraussetzungen und Inhalte mir, da sie eng zusammenhingen mit eigenen Interessen und Entfaltungswünschen, am leichtesten zugänglich waren – gezeigt, wie sich beide Prinzipien verbinden lassen. Zugleich schien mir beides in seiner Person verkörpert und war mir erfahrbar geworden, sodass Verstehen, Anschauung und Beispiel einander ergänzten. Innere Spannungen würden mich gefangen halten, solange ich die Vereinigung beider Prinzipen außerhalb von mir suchte und glaubte, das Männliche werde mir vertrauter, wenn ich es mir von außen, über die Nähe zu einem Mann oder 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
über eigene einseitig intellektuelle Leistungen aneignete. Aber sie würden nachlassen und mich schließlich freigeben, wenn sich Denken und Fühlen nicht länger gegenseitig ausschlössen und ich jene Hochzeit in mir selbst zu feiern versuchte. Die mit diesen Konflikten zusammenhängende Integrationsarbeit lag noch vor mir und wahrscheinlich würde sie Zeit brauchen. Vielleicht musste ich mich aufmachen. Zu Fuß, Schritt für Schritt, sorgsam auf die Richtung achtend, würde ich das Plateau verlassen und hinunterwandern in das Tal. In die Ebene, in der es nicht darum ging, einzigartig zu sein, um gesehen zu werden, sondern zurückzutreten und sich einzugliedern in die Reihe derer, die neben mir ihr Leben führen, ohne sich von quälendem Hunger nach Auszeichnung und Besonderheit in Gewahrsam nehmen zu lassen. Vielleicht würde das Leben dann zur Ruhe kommen, und ich ginge meinen Beschäftigungen und Vorlieben nach, ohne sie im vergeblichen Kampf gegen Mangel und Minderwertigkeit zu missbrauchen und ihre produktiven Möglichkeiten darin zu erschöpfen. In der Analyse war gemeinsam an etwas Drittem gearbeitet worden, auf das das Arbeitsbündnis gerichtet war. Die Stunden, in denen wir uns mit einem klar umrissenen Ziel um dieses Dritte – Selbsterkenntnis, Wirklichkeitssinn und Veränderung – bemühten, gehen langsam zu Ende. Die Dreiheit öffnet sich, der Analytiker und auch ich werden sich neuen Beziehungsstrukturen zuwenden und sich darüber aus den Augen verlieren. Doch gehen die reichen Spuren dieses langen, kontinuierlichen Dialogs in das Gedächtnis ein, und zukünftige Erfahrungen gewinnen aus ihnen Richtung und Inhalt. Vielleicht also verkörperte die im Traum allzu rasch an den Bildrand gedrängte Meerenge, vor der mein kleines Boot hin und her kreuzte zwischen weiblich lockendem und noch im Schatten liegendem männlichen Kontinent, das Tor des Todes, das es zu durchfahren gilt, um sich unbekannten Gewässern anzuvertrauen.
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Ambivalenz und die Sehnsucht nach Ordnung »Der Trieb nach zweckgerichteter Ordnung«, schreibt der polnischenglische Soziologe Zygmunt Bauman, »bezog seine Energie, wie jeder Ordnungstrieb, aus dem Abscheu vor Ambivalenz« (1991/2005, S. 31). Im Abscheu vor Ambivalenz äußert sich die Furcht vor der Undurchsichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Dinge, und so begegnete auch ich der Ergebnisoffenheit der Versuche, mit dem Leben zurechtzukommen, häufiger mit einem Ordnungsstreben, das Mehrdeutigkeit und Vorläufigkeit ignorierte, um die Illusion zu retten, Ungewissheit ließe sich ausschalten. Der sehnsüchtigen Suche nach innerer Ruhe und einem guten Umgang mit dem Leben und mit anderen Menschen wohnten dann mitunter fast gewaltsame Züge inne. Das Gewaltsame lag in der Abwehr alles Unordentlichen und Regellosen, in der Vermeidung dessen, was sich auf den ersten Blick der Zähmung und Bemächtigung entzieht. Alles Offene und damit auch Beunruhigende sollte verlässlich eingebunden sein in Vorstellungen, die Ungewissheit ausschlossen – obgleich ich doch wusste, wie schnell Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit an den Rändern des gerade Geordneten von neuem hervorquellen und den Kreislauf von Ambivalenz und Sehnsucht nach Eindeutigkeit wieder in Gang setzen. Der therapeutische Prozess, auf den ich zurückblicke, bestand letzten Endes darin, mich auf ein anderes Verständnis von Ordnung einzustimmen. Das Vermeiden von Ungewissheit und die Neigung, Mehrdeutiges und Widersprüchliches einzuebnen, waren nicht geeignet, das Bedrohungsgefühl, das mich oft begleitete, zu beheben. Eher nahm es zu, wo ich vor den Ursachen von Angst und Verunsicherung die Augen verschloss, und verringerte sich, wenn ich ambivalente Empfindungen zulassen und aushalten konnte, wo sie sich nicht in der einen oder anderen Richtung auflösen ließen. Am Ende einer mehrjährigen analytischen Arbeit bedingen die damit verbundenen Erfahrungen eine auf den ersten Blick schmerzhafte Einsicht: Die Außenwelt und die sie prägenden Erscheinungen in ihrer verunsichernden Vielfalt und Fremdheit – und ihre Spiegelbilder im eigenen Inneren – hatten sich nicht verändern lassen. Die Quellen von Unordnung waren mit meinem 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
angestrengten Bemühen um Verstehen nicht zu verschließen. Und auch in Zukunft würde ich nicht konfliktfrei leben oder Konflikte aushalten müssen, ohne manchmal noch in die Verwirrungen zu geraten, die ich glaubte, hinter mir gelassen zu haben. Vielleicht aber war etwas anderes geschehen, das die Ausgangssituation dennoch veränderte: Im Durcharbeiten der Furcht vor Unübersichtlichkeit sah ich, dass ich es zu lernen hatte, mit Ambivalenz zu rechnen, und dass sich dann die Furcht vor ihr verringern würde, die mein Bedürfnis nach Geordnetheit antrieb. Ich musste die Zweifel zulassen, die die Bruchstellen aufspüren und öffnen, an denen die Sehnsucht nach Unverwundbarkeit entsteht und die immer wieder als Illusion erkannt werden muss. Die Enttäuschungen, die meine Furcht vor Ambivalenz auch in der Schlussphase der Therapie noch immer wieder mit sich brachte, verwehrten es mir noch oft, mein Bedürfnis nach Halt und Ordnung langsam abzubauen. Immer wieder konnte sich bei Konflikten zwischen Gefühl und Vernunft und anderen offenen Situationen der Abgrund der Ambivalenz öffnen, und ich erschöpfte mich in angespannten Versuchen, sie abzuwehren, anstatt sie als stets gegenwärtige Realität des Lebens hinzunehmen. Zu Beginn der Analyse hatte ich vielleicht gehofft, am Ende eine Ordnung vorzufinden, die mich hielt und mir die Angst nahm, wie sie mich zuweilen überkommt, wenn sich inmitten des Alltags und seiner scheinbar gefahrlosen Routine, oft nur für wenige Sekunden, der Blick auf die Ungesichertheit des Daseins öffnet. Ordnung war in meiner Vorstellungswelt etwas, das Bestand hatte, verlässliche Struktur, die nicht mehr aufzulösen, zu hinterfragen und immer wieder auf anderen Ebenen neu zusammenzusetzen war. Bei dieser Sichtweise kommt die mühsame Arbeit an der Abschwächung problematischer Regungen einer seelischen Verletzung manchmal sehr nahe – als zwinge man einen Fluss in ein neues, ihm unvertrautes Bett. Aber inzwischen begegne ich dem Verlangen nach Ordnung mit Vorbehalten – nicht, weil ich sie mir nicht mehr wünschte, sondern weil ich weiß, dass es sie in der Unbedingtheit, in der ich sie mir vorstellte, nicht gibt. Die Möglichkeit, sich in einer gegebenen Struktur gehalten und beheimatet zu fühlen, ohne dass sich nach einiger Zeit die Ambivalenz begleitenden Empfindungen von Unruhe und Zweifel von neuem regen, hebt sich nur zögernd auf 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
in der Erfahrung, dass es endgültige Zustände nur um den Preis von Erstarrung geben kann. Erstarrung aber bezeichnet einen nicht weniger verwundbaren Zustand, wie ich ihn in der Ungewissheit erlebte. Die empfindliche Schutzhaut anerzogener Fühllosigkeit kann jederzeit einreißen und das Abgewehrte durch die entstehenden Risse von neuem eindringen. Die Ordnung, an der der Analytiker mit mir arbeitete, war eine andere als die, die auf zweifelhafte Vervollkommnung zielt. Ich möchte sie eher eine Ordnung des Einverständnisses nennen, des Verzichts und der Trauer über so vieles, das sich dem Willen zur Veränderung und der Sehnsucht nach Erfüllung entzieht. Sie lehrte mich, das Zufällige in den Blick zu nehmen und mit ihm zu rechnen. Unordnung, Begrenzung, Machtlosigkeit, Verlust und Zerfall als Grundbefindlichkeiten des Lebens anzuerkennen und mich mit ihrer Existenz auszusöhnen. Aber auch die zeitweilige Gelassenheit dieser die Realität akzeptierenden Verfassung verbrauchte sich unmerklich, während ich sie noch empfand und mich von ihr tragen ließ. Sie musste sich zurückziehen und für eine Weile abwesend sein, um wieder herbeigesehnt zu werden und sich in der Rückkehr mit erweiterten Bedeutungen zu füllen. Ich wusste nie, wann sie zurückkommen würde, kannte ihre zeitlichen Rhythmen nicht und nicht, in welcher Gestalt sie erscheinen würde. Ich hoffte, sie werde wiederkehren, wenn ich ihr Zeit ließ, sich zu erneuern. Aber diese Hoffnung blieb – in ihrer Offenheit dem Einfluss von Allmacht entzogen – unsicher und zweifelhaft. Solche Gedankengänge veränderten Richtung und Inhalte meines Schreibens. Während ich an meinem ersten Bericht noch in der Absicht schrieb zu verstehen und darin fraglose Sicherheit, verlässliches Selbstgefühl und eine Zukunftsperspektive zu finden, schreibe ich heute eher aus einer inneren Position der Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal, den Zufälligkeiten und Zumutungen des Lebens. Dabei wird das Schreiben selbst zu einem Element verlässlichen Halts, indem ich den Verunsicherungen, Fragen und Zweifeln, die mich erfüllen, in der Sprache einen Ort gebe, der sie annimmt und bewahrt. In dem Halt, den ich erfahren hatte, während ich mich in kleinen Schritten auf den verschlungenen analytischen Wegen vorwärts bewegte in der Hoffnung, nicht zu erlahmen, hatte ich eine späte, nachholende Form des ursprünglichen Halts erkannt, den ein Kind unter günstigen Umständen in seinen 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ersten Lebensmonaten erfährt. Ein Kind, das in seinen ersten Lebensjahren verlässlich Halt erfährt, wird ein Grundvertrauen entwickeln, das es ihm später erlaubt, sich dem Leben auszusetzen, ohne unter der Last von Konflikten zu zerbrechen. Im dem nachgeholten therapeutischen Halt, der mir zuteil geworden war und ohne den die analytische Arbeit ihre Wirkung nicht hätte entfalten können, erscheint die fraglose Sicherheit geglückter Kindheit eher als Ahnung und Andeutung – als etwas, das hätte sein können – und die Hoffnung, unbeeinträchtigt und ohne Furcht zu sein, bleibt zerbrechlich. Stattdessen stellt sich – wenn auch nur in winzigen, von Zweifeln begleiteten Schritten – ein noch ungewohntes Vertrauen ein in die eigene Vernunft, an das zu glauben ich noch immer lernen muss. Es erlaubt am Ende vielleicht, auf die Zusicherung dauerhafter und fragloser Sicherheit zu verzichten und aus dem, was das Leben im Alltag bereithält, ein tragfähiges Fundament zu errichten, ohne dass die Frage nach seinem zeitlichen Bestand noch im Vordergrund stünde. Vielleicht stehe ich eines Tages am Spülsaum des Meeres, und der Sog der auflaufenden Flut umspült meine Füße, ohne dass ich noch den Boden unter ihnen verlöre und mich, wie früher, hinausziehen ließe in gefährliche Untiefen.
