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German Pages 296 Year 2015
Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus
2009-03-09 15-02-58 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02dd204509554232|(S.
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Peter Dirksmeier (Dr. rer. pol.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie an der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeographie der Performanz, theoretische Stadtgeographie sowie visuelle Methoden der qualitativen Sozialforschung.
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) T00_02 seite 2 - 1127.p 204509554280
Peter Dirksmeier
Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land
2009-03-09 15-02-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02dd204509554232|(S.
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) T00_03 titel - 1127.p 204509554336
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Zugleich Dissertation Universität Bremen. »Stadt und Habitus. Die Inkorporierung von Urbanität als Ursache der Urbanisierung. Die Beispiele Bodolz, Tegernsee/Stadt und München« Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Peter Dirksmeier Lektorat & Satz: Peter Dirksmeier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1127-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT
Die Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft
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THEORIE Urbanitätsdiskurse Die »Subcultural Theory of Urbanism« Die Theorie der »Neuen Urbanität« Die Theorie der »postmodernen Urbanität« Ein Resümee der drei Konzepte
21 28 31 33 37
Zum Begriff der Urbanität Fremdheit Individualisierung Urbanität als Kontingenz
41 43 58 70
Zum Begriff der habituellen Urbanität auf Grundlage der bourdieuschen Sozialtheorie Die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu Habitus Feld/ Kapital Raum Die habituelle Urbanität
83 87 94 103 123 133
METHODOLOGIE Eine Methodologie der reflexiven Fotografie Bild/Semiotik/Fotografie Die reflexive Fotografie Das Problem der Habitusanalyse Die Auswahl der Untersuchungsorte
151 154 163 169 177
EMPIRIE Die Urbanisierung im südlichen Bayern Assoziationen von Stadt Die Lage der Kontingenzräume Das residenzielle Kapital Die habituelle Urbanität im südlichen Bayern
187 188 204 221 241
Resümee: Die habituelle Urbanisierung der Gesellschaft
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Literatur
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DIE URBANISIERUNG DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT
In einem bemerkenswerten Aufsatz prognostiziert der Romancier und Science-Fiction Autor Herbert George Wells bereits im Jahre 1901 ein Ausgreifen der modernen Städte auf das Land, das in letzter Konsequenz in den nächsten 100 Jahren jeden Unterschied zwischen diesen beiden räumlichen Formen verwischen werde. Wells sieht voraus, dass die Lebensstile der Urbaniten 1 und der Bewohner des Landes sich allmählich angleichen, räumliche Distanzen an Bedeutung verlieren und letztlich der gesamte ländliche Raum in eine Form der Suburbia umgewandelt wird. Den Grund dieser Entwicklung erkennt Wells in den Neuerungen der Verkehrstechnik. Die Verteilung der Städte eines Staates in dessen Territorium ist dem englischen Schriftsteller zufolge eine Funktion der Transporttechnik. So sind die größten und prosperierendsten Städte der Erde in Gunstlagen entstanden, die entweder Knotenpunkte der Fernhandelsrouten oder geschützte Lagen an schiffbaren Flüssen oder Meeresküsten bilden (vgl. Wells 1924: 31-33). Wells steht mit dieser Interpretation der räumlichen Verteilung und Siedlung der Menschen in der Tradition der deutschen Geographie seiner Zeit (vgl. Hettner 1895). Die neu entwickelte Kommunikations- und Verkehrstechnik erlaube, so Wells, in naher Zukunft eine Streuung der Bevölkerung im Raum, die nicht mehr auf Gunstlagen angewiesen ist, sondern die tradierte Unterscheidung von Stadt und Land nachhaltig aufhebt. Stadt sei in naher Zukunft ein ähnlich überkommener Begriff wie Postkutsche. 1
In diesem Buch werden die kürzeren, männlichen Formen verwendet. Dies ist ausschließlich der besseren Lesbarkeit des Textes geschuldet und hat keinen anderen Grund. 7
URBANITÄT ALS HABITUS
»Enough has been said to demonstrate that the old ›town‹ and ›city‹ will be, in truth, terms as obsolete as ›mail coach‹. For these new areas that will grow out of them we want a term, and the administrative ›urban district‹ presents itself with a conveniant air of suggestion. We may for our present purposes call these coming town provinces ›urban regions‹. Practically, by a process of confluence, the whole of Great Britain south of the Highlands seems destined to become such an urban region, laced together not only by railway and telegraph, but by novel roads such as we forecast in the former chapter, and by a dense network of telephones, parcels-delivery tubes, and the like nervous and arterial connections« (Wells 1924: 53).
In seiner Zukunftsvision besteht nach wie vor die Stadt als ein ökonomischer Knoten inmitten eines produzierenden Raumes, jedoch durchsetzen Agrarproduktion, Gartenbau und Urbanität diese neu entstandenen »urban regions« (Wells 1924: 56). Die Stadt und das Land gleichen sich demnach funktional und sozial an. Die bisher in Arbeiterwohnquartieren kasernierten Fabrikarbeiter des Zeitalters der industriellen Revolution sind genauso in Wohngebieten des suburbanen Raums zu finden, wie die privilegierten Klassen des Bürgertums. Bauern und Arbeiter, Unternehmer und Beamte, sie alle wohnen dort, wo die Lebensbedingungen ihnen am stärksten zusagen. Die Neuerungen der Verkehrstechnik erlauben diese freie Wohnortwahl ohne größere Rücksichtnahme auf räumliche Distanzen, da die Kosten für Kommunikation und Warenverkehr in Zukunft stark zurückgehen (Wells 1924: 46). Einher geht diese Diversifizierung des Siedlungs-, Verkehrs- und Produktivraumes mit einem langsamen Anstieg in der Lebenserwartung der Bevölkerung auf der Grundlage des technischen Fortschritts (vgl. Hart 1925). Das Bemerkenswerte an den Ausführungen von Wells ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Zukunftsszenarios. Wells geht zu einer Zeit von einer selbstverständlichen Nivellierung des Stadt/LandGegensatzes aus, als die wissenschaftliche Stadtforschung von Geographen wie Soziologen anscheinend von dem Tempo der Urbanisierung und Modernisierung überrollt wird und vor allem an einer Apotheose der Großstadt interessiert zu sein scheint. Geographen und Soziologen arbeiten sich besonders an den Unterschieden von Stadt und Land sowie von den in diesem Zusammenhang meist als eloquent skizzierten Großstädtern und den eher als tumb stilisierten Landbewohnern ab. In der vielleicht berühmtesten Publikation dieser Zeit, dem 1903 erschienenen Vortrag »Die Großstädte und das Geistesleben«, skizziert Georg Simmel den Gegensatz zwischen einem langsamen, mit dem »Gemüte« auf Innovationsdruck und Reize reagierenden Landbewohner und einem rationalen Städter, der auf die Interaktionsdichte und einhergehende Reizüberflutung der neuen Großstädte zeitnah mit den verstandesmäßigen 8
DIE URBANISIERUNG DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT
Eigenschaften von Blasiertheit und Reserviertheit reagiert (vgl. Simmel 1903: 188-189). Es ist aus heutiger Sicht kaum zu bestreiten, dass die Ausführungen des Schriftstellers Wells, der nicht an die Regeln wissenschaftlicher Genauigkeit gebunden war, der derzeitigen Situation einer Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft näher kommen als die eher euphorischen, an den Besonderheiten und Neuerungen des Großstadtlebens interessierten Ausführungen der Soziologie und Geographie. Doch wo steht die Urbanisierung heute? Hat sie bereits alle Räume und Regionen erfasst und überprägt? Und wie äußert sich überhaupt Urbanisierung? Wie gibt sie sich zu erkennen und wie lässt sie sich theoretisch denken? Die Urbanisierung schreitet nach wie vor anscheinend ungebremst voran. Nach konservativen Schätzungen der UN ist bald der Punkt erreicht, in dem erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben, d. h. mehr Menschen in konsumtiven als in produzierenden Räumen existieren. Die World Urbanization Prospects weisen für das Jahr 2005 ca. 3,2 Mrd. Menschen oder 49 Prozent der Menschheit als Stadtbewohner aus. Bleibt die Verstädterungsrate konstant, lebt im Jahr 2008 die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten und bis zum Jahr 2030 steigert sich dieser Anteil auf annähernd 60 Prozent. 2 Das Joint Research Center der Europäischen Kommission hat Ende 2008 eine Weltkarte vorgestellt, die angibt, wie lange es dauert von einem beliebigen Punkt der Erdoberfläche aus zur nächsten mindestens 50.000 Einwohner zählende Stadt zu gelangen. Der Karte zugrunde gelegt wurden die jeweils aktuellsten Daten über die Einwohnerdichten und die vorhanden Transportwege, sei es zu Fuß, per Bahn, Schiff oder Flugzeug. Man kann so erkennen, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung weniger als eine Stunde entfernt von der nächsten größeren Stadt lebt. Noch beeindruckender: Es konzentrieren sich 95 Prozent aller Menschen auf lediglich zehn Prozent der Erdoberfläche. Aber auch diese Enge bedeutet nicht, dass die letzten Peripherien besonders abgeschieden sind. Heute leben nur noch zehn Prozent der Menschen in so abgelegenen Regionen, dass sie mehr als 48 Stunden in die nächste Stadt von 50.000 Einwohnern benötigen. 3
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Quelle dieser Zahlen sind die UN: United Nations. Department of Economic and Social Affairs. Population Division (2006). World Urbanization Prospects. The 2005 Revision. Working Paper No. ESA/P/WP200. http://www.un.org/esa/population/publications/WUP2005/2005WUP_FS1 .pdf (01.11.06). Die Karte der Erreichbarkeit ist unter: http://gem.jrc.ec.europa.eu/gam/ index.htm im Internet erreichbar (07.01.09). 9
URBANITÄT ALS HABITUS
Der Einfluss dieser global zu beobachtenden Urbanisierung auf den Menschen bleibt nicht folgenlos für die Gegenwartsgesellschaft. Ein Beispiel für die aktuelle Auseinandersetzung mit möglichen Konsequenzen der weltweiten Urbanisierung gibt die zehnte internationale Architekturausstellung der Biennale in Venedig. Im Rahmen der Präsentation von architektonischen Neuerungen, die auf den steigenden Zuzugsdruck in die Städte antworten, diskutierten renommierte Architekten wie Norman Foster, Massimiliano Fuksas, Zaha Hadid, Jacques Herzog, Rem Koolhaas oder Renzo Piano die momentanen Problematiken im Zusammenhang mit der Verstädterung. Das Ziel der Biennale ist nicht mehr nur avantgardistische Baukunst an den Grenzen des physisch Machbaren zu präsentieren, sondern vielmehr die Schärfung des Bewusstseins der Öffentlichkeit für die anstehenden Probleme einer »Hyperverstädterung«, wie es der Kurator der Ausstellung, der englische Urbanist und architektonische Berater des Londoner Bürgermeisters Richard Burdett, formuliert. »The aim of the 10th International Architecture Exhibition both to inform and provoke a debate on the way we shape the future of urban society, just at the point that cities represent such a critical mass of the global agenda. It (…) will feature a range of urban and architectural projects responding to the pressures of contemporary life: migration, urban sprawl, de-industrialisation and social change.« 4
Die weltweite Urbanisierung verlangt gemäß dem Verständnis der Ausstellungskuratoren nach einer Architektur, die eine urbane Governance in adäquaten Räumen erst zulässt. Städte ermöglichen so eine Interaktion zwischen der Architektur und den Bewohnern in den immer stärker ausgreifenden Metropolregionen. Die Ausstellung zeigt Projekte, die den Lebensstil der Bewohner, ihre Arbeitsmöglichkeiten und die metropolitane Umwelt berühren und auf den sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel reagieren, den die offensichtliche Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft für diese bedeutet. Am Ende der Schau steht die Präsentation des Manifestes »Agenda for XXI Century Cities«, die das urbanistische Programm der Ausstellung zusammenfasst. Betrachtet man neben dieser großen, publikumswirksamen Bearbeitung des weltweiten Urbanisierungsphänomens die gleichzeitig stattfindende wissenschaftliche Diskussion des Themas in der Geographie,
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Die Quelle dieser Aussage ist die offizielle Internetseite der Biennale 2006: http://www.labiennale.org/en/news/architecture/en/65516.html (31.10.2006).
DIE URBANISIERUNG DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT
Raumplanung und Soziologie, scheint es fast so, als hätte Herbert George Wells mit seinem Zukunftsszenario der diffusen Stadtlandschaft Recht behalten. In der aktuellen Urbanisierungsforschung, nicht nur in der Stadt- und Sozialgeographie, herrscht ein Commonsense, der die Auflösung der in der Gegenwartsgesellschaft überkommenen Begriffe wie Stadt, Suburbia oder Land behauptet. Stadt und Land haben sich demnach funktional, sozial und kulturell in einer Weise angenähert, die räumliche Differenzierungen als stabile räumliche Ordnung des Sozialen zum Verschwinden gebracht hat. Der vormals ländliche Raum wird so als vollständig urbanisiert dargestellt. Kommunikationsmedien und Verkehrstechnik lassen die Städte bis in den letzten Winkel der Erdoberfläche vorrücken (vgl. Amin/Thrift 2002). Die Zentralität der Stadt, ursprünglich ihr entscheidendes Wesensmerkmal, löst sich in einem diffusen Siedlungsgemenge auf, das nur an verkehrlichen Gunstlagen noch Verdichtungen zeigt. Die Gegenwartsgesellschaft gibt sich durch und durch urbanisiert. Diese Behauptungen erscheinen gewagt und reichen bis weit in die europäische Stadtgeschichte zurück, denn die Wurzel dieser Entwicklung in Europa liegt zeitlich deutlich vor der Moderne und ihren überragenden technischen Potenzialen. Bereits das Mittelalter kennzeichnet ein eindeutiges Ausgreifen der Stadt über das Land. Ein Motor dieser Entwicklung war der Erwerb von Landbesitz und Renten durch Stadtbürger und urbane Institutionen, die zu einem starken Einfluss der städtischen Bevölkerung auf die ländliche Gesellschaft führte. Überschüssiges, in der Stadt durch Handel erzieltes Kapital reicher Bürger traf sich auf dem Land mit dem unablässigen Geldbedarf von Fürsten und des Adels, die enorme Summen für den Erhalt ihrer Besitzungen akquirieren mussten (vgl. Engel 1993: 273-274). Rudolf Stichweh geht mit Bezug auf Francois Loryot davon aus, dass der Adel des Mittelalters zur Aufrechterhaltung seines Lebensstils auf das Land verwiesen war, da er nur hier seine Ausgaben soweit kontrollieren konnte, um jenseits von Arbeit und Gelderwerb zu bestehen (vgl. Stichweh 2006: 497). Die Investitionen der städtischen Bürgerschicht stießen so auf dankbare Abnehmer, die allerdings langsam aufgrund ihrer schwindenden ökonomischen Autarkie an politischer Souveränität einbüßten. Politisch-herrschaftlich griff die städtische Gesellschaft neben der ökonomischen Kontrolle noch in einer zweiten Weise auf das Land und seine Bewohner aus. Im Zusammenhang mit der städtischen Landfriedenspolitik des Mittelalters nahmen die urbanen Verwaltungen die Bewohner des Umlandes, sowohl Bauern als auch Adelige, als sogenannte Pfahlbürger oder Ausbürger in das stadteigene Bürgerrecht auf und dehnten gleichzeitig ihren juristischen Einfluss und ihre Rechte auf Räume jenseits der Stadtmauer aus (vgl. Engel 11
URBANITÄT ALS HABITUS
1993: 274). Somit bestand bereits im Mittelalter ein sozialer und juristischer Einfluss der städtischen Sozietät auf die ländliche Bevölkerung und hebelte infolgedessen eine absolute Trennung zwischen der Stadt und dem ländlichen Raum bereits zu dieser Zeit aus. Der Stadt/Land-Unterschied auf Grundlage der ausschließlichen Verleihung eines Titels für eine Seite der Unterscheidung ist spätestens seit den 1970er Jahren gegenstandslos geworden. Stadt/Land kann lediglich solange einen Unterschied markieren, wie Unterschiede in der rechtlichen Stellung der Gemeinden bestehen, die in der ursprünglichen funktionalen Trennung von Stadt und Land wurzeln. Das Land war der Lieferant von organischen Produkten, die Stadt hingegen die Stätte des Handels, Handwerks und der Kultur (vgl. Gorki 1974: 37). Für die Situation in den 1970er Jahren ist allerdings charakteristisch, dass die Differenz zwischen Stadt und Land lediglich noch als ein Nebeneinander von Stadt-(Titel-)Gemeinde und den übrigen Landgemeinden erscheint. Die einzig verbliebene Grundlage dieser Unterscheidung ist das Führen des Stadttitels, der als Merkmal für eine inhaltliche Bestimmung der Kategorie Stadt oder Land allerdings »evident nichtssagend ist« (Gorki 1974: 37). Bezogen auf Lebensstile zeigt die Urbanisierung hingegen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein deutliches Nebeneinander von urbanen und ländlichen Dasein sowie von bäuerlichen und industriellen Erwerbsformen. Industriearbeiter lebten häufig in zwei getrennten Welten. Sie gingen in der Woche zur Lohnarbeit in eine Fabrik und arbeiteten in ihrer Freizeit am Wochenende in der eigenen Landwirtschaft. Willems zeigt dieses Muster am Beispiel des Fischerdorfes Niehl vor den Toren Kölns beispielhaft auf. Er arbeitet anhand des heutigen Kölner Stadtteils heraus, wie über eine Zeitspanne von 70 Jahren hinweg die Dorfbewohner nicht nur während der industriellen Modernisierung ihre kulturelle Identität bewahrt haben, gerade weil sie ihre Einkommen aus der Industriearbeit einsetzten, um ihren bäuerlichen Lebensstil beizubehalten (vgl. Willems 1970: 528-534). Diese bedeutende Mischform von städtischländlichen Dasein, die die Urbanisierung bis Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, unterschätzt die Wissenschaft gelegentlich (vgl. Tenfelde 2006: 237). Liest man historische Analysen der Urbanisierung in Europa, zeigt sich letztlich immer das Ergebnis, dass sich mit dem Innovationsschub in den 1960er Jahren die Versorgung mit Konsumgütern und das Konsumverhalten, die Informationsdichte und Mobilität, die Familienbildung und demographische Strukturen, die Geschlechterrollen und Generationsbeziehungen sowie die Religiosität und das Brauchtum anglichen. Die Richtung der Verschiebung war bei allen Abweichungen und Zeitdifferenzen meist als eine Urbanisierung des Landes zu interpre12
DIE URBANISIERUNG DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT
tieren (vgl. Tenfelde 2006: 254-255). Aus der Perspektive der Stadtgeschichte zeigt sich der aus der Historie des Feudalismus sozial, politisch, ökonomisch und rechtlich begründete Stadt/Land-Gegensatz aufgelöst. Er war in den Krisenjahren nach den zwei Weltkriegen letztmals in der Moderne gegenwärtig und verschwand anschließend aufgrund der sukzessiven Modernisierung aus der europäischen Geschichte (vgl. Tenfelde 2006: 264). So formulierte Louis Wirth bereits 1956: »The time has come for a re-examination of the meaning of the concepts ›urban‹ and ›rural‹« (1964: 222). Die Stadtforschung steht mit diesen Erkenntnissen vor einem synekdochischen Problem. Das Verschwinden der beiden Seiten der Unterscheidung Stadt/Land ist in der Literatur gleichbedeutend mit der Urbanisierung des ländlichen Raumes. Beide Konzepte ersetzen einander oder werden synonym gebraucht. Ash Amin und Stephen Graham weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Substituierung eines Begriffs durch einen anderen die Gefahr einer Übergeneralisierung von einem Beispiel auf weitere, u. U. vollständig verschiedene Beispiele in sich birgt. Gleichzeitig werden einzelne Räume, Zeitmuster oder Strukturen innerhalb der Stadt überbetont. Die Urbanisierung und ihr Ausgreifen auf das Land ist vielmehr ein Prozess, in dem ein konzentrierter Komplex von Institutionen, Lebensformen und Wirtschaftsweisen im weitesten Sinne und diverse relationale Netzwerke ihre Geltung in die gesamte Gegenwartsgesellschaft unabhängig von räumlichen Distanzen und Positionen ausdehnen (vgl. Amin/Graham 1997: 416-418). Die Stadt stellt sich dann nicht mehr als einziger Ort der Konzentration von Institutionen und Infrastruktur dar, sondern lediglich als einer von mehreren. Ihre räumliche Dichte, seit dem Entstehen der Stadt Grundlage ihrer kommunikativen Dichte, löst sich auf der Grundlage der flächendeckenden Ausstattung mit verkehrlicher und technischer Infrastruktur für Telekommunikation und des motorisierten Individualverkehrs faktisch auf. Die kommunikative Dichte rekurriert nicht mehr auf den Raum der Stadt. Die Stadt ist zwar als physische Struktur präsent. Sie bildet jedoch nicht länger das räumliche und kommunikative Zentrum der Gesellschaft. Folgerichtig plädieren erste Stimmen für ein Aufgeben des Stadtbegriffs, der keine Beobachtungen mehr erlaube (vgl. Bahrenberg 2003: 229-230). Es finden sich nur wenige Arbeiten, die sich gegen diese Meinung wenden. Der Soziologe Claude Fischer sieht eine »kritische Masse« für einen weiterhin bestehenden Unterschied verantwortlich, die erst die Ausbildung von Subkulturen und ausdifferenzierten Lebensformen, wie sie für Großstädte typisch seien, ermögliche (vgl. Fischer 1975a; 1995). Mit Bezug auf unterschiedliche Formen der Lebensführung in Großstäd13
URBANITÄT ALS HABITUS
ten und Dörfern kommen Gunnar Otte und Nina Baur zu dem Ergebnis, dass offensichtlich eine »Sockeldifferenz« (Otte/Baur 2008: 113) bestehe, die auf das Wirken von räumlich konzentrierten Menschen auf das Sozialleben zurückgehe. Nach den statistischen Analysen der zwei Soziologen ist damit auch in Zukunft nicht mit einer Auflösung der Stadt/Land Unterscheidung zu rechnen (vgl. Otte/Baur 2008; ähnlich mit Bezug auf die unterschiedliche Lebensführung Schneider/Spellerberg 1999). Die weit überwiegende Anzahl an Arbeiten in der Geographie und Soziologie plädieren vielmehr für die Auflösung beider Seiten der Unterscheidung Stadt/Land, die historisch gewichtig war. Das Ergebnis ist, dass Raum nunmehr erstmals in der Geschichte ein neutrales Medium darstellt. Kommunikative Verdichtungen finden sich an beliebigen Orten, nicht zwangsläufig in den Städten, die räumlich determiniert sind (vgl. statt vieler: Stichweh 2006: 509). Zwingende Konsequenz dieser These ist eine Ubiquität des Städtischen, z. B. von Lebensstilen, religiösen Praktiken, demographischem Verhalten usw. Diese Beobachtung kennzeichnet einen »radikalen Bruch« in der Urbanisierung und Modernisierung im 21. Jahrhundert (vgl. Beauregard 2006). Ihr ist aber zugleich zu Eigen, dass sie lediglich erkannt und konstatiert, nicht aber theoretisch oder empirisch ausgearbeitet ist. Robert Beauregard demonstriert dies beispielhaft mit Bezug auf die Urbanisierungstheorie von Ed Soja. Dieser konstatiert ebenfalls die Auflösung der städtischen Konzentrationen im Raum und eine gleichzeitige Ausweitung der symbolischen Reichweite der Stadt. Jeder Ort im Raum ist zumindest symbolisch urban (vgl. Beauregard 2006: 219). Ed Soja bietet jedoch lediglich eine Verlegenheitslösung an, da die von ihm vertretenen Thesen zur Ubiquität des Urbanen empirisch nicht zu erheben sind. Er weicht zwangsläufig auf die Ebene der Symbolik aus und bedient sich des Symbolismus und der Semiotik zur Untermauerung seiner Ideen. Robert Beauregard sieht dagegen mit Bezug auf die These der Ubiquität des Urbanen 5 keinen epistemologischen Gewinn in der Benutzung von Metaphern, wo es Theorie und Empirie zur Fundierung und Erklärung bedarf (vgl. Beauregard 2006). Die These der Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft lässt ihre theoretische Fundierung und empirische Prüfung vermissen. 5
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Diese These hat einige prominente Vertreter. Neben Ed Soja (vgl. 1995) sind dies im anglophonen Sprachraum vor allem Ash Amin und Nigel Thrift (2002) sowie Michael Dear und Steven Flusty (vgl. 1998). In Deutschland sind Walter Siebel (vgl. 1999), Gerhard Bahrenberg (vgl. 2003), Rudolf Stichweh (vgl. 2006) oder auch Klaus Tenfelde (vgl. 2006) zu nennen.
DIE URBANISIERUNG DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT
An dieser Stelle greift die Arbeit in die Diskussion um die Urbanisierung ein. Sie will nicht die kaum lösbare Frage nach der Ubiquität des Urbanen beantworten, sondern zielt auf ein bestimmtes theoretisches Problem, dass scheinbar untrennbar mit der Urbanisierungsforschung verbunden ist. Das Buch fragt danach, ob noch heute Unterschiede zwischen den Städten und nicht-städtischen Räumen bestehen. Dieser Unterschied müsste in der Urbanität selbst liegen als eine genuin städtische Qualität von der Antike bis zur späten Moderne. Die meisten vorliegenden Arbeiten greifen auf Hilfsvariablen wie Lebensstil, Lebensform oder Lebensführung zurück (zuletzt Otte/Baur 2008), nicht aber auf Urbanität. Wie kann aber Urbanisierung in Hinblick auf die Urbanität theoretisch ausgearbeitet werden, um sie anschließend empirisch zu untersuchen und zu einer Einschätzung des Urbanisierungsgrades in nichtstädtischen Räumen zu gelangen? Und inwieweit sind nicht-städtische Räume in der Bundesrepublik Deutschland bereits urbanisiert? Die Grundidee des Buches besteht in der Auffassung von Urbanisierung als eine Diffusion von Urbanität in nicht-städtische Räume. Im Wesentlichen ist diese Idee schon bei Herbert George Wells unterschwellig mitgeführt. Wells prognostizierte dieses Ausbreiten von Urbanität bis in den letzten Winkel Englands für das Ende des 20. Jahrhunderts (vgl. 1924: 56). Arbeiten der Münchner Schule der Sozialgeographie zur Urbanisierung in Südbayern haben ebenfalls in diese Richtung gedacht (vgl. Schaffer 1968; Ruppert/Schaffer 1973; Paesler 1976; Paesler 1992). Das theoretische Grundproblem dieser Auffassung von Urbanisierung konnten jedoch alle diese Arbeiten bisher nicht klären. Wie kann Urbanität überhaupt in einer »diffundierbaren«, in einer von der Stadt getrennten Form gedacht werden? Der Begriff der Urbanität muss in einer Weise ausgearbeitet sein, der ihn jenseits der Stadt vorstellbar werden lässt. Das theoretische Problem, das sich mit dieser Setzung ergibt ist die notwendige logische Trennung der physischen Phänomene der Stadt, d. h. der »urbs«, von der mit ihr verknüpften Urbanität, d. h. der »urbanitas«. Das Buch erarbeitet im Folgenden einen theoretischen Vorschlag, um dieses bisher nicht gelöste theoretische Problem zu lösen. Das Ziel dieses Buches ist damit die Ausarbeitung einer Urbanitätstheorie, die auf die heutige Situation der Urbanisierung angemessen reagiert. Diese Urbanitätstheorie wird anschließend zur Analyse des gegenwärtigen Standes der Urbanisierung in ausgewählten nichtstädtischen Räumen der Bundesrepublik Deutschland herangezogen. Die Arbeit leistet auf diese Weise einen Beitrag, um die von Robert Beauregard angemahnte Lücke in der scheinbar geschlossenen Forschungsfront der Urbanisierungsforschung zu schließen (vgl. 2006).
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URBANITÄT ALS HABITUS
Für die Untersuchung der Urbanisierung in den nicht-städtischen Räumen in Deutschland, gliedert sich das Buch in drei Abschnitte. Die ersten Kapitel entwerfen zunächst eine Theorie der Urbanität, die Urbanität als losgelöst von den baulichen Eigenheiten der Stadt denkt. Die physischen Infrastrukturen, die soziale Dichte oder die Konzentrationen von Ressourcen und Interaktionsverdichtungen sind dann nicht länger die logische Grundlage der Urbanität. Eine in Frage kommende Theorie sollte zum einen empirisch zu untersuchen sein. Sie darf zum anderen theoretisch nicht rein auf die Stadt und ihre Bedingungen verwiesen sein. Diese zwei Prüfkriterien lassen eine Reihe von »klassischen« Urbanitätsbegriffen a potiori als unbrauchbar erscheinen, da diese in der Mehrzahl auf die in der Stadt aufgrund von physischer Dichte bestehende Interaktionsdichte rekurrieren. Als berühmtes Beispiel sei nur die Urbanitätstheorie von Louis Wirth (vgl. 1938) genannt. Aus diesem Grund werden zunächst die drei in der aktuellen stadt- und sozialgeographischen Diskussion am häufigsten bemühten Urbanitätstheorien auf ihre Eignung hin geprüft, als theoretische Basis der Untersuchung zu dienen. Es zeigt sich, dass weder die »Subcultural Theory of Urbanism« des amerikanischen Stadtsoziologen Claude S. Fischer noch die »Theorie der Neuen Urbanität« von Hartmut Häußermann und Walter Siebel diesen theoretisch vorformulierten und für die empirische Umsetzung notwendigen Anspruch gerecht werden. Die momentan populärste stadtgeographische Urbanitätstheorie, die »Theorie der postmodernen Urbanität«, ist ebenfalls wie die zwei zuvor skizzierten stadtsoziologischen Theorien nicht in der Lage, Urbanität und Stadt getrennt zu denken, sondern greift in ihrer Konzeption auf den physischen Raum der Stadt zurück. Die in diesem Buch vorgestellte alternative Herangehensweise entwirft einen Begriff von Urbanität, der diesen notwendigen Anforderungen für eine theoretische und empirische Auseinandersetzung mit der Urbanisierung des nicht-städtischen Raums genügt. Die zwei Strukturvariablen Individualisierung und Fremdheit bilden zusammen mit der sich aus ihnen ergebenden Kontingenz die Grundlage entworfenen Urbanitätsbegriffs. Die Stadt kann in Anlehnung an Max Weber (vgl. 1999) als eine dauerhafte Zusammensiedelung von gegenseitig Fremden verstanden werden. Der in ihr omnipräsente Fremdkontakt provoziert in seiner Folge eine unablässige Auseinandersetzung mit der Alterität der Fremden. Ergebnis dieser Konfrontation ist eine Form der Individualisierung, die mit Ulrich Beck als subjektiv bewusste Individualisierung aufgefasst werden kann (vgl. 1986: 207). Fremdheit und subjektiv bewusste Individualisierung führen in ihrer Summe zu einem im Vergleich zu nichtstädtischen Situationen geweiteten Kontingenzrahmen, der anschließend als Urbanität definiert wird. Dieses Verständnis von Urbanität als eine 16
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besondere Form der Kontingenz erfüllt die oben formulierte Bedingung einer theoretischen Loslösbarkeit der Urbanität von den physischen Phänomenen der Stadt. Als Medium dieser Trennung dient das theoretische Konstrukt des Habitus von Pierre Bourdieu. Die Habitustheorie erscheint als geeignete Sozialtheorie, um Urbanität von der Stadt als Ganzes auf den einzelnen Akteur zu verschieben und sie somit theoretisch von der Stadt zu lösen. Mithilfe der bourdieuschen Begriffe von Habitus, Praxis, Kapital, Feld, und Hysteresis erfolgt die theoretische Trennung von der Gesamtheit der städtischen Phänomene und ihrer Urbanität, indem Urbanität als eine Veränderung des Hysteresiseffektes des Habitus gedacht wird. Die Bewältigung des erweiterten Kontingenzrahmens der Stadt vollzieht sich nach diesem Verständnis im Habitus eines Akteurs. Die ursprünglich mit der Gesamtheit der urbanen Phänomene verbundene Urbanität erfährt auf diese Weise eine Veränderung und Verschiebung zu einer habituellen Urbanität. Mithilfe der habituellen Urbanität lassen sich anschließend nicht-städtische Räume in Hinblick auf ihre Urbanisierung untersuchen. Der zweite Abschnitt des Buches erarbeitet eine Forschungsmethode mit Bezugnahme auf die qualitativen empirischen Arbeiten von Pierre Bourdieu, die Rückschlüsse auf die Habitusformationen der Akteure zulässt. Bourdieus eigenes qualitatives Forschungsprogramm, das er in einem grundlegenden Aufsatz plakativ mit »Verstehen« überschrieben hat, sowie seine Arbeiten zur Analyse von Fotografien dienen als Grundlage der hier vorgestellten Methode zur Habitusanalyse. Mithilfe des bildtheoretisch begründeten Fotografie/Interview-Verfahrens der reflexiven Fotografie erfolgt anschließend die Durchführung der empirischen Studie. Dazu fotografieren die Probanden zunächst unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter und geben anschließend reflexiv Auskunft über ihre gewählten Bildsujets (vgl. Douglas 1998). Die reflexive Fotografie ist als eine Methode »mit Bourdieu gegen Bourdieu« (vgl. Dirksmeier 2007b) zu charakterisieren, da sie zum einen auf die Interviewverfahren des französischen Soziologen zurückgreift, zum anderen aber dessen semiotischen Bildbegriff ausdrücklich ablehnt und statt dessen mit einer phänomenologischen Bildtheorie zu einem Verständnis der Auswahlentscheidungen der Probanden gelangen will. Diese fotografische Motivwahl dient als Ausgangspunkt der folgenden Habitusanalyse. Die Auswahl der Untersuchungsregion stützt sich auf eine interessante Beobachtung des amerikanischen Geographen James Vance, Jr. (vgl. 1972). Dieser erkennt »arkadische Regionen« in Räumen, die aufgrund ihrer überragenden landschaftlichen Attraktivität bereits seit dem vorletzten Jahrhundert einer deutlichen Urbanisierung ausgesetzt seien. 17
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James Vance, Jr. untersuchte seine These anhand des Fallbeispiels Kalifornien. In diesen »arkadischen« Räumen ist demnach eher ein städtisches Kaleidoskop an sozialen Milieus, Klassen und Schichten anzutreffen als beispielsweise in strukturschwachen ländlichen Räumen geringer Attraktivität (vgl. Vance, Jr. 1972). Solche »arkadischen« Räume bieten sich daher als ein erstes Untersuchungsziel an. Südbayern ist in Deutschland der »arkadische« Raum, der die höchste sozioökonomische Dynamik aufweist. Zudem ist Südbayern bereits quantitativ in den 1970er Jahren auf seine »Urbanisierung« hin überprüft worden. Es ergab sich ein mehrdimensionaler quantitativer Urbanisierungsprozess, der in Hinblick auf die Sozialstruktur stark urbanisierte, aber auch stark ländlich geprägte Gemeinden und Räume, z. T. in direkter Nachbarschaft, hervorbrachte (vgl. Paesler 1976: 184-185). Aufgrund statistischer Rahmendaten wurden letztlich die Orte Bodolz, Landkreis Lindau und Tegernsee, Landkreis Miesbach ausgewählt. Als Referenzmaßstab für eine urbanisierte Gemeinde dient München. Der dritte Abschnitt schließlich präsentiert die gewonnenen empirischen Ergebnisse und demonstriert auf diese Weise die Leistungsfähigkeit der Theorie der habituellen Urbanität in Bezug auf die Urbanisierungsforschung. Die in der Studie gewonnen Daten zeigen deutlich in die Richtung einer habituellen Urbanisierung der ausgewählten Untersuchungsgemeinden. Das Kapitel subsumiert die gewonnen Ergebnisse unter vier Unterabschnitte, die jeweils für die Assoziationen mit der Stadt, der auftretenden Kontingenz, dem vor Ort akkumuliertem sprachlichen und sozialen Kapital und der habituellen Urbanität nur geringe Differenzen zwischen den Probanden in München und denen in Bodolz und Tegernsee aufzeigen. Urbanität ist – vermittelt über die Kontingenzbewältigung des Habitus – in den ausgewählten nicht-städtischen Räumen gegeben. Damit lässt sich am Ende der Untersuchung wieder eine These formulieren: Die These einer habituellen Urbanisierung der Bundesrepublik Deutschland.
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T HEORIE
URBANITÄTSDISKURSE
Die Organisation der menschlichen Gesellschaft in einem diffusen Konglomerat von Individuen auf engem und engstem Raum ist Gegenstand von unzähligen Theorien, deren Sujet die Benennung und Erklärung der aus dieser Situation sich ableitenden sozialen Konsequenzen ist. Die Stadt ist historisch entstanden als energetisch bestmögliche Form der Organisation von Gesellschaft. Nur die engen räumlichen Grenzen der Stadt ermöglichten einen reibungslosen Austausch von Gütern und Diensten, die Verteidigung nach außen im Konfliktfall und die Schlichtung nach Innen im Streitfall. Die dem geringen physischen Raum geschuldete hohe Interaktionsdichte verlangte von Anbeginn an nach besonderen Formen des Umgangs zwischen den Städtern, die sich auf gegenseitige Rücksichtnahme und Reserviertheit stützen. Es ist genau diese nur in der Stadt auffindbare Kultur der Interaktion, die der Begriff der Urbanität charakterisiert und umschreibt. Die Umgangsweisen in der Stadt kennzeichnet ein besonderes Maß an Kultiviertheit, das seinen Ausdruck in der Sprache und im Benehmen der Städter findet. Urbanität markiert ausgehend vom Beginn einer erstmaligen sozialen Organisation in Städten die Differenz von der Stadt und ihren sozialen Erfordernissen zum Land und dessen Bewohnern. Seine begriffliche Erfassung erfährt dieser Unterschied ungefähr seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. mit dem lateinischen Begriff der urbanitas (vgl. Ramage 1960: 68). 6 6
Die zeitliche Einordnung des erstmaligen Auftauchens des Begriffes urbanitas als ein Gefühl der Überlegenheit und Exklusivität, das den homo urbanus vom homo rusticus unterscheidet, bleibt in der Literatur umstritten. Edwin Ramage sieht den römischen Autor Naevius als Begründer, da dieser in seinem Werk Ariolus fragmentarisch von einem solchen Lebens21
URBANITÄT ALS HABITUS
Städtische Umgangsformen, die sich fundamental unterscheiden von denen der Landbewohner, sind von dem römischen Redner Cicero zum ersten Mal explizit formuliert worden. Demnach besteht die urbanitas aus drei grundlegenden und miteinander verschränkten Ideen. Cicero erkennt eine generelle urbane Kultiviertheit, die sich im Zusammenhang mit der grundlegenden Unterscheidung von urbis, der Stadt im physischen Sinne, ihrem Baukörper und urbanitas, den städtischen Umgangsformen und Verhaltensweisen herausbildet. Dem Städter ist darüber hinaus eine vorsichtige, gebildet zu nennende Art zu scherzen zu eigen. Die Römer unterschieden zwei Formen des Humors, einen niederen, groben Typ und seine Antithese. Diese zweite Art des Humors kennzeichnet das gebildete Scherzen der Urbaniten und bildet gleichzeitig die zweite konstituierende Säule der römischen urbanitas. Als drittes Urbanität definierendes Element ist nach Cicero eine nur in der Stadt auffindbare Qualität in der Aussprache und Wortwahl entscheidend (vgl. Ramage 1960: 66). Kulturgeschichtlich verbindet Cicero in seinen Reden die aristotelische Philosophie mit den späteren christlichen Denktraditionen 7 und vermag so, der Urbanität als einen geistesgeschichtlichen Begriff erst Kontur und Inhalt zu geben. Damit konzipiert bereits die klassische Philologie die Urbanität der Stadt seit ihren Anfängen als einen Interaktionsprozess, den ein gewandtes Abwägen der Wortwahl und ein richtiger Einsatz von scharfer und u. U. verletzender Satire zur Akzentuierung der eigenen Moralvorstellungen in öffentlichen Debatten im städtischen Raum sowie einer generellen gelenken Sprache und Ausdrucksform auszeichnet. Urbanität ist folglich die Befähigung zum Einhalten implizit geforderter Regeln in der Interaktion zwischen Urbaniten. Lediglich der gebildete Städter war in römischer Tradition diesem Anspruch gewachsen (vgl. Rand 1911: 160-162). Urbanität markiert von ihrem ersten Auftreten in der Kulturgeschichte an die Differenz der städtischen zur ländlichen Gesellschaft, wie Edgar Salin mit Bezug auf Wieland prägnant feststellt. »Das Wort urbanitas umfasste zu Ciceros Zeiten alle Eigenschaften, wodurch eine in der Hauptstadt der Welt lebende, frei geborene, fein erzogene, gebilde-
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gefühl berichte und datiert folglich den Beginn der Urbanität Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts (vgl. Ramage 1960: 68). Edgar Salin hingegen konstatiert als erste literarische Erwähnung der urbanitas einen Brief von Cicero (106-43 v. Chr.) aus dem Jahr 51 v. Chr (vgl. Salin 1970: 870). Beide Angaben divergieren folglich um ca. 250 Jahre voneinander. Der Soziologe Pierre Bourdieu mag Cicero diese geistesgeschichtliche Schlüsselposition nicht zuerkennen, denn dieser nahm lediglich »einige originäre Autoren, übersetzte sie in eine etwas schwammige Sprache und erzeugte so eine synkretistische Botschaft« (Bourdieu 1992: 54).