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Wirklichkeit und Übertragung Was ist es, das den Abschied aus der analytischen Arbeit – unabhängig von meiner inneren Bereitschaft, sie zu beenden – so schmerzhaft macht? Die Gründe für diese Stimmungen sind vielfältig, sie berühren unterschiedliche seelische Schichten. Sie lassen sich beschreiben unter zwei Bereichen – der Alltagswirklichkeit und der Übertragung. In späteren Phasen der Therapie erlebte ich beides als eng aufeinander bezogen, konnte verfolgen, wie die Inhalte sich in einer stetigen lebendigen Austauschbewegung bedingten. Aber zu Anfang war mir, als bewege ich mich in verschiedenen Welten, zwischen denen es keine Brücken gab: in der Wirklichkeit, in der Übertragung und in dem, was der Analytiker als meine Welt bezeichnete, seelischer Rückzugsort, den ich aufgeben musste, um mich der wirklichen Welt zu öffnen. Das Erleben in der Übertragung mit seiner reichen Symptomatik wurde schließlich zu dieser Brücke. Es bildete eine inhalt- und erlebnisreiche Übergangswelt zwischen dem entfremdeten Ort, an dem ich mich so gerne aufhielt, und einer Wirklichkeit, der ich mit innerer Reserve begegnete. Wenn ich zurückdenke zum Anfang, dann begann der therapeutische Prozess an Tiefe und Nachdrücklichkeit zu gewinnen, als die sichernden Grenzen, die die verschiedenen Welten in mir gegeneinander abschotteten und an die ich mich klammerte, sich unter den therapeutischen Eingriffen lockerten und zögernd öffneten. Dann konnte ich mich dem Auftauchen und Fließen seelischen Materials überlassen, unabhängig davon, aus welcher Welt es stammte. Letztlich galt jedes analytische Gespräch dem Bemühen, die Elemente des Übertragungsgeschehens sich in der zunehmenden Erfahrung von Realität langsam auflösen oder vielmehr entbehrlich werden zu lassen. Das Erleben in der Übertragung unterschied sich von dem in meiner Welt. Dort, wohin ich mich zurückzog, wenn die äußere Welt mit ihren Ansprüchen mir zu nahe kam, gab es keine Veränderung. Es durfte sie nicht geben. Sie hätte die zerbrechliche innere Sicherheit gefährdet, die der Aufenthalt an diesem Rückzugsort für mich bedeutete. Meine Welt kannte den Zwiespalt nicht. Sie schloss Zwischenraum und Differenz aus und das ganz Andere, mitunter 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Störende, Aufstörende und Verstörende. Aber da es oft gerade dieses Widerständige ist, das Entwicklung anstößt, war der Rückzugsort, an dem es ausgeschlossen blieb, eine unfruchtbare Welt des Stillstands. Sie nahm mich auf und entließ mich wieder, unverändert, unwissend, mich an das Gewohnte klammernd, weil ich mit Vielfalt und Verschiedenartigkeit, mit Verlust und Veränderung nicht umgehen konnte. Auf den ersten Blick schien auch das Übertragungsgeschehen eine unwirkliche Welt zu verkörpern. Aber das Element des Unwirklichen ergab sich hier nur aus der Wiederholung realer Vorgänge und Konflikte aus früheren Entwicklungsstufen, die mit meiner heutigen Realität und der Person des Analytikers, auf den sich die Übertragung richtete, zunächst in keinem ersichtlichen Zusammenhang standen. Erst als ich sehen konnte, dass Gefühle, die ich dem Analytiker entgegenbrachte, ihm als einem Repräsentanten früherer Bezugspersonen galten, stellte sich dieser Zusammenhang her. Angeregt von der analytischen Situation und unterstützt von dem Druck der seelischen Not, die nach Ausdruck verlangte, entfaltete sich in der Übertragung eine frühe Gefühlswelt mit ihrer einstigen Heftigkeit und erlaubte Rückschlüsse auf Ursachen und Begleitumstände meiner Konflikte. Es war lebendiges, scheinbar neues, in Wirklichkeit jedoch altes, früh aufgegebenes Material, das die erstarrten seelischen Ablagerungen mit einer erstaunlichen eigenen Energie durchdrang, um in das Bewusstsein zu gelangen. Schrittweise haben wir es auf seine frühe Bedeutung und seinen Sinn oder auch Entbehrlichkeit für das heutige Leben befragt. Und manchmal fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen, und die aus dieser Förderarbeit gewonnenen Einsichten ließen sich in die innere Erfahrung einfügen. Ich möchte dem Wirklichkeitserleben und dem Übertragungsgeschehen hier noch etwas genauer nachgehen, indem ich beide Bereiche zunächst getrennt betrachte, um danach ihre Wirkungsweisen miteinander zu verbinden. Zugänge zum Wirklichen Die Wirklichkeit in ihrer Nüchternheit und gelegentlichen Härte, der Alltag und das normale Leben insgesamt erschienen mir, bevor ich die Analyse begann, als kalte Welt, die mich nicht aufnahm. 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Trotzdem versuchte ich, ihren Ansprüchen nachzukommen. Alles andere hätte bedeutet, mich aufzugeben, Ausweglosigkeit anzuerkennen und mich ihr eines Tages vielleicht ohne Gegenwehr zu überlassen. Aber die Realität war kein bewohnbarer Ort, wenn damit gemeint ist, sie anzunehmen und so nüchtern und bereitwillig wie möglich in ihr das Leben zu führen, ohne Zuversicht und Augenblicke der Freude und des Einverständnisses resigniert auszuschließen. Ohne tieferes Interesse für die Alltagswelt und die aus einer bejahenden Haltung fließenden Kraft ist Realität allenfalls dann zu leben, wenn sie dem Menschen nur geringen – materiellen, persönlichen und von außen einwirkenden – Widerstand entgegensetzt oder wenn sich dem Einzelnen die Frage nach einem guten Leben gar nicht stellt. Mein Leben war jedoch, wie das anderer Menschen auch, sowohl im Rückblick auf die Vergangenheit wie in der Gegenwart voller Begrenzungen, unerfüllter Hoffnungen und realer familiärer und anderer Lasten. Zu dem Zeitpunkt, als ich mich in Therapie begab, waren sie erdrückend geworden und meine wachsenden Zweifel an mir selbst und den eingefahrenen Bewältigungsmustern bedrängend. Ich begann mich um Gestalt und Inhalt meines Lebens zu sorgen. Die Schwächung der produktiven Beziehung zur Welt zeigte sich im äußeren Alltag wie in der inneren Verfassung. Besonders deutlich wurde sie in diffusen destruktiven Regungen. Sehr langsam nur gelang es mir, diese bislang verdrängten und verleugneten Gefühle zuzulassen und auszuhalten. Das folgende Bild fasst den hiermit zusammenhängenden inneren Zustand noch einmal zusammen. Ein riesiger Getreidespeicher ragt vor mir auf. Ich weiß, er ist bis an den Rand gefüllt mit verzweifelter Wut, mit Hass, Neid und Zerstörungslust, und mir scheint, er müsse auseinanderbrechen, wenn der Druck, der von seinem Inhalt ausgeht, zu stark würde. Er ist aber schwer zugänglich. Nur an seinem Sockel, mit bloßem Auge kaum zu erkennen, befindet sich eine winzige verschlossene Tür. Aber ich wage es nicht, mir Zugang zu verschaffen, indem ich sie öffne. Der Analytiker, als ich ihm von diesem Bild erzählte, bestand darauf, die Tür zu öffnen. Begleitet von seinen Deutungen und Klarstellungen, versuchte ich mich auf eine abgewehrte innere 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Wirklichkeit einzulassen und zur Kenntnis zu nehmen, was die Tür verbarg: ungeformte Reaktionen auf Entbehrungen in der Kindheit und auf Gleichgültigkeit, Unverständnis und Härte der Umwelt in den Jugend- und Nachkriegsjahren. Beides hatte ich als Kind und späterer junger Mensch offenbar nur panisch abwehren können, weil in frühen Entwicklungsjahren die Fähigkeit ruhigen Erwägens und sich bewusst für oder gegen etwas Entscheidens noch nicht ausgebildet ist. Die unreflektierte kindliche Abwehr in reifere Formen der Selbstsorge zu verwandeln war mir im Erwachsenenalter nur oberflächlich gelungen. Die destruktiv-defensiven Haltungen bestanden unverändert fort und brachen sich, der Regulierung nur bedingt zugänglich, bei den geringsten Anlässen Bahn. In den langen Monaten, in denen sich die Stunden um diese Fragen bewegten, hatte ich zunächst den Eindruck, alles Wirkliche werde immer weiter zurückgedrängt, überflutet und zugedeckt von unverstandenen und peinigenden Empfindungen. Sie drängten zum Licht, unbekannte, in Wahrheit aber vertraute Gefühle, aus Angst und Scham unterdrückt und sorgfältig vor anderen verborgen. Es brauchte Zeit, bis ich sehen konnte, dass auch diese Gefühle, angenommen und bewusst gelenkt, das Gefühl für das Wirkliche stärken und stützen. Wenn ich mich zu den schlechten und abgewehrten Gefühlen – Sehnsucht nach Aufgehobensein, Begehren, Wut, Feindseligkeit, Unlust – als Teil der menschlichen Natur bekannte, die gelenkt und gestaltet, nicht aber unterdrückt werden müssen, würde das Gespaltensein, unter dem ich litt, sich langsam aufheben. Aufbauende wie zerstörerische Empfindungen ließen sich zusammenführen zu einem ausgleichenden und besänftigenden Umgang miteinander. In den therapeutischen Gesprächen erfuhr ich zum ersten Mal, wie auch aggressive Gefühle – wenngleich tief verborgen und unerlöst – aufbauende, schöpferische Impulse in sich bergen. Auch sie konnten mich in Berührung bringen mit der wirklichen Welt. Ich würde dies spüren, wenn ich ihre janusköpfige Natur sehen und ertragen konnte. Die langwierige, meist nur kleine Schritte erlaubende Arbeit an beschädigten Bereichen der seelischen Struktur und das zunehmende Verständnis für das Sowohl-als-auch in meiner Gefühlswelt halfen, die Trennwand zwischen mir und einer als feindselig und ängstigend erlebten Wirklichkeit abzutragen. Der Reichtum der 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