URBANITÄTSDISKURSE
te und in bester Gesellschaft vollendete Person in Reden, Gebärden und ganzem äusserlichen Benehmen nicht bloß vom Pöbel der Hauptstadt, sondern überhaupt von Leuten, die immer nur in kleinen Städten oder auf ihrer väterlichen Hufe gelebt hatten, sehr auffallend unterschieden war« (Salin 1970: 870).
Die Urbanität der Stadt gilt nach dieser Lesart als Wiege der Kunst und der gebildeten Lebensart. Der Einfluss der Stadt auf die literarische und bildende Kunst war immens. Künste sind zu dieser Zeit nur im Sinnzusammenhang von Stadt und Urbanität denkbar (vgl. Rand 1911: 133). Urbanität gilt in der Philologie als Synonym für Bildung und Geist, Intellektualität und Haltung, mithin Eigenschaften, die eng mit der ersten »Weltstadt« Rom assoziiert sind. Auf den öffentlichen Plätzen und Märkten erfordert die räumliche Enge Rücksichtnahme von den Städtern, die im Dialog und im Scherz zwischen Fremden die urbanitas der Metropole ausbilden. Ihre Eigenschaft als kulturelles Leitbild für Interaktionen unter Fremden weit über die Grenzen Roms hinaus konnte die urbanitas erst entfalten, nachdem das römische Imperium in einem Maße erstarkt war, dass mit der Bezeichnung urbs nur noch diese eine Stadt und ihre Lebens- und Interaktionsformen in Verbindung gebracht werden konnten. Zwar kann das römische Imperium mit einigem Recht als »mosaic of city territories« (Hawley 1971: 31) beschrieben werden, nichtsdestoweniger blieb die Kapitale Rom ihr alles überragendes Zentrum. An diesem philologischen Entwurf römischer urbanitas schließen sich sämtliche moderne Urbanitätsvorstellungen an, die jene als eine mehr oder weniger utopistische soziale Organisationsform begreifen, die aufs engste mit der physischen und interaktiven Dichte der Stadt assoziiert ist. Die Herausforderung eines Lebens in permanenten und unvermeidbaren Kontakt mit dem Fremden führt zwangsweise zu einer höheren Form der Vergesellschaftung und Bildung. Urbanität ist demnach »tätiger Bürgersinn« (Salin 1960: 10), getragen von einem »Adel von Bildung und Leistung und Geist, die Vornehmheit der inneren und äußeren Haltung und der sichere Takt im Umgang mit Lehrern und Fremden, mit Hoch- und Gleich- und Niedrigstehenden« (Salin 1960: 11). Urbanität zeigt sich in dieser klassischen Lesart mit einem aktiven städtischen Bürgertum identisch. Sie ist eine Form politischer Involviertheit in einem geistigen Klima von Toleranz und Indifferenz den anderen gegenüber. Diese klassischen Vorstellungsinhalte urbaner Besonderheit reichen hinüber in moderne Diskussionen um das Wesen und die Gestalt der Städte. Sie lassen sich originär in zwei Untergruppen unterscheiden. Die erste bezieht sich auf den physischen Baukörper der Stadt als wesentlich für ihren Urbanitätsbegriff, während die zweite Subgruppe ihren Fokus auf 23
URBANITÄT ALS HABITUS
den Städter und seine sozialen Eigenschaften selbst legt. Ansätze der ersten Art lassen sich in Anlehnung an die Arbeiten von Hans Paul Bahrdt als »Bahrdt-Modell« bezeichnen, Arbeiten des zweiten Typus als »Salin-Modell« im Anschluss an die Ausführungen zur Urbanität von Edgar Salin. Beide Urbanitätsmodelle differieren begrifflich voneinander. Ihre entscheidende Semantik ist dessen ungeachtet die Formulierung der konstituierenden Differenz von Stadt und Land in dem Konzept der Urbanität. Edgar Salin konzipiert Urbanität als eine rein geistige, exklusiv auf den Städter fixierte Kultur. Urbanität ist eine Lebensform, die ausschließlich in Städten zu finden ist. Sie basiert auf einer Spielart des Humanismus als Garanten von Sitte und Bildung. Städte als Kaleidoskope von verschiedensten Traditionen und Kulturen verlangen von ihren Bewohnern Toleranz und ein Aushalten von Widersprüchen und Paradoxien. Salin erkennt in der Urbanität die konfliktfreie Bewältigung von Fremdheit und ihren Implikationen. Idealtypisch verwirklicht findet sich diese moderne Urbanität erstmals im Paris des 19. Jahrhunderts als »Mutter aller Fremden, Unerkannten und Verjagten« (Salin 1960: 21) und ihrer kosmopolitisch zu nennenden Stadtgesellschaft. Paris ist die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (vgl. Benjamin 1969). Genau jene Form der Urbanität, die auf den Menschen, seine Bildung und seine Umgangsformen Bezug nimmt, sieht Salin unwiederbringlich verloren. Seine berühmte These ist, dass die Stadt als Form, d. h. als ein kongruenter Gehalt, ein Geist und eine Kultur, nicht mehr existiert. Die spezifische Ausprägung der Stadt ist demnach das wesentliche Problem der gegenwärtigen Zeit. Die Stadt bedarf der Formung, d. h. der Verwandlung einer anonymen Masse in einen lebendigen Organismus und einer Gemeinschaft von Stadtbürgern, mithin der Konstituierung von Gesellschaft selbst. Formung ist nicht erreichbar durch die Gestaltung des physischen städtischen Raumes. Für Edgar Salin ist der Raum unerheblich für die Formung der Stadt und der sich in ihr konstituierenden Sozietät. Seine ambivalente Argumentation erkennt zwar in der »Stadtbaukunst« der Moderne einen wesentlichen Faktor für die von ihm fokussierte Zerstörung der Urbanität. Ihr Remedium findet sich hingegen nicht in den Entwürfen der Architekten und Stadtplaner. Es ist vielmehr »Lug und Trug, wenn überhaupt gemeint wird, dass durch irgendein Bauwerk oder durch irgendeine Stadtform und nicht durch eine völlige Neuerweckung des Menschlichen und des Geistigen im Menschen Urbanität ins Leben gerufen werden und gedeihen kann« (Salin 1970: 875). Edgar Salin wendet sich somit radikal gegen den Gedanken, Urbanität durch eine besondere Form des Bauens artifiziell zu erschaffen. Er ist darüber hinaus jedoch nicht willens oder in der Lage, einen neuartigen Weg aufzuzei24
URBANITÄTSDISKURSE
gen, wie der Stadt wieder Form gegeben werden kann. Seine Ausführungen sind daher letztlich lediglich eine intellektualistisch-kulturpessimistische Kritik der Moderne und ihres technikgläubigen Städtebaus. Demgegenüber präsentiert Hans Paul Bahrdt zur gleichen Zeit wie Edgar Salin ein Konzept von großstädtischer Urbanität, das als ein technoider Entwurf exakt auf dem künstlichen Erschaffen von Urbanität durch eine angemessene Planung physischer Räume basiert. Nach Bahrdt entsteht die Eigenart der Stadt, ihre Urbanität, aus der nicht vollständig aufgrund der Überprägnanz und Standardisierung des kommunikativen Verhaltens gelingenden Kompensierung der divergenten Prozesse von Kosmopolitismus und Individualismus (vgl. Bahrdt 1969: 129). Er geht bei seinen Überlegungen folglich von Residuen des Individuellen und Kosmopolitischen aus, die jenseits von einer formalen Ordnung und Organisation der modernen Gesellschaft bestehen bleiben und als ein identitätsstiftendes Band die Individuen in der Großstadt verbinden. Sie sind es gewöhnt, als einziges Gemeinsames eine »abstrakte Setzung« (Bahrdt 1969: 129) zu akzeptieren, namentlich dass der Andere immer ein Mensch ist. Die mannigfaltige Fremdheit des Anderen und ihr potenziell verstörender Charakter degenerierten in der Stadt zu einer erwartbaren Normalität, die sich als »resignierende Humanität« (Bahrdt 1969: 129) präsentiert und sich in einem dauerhaften Respekt für die Individualität des Anderen artikuliert. Voraussetzung für das Sich-Einstellen von Urbanität ist ein Äquilibrium von Privatheit und Öffentlichkeit im städtischen Raum. 8 Voraussetzung von Öffentlichkeit ist wiederum die besondere Form von unvollständiger Integration aller urbanen Elemente, mithin eine Restwahrscheinlichkeit von Überraschendem und Zufälligem. Die Öffentlichkeit der Stadt bezeichnet Orte des Oszillierens zwischen den ausdifferenzierten und untereinander konfliktreichen Partikularordnungen des Privaten und Öffentlichen, wie der Familie, der Schule, dem Betrieb, der Kneipe, dem Stadtteilfest oder der Diskothek, auf deren Anforderungen man sich nur einlässt, wenn eine Alternative wählbar oder ein Rückzug in das Private jederzeit möglich erscheint (vgl. Baecker 2004: 260). Letztlich ist das definierende Element der Stadt diese Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit. Bahrdt diagnostiziert ein Leiden der Öffentlichkeit an einem »in die Ferne gerückt 8
Empirische Studien zur Stressbewältigung bei Großstädtern zeigen keinen erhöhten Stress bei Städtern aufgrund der Komplexität und Dichte ihrer sozialen Umgebung, da sie jederzeit in der Lage sind, Rückzugsmöglichkeiten in die Einfachheit und Ordnung ihrer privaten Lebenswelt wahrzunehmen. Diese Studien lassen damit eine deutliche Trennung von öffentlich/privat in ihren statistischen Ergebnissen durchscheinen (so beispielsweise Fischer 1981: 315). 25
URBANITÄT ALS HABITUS
sein«, einer Nichterreichbarkeit, die der enormen Komplexitätssteigerung in der sozialen und physischen Umwelt der Stadt geschuldet ist. Öffentlichkeit kann sich nicht mehr durch die architektonisch determinierte Möglichkeit zur Repräsentation der Städter konstituieren. Die Dichotomie von privat/öffentlich zerfällt und mit ihr die Urbanität der Stadt (vgl. Bahrdt 1969: 128-129). Privatheit und Öffentlichkeit bedingen sich gegenseitig und benötigen Räume, die Übertrittsmöglichkeiten von der einen in die andere Sphäre gewähren. Ein Zuviel an Privatheit lässt den Urbaniten verkümmern, ein Zuviel an Öffentlichkeit führt zur Vermassung und zu einem Nivellieren der Unterschiede zwischen den Menschen. Bahrdt postuliert daher, »daß das Ziel einer Erneuerung der Großstadt ›Urbanisierung‹ sei, d. h. daß der Städtebau die Aufgabe hat, den teils verschütteten, teils heute nur noch schwer realisierbaren städtischen Lebensformen wieder geeignete Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen« (Bahrdt 1969: 134-135). Idealtypus einer urbanen Architektur, die es vermag, Urbanität baulich herzustellen, ist für Hans Paul Bahrdt die Blockbebauung, die sowohl die öffentlich genutzten Räume der Straßen und Plätze schafft als auch nach Innen ihr Widerlager in der Welt der privaten Wohnungen, Höfe und Gärten bildet. Urbanität kehrt nach Bahrdt zurück in die Stadt, wenn es gelingt, Räume zu errichten, die eine Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit sowie ein »Switching« zwischen diesen beiden Seiten ermöglichen. Die Urbanitätsentwürfe von Bahrdt und Salin beziehen sich beide auf einen Humanismus, der als basale Funktion das Menschsein des anderen akzeptiert. Sie unterscheiden sich dagegen fundamental in der Art und Weise, wie sich dieser Humanismus konstituieren lässt. Die divergierenden Positionen von Hans Paul Bahrdt und Edgar Salin in Bezug auf Vorstellungsinhalte dessen, was Urbanität bedeutet und wie sie sich herstellt, sind prototypisch zu nennen für die einflussreichsten Urbanitätstheorien. Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, Räume des Urbanen in nicht urban beobachteten Settings zu erkennen und zu erklären. Von grundlegender Bedeutung für das Gelingen dieses Vorhabens ist daher ein klares begriffliches Verständnis von Urbanität als konstituierende Differenz zwischen urban/nicht-urban mithin städtisch/ländlich. Die kommenden Abschnitte prüfen daher drei der einflussreichsten Theorien zur Urbanität der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf ihre Eignung, das benötigte Verständnis von Urbanität bereitzustellen. Entscheidendes Kriterium für ihre Eignung ist eine Loslösbarkeit von den physischen Strukturen des städtischen Raums. Urbanität muss jenseits der physischen Dichte der Stadt theoretisch denkbar sein, will sie sich überhaupt in nicht-städtischen Räumen empirisch zeigen.
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URBANITÄTSDISKURSE
Der zunächst folgende Abschnitt prüft die in Anlehnung an die sozialökologische Urbanitätstheorie von Louis Wirth (vgl. 1938) entstandene »Subcultural theory of urbanism« des amerikanischen Soziologen Claude S. Fischer im Hinblick auf die in diesem Buch eingenommene Erwartungshaltung gegenüber einer in Frage kommenden Urbanitätstheorie. Fischers forschungsleitende These ist, dass die Konzentration von verschiedenen Populationen in urbanen Räumen eine Diversität von Subkulturen produziert, diese gleichzeitig fordert und stärkt und so Diffusionen unter ihnen erzwingt. Größe und Dichte der städtischen Population und die Verschiedenheit ihrer Subkulturen bürgen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit für die urbane Unkonventionalität und mit ihr für Innovation und somit für Urbanität (vgl. Fischer 1975a; 1995). Der darauf folgende Abschnitt referiert die wesentlichen Argumente der einflussreichen Theorie der »Neuen Urbanität« von Hartmut Häußermann und Walter Siebel und stellt sie in den Zusammenhang der Fragestellung. Die beiden Soziologen begreifen Urbanität als eine normative Vorstellung von der Qualität städtischen Lebens als geregelte soziale Gleichgültigkeit zwischen einander Fremden auf der Basis einer gesicherten systemischen Integration. Ihre grundlegende These ist, dass die postindustrielle Gesellschaft sich die Räume der überkommenen fordistisch-industriellen Gesellschaft aneignet und in diesen Enklaven der Unordnung, wie z. B. aufgelassenen Fabrikhallen, leerstehenden Bürotürmen oder verfallenen Produktionsräumen, sich die alte Urbanität der industriell-bürgerlichen Stadt in einem neuen, post-industriellen Gewand zeigt. »Neue Urbanität« ist folglich die Diversifizierung der Urbanität der alten mittelalterlich-bürgerlichen Stadt, mit den Worten von Häußermann/Siebel »ein grundlegend gewandeltes Bild vom städtischen Leben« (1987: 10). Der daran anschließende Abschnitt befragt die geographische Hypothese der »postmodernen Urbanität« im Hinblick auf ihre Möglichkeit, als grundlegende Theorie der empirischen Studie zu dienen. Dies erscheint vielversprechend, da gerade aus dem Kreis postmoderner Stadtgeographen die These der Ubiquität des Städtischen vertreten wird. Die postmoderne Urbanitätstheorie erkennt zunächst eine vollständige Umstrukturierung des städtischen Raumes von der konzentrischen Organisation Innen/Außen der Stadtstrukturmodelle der Chicago School hin zu einem »keno capitalism«, d. h. der zufällig erfolgenden Ausbildung einer zentrumslosen städtischen Form. Parallel zu dieser Partikularisierung des städtischen Raumes vollzieht sich eine Fragmentierung der Gesellschaft in distinkte und distinktionsbewusste Subgruppen und Individuen (vgl. Dear/Flusty 1998: 62-63). »Postmoderne Urbanität« ist in diesem Sinnzusammenhang die Lesbarkeit sozialer Entwicklungen im »Text« 27
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der Stadt. Sie bildet ein semiotisches Interpretationsangebot des sich vollziehenden ökonomischen, sozioökonomischen und siedlungsstrukturellen Auseinanderbrechens der überkommenen »modernen« Städte (vgl. Wood 2003: 135-144).
Die »Subcultural Theory of Urbanism« Die »Subcultural Theory of Urbanism« des amerikanischen Stadtsoziologen Claude S. Fischer registriert zunächst das aktuelle allgemeine Paradigma der Stadtsoziologie, nach dem Stadt und Land historisch verschieden sind, heutige residenzielle Unterschiede jedoch nur noch aus der funktionalen Position innerhalb des ökonomischen gesellschaftlichen Gefüges resultieren und nicht mehr aus ihren endogenen Strukturen wie Größe oder Dichte. Residenzielle Differenzen sind folglich in der modernen Gesellschaft ausschließlich sozioökonomischer Art. Alle anderen Dimensionen wie Dichte oder Distanz erscheinen demgegenüber redundant. Im Anschluss an diese Feststellung wendet sich die »Subcultural Theory of Urbanism« besonders gegen die vereinfachende Verallgemeinerung ökonomischer Funktionen wie Markt oder Reziprozität und deren Übertragung auf die urbane Sozietät. Die Theorie spricht diesen vielmehr ihre Erklärungskraft für das spezielle Problem der Urbanität ab. Urbanität markiert für Claude S. Fischer die Differenz zwischen Stadt und Land. Das Basistheorem seines Ansatzes ist die Entbehrlichkeit der sozialökologischen Faktoren, die Louis Wirth in seiner Erklärung der ›Disorganisation‹ der Stadt und mithin der Stadt/Land-Differenz anführt. Fischer entwirft demgegenüber ein Modell, das die sozialökologischen Faktoren Größe, Dichte und Heterogenität lediglich randlich involviert, jedoch stärker die Erklärung von Urbanität in der Diffusion von Innovationen in städtischen Subkulturen sucht (vgl. Fischer 1975a: 1337). Im Gegensatz zu Louis Wirth sieht Fischer den Hauptaspekt des Phänomens der Konzentration von Bevölkerung an einem Ort in der Tatsache, dass diese eine Diversität von Subkulturen produziert und gleichzeitig Diffusionen zwischen diesen erzwingt. Ab einer bestimmten Anzahl an Individuen, nach Fischer die »kritische Masse«, finden diese sich wiederum in unkonventionellen und innovativen Subkulturen zusammen und bilden damit die Urbanität einer Stadt aus. Claude S. Fischer entwirft seine subkulturelle Urbanitätstheorie im Wesentlichen auf Grundlage der Zurückweisung des einfachen sozialökologischen Determinismus, der von einer hohen Dichte kausal auf daraus hervorgehender Heterogenität schließt. Fischer sucht vielmehr die Grundeinheit sozialen 28
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Handelns in kleinen partikularen Gruppen und findet sie für den Fall der Stadt in dem seiner Meinung nach urbanen Phänomen der Subkultur. Subkultur definiert er als »set of modal beliefs, values, norms, and customs associated with a relatively distinct social subsystem (a set of interpersonal networks and institutions) existing within a larger social system and culture« (Fischer 1975a: 1323). Auf Grundlage dieser theoretischen Setzung prüft der amerikanische Stadtsoziologe im Anschluss die Zurechenbarkeit unterschiedlicher, als städtisch beobachteter Phänomene zur Urbanität. Darauf aufbauend erarbeitet er verschiedene Ergebnisse mit dem Erklärungsmodell der Subkultur. So ist der Zusammenhang zwischen Urbanität und Devianz dem dauerhaften und konsequenten Einfluss urbaner Subkulturen geschuldet. Die Zersplitterung der urbanen Sozietät in die Partikularordnungen der Subkulturen offenbart einen unabhängigen Effekt auf Traditionalismus und Moralvorstellungen (1975b: 420-430). Ein ähnliches Ergebnis formuliert Fischer mit Blick auf das Problem der Toleranz in Großstädten. Nicht die Bedingungen urbanen Lebens per se, wie Georg Simmel und Louis Wirth nahe legen, führen demnach zu Toleranz und einer universalistischen Haltung. Es ist vielmehr die Konzentration der in ihren Eigenschaften korrelierenden Menschen in den Städten, mithin der sich nach Fischer formierenden Subkulturen, die ein Mehr an Toleranz herbeiführen (vgl. Fischer 1971: 853-855). Die empirischen Ergebnisse von Fischer korrespondieren in auffälliger Weise mit den theoretischen Ausführungen von Hans Paul Bahrdt. Dieser sieht als wesentliche Grundlage der Urbanität die ausschließlich im städtischen Raum vorfindbare Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit. Fischer konstatiert, dass Urbanität als Nebeneinanderstellung von verschiedenen Subkulturen Angst und Ablehnung gegenüber fremden Gruppen im öffentlichen Raum der Stadt produziert, jedoch die abgeschlossenen sozialen Bereiche des Privaten nur marginal berührt. Urbanität korreliert mit einer Aversion gegenüber Fremden, die sich in mangelnder Hilfsbereitschaft ausdrückt und die in der Interaktion zwischen Bekannten im städtischen Amerika nicht nachweisbar ist. Die empirischen Daten stützen die theoretische Unterscheidung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre in der Stadt (vgl. Fischer 1981: 306-315). Darüber hinaus analysiert Claude S. Fischer die Dichotomie von privat/öffentlich in Bezug auf die Netzwerkkontakte der Städter. Sein Ergebnis zeigt eine Schwächung der Kontakte zu Verwandten in städtischen Netzwerken. Urbanität korreliert mit einer Nennung von Nicht-Verwandten als Freunde und führt damit zu einer Organisation zweiter Ordnung, die nicht auf Verwandtschaft zugreift, sondern auf die
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neue Organisationsform der urbanen Subkulturen (vgl. Fischer 1981: 312). Die »Subcultural Theory of Urbanism« analysiert folglich analog zu der Urbanitätstheorie von Hans Paul Bahrdt die Trennung urbanen Lebens in die dichotomen Bereiche des Öffentlichen und des Privaten. Die öffentliche Sphäre zeigt sich in episodischen Bindungen und Interaktionen mit Fremden, die von Reserviertheit und Aversion begleitet sind. Den privaten Bereich kennzeichnen wiederum die engen Netzwerke der Verwandtschaft, der Nachbarschaft und der Subkulturen. Letztere weisen den Effekt auf, spezifische, unkonventionelle und atypische Aktivitäten hervorzubringen sowie mögliche Anregungen für Alternativen beispielsweise in Bezug auf die Lebensform zu geben. Aus der Existenz vieler Subkulturen in der sozialen Dichte der Stadt entsteht wiederum die Toleranz. Die »Subcultural Theory« subsumiert das Entstehen von Toleranz aus einer »kritischen Masse« an Individuen und ihren Subkulturen. Die Theorie bezeichnet nach Fischer »a special instance of a subcultural theory of communication« (1995: 550). Die subkulturelle Theorie ist demzufolge eine Urbanitätstheorie zweiter Ordnung. Sie untersucht Intergruppenbeziehungen, die selbst keine Raumrelevanz aufweisen, als ein Maß für Urbanität und befragt diese im Hinblick auf ihren Einfluss auf die städtische Gesellschaft. Sie sieht sich allerdings drei fundamentalen Einwänden ausgesetzt, die ihre Eignung für eine Untersuchung nicht-urban beobachteter Räume in Frage stellen. Die »Subcultural Theory of Urbanism« weist keine klare Begrifflichkeit in Hinblick auf ihren Analysegegenstand, der Urbanität, auf. Sie legt sich nicht auf das Niveau der Untersuchungseinheiten, entweder Individuen oder Gruppen, fest und sie spezifiziert nicht die Einflussnahme denkbarer Hintergrundkategorien (vgl. Fischer 1995: 554). Die Subkulturtheorie von Claude S. Fischer kann in einem weiteren Punkt nicht überzeugen. Sie ist im Wesentlichen eine Theorie des Effektes von sozialer Dichte. Urbanität ist nach Fischer eine Funktion der Interaktionsdichte, deren Operation wiederum die Entstehung von Subkulturen ist. Geht die soziale Dichte verloren, versagt der subkulturelle Erklärungsmechanismus von Urbanität. Die »Subcultural Theory of Urbanism« ist folglich nicht in der Lage, Urbanität in ländlichen Räumen mit im Vergleich zur Großstadt geringerer sozialer Dichte zu erklären. Sie ist somit nicht geeignet, einen Begriff von Urbanität anzubieten, der diese Frage beantwortet. Fischer ist letztlich nicht in der Lage, die von ihm beobachteten persistenten kulturellen Differenzen zwischen Städtern und Nicht-Städtern ohne Rückgriff auf die Interaktionsdichte zu erklären (vgl. Fischer 1975a: 1336).
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Die Theorie der »Neuen Urbanität« Die von den Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel erarbeitete Theorie einer »Neuen Urbanität« setzt ihren Referenzpunkt in der Ablehnung der grundlegenden Positionen der eingangs des Kapitels zitierten Kontroverse zwischen Hans Paul Bahrdt und Edgar Salin. Beide Standpunkte seien lediglich »Versuche, durch Rückgriffe auf die bürgerlichen Verkehrsformen der mittelalterlichen Stadt so etwas wie eine Essenz der Urbanität gewinnen zu wollen« (Häußermann/Siebel 1987: 239). »Neue Urbanität« bezieht sich stärker auf Georg Simmels Essay »Die Großstädte und das Geistesleben« aus dem Jahr 1903 (vgl. Simmel 1903). Häußermann/Siebel sehen Urbanität mit Simmel als eine im Wesentlichen charakterliche Eigenschaft des Städters (vgl. 1997: 305). Urbanität fordert von den Großstadtindividuen eine Leistung und zwar dieselbe, die die moderne Gesellschaft von ihren Akteuren verlangt – Individualität als formalisierter Umgang mit der ihr eigenen omnipräsenten Ambivalenz, Unsicherheit und Fremdheit. Der an jedem Ort der Gesellschaft gegebene Zwang zum Individualismus führt dazu, dass Urbanität nicht mehr an die Stadt als ihren quasi natürlichen physischen Ort gebunden ist. Individualität wird von allen Gesellschaftsmitgliedern verlangt. Urbanität gerät zum Synonym für die Ausbildung einer gelungenen Identität unter diesen modernen sozialen Bedingungen (vgl. Häußermann/Siebel 1997: 306). Die Theorie der »Neuen Urbanität« ist durch eine erstaunliche Unklarheit bezüglich ihres Gegenstandes gekennzeichnet. Häußermann/ Siebel erkennen in der Urbanität zwar eine städtische Dimension unter anderen Dimensionen wie städtischer Wohnungsmarkt, Stadtgestalt, Segregation, Infrastruktur und Finanzsektor (vgl. 2004: 684), eine wirkliche Definition von »Neuer Urbanität« geben sie aber nur an einer Stelle. Urbanität sei »geregelte soziale Gleichgültigkeit zwischen einander Fremdem (sic) auf der Basis einer gesicherten systemischen Integration« (Häußermann 1995: 95). Die Besonderheit, das Wesen einer Stadt ist für die beiden Stadtsoziologen nicht baubar oder planbar, sondern manifestiert sich in dem gediehenen Umgang der gelungenen Identitäten auf engstem Raum. Damit sich das Gleichgewicht von Freiheit und Rücksichtnahme im Raum der Stadt einstellt, benötigt die Stadt Form, ganz so wie Edgar Salin diese 30 Jahre vorher bereits forderte (vgl. Salin 1960: 24). Die Form der Stadt konstituiert sich erst in einer Koexistenz des Verschiedenen, Überraschenden, Unbekannten und Fremden in einem nicht hierarchisch vorstrukturierten Raum. Urbanität ist somit eine Geisteshaltung und verbunden mit einer Lebensweise, die Toleranz, Indifferenz und eine zivile Kultur verkörpert. Im Begriff der »Neuen Ur31
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banität« verschmelzen die grundlegenden Wesenszüge des Urbanen in eine Kategorie, deren Anspruch nichts Geringeres ist als die Subsumtion eben dieser städtischen Charakteristiken. Die Stadt ist von ihrem Anbeginn an die Emanzipierung von der Unmittelbarkeit und Kontingenz der Natur und ihrer Restriktionen. Erst die soziale Ordnung in der Stadt ermöglicht ein Leben autark von den Rhythmen der Jahres- und Tageszeiten. 9 In der Stadt konstituierte sich zum ersten Mal eine politische Ordnung, die sich selbst verwaltend die Ausbildung des Bürgertums ermöglichte. Die Stadt stellt folglich eine stückweite Emanzipation von politischer Bevormundung dar. Die Stadt kennzeichnet den Ort der Integration des Fremden in die Gesellschaft. Nur ihre lose Soziabilität, die nicht mehr primär auf Verwandtschaftskategorien zugreift, erlaubt ein gewaltfreies Nebeneinander unterschiedlichster Lebensentwürfe. Und letztlich ist die Stadt selbst die Voraussetzung von Individualität als Vorbedingung gelungener Identität (vgl. Häußermann/Siebel 1997: 301). Häußermann/Siebel sehen in dem Konzept der »Neuen Urbanität« die Wiederentdeckung dieser historischen Assoziationen von Stadt und städtischer Gesellschaft in Räumen, die die überkommende Gesellschaft der fordistischen Massenproduktion verlassen hat. Urbane Brachen und aufgelassene Fabrikanlagen, mithin Zeugen des Alterns einer Stadt, geben Freiraum preis, den Städter nutzen, der Stadt wieder Form zu geben. »Neue Urbanität« bezeichnet im Wesentlichen eine »soziale Beziehungsstruktur, die sich räumlich formt« (Siebel 1999: 118). Urbanität als eine Geisteshaltung und als Lebensweise ist demnach nicht mehr an den physischen Ort ihres Entstehens gebunden. Sie ist vielmehr eine ubiquitäre Kategorie der Gegenwartsgesellschaft, die überall dort besteht, wo Menschen sich in resignierter Toleranz auf Basis einer systemischen Integration und eines akzeptierten Individualismus begegnen. Überall dort, wo eine »Kultur der Differenz« (Häußermann/Siebel 1997: 303) ein Akzeptieren der Andersartigkeit des Fremden bedingt und damit die ursprünglich in der Stadt entstandene Umgangsformen zur Entfaltung kommen, die eine Verschiedenheit und Individualität des Fremden anerkennen, manifestiert sich die »Neue Urbanität«. Häußermann/Siebels Urbanitätsmodell liegt eine normative Idealvorstellung von Gesellschaft zugrunde, deren grundlegendes Axiom die ökonomische Integration ihrer sämtlichen Mitglieder und Toleranz gegenüber dem Fremden ist. 9
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Verschiedene Autoren sehen in dieser zeitlichen Expansion in Richtung einer 24 Stunden-Nutzung des Tages in der Stadt eine ökologische Nische, die von Menschen beansprucht wird, analog zu Anpassungen an bestimmte als unwirtlich beobachtete Räume. Zeit ist wie Raum ein Grenzphänomen, dessen Ausweitung wiederum Raum für mannigfaltige Existenzen und damit Verschiedenheit lässt (so z. B. Melbin 1978).
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Häußermann/Siebel registrieren Reurbanisierungstendenzen, wie z. B. die Gentrification und neue Formen städtischer Sozietät, bereits früh, diagnostizieren eine Irritation der normativen Vorstellung von der Idealgesellschaft und reagieren mit ihrem bis heute einflussreichen Urbanitätsmodell zur Erfassung dieser städtischen Veränderungen. Die »Neue Urbanität« ist letztlich eine genaue historische Analyse ursprünglich mit der Stadt assoziierter sozialer Prozesse und Maß der Abweichung rezenter sozialer Entwicklungen von dem utopischen Idealzustand der Gesellschaft. Sie bietet hingegen keinen Urbanitätsbegriff an, der sich eignen würde, empirisch in nicht-städtischen Räumen der Gesellschaft Urbanität zu beobachten. »Neue Urbanität« ist demzufolge mehr Gesellschaftsdiagnose denn Bestimmung des eigentlich Städtischen. Häußermann/Siebels Urbanitätsmodell lässt sich darüber hinaus nicht losgelöst von den physischen Strukturen der Stadt konzipieren, da sie die Geisteshaltung bzw. Indifferenz, die ihren Begriff der Urbanität erst bezeichnet, zwar als omnipräsent präsentieren, seine Beobachtbarkeit sich aber ausschließlich auf städtische Räume konzentriert. Die Gentrifizierung alter Arbeiterwohngebiete, die Festivalisierung der Stadtpolitik oder die Rezentralisierung der Stadt aufgrund der Individualisierung der Zeit, z. B. in Form von 24 Stunden geöffneten Dienstleistungsbetrieben, sind alles Wirkungen der »Neuen Urbanität«, die zwingend auf das Vorhandensein physischer und sozialer Dichte rekurrieren. Mit anderen Worten entzieht sich Häußermann/Siebels Urbanitätsmodell seiner empirischen Prüfung jenseits von Städten nicht wegen seines soziologisch bestimmten Inhalts wie Individualität, Indifferenz, Kultur der Differenz und resignierter Toleranz, sondern aufgrund seiner Form, die sich ausschließlich in urbanen Phänomenen zeigt. Erscheinungen der »Neuen Urbanität« z. B. in ländlichen Räumen könnten ihr somit nicht zweifelsfrei zugeordnet werden.