wirklichen Welt wurde mir zugänglicher. Ich erkannte ihn in seinen zur Bewältigung auffordernden Bewegungen, seiner Ambivalenz und seiner Vielgestaltigkeit. Wir nehmen nicht nur eine Seite der Dinge wahr, sondern beziehen unbekannte, vorerst oft nur erahnte Seiten mit ein. Es würde die Sicht auf die Welt bereichern, wenn ich mich diesen Seiten öffnete. Jedoch war der sich verändernde Blick auf die Ebenen des Alltags lange eng mit der Arbeit in den Stunden und mit der Gegenwart des Analytikers verbunden. Wenn ich nun beides probeweise wegzudenken versuche, scheint sich das bewohnbar gewordene Land von neuem zu entleeren und droht das Bewusstsein für die inzwischen gewachsenen Kräfte noch einmal zurückzudrängen. Die Realitätslust, das produktive, hoffnungsvolle Zugehen auf die Welt, die Freude an der Vielfalt und Offenheit aller Erscheinungen waren in mir stets bedroht durch ein angstgeleitetes Bemühen, dem Leben eine umfassende Ordnung abzutrotzen. Aber eine solche Ordnung würde jede lebendige, spontane Bewegung ersticken. In der Therapie erlebte ich vertrauenerweckende Gegenwart und Halt wie ein zunehmendes Verständnis für Unterscheidung und Getrenntheit, ohne dass ich mich durch dieses neue Wissen in meinem Wesen zurückgewiesen fühlen musste. In vielen kleinen Schritten ist dem Erleben von Distanz, der Erfahrung, dass der Andere in einem eigenen, von dem meinen sich unterscheidenden Leben wohnt, das Ängstigende und Vereinsamende genommen worden, wenn ich auch auf diese Begleitgefühle nach wie vor achten muss, um nicht von neuem von ihnen überwältigt zu werden. Der analytische Ort war Denkraum und ruhige, aus dem Alltag herausgelöste, verlässliche Zuflucht. Ohne dies auskommen zu sollen, scheint noch einmal alle kindliche oder auch nur menschliche Angst hervorzurufen vor Vereinzelung und dem Verlust an lebensvoller Wärme und Kommunikation. Aber ich hatte in solchen Empfindungen existentielle Grenzerfahrungen zu sehen gelernt, die von Zeit zu Zeit jedes Leben begleiten. In den langen Jahren hatte sich das störungsbedingt ungleiche und verunsichernde Verhältnis von Wirklichkeit zu Illusion und Ideal allmählich umgekehrt. Ich nahm Illusionen und auf Projektion beruhende Idealvorstellungen, die mich vor der Härte der Realität hatten schützen sollen, mit der Zeit wahr als das, was sie eigentlich sind – Gefahr für den Menschen, seine seelische Entwicklung und für die Quali153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
tät seiner sozialen Einbindung. Ich habe versucht, mich der abgewehrten Wirklichkeit zu öffnen und mich ihren Notwendigkeiten zu stellen – nicht immer gern, auch nicht immer ohne Widerstand und Mutlosigkeit. Aber die Neigung zu Ausweichen und magischem Wegdenken wurde geringer. Ich nehme die Versuchung, mich schwierigen Situationen oder bestürzenden Einsichten zu entziehen, rechtzeitiger in mir wahr und kann mich ihrem bedrängenden Sog widersetzen. Und manchmal erwächst daraus eine einfache, nüchterne Zufriedenheit, wie sie Illusion niemals hervorbringen könnte. Das Wirkliche zu sehen und zu bejahen verringerte Lebensangst und beheimatete mich ein wenig mehr in einer als unsicher erlebten Welt. Übertragung als Durchgangswelt So trat die Wirklichkeit aus dem Schatten von Verkennung und Abwehr und gewann eigene Kontur. Dies beeinflusste Richtung und Gestalt der Übertragung von Gefühlen und Konflikten auf den Analytiker. Mein Erleben in diesem Zusammenhang war tief und nachhaltig. Ich habe mich dem Übertragungsgeschehen anheimgegeben, es vorbehaltlos erlebt und nutzen können. Ohne dies hätte ich mich mit der Gesamtheit meiner Empfindungen niemals in diesem Umfang vertraut machen können, wäre mir fremd geblieben. Zuweilen stand ich unter dem Eindruck, auch die unversehrten Bereiche meiner Wirklichkeitswahrnehmung gingen ganz auf in der Übertragung. Wirkliches schien sich mit scheinbar Unwirklichem so nahtlos zu decken, dass ich es nur schwer auseinanderhielt. Die Übertragung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen stellt sich mir heute als eine Gesamtheit von Regungen dar, die den Zugang öffneten zu vollständigem seelischen Erleben. Ich gewann Zugang zu allem, was mich zu dem machte, was ich bin, ohne dass ich mich in der Vergangenheit um diese seelische Substanz hätte sammeln können. In dem mich tragenden analytischen Rahmen war mir zum ersten Mal im Leben erlaubt, mir im Guten wie im Schlechten zu begegnen, ohne dass Empfindungen bewertet wurden. Ich brauchte nicht mehr abzuspalten und zurückzudrängen, was auch ich selbst als nicht annehmbar empfand. Und wo es dennoch geschah, rettete es der Analytiker vor dem Zurückgleiten in 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
das Unbewusste, indem er es festhielt und bewahrte, bis ich es selbst halten konnte. In den Worten, in denen ich auszudrücken versuchte, was mich bewegte, konnte ich mich offen zeigen, Scham überwinden und mich zu mir bekennen – bis hin zu jener äußersten Grenze, an der Wirklichkeit und Illusion sich gegenseitig aufzuheben scheinen in einem Zustand, der keine ordnenden Grenzen mehr bereithält. Der Analytiker blieb außerhalb des verwirrenden Geschehens und setzte Grenzen, solange ich es noch nicht konnte. Und wie das stürmische Meer sich an Felsen bricht, konnten auch meine ungeformten, überschießenden Impulse sich an diesen Grenzen brechen und zunehmend ordnen. Wie habe ich das Übertragungsgeschehen im Einzelnen erlebt? Erst jetzt, gegen Ende, im Rückblick kann ich versuchen, mir dies zu beantworten. Als die Übertragung sich zu entfalten begann und zeitweise Tage und Denken besetzte, erfuhr ich sie lange Zeit wie ein warmes, mich durch alle Fährnisse tragendes Wasser, eine haltende, schützende Umgebung, eine Art Mutterleib, dem ich mich überließ. In den auf den Analytiker gerichteten Empfindungen und meinen Versuchen, sie wahrzunehmen und im Kontext der analytischen Arbeit ihren verborgenen Sinn zu erfassen, öffnete sich mir eine dritte, überraschende, oft auch verstörende Gefühlswelt und nahm ihren Platz neben meiner Welt und der Wirklichkeit ein. Vom Ende der Therapie aus gesehen, erschloss sich mir darin auch eine untergegangene biographische Welt, und inneres Land füllte sich mit Leben, wo bisher nur toter Raum gewesen war. Nicht konkrete, fassbare Ereignisse begründeten eine zunehmende Wirklichkeitsnähe, sondern seelische Regungen, die lange mit Verboten belegt waren und die wahrzunehmen und zu offenbaren der Analytiker mich ermutigte. Angst- und Schamschwellen waren zu überwinden, und nur zögernd verlor sich die Furcht, gegen moralische und ästhetische Verbote zu verstoßen und Verachtung auf mich zu ziehen, wenn ich Abgewiesenes und Verleugnetes preisgab. Dieser Erinnerungs- und Betrachtungsprozess wäre nicht möglich ohne das Phänomen der Übertragung und die Person des Analytikers, auf die sie sich richtet. Nicht biographische Fakten sind in diesem Zusammenhang bedeutsam geworden. Sie hätten 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
kein Ersatzobjekt benötigt, um erinnert zu werden. Das meine innere Welt nachhaltig Erschütternde lag in der Belebung und dem Heraufdrängen ängstigender, liebender und feindseliger Gefühle aus verborgenen, verheimlichten Regionen, die sich in der Begegnung mit dem Analytiker, seinem So-Sein, Tun und Sprechen entfalteten und fassbar wurden. Das, was diese Erfahrungen wie in einem Brennglas sammelte und mich die Übertragung als eine ganzheitliche, vollständige Welt erleben ließ, war die Übertragungsliebe mit ihrer aus Verlustangst immer wieder abgewehrten, zerstörerischen Kehrseite von Wut und feindseligen Phantasien – Abbild der Abhängigkeit und ihrer Begleiterscheinungen, wie sie das Kind einst als überwältigend erlebte. Zu Anfang tauchte ich manchmal unter in dieser Liebe, den mit ihr verbundenen Ängsten und deren Abwehr und wusste nicht mehr sicher, wo ich mich befand. Nur das Durcharbeiten meines hilflosen Ausgeliefertseins und die unter Schmerzen und zugleich dankbar angenommenen Grenzziehungen vermochten mit der Zeit Ordnung in diese Empfindungen zu bringen und die Furcht vor ihnen zu verringern. Langsam entwickelte sich ein Bewusstsein für den unwirklichen Gehalt eines Teils meines intensiven Fühlens. Es begann mich zu tragen und gegen meine eigenen Grenzüberschreitungen abzusichern, ohne dass ich die real empfundene Zuneigung zurückdrängen musste, die ich für den Analytiker empfand. Sie gründete sich auf das Erleben der gemeinsamen Arbeit, auf ihren heilsamen und ordnenden Einfluss und die Art, wie er sie gestaltete und mit Inhalt füllte. Lange vor dem Ende der Therapie habe ich mich zu wehren begonnen gegen den Automatismus, mit dem das Übertragungsgeschehen oft jedes Bemühen um Vernunft und Realitätssinn überrennt. Ich spürte, was die damit verbundenen Projektionen einem anderen Menschen antun, und ich spürte mit aller Schärfe, wie es mich beeinträchtigte, wenn alles Fühlen und Nachdenken sich auf einen Anderen richtete – nicht als der, der er ist, sondern als der, zu dem ich ihn machte. Es blieb dann kaum noch Energie übrig für eine Form von Identifikation, die mich freier werden ließ und weiterbrachte. Alles Fühlen wird für die Übertragung gebraucht. Dies hat eine widersprüchliche Mischung aus – geliehener – seelischer Fülle und zugleich schmerzlicher Leere zur Folge. Mit der existentiellen Leere, die ich zu Beginn der Therapie so oft empfand, hatte 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
diese Leere nichts zu tun. Sie entstand aus der Verlagerung seelischer Inhalte in einen Anderen und die dadurch verursachte Entleerung meiner selbst. Ich sehnte mich danach, den Analytiker als Objekt meiner Scheinwirklichkeiten loszulassen, und zugleich war ich hartnäckig gefangen in einem schweren Traum. Aus ihm zu erwachen entzog sich über lange Zeiträume bewusster Willensanstrengung. Die Furcht vor der Freiheit überwog und blockierte immer wieder die Anstrengung, den anfänglichen Raum der Fremdheit zwischen einem Anderen und mir, das Anderssein des Anderen und die eigene Getrenntheit zu ertragen und den autonomen Kräften Geltung zu verschaffen. Vom Glück, ich selbst zu sein Als es mir endlich, gegen Ende der Therapie, langsam gelang, mich über die Grenze zwischen Traum und Tag zu kämpfen, fühlte ich mich erlöst von seelischen Antrieben, die sich ohne Unterlass auf einen Anderen gesammelt hatten, damit meine Sehnsucht nach Antwort und Anerkennung gestillt würde. Mehrere Passagen in vorigen Kapiteln zeigen die wiederholten Ansätze, Bedenken und Verunsicherung angesichts des Wissens zu beschwichtigen, dass der Analytiker eines Tages nicht mehr da sein würde, ich nicht mehr in die Stunden käme und nicht wüsste, wohin sich meine Gefühle richten könnten. Eine Leere würde sich öffnen, die mich vereinsamt zurückließe wie am Anfang. Erst eine Erfahrung in einem der letzten Monate zeigte mir, wie sich auch in mir eine Fülle entwickelt hatte, die sich nicht aus Größenvorstellungen, Überheblichkeit und Wirklichkeitsverkennung nährte, sondern aus einem einfachen, tragfähigen Bewusstsein meiner selbst und meiner Möglichkeiten. Ich las in einer Buchhandlung aus meinem ersten Buch – für mich eine sehr ungewohnte Erfahrung. Ich hatte so etwas noch nie gemacht und konnte nicht vorhersehen, wie es mir dabei ergehen würde. Aber nach dem Abklingen der anfänglichen Nervosität bekam ich einen guten Kontakt zu den Zuhörern. Ich wurde ruhig und gelassen, konnte aus dem, was ich vorbereitet hatte, mit innerer Überzeugung lesen und fühlte mich den Menschen, die mir zuhörten, sehr verbunden. Einen wesentlichen Anteil an dem wachsenden Zutrauen hatte das Empfinden, Erfahrungen analytischen 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Arbeitens, die mich tief beeindruckt hatten, weitergeben und mit anderen Menschen teilen zu können. An diesem Abend erlebte ich eine einfache, tief reichende Freude, die Sättigung durch etwas, was gut geworden war, auf eigener Arbeit und Anstrengung und auf Überwindung von Angst und Minderwertigkeit beruhte. Da Buch und Lesung die langjährige gemeinsame Arbeit zum Inhalt hatten und meine fast panische Furcht vor Situationen, in denen ich mich öffentlicher Wahrnehmung aussetzen sollte, vielfach Gegenstand analytischen Nachdenkens gewesen war, war auch der Analytiker zu der Lesung gekommen. Bedeutete dies ein partielles, zeitlich begrenztes Aufgeben der therapeutischen Distanz? Ich habe es anders erlebt. Ich denke in diesem Zusammenhang zurück an ein Erlebnis am Beginn der Therapie, das in meinem ersten Buch unter der Überschrift »Orale Gier« beschrieben ist. Es beinhaltete ebenfalls ein kreativ-spontanes, in einem kritischen Augenblick Regeln intuitiv beiseite schiebendes Reagieren des Analytikers auf ein Verhalten meinerseits. Auch damals – der Analytiker machte mich bei der späteren Besprechung des gesamten Vorgangs darauf aufmerksam – hätte orthodoxes analytisches Denken in diesem therapeutischen Vorgehen vielleicht ein Durchbrechen der therapeutischen Distanz gesehen. Jedoch führte beides – mein Erleben damals wie meine innere Erfahrung im Zusammenhang mit meiner Lesung – zu deutlich stabilisierenden Empfindungen, die mich spürbar hielten und in Kontakt brachten mit eigenen Möglichkeiten: Kurz vor dem Leseabend fragte mich der Analytiker, ob es mich beeinträchtigen würde, wenn er käme. Er formulierte seine Frage analytisch, indem er zu bedenken gab, es sei ein Unterschied, ob ich diese Lesung allein unternähme oder mir der Anwesenheit des Vaters bewusst wäre. Ich bedachte dies einen Moment und spürte, dass ich mir sein Kommen sogar wünschte, obwohl ich meine Zustimmung auch als waghalsig und gefährlich empfand. Was, wenn ich scheiterte? Die Strafe für meine Überheblichkeit müsste auf dem Fuße folgen in Form von Vernichtung, Scham und dem Verlust seiner Achtung. Aber im Grunde sehnte ich mich nach einer Erprobung. Ich wollte wissen, ob ich in Gegenwart des Ideals in der Lage sein würde, ohne Hemmung und Einschüchterung meine eigenen Gedanken vorzutragen. Ich wollte, so glaube ich, das durch die Veröf158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
fentlichung so zuversichtlich gestärkte Ichgefühl oder Selbstgefühl testen. Diese Motive waren so intensiv, dass ich darauf vertraute, sie würden mich über meine Ängste hinwegtragen. Und ohne Zweifel wünschte ich mir sehr, der Abend gelänge und der Vater könnte zufrieden sein und mich anerkennen. Denn eine meiner größten Schwierigkeiten bestand in der Unfähigkeit, es zuzulassen, gesehen zu werden, mich offen den Blicken und der Kritik anderer auszusetzen. Darüber hatten wir in den Stunden viel und lange gearbeitet. Bei der Lesung selbst erfuhr ich bewegt und dankbar, wie ich mich als eigenständig erlebte und die lebendige Erinnerung an das Arbeiten und Können des Vaters mich nicht einschüchterte. Ich bekannte mich zu mir und zu dem, was ich über die Dinge dachte. Ohne Vorbehalt und innere Hemmung freute ich mich, dass der Analytiker gekommen war und Zeuge wurde, wie ich etwas unternahm, zu dem ich ohne die Arbeit mit ihm niemals fähig geworden wäre. Meine Angst vor dem Scheitern und vor den Vernichtungsgefühlen, die mit einem Versagen verbunden sein würden, hatte mich jahrelang isoliert und es mir nicht erlaubt, aus mir herauszugehen und mich in meinem Wollen und Tun von fremden Blicken nicht stören zu lassen. An diesem Abend spürte ich ein Selbstvertrauen, das ohne Überhöhung auskam, sich stützte auf die Erfahrung, etwas Gutes hervorbringen und es anderen nahe bringen zu können. Auf der seelischen Ebene ging aber noch etwas anderes vor: Eines der Symptome, unter denen ich am meisten litt, weil sie mich abhängig machten und einengten, war das der oralen Gier, verkörpert in seelischem Hunger, im Bedürfnis nach Versorgung, in der Sehnsucht nach Nähe und vorbehaltloser Zustimmung. Als ich später über Befinden und Selbstwahrnehmung an dem Leseabend nachdachte, spürte ich, wie dieses Symptom mich verlassen hatte. Ich war meiner selbst in Gegenwart der Zuhörer und des Analytikers auf eine ruhige Art gewiss gewesen, hatte mich selbst vertreten können. Die Fülle dessen, was ich einst gebraucht und auch in wohldosierter Weise bekommen hatte, war auf mich übergegangen und hatte das ausgehungerte Verlangen besänftigt und gestillt. Das, was der Analytiker mir therapeutisch gab, hat meine Bedürftigkeit nie gleichsam angeheizt und verwöhnt. Immer war es so angelegt, dass sich mir Spielräume eigenen Handelns öffneten. 