Die Theorie der »postmodernen Urbanität« Das jüngste Interpretationsangebot städtischer Entwicklung entstammt aus der theoretischen Diskussion der Stadtgeographie. Die Leitthese der Entstehung von »postmoderner Urbanität« beruht zunächst auf der räumlichen Umverteilung von Wirtschaftsstandorten, die in ihrer Folge wiederum die Herausbildung bestimmter Subgruppen und partikularer Sozialordnungen katalysiert. Merkmale der postmodernen Stadtentwicklung sind demnach ein Anstieg von sozialer Homogenität in den einzelnen sich herausbildenden Teilräumen der Stadt und ein parallel verlaufender Rückgang an Dichte. Der Begriff der »postmodernen Urbanität« 33
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bezeichnet die resultierenden sozialen Effekte dieser räumlichen Entwicklungen. Die zugrundeliegende These ist, dass aus der physischen und sozialen Fragmentierung der Stadt Devianz und Fremdheit entsteht (vgl. Grasmick/Tittle 2001: 317). Die »postmoderne Urbanität« basiert auf der Beobachtung des synchronen Entwicklungsganges einer global-lokalen Verbindung sämtlicher Orte in der Gesellschaft, einer Ubiquität sozialer Polarisierung und einer Reterritorialisierung und Umkehrung der sozialräumlichen Hierarchie, nach dessen Abschluss das vormalige Hinterland das historische Zentrum organisiert. Die »postmoderne Urbanität« steht damit quer zu den klassischen Stadtstrukturmodellen der Chicagoer Schule, die eine konzentrische Organisation der städtischen Form nach Maßgabe eines Innen/Außen-Kontinuums postuliert. Die Theorie der »postmodernen Urbanität« konzipiert dagegen eine räumliche Disposition der Gesellschaft in einer amorphen und zentrumslosen urbanen Prägung, die nicht mehr konzentrisch, sondern formlos organisiert ist. Diese Formlosigkeit dient als Deutungsmuster der sozialräumlichen Entwicklung. Dear/ Flusty kennzeichnen diese neue räumliche (Un-)Ordnung als »keno capitalism« (1998: 63). Die grundlegende theoretische Setzung des »keno capitalism« ist die Partikularisierung der Gesellschaft aufgrund einer radikalen Globalisierung der Ökonomie. Die Gegenwartsgesellschaft lässt sich nicht mehr nach dem taxonomischen Prinzip in Klassen ordnen, sondern präsentiert sich als eine heterogene, ethnisch und sozial zersplitterte und ökonomisch stratifizierte Summierung von Individuen. Diese neuartige Gesellschaftsordnung projiziert nachfolgend wie eine Blaupause ihre endogene zerrissene Struktur in den physischen Raum. Die Theorie der postmodernen Urbanisierung ruht folglich auf demselben materialistischen Argument, wie die Registrierplatte des Sozialgeographen Wolfgang Hartke (vgl. 1959: 428). Sie entwirft ihr Szenario lediglich vor dem Hintergrund einer wesentlich heterogeneren und komplexeren Gesellschaftsordnung, deren Imperativ der Fragmentierung sich zur wichtigsten Dynamik in der gegenwärtigen Stadtentwicklung entfaltet (vgl. Dear 2005: 248). Das Theorem der »postmodernen Urbanität« sucht seine theoretische Nische zwischen einer absoluten lefebvresken Transformation oder Revolution des Städtischen und einer gemäßigteren Modifikation urbaner Ordnung. Folgt man Edward Soja, kennzeichnet die gegenwärtige Stadtentwicklung eine Persistenz der klassischen modernen Urbanität in einem evolutionären Prozess der Postmodernisierung des Städtischen. Modernismus und Postmodernismus sind nach diesem Verständnis keine binären Oppositionen, sondern miteinander verzahnte Kategorien, von denen die eine jeweils Teil der anderen ist. Folglich ist jeder als städ34
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tisch beobachtete Raum bis zu einem bestimmten Grad eine postmoderne Stadt (vgl. Soja 1995: 126). Edward Soja führt sechs grundlegende, sich inhaltlich überschneidende und in neo-marxistischer Tradition auf die Ökonomie zielende Kategorien des postmodernen Urbanisierungsprozesses an. Die postfordistische Restrukturierung der Ökonomie fragmentiert die überkommene örtliche Struktur der Stadt und bildet ferner ein System von Weltstädten aus, die jeden Punkt der Erdoberfläche berühren. In der Folge bildet sich eine globale Bourgeoisie und ihre Antithese des globalen Proletariats aus. Diese zwei Formen stellen lediglich eine scheinbare Reinkarnation der unter postfordistischen Rahmenbedingungen überwunden schienenden Klassenstruktur der alten industriellen Stadt dar. Sie sind tatsächlich aber in sich zersplittert und fragmentiert. Aus diesen Teilungsprozessen resultiert nach Soja die radikale Restrukturierung der Zentrum/Peripherie-Differenzierung, die disperse Verteilung und das starke Anwachsen sozialer, ökonomischer und kultureller Ungleichheiten, die Konstituierung instabiler Grenzlinien verschiedenster Territorien von verschiedensten sozialen und ethnischen Gruppen sowie als Produkt der vorangegangen fünf Neuordnungen eine epistemologische Restrukturierung von Urbanität als Lebensweise (vgl. Soja 1995: 129-134). Eine Konsequenz dieser ökonomischen Globalisierung ist nach Soja die These der globalen Omnipräsenz dieser skizzierten Entwicklungen. Es existiert mithin nur noch ein einziges weltweites, integriertes urbanes System, die »Citistät«. Diese »has emerged from competing urban webs of colonial and postcolonial eras to become a geographically diffuse hub of an omnipresent periphery, drawing labour and materials from readily substitutable locations throughout that periphery« (Dear/Flusty 1998: 63). Die »postmoderne Urbanität« ist weniger eine ausformulierte und in sich abgeschlossene Theorie des Städtischen oder städtischer Entwicklungen. Sie ist vielmehr ein »Interpretationsangebot« (Wood 2003: 144) zur Erklärung der momentanen Urbanisierungsprozesse. Die zunächst in Los Angeles beobachtete ökonomische, sozioökonomische und siedlungsstrukturelle Fragmentierung der städtischen Form dient als Maßstab für Aussagen bezüglich der Zukunft des Städtischen insgesamt und weltweit. Die Theorie der »postmodernen Urbanität« weist daher zunächst vor allem heuristischen Wert auf. Sie registriert ein Nivellieren der Zentrum/Peripherie-Differenzierung und interpretiert diese als räumliches Widerlager einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung. Der Bedeutungsinhalt des Begriffs Urbanität verschiebt sich von einer reinen Bezeichnung des ursprünglich Städtischen hin zu einer Subsumierung sämtlicher die Stadt betreffender Globalisierungsphänomene und ihrer sozialräumlichen Implikationen. Gerade diese Behauptung der Restruk35
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turierung der städtischen Form und die parallel sich vollziehende Neuordnung und Polarisierung der gesellschaftlichen Klassenstruktur stößt auf Kritik. Aus der marxistische Geographie stammt der Einwand, dass die »postmodernen« Stadtlandschaften keine radikal neuen räumlichen Formen sind, sondern vielmehr aus Residuen der modernen Stadt bestehende Kaleidoskope darstellen, die sich in dauerhaften sozioökonomischen »Ausbeutungsverhältnissen« manifestieren. Die moderne Klassenstruktur ist demnach in der postmodernen Gesellschaft nach wie vor gegenwärtig und wirkmächtig. Los Angeles mit seinen »gated communities« und suburbanen Villenvierteln, aufgelassenen Industriearealen und Marginalvierteln stellt in diesem Sinnzusammenhang lediglich die extremste räumliche Form dieser Gesellschaftsstruktur dar. Die Theorie der »postmodernen Urbanität« beschreibt nach Maßgabe der marxistischen Kritik eine extreme urbane Anomalie, nicht aber eine neue Form des Städtischen die über Los Angeles hinausweist (vgl. Arvidson 1999: 149-153). Die Theorie der »postmodernen Urbanität« stellt keine Begrifflichkeit zur Verfügung, die eine empirische Beobachtung von Urbanität in nicht-städtischen Räumen erlaubt. Neben dem skizzierten, von marxistischer Seite vorgebrachten Einwand der Fokussierung auf ein Extrem der Urbanistik 10 ist weiterhin unklar, ob die restrukturierte städtische Geographie eine postmoderne ist oder ob diese lediglich mit dem theoretischen Begriffskanon der postmodernen Theorie erforscht werden soll. Die Theorie der »postmodernen Urbanität« zielt vor allem auf eine stringente Analyse städtischer Entwicklungen, nimmt darüber hinaus jedoch soziale Prozesse in den Blick, die weit über Erklärungen der städtischen Form hinausgehen. Ihr Gegenstand schwankt zwischen Stadtanalyse und Gesellschaftsdiagnose. »Postmoderne Urbanität« ist zwar von der theoretischen Positionierung her ubiquitär angelegt, empirisch zeigt sie sich jedoch ausschließlich in der urbanistischen Anomalie Los Angeles. Ein Verdienst des postmodernen Ansatzes ist es zweifelsohne, den in der angloamerikanischen Stadtgeographie dominierenden Ökonomismus aufgeweicht zu haben. Aus den genannten Gründen eignet sich das im Wesentlichen von Soja und Dear/Flusty geprägte Urbanitätsmodell jedoch nicht als theoretische Grundlage der empirischen Prüfung der in ihm bereits implizit enthaltenen These der Ubiquität des Urbanen. »Postmoderne Urbanität« setzt voraus, was theoretisch wie empirisch erst zu prüfen ist. 10 Der Begriff der Urbanistik bezeichnet in Abgrenzung zum Begriff der Urbanität strukturelle Charakteristiken von Städten wie z. B. Größe, Heterogenität, hohe Dichte und räumliche Verteilung der Aktivitäten (vgl. Grasmick/Tittle 2001: 313). 36
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Ein Resümee der drei Konzepte Die Diskussion der drei skizzierten einflussreichen Urbanitätstheorien verdeutlicht ihre Schwächen in Bezug auf eine empirische Beobachtung von Urbanität in nicht-städtischen Räumen. Zwei der drei vorgestellten Theorien sind rein soziologische, eine ist geographischen Ursprungs. Die »Subcultural Theory of Urbanism« des amerikanischen Stadtsoziologen Claude S. Fischer begreift Urbanität als Differenz von Stadt und Land. Damit steht die Theorie in der Tradition der amerikanischen stadtsoziologischen Leitidee, die eine analytische Trennung der Einflüsse von Dichte und Größe der Bevölkerung von den Einflüssen der Kultur auf menschliches Handeln fordert (vgl. Dewey 1960). Fischers theoretischer Ansatz verarbeitet dieses Denkmuster in seinem Konzept der unter Bedingungen hoher Interaktionsdichte entstehenden Subkulturen. Dies geschieht allerdings um den Preis der Unauflöslichkeit der Verbindung von Urbanität und Stadt. Die »Subcultural Theory« ist aufgrund dieser Unmöglichkeit des Ablösens von Urbanität aus der unmittelbaren Anwesenheitsbedingung der städtischen Entität für eben jene Forschungsfrage, die sie ohne ihren physischen Ort untersuchen will, nicht geeignet. Claude S. Fischer bietet hingegen eine profunde Theorie und Analyse von sozialen Evolutionsprozessen unter den Bedingungen einer hoher Interaktionsdichte (vgl. Fischer 1975a; 1995). Gegen die Verwendung der zweiten zur Prüfung herangezogenen soziologischen Urbanitätstheorie, der Theorie der »Neuen Urbanität« von Hartmut Häußermann und Walter Siebel, bestehen ebenfalls unüberwindbare Einwände. Das Konzept der »Neue Urbanität« ist eine scharfsinnige Analyse singulärer städtischer Phänomene, wie sie beispielsweise die Gentrifizierung oder die Festivalisierung der Stadtpolitik darstellen. Die Theorie operiert jedoch auf der problematischen Grundlage einer ökonomisch vollintegrierten Gesellschaft mit minimierten Ungleichheitsphänomenen. »Neue Urbanität« ruht auf der Interaktion zwischen Fremden, die jedoch mehr oder weniger gleichberechtigten Zugang zu sozioökonomischen Ressourcen besitzen (vgl. beispielhaft: Häußermann 1998). Wenn dieser gleichberechtigte Zugang unter den Individuen einer Gesellschaft gegeben ist, dann konstituiert sich Urbanität in Städten. »Neue Urbanität« ist über diese problematische, weil utopische Grundsetzung hinaus nicht jenseits der Stadt zu beobachten, da ihre mit empirischen Methoden bestimmbaren Inhalte der Toleranz, Indifferenz und Individualität nur unter den Bedingungen hoher sozialer Dichte und einhergehender Enge als ihre subjektiv erfahrbare Konsequenz entstehen. Sie ist damit zum einen ein flüchtiges soziologisches Phänomen der sozialökologischen Bedingungen, die in Städten gelten. 37
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Die Theorie der »Neuen Urbanität« ist zum anderen eine normative Vorstellung von der Interaktion zwischen Fremden. Das Theorem der »postmodernen Urbanität« konzipiert die Bedingungen der postindustriellen/postfordistischen Gesellschaft als »Text« im Raum der Stadt. Die Theorie geht von einer Fragmentierung und Umstrukturierung der Klassengesellschaft in eine Organisationsform des Sozialen aus, die sich als Partikularordnung verschiedenster Kleingruppen ohne das verbindende Narrativ der Klasse darstellt. Die Stadt und ihre Urbanität zeigen sich unter diesen Bedingungen als kaum mehr in klassische Modellvorstellungen einzuordnen. Die Stadt gerinnt zu einer »Stadt ohne Eigenschaften« (Koolhaas 1996). Die postmoderne Urbanitätstheorie erlaubt die Identifizierung einzelner Phänomene des Städtischen und eine einhergehende Irritation klassischer Annahmen der Urbanistik. 11 Ihr basales Axiom der grundsätzlichen Lesbarkeit einer Zersplitterung der Gesellschaftsstruktur und deren räumlichen Niederschlags ist allerdings empirisch nicht zu belegen 12 (vgl. Arvidson 1999: 134). Diese Einschreibung mag für die urbanistische Unregelmäßigkeit Los Angeles Gültigkeit aufweisen. Als Grundlage einer empirischen Untersuchung des Nicht-urbanen oder als neues Paradigma der Stadtgeographie ist die Theorie der »postmodernen Urbanität« aufgrund der angeführten Einwände jedoch nicht geeignet. Die Suche nach einem geeigneten Begriff der Urbanität führt damit wieder zu dem Ausgangspunkt der Überlegungen zurück – die Kontroverse von Edgar Salin und Hans Paul Bahrdt. Beide Autoren erkennen in der Urbanität einen wesentlichen Unterschied zwischen Stadt und Land. 11 Beispielsweise können John Connell und John Lea am Fall der neuguineischen Hauptstadt Port Moresby zeigen, dass Diversität ohne Heterogenität auftreten kann. In Papua Neuguinea existieren ca. 750 Sprachen und ebenso viele ethnische Gruppen, die nahezu alle in der Hauptstadt vertreten sind und für ein extrem komplexes kulturelles Gebilde sorgen. Trotz dieser Vielschichtigkeit findet ein sozialer Austausch zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen so gut wie nicht statt. Das städtische Leben stellt sich vielmehr als ein Universum von Kinship-Kontakten dar (vgl. Connell/Lea 1995: 167). Ein Vorhandensein von Verschiedenem bzw. von unterschiedlichen Populationen führt folglich nicht zwangsläufig zu Herausbildung von Heterogenität, wie z. B. Louis Wirth (vgl. 1938) dies nahe legt. 12 So erkennt Hans-Peter Müller in empirischen Untersuchungen sozialer Lagen und Milieus in Westdeutschland eine stabile Konfiguration von Klassenmilieus. Zwischen 1982 und 1991 ist trotz Postfordismus, Individualisierung und Deindustrialisierung die vertikale Struktur der Gesellschaft erstaunlich stabil geblieben (vgl. Müller 1995: 931). Die der Theorie der »postmodernen Urbanität« zugrundeliegende Fragmentierung der sozialen Ordnung ist zumindest für das Fallbeispiel Westdeutschland empirisch nicht nachzuweisen. 38
URBANITÄTSDISKURSE
Allerdings sind die Ausführungen von Salin wenig greifbar. Er definiert Urbanität nicht, sondern beschreibt lediglich ihren Inhalt. Dabei kommt er zu dem fatalen Ergebnis, dass die Urbanität tot sei (vgl. Salin 1970: 874). Im Unterschied dazu sieht Bahrdt Urbanität nicht als verloren an, sondern erkennt eine Chance ihrer Rekonstitution in dem Versuch, die »öffentliche Sphäre und private Sphäre in ihrer Eigengesetzlichkeit und wechselseitigen Bedingtheit neu zu begründen« (Bahrdt 1969: 131). Hans Paul Bahrdt sieht also Möglichkeiten, städtebaulich unterstützend in dem Prozess der Ausbildung von Urbanität einzugreifen. Sowohl Salin als auch Bahrdt teilen die normative Vorstellung einer idealen Gesellschaftsordnung, die sich im Raum der Stadt erst konstituiert. Beide Autoren vertreten implizit die Vorstellung, dass die sozialökologischen Bedingungen der Stadt, ihre Dichte und Enge, einen Effekt auf die in ihr lebenden Individuen ausüben. Dieser behauptete Effekt ist nach wie vor Gegenstand von Debatten in der Stadtgeographie und Stadtsoziologie. Empirische Argumente sprechen für einen solchen Effekt der Urbanität auf Einstellungen und Toleranz der Urbaniten, die z. B. die Einflüsse des Alters weit übersteigen (vgl. Tuch 1987; Wilson 1991). Andere Studien bestreiten gerade die Gültigkeit dieser Ergebnisse (vgl. Grasmick/Tittle 2001). Die auf den vorangegangenen Seiten skizzierten Arbeiten zur Urbanität weisen auf die Schwierigkeit hin, den Inhalt dieser Kategorie wertneutral und ohne normative Aufladung auszuformulieren. Die Anspruchshaltung, Urbanität in nicht-städtischen Räumen zu beobachten, steigert noch die Schwierigkeit dieses Unterfangens. Die folgenden Überlegungen haben aus diesem Grund das Ziel, einen Begriff von Urbanität auszuarbeiten und für seine empirische Untersuchung in nichtstädtischen Räumen vorzubereiten. Die geläufigsten Urbanitätstheorien sind aus den verschiedenen angeführten Gründen nicht in der Lage, einen solchen Begriff anzubieten, der die Untersuchung der Fragestellung ermöglichen würde. Die eingangs skizzierten Wurzeln des Urbanitätsbegriffs in der lateinischen Philologie liefern einen Hinweis, wie ein solcher Begriff beschaffen sein müsste. Ramage erkennt bereits einen kulturellen Stadt/Land-Kontrast bzw. eine Zentrum/Peripherie-Differenzierung mit der einzigen »Weltstadt« Rom als Zentrum zu Zeiten Ciceros als ausgebildet (vgl. 1960: 66). Er assoziiert Urbanität mit den charakterlichen Eigenschaften der Städter, die sie von den Bewohnern des restlichen Imperiums unterscheiden. Ein von der physischen und sozialen Dichte abgelöster Begriff von Urbanität muss folglich auf den Akteur selbst verweisen und nicht auf von wissenschaftlicher Seite erwartetes Verhalten unter Bedingungen hoher Dichte oder einfacher räumlicher Anordnungen von privaten und öffentlichen Räumen. Beides 39
URBANITÄT ALS HABITUS
sind letztlich normative Vorstellungen einer »idealen« Stadt oder Stadtgesellschaft. In den folgenden Kapiteln wird daher ein Begriff von Urbanität erarbeitet, der für eine empirische Untersuchung in nichtstädtischen Räumen zugänglich ist. Die Urbanisierung durchleuchtet im Anschluss daran ein Untersuchungsentwurf, der auf dieses Verständnis von Urbanität abzielt. Als Urbanisierung wird die Diffusion von Urbanität verstanden, d. h. die Ausbreitung städtischer Charakteristiken in nicht-städtischen Räumen.
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ZUM BEGRIFF
DER
URBANITÄT
Das Buch sucht eine Antwort auf die Frage nach der noch gegebenen Möglichkeit der Beobachtung nicht-städtischer Räume in der modernen Gesellschaft. Die Frage mag irritieren, da die Literaturlage hierzu eindeutig erscheint: sowohl die Chicago-School und ihre Epigonen als auch die in der deutschen Stadtgeographie viel diskutierte »Neue Urbanität« und die aktuell die Diskussion zu bestimmen scheinende »postmoderne Urbanität« kommen, wie das vorhergegangene Kapitel aufgezeigt hat, einhellig zu der Antwort: Nein, die Gegenwartsgesellschaft ist vollends urbanisiert! Urbanisierung ist kein lohnendes Untersuchungsobjekt mehr. Die Antwort ist in ihrer Klarheit beeindruckend und das diesen Aussagen zugrundeliegende Argument einer vollständigen und sämtliche Räume übergreifenden Urbanisierung der Gesellschaft in seiner Schlichtheit verlockend. Selbstverständlich sind auf dem Land ebenfalls Internet per W-Lan und DSL und Satellitenfernsehen beheimatet, Lebensstile ausdifferenziert und Einpersonenhaushalte eher die Regel als die Ausnahme. Aus welchem Grund sollte man sich also dem Argument, dass alles städtisch ist, verschließen? »The city is everywhere and in everything« (Amin/Thrift 2002: 1) betonen die britischen Geographen Ash Amin und Nigel Thrift. Auch außerhalb der Verdichtungsräume liegende Agrarregionen stellen sich als durchtechnisierte Funktionslandschaften dar, landsaniert und flurbereinigt, mit kanalisierten und in Betonrinnen gezwungenen Bächen und Flüssen oder sie sind lediglich noch einfache Grundwasserreservoire für einen angrenzenden Ballungsraum und deshalb schutzwürdig. Das omnipräsente Argument in dieser Diskussion ist folgerichtig, dass die »Neue Urbanität« sich ausbreitet und als Folge dieser Expansion das 41
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»traditionelle Dorf« mit seiner Kultur und Lebensart verschwindet (vgl. statt vieler: Berking 1999). Neue Informations- und Kommunikationstechniken negieren Distanzen und parallel dazu steigt die Bereitschaft der Menschen zur physischen Mobilität. Längere Pendelzeiten, Migrationsbewegungen und ein sich ausbreitender Tourismus sind Ausdruck dieses Wandels (vgl. Marsden 1999: 506). Die Gesellschaft ist ohne jeden Zweifel bis in den letzten Winkel urbanisiert. Urbanität ist ubiquitär, die Urbanisierung ist es folglich ebenfalls (so z. B. Böhme 1982: 111; auch Siebel 1999: 119). Die Subsumierung der allgemeinen Lebensbedingungen in einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft als urban umgreift damit zwangsläufig ebenfalls einen jeden denkbaren Gegenbegriff des Urbanen oder Städtischen. Urbanisierung, Urbanität oder das Urbane und Städtische würden als wissenschaftliche Begriffe oder Beobachtungskategorien folglich überflüssig. Hält man hingegen an einem Begriff des Urbanen fest, benötigt man ein Konzept von Urbanität, das eine Möglichkeit der Beobachtung des Nicht-städtischen eröffnet. Die im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigten und diskutierten Theorien von Urbanität sind allesamt nicht geeignet, einen Begriff von Urbanität anzubieten, der eine empirische Untersuchung der Ubiquitätsbehauptung von Urbanität ermöglicht. Ein geeigneter Begriff von Urbanität, der als Referenzrahmen der Untersuchung dient, ist hingegen von zentraler Bedeutung für das Gelingen des Vorhabens. Seine Definition darf für den Fall der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr an die Stadt und ihre physischen Phänomene gebunden sein. Aus historischer Perspektive ist aber genau diese Verbindlichkeit verlangt. Die eingangs des Buches vorgestellten Urbanisierungskonzepte ruhen auf diesen Wandel von einer vormodernen Situation, in der lediglich die Städte und ihre abgrenzbaren Gesellschaften urban waren, hin zu der heutigen Situation einer städtischen Gegenwartsgesellschaft. Eine empirische Arbeit zum Stand der Urbanisierung bedarf einer Definition von Urbanität, die in historischer Perspektive mit der baulichen Form der Stadt symbiotisch vereinigt ist. Für die Situation der modernen Gesellschaft hingegen darf genau dies nicht mehr der Fall sein. Der Begriff benötigt folglich eine endogene Entwicklung, die ihn geschichtlich mit der Stadt verbindet, gegenwärtig hingegen trennt. Mit einem solcherart gelagerten Urbanitätsbegriff kann nachfolgend zum Stand der Urbanisierung empirisch gearbeitet werden. Es ist müßig zu betonen, dass weder die Chicagoer Schule noch die »Neue Urbanität« oder die »postmoderne Urbanität« dies zu leisten im Stande ist. Das vorliegende Kapitel versucht, diese theoretische Lücke zu schließen und einen Urbanitätsbegriff für die empirische Untersuchung 42
ZUM BEGRIFF DER URBANITÄT
bereitzustellen, der in historischer Perspektive eine Kontextgebundenheit mit der Stadt aufweist, diese aber in der modernen Gesellschaft ablegt. Diese Definition als Grundlage der Empirie entwickelt der Abschnitt in drei aufeinander aufbauenden Schritten. Zunächst erfolgt auf der Grundlage einer historischen Analyse der ursprünglich an die Stadt gebundenen Figur des Fremden dessen Weiterentwicklung zu einem bestimmten Fremden, der wiederum die strukturelle Fremdheit der Stadt bedingt. Die historisch begründete strukturelle Fremdheit zwischen den Städtern ist der erste theoretische Baustein der Untersuchung. Mit der Stadt verknüpft und durch strukturelle Fremdheit bewirkt entsteht eine subjektiv bewusste Form der Individualisierung, die die besonderen Lebensverhältnisse in Städten begründet. Urbaniten sehen ihre Identität unentwegt mit der Alterität der anderen, fremden Urbaniten konfrontiert. Diese fortwährende Provokation des Ich verlangt nach einer Beantwortung, die sich als eine subjektiv bewusste Individualisierung realisiert. Individualisierung ist folglich das zweite Element des Urbanitätsbegriffes. In ihrer Summe führen Fremdheit und Individualisierung zu einer Verschiebung zweier verschiedener, sich überlagernder Kontingenzräume. Der Rahmen des Auch-anders-sein-Könnens, d. h. der Möglichkeitsraum für potenziell realisierbare Zufälle, weitet sich durch die spezifischen Bedingungen von Fremdheit und Individualisierung in der Stadt aus. Den Grad der Urbanisierung markiert die Lage der Grenze des Kontingenzraumes, der durch Fremdheit und Individualisierung jeweils entsteht, zu dem Kontingenzraum der Gegenwartsgesellschaft. Die Definition von Urbanität läuft damit auf einen historisch bedingten geweiteten Kontingenzraum potenziell realisierbarer Zufälle hinaus. Die Grenzen dieses Raumes sind zwischen unterschiedlichen Räumen verschieden. Der Urbanitätsbegriff erfüllt so die erste Bedingung, die an ihn gestellt wird: seine historische Evolution. Urbanität ist in der Vormoderne in Form der Figur des Fremden an die Stadt gebunden, die den Kontingenzraum potenziell sich realisierender Zufälle erweitert. Erweiterte Kontingenz kann in der Vormoderne nur in städtischen Räumen bedeutsam werden. Die theoretische Trennung einer solcherart als Zunahme von Kontingenz verstandenen Urbanität von den physischen Elementen der Stadt erfolgt im Anschluss an ihre Definition in einem darauffolgenden Schritt mit Hilfe der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu.
Fremdheit Die Stadt kann zunächst als eine dauerhafte Ansammlung von Menschen verstanden werden, die untereinander fremd sind. Die Entität der Stadt 43
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ist ein historischer Zufall, dessen Existenz zu einem nicht geringen Teil auf das Zusammentreffen von Menschen, die sich als Fremde wahrnehmen, zurückgeht. Die Stadt tritt das erste Mal vor ca. 7000 Jahren auf, um die Möglichkeiten des Fremdkontakts, der in ihr omnipräsent ist, zu institutionalisieren und den Rahmen seiner ökonomischen Inwertsetzung abzugeben. Schon Max Weber kennzeichnet in seiner klassischen Abhandlung die Stadt »überall in der Welt (...) [als] Zusammensiedelung von bisher Ortsfremden« (1999: 115). Die gegenseitige Fremdheit ihrer Bewohner ist ein konstituierendes Kennzeichen der Stadt zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten. Der Fremde als eine historische Figur tritt in dem Moment auf, in dem die Reichweite der menschlichen Beziehungen über die eigene Sippe hinausreicht und die daraus resultierende Komplexität der Sozialbeziehungen eine neue Kategorie der Klassifizierung von Menschen verlangt (vgl. Thieme 1958: 201). Der natürliche Gegenbegriff zu Stadt, d. h. einer Sozialform, für die eine gegenseitige Unbekanntheit der Menschen konstitutiv ist, ist demnach Sippe oder Klan, traditionellen Sozialformen, denen immanent ist, dass ihre Mitglieder bekannt untereinander sind. Die Figur des Fremden ist dabei für die Stadt von großer Bedeutung. Die Objektivität der Fremden, die frei von untereinander konkurrierenden Verpflichtungen der Sippe oder Familie gegenüber sind, ermöglicht erst die Siedlungsform der Stadt. Die Stadt basiert auf der dauerhaften gegenseitigen Fremdheit der Urbaniten. Der Fremde und seine Fremdheit sind daher wichtige definitorische Kriterien von Urbanität. Der Abschnitt entwirft auf der Grundlage einer historischen Analyse der Figur des Fremden und seiner Bedeutung in der modernen Gesellschaft ein Verständnis von Fremdheit, das Fremdheit in der Stadt als bestimmte strukturelle Fremdheit begreift, die in dieser Form auf der Figur des Fremden basiert und einen wichtigen Bestandteil einer zu entwickelnden Definition von Urbanität darstellt. Der ontologische Status des Fremden als Mensch steht zunächst zur Disposition und ist keinesfalls voraussetzungslos. Stammesgesellschaften, die über Verwandtschaftsbeziehungen in Lineages oder Sippen organisiert sind, akzeptieren das Menschsein des Fremden nicht zwangsläufig als Minimalkonsens, da der Zwang zur Auseinandersetzung mit der Fremdheit des Fremden eine Ausnahmesituation bedeutet und nicht die erwartbare Normalität ihrer sozialen Wirklichkeit widerspiegelt. Stammesgesellschaften können sowohl aus eigenem Handeln hervorgegangene nichtmenschliche Entitäten als humane Fremde behandeln als auch unerwartet eintreffende menschliche Fremde einer nicht-menschlichen Kategorie zuordnen. Mögliche Alternativen zum Menschsein des Fremden ist ein natürlicher Status als Tier oder Objekt sowie ein übernatürlicher Status als Gott (vgl. Stichweh 1994: 75). Meyer Fortes gibt ein 44
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Beispiel für den ersten Fall. Die Tallensi in Ghana behandeln in bestimmten Ritualen den familiären medizinischen Schrein des Hauses als einen Fremden und erwarten Antworten von diesem in einer direkt geführten Konversation, so als wäre der Schrein ein menschlicher Fremder (vgl. Fortes 1975: 230-231). Der gewaltsame Tod des englischen Seefahrers James Cook am 14. Februar 1779 auf Hawaii ist ein Beispiel für den zweiten Fall, d. h. der Zuweisung des Gottstatus. James Cook wurde bei seiner Ankunft auf den Hawaii-Inseln zunächst nicht als menschlicher Fremder begriffen. Die Hawaiianer erkannten ihn als Lono, einen Gottkönig, der in regelmäßigen Abständen in Menschengestalt die Erde besucht und die Herrschaft über sie an sich reißt. Cook erreichte die Hawaii-Inseln zu der Zeit des Jahres, in der die Hawaiianer Lono ursprünglich erwarteten und erlangte so den Status als Gott. Seinen gewaltsamen Tod führten technische Probleme herbei, die ihn zu einer erneuten Anlandung zwangen. Die Hawaiianer interpretierten den erneuten Landgang Cooks und seiner Mannschaft als ungerechtfertigten und bedrohlichen Versuch Lonos, die Herrschaft über die Menschen zu erlangen und sahen sich folglich gezwungen, Lono zu töten (vgl. Sahlins 1981). Mitglieder von Stammesgesellschaften erkennen einen plötzlich auftauchenden Fremden erst mit Sicherheit als Menschen, wenn dieser über eine begründete Genealogie verfügt, die jedem einzelnen Mitglied der aufnehmenden Stammesgesellschaft verwendbares Wissen über seine Abstammung und Sippe und die damit verbundenen Implikationen für die eigene Gruppe zuweist. James Cook wurde letztlich die Unmöglichkeit seiner Einordnung in die stratifizierte, auf Abstammung beruhende Gesellschaft der Hawaiianer zum Verhängnis, da er über keinerlei Genealogie zu verfügen schien, in die er eingeordnet werden konnte. Die Hawaiianer konnten zwangsläufig sein Menschsein nicht erkennen. Die kulturelle Gewissheit, einen plötzlich auftauchenden Fremden als Menschen zu klassifizieren, ist eng an das Bestehen von Städten gekoppelt. Städte stellen einen Bruch mit der bis zu ihrem Aufkommen gegebenen Situation dar, in welcher der Fremde eine Ausnahmeerscheinung bedeutet. Die Konfrontation mit dem Fremden war ein selten eintreffender Spezialfall einer Interaktionsbeziehung. Im Moment des »Umschlagens« menschlicher Siedlungsweisen hin zu einer Entität Stadt ändert sich diese Situation dramatisch, da »for the first time, human beings were faced with a social situation unlike anything they had known before. For the first time, human beings were faced with a situation in which the stranger was not the exception, but the rule« (Lofland 1973: 9). Der Begriff des Fremden bezeichnet jeden, mit dem ein Akteur nicht bekannt ist, den er nie getroffen hat, selbst wenn er ein gewisses Maß an biographischen Informationen über den Fremden besitzt. Der 45
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Begriff zielt somit auf Personen, die in gewisser Weise »verschieden« sind von einer Bezugsgruppe, die als Referenzgruppe des Eigenen dient. So sind zum Beispiel Juden Fremde in christlichen Gesellschaften (vgl. Lofland 1973: 18). Die Stadt kennzeichnet den Beginn der dauerhaften Zusammensiedelung von Fremden, die dauerhaft füreinander Fremde bleiben. Die Semantik des Fremden bezieht sich auf eine Konnotation der Ferne zu jedem denkbaren Lebensaspekt, in dem Menschen verwurzelt sein können, wie z. B. die Gemeinschaft der Familie oder Sippe, eine gegebene Kultur oder ein religiöser Glaube. Georg Simmel registriert diese konstitutive Bedingung des Fremden und differenziert sie triadisch als Kombination von Nähe und Entferntheit, Objektivität sowie Disposition als Händler aus (vgl. Simmel 1992: 766-767). Die Figur des Fremden tritt zunächst ausschließlich in der Konstellation auf, dass das Nahe fern ist und das Ferne nah. Der Fremde ist die Einheit aus Nähe und Entferntheit. Nähe und Ferne beziehen sich in Simmels Analyse des Fremden nicht auf Distanzen im physischen Raum, sondern Nähe rekurriert auf eine habituelle Erfassbarkeit oder Begreifbarkeit, d. h. das Ferne ist das unverständliche, habituell nicht mehr Begreifbare, unabhängig von physisch-räumlichen Distanzen. Gerade dieses Zusammentreffen von Nähe und Ferne in der Figur des Fremden ist nach Simmel seine Fremdheit. Der Fremde ist des Weiteren ein Element der Gruppe. Er ist jedoch nicht inkludiert, sondern seine soziale Stellung umfasst zugleich eine Differenz zur Gemeinschaft, die ihn als Außenstehenden erscheinen lässt (vgl. Simmel 1992: 765). Das Zusammenfallen von Inklusion in die Gruppe und gleichzeitiger teilweiser Exklusion in der Figur des Fremden bedingt sein Oszillieren zwischen Gleichgültigkeit und Engagement den Zielen der Autochthonen gegenüber. Aufgrund dieser Kombination von Teilnahme und Teilnahmslosigkeit ist der Fremde objektiv. Der USamerikanische Soziologe Lewis A. Coser verdeutlicht diesen Sachverhalt am Beispiel der politischen Funktion des Eunuchen in vormodernen Hochkulturen des Ostens. Eunuchen waren hier in der Lage, die höchsten Positionen in Politik, Bürokratie und Armee zu besetzen, da die Herrscher ihnen mehr vertrauten als Familienvätern. Coser sieht den ursprünglichen Sinn der Institution des Kastratentums darin, das Individuum zu einer größtmöglichen Gruppenloyalität anzuhalten. Der Eunuch ist frei von konkurrierenden Loyalitäten, z. B. der eigenen Familie gegenüber, und so vor der Versuchung gefeit, sein Amt in den Besitz der eigenen Familie zu überführen. Soziologisch betrachtet ist der Eunuch eine extreme Form der Verhinderung von Rollenkonflikten. Statt eine Entscheidungsregel für den Konfliktfall einzuführen, kann nur diejenige 46
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Person eine Funktion übernehmen, die bereit ist, auf andere zu verzichten. Der Eunuch zeigt das gleiche Verhältnis von Gleichgültigkeit und Engagement den Zielen des Herrschers gegenüber, wie der Fremde den Zielen der autochthonen Gruppe. Der Eunuch ist objektiv wie der Fremde (vgl. Coser 1964: 880-884). Simmels dritte paradigmatische Setzung neben der Verschränktheit von Nähe und Ferne und der Objektivität des Fremden ist seine Disposition als Händler, der dem immobilen Bodenbesitzer diametral gegenübersteht. Der Fremde ist räumlich mobil und somit in der Lage, in der Ferne produzierte Güter beizubringen. Simmel sieht eine Verstärkung dieses Argumentes in seiner Umkehrbarkeit: »nicht nur der Händler ist ein Fremder, sondern auch der Fremde ist dazu disponiert, ein Händler zu werden« (Simmel 1989: 286). Die klassische Soziologie des Fremden nach Georg Simmel sieht somit den Fremden als eine ambivalente Figur, in der die Verschränktheit von Nähe und Ferne offensichtlich wird und die Fremdheit des Fremden erst konstituiert, zugleich aber seine Objektivität bedingt. Simmel erkennt den Händler als die prototypische Figur des Fremden und begreift Bewegung als seine basale Funktion. Gemäß Georg Simmels klassischen Ausführungen über den Fremden erscheint Fremdheit als eine Situation, in der zwei stabile Identitäten, die des Fremden und die der autochthonen Gruppe, aufeinander treffen. Die Situation ist darüber hinaus durch eine folgenreiche Asymmetrie gekennzeichnet, da die eine Identität mit ihren zugeordneten Normen und Werten, Alltagsroutinen, Überzeugungen und daraus erwachsenden verbindlichen Regeln der Zugehörigkeit eine Definitionsmacht über die zweite Identität ausübt und diese erst als fremd klassifiziert. 13 Fremdheit bedingt daher nicht eine völlige Beziehungslosigkeit oder Unbekanntheit, sondern sie ist eine »sozial folgenreiche Identitätsbestimmung« (Bergmann 2001: 38). Fremdheit entsteht nicht aus dem einfachen objektiven Verhältnis zweier Menschen, Objekte oder Gruppen, sondern sie ist das Produkt einer Definition der Beziehung zwischen den Beteiligten, die auf die eine oder andere Weise Wirkungsmacht erlangt. Der Fremde ist stets das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses, der in letzter Konsequenz kontingent ist. Die Einordnung einer Person als fremd ist letztlich eine Operation der Zuordnenden. Fremdheit wird zu einer 13 Die klassische Soziologie des Fremden weist darüber hinaus eine zweite Asymmetrie auf. Sie erkennt als Reaktion des Fremden auf seine Etikettierung als Fremder, dass dieser die Fremdheit der Autochthonen deutlich schneller übersieht als diese seine eigene von ihnen selbst konstruierte Fremdheit. Die erwartbare Antwort des Fremden auf seine ungünstige soziale Position ist demnach seine Assimilation (vgl. als einen klassischen Vertreter dieser Position Michels 1925: 309). 47
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wahrnehmbaren Eigenschaft hypostasiert und einer Person, einem Objekt oder einer Gruppe zugeordnet. Fremdheit ist nicht einfach die Feststellung einer unabhängigen Gegebenheit, sondern erlangt erst durch die Operation der Zuordnung eine Existenz. Diese Zuschreibung rekurriert auf Unterscheidungen, deren Urheberin sie selbst ist. Beispielsweise kommt ohne die Moral kein Sünder vor, ohne das Gesetz kein Krimineller und ohne Festlegung eines Unterschieds zwischen dem Eigenen und dem Anderen kein Fremder (vgl. Hahn 1994: 141). Die Ambivalenz der Zuordnungsoperation von Eigenem und Fremden und ihre Kontingenz findet ihr Äquivalent in der Sprache. Den sprachwissenschaftlichen Fall, in dem ein und derselbe sprachliche Laut nicht nur unterschiedliche Bedeutungen aufweist, wie z. B. zwischen Schloss und Schloss (Türschloss und Königsschloss), sondern ebenfalls polare Gegenbegriffe darstellt, kennzeichnet Stichweh als »gegenbegriffliche Homonymie« (1997a: 166). Dieser Sachverhalt tritt in verschiedenen Sprachen besonders oft im Zusammenhang mit der historischen Semantik des Fremden auf, wo ein identischer Laut häufig sowohl »Fremder« als auch »Feind« oder »Gast« bezeichnet. In diesem Oszillieren zwischen den entgegengesetzten Bedeutungsinhalten desselben Lauts kommen sowohl die Erwartungsunsicherheit im Umgang mit dem Fremden als auch die Kontingenz dieser Zuordnungsoperation zum Ausdruck, die das Konzept der Fremdheit als solche kennzeichnen. Die Stadt ist der Ort, an dem Fremde leben und miteinander interagieren. Ihre soziale Ordnung baut auf der strikten Trennung zwischen Eigenem und Fremden auf. Die Städter privilegieren die Kontakte zu ihrer eigenen Gruppe, Sippe oder Kindred 14 im Gegensatz zu den Kontakten mit Fremden. Diese Disprivilegierung des Fremdkontakts ist die Basis des städtischen Zusammenlebens. 15 Die Besonderheit der städtischen Siedlungsform besteht in ihren vielen Angeboten zur zeitlich befristeten 14 Die Kindred ist von der Sippe zu unterscheiden, da sie all jene Menschen umfasst, die mit einer zentralen Bezugsperson verwandt sind, ohne dass dies für alle Mitglieder untereinander gilt. Für Vollgeschwister ist die Kindred bis zu ihrer Heirat identisch. Im Gegensatz dazu bezeichnet die Sippe eine Deszendenzgruppe, in der sämtliche Mitglieder untereinander verwandt sind. Da alle Menschen zu vielen Kindreds gehören, können diese im Gegensatz zur Sippe nur bei besonderer Gelegenheit als Gruppe kurzfristig aktiv werden, z. B. bei einem Übergangsritus der Bezugsperson (vgl. Murdock 1964: 129-131). 15 Ein gutes Beispiel für eine solche Nachrangigkeit des Fremdkontaktes liefert der britische Ethnologe Meyer Fortes, der auf die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden in Tamale, einer Provinzhauptstadt in Nordghana, aufmerksam macht. Fremde sind hier Personen, die für ihr Haus Miete zahlen, im Gegensatz zu den Einheimischen, die kostenfrei in der Stadt wohnen können (vgl. Fortes 1975: 242). 48
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Überwindung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die von Max Weber angeführten fünf konstitutiven Kategorien der Stadt des Okzidents (vgl. 1999: 84) können ebenfalls als Institutionen der Oszillation zwischen dem Eigenen und dem Fremden gelesen werden. Diese fünf von Max Weber angeführten Einrichtungen erfüllen jeweils eine sie kennzeichnende, spezielle Aufgabe. Darüber hinaus ermöglichen sie eine zumindest temporäre Verbindung zwischen den Stadtbewohnern, die aus Fremden Bekannte macht. Die Befestigung bedarf im Verteidigungsfall des organisierten Miteinanders der Soldaten und Bürger. Der Markt ist der Ort, an dem Fremde zeitlich beschränkte Reziprozitätsbeziehungen flechten. Am Gericht kommen Fremde zusammen, um die Rechtssprechung anzuerkennen und von Fremden Recht sprechen zu lassen. Die Verbünde in der Stadt organisieren die voneinander abweichenden Interessen der fremden Handwerker und Händler. Die Selbstverwaltung schließlich beteiligt die Bürger an den politischen Aufgaben. Frühe demographische Rahmendaten lassen solche institutionalisierten Übertrittsmöglichkeiten zwischen Fremden und Autochthonen zumindest für Städte in Europa als notwendig für ihre soziale Ordnung erscheinen. Die mit Stadtbürgerrechten ausgestatteten Stadtbewohner in der frühen Neuzeit in Deutschland teilen sich etwa zur Hälfte in Autochthone und in Fremde auf. Dabei hat die Stadtgröße keinen Einfluss auf die Anteile der Fremden. Unter den Einwohnern ohne Bürgerrechte, den sog. Beisassen, erreichen die Anteile der Fremden sogar bis zu 74 Prozent, wie im Fall von Würzburg im Jahre 1675. Auch für das 12. und 13. Jahrhundert lassen sich für Köln und Rostock ähnliche Zahlen nachweisen 16 (vgl. Hochstadt 1983: 200-203). Die rechtliche Situation für Fremde unterschied sich dabei grundlegend zwischen Stadt und Land. Bereits in der mittelalterlichen Stadt erkannten die Bürger den ökonomischen Gewinn, den sie aus einer politischen Kategorie der Duldung des Gaststatus für Fremde ziehen konnten. Es war Fremden möglich, das volle Bürgerrecht zu erlangen. Dem gegenüber kannte das Land noch bis weit in die Neuzeit hinein das »Wildfangsrecht«, das dem Lehnsherrn nach Jahr und Tag die gleichen Rechte über den Fremden zubilligte, wie über
16 Die überraschend hohen Zahlen an Fremden in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten resultieren vor allem aus dem Phänomen der Gesellenmigration, die Ausdruck der ausgeprägten regionalen Mobilität des Handwerks zu dieser Zeit ist. Handwerker mussten prinzipiell von ihrer Kindheit bis zum Tod mobil sein, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Diese Gesellenmigration überwand dabei selbst kulturelle Grenzen. So entstand beispielsweise die Bartholomäuskapelle in Paderborn 1017 per operarios graecos, d. h. durch byzantinische Bauleute (vgl. Elkar 1999: 58-59). 49
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die Eigenen (vgl. Thieme 1958: 209-210). Dieser bedeutende Unterschied zwischen Stadt und Land trägt der Tatsache Rechnung, dass komplexe stratifizierte Gesellschaften wie die mittelalterliche Stadtgesellschaft eine höhere kulturelle Diversität in ihrer Bevölkerung ertragen und folglich mehr Fremde aufnehmen können, als die historische ländliche Gesellschaft. Die Bedeutung des Fremden für die herausgehobene Stellung der Stadt in der Gesellschaft liegt in seiner ontischen Unbestimmtheit. Die große Zahl der untereinander fremden Menschen an einem Ort lässt ein Maximum an Unbestimmtheit entstehen. Dieser Zustand der Latenz hebt die Stadt aus anderen Vergesellschaftungsformen heraus. Unbestimmtheit erschafft neue Möglichkeiten. Jede soziale Beziehung, die sich aus allen denkbaren Beziehungen innerhalb einer Stadt konkretisiert und zu einer sozial bestimmten wird, konstituiert in ihrer Folge wiederum eine Vielzahl von Unbestimmtheiten als neue Möglichkeiten, die in dieser Form vorher nicht existierten (vgl. Hondrich 1985: 75). Der Fremde führt ein bestimmtes Maß an Unbestimmtheit mit sich. Mit seinem Erscheinen ändern sich die Wahrscheinlichkeiten, mit denen bestimmte Ereignisse, die u. U. die tradierte Gesellschaftsordnung irritieren, eintreten können. In der Stadt mit ihrer hohen sozialen Dichte generiert der omnipräsente Fremdkontakts wiederum diese Latenz als Herausforderung der sozialen Ordnung in einem besonderen Maße. Die Figur des Fremden erscheint in diesem Sinnzusammenhang ambivalent. Sie ist zum einen gewöhnt an das Ungewöhnliche (vgl. Tiryakian 1973: 48) und so in der Lage, Innovationen über Externalisierungen in die Gesellschaft einzuführen (vgl. Stichweh 1997a: 166). Der Fremde ist zum anderen unberechenbar und für die bestehende Ordnung riskant. Seine Kontrolle scheint nur schwer zu gewährleisten. Die mitunter älteste Kulturtechnik zur Beherrschung der ontischen Unbestimmtheit des Fremden ist dessen Transformation in den Gast. Die Zuschreibung der Fremdheit des Fremden ist eine logisch reziproke Beziehung zwischen zwei Identitäten, bei der es zunächst unwichtig ist, ob Misstrauen oder Gastfreundschaft praktiziert wird. Die Konflikthaftigkeit der Situation wird durch die Konvention gelöst, den Fremden voraussetzungslos als Gast und nicht als Feind zu behandeln. Die Unbestimmtheit, die einer jeden Situation doppelter Kontingenz 17 zugrunde liegt, erfährt so eine mögliche Einschränkung, die die Stabilität der sozialen Ordnung sichern soll. Pitt17 Das Problem der doppelten Kontingenz bezeichnet die gegenseitige Unsicherheit, die aus der wechselseitigen Abhängigkeit des Handelns und Kommunizierens in Bezug auf die Erwartungen des Anderen besteht. Das Dilemma der doppelten Kontingenz ist für jede Interaktionsbeziehung charakteristisch (vgl. Hahn 1998a: 493-496). 50
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Rivers führt für diese Transformation des Fremden in den Gast das Beispiel Andalusien an. Die Konvention gebietet es hier, dass der Fremde sogleich zum Gast wird. Seinen Status wechselt der Fremde durch die Annahme eines Angebots zum gemeinsamen Essen. Der Fremde tritt so in eine asymmetrische Austauschbeziehung ein, die ihn mit den Autochthonen verbindet (vgl. Pitt-Rivers 1968: 23). Der häufigste Ort dieser Transformation des Fremden in den Gast zur Eindämmung der Kontingenz des Fremdkontakts war in Europa traditionell die Stadt. Seit der Polis macht die städtische Gesellschaft sich die besondere und herausgehobene Stellung des Gastes in Bezug auf eine jede soziale Ordnung zunutze. Diese Figur des Gastes rekurriert nicht auf dichotome soziale Rollen, wie z. B. Freund oder Feind, Herr oder Knecht, Mann oder Frau usw., sondern ihr besonderer Vorzug zu anderen denkbaren Status liegt gerade darin, dass diese Kategorien im Zusammenhang mit dem Gast in den Hintergrund treten. Die soziale Position des Gastes egalisiert etwaige marginalisierte oder bevorzugte Positionen. Der Status des Gastes liegt quer zu den existierenden Status der sozialen Ordnung und bringt ihre Grenzen zeitlich begrenzt zum Verschwinden (vgl. Bahr 1997: 805). Der Fremde verliert im Status des Gastes nicht seine Unbestimmtheit, dennoch ist sein Verhalten in bestimmten Grenzen für die Autochthonen zu erwarten und der gefahrlose Fremdkontakt erst möglich. 18 Der Gast steht von seinem Status her in der Mitte zwischen dem Feind und dem Mitglied der gastgebenden Gruppe. Die Gastfreundschaft ist folglich eine eher praktische als moralische Form der Eingliederung des Fremden und für die Stadt als Zusammensiedlung von Fremden unabdingbar. Die Oszillation zwischen dem Status des Gastes und des Feindes ist für viele soziale Ordnungen Normalität. Der Vorteil einer Duldung des Fremden als Gast, der in der Ersetzung eines potenziellen Konfliktes in eine Form der Schuld liegt, kann seinerseits unter bestimmten Bedingungen in eine Feindbeziehung eingetauscht werden. Einfache Stammesgesellschaften, die nicht in Städten zusammensiedeln, kennen häufig keine Kategorie für den Gast oder Fremden. Die Unterscheidung von Feind und Fremden existiert nicht; der Fremde ist immer gleichbedeutend mit Feind. Die Arapesh in Neuguinea sind ein Beispiel für eine solche Gesellschaft (vgl. Greifer 1945: 740). Komplexere Gesellschaften 18 Der russische Schriftsteller Dostojewskij skizziert in seinem Roman »Die Brüder Karamasow« diese Situation, indem er den Starez Sosima, noch als junger Mann und Offizier, mit einem unbekannten Fremden interagieren lässt, der sich am Ende der Szene als ein Mörder entpuppt. Die Situation ist jedoch dadurch kontrolliert, dass dieser Sosima als Gast gegenübertritt und so eine temporäre Schuld erwirbt (vgl. Dostojewskij 2002: 405-421). 51
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definieren häufig den Punkt, an dem das erworbene oder als Normalfall zugebilligte Gastrecht erlischt. Der Gast fällt an dieser Stelle wieder zurück in den Status des Fremden. Sein Status als Feind macht sich im Anschluss daran fest, ob erstens eine Irritation im System knapper Ressourcen materieller oder kultureller Art besteht, die ihm zweitens zugerechnet werden kann. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht, ob der Fremde tatsächlich für eine Verknappung jedweder Ressourcen verantwortlich ist, sondern allein, ob es gelingt, diese Bedrohung mit ihm zu verbinden. Die ontische Unbestimmtheit des Fremden gerinnt ihm dann zum Nachteil. Der Fremde rückt in den Fokus negativer Tauschhandlungen wie Beleidigungen oder Rache und wird in den Status des Sündenbocks gedrängt. Der Sündenbock dient als moralische Ursache sozialer Krisen und erfährt im Falle einer solchen eine Anklage stellvertretend für die Gesellschaft. Seine Bestimmung beruht auf der Unbewusstheit dieser Stellvertreterfunktion und der damit einhergehenden Entlastung für die restliche Gesellschaft (vgl. Girard 1988: 27-28). Die Funktion des Sündenbocks ist ein Beispiel für die ökonomischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen, die sich aus der Unbestimmtheit des Fremden ergeben. Zum Schutz der Potenzialität dieser Latenz bestehen in bestimmten Gesellschaften Mechanismen, die darauf zielen, den Fremden fremd zu belassen. Frageverbote nach dem Eigennamen, die eine Identifizierung verhindern, fungieren als ein solcher Sicherungsmechanismus der Fremdheit und folglich der Unbestimmtheit des Fremden, die wiederum weitere Möglichkeiten des Handelns eröffnet. Das Risiko, das ein Kontakt mit dem Fremden in sich birgt, ist damit eine Optionssteigerung des Handelns. Für spezialisierte Formen gesellschaftlichen Wirkens, beispielsweise politisches, ökonomisches, religiöses oder wissenschaftliches Handeln, dessen Zentren in einer Gesellschaft immer die Städte bilden, ist der Umgang mit dem Fremden eine Wachstumsbedingung, die bewusst gewählt oder ausgelassen wird (vgl. Stichweh 1992: 303). Prototypisch für dieses Handeln ist der Warentausch. Städte in Europa entstanden daher zunächst als Zentren des Handels an meist alten römischen Siedlungsplätzen. Hier trafen sich Fremde und traten in ökonomisch motivierte Tauschbeziehungen ein (vgl. Engel 1993: 18). Der Grund hierfür ist, dass zwischen Anverwandten in den meisten Gesellschaften keine ökonomischen Handelsbeziehungen zulässig sind. Der Händler ist damit gezwungen, seine Sippe zu verlassen und fortan ökonomische Vorteile und Nachteile in seinen sozialen Beziehungen gegeneinander abzuwägen. Cahnman bezeichnet die so entstehende ökonomistische Betrachtung sozialer Beziehungen als fundamentale Funktion in der modernen Gesellschaft (1974: 170). Der Fremde ist demzufolge gekennzeichnet durch ein Moment der Ökonomie. Er ist ei52
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nerseits in der Lage, neue Waren oder Produkte feil zu bieten, andererseits kann er tabuisierte Tätigkeiten ausüben, da er nicht zwangsweise an die Werte der Handelspartner gebunden ist. Aufgrund dieser fehlenden Teilhabe 19 ist Reziprozität zwischen Fremden von ökonomischer Rationalität bestimmt. Es besteht eine graduelle Abstufung in diesen Tauschbeziehungen, die, je unpersönlicher das Verhältnis zwischen den Interaktionspartnern wird, desto stärker von ökonomischer Rationalität bestimmt sind. Der Grund dieses Zusammenhangs liegt in der Tatsache begründet, dass der Fremde durch keinerlei persönliche Rücksichtnahme bei Geschäften in der Aushandlung seines größtmöglichen ökonomischen Gewinns gehemmt wird. Er trifft in seiner Umgebung und bei seinen Geschäften wiederum ausschließlich auf Fremde, zu denen er lediglich in zeitlich befristeten Kontakt tritt und so keinerlei Schuldverhältnisse oder Apologiezwänge erwirbt. Diese radikale Ökonomisierung erklärt Werner Sombart wiederum mit dem »Abbruch aller alten Lebensgewohnheiten und Lebensbeziehungen« (1987: 885-886) des Fremden. Er verdeutlicht dies anhand des Schauspiels von William Shakespeare »Der Kaufmann von Venedig«, in dem Antonio zu Shylock sagt, dass man zinstragende Darlehn nur an Fremde vergibt, denn nur in diesem Fall kann man sie rücksichtslos zurückfordern (vgl. Sombart 1987: 887). Die Semantik des Fremden, die diese Ökonomisierung sozialer Verhältnisse systematisch entwickelt, ist der Sojourner. Der amerikanische Ausdruck »Sojourner« ist keinesfalls mit dem deutschen Begriff »Gastarbeiter« identisch. Der Sojourner ist eine Form des soziologischen Phänomens des Fremden, der seine Herkunftskultur verlassen hat und in Isolation in der neuen Gesellschaft lebt, eine Isolation, die seine Assimilation verhindert. Beispiele sind chinesische Einwanderer in Amerika, Kolonisten, Händler, Diplomaten, Austauschstudenten, internationale Journalisten, Missionare usw. (vgl. Siu 1952: 34). Der Sojourner sieht seinen Aufenthalt als ein Engagement in eigener Sache, d. h. in absolut relativistischer und rationaler Form, der in kürzester Zeit zu erledigen ist. Der Sojourner ist daher extrem rational. Er erfüllt in der aufnehmenden Gesellschaft eine Tätigkeit, die fremd oder unbekannt für die Autochthonen ist. Entweder importiert er diese Tätigkeit aus seiner Herkunftsregion oder er erfindet sie neu. Paul Siu führt als Beispiele für den 19 Die asymmetrische Reziprozität zwischen Autochthonen und Fremden wird nicht nur zum Handel instrumentalisiert, sondern ganze Herrschaftssysteme stützten sich auf die Loyalität von Fremden, da diese aufgrund ihrer marginalisierten sozialen Stellung nicht in der Lage waren, selbst Macht zu akkumulieren. Beispiele sind abtrünnige Christen im ottomanischen Reich oder Juden als Hofbeamte im barocken Deutschland des Feudalismus (vgl. Coser 1972). 53
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nordamerikanischen Kontext chinesische Wäschereien, italienische Fruchtstände, griechische Eiskremverkäufer oder jüdische Kleiderstände an (vgl. Siu 1952: 36). Für Deutschland wären etwa die ersten italienischen Pizzerien zu nennen. Neuartig an diesem Verhalten ist die Radikalität der Ökonomisierung, mit der der Sojourner seiner sozialen Umwelt entgegentritt. Diese Ausschließlichkeit der Fokussierung auf das eigene Interesse ist in dieser Form neu und für die Autochthonen eine unbekannte Erfahrung. Der Sojourner dreht das tradierte Reziprozitätsverhältnis zwischen Autochthonen und Fremden de facto um. Nicht er nimmt ein Gastrecht in Anspruch, sondern er zieht stattdessen aus der für ihn fremden Umwelt ökonomischen Gewinn ohne Apologiezwänge, die sich auf seine direkte soziale Umwelt richten würden. Die Umkehrung ist das Irritierende an der Figur des Sojourner. Diese spezielle historische Semantik des Fremden zeigt beispielhaft auf, dass ein wesentliches Element der Reziprozität unter Fremden die ökonomische Rationalität in ihren Austauschbeziehungen ist. Aus diesem Grund entwickelten sich die ersten Städte vornehmlich an Marktplätzen durch gegenseitig fremde, miteinander Handel treibende Menschen. Die Stadt ist auf der Basis des Fremdkontakts entstanden, der gewagt wurde, weil er Optionssteigerungen des Handelns ermöglichte. Die Stadt regelte mit ihren Institutionen diesen ökonomisch motivierten Fremdkontakt. Die historische Analyse der Semantik des Fremden zeigt in aller Deutlichkeit auf, dass Fremdheit die wirkmächtigste anthropologische Konstante zwischen den Städtern war und ist. Der Umgang mit dem Fremden in der Stadt bleibt dennoch ambivalent, disprivilegiert und im Vergleich zu den Kontakten zum Eigenen von Unsicherheiten gezeichnet. In der modernen Gesellschaft ist der Umgang der sich gegenseitig als Fremde wahrnehmenden Urbaniten von Indifferenz geprägt. Es existiert eine »kindness of strangers« (Tuan 1986: 15) in der Stadt.20 Indifferenz bezeichnet einen Zustand der Nicht-Präferenz und zugleich einen Erkenntnisstand, der Unterscheidungen zwischen Interesseobjekten und damit Neigungen als utopisch erscheinen lässt (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 148). Die Stadtbewohner wissen wenig voneinander und gehen 20 Die Indifferenz des Städters dem Anderen gegenüber ist bereits seit der Antike schriftlich überliefert. So zeigt der Philologe Richard Wellington Husband anhand der Verschwörung gegen den römischen Kaiser Galba im Jahr 69 n. Chr. auf, wie eine grundlegende Indifferenz dessen Ermordung erst ermöglichte. Den Grund des Gelingens der Verschwörung gegen den im Volke keinesfalls unbeliebten Kaiser sieht er in der habituellen Grundhaltung der Indifferenz des römischen Bürgers gegenüber den anderen, die letztlich einem Eingreifen bei der Ermordung Galbas durch die Prätorianergarde vonseiten der Bevölkerung im Weg stand (vgl. Wellington Husband 1915: 323). 54
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sich soweit sie können aus dem Weg. Sie vermeiden Kontakte, die nicht in ritualisierten Übergängen von Unbekannten zu zumindest befristeten Bekannten eingeordnet sind. Die Fremdheit der anderen nutzt die Gegenwartsgesellschaft als ein Hilfsmittel, das Transaktionen ohne Engagement der ganzen Person erst ermöglicht. Tritt der Fremde historisch noch als eine kompakte und ganzheitliche Figur auf, wie die historische Analyse seiner Semantik verdeutlicht, wird die Fremdheit der Fremden in der Gegenwartsgesellschaft in funktionsspezifische Interaktionen zerlegt, die jeweils nur ein Segment des Gegenübers ansprechen. Dem Individuum gegenüber dominiert dagegen Indifferenz. So interessiert uns an der Person hinter dem Bankschalter lediglich ihre Funktion als Bankangestellte und die temporäre Bekanntheit erlischt nach Vollzug der Transaktion. Der Andere bleibt so individuell ein Fremder, im Sinnzusammenhang der sozialen Interaktion ist seine Fremdheit aber nicht weiter von Belang. Es besteht eine generalisierte Fremdheit der Personen, die uns als Funktionsträger in bürokratischen, rechtlichen, sportlichen, religiösen, ökonomischen oder politischen Transaktionen entgegentreten. Armin Nassehi bezeichnet dies als die strukturelle Fremdheit der modernen Gesellschaft (vgl. 1995: 454; ähnlich Stichweh 1992: 312). Der Soziologe Rudolf Stichweh argumentiert in seinen Arbeiten zur Soziologie des Fremden, dass sich in der Moderne die kompakte Figur des Fremden auflöst. 21 Sämtliche denkbaren Semantiken des Fremden, die sich aus seiner ontischen Unbestimmtheit ableiten, wie z. B. der Gast, der Sündenbock, der Vermittler (vgl. Schwimmer 1958) oder der Sojourner, seien in ihrer Konstruktion und Wirkung historisch. Der vormoderne Facettenreichtum von Personalisierungen des Fremden tausche sich in der modernen Gesellschaft in die Leitfigur der Indifferenz ein. Die Leitunterscheidung eigen/fremd werde durch die Unterscheidungen bekannt/unbekannt und persönlich/unpersönlich substituiert. Stichweh erkennt als Grund für diesen historischen Wandel die Komplexität eines extrem geweiteten sozialen Bezugssystems für einen jeden Einzelnen, das dem Individuum keine andere Wahl mehr lässt, als dem Anderen mit Indifferenz entgegenzutreten und dessen Fremdheit als eine Ressource zu nutzen (vgl. Stichweh 2003a: 104). Die historische Figur des Fremden kennzeichnet eine Erwartungsunsicherheit, die sie unkontrollierbar macht, jedoch ebenfalls Optionssteigerungen des Handelns 21 Folgte man Stichweh in seiner Argumentation, käme man zwangsläufig zu der reizvollen historischen Parallele zwischen der Auflösung der Figur des Fremden in der Moderne und der Auflösung der Stadt selbst, die in der Vormoderne als Komplexitätsinsel erschien und in der modernen Gesellschaft in dieser Form nicht mehr zu beobachten sei (statt vieler für diese Position: Amin/Thrift 2002). 55
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bedingt. Nach Stichweh wird diese Erwartungsunsicherheit, die sich auf die ganze Person mit all ihren Implikationen richtet, durch eine »Minimalsympathie« (Stichweh 2003a: 104) ersetzt, die die Basis bildet für die segmentierte Interaktion mit dem Unbekannten, der jetzt kein Fremder mehr ist. Die moderne Gesellschaft bezieht sich auf die Andersheit der anderen Menschen als basale, unabweisbare und universelle soziale Erfahrung. Die Andersheit der Anderen, d. h. die Differenz des Anderen zum Selben, dient als Grundlage der Selbstidentifikation des Menschen und ist essentiell, will der Mensch sich selbst aus der Differenz zum Anderen erleben. Die Andersheit weist nach Stichweh Omnipräsenz auf. Sie ist eine anthropologische Konstante. Fremdheit existiert demnach nur noch dort, wo die Andersheit eines anderen Menschen als eine Störung oder Irritation aufgefasst wird (vgl. Stichweh 2003a: 98). Stichweh bezieht sich in seiner Argumentation auf die platonische Dialektik. Platon nimmt an, dass etwas nur ein Selbes ist, wenn es sich gleichzeitig als Anderes von Anderen unterscheidet. Diese Unterscheidung ist die Grundlage einer jeden sozialen Ordnung bzw. einer jeden Ordnung der Dinge. Ein Selbes und ein Anderes entstehen durch eine einfache Abgrenzung, die das eine von dem anderen trennt. Kennzeichnend für diese Form der Abgrenzung ist eine einfache Reversibilität. Ein Mann ist keine Frau wie umgekehrt eine Frau kein Mann ist. Die Differenz von Eigenem und Fremden basiert auf einer davon grundsätzlich verschiedenen Unterscheidung. Grundlegende Operation dieser Unterscheidung ist nicht eine einfache und reversible Abgrenzung, sondern eine Ein- und Ausgrenzung (vgl. Waldenfels 2006: 113-114). Das Fremde verlangt nach einer Definitionsleistung, die wiederum eine Schwelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden entstehen lässt. Ein Merkmalsträger kann immer nur entweder hier oder dort sein, zwischen beiden Möglichkeiten liegt die Schwelle, die das Eigene von dem Fremden trennt. Beide Positionen sind unmöglich zu besetzen. Diese Schwelle ist jedoch kontingent und es bestehen Möglichkeiten ihrer Veränderung, deren bekannteste die Passageriten sind. Passageriten sind »rites which accompany every change of place, state, social position and age« (Turner 1969: 94). Sie ermöglichen Übergänge von der einen Seite der Schwelle auf die andere Seite. Man kann vermuten, dass im Sinnzusammenhang von Urbanität nicht eine einfache Abgrenzung zwischen einem Selben und einem Anderen bestimmend ist, die zu einer Indifferenz führt, wie Stichweh dies ausführt. Fremdheit wäre für diesen Fall nahezu bedeutungslos. Es ist vielmehr die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden und die damit bestehende Schwelle zwischen den beiden Seiten dieser Unterscheidung für die soziale Ordnung der Stadt bestimmend, die erst ein 56
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Oszillieren zwischen den beiden Seiten ermöglicht. Beispielsweise ist ein häufiges historisches Phänomen der Assimilierung von Fremden in die Gesellschaft eine neue soziale Stratifizierung, die die Form einer Unterschichtung annimmt (vgl. Meyer 1951: 483). In diesem Fall ist die Grenze zwischen den sozialen Gruppen als eine Schwelle anzusehen, deren Überwindung gleichzeitig die Fremdheit zum Verschwinden bringt. Die Interaktionsmuster gerade in der modernen Stadt greifen nicht mehr ununterbrochen auf die Unterscheidung eigen/fremd zu, da sich die komplexen sozialen Beziehungen nicht mehr mit der einfachen historischen Aufteilung von Endemischen und Fremden regulieren lassen. Aus dieser Faktizität folgt die weit überwiegende Indifferenz als Einstellung den Anderen gegenüber. Die soziale Realität erzeugt aber dennoch ständig neue Unterscheidungen, zu denen wieder bekannt/unbekannt oder persönlich/unpersönlich, aber auch eigen/fremd gehören, die den Fremden wiederum identifizieren (vgl. Tiryakian 1973: 57). Seine Fremdheit ist jedoch nicht mehr in dem Maße absolut und statisch wie in der Vormoderne, da die Übertrittsmechanismen, z. B. der sozialen Transaktionen, den Fremden jederzeit zum Verschwinden bringen können. Rudolf Stichweh vertritt daher die Auffassung, dass die kompakte Figur des Fremden historisch sei und in der modernen Gesellschaft nicht mehr vorkomme. Gegen diese Ansicht kann man argumentieren, dass die historische Figur des Fremden eine Substitution durch den auf Basis von Ein- und Ausgrenzung entstehenden und ständig neu ausgehandelten bestimmten Fremden erfährt. Dieser erweist sich als fremd in Bezug auf etwas Drittes, das als temporärer und kontingenter Maßstab seiner Fremdheit fungiert (vgl. Waldenfels 1995a: 615). Die soziale Ordnung der modernen Großstadt kennzeichnet eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen« (Waldenfels 1998: 246), die wie ein »Diversitätsgenerator« (Waldenfels 1998: 255) wirkt. Fremdheit entwickelt sich in der Stadt zur einer erwartbaren Normalität. Sie nimmt im Zuge dessen einen okkasionellen Charakter an. Allerdings tritt sie in einer historisch bedingten Form auf, die in Anlehnung an Armin Nassehi (vgl. 1995: 454) und Bernhard Waldenfels (vgl. 1995a: 615) als bestimmte strukturelle Fremdheit zu bezeichnen ist. Urbanität gründet auf einem formalisierten Umgang unter bestimmten Fremden, die jeweils in unterschiedlichen Interaktionssituationen die Schwelle von bekannt/ unbekannt oder persönlich/unpersönlich überschreiten und mit den funktionsspezifischen Segmenten des jeweils Anderen interagieren. 22 22 Diese funktionsspezifische Segmentierung des Menschen in der modernen Großstadt ist auch Georg Simmel nicht verborgen geblieben. Der Berliner Philosoph sieht das 19. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der funktionalen Ausdifferenzierung des Menschen, die das jeweilige Individuum zu ei57
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Fremdheit ist demnach situativ wie kontingent und damit abhängig von der Zuschreibung der jeweiligen Individuen, die miteinander in Kontakt treten. Die bestimmte strukturelle Fremdheit nimmt eine Generalisierung der Fremdheit von Personen vor, die sich als Funktionsträger in der arbeitsteilig organisierten modernen Gesellschaft begegnen. Die erste Säule der Urbanität ist damit der formalisierte Umgang mit der gegenseitigen bestimmten strukturellen Fremdheit der Urbaniten. Die mannigfaltigen Möglichkeiten des Oszillierens zwischen Bekannten und Unbekannten tritt in ihrer maximalen Dichte nur in der modernen Stadt auf. Urbanität ist die gesellschaftliche Antwort auf die Herausforderung dieser permanenten Filterleistung für das Individuum. Auch die moderne Gesellschaft kann somit offensichtlich nicht auf die Möglichkeit zur Selbstidentifikation verzichten, die der in Bezug auf etwas Drittes bestimmte Fremde bietet.
Individualisierung Die Fremdheit tritt als eine bestimmte strukturelle Fremdheit in der Stadt in Erscheinung. Die bestimmte strukturelle Fremdheit dient der Ermöglichung von Selbstidentifikation und wirkt sich auf die Möglichkeiten der eigenen Individuierung eines jeden einzelnen aus. Die städtische Soziabilität ist gekennzeichnet durch eine in dieser Situation wurzelnde besondere Konstellation von Identität, Individualismus und Individualisierung. Dieser Abschnitt erarbeitet einen weiteren Teilaspekt von Urbanität in Form von der Stadt als Ort der Herausforderung der eigenen Identität durch die Alterität der anderen. Das hinter dieser Unterscheidung von Identität/Alterität stehende Konzept von Individualisierung ist das zweite definierende Merkmal von Urbanität. Der Abschnitt erarbeitet daher zunächst die entscheidenden Begriffe von Identität, Alterität, Individuierung und Individualisierung, da diese als Grundlage der anschließenden Überlegungen zu den speziellen sozialen Bedingungen in der Stadt als Ort höchster sozialer Dichte essentiell sind. Diese besonderen sozialen Bedingungen unterscheiden die Stadt ähnlich wie die omnipräsente bestimmte strukturelle Fremdheit von anderen denkbaren Orten in der Gegenwartsgesellschaft. Urbanität als ein soziales Beziehungsgefüge, das sich räumlich ausprägt, formt und begrenzt, rekurriert
ner vorher unbekannten Spezialisierung zwingt. Im Gegensatz dazu ist das 18. Jahrhundert nach Simmel von der Befreiung aus den Fesseln von Staat und Religion sowie Moral und Wirtschaft geprägt (vgl. Simmel 1903: 187). 58
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so zwangsläufig auf die bestimmte strukturelle Fremdheit und Individualisierung. Die Semantik der Identität antwortet auf eine der grundlegenden Notwendigkeiten menschlichen Zusammenlebens, namentlich auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der sozialen Ordnung. Individuen steht ein Vielfaches mehr an Handlungsalternativen zur Verfügung, als sie letztlich realisieren können. Dennoch entsteht eine auf einer sozialen Ordnung fußende Gesellschaft, in der sämtliche Handlungsziele der Akteure kanalisiert sind und die so als die Organisation des menschlichen Zusammenlebens fungiert. Die in der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft verborgene Dissonanz besteht in dem grundsätzlichen Problem des Einzelnen, sich einen Freiraum zu erarbeiten, der zum einen sein Wiedererkennen als diese eine Person garantiert, 23 zum anderen aber den Zielen einer Gruppe nicht zuwiderläuft. Die Semantik der »Identität ist damit als Brückenkonzept gebaut, die als Freiheit gedachte Individualität des Individuums mit der als integrative Ordnung gedachten Struktur der Gesellschaft zu versöhnen« (Nassehi 2003: 116). Als gelungen gilt die Identitätsfindung des Individuums, wenn diese sich mehr oder weniger harmonisch zwischen den Zielen einer Gruppe und dessen eigenen einfügt. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der Kontext der sozialen Gruppe. 24 Einer der wichtigsten Faktoren der Herausbildung von mentaler Aktivität und daran anschließend der Entwicklung einer Persönlichkeit und einer Identität ist die Anwesenheit von anderen Menschen. Sozialpsychologisch gilt seit langem die Tatsache, dass ein Individuum allein ein anderes Wesen darstellt als im Kreis anderer Menschen (vgl. Burnham 1910: 761). Der Begriff der Biografie fasst diese soziale »Menschwerdung« im Schoß einer sozialen Gruppe zusammen. Der Mensch ist von seiner Geburt an kein inhaltlich bestimmtes Wesen, sondern gezwungen, sein »Selbst« zu entwickeln und sozial zu erwerben. Die Notwendigkeit dieser Entwicklung und der Ausbil-
23 Taufriten sind ein Beispiel der sozialen Zuweisung einer Identität, die mit dem Eigennamen ihre sichtbare Form erhält. Der Eigenname bürgt zusammen mit der biologischen Individualität, deren soziales Äquivalent dieser darstellt, für die Einheit des Individuums, gleich welche soziale Rolle es ausfüllt (vgl. Bourdieu 1998: 78). 24 Der Begriff der sozialen Gruppe ist an dieser Stelle bedeutsam, da die Enkulturation und Sozialisation zum überwiegenden Teil in Familien oder anderen, abgrenzbaren Gruppen erfolgt. In der Soziologie ist der Gruppenbegriff überwiegend durch den Begriff des Netzwerks ersetzt, der eine solche Grenze nicht aufweist. Die soziale Gruppe bezeichnet dagegen den Spezialfall eines Netzwerks. Die soziale Gruppe ist ein involuiertes soziales Netzwerk, in dem eine sinnhaft konstruierte soziale Außengrenze zum zentralen Orientierungspunkt wird (vgl. Fuhse 2006: 245). 59
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dung einer Identität erfährt der Mensch durch die Mitglieder der ihn umgebenden Gruppe. Nur durch die Reaktionen der Gruppenmitglieder auf sein eigenes Handeln ist der Mensch in der Lage, einen Sinn für die Objektivität der eigenen Position zu entwickeln. Er entfaltet seine eigene Identität mimetisch, d. h. durch Nachahmen, Mimen und pantomimisches Darstellen der Handlungen der anderen Gruppenmitglieder (vgl. Bourdieu 1992: 104). Mimesis als Nachahmung durch Darstellung und durch Imitation (vgl. Wiesing 2005: 130) ist die Schlüsselkategorie in der Ausbildung einer Persönlichkeit. Kinder spielen häufig fremde Rollen, z. B. imitieren sie die Rollen ihrer Eltern. Durch diesen Perspektivwechsel erfahren sie zuvorderst die Objektivität ihres eigenen Ichs. Die Spiegelung ihres Verhaltens durch die Reaktion der Interaktionspartner auf ihr Handeln zeigt ihnen erst, wer sie »sind«. Keine andere Einflussgröße übt in der Sozialisation eine vergleichbare Funktion in der Persönlichkeitsbildung aus, wie diese Reaktion der Gruppenmitglieder auf mimetisches Handeln (vgl. Burnham 1910: 764). Die Identität des Individuums wird letztlich durch die zeitliche Abfolge von Zurechnungsakten konstituiert. Handlungen, die ein Individuum vollzieht, begründen in ihrer Aneinanderreihung die Persönlichkeit eines Menschen. Die als bemerkenswert erachteten Handlungen rechnet die Bezugsgruppe dem Individuum in ihrer chronologischen Abfolge als seine Vergangenheit zu und garantiert auf diese Weise die Konstanz der Identität. Die Zuordnung von Handeln und dessen Bewusstwerdung konstituiert damit die Identität des Individuums 25 (vgl. Hahn 1980: 56). Die Identität des Individuums ist in ihrer Entstehung eng gekoppelt an die unmittelbaren Reaktion der anderen auf die von ihm ausgeführten Handlungen. Der Identität ist als Gegenbegriff die Alterität zugeordnet, ohne die keine Identität möglich ist. Nur in dieser Auseinandersetzung mit der Identität der anderen ist die Bewusstwerdung der eigenen Objektivität möglich. Alterität als die Identität des Anderen, die als solche er-
25 Die Zuschreibungsregeln von Handlungen auf Individuen unterliegen kulturellen Differenzen. So existieren Jäger- und Sammlergesellschaften, in denen beispielsweise die Tötung eines Verwandten nicht als die Tat desjenigen interpretiert wird, der sie nachweislich begangen hat. Ist z. B. der Brudermord unbekannt, dann wird ein »Sündenbock« gesucht, der durch Zauber den tödlichen Pfeil umgelenkt haben muss. Die Identität der Gesellschaftsmitglieder bleibt so unangetastet und die Stabilität der sozialen Ordnung erfährt keine Krise, da bereits ein Individuum als gefährlich identifiziert ist. Die bestehende soziale Organisation (z. B. ohne Brudermord) muss folglich nicht mehr hinterfragt werden. »This is the classical function of the scapegoat, to attract and drain off in lightning-rod fashion the hostility which might otherwise be more accurately directed toward different targets« (Rinder 1958: 258). 60
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kannt wird und eine Reaktion erzwingt, ist deshalb der eigenen Identität zugeordnet. Identität ist ohne Alterität nicht existent. Zu den grundlegenden Eigenschaften von Kulturen zählen daher die Regeln des Umgangs mit Alterität und Identität. Jede Kultur hat im Laufe ihrer Evolution Kulturtechniken entwickelt, die den Umgang mit diesen beiden sozialen Kategorien regeln (vgl. Assmann 1996: 77). Als Beispiel für eine solche Kulturtechnik kann die Konstruktion des Fremden dienen, die die Gemeinschaft der eigenen Gruppe vor Augen führt und so den Zusammenhalt garantieren soll. Beispielsweise erfuhren Schwarzafrikaner zu Beginn des Kolonialzeitalters eine Stilisierung als »Natur«, die es zu zivilisieren galt, in scharfer Abgrenzung zu der eigenen Gruppe der europäischen Kolonialisten, die in ihrer Selbstbeschreibung ein »zivilisiertes, arbeitsames und feines Kulturvolk« waren. Die Alterität der Natur ermöglicht so erst die Identität der Kultur und ihrer Angehörigen und im Anschluss daran die »Zivilisierung« der Natur (vgl. Schubert 2003: 7273). Auf der Ebene des Individuums wie auf der Ebene der Gruppe vollzieht sich die Herausbildung von Identität immer im Kontext mit Alterität. Der Mensch benötigt den Anderen, um zu sagen, wer er ist in Abgrenzung zu dem, was er nicht ist. Das Symbol der Identität des Menschen ist sein Leib, der als »bewußtseinsfremder Tatbestand« (Hahn 1999: 63) zum Ausdrucks-mittel seiner Identität gerinnt. Der Leib des Menschen ist zwar der Träger des Ichs, er ist jedoch nur bedingt dem Willen des eigenen Bewusstseins unterworfen. Das Bewusstsein kann nicht alle Leibesfunktionen willentlich steuern. Der Leib steht externen medizinisch-physiologischen Gesetzmäßigkeiten nach und reagiert unabhängig vom Bewusstsein auf äußere Reize mit stereotypen Rückwirkungen. Diese Reaktionen unterliegen Naturgesetzen, jedoch nicht in jedem Fall dem Willen des Bewusstseins. Der Mensch kann sich u. U. in die Psyche eines Fremden hineinversetzen, niemals aber in seinen Körper. Der Leib als wieder erkennbares Ding in der Welt erfährt soziale Zuschreibungen, die ihn als unauslöschlichen Teil der Identität des Menschen festschreiben, ganz gleich wie fremd er dem Menschen selbst erscheinen mag (vgl. Hahn 1999: 68). Die Identität des Menschen macht sich folglich sowohl an der Reaktion der anderen auf eigene Handlungen als auch an der Erfahrung des eigenen Leibes als bewusstseinsfremdes Element fest. Die Auseinandersetzung mit der Alterität des Anderen erzwingt in ihrer Folge eine scharfe Grenzziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Identität gewinnt der Mensch aus der Identifizierung mit anderen seiner Gruppe, aus Abgrenzung zu der Alterität des Anderen und aus der Erfahrung der teilweisen Unbeherrschbarkeit des eigenen Leibes.