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Ich erlebte die Gaben an Zuwendung als fördernde Substanz, die ich weder überfordern durfte, noch zu überfordern gedachte. Ich versuchte sie zu nutzen als eine Speise, die mir half, die nächsten Wegstrecken zu bewältigen. So setzte die Teilnahme des Analytikers an der Lesung einen Schlusspunkt und schloss überdies eine frühe Wunde, an die ich mich dann erinnerte: Als Kind, mit elf Jahren, hatte ich bei einem öffentlichen Schülerkonzert eine Haydn-Sonatine vorzutragen. Ich liebte Musik sehr, hatte Klavierstunden und freute mich darauf, dieses kleine Werk schön zu spielen – so wie ich bei der Lesung das reiche und bewegende Erleben in einer analytischen Psychotherapie anderen Menschen hatte nahe bringen wollen. Meine Interpretation der Sonatine wurde später in einer Besprechung des Konzerts in einer Tageszeitung hervorgehoben. Aber nur meine Mutter war bei diesem Konzert zugegen. Mein Vater war nicht gekommen. Er hatte Angst, seine Tochter werde bei ihrem Spiel Fehler machen. An einem entscheidenden Punkt der therapeutischen Arbeit – als ich mit der Lesung den schwierigen Schritt wagte, mich einer Öffentlichkeit zu stellen – hatte das Kommen des Analytikers eine frühe Enttäuschung aufgehoben und mich freier werden lassen nun auch im Hinblick auf Unternehmungen, die über längere Zeit hinweg Arbeitsenergien binden würden, ohne dass ich von vornherein mit einem Gelingen rechnen konnte. Aneignung des Begehrens Die Leere, die ich angesichts des Abschieds aus der Therapie fürchte, bezieht sich auf den noch immer mit einem Rest von Angst besetzten, unvertrauten Raum des Schweigens, der sich öffnen würde, sobald Bestätigung und Ermutigung ausbleibt. Denn es wird niemand mehr da sein, der sie gibt. Aber Antwort war in Zukunft in mir selbst zu finden. Und ich musste auf andere antworten, um das Wechselspiel von Interesse und Antwort, das menschliche Beziehung kennzeichnet, mit Leben zu füllen. Das Übertragungsgeschehen erschließt sich mir als Entwicklungsprozess zwischen Elternfiguren und einem Kind, das sich im Laufe dieser Jahre der Grenze zum Erwachsensein nachholend noch einmal annäherte. Wie am Ende eines normalen Reifungsvorgangs im realen Leben, wenn ein junger Mensch sich von zu 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Hause lösen muss, wollte nun auch ich in der Übertragung diesen Prozess nicht durch ängstliches Kleben und Hängen an dem Analytiker und der Therapie überdehnen. Die produktive Spannung und Wirkung analytischen Nachdenkens, das diesen Prozess kennzeichnete, sollte erhalten und wirksam bleiben auch da, wo ich mir allein gegenüberstand. Allerdings ist mir auch während des Arbeitens an der Übertragung das Gefühl für das Wirkliche nie vollständig verloren gegangen. Zuerst, am Beginn, war es gegenwärtig als ein dünner, als zerbrechlich und angreifbar empfundener Saum um die Übertragungsgefühle, der mich jedoch zuverlässig davor bewahrte, die Grenzen zwischen den Analysestunden und meinem Alltag verschwimmen zu lassen. Diese Grenzen aufrechtzuerhalten und das Wirkliche nie ganz preiszugeben, war nicht immer leicht und auch nicht immer gelang es mir. Aber letztlich ermöglichte mir mein von Vorsicht und Vernunft getragenes Wissen um die die analytische Situation bestimmenden Regeln und Begrenzungen, die Inhalte der Gespräche aus den Stunden in den Alltag hineinzunehmen und dort mit ihnen zu arbeiten. Die ertragreiche Wechselbeziehung zwischen den Stunden und dem Alltag als einem Experimentierfeld festigte und verbreiterte den schmalen Saum an Realitätsgefühl, den ich mir zu bewahren suchte und der es erlaubte, in die Übertragung einzutauchen. Zu gleicher Zeit erfuhren die Inhalte dieses Geschehens durch den Analytiker Korrektur und Mäßigung im Erleben und Ertragen von immer mehr Elementen des Wirklichen. Die die Übertragung bewegenden und anregenden Elemente sind Liebe und Begehren, aber auch Angst, Wut und Neid als die Kehrseite der Bedürftigkeit, Anhänglichkeit und Abhängigkeit des Kindes. Aber diese Urform der Liebe, die soviel für sich selbst will und braucht, soll sich verwandeln in eine Liebe, die dem Anderen zu lassen bereit ist, was zu ihm gehört und ihn unterscheidet von allem, was ich selbst bin. Dankbar und erleichtert erfuhr ich in den Gesprächen mit dem Analytiker, dass Zuneigung und Begehren nicht verborgen und verleugnet werden mussten. In ihrer ganzen Fülle durften sie wahrgenommen und innerlich gelebt werden. Er brachte mir beides nahe als Quelle von Identität, Kraft und emotionalem Reichtum, solange ich nicht andere in Besitz nahm um einer bedingungslosen Erfüllung eigener Wünsche willen und 161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
sie mit Feindseligkeit bestrafte, wenn sie mir nicht gaben, wonach ich mich sehnte. Nach einer Zeit der Trauer spürte ich jedes Mal den Zuwachs an innerer Freiheit, wenn es mir gelang, mein Begehren zu lösen von einem ursprünglichen Ziel, das sich der Erfüllung entzog. Es geht dann um Verzicht, ohne dem Begehren die ihm eigene Kraft und seelische Qualität zu nehmen und es zu unterdrücken. Das an unerreichbare Ziele gebundene Begehren wird wieder frei. Es kann einschwingen in andere, sinnvolle Richtungen und sich Räume öffnen, in denen seine wertvollen Antriebskräfte sich neu entfalten. Ein unverstellter Blick In vorangegangenen Kapiteln habe ich mich vielfach mit dem Analytiker als einem Anderen beschäftigt, dessen Eigenart und Anderssein sich unter der Last meiner Wirklichkeitsverkennungen zu verflüchtigen schienen. An solchen Stellen im analytischen Prozess litt ich unter der Übertragung und sah doch vorerst nicht, wie ich die Projektionen hätte zurücknehmen können. In aller gedanklichen Tiefe nahm ich auf, was meinen Wahrnehmungen ihre einseitigen Züge verlieh. Aber ich bekam die Substanz solcher Einsichten nicht zu fassen. Es war, als berührte ich die äußere Schale von etwas, ohne Zugang zum eigentlichen Kern zu finden. Die Gefühle blieben stumm, Einsichten ließen sich emotional nicht füllen, blieben zusammenhanglos und behinderten die vollständige Wahrnehmung. Deshalb sei hier – neben der Lesung – ein weiterer, entscheidender Augenblick gegen Ende der Therapie festgehalten, der diese schwierige Erfahrung endlich aufhob und mir damit ein großes Glücksgefühl, ein erleichtertes seelisches Aufatmen schenkte. Vielleicht waren die Empfindungen, die mich während der Lesung erfüllten, eine notwendige Voraussetzung für dieses spätere Erleben. Eines Tages brachen die hinderlichen projektiven Schichten, die mir die Realität des Analytikers verdeckten, übergangslos auseinander. Mir war, als vernähme ich das Krachen und Splittern, mit denen sie wegbrachen, als lösten sich große Stücke aus treibendem Packeis und der Blick öffne sich auf lebendig strömendes Wasser. Der Analytiker erschien mir als ein neuer Mensch, ein wenig kleiner vielleicht als in der Übertragung, nicht ganz so mächtig, dafür 162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
nah und zugänglich. Die Wand aus Projektionen, die ich so lange nicht hatte einreißen können, hob sich auf in ganz neuen Fragen. Vielleicht hatte der Analytiker Sorgen, musste sich mit Konflikten auseinandersetzen. Es gab vielleicht Dinge in seinem Leben, die weh taten, und anderes, was ihn bereicherte. Er mochte manchmal müde sein, ärgerlich, erschöpft und gelangweilt oder lustvoll, angeregt und interessiert. Eifrig, gleich einem Kind in seiner Entdeckerfreude, stattete ihn meine Phantasie probeweise mit den unterschiedlichsten Eigenschaften aus, um ihn nicht länger wahrzunehmen als Spiegel, sondern als reales Gegenüber. Klarheit und Nüchternheit stellten sich ein, und der Blick wurde freier von Realitätsblindheit und Verleugnung. Es drängte dann ein Bild herauf, das in der Anfangsphase der Therapie schon einmal eine Rolle gespielt hatte und auch in meinem ersten Buch beschrieben ist. Es hatte mir damals – in anderem Zusammenhang – eine erste Ahnung von Anderssein und Unterscheidung vermittelt, ohne dass ich mir über die Bedeutung eines bestimmten, eher unscheinbaren Details hatte klar werden können. Der Analytiker und ich sitzen uns in zwei Sesseln gegenüber. Zwischen uns läuft ein niedriger weißer Lattenzaun, der seinen Platz von dem meinen abtrennt. Ich empfinde diese Trennlinie nicht als kränkend, vielmehr als gute, sichernde Grenze, hinter der ich mich wohl und zufrieden befinde. Im Rücken des Analytikers erahne ich eine Art Bühne, der dichte, faltenreiche Vorhang ist zugezogen. Man kann von der Bühne nichts sehen. Wenn ich mich zuweilen in diese Textstelle des ersten Analyseberichts vertiefte, hatte ich mich oft gefragt, was Vorhang und Bühne für eine Bedeutung haben könnten. Als wir damals über das innere Bild sprachen, hatten wir beides hingenommen, ohne länger darüber nachzudenken. Aber mir war der dicht geschlossene Vorhang geheimnisvoll und ein Rätsel geblieben, und unbewusst hatte ich mich danach gesehnt zu erfahren, warum er zugezogen war und was sich dahinter verbarg. Jetzt aber verstand ich. In diesen klarsichtigen Momenten glitt der Vorhang zur Seite und gab im Rücken des Analytikers den Blick auf die Bühne frei. In diesen Augenblicken, da sich in der Übertragung erste nachhaltige Risse zeigten und der Blick auf die Wirklichkeit sich einen Spalt öffnete, wurde das eigene Leben des Analytikers, symbolisiert in dieser 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Bühne, sichtbar. Die Bühne war nicht möbliert, sie war leer. Der Einblick in diesen sich öffnenden Raum war durch die ihn umgebenden Wände begrenzt, denn von dem Leben des Analytikers, das sich dahinter vollzog, wusste ich sehr wenig. Seine Spiegelfunktion ging jedoch nun auf in der Erfahrung, dass er eine eigene Umgebung hatte, in der sein persönliches Leben sich den Blicken anderer Menschen entzog. Der Vorhang, der sich geöffnet hatte und mich einen Anderen endlich hatte erkennen lassen, hob sich zugleich auch vor meinen inneren Augen. Der Zwischenraum, den der weiße Lattenzaun damals nur andeutete, erweiterte und festigte sich, und Wände versahen ihn mit klaren, nachvollziehbaren Grenzen. Dieses Bild schenkte auch mir die entlastende Erfahrung eigenen Selbstseins und eigener Grenzen. Den kindlichen, fordernden Kern der Liebesfähigkeit in erwachsene Zuneigung zu verwandeln und zu wissen, dass der Andere aufgegeben werden muss in dem gleichen Augenblick, da wir erfahren, was es bedeutet zu lieben, erweist sich – und hier kehre ich zu meiner Frage am Beginn dieses Kapitels zurück – als schmerzhaft und noch einmal begleitet von frühen Verlustängsten. Sie werden sich wohl erst in der nachanalytischen Phase verarbeiten lassen, wenn Abschieds- und Verlustempfinden sich aufheben in der Erinnerung an eine Arbeit, deren reiche Substanz ich nie als selbstverständlich hingenommen habe, und in der Erfahrung, dass das Leben, wie es ist, nun vielleicht besser bestanden werden kann als zuvor. Bewohntes Land Mich zur Frage des Erfolgs dieser Therapie zu äußern fällt mir nicht leicht. Die analytische Arbeit stellt sich mir als ein mühevoller Umschichtungsprozess hinsichtlich problematischer Prägungen und Haltungen dar. Sein Gelingen unterliegt sowohl persönlichen Begrenzungen wie den Einschränkungen, die genetische und andere Vorbedingungen dem Veränderungswillen setzen. Besonders im Alter, wenn die Nachhaltigkeit biographischer Prägungen deutlicher hervortritt, muss dies zur Vorsicht mahnen. Ich bin mir meiner Gefährdungen weiterhin bewusst, und das vielgestaltige Sicherungsverhalten, mit dem ich mich vor Lebensangst zu schützen suchte, hat sich abgeschwächt in dem Wissen, 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
dass ich jederzeit wieder an Grenzen stoßen kann, die – als Grundbedingungen menschlichen Seins – jedes Leben immer wieder umstellen. Die eine oder andere solcher Begrenzungen kann sich als existentiell bedrohlich erweisen, und nichts anderes wird mich dann schützen als die Einwilligung in das, dem ich nicht ausweichen und das ich nicht beeinflussen kann. Doch geht es mir am Ende dieser Therapie im Wesentlichen und in vielfacher Hinsicht gut. Die Schreib- und Arbeitshemmung, die mich jahrzehntelang begleitete und zu quälendem inneren Verstummen verurteilte, ist geheilt, und die Erfahrung, über meine Sprache zu verfügen und mit ihr befreundet zu sein, ist eine Quelle großer Befriedigung und noch ungewohnter Empfindungen von Identität. Ich gehe ernüchtert und zugleich spürbar gestärkt, bereichert und dankbar, anderen Menschen gegenüber aufgeschlossener, aber auch sicherer abgegrenzt aus der analytischen Arbeit hervor. Sie hat mich vertraut gemacht mit Empfindungen, Wünschen und Bedürfnissen, die ich mir zuvor kaum zugestehen konnte, derer ich mich schämte und mit denen ich nicht umgehen konnte. Während ich zu Beginn der Therapie das Gefühl hatte, in mir gäbe es abgestorbene Bereiche, deren Vorhandensein eine bewusste Wahrnehmung und Lenkung meiner selbst verhinderten, erlebe ich mich heute als vollständiger und lebensvoller. Dies verändert das Erleben von Wirklichkeit und die Möglichkeiten, ihr zu begegnen und sie zu bewohnen. Planen und Handeln sind weniger von Befürchtungen und wirklichkeitsfernen Sehnsüchten bestimmt als vielmehr von Hoffnung, Interesse und wachsendem Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten. Diffuse, unbegründete Angst und vor allem die innere Daseinsleere, die vor Jahren alles Freundliche im Leben überdeckten und oft kaum beherrschbar waren, behindern mich nur noch selten. Beidem kann ich inzwischen mit mehr Nüchternheit und Vernunft begegnen. Die frühe seelische Störung, die in jungen Jahren von anderen blind übernommenen, ungeprüften Vorstellungen über das Leben und die spätere belastende Existenz als alleinerziehende, berufstätige Mutter hat bei meinen Kindern Leid verursacht. Die Trauer darüber konnte auch der Analytiker mir nicht nehmen. Das häufige und schmerzliche Gedenken an die Folgen für meine Kinder begleitet meine Tage. Ich nehme die zunehmenden altersbedingten 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Einschränkungen wahr und weiß inzwischen, wie vieles im Leben sich dem Willen zur Veränderung auch endgültig entzieht. Das Wissen um die Begrenztheit der verbleibenden Lebenszeit erscheint mir manchmal wie ein Verbot, noch Wünsche zu haben. Alle diese Dinge bleiben Teil der alltäglichen Besorgnisse, die auch eine hilfreiche und befreiende Therapie nicht beheben kann. Aber ich habe die leidvolle Erfahrung, meinen Kindern in ihren ersten Lebensjahren nicht so zur Seite stehen zu können, wie sie es gebraucht hätten, in meine Verantwortung übernommen. Eigene Kindheitserfahrungen haben die Möglichkeiten, eine gute Mutter zu sein und Vertrauen in das Leben und in die eigenen Kräfte zu vermitteln, verhängnisvoll eingeschränkt. Der Analytiker hat versucht, mir die Schuldgefühle zu nehmen, indem er mir deutlich machte, wie frühe gravierende Störungen und spätere ungünstige Umstände daran hindern, den Kreislauf transgenerationaler Weitergabe seelischer Verletzungen aus eigener Kraft wirksam zu unterbrechen. Erst die analytische Therapie, ihr zuweilen schonungslos tiefes Eindringen in meine von verwirrenden und irrationalen Vorstellungen geprägte Weltsicht und meine Konflikte hat mir diese Einsichten geschenkt. Sie verleihen den letzten Lebensjahren Inhalt und Sinn. Aber sie kommen zu spät für mich als Mutter und im Hinblick auf die großen Möglichkeiten, die wir am Lebensbeginn unserer Kinder haben, um ihnen ein Bewusstsein eigener Stärke und eigenen Wertes, Selbstvertrauen und Hoffnung zu vermitteln und ihnen ihr späteres Leben dadurch zu erleichtern. So ist dieser Abschied zwiespältig und aus mehreren Gründen schmerzlich. Obwohl die Therapie mich in eine neue Freiheit und – trotz meines Alters – vielleicht in ein reicheres und bewusst geführtes Leben entlässt, findet zugleich eine bedeutsame und wertvolle Beziehung ihr Ende. Dies verbindet sich mit einer widersprüchlichen Erfahrung. Im Laufe dieser arbeits- und erkenntnisreichen Jahre habe ich mich auf eine wichtige Begegnung vertrauensvoll eingelassen und die einer menschlichen Beziehung innewohnenden Möglichkeiten wie deren Begrenzungen erfahren und von verschiedenen Seiten her durchgearbeitet. Aber von Anfang an begleitete mich das Wissen, dass in der analytischen Situation das reiche Erleben dieser Begegnung ihr zeitliches Ende und die Trennung von vornherein einschließt. In diesen letzten Wochen wird mir bewusst, wie die Erfahrung bevorstehenden Ver166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
lusts, die ihn begleitende Trauer und die Hoffnung auf Überwindung eine wesentliche, vielleicht die entscheidende Phase im therapeutischen Prozess bezeichnen. Ich lasse nebeneinander bestehen, was ich fühle und was mich manchmal zu zerreißen droht – intensive Empfindungen von Verlust und Traurigkeit und zugleich ein Verlangen nach Unabhängigkeit und Bewährung. Und zum ersten Mal angesichts einer Fülle widerstreitender seelischer Regungen spüre ich, wie lebendig es mich macht, ambivalente Empfindungen auszuhalten und zu leben. Ich kann sie in ihrer Stärke und Unmittelbarkeit annehmen und gutheißen, ohne dass sie sich gegenseitig im Wege stehen. Ich wünsche mir sehr, ich würde bleiben und weiter arbeiten können und zugleich bejahe ich das Ende der Therapie ohne Einschränkung und Zweifel. Ich habe bedeutsame Erfahrungen sammeln können. Nun würde ich das, was ich als gestaltetes seelisches Potential empfand, zu leben versuchen – allein. Und immer wieder mache ich eine unerwartete und ermutigende Entdeckung: Ich kann die Traurigkeit annehmen, empfinde nachhaltiges Bedauern, wenn ich mich daran erinnere, dass die Stunden zu Ende gehen. Aber die Trauer lähmt mich nicht. Ich lasse sie zu, lasse mich von ihr begleiten, während ich mich mit Interesse und Entschiedenheit den Dingen zuwende, die zu tun sind. So liefert mich der Abschluss einer Empfinden und Denken nachhaltig prägenden Arbeit zunächst von neuem einer Erfahrung von Vereinzelung und dem Erinnern an eine Biographie aus, die, wenngleich die Vergangenheit bedacht und angenommen ist, immer wieder Schmerz und Traurigkeit auslöst. Aber ich begegne diesen Gefühlen heute mit mehr innerer Ruhe und Einverständnis als zuvor. Die vergangenen Jahre haben mir Quellen schöpferischer Arbeit erschlossen, die meinem Leben Inhalt geben. In konfliktreichen Zeiten will ich mich daran erinnern, dass der Analytiker mir das Wahrnehmen und Aushalten ambivalenter Empfindungen und offener, oft unlösbarer Fragen als ein Zeichen seelischer Gesundung vor Augen gestellt hat – ein Gedanke, von dem ich hoffe, dass er mich auch in Zukunft trägt. Die Sehnsucht nach einem konfliktfreien Leben und der Abwesenheit existentieller Angst erweist sich als unerfüllbar. Sie ist dennoch nicht abgewehrt und verleugnet, sondern ruhiger aufbewahrt in der Erfahrung, dem Dasein und den Menschen, die zu mir ge167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
hören, wieder näher gekommen zu sein und die Begrenzungen, die der Existenz gesetzt sind, anzunehmen, ohne mich so schnell wieder an den Rändern seelischer Vernichtung zu bewegen. So scheint es mir zum Schluss gerechtfertigt, Inhalte und Ergebnis der analytischen Arbeit – mit aller Vorsicht – unter dem zuversichtlichen Bild eines bewohnten Landes zusammenzufassen.