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Die Verschränkung der Eigenheit, die aus der Interaktion mit der eigenen Gruppe und ihre chronologischen Zurechnung von Handlungen auf Ego gewonnen wird, gebiert mit der Fremdheit der anderen die Identität des Ich. Sicherheit und Verfestigung erfährt sie durch den possessive individualism als Wertschätzung für die Freiheit und Autonomie des Individuums (vgl. Waldenfels 1997a: 75). Gerade dieser Individualismus, so scheint es, zersplittert erst die soziale Welt in Individuen, die zwischen ihrer eigenen Individualität und der der anderen Grenzen ziehen. Simmel sieht hier eine »undefinierbare Lebensbestimmtheit« (2000: 300) am Werk, eine soziale Tatsache, die auf ein nicht weiter ableitbares Verhalten oder einen Urtrieb zurückgeht, für den es in der nichtmenschlichen Natur kein Äquivalent zu geben scheint. Vor allem in komplexeren Sozialformen als der Sippe ist der Individualismus bereits früh nachzuweisen. Perkins zeigt anhand des mit einer scharf gezeichneten Figur des Achilles versehenen Brustharnischs eines epeirischen Offiziers um 250 v. Chr., dass bereits im hellenistischen Griechenland eine Spielart des Individualismus existierte. Der Brustharnisch hebt seinen Träger durch den Realismus der Darstellung aus der Masse der Soldaten heraus (vgl. Perkins 1885: 162) und zieht so eine scharfe Grenze zwischen seinem Träger und den anderen. Die »Autonomisierung des Selbst« (Habermas 1988: 190), d. h. die Selbstfindung des Individuums als adressierbares Subjekt in der sozialen Welt, vollzieht sich immer im Kontext von Abgrenzung und Mimesis gegenüber anderen Subjekten einer Gruppe. Der Begriff der Individuierung oder Individuation bezeichnet diesen komplexen Vorgang der Herstellung einer Identität als bewusste, von den anderen anerkannte Lebensführung. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass es zu einer Wiederholung der Individuation als bereits gefestigtes Subjekt kommen kann, indem es situativ gezwungen ist, eine Alternative zu der einstmals erworbenen Identität zu entwickeln. Hannah Arendt bezeichnet diesen Prozess der Individuierung einer bereits existierenden Identität als Natalität (vgl. 2002: 18). Auch die Natalität als Sonderfall der Individuation vollzieht sich nur in Abgrenzung zu der Alterität des Anderen und Fremden. Berühmtes Beispiel für ein Subjekt, das auf sich selbst zurückgeworfen wird und so gezwungen ist, seine Identität in einer Umgebung von Fremden neu zu definieren, ist der Marginal Man. Dieser findet sich zwischen zwei unterschiedlichen kulturellen Gruppen wieder. Der Marginal Man ist selbst ein Produkt der Bedingungen von Migration, die ihn zwingen, seine Persönlichkeit und ebenfalls seine Identität zu modifizieren (vgl. Park 1928: 887). Natalität ist der Begriff für den Willen, sich als Erwachsener neu zu definieren und als Antwort des Subjekts auf die Herausforderungen der Migration und des Exils konzipiert 62
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(vgl. Arendt 2002: 16). Die Identitätsbildungsprozesse der Individuierung respektive Individuation und Natalität sind folglich beide von den Bedingungen der sozialen Umwelt abhängig. Die Semantik der Identität als Antwort auf die Frage der Möglichkeitsbedingungen der sozialen Ordnung ist kein determiniertes Konzept. Identität variiert je nach ihren sozialen Bedingungen. Individuation als der Prozess ihrer Herausbildung kann für das gefestigte Subjekt in Form von Natalität unter bestimmten Rahmenbedingungen, z. B. einer erzwungenen Migration, wieder aktuell werden. Ulrich Beck bezieht sich in seinen Arbeiten zur Individualisierung in der modernen Gesellschaft auf diesen skizzierten Prozess der Individuation als die Herausbildung einer Identität des Individuums (vgl. 1986: 207). Individualisierung ist sowohl eine kontrovers diskutierte Gesellschaftsdiagnose als auch »ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozess der Vergesellschaftung« (Beck 1983: 42). Sie ist eng assoziiert mit der Moderne bzw. der Modernisierung der Gesellschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts. 26 Erst in der Moderne wird das Individuum in allen Bereichen seines Lebens personalisiert und ihm wird eine unverrückbare, wenn auch nicht unwandelbare Identität zugewiesen. Michel Foucault zeigt beispielhaft an der Entwicklung des Strafrechts im 18. Jahrhundert, wie dieses im Kontext der Strafe erstmalig auf das Subjekt und seine Identität zugreift und so das Individuum zuerst personalisiert. Diese Individualisierung des Strafrechts kollabiert in dem Moment, in dem das angeklagte Subjekt für die Rechtssprechung nicht zu identifizieren und somit zu adressieren ist. Das moderne europäische Strafrecht sieht für diesen Fall die Person des Pflichtverteidigers als stellvertretendes adressierbares Subjekt vor (vgl. Foucault 1978: 1-2). Die Juristerei individualisiert zunächst das angeklagte Subjekt und personalisiert es anschließend in der Figur des Kriminellen. Vor dem 18. Jahrhundert sah das Strafrecht Verbrechen und Subjekt in einem direkten unlösbaren Zusammenhang. Die verhängte Strafe war dementsprechend meist der Tod oder es erging ein Freispruch. Die neue Semantik des Kriminellen provoziert dagegen drei distinkte und bis dato nicht unterschiedene Antworten auf die Herausforderung durch die individuelle Devianz, die jetzt le-
26 Der großzügige zeitliche Rahmen, in den der Übergang von einer ständisch determinierten in eine durch und durch individualistische westliche Gesellschaft vonseiten der Individualisierungstheoretiker eingepasst ist, stößt in der empirischen Forschung auf Kritik. Die zeitliche Einordnung der Individualisierungsthese sei verschwommen und unklar und diese, von den Vertretern der These bewusst generierte Unklarheit, stehe wiederum ihrer empirischen Operationalisierung entgegen (vgl. Brannen/Nilsen 2005: 415-421). 63
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diglich als ein Teilaspekt und nicht mehr als der ganzen Person zu attribuieren konzipiert ist. Das Strafrecht kannte und kennt dennoch weiterhin die definitive Elimination durch den Tod oder der Inhaftierung in einer Institution wie dem Gefängnis oder der Anstalt. Mit der Personifizierung des Strafrechts tritt jedoch die befristete Elimination durch eine Inhaftierung unter gleichzeitiger Androhung der Verschärfung der Strafe bei Wiederholung der Tat sowie die partielle Elimination durch Sterilisation und Kastration hinzu (vgl. Foucault 1978: 12-13). Diese Individualisierung der Strafgerichtsbarkeit differenziert sich im Sinnzusammenhang der Modernisierung aus, die weiterhin durch die Entwicklung der Erwerbsarbeit, die Mechanisierung der Landwirtschaft und des Transportwesens, dem Zerfall der Standesherrschaft, der Entstehung von Industrietechniken usw. gekennzeichnet ist, und steht beispielhaft für eine jedwede gesellschaftlichen Teilsysteme betreffende Individualisierung. Die durch diese ökonomische Restrukturierung der Gesellschaft erzwungene Freisetzung der Individuen aus den ständischen Fesseln des Feudalismus ist als evolutionärer Fortschritt wiederum die Conditio sine qua non der modernen Individualität. Georg Simmel sieht bereits hier einen sich selbst verstärkenden Prozess am Werk, der die Individuen zu einer zunehmenden Individualisierung zwingt, um den sozioökonomischen Prozessen der Modernisierung folgen zu können (vgl. Simmel 1989: 403; 448). Die Freisetzung individueller Verhaltenserwartungen aus alternativlosen Strukturen, die mit der Individualisierung seit Beginn der Moderne verbunden ist, führt direkt zu ihrer triadischen Definition, die jene als die Summe der Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge, dem Verlust dieser traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen sowie einer neuen Art der sozialen Reintegration konzipiert (vgl. Beck 1986: 206). Der Begriff der Individualisierung umreißt mithin die Lebensbedingungen in der modernen Gesellschaft, die sich in einem Rahmen bewegen, der von Wohlstandssteigerung, Mobilität und Bildungsexpansion aufgespannt wird. In kulturpessimistischerer Lesart ist mit diesem individuellen Freiheitsgewinn in der Moderne eng die Auflösung von Gemeinschaftswerten und ein exzessiver Narzissmus verknüpft. Individualisierung ist keine soziologische Theorie. Sie ist vielmehr eine Bezeichnung für einen gesellschaftlichen Evolutionsprozess und eine Diagnose des Sozialen. Ihre Abgrenzung ist nicht immer einfach. Individualisierung in der modernen Gesellschaft zeigt sich im Gewand einer anthropologischen Konstante. Jeder hat unzählbare Möglichkeiten in der Gestaltung seiner Biografie und wird zwangsläufig durch die Strukturen der Gesell64
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schaft individualisiert. Diese Eindeutigkeit an erweiterten Möglichkeiten macht die Diagnose der Individualisierung quasi unwiderlegbar. Es fehlt ein Gegenbegriff, der eine zweifelsfreie Zuordnung von sozialen Prozessen zur Individualisierung ermöglichen würde. Die Soziologie registriert diesen Mangel bereits seit langem. Soziologische Arbeiten haben es aber bis dato versäumt, einen solchen Begriff anzubieten. Schon Georg Simmel konstatierte: »Was wir nämlich als Freiheit empfinden, ist tatsächlich nur ein Wechsel der Verpflichtungen; indem sich an die Stelle der bisher getragenen eine neue schiebt, empfinden wir vor allen Dingen den Fortfall jenes alten Druckes« (1989: 375). Einen Gegenbegriff zur Individualisierung schlägt der Soziologe Karl-Otto Hondrich mit dem Konzept der Rückbindung vor, das kollektive Strukturen bezeichnet, die eine autonome Wahl einschränken, aber durch frei gewählte individuelle Handlungen entstanden sind (vgl. Hondrich 2004: 37-38). Dieser Begriff bleibt jedoch, wie der Autor selbst einräumt, eine Verlegenheitslösung. Auch die Beobachtung von Hans-Georg Gadamer, dass der Alltag individualisierend wirkt, während das Fest Gemeinsamkeit ist und ihre gleichzeitige Darstellung in vollendeter Form, führt letztlich nicht zu einem tauglichen Gegenbegriff von Individualisierung (vgl. Gadamer 1977: 52-53). Das Fest als ritualisierte Gemeinsamkeit ist ein denkbarer Gegenbegriff zu Alltag, nicht aber zu den Implikationen, die aus jenem folgen. Die Diagnose der Individualisierung verbleibt auf der Ebene einer reinen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. Die Individualisierungsthese bietet ausschließlich Generalisierungen über die Formen des sozialen Wandels primär in der westlichen Gesellschaft im Angesicht einer fortschreitenden Modernisierung, die zusehends eingespielte Sozialbezüge wie Familie, Partnerschaft oder Karriere herausfordert. Im wissenschaftlichen Diskurs erscheint dieser Prozess bisweilen als soweit akzeptiert, dass seine empirische Kontrolle bzw. Operationalisierung mithilfe entsprechender Konzeptionalisierungen als redundant gedeutet wird. Das paradoxe Ergebnis dieser Akzeptanz ist eine theoretische Generalisierung über die individuellen Fälle hinweg, anstatt eine Unterscheidung von Differenzen zwischen den Individuen vorzunehmen (vgl. Brannen/Nilsen 2005: 413). Die Individualisierungsthese, will sie mehr sein als das reine Synonym für die Optionsvielfalt des Handelns in der modernen Gesellschaft, greift damit zwangsläufig wieder auf induktiv gebildete Kategorien wie den Lebensstil zurück. Trotz dieser skizzierten begrifflichen Unbestimmtheit lassen sich vier verschiedene Kategorien der Individualisierungssemantik ableiten. Der Begriff der Individualisierung bezieht sich erstens auf ein autonom handelndes Subjekt als Schöpfer seines eigenen Lebens. Er reflektiert 65
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zweitens den Anstieg der Entscheidungszwänge, die dem Akteur in seinem selbstbestimmten Leben abverlangt werden. Der Begriff repräsentiert drittens die Pluralität der Lebenskonzepte und bildet viertens die Schlüsselkategorie der Selbstbeschreibung der westlichen Welt in Abgrenzung zu den als stärker mit Traditionen behaftet und weniger individualisiert beobachteten Residuen der globalisierten Welt 27 (vgl. Nassehi 2002: 124). Die mit Beginn der Moderne einsetzende Ausdifferenzierung der verschiedenen Teilbereiche oder Felder der Gesellschaft (vgl. Bourdieu 1993: 107-114) führt in ihrer Folge zu einer Differenzierung des Individuums in Segmente, die für die jeweiligen Teilbereiche eine Bedeutung aufweisen. Aus der Perspektive des Individuums müssen die verschiedenen Segmente von ihm selbst zu einer Identität und Persönlichkeit koordiniert werden. Nicht nur die Gesellschaft differenziert sich in funktionsspezifische Teilbereiche, wie das Recht, die Wirtschaft, die Politik, die Religion, den Sport usw., sondern die Akteure erfahren parallel eine Segmentierung in unterschiedlich spezialisierte Dividuen. Es entsteht in ihrer Folge eine Differenz zwischen der unverwechselbaren Individualität und der segmentär-spezialisierten »Dividualität«, deren Veränderung der Prozess ist, den die Sozialwissenschaft mit der Semantik der Individualisierung veranschaulicht (vgl. Nassehi 2002: 128). Ulrich Beck differenziert den dargelegten Prozess der Individualisierung vertikal in zwei sich unterscheidende Dimensionen. Die Konsequenzen aus diesen den Individuen auferlegten Entscheidungszwängen, die sich aus der Koordination der unterschiedlichen Anforderungen der gesellschaftlichen Teilsysteme ergeben, bezeichnet er als objektive Lebenslage. Die objektive Lebenslage ist die Konsequenz aus den getroffenen oder nicht getroffenen Entscheidungen, die sich z. B. im Familienstatus, Wohnort, Einkommen oder in der Stellung am Arbeitsmarkt ausdrücken (vgl. Beck 1986: 206). Den eingangs skizzierten Prozess der Individuierung bzw. Individuation, d. h. die Personwerdung, die Einma-
27 Die Gesellschaftsdiagnose der Individualisierung stößt in den als traditionell beobachteten Gesellschaften jedoch häufig auf unüberwindbare Hindernisse. Stephen Wickler verdeutlicht dies anhand der stratifiziertdifferenzierten Gesellschaftsordnung von Palau, einem Inselstaat im Südpazifik. In Palau ist jede soziale Position in einem definierten Netzwerk von Hierarchien verortet. Diese Stratifizierung reicht in sämtliche Lebensbereiche hinein und ist resistent gegen Veränderungen. Beispielsweise ist die räumlich Lage von Häusern im Dorf streng nach der sozialen Position des Hausbesitzers geordnet (vgl. Wickler 2002: 39-42). Die festgefügte Hierarchie der sozialen Positionen in Palau und ihre Objektivierung als Wohnstandort erlaubt so keine Individualisierung ihrer Mitglieder (zu dem diffusen Verhältnis von Tradition und Modernität vgl. Gusfield 1967: 352357). 66
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ligkeit des Subjekts, Emanzipation von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Herstellung einer Identität charakterisiert Beck als subjektives Bewusstsein bzw. subjektiv bewusste Seite der Individualisierung (vgl. Beck 1986: 206). Die Individualisierung als Differenzierungsprozess in der Moderne setzt sich aus den objektiven, strukturellen sozialen Rahmenbedingungen und dem subjektzentrierten Entscheidungszwang bezüglich der eigenen Identität zusammen. Entscheidend an dieser Stelle ist die Unterscheidung von Individuation und Individualisierung. Individuation bzw. Individuierung ist ein Teilaspekt des modernen Individualisierungsprozesses und nicht sein Synonym. Auf die Bedeutung dieser Unterscheidung macht Jürgen Habermas aufmerksam, wenn er betont, dass eine Gleichsetzung lediglich die Vereinzelung des »freigesetzten Subjekts« (1988: 233) bedeuten würde, diese aber an dem eigentlichen Gegenstand des Begriffs vorbei ziele. Die subjektiv bewusste Seite der Individualisierung ist für die Beschreibung eines bestimmenden Charakterzugs der städtischen Soziabilität wesentlich. Die soziale Dichte in der Stadt bildet den Kulminationspunkt des skizzierten Prozesses der Individuierung als »Selbstrealisierung des Einzelnen« (Habermas 1988: 190) in der modernen Gesellschaft. Erst durch die Erweiterung und Überschneidung der sozialen Kreise sowie der individuellen Funktionsbereiche der sich fremden Individuen entstehen die Wahlmöglichkeiten und Optionen, die eine Individuierung institutionell bedingen (vgl. Simmel 1992: 456-511). In der Stadt ist das Individuum unablässig mit der Alterität des Anderen konfrontiert und somit auf seine eigene Identität zurückgeworfen. Die soziale Dichte der Stadt zwingt das Individuum zu einer beständigen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, die durch die omnipräsente Alterität herausgefordert wird. Der Individualismus ist die äußere Form der Verarbeitung dieser permanenten Herausforderung der eigenen Identität im Bewusstsein der Subjekte. Georg Simmel spricht an dieser Stelle davon, dass die Stadt eine geistige »Individualisierung seelischer Eigenschaften« (1903: 202) generiert und zielt damit implizit auf den Tatbestand der subjektiv bewussten Dimension des Individualisierungsprozesses nach Ulrich Beck. 28 Eine Form der in der Stadt anzutreffenden Objektivierung dieser kontinuierlichen innerlichen Aushandlung der eigenen Identität ist die Extravaganz als der Versuch einer bewussten Ab28 Auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Individualisierungsthesen von Ulrich Beck und Georg Simmel macht Markus Schroer aufmerksam. Dieser sieht die Arbeiten von Beck in der direkter Tradition des Simmelschen Denkens und skizziert sie als lineare Weiterentwicklung der Arbeiten zu Individualisierung und Individualismus des Berliner Philosophen (vgl. Schroer 2000: 15-16). 67
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lehnung der Kontingenz der eigenen Gestalt. Die Extravaganz ist dem Kampf des Individuums um Sichtbarkeit und Wiedererkennbarkeit geschuldet (vgl. Simmel 1903: 202). Sie entsteht in der Auseinandersetzung mit der Alterität der anderen und soll der eigenen Identität Stabilität verleihen. Die Tätowierung ist ein Beispiel für eine Spielart der Extravaganz. Sie ist eine extrem individuelle Form des Schmuckes und steht so dem eigentlichen Körperschmuck entgegen, der seine Eleganz und Wirkung besonders aus seinem unindividuellen Moment zieht (vgl. Simmel 1992: 417). Die Tätowierung subjektiviert das Individuum durch die mit ihr verbundene bewusste Entscheidung für eine Objektivierung. Der Leib erfährt eine willentliche und dauerhafte Veränderung. Die Zufälligkeit der eigenen Gestalt und die Alterität des Selbst wird somit nivelliert. Die Psychologie hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass in westlichen Gesellschaften Individualität als soziale Forderung an das Individuum interpretiert wird und sie somit Selbstbestimmung, Autonomie und Selbstrealisierung bedingt (vgl. Keller/Lamm 2005: 239). Die unentwegte Reibung am Gegenüber, der das Individuum in der modernen Stadt unterworfen ist, zwingt es zum einen zu einer ständigen Bestimmung der eigenen Identität. Sie eröffnet zum anderen eine in der Vormoderne unbekannte Vielfalt an Optionen. Die stratifiziert-differenzierte Gesellschaft generierte in der Vormoderne zunächst spezielle Identitäten, die zugleich beständig und in ihren Möglichkeiten höchst beschränkt waren. Die Semantiken des Bastards, des Waisen oder der Witwe verweisen auf diese außergewöhnlich stabilen Identitäten. Die sozial differenzierte moderne Gesellschaft adsorbiert diese Identitäten in einer Form von routinierter Individualität, die sie jedem Individuum zuweist (vgl. Frank/Meyer 2002: 100). Es besteht in der modernen Gesellschaft ein rekursiver Steigerungszusammenhang zwischen der sozialen Differenzierung und der Individualisierung. Überkommene Identitäten wie der Bastard lösen sich in einer Gesellschaftsform auf, die die soziale Positionierung von Menschen und Gruppen aus ihrer Strukturiertheit entlässt und infolgedessen Formen der Positionierung zweiter Ordnung ausbilden muss, wie die Extravaganz eine solche darstellt. Die Stadt in der Moderne ist der physische Ort höchster sozialer Dichte. Die Überschaubarkeit der Sippe und der traditionalen Lebensweisen löst sich auf und macht einem unüberschaubaren Kollektiv von sich unbekannten »Personen« Platz, die in einem anhaltenden Wettbewerb um Sichtbarkeit stehen. Die Urbanität wurzelt in dieser ewigen Herausforderung des Ichs durch die Interaktion mit dem Anderen. Die Menschen in der Stadt sind hochgradig aufeinander angewiesen, als Person sind sie jedoch völlig unwichtig füreinander geworden. Die Urbaniten wissen und erfahren nicht mehr, mit wem oder über wen sie verkeh68
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ren oder handeln. Es erfolgt auf diese Weise eine sukzessive Enttraditionalisierung von Traditionen, die zuerst in der frühmodernen Stadt zu beobachten war und heute zu einem integralen Bestandteil der modernen Gesellschaft geworden ist. Einen sichtbaren Ausdruck findet diese Atomisierung der Gesellschaftsmitglieder in der Tendenz zum Alleinleben in europäischen Großstädten, 29 in denen Einpersonenhaushalte meist mehr als die Hälfte aller Haushalte stellen. Unabdingbare Voraussetzung dieser Pluralisierung der Haushalts- und Lebensformen ist die dichte Siedlungsform der Stadt. Die skizzierte Ausdifferenzierung der Gesellschaft benötigt die Stadt als ihren notwendigen Ort. Nicholas David und David Voas demonstrieren dies exemplarisch anhand der Fulani, einer Ethnie, die im Norden Kameruns zum Teil pastoralnomadisch und zum Teil sesshaft in kleineren Ortschaften lebt. Die sesshaften Fulani verfolgen eine Strategie zur ökonomischen Absicherung, die auf die Errichtung eines größtmöglichen sozioökonomischen Netzwerks eines jeden Individuums zielt. Im Zusammenspiel mit der sich ergebenden verstärkten Interaktion zwischen den Bewohnern in den jeweiligen Ortschaften kommt es nachfolgend zu einer unintendierten Instabilität des tradierten Familiensystems und in der Folge zu Geburtenrückgang und einer Ausdifferenzierung der Lebensformen. Beide Prozesse sind unter den pastoralnomadisch lebenden Fulani nicht zu beobachten (vgl. David/Voas 1981: 655). Das Aufgreifen von Alternativen zur traditionellen Lebensgestaltung findet erst in der dauerhaft bewohnten Siedlung mit ihrer Interaktionsdichte ihren notwendigen Ort. Die soziale Dichte in der Stadt fordert die eigene Identität der Individuen andauernd durch die omnipräsente Alterität der anderen heraus. Georg Simmel zeigte bereits vor mehr als 100 Jahren, dass diese Situation das Subjekt zu einer Herausbildung eines Individualismus zwingt, der als eine Reaktion des Individuums auf die von Ulrich Beck so genannte subjektiv bewusste Seite der Individualisierung verständlich wird. Es ist diese besondere Form der Individuierung als Herausforderung der eigenen Identität durch die Alterität der anderen, die Ilse 29 Eine Gleichsetzung von Individualisierung mit dem Anteil an Einpersonenhaushalten in der Stadt als ihr quasi natürliches modernes Widerlager ist in dieser Schlichtheit nicht möglich. John Gulick weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in Indien kein signifikanter Stadt/LandUnterschied bezüglich der Zahl der Haushaltsmitglieder existiert. In Indien ist somit keine an der reinen Anzahl an Einpersonenhaushalten ablesbare Individualisierung in Großstädten festzustellen (vgl. Gulick 1973: 1004). Dennoch erfahren die Städter auch in Indien dieselbe Herausforderung der eigenen Identität durch die omnipräsente Alterität der Anderen und die so erzwungene Individuierung als Individuum unabhängig von der Anzahl der Mitglieder ihres Haushalts. 69
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Helbrecht als klassische Spielart der Urbanität bezeichnet, in Form der »Stadt als Ort der Individualisierung« (2001b: 109). Die zweite Säule der Urbanität lässt sich folglich in Form der Stadt als Ort für die Oszillation zwischen eigener und fremder Identität kennzeichnen, die in ihrer Folge zu einer subjektiv bewussten Individualisierung und zu Individualismus führt. Nur aufgrund der sozialen Dichte in der Stadt waren erstmals diejenigen Prozesse möglich, die heute mit der Semantik der Individualisierung zusammengefasst werden. Die Stadt konfrontiert ihre Bewohner unablässig mit der Existenz des Anderen, der notwendigerweise als ein bestimmter Fremder erscheint. Diese dauernde Auseinandersetzung mit Alterität generiert in ihrer Folge die Alternativen in der Lebensgestaltung, die für die Städte charakteristisch sind. Die subjektiv bewusste Individualisierung findet mit der Stadt und ihrer sozialen Dichte ihren notwendigen Ort. Urbanität ruht auf diesen so entstehenden Möglichkeiten der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensformen, die letztlich durch die bestimmte strukturelle Fremdheit der Städter erzeugt werden.
Urbanität als Kontingenz Der Begriff der Urbanität fasst den formalen Umgang mit der bestimmten strukturellen Fremdheit der Urbaniten und die besondere Form der Individuierung als Herausforderung der eigenen Identität durch die Alterität der anderen in einem Begriff zusammen. Urbanität beruht auf dieser subjektiv bewussten Individualisierung und dem resultierenden Individualismus sowie der damit verbundenen Ausdifferenzierung der Lebensstile und -formen. Sie basiert darüber hinaus auf dem »Diversitätsgenerator« (Waldenfels 1998: 255) Fremdheit und ihrem okkasionellen Charakter an städtischen Orten. Beide Ausgangspunkte städtischer Lebensformen, Fremdheit und Individualisierung, sind Strukturvariablen, 30 aus deren Auftreten sich eine strukturelle Unbestimmtheit ableitet, die den dritten definitorischen Pfeiler der Urbanität bildet. Diese endogene strukturelle Schattenhaftigkeit, die aus den Bedingungen der sozialen Dichte der Stadt entsteht, fasst der Begriff der Kontingenz zusammen. Der Begriff schränkt sie gleichzeitig in einem Maße ein, dass diese Form der Unbestimmtheit in die Definition der Urbanität einfließen kann.
30 Eine Strukturvariabel definiert allgemein eine Beziehung zwischen Individuen, die auf den Effekten basiert, die das Verhalten der einen Person auf das Verhalten der anderen Person zeigt (vgl. Molm 1980: 269). 70
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Kontingenz ist keinesfalls gleichzusetzen mit den allgemeineren Begriffen der Unbestimmtheit, Unsicherheit oder Unvorhersagbarkeit. Kontingenz ist keine natürliche, unabhängig von dem sozialisierten Menschen gegebene Tatsache oder eine anthropologische Konstante, sondern vielmehr ein historisch hoch variables Produkt der Selbstreflexion einer Gesellschaft. Im Unterschied zur reinen Unbestimmtheit bezeichnet Kontingenz »jenen Bereich begrenzter, also signifikanter Unbestimmtheit, in dem sich das Auch-anders-sein-Können als wirkliche Alternative manifestiert und so allererst einen Handlungsraum eröffnet« (Makropoulos 1998: 23). Dieser zu jeder Zeit real existierende Handlungsraum ist nicht homogen, sondern es existieren eine Vielzahl von Handlungsräumen und damit einhergehend verschiedene Kontingenzen. Grundlagen von Typisierungen und Abgrenzungen der gegebenen Kontingenzräume sind viele denkbar, im Sinnzusammenhang der Entwicklung einer Definition von Urbanität auf Basis einer bestimmten strukturellen Fremdheit und subjektiv bewusster Individualisierung ist jedoch die Unterscheidung von Risiko und Gefahr zentral. Die historische Unterscheidung von Risiken und Gefahren ist bedeutsam, da sie die Menschen erstmals für das Vorhandensein von Kontingenz sensibilisierte und diese gleichzeitig erfahrbar werden ließ. Die Unterscheidung weist in der modernen Gesellschaft weiterhin ihre Berechtigung auf. Das Zusammenleben in der Stadt beruht auf loser Soziabilität und die Stabilität ihres Sozialkörpers rührt maßgeblich von ihrer Besonderheit der Verknüpfung verschiedener Instabilitäten her, wie das Risiko des in ihr omnipräsenten Fremdkontakts eine solche darstellt. Auf der Basis der Unterscheidung von Risiko und Gefahr lässt sich daher eine Typisierung von Kontingenz als Abgrenzung ihrer verschiedenen Ausprägungen vornehmen. Der Begriff des Risikos ist zunächst definiert als eine Bedrohung, der man sich absichtlich und im vollen Bewusstsein dieser Bedrohung aussetzt. Risiko ist sozial konstruiert und kann einem sozialen Akteur zugerechnet werden, da dieser theoretisch die Bedrohung abwenden oder vermeiden würde, wenn er auf bestimmte Handlungen verzichtete. Risiken sind somit potenzielle zukünftige Schäden, die aus den eigenen Entscheidungen resultieren. Im Unterschied zu der Selbstzuschreibung des Risikos steht die Gefahr, als eine der Umwelt zurechenbare Bedrohung. Gefahren erscheinen als nicht zu kontrollieren, nicht zu vermeiden und nicht durch eigene Aktionen zu steuern. Im Gegensatz zu Risiken sind Gefahren definiert als von außen eintretende, unvorhergesehene Schäden. Risiken sind entscheidungsabhängig, während Gefahren durch ihre Entscheidungsunabhängigkeit gekennzeichnet sind (vgl. Luhmann 1991a). Der Begriff des Risikos erlangt im Verhältnis zum Begriff der 71
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Gefahr eine Eigenständigkeit. Risiko resultiert nicht länger aus dem Vorhandensein einer Gefahr oder ist unabwendbar auf diese verwiesen. Risiko entsteht vielmehr daraus, dass abstrakte Daten oder Faktoren, die Wahrscheinlichkeiten von unerwünschten Ereignissen bedingen, wechselseitig korrelieren oder in Hinblick auf eine gewünschte Zukunft in Beziehung gebracht werden können (Castel 1983: 59). Der Ausgangspunkt der Risikosemantik liegt in dieser damit benannten Relation des sozialen Rationalitätsanspruchs gegenüber der Zeit. Im Sinnzusammenhang des Risikos sind Entscheidungen zentral, mit denen man Zeit bindet, ohne die Zukunft hinreichend genau zu kennen. Dies gilt gleichfalls für die Zukunft, die aus der eigenen Entscheidung resultiert. Die frühe Neuzeit kennzeichnet den Beginn dieser Vorstellung einer Steigerung der Machbarkeit der Verhältnisse, die in der Risikosemantik zum Ausdruck kommt (Luhmann 1991a: 21). Der Begriff des Risikos findet wahrscheinlich zunächst im ausgehenden 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit Seeversicherungsgeschäften Verwendung. Risiko ist ein Lehnwort aus dem Italienischen, wo es seit dem 14. Jahrhundert im Seeversicherungswesen in Gebrauch ist und sich von dort aus im 15. Jahrhundert sukzessiv im Mittelmeerraum verbreitet (vgl. Hahn 1998b: 49). Die sozialwissenschaftliche Erforschung von Risiken weist keine integrierende Theorie auf, sondern zeigt sich als ein Mosaik verschiedener Ansätze, die aus unterschiedlichen Themenkontexten stammen. Dennoch lässt sich als eine Kernfrage der momentanen Forschung auf diesem Feld der Vergleich zwischen den Strukturen humaner Risiken durch den technischen Fortschritt und natürlicher Gefahren durch Naturkatastrophen erkennen. Naturkatastrophen weisen eine differenzierte Struktur in ihrem Ablauf auf. Sie beginnen plötzlich, führen unmittelbar zu Chaos und im Anschluss zu einer Rekonstituierung der natürlichen Ordnung. Ihre Endphase kennzeichnet ein sich neu einstellendes Gleichgewicht der Ordnung. Technische Katastrophen sind im Gegensatz dazu weit weniger linear. Weder ist der Beginn eindeutig festzulegen, noch ist das Ende klar bestimmt, z. B. durch ein neu ausgebildetes Gleichgewicht in der sozialen Ordnung (vgl. Clarke/Short 1993: 377). Entscheidend für die sozialwissenschaftliche Risikoforschung sind die Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, ihrer gebauten, technisch modifizierten oder biophysischen Umwelt sowie die retrospektiven Interpretationen der Katastrophen und Erfahrungen bezüglich der Wandlungen ihrer Umwelt. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die soziale Konstruktion von Risiken in der Gesellschaft. Im Focus des wissenschaftlichen Interesses steht hier der strategische Einsatz von Grenzen durch soziale Akteure, um sich von dem als gefährlich Erkannten und damit riskanten abzusetzen (vgl. Clarke/Short 1993: 379). 72
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Kontingenz ist in ihrer Existenz in direkter Linie abhängig von der skizzierten Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Soziale Akteure suchen Risiken, da es sich in dieser Bewusstheit um ein gewinnträchtiges Sich-Einlassen mit der Bedrohung des Ungewissen handelt. Nur durch die Potenzialität des Scheiterns, des Sterbens usw. entsteht Kontingenz, die augenblicklich verschwinden würde, wäre alles vorherzusehen und jede Eventualität damit kontrolliert. Aus dem reinen Sich-Einlassen mit dem Unbestimmten und Riskanten wäre somit kein Profit mehr zu erzielen. Berühmte Beispiele für die Erzielung von Gewinnen durch ein Inkaufnehmen von Risiken sind die »Entdeckungsfahrten« der Venezier oder des Genuesen Christoph Kolumbus Ende des 15. Jahrhunderts, die »für jeden Gewinn bringenden Handel« (Kolumbus 2000: 29) aller involvierten Akteure erlaubten. Kolumbus konnte durch sein Riskieren zum einen Geldgeber gewinnen und zum anderen Profite für sich und andere erzielen, die ihn bis zum Vizekönig Spaniens aufstiegen ließen. Kolumbus erstmalige Inkaufnahme der Kontingenz des Unvorhersehbaren transformierte letztlich den Atlantischen Ozean von einer Grenze in eine Straße oder zumindest in einen Verkehrsweg. Die durchgängig rationale Behandlung von Risiken ermöglicht im 17. Jahrhundert schließlich die Entdeckung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Von diesem Zeitpunkt an war es fortan möglich, aus der Verknüpfung von Zufälligkeiten Theorien über das notwendige Entscheiden zu generieren. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung trennt zum ersten Mal in der Geschichte die Sicherheit des Entscheidens von der Unvorhersehbarkeit bestimmter, mit dem Entscheiden in Beziehung stehender Ereignisse (vgl. Hahn 1998b: 50). Eine Grundlage moderner Gesellschaftstheoreme ist die Annahme des Kontingenzwachstums durch die Erweiterung der technischen und kommunikativen Möglichkeiten. In der modernen Gesellschaft stellt daher die Eindämmung von Schäden durch die Berechenbarkeit zukünftiger Ereignisse eine der größten Herausforderungen dar. Organisationen sind dabei in ihrer Existenz und in ihrem Erfolg in besonderem Maße von dem Gelingen dieser Kontingenzeindämmung abhängig. Organisationen zeigen sich hoch differenziert und in ihrer Aufgabenverteilung stark spezialisiert. Flexibilität und Abweichungen von Normen bedürfen der Regelung, damit die Entscheidungsspielräume für einen jeden Akteur festgelegt sind. Dennoch sind Organisationen wie die meisten sozialen Systeme Arenen, in denen neben den Zielen der Gesamtorganisation ebenfalls Interessen und Leidenschaften der beteiligten Akteure involviert sind. Aus diesem Grund sind Organisationen in der modernen Gesellschaft eine beständige Quelle von Risiken (vgl. Clarke/Short 1993: 392). Als ein Beispiel für Risiken mit fatalen Folgen aufgrund der inter73
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nen Komplexität von Organisationen kann der Abschuss des iranischen Verkehrsflugzeuges Iran Air #655 durch das amerikanische Kriegsschiff USS Vincennes während des Iran-Irak Krieges dienen, den eine Kette von Strukturschwächen in der Informationsübermittlung und Entscheidungsstruktur in der amerikanischen Militärorganisation verursachte (vgl. Clarke/Short 1993: 390-392). Lange Informationswege und eine Vielzahl an beteiligten Akteuren gebären folglich ein großes Maß an Kontingenz in Form des Risikos falscher und u. U. fataler Entscheidungen. Eine zweite interne Quelle von Risiken in Organisationen liegt in dem Dilemma, dass diese bzw. ihr Erfolg häufig auf der Vorhersagbarkeit von Ereignissen basieren. So hängt beispielsweise der Wert eines Handelsunternehmens an der wechselvollen Nachfrage für seine Produkte. Risiken und Gefahren bezeichnen hingegen per definitionem ein gewisses, niemals zur Gänze auszuschließendes Maß an Unvorhersagbarkeit. Eine häufige Bewältigungsstrategie dieser organisationsinternen Unsicherheit ist ihrerseits wieder eine Quelle für Risiken. Frances Millikin und William Starbuck entwickeln in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Challenger-Katastrophe vom 28. Januar 1986 die These, dass Organisationen zur Eindämmung ihrer internen entscheidungsabhängigen Kontingenz ihre Planungen nach dem Erfolg in der Vergangenheit ausrichten. Interne Organisationsabläufe werden nicht neu entschieden, wenn diese in der Vergangenheit ohne Fehler funktionierten. Es erfolgen lediglich Feinabstimmungen, um den erwarteten Erfolg zu optimieren (vgl. Milliken/Starbuck 1988: 319). Akteure neigen zur Beibehaltung dieser Strategie der Kontingenzeindämmung bis zu dem Punkt, an dem ein Konflikt oder Ereignis die Kosten dieser Strategie der Feinabstimmung am bestehenden System explodieren lassen. Erst an diesem Umschlagpunkt, meist durch ein katastrophales Ereignis 31 bestimmt, erfolgt eine radikale Umorientierung und der Entscheidungsprozess beginnt von neuem, wenn sich die neue Strategie als hinreichend planbar für erwarteten Erfolg erweist (vgl. Milliken/Starbuck 1988: 337). Akteure kalkulieren ihre Entscheidungen nicht mehr direkt, sondern substituieren sie durch das Mantra des »weiter so«, bis ein Ereignis eine radikale Neuorientierung erzwingt. Milliken/Starbuck verdeutlichen dies durch die Metapher des Frosches in heißem Wasser. »A frog dropped into a pot of cold water will remain there calmly while
31 Ein katastrophales Ereignis oder eine Katastrophe ist in der hier bemühten technischen Risikoforschung definiert als »a process/event involving the combination of a potentially destructive agent(s) from the natural and/or technological environment and a population in a socially and technologically produced condition of vulnerability« (Oliver-Smith 1996: 303). 74
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the water is gradually heated to a boil, but a frog dropped into hot water will leap out instantaneously« (Milliken/Starbuck 1988: 337). Eine von der organisationsinternen Kontingenzeindämmung verschiedene Methode zur Beherrschung unbeherrschbarer Risiken ist die Anwendung rekursiver Verfahren. Sie sind immer in dem Fall von Bedeutung, wenn die Vergangenheit als gemeinsamer Referenzrahmen von Akteuren nicht zur Verfügung steht. Die Erfordernisse der Stadt richten das Handeln der Urbaniten direkt nach der Zeit aus. Die Menschen haben in ihr die Erfahrung des Gegenwärtigen und die Erwartung zukünftiger Erfahrungen gemeinsam. Der Ort als Träger spezieller Erinnerungen, Kulturen oder Identitäten ordnet sich der Zeit unter (vgl. Meyer 1951: 480). Die sich gegenseitig fremden Akteure teilen nur die Erwartung an die Zukunft, nicht jedoch zwangsläufig die Vergangenheit an einem gemeinsamen Ort. Verfahren zur Kontingenzeindämmung, die auf die Vergangenheit Bezug nehmen, wie die Ausrichtung der Gegenwart an vergangenen erfolgreichen Strategien, sind hier untauglich. Städter neigen eher zur Anwendung rekursiver Verfahren. Hierbei wird das Ergebnis einer Operation zum Ausgangspunkt einer folgenden identischen Operation, deren Ergebnis wiederum Ausgangswert der folgenden Operation ist usw. Rekursive Verfahren sind eine alte Kulturtechnik zur Sicherstellung erwünschter Ergebnisse und bereits seit vormodernen Zeiten bekannt. Die dem rekursiven Verfahren zugrunde liegende Logik lässt sich durch ein einfaches Beispiel aus der Mathematik veranschaulichen. So ist das Ergebnis einer beliebigen natürlichen Ausgangszahl immer eins für den Fall, dass aus dieser beliebigen Zahl die Quadratwurzel gezogen wird und aus diesem Ergebnis wiederum die Wurzel gezogen wird usw. Die Operation ist in diesem Fall das Wurzelziehen. Das Ergebnis nähert sich zwangsläufig der Zahl eins an. Das rekursive Verfahren des Wurzelziehens überführt die Kontingenz der Ausgangszahl in ein inkontingentes Ergebnis. Das Resultat des rekursiven Verfahrens ersetzt in diesem Beispiel die Kontingenz und überführt sie in eine Konstruktion der jeweiligen Operation (vgl. Hahn 1998b: 51). Rituale sind in diesem Sinne rekursive Verfahren, die mittels einer oder mehrerer Operationen versuchen, kontingente Ereignisse oder erwartete Ereignisse in inkontingente Ergebnisse zu überführen. Ein Beispiel für ein solches rekursives Ritual ist das masu sema (Kettengebet) auf der Insel Fiji im Südpazifik. Die Wiederholung der immergleichen Gebete dient hier der Minimierung von Gefahren für die Gesellschaft, die von den Ahnen ausgehen. Sie dämmen zum einen die Macht der potentiell gefährlichen Ahnen ein und gewährleisten zum anderen Gottes Hilfe für die sich selbst als machtlos stilisierenden Lebenden. Das masu sema lässt die Gefährlichkeit der Ahnen als entscheidungsabhängig zu75
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rück. Die Rekursivität des Rituals schärft die Sinne der Menschen für die Risiken, denen sie sich ausgesetzt sehen und minimiert diese gleichzeitig durch die routinisierte Wiederholung der immergleichen Handlungen, die die Gefährlichkeit der Ahnen in eine entscheidungsabhängige Bedrohung überführt (vgl. Tomlinson 2004: 6; 13). Die frühe Entstehung von Städten an Marktorten ist an solche Rituale gekoppelt. Die Freiheit der Tauschakte unter den Marktteilnehmern war durch eine Anzahl von Sicherheitsmaßregeln beschränkt, die die vorherrschende Wirtschaftorganisation der Gemeinschaft vor Einmischungen Dritter schützen sollte. Die weitgehende Gewaltlosigkeit auf frühen städtischen Märkten wurde durch Rituale zum Schutz der bestehenden Ordnung gesichert (vgl. Polanyi 1978: 93-95). Die Kontingenzminimierung durch das rekursive Verfahren des Rituals steht am Beginn der Stadt als Ort der Siedlung und des Austausches von Fremden. Die Unterscheidung von Risiko und Gefahr ruht auf der Entscheidungsabhängigkeit und folglich ebenfalls auf institutionalisierten Formen der Kontingenzeindämmung. Jeder soziale Akteur ist für sich gezwungen, die unaufhebbare Kontingenz seiner Entscheidungen zu akzeptieren. Alois Hahn legt auf der Grundlage eigener empirischer Studien nahe, dass Menschen, die in geringerem Ausmaß als andere über sozial tradierte Ressourcen zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens verfügen, z. B. Alte, gering Gebildete, Einkommensschwache usw., in einem deutlich stärkeren Maße geneigt sind, die Kontingenz des Kontaktes mit Fremden für sich als eine Gefahr zu interpretieren. Akteure mit einem hohen Gestaltungsspielraum in Bezug auf ihre soziale Umwelt deuten hingegen die potenzielle Bedrohung durch das Unbestimmte als ein Risiko. Die Kontingenz bleibt in jedem Fall existent. Der entscheidende Unterschied ist hingegen, dass eine Interpretation des Fremdkontakts als Gefahr eine Einschränkung der eigenen Handlungsoptionen bedingt, eine Interpretation als Risiko hingegen Chancen der Verbesserung der eigenen sozialen Situation in seiner Bedeutung mitführt (vgl. Hahn 1998b: 53-54). Im Fall des Fremdkontakts neigt etwa ein Akteur, der für sich die entstehende Kontingenz der Situation als Gefahr interpretiert, eher zu einer Position der Fremdenfeindlichkeit. Ein Akteur, der ebendiese Situation als Risiko deutet, erkennt eher ein Moment der Herausforderung und der Möglichkeit des eigenen Zugewinns (vgl. zu den unterschiedlichen Hintergrunddimensionen von Xenophobie und Exotismus Erdheim 1994: 259). Die Stadt als eine dauerhafte Siedlung von Fremden erzwingt durch die Dichte ihrer sozialen Umwelt die weit überwiegende Interpretation des Fremdkontakts als ein Risiko durch die Urbaniten. Die Alternative einer Auslegung der Interaktion mit Fremden als Gefahr verlangt eine viel zu starke Investition des Individuums in die 76
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Aufrechterhaltung einer dauerhaften Aversion gegenüber eines jeden Fremden, mithin eines jeden Menschen. Es ist davon auszugehen, dass der weit überwiegende Teil der Urbaniten städtisches Leben im Allgemeinen eher als riskant denn als gefährlich begreifen. Kontingenz bezeichnet eine zweifach bestimmte Modalkategorie. Der Begriff umgrenzt den höchst ambivalenten Bereich, in dem sowohl Zufälle als auch entscheidungsabhängige Handlungen bestehen. Die Tatsache, dass sich Zufälle in einem Möglichkeitsraum des Kontingenten realisieren, bedeutet, dass Zufall und Kontingenz unterschiedliche Begriffe sind, die keinesfalls als identisch behandelt werden dürfen. Die Unterscheidung von Kontingenz und Zufall ist notwendig, um ein Strukturprinzip der Urbanität und damit der modernen Gesellschaft aufzudecken. Kontingenz ist der sich logisch-ontologisch erschließende Raum von Realisierungschancen verschiedener Ereignisse. Zufall ist hingegen die Realisierung eines Ereignisses in diesem Kontingenzrahmen. Die Bedingung, die sich an das Auftreten des Zufalls stellt, ist die offensichtliche Grundlosigkeit seines Eintretens. Der Zufall wählt aus den Variationsmöglichkeiten des Kontingenzraums eine aus, die sich anscheinend in sinnloser Weise verwirklicht. Kontingenz und Zufall sind daher nahe Verwandte, aber nicht identisch. Der »Zufall ist grundlos fixierte Kontingenz« (Bubner 1998: 7). Kontingenz lässt sich bearbeiten, einschätzen oder berechnen, der Zufall nicht. Selbst das theoretisch unendlich ausgedehnte menschliche Wissen, der technische Fortschritt oder die perfektionierte Technik würden den Zufall nicht zum Verschwinden bringen, wohl aber die Kontingenz. Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis des menschlichen Handelns und Entscheidens zur Kontingenz. Der Möglichkeitsraum der Kontingenz bildet gleichzeitig die Grenze menschlicher Handlungsoptionen. Jede einzelne Handlung ist eine Realisierung einer einzigen Möglichkeit auf Kosten aller anderen denkbaren Möglichkeiten des Kontingenzrahmens (vgl. Hahn 1998a: 495). Handeln ist folglich das Determinieren einer Wirklichkeit, die bis dato nur als Potenzialität existierte. Kontingenz spannt den Raum auf, in dem sich Handeln vollzieht. Gäbe es diesen nicht, wäre folglich alles determiniert, existierte das willentliche Handeln nicht (vgl. Bubner 1998: 7). Kontingenz lässt sich zusammenfassend beschreiben als das, was weder notwendig noch unmöglich ist (vgl. Hahn 1998a: 500). Kontingent sind mit anderen Worten Vorgänge oder Ereignisse, die mit vorgenommenen Handlungen handlungsunabhängig interferieren, somit von etwas Gegebenen im Rahmen einer möglichen Andersheit divergieren. Auf Grundlage der eingeführten Unterscheidung von Risiko und Gefahr lassen sich damit zwei verschiedene Niveaus der Kontingenz unterscheiden. Es besteht zum einen eine Kontingenzform (a), die an das 77
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Auftreten von unbekannten, nicht erwartbaren Variationen gebunden ist, die nicht entscheidungsabhängig sind. Diese Kontingenz (a) rekurriert auf Gefahr, die ebenfalls als unerwartetes, unbekanntes, entscheidungsunabhängiges und folglich nicht antizipiertes Ereignis aus der Umwelt in die soziale Ordnung tritt. Dieser plötzliche Einbruch hoher kontingenter Variation, dessen grundlegende Unbestimmtheit die Semantik der Gefahr bezeichnet, empfindet die Gesellschaft meist als einen Gewaltakt. Dieser Einbruch mobilisiert häufig gewaltsame Abwehrreaktionen, die auf Erhaltung der Redundanz in der sozialen Kommunikation und Ordnung zielen. Es existiert zum anderen eine Form der Kontingenz (b), die auf Vielfalt und Variationsmöglichkeiten innerhalb der gewohnheitsmäßigen Grenzen sozialen Austauschs und Kommunikation in der modernen Gesellschaft Bezug nimmt. Clam bezeichnet diese Art der Kontingenz als interne Variationskontingenz (vgl. 2004: 24). Diese Kontingenz (b) rekurriert im Unterschied zu der Kontingenz (a) nicht auf einer Unvorhersehbarkeit der eintretenden Ereignisse, sondern auf Zufälle, die Handlungen und Entscheidungen handlungssinngefährdend trotz aller Erfahrung mit einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit betreffen, deren Folgen mithin erwartet werden können. Diese Form der Kontingenz ruht daher auf dem Begriff des Risikos. Interne Variationskontingenz (b) ist das Moment der Unsicherheit, folglich des Risikos, das einem jeden Handeln innewohnt. Kontingenz (b) tritt niemals völlig unerwartet ein, sondern schwingt unter den Bedingungen der sozialen Umwelt immer als begleitende Möglichkeit des Handelns mit. Diese Unterscheidung von Kontingenz (a) und Kontingenz (b) ist für die Definition von Urbanität als eine Strukturvariable wesentlich. Die zugrundeliegende These ist, dass die in den vorangegangenen Abschnitten entwickelten Strukturvariablen der bestimmten strukturellen Fremdheit und der subjektiv bewussten Individualisierung eine Veränderung im Verhältnis der Kontingenzformen (a; b) bedingen, die charakteristisch für das städtische Leben ist. Die Kontingenz (a) ist theoretisch für die gesamte Gegenwartsgesellschaft gleich groß, unabhängig von der sozialen Dichte des Ortes, an dem ein Akteur sich aufhält. Beispielsweise träfe der plötzliche Einschlag eines Meteoriten sämtliche Individuen in annähernd der gleichen Weise unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Die interne Variationskontingenz (b) ist hingegen abhängig von den gewohnheitsmäßigen Grenzen des sozialen Austauschs. Der Kontingenzraum (b) ist in sozial dichten Settings größer, da hier Fremdkontakt und Individualisierung einen routinierten und indifferenten Umgang mit den entstehenden handlungszielgefährdenden Risiken erzwingen. Die Grenzen des Kontingenzraumes (b) dehnen sich somit im Kontingenzraum (a) aus. Für eine Definition von Urbanität bedeutet dies, dass in städti78
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schen Räumen deutlich mehr Kontingenz (a) als Bereich von Kontingenz (b) aufgefasst wird. Handlungszielgefährdende Zufälle fallen in der Stadt in den Bereich der internen Variationskontingenz (b), die in den als nicht-städtischen Räumen bereits eine nicht zu erwartende Variation von außen bedeuten. Der Grund für diese partielle Verschiebung liegt in dem sich veränderten Interpretationsrahmen von Risiko und Gefahr. Abbildung 1: »Verschiedene Lokalisationen der Kontingenzräume (a; b)« Situation Stadt (Risiko)
a
Situation Nicht-Stadt (Gefahr)
a b
b
Quelle: Eigene Darstellung Urbanität kennzeichnet eine Grenzverschiebung möglicher Kontingenzräume in Richtung einer Überlagerung des Raumes (b) über (a). Die Wahrscheinlichkeitsrechnung liefert für dieses Verhältnis der Kontingenzräume zwischen städtischen und nicht-städtischen Räumen Indizien. So weisen die Versicherungspolicen für Hausratversicherungen in Großstädten deutlich höhere Werte auf als in ländlichen Räumen. Die Wahrscheinlichkeit negativer Ereignisse wie Diebstahl oder Einbruch ist in Städten offensichtlich höher als in nicht-städtischen Räumen und erfährt eine Einbeziehung in die habituell erwartbare Variation potenzieller Ereignisse, vor deren negativen Folgewirkungen für einen Akteur die Versicherungspolice Schutz bietet. Die höhere Gefahr, einem Einbruchsdelikt in der Stadt zum Opfer zu fallen, transformiert die Kontingenzeindämmungsformel der Hausratversicherung in ein Risiko. Sie lässt damit aber ein neues Risiko entstehen, namentlich das Risiko sich nicht zu versichern (vgl. Luhmann 1996). Rudolf Stichweh vertritt in dem Zusammenhang des Verhältnisses von Risiko und Gefahr in der Stadt die These, dass die kompakte Figur des Fremden, die sich in der modernen Gesellschaft aufzulösen schien, über den Umweg der Semantik der Gefahr und als extreme Unsicherheit in Bezug auf körperliche Bewegungen in Teilen von Städten, die von besonderer Armut ihrer Bewohner und Infrastruktur gekennzeichnet sind, wieder in die gesellschaftsinterne Kommunikation zurückgeholt wird (vgl. Stichweh 2005b: 58). Gefahr ist mithin in Städten so fremd geworden, dass sie in diesen Stadträumen in
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der Figur des gefährlichen bestimmten Fremden einer Personalisierung bedarf. Das städtische Leben ist durch die Ausdehnung der Grenzen des Kontingenzraumes (b), der internen Variationskontingenz, aufgrund der subjektiv bewussten Individualisierung und der bestimmten strukturellen Fremdheit gekennzeichnet. Die so benannte gesteigerte Komplexität der sozialen Umwelt erreicht in den Großstädten ihren Kulminationspunkt. Die Komplexität der sozialen Umwelt bezieht sich auf die potenzielle Unendlichkeit der Kontaktmöglichkeiten zwischen Individuen, Organisationen und Institutionen, die aber längst nicht alle eine Realisierung erfahren oder erfahren müssen. Die amerikanischen Soziologen Michael Aiken und Robert Alford liefern für diesen Zusammenhang von Kontingenzausweitung und Heterogenität empirische Hinweise, indem sie aufzeigen, wie die Innovationshäufigkeit an einem Ort mit der Komplexität der sozialen Umwelt korreliert 32 (vgl. 1970a). Innovationen definieren die Autoren als »the generation, acceptance, and implementation of new ideas, processes, products, or services« (Aiken/Alford 1970b: 843). Innovationen eignen sich, das vorher Unmögliche möglich und das bisher Unbekannte bekannt zu machen. Innovationen lassen sich somit als eine Form der Ausweitung des Kontingenzraumes (b) kennzeichnen. Dieser ist empirisch umso größer, je größer eine Stadt ist und je heterogener sich die Sozialstruktur der Bevölkerung darstellt. Heterogenität und ebenfalls Komplexität gehen folglich mit einer erweitertem Kontingenzraum (b) einher. Der Bereich des Unverfügbaren konturiert und begrenzt systematisch den Handlungs- und Entscheidungsspielraum, der den Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung steht. Die Ausdehnung des Kontingenzraumes (b) zeigt sich letztlich in der Erweiterung der Möglichkeiten, aus theoretisch unendlich vielen Handlungen und Entscheidungen bestimmte zu realisieren. Urbanität bezeichnet die damit verbundene Verschiebung der Grenzen von (b) in Richtung der Grenzen von (a). Urbanität »ist der empirische Beweis für jene theoretische These, die behauptet, daß Kontingenz zum Eigenwert der modernen Gesellschaft ge-
32 Der theoretische Zusammenhang zwischen Innovationswahrscheinlichkeit und Komplexitätszunahme und einhergehend einer Steigerung der internen Variationskontingenz (b) ist auch der Sozialgeographie nicht verborgen geblieben. Dietrich Bartels konzipiert einen exponentiellen Steigerungszusammenhang zwischen Siedlungsgröße und damit indirekt der Komplexität der sozialen Umwelt und der Wahrscheinlichkeit der Übernahme von Innovationen. Die quantitative Größe einer Siedlung ist hier der entscheidende Faktor für die Entstehung und Übernahme von Innovationen (vgl. Bartels 1979: 131). 80
ZUM BEGRIFF DER URBANITÄT
worden ist« (Nassehi 1999: 237). Strukturell bestimmte Fremdheit und subjektiv bewusste Individualisierung erweitern die Optionen des Akteurs und gleichzeitig die Komplexität der sozialen Umwelt. Urbanität kennzeichnet genau dieses Mehr an Vielfältigkeit innerhalb der Grenzen noch erwartbarer Ereignisse, die den Raum der internen Variationskontingenz bilden (vgl. Clam 2004: 24). Urbanität lässt sich damit definieren als auf der Grundlage von subjektiv bewusster Individualisierung und bestimmter struktureller Fremdheit erweiterte interne Variationskontingenz (b). Diese Definition von Urbanität ermöglicht die Verschiebung des Urbanitätsbegriffs von der ontologischen Entität der Stadt und ihrem physischen Raum, mit dem er häufig gedanklich verbunden scheint, hin zum Stadtbewohner und seinen erweiterten Handlungs- und Entscheidungsoptionen. Urbanität gerinnt somit zu einer Strukturvariable der Gegenwartsgesellschaft in klarer Abgrenzung zu diffusen Konzepten, die lediglich Eigenschaften bestimmter physischer Räume und ihrer Bewohner beschreiben. Die Beobachtbarkeit von Urbanität ist losgelöst von bestimmten Räumen gegeben und überall dort zu erwarten, wo sich der Raum der internen Variationskontingenz (b) weitet. Somit kann Urbanität in ländlichen und anderen nicht-städtischen Räumen beobachtet werden, wenn hier die Strukturbedingungen von subjektiv bewusster Individualisierung, bestimmter struktureller Fremdheit und damit einhergehender Kontingenzausdehnung gegeben sind.
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ZUM BEGRIFF DER HABITUELLEN URBANITÄT AUF GRUNDLAGE DER BOURDIEUSCHEN SOZIALTHEORIE
Die im vorangegangenen Abschnitt dargelegte Auffassung von Urbanität als einer Strukturvariabel, d. h. einer Funktion der wechselseitigen Einflüsse verschiedener Akteure auf ihr jeweiliges Handeln, die auf der Grundlage des Fremdkontakts und der subjektiv bewussten Individualisierung den individuellen Handlungsraum des jeweiligen Individuums weitet, zielt auf die akteursspezifischen und von diesen habituell fassbaren Kontingenzräume. Die von Jean Clam (2004: 24) so bezeichnete interne Variationskontingenz (b) verlangt nach einer Syntheseleistung der Individuen. Jeder Akteur bestimmt für sich selbst, wie er die erhöhten Eintrittswahrscheinlichkeiten zufälliger Ereignisse für sich nutzt, ob er diese erweiterten Möglichkeiten als Gelegenheiten und mithin als Risiken begreift oder als Zwänge und somit als Gefahr interpretiert. Nach diesem Verständnis von Urbanität ist die Stadt immer durchdrungen von einem Mehr an Potenzialität und Zufall. In Hinblick auf die an den Anfang gestellte Frage nach der noch gegebenen Beobachtbarkeit von nicht städtischen Räumen in der modernen Gesellschaft ist aufbauend auf die im vorangehenden Abschnitt erfolgte begriffliche Festlegung von Urbanität ein zweiter theoretischer Schritt erforderlich, der in diesem Kapitel erfolgt. Urbanität benötigt ein »Medium«, mit dessen Hilfe sie sich theoretisch von der Stadt und ihren physischen Phänomenen ablösen und anschließend in nicht-städtischen Räumen empirisch untersuchen lässt. Der nächste Schritt in der Argumentation verbindet den Urbanitätsbegriff mit einer die Gesellschaft beschreibenden Sozialtheorie, die es erlaubt, diese theoretisch noch an die Bedingungen der Stadt gebundene Kontingenzausdehnung jenseits der 83
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Stadt zu konzipieren. Da die erweiterte interne Variationskontingenz (b) die Grenzen des Raums potenziell zu realisierender Handlungen nach außen dehnt, erscheint die Wahl einer Handlungstheorie bzw. einer Sozialtheorie der Gesellschaft, die das Handeln der Akteure im Zentrum führt, als erfolgversprechenste Variante. Eine in Frage kommende Theorie muss neben einem Handlungskonzept zwei weitere Bedingungen erfüllen, um die angedachte theoretische Ablösung von Stadt und Urbanität zu leisten. Die Theorie muss erstens eine Vorstellung von Kontingenz und Kontingenzeindämmung aufweisen, die sie mit ihrer Begrifflichkeit bearbeitet. Die Theorie sollte mit anderen Worten für das Kontingenzproblem, das wesentlich für die Stadt ist, sensibel sein. Eine in Frage kommende Theorie bedarf zweitens eines »Kopplungsmechanismusses«, der die theorieinterne Kontingenzbearbeitung mit einem Akteurskonzept verbindet. Diese Kopplung ist erforderlich, da die Wahrnehmung des erweiterten Kontingenzrahmens in der Stadt und das daraufhin erfolgende Handeln und Entscheiden der Akteure eine zentrale Kategorie des ausgearbeiteten Begriffes von Urbanität ist. Erst durch die Wahrnehmung und Reaktion der Akteure wird Urbanität bedeutsam. Ohne eine solche Verbindung von Kontingenz und Individuum kann die angestrebte Trennung von der Stadt und der Urbanität nicht theoretisch überzeugend gelingen. Der erforderliche »Kopplungsmechanismus« fungiert als theoretisches Medium der Trennung von Stadt und Urbanität. Die diskutierten Urbanitätskonzepte aus der Literatur zur Stadt lassen sämtlich eine solche Verbindung vermissen. Diese Theorien liefern allesamt keine theoretisch überzeugende Begründung einer ubiquitären Urbanität. Dessen ungeachtet ist ein solcher »Kopplungsmechanismus« zentral für das Gelingen einer empirischen Umsetzung und Operationalisierung dieser Trennung und daran anschließend der Untersuchung der Urbanisierung in nicht-städtischen Räumen. Diese zwei skizzierten Basisforderungen an eine in Frage kommende Sozialtheorie, Registrierung des Kontingenzproblems und ihre Verbindung mit einem Akteurskonzept, erfüllt die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu in idealtypischer Weise. Bourdieu entwirft eine Sozialtheorie auf Grundlage der Ungleichheit in den Lebensbedingungen sozialer Akteure, die sich wiederum in stratifizierte Klassen einordnen. Diese Ordnung erhält ihre Konstanz durch den raffinierten Mechanismus der symbolischen Gewalt, einer nicht-physischen Gewalt, die jedem Akteur dennoch unweigerlich seine Grenzen und Möglichkeiten aufzeigt. Das omnipräsente Symbolische in sämtlichen Artefakten und Interaktionen, die in der moderne Gesellschaft produziert werden, hat nach Bourdieu die Aufgabe, den Akteuren Sinnangebote zu geben, die in ihrer Folge zu einer Akzeptanz der herrschenden 84
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gesellschaftlichen Machtverhältnisse führen (vgl. Peter 2004: 49). Bourdieus Theorie der Praxis erarbeitet auf der Basis einiger wichtiger Schlüsselkonzepte, wie Habitus, Kapital, Feld, Praxis und sozialer Raum, eine Theorie der sozialen Ordnung der Gesellschaft, die Handeln im Zentrum führt. Darüber hinaus ist Bourdieus Theorie der Praxis sensibilisiert für das Problem der unaufhebbaren Kontingenz der sozialen Wirklichkeit. Diese Sensibilisierung bleibt implizit. Vor allem in seinen späteren Arbeiten benutzt Bourdieu jedoch einen Begriff von Kontingenz, der auf die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Akteuren zielt 33 (beispielhaft: Bourdieu 2005: 126). Bourdieu gebraucht Kontingenz in einem Sinne des »Auch-anders-sein-könnens« der sozialen Wirklichkeit. Damit erfüllt die Theorie der Praxis die erste gestellte Bedingung an eine in Frage kommende Sozialtheorie. Die Theorie der Praxis liefert in Form des Begriffes des Habitus und des Klassenhabitus eine Verbindung von Kontingenz und ihre Verarbeitung im Rahmen eines Akteurskonzepts. Der Habitus bezieht sich auf das Vorausgesetztsein einer Gegenwart, die die Möglichkeiten der Auswahl von potenziellen Handlungen der Akteure begrenzt. Die Akteure sind lediglich in der Lage, innerhalb des Möglichkeitsraumes ihrer habituellen Grenzen zu handeln. Die Auflösung dieser Situation der Kontingenz, d. h. der sich realisierenden Handlungen, ist wiederum eine Frage der Praxis. Handeln kann sich nur innerhalb der klassenspezifischen Grenzen des Habitus und des Klassenhabitus, verstanden als Summe der Dispositionen einer Klasse, realisieren. Die Bewältigung der Kontingenz sozialer Wirklichkeit und somit der internen Variationskontingenz, d. h. der Kontingenzräume (a, b), ist eine Frage des Habitus. Das Habituskonzept ist in der Lage, als gesuchter »Koppelungsmechanismus« zu fungieren, der eine theorieinterne Bearbeitung des Kontingenzproblems mit einem Akteurskonzept verbindet, um so zu einer theoretischen Trennung von der Stadt und ihrem physischen Phänomenen sowie der Urbanität zu gelangen. Die Bewältigung von Kontingenz obliegt in der Theorie der Praxis dem Habitus. Kontingenzproblem und Akteurskonzept fallen in dem Begriff des Habitus zusammen. Bourdieu ist in der Lage, mit seinen 33 Bourdieu gebraucht den Begriff der Kontingenz als eine Form des »Auchanders-sein-könnens« bereits in einem früheren Aufsatz zur Analyse des juristischen Feldes (vgl. Bourdieu 1987b). Er analysiert die juristische Arbeit hier als eine Form der Befreiung gesetzlicher Normen durch Formalisierung und Systematisierung von der Kontingenz eines spezifischen Augenblicks. Kontingenz wird durch die Juristerei mit einem starren Rahmen vorbereiteter Beurteilungen ersetzt (vgl. Bourdieu 1987b: 845). Das Kontingenzproblem erscheint in diesem Aufsatz allerdings noch begrenzt auf das gesellschaftliche Teilsystem des Rechts, in Bourdieus Terminologie das juristische Feld. 85
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Begriffen Habitus, Kapital und Raum das weitere theoretische Rüstzeug bereitzustellen, um den im vorangegangenen Kapitel entwickelten Urbanitätsbegriff in einer Weise zu erweitern, dass dieser so gelagerte Begriff einer empirischen Untersuchung zugänglich wird. Ziel des vorliegenden Kapitels ist eine solche Erweiterung des Urbanitätsbegriffes hin zu einer »habituellen Urbanität«, die im Anschluss an die theoretischen Vorarbeiten empirisch untersucht wird. Die Komplexität der bourdieuschen Theorie der Praxis und ihrer ausgearbeiteten Begriffe erfordert zunächst eine eingehende Ausarbeitung und Darlegung. Bourdieu entwirft auf der Grundlage seiner empirischen Arbeiten zu der archaischen kabylischen Gesellschaft in Algerien und der französischen Gesellschaft ein komplexes Theoriegebäude einander wechselseitig verschränkter Begriffe. Die Einführung der wichtigsten Konzepte und Begriffe der Theorie der Praxis ist in Hinblick auf ihre empirische Umsetzung essentiell. Das vorliegende Kapitel skizziert aus diesem Grund zunächst synoptisch die wichtigsten Axiome des bourdieuschen Denkens. Darüber hinaus zeigt es die Bedeutung der Theorie in bisherigen geographischen Forschungsarbeiten auf. Bourdieus Theorie stößt sowohl in der Stadtgeographie als auch in der Entwicklungsforschung auf Interesse. Der zweite Abschnitt des Kapitels erarbeitet mit dem Habitusbegriff das zentrale Konzept der Theorie der Praxis. Bourdieus Begriffe der Gewohnheit, des Lebensstils, der Disposition und der Distinktion, die für eine Empirie grundlegende Bedeutung aufweisen, diskutiert dieser Teil im Sinnzusammenhang des weiteren Begriffsgebäudes. Die theoretische Trennung von der Stadt mit ihren physischen Phänomenen und der Urbanität verlangt neben der »Kontingenzeindämmungsformel« des Habitus ebenfalls nach einer weiteren Untertheorie – der Kapitaltheorie. Die Grenzen des Habitus sind nur verständlich, wenn die spezifische Ausstattung eines Akteurs mit den verschiedenen Kapitalien Gegenstand der Analyse werden. Ein Habitus bildet sich immer in den Grenzen spezifischer Felder in einem Möglichkeitsraum aus, der von den zur Verfügung stehenden bestimmten Kapitalien aufgespannt wird. Der Habitus ist ohne die ihn begrenzenden Kapitalien theoretisch nicht fassbar. Kontingenzeindämmung kann nur innerhalb der gegebenen Grenzen der Kapitalausstattung eines Akteurs erfolgen. Aus diesem Grund skizziert der dritte Abschnitt die Kapital/FeldTheorie und ihre Bedeutung innerhalb der Theorie der Praxis. Weniger zentral im gesamten Theoriegebäude, aber für das Grundproblem einer theoretischen Trennung von Stadt und Urbanität von großer Bedeutung, ist Bourdieus Theorie der Objektivierung sozialer Verhältnisse. Raum erscheint hier als angeeigneter physischer Raum, der wiederum Auswirkungen auf die Kapitalakkumulationsmöglichkeiten zeigt und somit 86
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letztlich auf die Grenzen des Habitus und der einhergehenden Fähigkeit zur Bewältigung von Kontingenz. Abschnitt vier erarbeitet dieses bourdieusche Raumverständnis. Diese vier Kategorien Habitus, Kapital/Feld und Raum sind wesentlich für die Ausarbeitung einer habituellen Urbanität als habitusinterner Kontingenzverarbeitung und ihrer Zusammenhänge mit dem Raum der Stadt. Der fünfte Abschnitt konzipiert abschließend auf der Grundlage dieser Grundbegriffe der bourdieuschen Theorie der Praxis ein losgelöst vom den physischen Phänomenen der Stadt existierendes Verständnis einer habituellen Urbanität, die sich in den kapitalbestimmten Grenzen der Habitus sozialer Akteure realisiert. Dieses auf der Basis einer Zusammenführung der Theorie der Praxis und des im vorangegangenen Kapitel entworfenen Verständnisses von Urbanität entstandene Konzept dient im Zusammenhang mit der Fragestellung als theoretische Grundlage, um die Urbanisierung der nichtstädtischen Räume zu untersuchen.