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Schlussbemerkung Dieser Bericht zeichnet einen Dialog nach, der mehr umfasste als den Austausch von Worten und das Nachdenken über unbewusste Inhalte und Bedeutungen seelischen Erlebens. In den sich über vier Jahre hinziehenden, kontinuierlichen Gesprächen habe ich erlebt, was ich in zusammenhängender Form kaum kannte: die lebendigen und überraschenden Rhythmen einer menschlichen Beziehung. Was sie mit sich bringt an Verstehen und Nähe, an Staunen über das in einem Anderen auch unwiderruflich Fremde, an Ferne und Wiederannäherung, Abwendung und neuer Begegnung. Diese fließenden, kaum vorhersehbaren und aktiv zu beeinflussenden Bewegungen regten in mir zugleich einen nachhaltigen Prozess der Selbstverständigung an, der sich zu lösen versuchte aus der Orientierung an bisherigen Vorstellungen des Umgangs mit inneren und äußeren konfliktreichen Welten. Eingefahrene Wege des Selbstund Auf-andere-Bezogenseins und deren lähmende Wirkung im Alltag konnten immer öfter verlassen werden, um Alternativen in den Blick zu bekommen. Die Neigung zu Aufbegehren und Rechtfertigung, die dem Selbstschutz diente, wich mit der Zeit einer Haltung des Zuhörens und Erwägens. Zwar konnte sie sich gegenüber Abwehr und Protest oft nur schwer durchsetzen. Aber sobald ich sie mit der Erfahrung gelingender Nähe zu anderen Menschen, mit seelischer Öffnung und Entlastung von oft grundlosen Befürchtungen und Feindseligkeit verbinden konnte, griff ich immer häufiger auf sie zurück, wenn ich Konflikte anders zu lösen versuchte als bisher. Selten habe ich mich bei dem, was mich beschäftigt, so fruchtbar abstoßen können von liebgewordenen Erklärungsmustern, mit denen sich die Ursachen für meine Lebensschwierigkeiten längst nicht mehr verstehen und beschreiben ließen. In diesem zweiten Teil einer Erzählung, die den Fortgang und die abschließenden Phasen des analytischen Prozesses zum Inhalt hat, geht es mehr noch als in der früheren Arbeit um einen inhaltlich sich immer wieder neu verzweigenden und in unbekannte seelische Regionen vorstoßenden Dialog zwischen dem Analytiker und mir als seiner Patientin. Man mag meinem Erzählen Einseitigkeit vorwerfen, weil es sich so eng an das Gespräch zwischen zwei Menschen hält und ungleich mehr auf Vorgänge in Binnenwelten 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
eingeht als auf die misslingenden Aufenthalte in der Außenwelt, die mich seinerzeit in die Analyse trieben. Aber dieser Dialog, der in der Übertragung seine ganze Reichweite entfaltete, war die Achse, um die die gemeinsame Arbeit sich bewegte. Und es waren seine kommunikativen Bewegungslinien, aus denen der analytische Prozess seine Antriebe und das Material bezog, dessen Inhalte sich verändernd beziehen ließen auf das Geschehen in meinem Alltag, wo dieser zu scheitern drohte. Die äußere Welt lässt sich nur bedingt beeinflussen. Das Dasein in seinen Beschädigungen, aber auch in seiner Schönheit und seinen reichen Möglichkeiten ist heute das gleiche wie das, dem ich mich gegenübersah, bevor dieses Zwiegespräch aufgenommen wurde und sich langsam mit Inhalt füllte. Veränderbar ist aber die innere Welt, sind die Regeln und Gesetze, die ein Patient ersonnen und erlassen hat, um leben zu können – so ungeeignet sie zur Bewältigung von Konflikten auch sein mochten. In diesem Dialog sind sie einzelnen benannt und, immer wieder von anderen Seiten her in den Blick genommen, ruhig zur Disposition gestellt worden. Vor allem anderen prägend war der beständige Hinweis des Analytikers auf die grundsätzliche und unabänderliche Begrenztheit aller Lebensvorgänge und die damit verbundenen Brüche, Abschiede und Getrenntheiten. Er dämmte Allmachtsvorstellungen ein und setzte dem ziellosen Umherirren und Suchen in mir selbst und in einer Welt, vor der ich mich fürchtete, ein Ende. Heute erscheint mir die äußere Welt als eine gegebene Welt, die ganz aus sich heraus lebt, sich entwickelt und erneuert. Der Einzelne bedeutet ihr nichts, obgleich ihre spontanen Lebensäußerungen jedes Leben vielfach prägen, es fördernd oder zerstörend schicksalhaft beeinflussen. Aber darin äußert sich kein auf einen Einzelnen bezogener Wille. Was uns zustößt, betrifft uns existentiell, ohne dass wir als Person gemeint sind. So hat diese zuvor von Verheißungen und Verhängnissen als auf mich bezogen erlebte Welt ihren personalen Charakter und ihre einschüchternde Macht verloren und mir Bewegungsfreiheit zurückgegeben. Wo die Außenwelt ihre Bedrohlichkeit als Person, die annehmen oder abweisen kann, verliert, gewinnt sie zugänglichere Züge und erlaubt größere Gelassenheit. Diese freundlicher gestimmte Welt erscheint in dem Symbol der Ebene, von der zu Beginn dieses Berichts einmal die Rede ist. 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
Dort bauen Menschen ihre Häuser, suchen sich Nachbarn und Freunde und versuchen ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Zwischen Ohnmacht und Allmacht lassen sich Pfade bahnen, die mit mehr Zuversicht begangen werden als zuvor und vernünftige Ziele erreichbar erscheinen lassen. Aber zugleich steht der Einzelne Gefährdungen und Begrenzungen ungeschützt gegenüber und kann oft wenig ausrichten, um sie abzuwenden. Die Seinsmöglichkeit, die der analytische Dialog mir angesichts dieser Erkenntnis nahe brachte, lässt sich vielleicht umschreiben mit dem eindringlichen Bild von der Eiche und dem Bambus. Die Eiche trotzt lange allen Stürmen. Aber wenn der Druck zu stark wird, hält der Stamm nicht stand. Er bricht und der Baum stürzt zu Boden. Der Bambus hingegen leistet kaum Widerstand. Er beugt sich bereitwillig, um sich, wenn der Sturm vorüber ist, unversehrt wieder aufzurichten. In diesem sich Beugen liegt Einsicht in das, was stärker ist als wir selbst, und vielleicht ist dies der Kern dessen, was unter Gelassenheit verstanden werden kann. Ich neige dazu, den analytischen Weg als den einzig wirksamen zu seelischer Veränderung anzusehen – Veränderung verstanden als neue Ausrichtung des Blicks auf das Leben, die menschlichen Verhältnisse und das eigene in sie »Verstrickt-Sein«. Dies hat mich manchmal verleitet, bei Menschen, die mir nahe sind, deren eigenen Zugang zu Konflikten mit Skepsis zu betrachten. Hier zeigt sich, wie schwer es noch oft fällt, den Anderen als einen Anderen mit einer persönlichen Weltsicht wahrzunehmen, die sich von der eigenen unterscheidet und manchmal Berührungspunkte auch schmerzlich endgültig ausschließt. Jüngere Menschen, die eine analytische Psychotherapie in dieser nachhaltigen, kein Ausweichen duldenden Form erleben, mögen das Gefühl haben, noch einmal geboren zu werden. Ein alter Mensch, der sich dem Gegenpol des Lebens nähert, wird anders darüber sprechen. Er könnte sagen, er habe sich gefunden, sei zu sich oder sich näher gekommen. Für mich bedeutet dies – auch wenn es oft noch misslingt –, eigene Unvollkommenheiten und Begrenzungen und die anderer anzuerkennen, ohne mich zurückzuziehen und mich lähmen zu lassen im Zugehen auf die Welt. Zum Schluss wende ich mich einem Gedankengang zu, der unausgesprochen das analytische Arbeiten stets begleitete und individuelle Konflikte in einen größeren Zusammenhang stellt: die 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