Die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu Die Theorie der Praxis bezeichnet Pierre Bourdieu selbst zunächst als einen »Entwurf« (vgl. 1976c). Die theoretische Ausarbeitung ihrer Begriffe erfolgt erst im Laufe der empirischen Anwendung sowohl in weiterführenden Arbeiten über die archaische kabylische Gesellschaft, auf die sich der erste »Entwurf« bezieht, als auch über Studien der französischen Gesellschaft. Als wichtigstes Axiom seiner Theorie konzipiert Pierre Bourdieu die Gesellschaft als einen sozialen Raum, der sich differenztheoretisch in verschiedene Felder untergliedert. In diesen unterschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen kommen ungleiche Kapitalien zum Einsatz, die den beteiligten Akteuren als Machtmittel und Ressourcen dienen. Die sozialen Bedingungen der Felder schreiben sich wiederum in den biologischen Körper der Individuen ein. Diese Einschreibungen, Bourdieu nennt sie in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky Habitus, sind erneut das Erzeugungsprinzip der Praxis. Bourdieus praxeologische Handlungstheorie versucht, die Bedingungen der Struktur und des Subjekts in einem holistischen Ansatz als gleichberechtigte Teile eines Ganzen zu begreifen. Der Ursprung der Theorie der Praxis liegt im intellektuellen Milieu des Nachkriegsfrankreichs der 50er Jahre. Die Auseinandersetzung zwischen der Phänomenologie, verbunden mit dem Namen von Jean-Paul Sartre auf der einen Seite, und dem Strukturalismus, als dessen bedeutendster Vertreter Claude Lévi-Strauss gelten kann, auf der anderen Seite prägten dieses Milieu. Bourdieu ist mit den Positionen beider Schulen 87
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nicht einverstanden. Wesentliches Ziel seiner Soziologie ist die Überwindung des »grundlegendste(n) und verderblichste(n)« (Bourdieu 1987a: 49) aller Gegensätze, die die Sozialwissenschaft nach seiner Meinung künstlich spalten, namentlich »der zwischen Subjektivismus und Objektivismus« (Bourdieu 1987a: 49). Bourdieu zielt auf die Überwindung sämtlicher künstlicher Dichotomien in Philosophie und Sozialwissenschaft, wie Individuum und Gesellschaft, Phänomenologie und Strukturalismus oder Voluntarismus und Determinismus. Die Logik menschlichen Handelns bleibt solange unverständlich, wie die Subjektund die Objektseite getrennt betrachtet und analysiert werden. Handeln, also menschliche Praxis, ist nur zu erklären, wenn die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt Gegenstand der Analyse wird. Bourdieus Theorie der Praxis verbindet die unterschiedlichen Erkenntnisweisen des Subjektivismus und Objektivismus durch eine Einbeziehung der Alltagserfahrungen der sozialen Akteure in die soziale Welt (vgl. Bourdieu 1987a: 50). Die artifiziellen Dichotomien überbrückt der praktische Sinn. Der Habitus als das Produkt einer sozialen Benennungs- und Einprägungsarbeit, die sich als soziale Identität in die biologische Natur des Menschen eingräbt, ist einem korrespondierenden Feld angepasst. Er basiert auf den Notwendigkeiten und Zwängen des Feldes und drückt sich wiederum als ein praktischer Sinn aus, als eine intentionslose Intentionalität, die im Regelfall die Praxis konstituiert. Nur in Krisenzeiten substituiert das rationale Kalkül den praktischen Sinn (vgl. Bourdieu 1989: 397). In das Handeln der Akteure fließen sowohl die aus den Handlungen der anderen sich ergebenden Zwänge des Außen als auch die soziale Identität des Individuums ein. Der praktische Sinn ist Ausdruck des Bemühens, sich dem Objektivismus zu entziehen, ohne rein subjektivistisch zu argumentieren. Bourdieu befragt vielmehr mit seinem Instrument des Habitus den Subjektivismus nach den sozialen Bedingungen seiner Möglichkeiten. Er bezeichnet sein theoretisches Programm daher selbst als »konstruktivistischen Strukturalismus« respektive als »strukturalistischen Konstruktivismus« (Bourdieu 1992a: 135) oder an anderer Stelle als »Theorie der Bedeutung des Eingeborenseins« (Bourdieu 1987a: 40). Wie aus dieser Selbstbeschreibung seiner Theorie ersichtlich ist, steht Bourdieu dem Strukturalismus gedanklich nahe. Diesem fällt seiner Meinung nach die Leistung zu, das relationale Denken anstelle des substantialistischen Denkens in die Sozialwissenschaft eingeführt zu haben (vgl. Bourdieu 1987a: 12). Als relationales Moment durchzieht der Raum die praxeologische Theorie. Bourdieu konzipiert die Gesellschaft als eine Matrix relationaler Positionen von Akteuren, die sich aus ihrer jeweiligen Klassenlage ergeben und die er mit dem Begriff des sozialen 88
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Raums benennt. Er wartet ferner mit einer relationalen Differenzierungstheorie auf, die sich als »Feldtheorie« umschreiben lässt. Die soziale Wirklichkeit setzt sich aus verschiedenen Feldern zusammen, z. B. aus dem politische Feld, dem wissenschaftlichen Feld oder dem ökonomischen Feld, die den Kontingenzrahmen bilden, innerhalb dessen sich Handeln vollzieht. Felder sind vor allem negativ über den Ausschluss von Handlungsmöglichkeiten bestimmt, die sich aus den wechselseitigen Tauschbeziehungen der in diesem Feld engagierten Akteure ergeben. Felder tragen somit der »embeddedness« (Granovetter 1985: 481) des Handelns Rechnung. Die sozialen Beziehungen der Akteure innerhalb der Felder konzipiert Bourdieu als Kampf um die knappen Ressourcen des jeweiligen Feldes, in Bourdieus Worten Kapitalien. Dieser Kontingenzrahmen von gegenseitigen Konkurrenzbeziehungen prägt wiederum die Dispositionen der Akteure, d. h. die verinnerlichten Prägungen auf bestimmte, klassenspezifische Art und Weise wahrzunehmen, zu handeln und zu denken. Bourdieu lehnt aus diesem Grund den Begriff des Subjektes, der eine selbst bestimmte Biographie als eigene Schöpfung des Menschen bedingt, die aus seinen Zielen und Bestrebungen entspringt, ab (vgl. Bourdieu 1986: 69-71) und spricht stattdessen von Akteuren. Dieser Begriff unterliegt nicht der biographischen Illusion des selbst bestimmten Lebens, sondern bezieht die Zwänge durch die Interventionen der anderen in die Betrachtung mit ein. Bourdieu behauptet, dass erst die Stellung des Akteurs im sozialen Raum den biographischen Ereignissen diejenige Bedeutung zuweist, die sie schließlich für ihn annehmen. Trotz dieser Betonung der strukturellen Interdependenzen des Handelns wendet er sich gegen eine Überbetonung der Struktur im Strukturalismus. Dieser zeige eine »befremdliche Handlungstheorie, die (…) den Handelnden dadurch zum Verschwinden bringt, daß sie ihn auf die Rolle des Trägers einer Struktur reduziert« (Bourdieu 2001a: 285-286). Bourdieu entwickelt eine Handlungstheorie gegen den Strukturalismus, die dennoch auf dem strukturalistischen Denkmuster der Relationen aufruht. Die Relationen erscheinen allerdings nicht mehr ausschließlich in Form von binären Oppositionen oder Dichotomien, sondern werden mithilfe des praktischen Sinns aufgelöst in Felder und Räume. Der theoretische Ausgangspunkt der praxeologischen Sozialtheorie Pierre Bourdieus liegt in einer radikalen Soziologisierung der Praxisphilosophie von Karl Marx. Er kritisiert Marx in dem Punkt, dass dieser den folgenreichen Irrtum begehe, von der Existenz in der Theorie auf die
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Existenz in der Praxis zu schließen, 34 »oder wie Marx sagt; ›von den Dingen der Logik zur Logik der Dinge‹« (Bourdieu 1998a: 25). Bourdieu entwirft seine Weiterentwicklung der Marxschen Theorie als eine Theorie der Ökonomie der Praxis. Praxis ist die alle anderen Begriffe übergreifende Kategorie. Sie kennzeichnet denjenigen Ort, an dem Akteure handeln, sich begegnen und unabwendbar damit konfrontiert sind, sich innerhalb eines relationalen Geschehens zu positionieren und es damit unentwegt zu reproduzieren. Die Grundidee ist daher philosophisch geprägt. Diese Ausgangsbasis kann nur teilweise überraschen, da Bourdieu zunächst in Philosophie promovierte und sich erst im Anschluss daran über Feldforschungen in Algerien autodidaktisch zum Ethnologen und Soziologen ausbildete. Das Grundprinzip seiner Theorie der Praxis setzt im Anschluss an die Arbeiten von Max Weber Ökonomie als das entscheidende Strukturprinzip nicht nur des wirtschaftlichen Umfeldes selbst, sondern aller gesellschaftlichen Teilbereiche ein. Er ist so in der Lage, ökonomische und strategische Prinzipien in Lebensbereichen aufzuzeigen und zu erklären, die per se als altruistisch und strategielos erscheinen, wie beispielsweise die Religion (vgl. Bourdieu 2000: 97-98). Es geht ihm in erster Linie darum, die heimlichen und verdeckten Mechanismen der Reproduktion der Sozialwelt aufzuzeigen und als streng ökonomischen Prinzipien folgend zu »entzaubern«. Sein Materialismus fragt ausdrücklich nach der Ökonomie solcher Praxisfelder, die gesellschaftlich nicht als ökonomische Felder anerkannt sind. Hinter jeder Praxisform und ihrer kulturellen Semantik steht für Bourdieu ein ökonomisches Prinzip. Diese grundlegende ökonomistische Ausrichtung der Theorie der Praxis ist der zentrale Punkt des Widerspruchs ihrer Kritiker. Der Hauptvorwurf, der sich an Bourdieu richtet, ist gerade die Fokussierung auf ein einziges Bezugsproblem der Gesellschaft zur Erklärung aller sozialen Praxis – die Knappheit von Ressourcen. So wirft Armin Nassehi Bourdieu vor, er kenne außer der Ressourcenknappheit und ihrer komplementären symbolischen Verknappung durch die soziale Praxis keine weiteren Bezugsprobleme der Gesellschaft. Letztlich sei seine Theorie der Praxis eine Theorie der politischen Ökonomie aller nicht ökonomi-
34 Diesen in der Sozialwissenschaft häufig anzutreffenden Fehlschluss, der darin besteht, von dem Abstrakten auf das Konkrete oder anders formuliert von dem Wort für eine Sache auf das Bestehen der Sache selbst zu schließen, nennt der amerikanische Philosoph Alfred Whitehead »Fallacy of Misplaced Concreteness« (1950: 75). Man denke nur an den häufigen stadtgeographischen Fall der »Stadtgesellschaften« als Einheit der handelnden Akteure in einer Stadt, die zudem noch »integrierend« wirken soll (zuletzt etwa Bernt et al. 2005: 45-49). 90
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schen Ökonomien und Bourdieu selbst ein Utilitarist 35 und Strukturalist (vgl. Nassehi 2004: 181-183). In der gleichen Weise argumentiert Axel Honneth. Bourdieu sei zwar in der Lage, den Strukturalismus zu überwinden, ihm gelänge dies jedoch nur um den Preis der Wiedereinführung der utilitaristischen Leitidee der Nutzenmaximierung. Bourdieus Ansatz sei daher eine Zusammenführung von Strukturalismus und Utilitarismus. Er betreibe nichts weiter als eine »utilitaristische(n) Transformation des ethnologischen Strukturalismus« (Honneth 1990: 159). André Kieserling bezeichnet Bourdieus Sozialtheorie als »parasitär« (2004: 145). Er nutze die Sprache der Selbstbeschreibung der Wirtschaft, um damit andere gesellschaftliche Teilbereiche zu beschreiben. Die Spannung seiner Theorie speise sich lediglich aus dieser Divergenz von Gegenstand und Fremdbeschreibung über die Kontingenzformel der Knappheit. Exakt dieses begriffliche Instrumentarium versage in Hinblick auf die Erklärung der Ökonomie selbst. Bourdieu sei folglich nicht in der Lage, eine über die Kultursoziologie hinausgehende Theorie der modernen Gesellschaft anzubieten, da er nicht über das analytische Begriffsarsenal verfüge, das Teilsystem der Ökonomie soziologisch zu analysieren (vgl. Kieserling 2004: 145-147). Weiterhin räumt er der Arbeitsteilung einen Vorrang vor der Schichtung, den Feldern vor den Klassen ein (vgl. Kieserling 2008: 22). Bourdieus Sozialtheorie ist daher, so könnte man mit Kieserling schlussfolgern, lediglich eine ökonomistische Kultursoziologie oder eine Ökonomie der Symbolik, jedoch keine holistische Gesellschaftstheorie. Die Arbeiten des französischen Soziologen beeinflussen dessen ungeachtet die Geographie bereits seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ein wesentlicher Impuls, zunächst lediglich für die anglophone Geographie, war die strukturalistische Arbeit über das kabylische Haus aus dem Jahr 1963, die Geographen neue Möglichkeiten, über den Raum nachzudenken, eröffnete (vgl. Painter 2000: 240). Der Vorschlag des Philosophen Edward S. Casey, den Habitus nach Bourdieu als Bindeglied zwischen dem Menschen als leibliches Wesen und dem gestalteten Ort (place) im Raum (space) zu begreifen, stellt eine weitere Verwendung des Habituskonzepts in der Geographie dar. Die Sinndimension,
35 Dieser Vorwurf wiegt insofern besonders schwer, da Bourdieu zeit seiner wissenschaftlichen Arbeit mithilfe seiner Begriffe von Strategie, Interesse und Habitus die Grundannahmen des Utilitarismus zu widerlegen suchte. Sein Ziel ist es aufzuzeigen, dass interesseloses Handeln möglich und in der gesellschaftlichen Praxis die Regel ist. Die Theorie der Praxis ist als bewusster Gegenpol zur neoutilitaristischen Rational-Choice-Theorie entwickelt, die Bourdieu als »Nullpunkt der Soziologie« (1993a: 113) bezeichnet. 91
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die sozialen Bedeutungen und die räumlichen Abgrenzungen, mithin die Kulturseite der räumlichen Verhältnisse des Ortes, verbinden sich demnach mit dem Leib des Menschen im Habitus (vgl. Casey 2001). Die interessanteste und innovativste Adaption der bourdieuschen Sozialtheorie in der aktuellen geographischen Diskussion stellt der Versuch dar, das Habituskonzept auf Städte zu übertragen. Grundannahme ist dabei, dass Städte unabhängig von der augenblicklichen Bevölkerung und den dominierenden sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen eine sedimentierte Geschichte aufweisen, einen kulturellen Charakter, der die populären Repräsentationen transzendiert, die der Stadt von anderen, Nicht-Bewohnern zugeschrieben werden oder sich in den öffentlichen und privaten Institutionen der Stadt zeigen (vgl. Lee 1997: 126-132). Das relationale Interdependenzverhältnis des Städtesystems weist so jeder Stadt eine symbolische Position im sozialen Raum des Städtesystems zu. Jede Stadt zeigt für sich eine Besonderheit, die aus dem Komplementärverhältnis des stadtbestimmenden Sektors der Ökonomie zu den in ihm einbegriffenen Milieus folgt und die für die Herausbildung der spezifischen Atmosphäre einer Stadt entscheidend ist. Ein bürokratischer Geist formt so viel eher das Ambiente einer durch die Bürokratie geprägten Stadt, als das Ambiente einer Industriestadt aus dem 19. Jahrhundert. Dieses aus ihrer einzigartigen Beschaffenheit resultierende symbolische Kapital einer Stadt, ihre besondere Atmosphäre, die sie in der Wahrnehmung von Akteuren gegen andere Städte abgrenzt, ist der Habitus einer Stadt (vgl. Lindner 2003: 49-50). Habitusformationen von Städten weisen eine ausgesprochene Konstanz auf, die nur in ökonomischen Extremsituationen einem Wandel unterliegen. Ein Beispiel für solch eine radikale Habitusmodifizierung bildet Aspen/Colorado in den Vereinigten Staaten, das sich nach dem Niedergang der montanen Ökonomie und der ihr angeschlossenen sozialen Infrastruktur in einen mondänen Wintersportort mit neuen Traditionen transformierte (vgl. Freudenburg et al. 2000: 818). Der Stadthabitus stellt den Versuch dar, ein anthropomorphes Konzept von Stadt zu entwerfen, das selektive Migrationen und Lebensstile aus der kulturellen Besonderheit der jeweiligen Stadt erklärt. Die Analogie zu Bourdieus Theorie der Praxis besteht in der Parallelisierung des Habitus der Stadt und des Habitus des Menschen in Bezug auf die Hervorbringung von Lebensstilen. Der Stadthabitus ist wie sein anthropomorphes Pendant ein Erzeugungsprinzip von Lebensstilen der Stadtbewohner (vgl. Lindner 2003: 46). So interessant die theoretische Perspektive sich darstellt, empirische Arbeiten, die diesen Analogieschluss vom menschlichen Charakter auf den städtischen Charakter stützen, stehen noch aus. Dennoch dürfte dieser innovative Ansatz in der Stadtgeographie in Zukunft breitere Verwendung finden 92
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und weiteres Nachdenken über Lebensstile, Migration und Kultur initiieren. 36 In der geographischen Entwicklungsforschung findet Bourdieus Theorie ebenfalls Verwendung, um neue Fragestellungen zu entwickeln. Entscheidend ist die übergreifende Gültigkeit der Theorie der Praxis für alle Gesellschaften. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei Habitus und Feld. So dient die Konstruktion eines »kolonialen Habitus« (Dörfler et al. 2003: 20) zur Beschreibung und Erklärung von Distinktionen und Machtbeziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonialherren, die, so wird behauptet, bis in die heutige Zeit nachwirken und Einfluss auf die jeweiligen Gesellschaftsstrukturen nehmen. Die Entwicklungszusammenarbeit selbst ist im Sinnzusammenhang einer auf der Theorie der Praxis aufbauenden geographischen Entwicklungsforschung als Feld konzipiert, in dem unterschiedlichste Akteure um Macht und Kapital konkurrieren. So sind objektiv altruistische Motive als Interessen oder illusio zu entlarven und die tatsächlichen Beweggründe des Einsatzes von Kapital und Zeit rücken in den Fokus der objektivierenden wissenschaftlichen Betrachtung (vgl. Dörfler et al. 2003: 20). Im Anschluss an diese durchgeführten oder angedachten Arbeiten in der Humangeographie dient die Theorie der Praxis im Folgenden als Fundament einer theoretischen Trennung von Stadt und Urbanität. Bourdieus Theorie zeigt eine bemerkenswerte Konsistenz in ihrer Begrifflichkeit, die ihrer Entwicklung aus der empirischen Arbeit geschuldet ist. Das folgende Kapitel nimmt vor allem auf drei wesentliche Konzepte der Theorie der Praxis Bezug. Der Habitus als Inkorporierung der äußeren physischen und sozialen Strukturen ermöglicht es, die Bedingungen des Außen in das biologische Individuum hinein zu denken. Bourdieu trägt mit der Entwicklung des Habitus an entscheidender Stelle seiner Theorie dem Dualismus von Bewusstsein und Leib als bewusstseinsfremdem Tatbestand Rechnung. Der Habitus und der Klassenhabitus ist der Ort der Kontingenzbewältigung in der Theorie der Praxis. Dem Begriff des Kapitals liegt der Grundgedanke zugrunde, dass neben Geld ebenfalls Beziehungen und Kontakte, Symbole und Wissen als empirische Knappheiten in wechselseitigen Tauschbeziehungen eingesetzt werden können. Jede Form von Kapital korrespondiert mit einem funktional differenzierten gesellschaftlichen Bereich, in dem es das Ziel von Auseinandersetzungen darstellt – dem Feld. Kapital und Feld bilden die Grenzlinien, innerhalb dessen ein Habitus sich ausprägen kann. Die
36 Siehe als ein erstes Beispiel Ilse Helbrecht und ihr an die Arbeit von Rolf Lindner angelehntes Konzept des »geographischen Kapitals«, das auf die Kapitaltheorie von Bourdieu Bezug nimmt (vgl. Helbrecht 2005). 93
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Objektivierung der sozialen Verhältnisse im angeeigneten physischen Raum ist schließlich das dritte entscheidende Konzept für die theoretische Grundlegung einer habituellen Urbanität, da sich die räumlichen Strukturen des Sozialraums in den Habitus der Akteure einschreiben und auf diese Weise Kapitalakkumulationsmöglichkeiten befördern oder behindern. Erst auf einer solchen theoretischen Grundlage sind im Anschluss empirische Einschätzungen über den Urbanisierungsgrad verschiedener nicht-städtischer Räume in der modernen Gesellschaft möglich.
Habitus Die Theorie der Praxis überwindet die gegensätzlichen Positionen des Subjektivismus und Objektivismus, da sie bemerkt, dass sich Erklärungen der Wirklichkeit von objektiven Strukturen sämtlich auf eine Hypostasierung von sozialen Prozessen beziehen, die aus Individuen bestehen, die bedeutungsvoll mit anderen Individuen interagieren. In der praxeologischen Theorie ist soziales Leben das gegenseitig ausgehandelte Netzwerk von Interaktionen und Praktiken zwischen Individuen auf der Grundlage unterschwelliger Regeln. Dieses Geflecht menschlicher Interaktion ist notwendigerweise offen für Umgestaltungen (vgl. King 2000: 431). Die Veränderlichkeit ist ein wesentliches Element, das auf der theoretischen Ebene als Relais zwischen der Subjekt- und Objektebene menschlichen Daseins auftritt – dem Habitus. Der Habitus ist zentral in Bourdieus Versuch, die gegensätzlichen Positionen des Subjektivismus und Objektivismus miteinander zu versöhnen.37 Die Idee, dass Menschen über einen Habitus verfügen, der ihre Wahrnehmungen, ihr Denken und ihr Handeln unbemerkt steuert und begrenzt, kam bereits in der Antike auf. Der Habitus ist ein »altes aristotelisch-thomistisches Konzept« (Bourdieu 1992a: 29), eine Idee, deren Väter Aristoteles und Thomas von Aquin sind. Die aristotelisch-thomistische Habitusidee sieht aus der Gesamtheit des impliziten Wissens eines Individuums viele individuelle Handlungen entstehen, die zusam37 Bourdieu entwickelt die Idee seines Habituskonzepts mit Blick auf die algerische Gesellschaft der 1950er Jahre. Im Zuge der Umwälzungen des Kolonialismus stellt er die Diagnose einer Verzögerung in der Anpassung zwischen den Dispositionen der Akteure und den gesellschaftlichen und politische Strukturen auf (vgl. Bourdieu 1963: 61-65), die später in Gestalt des Habitus einen einheitlichen theoretische Begriff bekommt. Bourdieu führt in seinen semiotischen Studien zur Ehre und Zeitbewusstsein vor, wie die »Systeme dauerhafter Dispositionen« (1976c: 165) in den Akteuren fortexistieren, obwohl die gesellschaftlichen Strukturen längst andere sind. 94
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mengenommen eine zusammenhängende Haltung des Menschen zur Welt ergeben. Bourdieu strukturiert und erweitert sie. Der Habitus bildet in seiner Theorie die zentrale Schnittstelle zwischen einem die Wahrheit der ursprünglichen Erfahrungen von Individuen mit der sozialen Welt explizierenden Subjektivismus und dem vom Willen und Bewusstsein der Akteure unabhängige Relationen behauptenden Objektivismus. Die Entwicklung des Habituskonzepts lässt sich als eine kontinuierliche Linie skizzieren, deren primitives Ende der Habit und deren komplexes Ende der Habitus darstellt. Der Gedanke von einem Habit als mechanistische Reaktion auf Stimuli besteht seit ca. 1780. Ursprünglich eine evolutionistische Konzeption zur Beschreibung niederer Arten, so z. B. die »feeding habits of British insects«, von denen Darwin in »On the Origin of Species« 38 spricht (vgl. Camic 1986: 1048), steigt der Entwurf mit der Übernahme durch John Watson in seinem »behavioral movement« zum Allgemeingut der Soziologie und Psychologie auf. Er fordert ein, dass Psychologie nur noch in Begriffen von Stimulus und Response (Reiz/ Reaktion) geschrieben werden soll und platziert den Habit in die Mitte seines Programms der Analyse des menschlichen Verhaltens. Für ihn ist der Habit ein System von Reflexen und Teil der »total striped and unstriped muscular and glandular changes which follow upon a given [environmental] stimulus« (Camic 1986: 1068). Dem Behaviorismus zufolge ist der Mensch nichts weiter als die Summe seiner Instinkte und Habits. Am komplexen Ende des Kontinuums entwickelte sich ungefähr zeitgleich mit dem Habit die Idee des Habitus. Diese Übersetzung des aristotelisch-scholastischen Konzepts verwandten Autoren wie Leibniz, Hegel, Husserl, Durkheim, Weber oder Mauss. Bourdieus spezifische Leistung in diesem Zusammenhang besteht in der Erweiterung des theoretischen Kontinuums Habit-Habitus an seinem komplexen Pol hin zu einer »Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen« (Bourdieu 1976c: 164). Dies ist insofern bemerkenswert, da in den 1960er Jahren, als Bourdieu seine Theorie entwickelte, das Habituskonzept, obwohl bereits von Emile Durkheim und Max Weber ausgearbeitet, in der wissen-
38 Die Soziologie bemerkt in jüngster Zeit verstärkt die strukturelle Ähnlichkeit von kultureller und biologischer Evolution und scheut sich nicht, auf die Ideen von Charles Darwin zurück zu greifen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der Begriff der »internen Auswahl«, der die gesteuerte Erprobung und Auswahl von Verhaltensstrategien von Organismen bezeichnet. Dieser wird zu einem soziologisch brauchbaren »Modell für die evolutionäre Analyse menschlicher Kultur, insbesondere des kreativen Handelns, der Rolle von Werten und der Organisation sozialer Systeme« (Baldus 2002: 316). 95
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schaftlichen Rezeption deutlich hinter dem behavioristischen Habitkonzept zurückstand. 39 Bourdieu bezeichnet als Quellen seiner Habitustheorie zum einen die Scholastik selbst, die »Habitus« als Übersetzung der aristotelischen »Hexis«, der inkorporierten, sich in Gesten, Reden, Körperhaltung, Fühlen und Denken ausdrückenden politischen Ordnung, benutzt. Die scholastische Philosophie sieht den Habitus eines Menschen als ein Kapital, das aufgrund seiner Einverleibung den Schein des Natürlichen, göttlich Gegebenen erweckt. Der Ansatz von Emile Durkheim ist zum anderen der zweite wichtige Bezugspunkt der bourdieuschen Habitustheorie. Durkheim liefert Bourdieu die Idee einer Konstruktion der sozialen Welt über die kognitiven Strukturen der Akteure, Klassifikationsformen, die die Grundlage einer Art Einmütigkeit über das Ensemble der von allen geteilten Selbstverständlichkeiten einer Kultur bilden. Emile Durkheim sieht daher im Konzept des Habitus einen grundlegenden Baustein in der moralischen Entwicklung einer jeden Gesellschaft (vgl. Camic 1986: 1039). In seiner »Evolution pédagogique en France« führt er aus, wie durch die transformationelle und moralische Macht der Bildungsinstitutionen die Ausbildung eines »christlichen Habitus« die ethischen Grundlagen der christlichen Kultur in heidnischen Akteuren verankert. Der dritte Ausgangspunkt der Habitustheorie ist das Werk von Marcel Mauss über die Techniken des Körpers (vgl. Mauss 1975: 199-220). Mauss dient der Habitus zur Erklärung der systematischen Funktionsweisen der vergesellschafteten Körper (vgl. Bourdieu 1993a: 127). Bourdieu entlehnt somit von der Scholastik den Gedanken der Einverleibung, von Emile Durkheim den Gedanken der habitusimmanenten Ethik und von Marcel Mauss die Idee der sozial bedingten Gestik. Bourdieu kombiniert diese Ideen mit dem »Wesenssinn« des Kunsthistorikers Erwin Panofsky zu seinem Habitusbegriff. Erwin Panofsky gilt als erster Wissenschaftler, der die Kunstgeschichte jenseits von der Ikonographie mit Bezug auf die dokumentarische Methode der Interpretation von Karl Mannheim wissenssoziologisch erweitert und einen hermeneutischen Ansatz zum Verständnis symbolischer Werte und kultureller Botschaften in der Kunst erarbeitet hat (vgl. Landauer 1994: 257). Auch Erwin Panofsky registriert den Begriff des Habitus, benutzt 39 Das Habituskonzept taucht allerdings bereits Anfang der 1960er Jahre erstmals in der Sozialgeographie auf. Wolfgang Hartke verwendet hier den Begriff des »anthropologischen Habitus« (1963: 217), um die Erwerbsgruppe der Hausierer von den Sozialgruppen der Industrie- und Landarbeiter analytisch zu trennen. Die Hausierer weisen Hartke zufolge einen erwerbsspezifischen Habitus auf, der sie als Mitglieder einer sozialen Gruppe zusammenfasst (vgl. Hartke 1963: 217). 96
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ihn jedoch nicht systematisch, sondern lediglich randlich. Seine wissenssoziologisch informierte Kunsthistorik konzentriert sich dagegen auf die Unterscheidung verschiedener Bedeutungsschichten oder Sinnebenen eines Kunstwerks. Das Ziel ist dabei, das Gestaltungsprinzip, den immanenten Sinn eines Kunstwerkes, freizulegen, das alle Werke einer Epoche wie ein unsichtbares Band verbindet. Dieser »Wesenssinn« steht in seiner Theorie hinter allen künstlerischen Phänomenen eines Zeitalters. Er erweckt »den Eindruck einer inneren Struktur, an deren Aufbau, Geist, Charakter, Herkunft, Umgebung und Lebensschicksal in gleicher Weise mitgearbeitet haben« (Panofsky 1964a: 93). Der »Wesenssinn« ist als Produktionsprinzip einer Ära allen Kunstwerken auf einer Metaebene vorgeschaltet. 40 Er arbeitet der Hypostasierung eines Eindrucks entgegen, der aus dem individuellen Charakter des Künstlers ein Kunstwerk erklären will (vgl. Panofsky 1964b: 37). Panofsky zufolge ist seine Quelle das »weltanschauliche Urverhalten« (1964a: 95) der Subjekte, wobei die Grenzen in der allgemeinen Geistesgeschichte als »Inbegriff des weltanschaulich möglichen« (Panofsky 1964a: 95) liegen, die den Künstlern bzw. Akteuren vorreflexiv vorausgesetzt sind. Die Idee »eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt« (Panofsky 1964a: 93) beschreibt die Tatsache, dass im Zentrum des Individuellen Kollektives in Form von Kultur und Bildung zu entdecken ist (vgl. Bourdieu 1974: 132). Jedes Individuum inkorporiert diese sozialen Bedingungen in den Grenzen seiner Kultur. Diese »Verinnerlichung der Äußerlichkeit« (Bourdieu 1987a: 102) zeigt sich im Habitus, der folglich gesellschaftlich determiniert ist. Der Habitus antwortet auf die Frage der Genese, Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis der sozialen Praxis durch die Akteure. Bourdieu erweitert so das bekannte soziologisch-philosophische Habituskonzept mit der Sinntheorie von Erwin Panofsky zu einer »Theorie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt« (Bourdieu 1976c: 148). Vereinfacht gesprochen ist der Habitus ein »System von Grenzen« (Bourdieu 1992b: 33), die einem Individuum gewisse Handlungen verwehren und als unmöglich erscheinen lassen. Der Habitus ist das Grundprinzip menschlicher Handlungsfähigkeit, seine inkorporierte Geschichte, die in alle Handlungen der Gegenwart einfließt. Er ist ein System somatischer Dispositionen. Der Habitus baut sich aus diesen subjektiven Prinzipien der Anschauung auf. Dispositionen sind kognitive Katego40 Erwin Panofskys Arbeiten zeitlich vorangehend, benutzt Georg Simmel den Begriff des »Typus« zur Benennung der Gemeinsamkeit hinter den sich gleichenden Stilen einer Epoche. In Bezug auf eine Affinität des Stils in einer Ära formuliert er, »daß der Einzelne doch schließlich sich als Träger eines Typus darstellt, eines mehr oder weniger allgemeinen Charakters oder Temperaments« (Simmel 2000: 299). 97
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rien, mittels derer die Akteure erst die Welt als sinnvolle gelebte Wirklichkeit erkennen und konstruieren können (vgl. Bourdieu 1997a: 93). Analytisch lassen sich drei Aspekte von Dispositionen unterscheiden. Sie bilden ein System aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, 41 das zusammengenommen den Habitus ergibt. Diese Schemata verdanken ihre Ausprägung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse 42 bzw. sozialen Position. Das individuelle Dispositionssystem eines Akteurs bildet aus diesem Grund immer eine strukturale Variante der anderen, klassengleichen Dispositionssysteme. In jedem individuellen System stecken die Einzigartigkeit des Individuums und seiner sozialen Position und gleichzeitig Gemeinsamkeiten, die die Dispositionssysteme der Individuen in vergleichbaren sozialen Positionen ausbilden. Diese Ähnlichkeiten der Dispositionssysteme von Akteuren in analogen sozialen Lagen äußern sich z. B. in Geschmack, Moralvorstellungen, äußerer Erscheinung oder ästhetischer Wahrnehmung. Sie definieren zusammengenommen den Klassenhabitus, d. h. den individuellen Habitus, insofern er Ausdruck und Widerspiegelung der Klasse oder Gruppe ist und ein subjektives, aber nichtindividuelles System verinnerlichter Strukturen sowie gemeinsamer Dispositionen bildet (vgl. Bourdieu 1971: 26). Als zu veränderndes Instrument entstehen Dispositionen im Zuge der Sozialisation eines Akteurs. Sie prägen sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen Praxis aus, deren Zugang durch die Klassenlage mehr oder weniger vorbestimmt ist. Die sukzessive Aneignung von habituellen Eigenschaften eines Akteurs vollzieht sich daher in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Position. Dispositionen sind folglich das Ergebnis von Lernprozessen. Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, in die sich Dispositionen analytisch untergliedern, prägen sich so je nach Klassenlage des Individuums aus. Die Wahrneh41 Erwin Panofsky, von dem Bourdieu in seinem Habituskonzept Anleihen übernimmt, konstruiert in Bezug auf die Formulierung einer Wahrheit ebenfalls diese Unterscheidung von »Funktion der Wahrnehmung«, »Ablauf des Denkprozesses« und »Art der Einstellung« (vgl. Panofsky 1964b: 39). 42 Bourdieu definiert Klassen als »Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen (im sozialen Raum; P.D.), und die, da ähnliche Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen, folglich auch ähnliche Praktiken und politisch-ideologische Positionen« (Bourdieu 1985: 12). Sie bilden demnach das Ergebnis einer theoretischen Klassifikation. Anders als bei Karl Marx sind Klassen für Bourdieu keine existierenden Gruppen, sondern Konstrukte, die ausschließlich zur Prognose und Erklärung von Praxis dienen, vergleichbar mit den Taxonomien von Zoologen oder Botanikern. 98
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mungsschemata strukturieren die Wahrnehmung der sozialen Umwelt. Sie sind der sensuelle Aspekt der praktischen Erkenntnis. Die Denkschemata generieren Alltagstheorien zur Interpretation und kognitiven Einordnung der sozialen Welt. Sie umfassen implizite ethische Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen. Bourdieu benennt diese dem Habitus eigene Ethik als »Ethos« (1993a: 126) des Habitus. Ethos bezeichnet »ein objektiv systematisches Ensemble von Dispositionen mit ethischer Dimension« (Bourdieu 1993a: 126), die sich in praktischen Prinzipien des Alltags ausdrücken. Die Unterscheidung von Ethik als ein kohärent formuliertes System theoretischer Prinzipien und Ethos als systematisches Ensemble praktischer Prinzipien, differenziert folglich zwischen Theorie und sozialer Praxis. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Akteure praktischen Prinzipien folgen können, ohne eine systematische Ethik zu formulieren. Denkschemata fassen des Weiteren ästhetische Maßstäbe zur Bewertung von kulturellen Objekten und Praktiken zusammen, die sich als Geschmack, d. h. als in sich zusammenhängendes Wahlprinzip von Praktiken und Besitztümern, präsentieren. Die Handlungsschemata bringen schließlich die individuellen oder kollektiven Praktiken der Akteure hervor. Der Habitus formt sich in der direkten Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt, d. h. die Klassenlagen der Akteure prägen seine Entstehung und formen de facto die Grenzen des Habitus aus. Die Einprägungsarbeit der Dispositionen in den biologischen Körper des Individuums vollzieht sich mittels des Zusammenspiels von »Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Notwendigkeiten, Erleichterungen und Verbote« (Bourdieu 1987a: 100). Der Rahmen ihrer Entstehung im Zusammenhang von subjektiver Lage und objektiver Strukturbedingung erklärt zugleich die außerordentliche Beständigkeit, die einmal erworbene Dispositionen aufweisen. Im Spannungsfeld von Individuum und Struktur neigen sie dazu, sich selbst zu reproduzieren. Die Schwierigkeit der Veränderung einmal erworbener Dispositionen verdeutlicht Bourdieu an den Anstrengungen, die es erfordert, einen Dialekt in der Aussprache zu korrigieren, der das Produkt der bildenden Erziehung ist und sich so einer vollständigen Berichtigung entzieht (vgl. Bourdieu 2002a: 29). Der Habitus als System dauerhafter Dispositionen verdankt seine Standhaftigkeit einem Zirkelschluss in der bourdieuschen Argumentation. Dispositionen sind demnach das Produkt objektiver Strukturen, die wiederum ihre Wirksamkeit ausschließlich den Dispositionen verdanken, die von ihnen ausgelöst werden und die zu ihrer Reproduktion beitragen. Bourdieu entwickelt diesen scheinbaren Circulus vitiosus in Rückgriff auf Leibniz, indem er postuliert, dass der Habitus als System von Dispositionen nicht getrennt werden darf von den Struk99
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turen, d. h. den habitudines im Sinne von dauerhaften Seinsweisen und Strukturen, die aus der Evolution hervorgegangen sind (vgl. Bourdieu 2005: 74-78). Dieser in sich vollständig geschlossene Kreis ist ein Ausnahmefall, namentlich der Fall, in dem die objektiven Bedingungen, in denen der Habitus handelt, dieselben objektiven Bedingungen sind, die ihn produzieren. Diese Synchronisation und Überlagerung der objektiven Bedingungen ist nur in sich schnell verändernden Gesellschaften denkbar, in denen die Strukturänderungen sich in dem gleichen Tempo vollziehen wie Abwandlungen der Habitusformationen (vgl. Bourdieu 2002a: 30). Beispielsweise zeigen die Transformationsstaaten Osteuropas momentan annähernd die Bedingungen eines solchen Zusammenfallens. Der Habitus operiert folglich auf zwei verschiedenen Ebenen. Als strukturierte Struktur (habitudines) ist er inkorporierte Geschichte. Er verkörpert die Erfahrung aus den ökonomisch-materiellen Lebensbedingungen und gewährleistet die Präsenz vergangener Erfahrungen in der Gegenwart. Als strukturierende Struktur bildet der Habitus das generierende Prinzip und die kreative Kapazität der Praxis. Diese Ebene des Habitus trägt der Tatsache Rechnung, »daß wir eine große Anzahl ähnlicher Beobachtungen aufeinander abstimmen und sie im Zusammenhang mit unseren allgemeinen Informationen über seine Epoche, Nationalität, Klasse, intellektuelle Tradition und so fort interpretieren. Doch all diese Eigenschaften, die jenes geistige Porträt explizit erkennen ließe, sind implizit in jeder einzelnen Handlung enthalten - so daß umgekehrt sich jede einzelne Handlung im Licht jener Merkmale interpretieren lässt« (Panofsky 1975: 38).
Der Habitus ist ein sozial konstruiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, erworben in praxi und gleich bleibend auf praktische Funktionen ausgerichtet (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 154). Die dem Habitus innerlichen Dispositionen übersetzen sich in Gesten, Geh-, Steh- und Sprechweisen der Akteure, die charakteristisch für diese sind. Der Habitus ist das Erzeugungsprinzip eines bestimmten kohärenten Stils der Gestik als eine der wichtigsten Formen der Zivilisierung und Habitualisierung des Körpers. Gesten fungieren als Sprache des Körpers, die menschliches Verhalten erst berechnend gestaltet. Sie sind als Teil des impliziten Wissens ebenfalls Teil des Habitus und tragen zur situationsspezifisch angemessenen Steuerung des Handelns bei (vgl. Wulf 2005: 80-81). In Gesten drückt sich der Körper als Speichermedium des Habitus aus. Als das übergreifende Prinzip für ein dem Anschein nach unvereinbares Zusammenspiel von Verhaltens- und körperlichen Ausdrucksformen garantiert der Habitus die Identität eines Ak100
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teurs. Identität ist in der Theorie der Praxis die Beständigkeit des Habitus. Diese Kohärenz und Stabilität des Habitus bezeichnet Bourdieu mit Hysteresis. Hysteresis drückt einen »Time-Lag« des Habitus hinter einem plötzlichen Wandel der objektiven materiellen und sozialen Bedingungen aus, an die sich ein unter anderen Bedingungen erworbener Habitus erst anpassen muss. Bourdieu verdeutlicht diesen Effekt anhand der »Opfer der Hysteresis« (1992c: 252) im französischen Hochschulsystem der 1960er Jahre. Strukturveränderungen in den hochschulinternen Karrierewegen führten zum Ausschluss von Akteuren mit einem anachronistischen, d. h. unter den nicht mehr gültigen Regeln erworbenen Habitus aus der weiteren Universitätslaufbahn, da diese nicht in der Lage waren, sich an die neuen Strukturen anzupassen (vgl. Bourdieu 1992c: 252). In seiner Theorie schreibt Bourdieu dieser Trägheit des Habitus zwei wesentliche Effekte zu, die ein vergleichbares Konzept der Hysteresis für eine jede Handlungstheorie als wesentlich gestalten. Der Habitus ist zum einen ein historisch produziertes Prinzip der Neuschöpfung, das aber aufgrund der Hysteresis aus der Geschichte herausgehoben ist und zeitlich verzögert auf Ereignisse reagiert. Der Habitus ist gleich einem disponierten Schema organisiert, das sinnliche Eindrücke und Erfahrungen erfasst, spezifisch verarbeitet und sich selbst in diesem Prozess modifiziert. Der Hysteresiseffekt erfüllt die Filterfunktion, die verhindert, dass ein Habitus alles aufnimmt und verarbeitet, was in der Welt ist. 43 Die zweite Nachwirkung der Trägheit des Habitus bezeichnet Bourdieu mit der »Kluft zwischen den Gelegenheiten und den Dispositionen« (1987a: 111), die es einem Akteur unmöglich macht, auf alle Chancen und Gelegenheiten, die sich ihm bieten, entsprechend zu reagieren. Bourdieu sieht in diesem zweiten Hysteresiseffekt die Ursache für das häufig feststellbare Unvermögen von Individuen oder Gruppen, auf Krisensituationen in anderen Wahrnehmungs- und Denkkategorien als jenen der Vergangenheit zu reagieren (vgl. 1987a: 111). Die von Bourdieu mit Hysteresis bezeichnete Kohärenz und Trägheit des Habitus ist ein bedeutsamer Anschlusspunkt für empirisch angelegte Sozialforschung. Sie erklärt die Konstanz der Dispositionen, des Geschmacks und der Neigungen von Akteuren und erlaubt so die Konstruktion unterschiedlicher Dimensionen von sozialer Praxis, die mithilfe des Habitus und dessen Beständigkeit in ihrer Einheit einer wissenschaftlichen Erklärung zugänglich gemacht werden. 43 Georg Simmel schreibt diese Filterleistung gegenüber den multiplen Eindrücken der Welt einem »Schutzorgan« zu, das er in dem »Verstande« des Menschen verortet (vgl. Simmel 1903: 189). Im Unterschied zu Bourdieu spielt für Georg Simmel der Körper für die Verarbeitung von Sinneseindrücken und Erfahrungen keine Rolle. 101
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Die Elemente des Verhaltens von Personen mit identischen gesellschaftlichen Positionen und daher ähnlichen Habitus weisen Gemeinsamkeiten auf. Sie zeigen eine Art Affinität des Stils. Es sind erworbene und keine angeborenen oder natürlichen Charakteristika. Bourdieu definiert die Habitusformen daher als »Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen« (1976c: 165). Der Habitus ermöglicht es den sozialen Akteuren, soziale Praxis zu generieren und gleichzeitig zu erkennen, wahrzunehmen und zu erfahren. Bourdieu geht also davon aus, dass die Akteure gesellschaftlich prädeterminiert sind und nicht nach freien eigenen Maßstäben handeln. Der Habitus ist dabei »ein Produktionsprinzip von Praktiken unter anderem« (Bourdieu 1989: 397). Bourdieu behauptet somit, dass nicht der soziale Akteur gesellschaftlich prädeterminiert ist, sondern sein Habitus, denn »wir sind (...) in dreiviertel unserer Handlungen Automaten« (Bourdieu 1989: 397). Diese Konzeption des Habitus ist mit dem Risiko verbunden, menschliches Handeln allzu monolithisch und strukturiert zu denken. Bourdieu betont jedoch das Gegenteil. Der Habitus ist offen und divers, ein genetisches Prinzip zur Hervorbringung von Praxis, jedoch immer innerhalb seiner Grenzen. Habitus ist daher von dem allgemeineren Begriff der Gewohnheit zu unterscheiden. Gewohnheit ist ein beständiger Speicher menschlichen Handelns, der sich auf zukünftiges Handeln auswirkt. Gewohnheit ist ein mechanistisch-automatistisches Prinzip der Wiederholung. Bourdieu kritisiert am Begriff der Gewohnheit, dass dieser nicht in der Lage ist, sich einer Theorie des Subjektes zu entziehen, ohne auf den Akteur zu verzichten (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 154). Als subjektivistisches Axiom der Wiederholung ist es nicht anschlussfähig an eine Theorie der Erzeugung von Praxisformen. Der Habitus als »sozialisierte Subjektivität« (Bourdieu/Wacquant 1996: 159) leitet unbewusst die Praxis. Medium dieser Leitung sind die Strategien, denen Akteure in praxi folgen. Der Habitus erzeugt die Logik der Strategien ohne die bewusste Absicht der Akteure (vgl. Bourdieu 1993b: 371). Distinktion als unintendierter Effekt, der aus der Aneignung eines expressiven Lebensstils stammt, ist ein Beispiel für solch eine Logik der Strategien. Die gesellschaftliche Praxis, die Bourdieu in seinen Studien untersucht, ist dementsprechend eine vom praktischen Sinn des Habitus generierte strategische Praxis. Strategien sind »Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten, die nicht unbedingt auch die subjektiv angestrebten Ziele sein müssen« (Bourdieu 1993a: 97). Bourdieus Konzept der habitusimmanenten Strategie erklärt die häufig zu beobachtende Dialektik von subjektiven Erwartungen und objektiven 102
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Chancen eines Akteurs oder einer Gruppe von Akteuren, die vielfach durch eine Anpassung der Erwartungen an die Chancen aufgelöst wird (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 164). Der Unterschied zwischen einem allgemeinen sozialwissenschaftlichen Strategiebegriff44 und dem bourdieuschen Strategiebegriff liegt in diesem Moment der Absichtslosigkeit. Mit seinem eigenen habituell eingelagerten, interesselosen Strategiebegriff grenzt sich Bourdieu gegen andere Handlungstheorien ab und vermeidet gleichzeitig das Risiko eines Paralogismus, der das Erklärungsmodell der sozialen Praxis selbst zu einem konstitutiven Teil der zu erklärenden Praxis erhöht. Der Habitusbergriff ist der theoretisch am weitesten ausgearbeitete Teil der praxeologischen Sozialtheorie von Pierre Bourdieu. Er setzt das Konzept der inkorporierten Gesellschaft an zentraler Stelle in seinem Theorieentwurf ein, um in Anlehnung an Erwin Panofsky der Hypostasierung zu entgehen, die aus dem individuellen Handeln eines Akteurs sein Wesen und seinen Charakter erkennen will. Dies gelingt allerdings nur um den Preis einer problematischen Ähnlichkeit zwischen dem Psychischen und dem Sozialen (vgl. Weinbach 2004: 67). Im Habitus ist das Soziale immer Möglichkeitsbedingung des Psychischen, aber das Psychische ist nicht mit dem Sozialen gleichzusetzen. Schwerer als diese angedeutete Analogie wiegt, dass Bourdieu nicht den Punkt angibt, an dem der Habitus gezwungen ist, sich zu verändern. Er stattet zwar das System der habitusimmanenten Dispositionen mit einer kreativen Kapazität, einer »Ars inveniendi«, aus, allerdings gibt er keine Antwort auf die Frage, wie dieses kreative Potenzial im Inneren eines Akteurs organisiert ist, wie die Fähigkeit zu reagieren, Innovationen zu erzeugen, funktioniert. Der Habitus ist zwar als ein »System von Grenzen« (Bourdieu 1992b: 33) konzipiert, besitzt aber selbst keine innere Grenze, die den Ort der Regelverletzung als kreativen Akt angibt. Der Habitus erscheint so als ein theoretisches Konzept »im Fluss«, Voraussetzung von Praxis und Folge jener Praxis, als deren Voraussetzung er auftritt.