besondere Verbindung, die ich spüre zwischen mir als einem einzelnen Menschen mit seinen persönlichen Schwierigkeiten und jenem anderen Menschen in mir, der immer auch ein Kind seiner Zeit gewesen ist, vielfach bestimmt von dem, was sich außerhalb seiner engeren Welt zutrug, während er sich entwickelte, erwachsen wurde und schließlich versuchte, eine in Unordnung geratene innere Welt zu verstehen und, soweit möglich, zu ordnen. Ich spreche von den Prägungen, die die historische Zeit mit ihren Kriegen, Umwälzungen und Modernisierungsfolgen verursacht, und von den Aufgaben, die sich stellen, wenn persönliche Konflikte gelöst werden können und wir mit neuem Selbstverständnis die Nähe der Gemeinschaft und die aktive Berührung mit ihr suchen. In der Therapie habe ich am Beispiel meiner selbst die Doppelbödigkeit und Gefährdung der menschlichen Natur erfahren. Zerstörerische Impulse wie das ebenso nachhaltig empfundene Bedürfnis nach Liebe, Zustimmung und Zugehörigkeit sind immer wieder aufgegriffen, angesprochen und durchgearbeitet worden. Danach war mir die naive, die Kenntnis eigener problematischer Wesenszüge verdrängende und doch so häufig gestellte Frage nicht mehr möglich, wie es zu zwei Weltkriegen, zu Gewalt und Menschen verachtenden Folgen kommen konnte. Wo einzelne Menschen und ganze Gesellschaften die dem Leben zugewandten, liebevollen Empfindungen in sich auszulöschen versuchen und vernichtende Impulse als begründete Abwehr vermeintlicher äußerer Bedrohungen rechtfertigen, entsteht ein seelischer Druck, der nach einem Ventil sucht, um sich zu entladen. Auf diese Weise kommt es zu jener Neigung zu Gewalttätigkeit, die nicht eher ruht, als bis der Andere sich nicht mehr regt. Während des Zweiten Weltkriegs war ich ein Kind und insofern jenseits politischer Schuld und menschlichen Versagens. Meine Eltern standen dem Nationalsozialismus nicht nahe. Sie waren stillschweigende Mitläufer. Da mein Vater eingezogen war, hatte meine Mutter sich weitgehend allein um den schwierigen Alltag einer Familie mit vier noch sehr kleinen Kindern zu kümmern. Erst nach dem Krieg haben die Eltern den Mut gefunden, sich dem zu öffnen, was über ihre eigene, durch die Kriegsjahre bedingte Not hinaus anderen Menschen angetan worden war, ohne dass jemand wirksam und beherzt eingeschritten wäre. Sehr bald schon las mein Vater Bücher, in denen in der Nachkriegszeit der Versuch un172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
ternommen wurde, sich mit der eigenen Gleichgültigkeit und Unberührbarkeit auseinanderzusetzen und deren Folgen in den Blick zu nehmen. Diese Auseinandersetzung mit dem wachsenden Empfinden persönlicher Verantwortung, die mein Vater spürbar lebte und über die er, der zurückhaltende und wortkarge Mann, oft auch zu uns Kindern zu sprechen versuchte, hat mir, sobald ich alt genug war, das Geschehene zu begreifen, eine Grundhaltung vermittelt, für die ich ihm dankbar bin. Es verband mich mit ihm ein schwieriges, von vergeblicher Suche nach Nähe und geistiger Übereinstimmung geprägtes Verhältnis. Aber sein Nachdenken über seine Rolle in der NS-Zeit – und meine eigenen Erfahrungen von Flucht und Heimatverlust – haben mir eine frühe Identifikation ermöglicht mit den Menschen, denen damals Leid zugefügt und deren Lebenssicherheit so grundlos und grausam zerstört wurde, wie mit jenen, die bis heute ähnliche Schicksale erleiden, auch wenn die Gesamtumstände sich unterscheiden. Ich empfinde dies ganz unabhängig davon, woher diese Menschen kommen, wo sie ihre Wurzeln sehen und welcher Ethnie sie sich zugehörig fühlen. Vielleicht hat diese Erfahrung dazu beigetragen, dass der analytische Einblick in das, was die menschliche Natur genannt ist, in die Ursachen für problematische Entwicklungen und in das Leid, das mir selbst und durch mich Anderen entstand, mein Denken besonders nachhaltig prägt. Etwas von dem, was ich erfahren habe – über mich und den Menschen insgesamt –, versucht dieser Bericht offenzulegen. Zuwendung und Halt, Forderung und Unterstützung und ein schonungsloses Aufdecken unbewusster Antriebe, ohne mich wegen der durch die frühe Störung bedingten Fehlhaltungen abzuwerten, ließen mich den Mut finden, mich den abgewandten Seiten in mir zu öffnen und zu erfahren, wie sehr Menschen aufeinander angewiesen sind, ohne sich gegenseitig zu missbrauchen und einzuengen. Über einen der Wege, die dahin führen könnten, wollte ich berichten und mich aussprechen für eine Erziehung der Liebe, des Halts und der persönlichen Glaubwürdigkeit, zu der ich selbst in jüngeren Jahren nur unzureichend imstande war. Kinder sind das Kostbarste, was wir haben. Zugleich sind sie immer auch das Verletzlichste. Ihre Hoffnungen und berechtigten Erwartungen in das Leben sind am leichtesten und am wirkungsvollsten zu zerstören, wo wir als Eltern es versäumen – aus Unwis173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
senheit oder aufgrund eigener Beschädigungen –, die persönlichen Bedürfnisse manchmal auch zurückzustellen, Halt und Schutz zu geben, solange die Kinder es brauchen, und sie einfühlsam auf dem schwierigen Weg in das Erwachsenwerden inmitten einer vielfach bedrohten und bedrohlichen Welt zu begleiten. Nach dieser langen Forschungsreise in die eigenen seelischen Verhältnisse erscheint es mir – vor allem für die späten Lebensjahre – wie eine Verpflichtung, von den Verlusterfahrungen der Vergangenheit Abschied zu nehmen und die an sie gebundenen Kräfte umzuwandeln in eine tätige Nähe zu den jüngeren Generationen, den Kindern und Enkeln. Sich für die nachkommende Generation zu interessieren und sich um sie zu sorgen, auch wenn sie manchmal fremd erscheint und ihre Haltungen und Bedürfnisse sich oft nur schwer nachvollziehen lassen. Das menschliche Dasein kann gekennzeichnet sein von Verlust, Mangel und Entbehrung. Ich war angerannt dagegen und hatte mich daran wundgestoßen. Die Gespräche der vergangenen Jahre, dem Durchdenken und Zurechtrücken von Haltungen gewidmet, die einer Zugewandtheit zum Leben nicht dienlich sind, haben mir Erfahrungen menschlicher Nähe und Kontinuität wie der Annäherung an eigenes Selbstsein ermöglicht. Dies söhnt mich aus mit einstigen schmerzhaften Erfahrungen und mit den Menschen, die, beschattet von eigenen Verwundungen, sie ungewollt und unbewusst verursachten.
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Dank Dieser Bericht, der den Nachvollzug eines Erkenntnis- und Veränderungsprozesses im Rahmen einer analytischen Psychotherapie fortsetzt und beschließt, ist – wie mein erstes Buch – meinem Analytiker Dr. Kurt Hemmer zugeeignet. Der inhaltliche Reichtum, die Tiefe und die Eindringlichkeit dieses mehrjährigen analytischen Gesprächs sind die Quelle, aus denen die Arbeit an beiden Berichten sich nährte. Ich weiß keine aufrichtigere Möglichkeit, ihm zu danken, als die wertvollen Inhalte dieses Dialogs nachzuzeichnen und ihre verändernde und heilsame Wirkung vielleicht auch für andere sichtbar werden zu lassen. Dank schulde ich Professor Gerd Lehmkuhl für die vielfache Ermutigung, die er mir vor und nach der Veröffentlichung des ersten Berichts zuteil werden ließ, und vor allem für sein einfühlsames Vorwort zu den darin geschilderten Erfahrungen. Es stellte mein persönliches Erleben in einen größeren, objektivierenden Zusammenhang und half auch mir selbst, es in einem erweiterten Kontext noch einmal neu wahrzunehmen. Dank gilt weiterhin Fedor Bochow, auf dessen Erfahrung in Verlagsdingen ich mich verlassen konnte. Auch ihm verdanke ich Zuspruch und Ermutigung. Dankbar bin ich den Menschen, denen ich mich nahe fühle, den Verwandten und Freunden, für die unerwartet große Zustimmung, die sie dem ersten Buch entgegenbrachten, und für ihre anregenden Kommentare und Fragen, die das gegenseitige Verstehen förderten. Gehören doch viele von ihnen, gleich mir, der Generation der Kriegskinder oder Kriegsenkel an und teilen auf die eine oder andere Weise Erfahrungen, die Leben und persönliche Entwicklung jedes Einzelnen belastet haben. Es ist durch diesen Austausch eine wechselseitige Nähe entstanden, wie ich sie beim Schreiben der beiden Berichte nicht voraussehen konnte. Und schließlich möchte ich meinem Verlag und seinen Mitarbeitern Dank sagen, besonders Günter Presting und Ulrike Kamp, für das einfühlsame Interesse und die Ermutigung, die sie meinen Manuskripten entgegenbrachten, und die ungewöhnlich sorgsame, in vertrauensvoller und anregender Atmosphäre sich vollziehende Vorbereitung der Texte für die Drucklegung. 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401149 — ISBN E-Book: 9783647401140
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