Feld/Kapital Bourdieu setzt in seiner Theorie zwei unhintergehbare Rahmenbedingungen für das Handeln der Akteure. Akteure sehen sich zum einen den 44 Ein Beispiel für einen solchen allgemeinen Strategiebegriff liefert Rolf Lindner: »Der Begriff Strategie ist (...) dem Militärischen entnommen. Er beinhaltet rationales Handeln in einem bestimmten Felde mit zur Verfügung stehenden Mitteln zum Erreichen eines bestimmten Zieles. Unter Strategie wird ein allgemeiner Rahmenplan verstanden, innerhalb dessen einzelne Mittel taktisch eingesetzt werden« (1981: 57). 103
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inkorporierten Grenzen ihrer Habitus ausgesetzt, der verinnerlichten Gesellschaft, die weite Teile der Praxis nicht nur als unerreichbar oder unmöglich erscheinen lässt, sondern als undenkbar. Ein Habitus handelt immer nur in den klassenspezifischen Grenzen seiner Sozialisation. Er erklärt, warum das Handeln der Individuen niemals wie ein ausgeklügeltes Buch erscheint, jedoch ebenfalls nicht wie eine Serie völlig freier Entscheidungen eines unabhängigen Subjekts. Der Habitusbegriff vermittelt zwischen individuell strategischer Wahl von Alternativen und sozialen Strukturen sowie Verbindlichkeiten. Die Praxismöglichkeiten eines Akteurs sind darüber hinaus bedingt durch die äußeren Strukturverhältnisse, die aus den Handlungen der anderen Akteure folgen. Bourdieu führt für diese institutionellen Zwänge den Begriff des Feldes ein. Felder sind Systeme »der objektiven Beziehungen, Produkt des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermaßen die Realität von physischen Objekten haben« (Bourideu/Wacquant 1998: 160). Die Gesellschaft, in den Worten Bourdieus der soziale Raum, ist nicht ein zusammenhängendes Ganzes, sondern zerfällt in die unterschiedlichen funktionsspezifischen Teilbereiche der Felder. Beispiele sind das religiöse Feld, das Feld der Kunst, der Politik, der Wissenschaft, das juristische Feld oder das ökonomische Feld. Die Gesellschaft konstituiert sich über die Auseinandersetzungen in den autonomen Feldern.45 Felder sind als eine besondere Konstellation von Akteuren zu begreifen, die mit spezifischen Interessen, Strategien und Kapitalstrukturen ausgestattet auf einem komplementären Markt mit spezifischer institutionalisierter Infrastruktur in diverse Konkurrenzbeziehungen eintreten. Felder definieren sich über die Konkurrenz zwischen Akteuren zu einem spezifischen Gut, um das zu konkurrieren ein Interesse besteht. Die Grenzen des Feldes sind zugleich die Grenzen des Wirkungsbereichs der eingesetzten, in diesem Feld wirksamen Kapitalart. Im Feldbegriff fallen Kapital, Akteure, Interessen, Strategien, Markt und institutionalisierte Infrastruktur zusammen. Bourdieu weicht in der Feldtheorie von seinem Deutungsmuster der stratifiziert differenzierten modernen Gesellschaft ab. Das Konzept des sozialen Raums erlaubt kein gleichrangiges horizontales Nebeneinander von sozialen Positionen, sondern bezieht sich auf eine vertikale Differenzierung auf Grundlage der Kapitalausstattung der verschiedenen 45 Die Teilbereiche der Gesellschaft, die Bourdieu mit Feld bezeichnet, tauchen implizit oder explizit in weiteren Sozialtheorien auf. So bilden die »Wertsphäre« bei Max Weber, die »Sinnprovinz« bei Alfred Schütz oder das »Subsystem« bei Talcott Parsons und Niklas Luhmann den Komplementärbegriff der jeweiligen Theorie zum bourdieuschen Feld (vgl. Müller 2002: 167). 104
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Klassen. Diese Grundintention der Ungleichheit zieht sich durch sein gesamtes theoretisches und empirisches Œvre. Er steigert diese Einschätzung weitestgehend in seinen Arbeiten zum Neoliberalismus und dem »Modell Tietmeyer« (vgl. Bourdieu 2004: 64-70). Gleichwohl gibt Bourdieu dieses Prinzip der Stratifizierung in seiner Feldtheorie implizit preis. Die einzige Hierarchie, die zwischen den verschiedenen sozialen Feldern greift, ist die übergeordnete »Schiedsrichterrolle« (Bourdieu 2001b: 164) des Staates. Der Staat erscheint als eine vorangestellte Instanz, ein von vergangenen Kämpfen im Feld der Macht bzw. der Politik strukturiertes Repositorium, das Einfluss auf alle weiteren sozialen Felder nimmt. 46 Diese stehen untereinander wiederum in einem relationalen Verhältnis ohne hierarchische Strukturierung. Bourdieu sieht die Gesellschaft funktional differenziert: »Die Theorie der Felder beruht auf der Feststellung (...), daß in der sozialen Welt ein fortschreitender Differenzierungsprozess stattfindet« (1998a: 148). 47 An anderer Stelle schreibt er noch deutlicher von der »allgemeinen gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung« (Bourdieu 1972: 148). Es bestehen zwar in den jeweiligen Feldern Hierarchien, die sich in den jewei46 Die Konzeption des Staates bzw. der Politik ist in Bourdieus Werk relativ zu seinen weiteren theoretischen Begriffen unsystematisch. So erscheint die Politik einerseits als Feld ohne übergeordnete Funktion, um »die Realität der Politik oder des politischen Spiels genau zu erfassen« (Bourdieu 2001c: 41). Diese relationale Konzeption von Politik erlaubt es anschließend, die »Realität [der Politik; P.D.] mit anderen Realitäten zu vergleichen, wie dem religiösen Feld, dem künstlerischen Feld...« (Bourdieu 2001c: 41). Andererseits nimmt die Politik wiederum die übergeordnete »Schiedsrichterrolle« (Bourdieu 2001b: 164). Letztlich ist die Rolle der Politik bzw. des politischen Feldes von Bourdieu nicht theoretisch scharf ausgearbeitet. 47 Jedes Feld ist ein soziales Universum, das unabhängig von äußerlichen Bestimmungen und Einflussnahmen existiert. Hierin besteht die strukturelle Gemeinsamkeit der Feldtheorie und der Theorie der funktionalen Differenzierung von Niklas Luhmann. Dieses Faktum ist auch Bourdieu nicht verborgen geblieben. Er grenzt die Feldtheorie daher am Beispiel des juristischen Feldes von der Systemtheorie ab. Luhmann konzipiere die legalen Strukturen des Funktionssystems Recht in der Systemtheorie als selbstreferenziell. Bourdieu kritisiert diese Setzung dahingehend, dass sich hier anstatt einer neuen juristischen Theorie lediglich die alte formalistische Theorie des juristischen Systems, gemäß der das juristische System sich nur auf sich selbst bezieht, unter neuen Namen präsentiere. Die Systemtheorie biete daher einen idealen Rahmen für die formale und abstrakte Repräsentation des juristischen Systems selbst (vgl. Bourdieu 1987b: 816). Bourdieu hingegen führt als grundlegende Kategorie der sozialen Welt die objektiven Relationen zwischen dem Feld der Macht und dem juristischen Feld ein, die den gesamten sozialen Raum prägen (vgl. Bourdieu 1987b: 841). 105
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ligen sozialen Positionen der am Spiel beteiligten Akteure ausdrücken, aber es findet sich keine Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Feldern. Der Feldbegriff bezeichnet demnach die objektive Struktur ungleicher Positionen, die sich um jede Form von Praxis akkumulieren (vgl. King 2000: 425). Die Idee einer Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Felder antwortet auf die grundlegende Herausforderung für eine jede Handlungstheorie, namentlich die Frage ihrer strukturellen Einbettung. C. Wright Mills kritisierte intentionalistische Handlungstheorien m. W. als erster dahingehend, dass diese zwar Handlungen auf Motive und Absichten der einzelnen Handelnden zurückführen, hingegen die soziale Genese dieser Intentionen außer Acht lassen. Mills betont stattdessen die soziale Vorgeprägtheit der Handlungsmotive, die nicht in einem kognitiv selbstständigen Subjekt entstehen, sondern durch die und in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt (vgl. Mills 1940: 904). Die Handlungstheorie von Pierre Bourdieu fordert diese strukturelle Einbettung der Praxis an zwei zentralen Stellen der Theorie ein: in den klassenspezifischen Grenzen des Habitus und in den äußeren Strukturbedingungen der Felder. Hans-Peter Müller bezeichnet aufgrund dieser außergewöhnlichen Betonung der Strukturbedingungen Bourdieus Theorie als »kybernetische Handlungstheorie« da sie »den Regelkreis zwischen Struktur und Praxis« (2002: 164) beschreibt. 48 Bourdieu denkt Feld und Habitus zusammen. Zwischen Habitus als inkorporierter Geschichte und Feld als institutionalisierter Geschichte besteht ein Komplementärverhältnis. Ein Habitus ist an die Bedingungen des sozialen Feldes, in dem er aktiv ist, angepasst: »Das Verhältnis, das sich zwischen Habitus und Feld ergibt, dem jener objektiv angepasst ist (weil er sich in Bezug auf die ihm innewohnende spezifische Notwendigkeit konstituierte), stellt eine Art unterbewußte und vorreflexive ontologische Komplizität dar. Diese drückt sich darin aus, was als ›Spiel-Sinn‹ (oder praktischer Sinn) bezeichnet wird: eine intentionslose Intentionalität, die im Sinne eines Prinzips von Strategien ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewußte Zwecksetzung funktioniert« (Bourdieu 1989: 397).
48 Ein solcherart formalistisches Verständnis von Handlungstheorie stößt verständlicherweise auf Kritik vonseiten des methodologischen Individualismus. Beispielsweise warnt Anthony Giddens in diesem Zusammenhang vor einer zu positivistischen Sichtweise, die eine Erforschung sozialer Phänomene zu einer »natural science of society« (1976: 727) umdefiniert, da sie dem Subjekt kaum noch eine eigenständige Entscheidungsfähigkeit jenseits sozialstruktureller Automatismen zugesteht. 106
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Der Habitus sorgt für die unterschwellige Einhaltung der Regeln 49 des Feldes. Diese Beziehung von Habitus zu den Feldern, an die er angepasst ist und in denen er um Kapital und symbolische Macht kämpft, d. h. die Relation von inkorporierter Geschichte und objektivierter Geschichte, ist das Herzstück der Handlungstheorie von Bourdieu. Praxis stellt sich in einem Bezugsrahmen von Habitus und Feld her. Das Kernstück der praxeologischen Theorie manifestiert sich somit in dieser doppelsinnigen »Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus)« (Bourdieu 1998a: 7). Einen formalistischen Versuch, diesen strukturellen Zusammenhang von Habitus, Feld, Kapital und Praxis aufzuzeigen, liefern Schinkel und Tacq. Ihre vereinfachende Gleichung: »[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis« (2004: 58) ist jedoch in mehrerer Hinsicht problematisch. In Bourdieus Theorieentwurf ist der Habitus an ein Feld angepasst und konkurriert in seiner Angepasstheit um das jeweilige spezifische Kapital in dem Spiel des Feldes. Das Konkurrieren selbst strukturiert zum einen das Feld. Es zeichnet zum anderen ebenfalls die Grenzen des Feldes und ist zugleich Praxis. Das Strukturverhältnis von Habitus, Kapital, Feld und Praxis entzieht sich mithin einer formalistischen, mathematisch-logischen Darstellung, da das eine integraler Teil des anderen ist und wiederum ein Drittes bildet. Die Teile der Gleichung weisen folglich keine Grenzen gegeneinander auf, die absolut sind. Die Konkurrenzbeziehungen der Akteure in den unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft kennzeichnet Bourdieu als ein Spiel. 50 In jedem Feld wird gespielt, d. h. Akteure konkurrieren um die wichtigen, in den Feldern wertvollen Kapitalien und bilden einen Raum sich wechselseitig wahrnehmbarer objektiver Positionen. Antrieb des Spiels sind 49 Bourdieu gebraucht den Begriff der Regel als eine vom Beobachter konstruierte erklärende Hypothese, die erst ein Berichten über das Beobachtete erlaubt. Regeln sind in der praxeologischen Theorie kein Prinzip, das wirklich die Praxis lenkt (vgl. Bouveresse 1993: 42). Bourdieu betont, dass ein Bestand von Regelmäßigkeiten nicht mit dem Vorhandensein einer Regel verwechselt werden dürfe. Er ersetzt daher Regel durch seinen Begriff der Strategie, da die »Theorie, die zu Erklärung der Praktik der Akteure konstruiert werden muß, (...) nicht als deren Prinzip ausgegeben werden« (Bourdieu 1992a: 80) könne. 50 Bourdieu definiert m. W. an keiner Stelle seines Werkes einen eigenen Spielbegriff. Aus der Verwendung des Begriffs in der Theorie der Praxis lässt sich jedoch ableiten, dass Bourdieu »Spiel« als einen abgrenzbaren Binnenraum im Feld denkt, der ein Handeln ermöglicht und gleichzeitig von Konsequenzen in anderen Feldern teilweise entkoppelt. Das »Spiel« bedingt auf diese Weise zusätzliche Freiheitsgrade in der Praxis (vgl. Winkler 2004: 220). 107
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die dem Feld angepassten Strategien, die sich nicht notwendigerweise als Strategien finanzieller Akkumulation darstellen. Strategien zielen in der Feldtheorie auf die Aneignung objektiver Güter, für die es sich zu spielen oder zu kämpfen lohnt. Im Feld der Ökonomie ist dies finanzieller Profit oder ökonomisches Kapital. In anderen Feldern kann dies Reputation oder symbolisches Kapital sein. Nicht der unmittelbare finanzielle Vorteil ist somit Ziel des Kampfes, sondern die Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die anderen im Feld beteiligten Akteure. Jedes soziale Feld erzeugt daher eine Form von Interesse. Akteure entwickeln jenes spezielle Verhältnis zum Feld, das Bourdieu illusio nennt. Interesse ist in der Sozialtheorie von Bourdieu durch Begriffe wie illusio, Investition oder libido zu ersetzen (vgl. Bourdieu 1998a: 140). Besondere Aufmerksamkeit erfährt jedoch vor allem der Begriff der illusio, der jenes »Verhältnis zu einem Spiel [bezeichnet], das das Produkt eines Verhältnisses der ontologischen Übereinstimmung zwischen den mentalen Strukturen und den objektiven Strukturen des sozialen Raums ist« (Bourdieu 1998a: 141). Illusio ist die spezielle Investition51 des Akteurs entweder in die Änderung oder in die Fixierung des Kräfteverhältnisses zwischen den sozialen Positionen innerhalb der Grenzen des Feldes. Besitzt ein Akteur die illusio zur Teilnahme an dem Spiel des Feldes, bietet sich ihm im Wesentlichen die Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Strategien. Etablierte Positionsinhaber im Feld wählen die Strategie der Orthodoxie als Versuch der Stabilisierung der Kräfteverhältnisse und somit der charakteristischen Kapitalverteilung. Die Inhaber der feldspezifischen Form von Kapital kennzeichnen dieses »als ewige und universelle Essenz« (Bourdieu 1992: 159) und setzten auf diese Weise ihre Definition von legitimer Praxis als im Feld universell gültig durch. Neu eintretende Akteure oder »Beherrschte« wählen indessen die Strategie der Häresie als Bruch mit der doxa, d. h. mit der nicht in Frage gestellten Alltagswelt (vgl. Bourdieu 1993b: 367), und einhergehender Bekämpfung der bestehenden Kapitalverteilung. Felder konstituieren sich erst in diesem Spannungsfeld von Herrschenden und Beherrschten, etablierten und neu eintretenden Akteuren, Orthodoxen und Häretikern. Nur im und 51 Bourdieus Begriff der Investition weicht von einem eingeschränkten wirtschaftlichen Verständnis ab. Investition bedeutet sowohl die ökonomische Investition im Sinne eines gezielten Einsatzes von Kapital als auch im psychoanalytischen Sinne eine Form der affektiven Besetzung (vgl. Bourdieu 1992a: 67). Er definiert Investition als »die Neigung zum Handeln, die aus der Relation zwischen einem Feld und einem auf dieses Feld abgestimmten System von Dispositionen entsteht, einem Sinn für das Spiel und die auf dem Spiel stehenden Objekte, der zugleich die – jeweils sozial und historisch konstituierte und nicht universal gegebene – Neigung und Fähigkeit zum Mitspielen impliziert« (Bourdieu/Wacquant 1996: 150). 108
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durch den Kampf um Vorrechte und legitime Interessen legt sich ihre Struktur dar, wie Bourdieu betont: »Daß die Geschichte des Feldes die Geschichte des Kampfes um das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien ist: diese Aussage ist noch unzureichend; es ist vielmehr der Kampf selbst, der die Geschichte des Feldes ausmacht; durch den Kampf tritt es in die Zeit ein« (2001a: 253).
Felder entziehen sich ihrer Zerstörung durch die umfangreichen Investitionen an Zeit und Anstrengungen, die Akteure aufwenden müssen, um an den Spielen des Feldes teilzunehmen. Jedes Feld kennzeichnet spezifische Voraussetzungen, deren Erfüllung die Bedingung des »Mitspielens« ist. Bourdieu zieht an dieser Stelle eine Parallele zu den »Prüfungen der Übergangsriten« (1993a: 110). Bourdieus Überlegungen zu Ritualen zielen auf die soziale Funktion von Riten. Im Gegensatz zu beschreibenden Ritualtheorien, die vor allem eine systematische Darstellung der unterschiedlichen Phasen eines Rituals geben, sieht Bourdieu Rituale als Produkte der Anwendung praktischer Taxonomien und der damit verknüpften Effekte. Rituale haben die Aufgabe, die Vereinigung mythisch oder sozial getrennter Prinzipien wie beispielsweise männlich/weiblich, oben/unten usw. zu ermöglichen und gleichzeitig die bestehenden Teilungen symbolisch zu institutionalisieren oder zu überwinden (vgl. Bourdieu 1982: 58-62). Die spezielle Form des Übergangsrituals bzw. der »rites de passage«, auf die Bourdieu in seiner Feldtheorie Bezug nimmt, ist ein Ritual der Trennung, erschaffen, um ein Individuum in einer neuen sozialen Sphäre zu verorten und so das komplexe Problem der Statusveränderung zu lösen (vgl. Spencer 1961: 598-599). Der Kampf oder das Spiel im Feld ist ritualtheoretisch gedacht die liminale Phase, in der sich die Statusveränderung des Akteurs vollzieht. Der Akteur tritt in ein Feld ein und besetzt eine bestimmte soziale Position. In der liminalen Phase des Kampfes versucht er, in dem vorgegebenen Rahmen der Regeln eine Statusverbesserung zu erreichen. Die liminale Phase oder Liminalität ist das entscheidende Element eines jeden Rituals: »During the intervening ›liminale‹ period, the characteristics of the ritual subject (the ›passenger‹) are ambiguous; he passes through a cultural realm that has few or none of the attributes of the past or coming state« (Turner 1969: 94). Die erreichte soziale Aufwertung und die damit einhergehende individuelle Neubestimmung des Akteurs am Ende der liminalen Phase markiert das Ende des Ritus. Die soziale Funktion des Übergangsrituals »Spiel« in den jeweiligen sozialen Feldern zielt auf den Erhalt des Spiels selbst und damit einhergehend des Feldes. Felder 109
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sind so voraussetzungsvoll, dass ein Eintreten in die ritualisierten Praktiken des Kampfes um die typischen objektiven Güter des Feldes seine Zerstörung nicht nur unmöglich, sondern für die beteiligten Akteure undenkbar macht (vgl. Bourdieu 1993a: 110). Felder verdanken somit ihre Beständigkeit durch die Zeit dem Investitionsbedarf, den das Erlernen der allgemeingültigen Funktionsprinzipien und invarianten Funktionsgesetze des Spiels erfordert. Strategien der Häresie zielen immer auf die Veränderung der Struktur eines Feldes, d. h. auf eine Berichtigung des Augenblickszustandes der Verteilung des spezifischen Kapitals, das mit diesem Feld korrespondiert, unter den am Kampf beteiligten Akteuren und niemals auf die Modifizierung oder Zerstörung des Feldes selbst, da dies die vorherigen Investitionen in absoluter Weise entwerten würde. Bourdieu legt in seinem Werk mehrere Feldanalysen vor, so Untersuchungen zum religiösen Feld (vgl. Bourdieu 2000), zum politischen Feld (vgl. Bourdieu 2001c: 41-66), zum juristischen Feld (vgl. Bourdieu 1987b) und in seinem späteren Werk ebenfalls zum ökonomischen Feld (vgl. Bourdieu 2002b: 185-222). Die umfangreichsten und tiefgreifensten Analysen zur inneren Struktur von Feldern sind hingegen die Arbeiten über das künstlerische und literarische Feld in Frankreich (vgl. Bourdieu 2001a) und über das philosophische Feld in Deutschland (vgl. Bourdieu 1976b). Die beiden wichtigsten Protagonisten der jeweiligen Felder, Flaubert im französischen literarischen und Heidegger im deutschen philosophischen Feld, gelten als Ausnahmeerscheinungen oder Genies, die in der allgemeinen Wahrnehmung außerhalb der Aktionsbereiche der anderen Akteure bzw. Autoren angesiedelt sind. Zur Entmystifizierung dieser Auffassung arbeitet Bourdieu in seinen Untersuchungen zu den jeweiligen Feldern strukturelle Konstanten heraus, die Felder miteinander teilen. Als wichtigster Parameter tritt in allen Feldern das Spiel um Ressourcen auf, d. h. Akteure sind nicht unabhängig zu denken, sondern treten untereinander in Konkurrenzbeziehungen um Kapital und symbolische Macht ein. In Bourdieus Analysen beraubt diese Konstante einer Selbststilisierung der absoluten Singularität des Genies ihre Berechtigung und zeigt die Voraussetzungen auf, die ein Genie bzw. die Rede von einem Genie erst begründet. Das literarische und philosophische Schaffen ist in dieser Lesart kein einsamer, individueller Prozess, sondern ein Zusammenwirken von einem Habitus und einem korrespondierenden Feld, das als literarisches und philosophisches Feld eine ganz spezifische Struktur offenbart. Die Anordnung von Feld und daran angepasstem Habitus ist vor allem ein sozialer Prozess, eine Konkurrenz-
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beziehung sozialer Akteure, von der aus erst die Ausprägungen von Philosophie und Literatur erklärt werden können (vgl. Jurt 2004: 216). 52 Felder sind somit relationale Gefüge, deren Grenzen sich in den Kämpfen des Feldes selbst immer neu aushandeln. Sie gleichen Kraftfeldern der Physik, die gleichfalls ohne wahrnehmbare Grenzen Einfluss auf die Stoffe in ihrem Wirkungsraum nehmen (vgl. Bourdieu 1985: 74). Die augenblickliche (Spiel-) Situation in einem Feld bestimmt seine Grenze, d. h. das Ende des Wirkungsbereichs des jeweiligen Feldes, und somit, welche sozialen Positionen sich noch im Feld und welche sich bereits außerhalb des Feldes ohne Macht und Einflussmöglichkeiten auf die Spiele im Feld befinden. Grenzen sind in der bourdieuschen Feldtheorie folglich soziale Definitionsleistungen, d. h. Grenzen entstehen in der Kommunikation zwischen den am Spiel beteiligten Akteuren, in der Aushandlung ihrer Lage und ihrer Kriterien. Bourdieu denkt seine Felder nicht absolut, die ganze Aufmerksamkeit eines Menschen aufsaugend, sondern Menschen sind in der Feldtheorie Positionsinhaber, die in verschiedenen Feldern Positionen besetzen können. So kann die berühmte Chirurgin zugleich Schriftstellerin sein und gleichzeitig Politikerin. Sie spielt so im Feld der Medizin/Wissenschaft, im Feld der Kunst und im Feld der Macht und nimmt in allen drei Teilsystemen eine objektive Position ein. Menschen sind in der Feldtheorie keine unteilbaren biologischen Individuen, sondern segmentierte Akteure, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen aktiv sein können. Felder bilden in der praxeologischen Theorie Bourdieus die Komplementärstruktur zur leibgewordenen Gesellschaft des Habitus. Sie sind eine Ontologie von Gesellschaft in Form von Institutionen, Spielen, Regeln, Strategien, Interessen und Investitionen. Das Feld ist die ontologische Gesamtheit dessen, was von einem Ort im sozialen Raum aus mit einem erworbenen Habitus unter Einhaltung der Regeln des Teilsystems erreicht werden kann. Die Regeln der Felder sind nicht zwingend Gesetze im juristischen Sinne. Rainer Dombois zeigt beispielhaft anhand der Kokainökonomie in Kolumbien, dass die Regeln des Feldes der illegalen Ökonomie implizit den Regeln der offiziellen Ökonomie folgen. Das Di52 Die Analyse der Selbststilisierung von Akteuren des philosophischen Feldes ist von diesen nicht unbeantwortet geblieben. So besteht beispielsweise Hans-Georg Gadamer vehement auf der Einzigartigkeit des philosophischen Genius Martin Heidegger und wendet sich radikal gegen jegliche soziologische Untersuchung des modus operandi des philosophischen Feldes und damit verbunden der »Entzauberung« des Freiburger Philosophen. Bourdieus Heidegger-Analyse zeige vielmehr eine »mitunter himmelschreiende Inkompetenz« (Gadamer 1979: 147), »ist einfach erheiternd« (Gadamer 1979: 148), »hat etwas sehr Dilettantisches« (Gadamer 1979: 148) oder ist »wiederum einfach komisch« (Gadamer 1979: 149). 111
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lemma der Kokainökonomie besteht in ihrer zugrundeliegenden Funktionsweise als »normale« Ökonomie, die jedoch nicht auf die Steuerungsmechanismen der offiziellen Ökonomie zurückgreifen kann. Das Gelingen von ökonomischen Transaktionen, d. h. das »Spiel« des Feldes, hängt hier an der symbolischen oder realen Macht der Akteure. Regelverletzungen werden sanktioniert 53 (vgl. Dombois 1989: 58-61). Gleichzeitig müssen die illegalen Ökonomien das Risiko der Aufdeckung in die Struktur ihrer Wechselbeziehungen involvieren und sie so konfigurieren, dass diese Gefährdung minimiert ist (vgl. Dombois 1998: 18). Die Regeln des dieses Feldes sind klar strukturiert und weitestgehend mit den Regeln des ökonomischen Feldes identisch, weichen aber dennoch durch Anpassungen an die spezifischen Bedingungen der Illegalität von diesen ab. 54 Felder sind demzufolge nicht als juristisch strukturierte Teilräume der Gesellschaft aufzufassen, sondern vielmehr als Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die sich als Zwänge darstellen und weder auf die individuellen Absichten der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen allein zurück zu führen sind. Ihnen korrespondiert jeweils eine Form von Kapital. Bourdieu setzt diese Kapitalform als Definitionskriterium des Feldes ein: »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kapitalsorte die Profitchancen im entsprechenden Feld (faktisch korrespondiert jedem Feld oder Teilfeld die Kapitalsorte, die in ihm als Machtmittel und Einsatz im Spiel ist)« (Bourdieu 1985: 10). Bourdieus Feldbegriff bezeichnet letztlich einen mehrdimensionalen funktionsspezifischen Teilbereich der Gesellschaft, dessen Struktur sich aus den sozialen Positionen der Akteure sowie ihrer Beziehungen zueinander und ihrem spezifischen Kapitalbesitz ergibt. Die Grundfigur der bourdieuschen Kapitaltheorie umfasst neben dem physischen Kapital der klassischen Ökonomie weitere Formen, die als Kapitalien in der Praxis auftreten, d. h. in der Lage sind, Werte zu speichern und somit als Mittel in den gesellschaftlichen Konkurrenzbeziehungen eingesetzt werden. Kapital bezeichnet Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes. Die wichtigsten Kapitalien sind das ökonomische, 53 Im Jahr 1986 wurden in der »Hauptstadt« der Kokainökonomie, Medellin, 2485 Menschen ermordet, in der »Kokainmetropole« Cali immerhin ca. 1000 (vgl. Dombois 1989: 84). 54 Rainer Dombois führt als solche besonderen Anpassungsstrategien die Vermeidung des Auftretens von Akteuren oder Organisationen der Kokainökonomie als juristische Person an, d. h. sie sind bewusst nicht am juristischen »Spiel« beteiligt. Sie legen darüber hinaus keine schriftlichen Dokumente über ihre Geldgeschäfte an und die Spitzen der Hierarchien bleiben für den Großteil der Akteure unbekannt (vgl. Dombois 1998: 1819). 112
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das kulturelle, das soziale und das symbolische Kapital. Jedwedes Kapital ist akkumulierte Arbeit, die entweder in materialisierter Form oder in inkorporiertem Zustand besteht. Der privaten oder exklusiven Inbesitznahme von Kapital durch einzelne Akteure oder Gruppen korrespondiert daher die Aneignung sozialer Dynamik in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit (vgl. Bourdieu 1983: 183). Kapital in sämtlichen Formen bietet Schutz vor den Unwägbarkeiten einer unabsehbaren Zukunft, indem es die Vergangenheit mit dieser Zukunft verbindet. In der Vergangenheit wurden die notwendigen Mittel an einem Ort zusammengeführt als Ausgangspunkt zukünftigen Handelns. Kapital speichert vergangene Arbeit und erlaubt erst ein aus der Vergangenheit in die Zukunft reichendes Handeln 55 (vgl. Winkler 2004: 42-43). Als Regelungsinstanz der sozialen Welt strukturiert Kapital die sozialen Felder. Die Praxis vollzieht sich nicht zufällig, sondern im Kontingenzrahmen dessen, was die Kapitalverteilung als Möglichkeiten erlaubt. In Bourdieus Verständnis entspricht die Struktur der Gesellschaft der zu einem Zeitpunkt gegebenen Verteilungsstruktur von Kapital. Es ist »eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft« (Bourdieu 1983: 183), die eine bestehende soziale Unbestimmtheit auf bestimmte Möglichkeiten einschränkt und damit die soziale Welt strukturiert. Die Verteilung der verschiedenen Kapitalien bildet eine wesentliche Grundlage der stratifizierten und differenzierten Gesellschaftstheorie von Bourdieu. Sie ist die »Gesamtheit der ihr [der Gesellschaft; P.D.] innewohnenden Zwänge« (Bourdieu 1983: 183). Akteure sind zum einen durch ihre Habitus und zum anderen über ihre charakteristische Kapitalstruktur in ihrem Handeln begrenzt. Ihre Kapitalausstattung entscheidet letztlich, ob sie als Häretiker oder Orthodoxe in den Kämpfen der Felder auftreten. Bourdieus Bezugnahme auf die marxistische Philosophie tritt nirgendwo sonst in seiner Theorie so deutlich zu Tage wie in der Kapitaltheorie. Die Veränderung der Verteilungsstruktur der unterschiedlichen Kapitalien ist für Bourdieu die eigentliche Motivation des Handelns. Kapital ist in der Theorie der Praxis ein Synonym für Macht. Kapital und Feld definieren sich wechselseitig und sind keinesfalls auf den weiteren Bereich der Ökonomie beschränkt, vielmehr existieren
55 Beispielsweise setzen die Han-Chinesen in Südostasien ein patrilineares Kinship-System als ein effektives Mittel für Geschäftsbeziehungen ein. Auf diese Weise wird die Akkumulation von Kapital im Rahmen einer eng umgrenzten Verwandtschaftsgruppe erleichtert (vgl. Liu et al. 1969: 402). Den Ahnen wird so ermöglicht, »aus dem Grab heraus« über das Kapital auf das Geschäftsgebaren der gegenwärtigen Akteure Einfluss zu nehmen. Diese Praxis des Kapitaleinsatzes erscheint nach außen dann als Tradition. 113
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»so viele Formen von Arbeit (...) wie Felder und daß man die mondänen Aktivitäten der Aristokraten genauso wie die religiösen Tätigkeiten des Priesters oder Rabbiners als spezifische, auf Wahrung oder Mehrung spezifischer Formen von Kapital ausgerichtete Formen von Arbeit ansehen muß« (Bourdieu 1992a: 112).
Bourdieu konzipiert die soziale Welt als eine »Welt von Ökonomien« (Bourdieu 1987a: 96), in der die »von der ökonomischen Theorie beschriebene Ökonomie nur ein Sonderfall« (Bourdieu 1987a: 95) darstellt. Die Gesellschaft erscheint, wenn nicht wie bei Karl Polanyi als »Anhängsel des Marktes« (1978: 88), 56 so doch durch und durch ökonomisch organisiert. Der soziale Raum, die Gesellschaft, ruht auf künstlich erzeugten Knappheiten sozialer, ökonomischer und kultureller Art. Zur theoretischen Beschreibung dieses Strukturprinzips des sozialen Raums fasst Bourdieu die künstlichen Knappheiten an Ressourcen als Kapitalien auf und fügt als übergreifende Kategorie zu dem von ihm so bezeichneten kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital das symbolische Kapital hinzu. Symbolisches Kapital ist das Renommee und Prestige, das sich aus dem Besitz der drei anderen Kapitalien ergibt. Bourdieu ist mit dieser Konzeption von vier Kapitalien in der Lage, sowohl empirische Knappheiten als auch Reflexionen, sinnhafte Bedeutungen und semantische Repräsentationen des sozialen Raums adäquat zu erfassen. Das definierende Kennzeichen des ökonomischen Kapitals ist seine unmittelbare Konvertierbarkeit in Geld. Es ist institutionalisiert in Form des Eigentumsrechts (vgl. Bourdieu 1983: 185). Geld ist im Wesentlichen die Darstellung des Wertes anderer Objekte. Es ist unbegrenzt teilbar und summierbar und stellt daher die grundlegende Disposition für eine genaue Gleichheit der Tauschwerte bereit (vgl. Simmel 1989: 388). Bourdieu führt in seiner Analyse des ökonomischen Feldes den Begriff des finanziellen Kapitals ein. Finanzielles Kapital ist der »direkte oder indirekte (durch Zugang zu den Banken vermittelte) Zugriff auf finanzielle Ressourcen, die (zusammen mit der Zeit) die Hauptbedingung für die Akkumulation und Konservierung aller anderen Kapitalarten ergeben« (Bourdieu 2002b: 193). Er folgt damit erstaunlich stringent der klassischen Ökonomie, die dem ökonomisch-physischen Kapital die Untereinheit des finanziellen Kapitals hinzufügt, um festgelegtes Kapital, 56 Bourdieu kritisiert Karl Polanyi in dem Punkt, dass diesem der zentrale Aspekt von politischer Macht entgangen sei, namentlich die Rückwandlung von ökonomischem in symbolisches Kapital. Erst diese Rückübersetzung schaffe ökonomisch zu begründende Abhängigkeitsverhältnisse im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1987a: 223-224). 114
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z. B. Immobilien, von monetären Anlagewerten zu unterscheiden (vgl. Woolcock 1998: 191). Das ökonomisches Kapital ist in der Kapitaltheorie von Bourdieu die bedeutsamste Kapitalform, da sie indirekt allen anderen Kapitalarten zugrunde liegt. Kulturelles Kapital existiert in drei unterschiedlichen Daseinsformen als inkorporiertes, objektiviertes, z. B. einer Gemäldesammlung oder Bücher und institutionalisiertes Kulturkapital. Das inkorporierte kulturelle Kapital ist die Gesamtheit des expliziten und impliziten 57 Wissens eines Akteurs. Bourdieu verwendet für diese Art Kulturkapital synonym den Begriff des »Informationskapitals« (Bourdieu/Wacquant 1996: 151). Die Bedeutung des inkorporierten kulturellen Kapitals leitet sich aus der Unmöglichkeit seiner einfachen Weitergabe oder seines Delegierens ab. 58 Inkorporiertes kulturelles Kapital ist als Disposition Teil des Habitus und unterliegt folglich denselben biologischen Grenzen wie sein jeweiliger Inhaber. Die Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital, seine Institutionalisierung in Form von Titeln, gleicht diesen Mangel aus, indem der Bildungstitel kulturelles Kapital durch die Zeit symbolisch repräsentiert und Sichtbarkeit und Wirkung garantiert um den Preis der Autonomie in Bezug auf dessen Träger. Der Titel ist objektiv. Die Institutionalisierung von kulturellem Kapital dient daher zum einen der Sicherung und Speicherung von inkorporiertem Kulturkapital und zum anderen der leichteren Konvertierbarkeit in andere Kapitalien. Hier sieht Bourdieu eine Magie am Werk, eine Macht, die Menschen veranlasst etwas zu sehen, zu glauben und anzuerkennen, was er mit der Institutionalisierung der Toten durch die Lebenden in den Trauerriten nach Merleau-Ponty vergleicht (vgl. Bourdieu 2001d: 118-119). Beispielhaft sei die universitäre Staatsexamensprüfung angeführt, die mit dem Mittel der Notengebung aus einem Kontinuum von minimalen Leistungsunterschieden dauerhaft institutionalisierte Kompetenz von einfacher Bildung 57 Das implizite Wissen entzieht sich seiner Weitergabe, indem die Aufmerksamkeit des Akteurs von einem proximalen auf einen distalen Term verschoben wird. Man registriert den proximalen Term eines Aktes impliziten Wissens nur im Kontext seines distalen Terms, z. B. werden beim Fahrradfahren die verschiedenen Muskelbewegungen als Ausführung jenes Könnens registriert, auf das die Aufmerksamkeit gerichtet ist, ohne dass man in der Lage wäre, die einzelnen Muskelkontraktionen zu benennen (vgl. Polanyi 1985: 20). 58 Die herausgehobene Stellung des inkorporierten kulturellen Kapitals für die gesellschaftliche Machtverteilung und Hierarchie ist auch Georg Simmel nicht verborgen geblieben: »Jesus konnte dem reichen Jüngling wohl sagen: schenke deinen Besitz den Armen, aber nicht: Gib deine Bildung dem Niederen. Es gibt keinen Vorzug, der dem Tieferstehenden so unheimlich erschiene, dem gegenüber er sich so innerlich zurückgesetzt und wehrlos fühlte, wie der Vorzug der Bildung« (Simmel 1989: 607). 115
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oder nicht-institutionalisiertem Kulturkapital scheidet. Diese durch eine institutionelle Macht festgelegte Grenze ist gesellschaftlich anerkannt und setzt erst das institutionalisierte Kulturkapital in Wert oder lässt es in andere Kapitalien konvertierbarer Form bestehen. Objektiviertes Kulturkapital hingegen besteht in Gestalt von Gemälden, Büchern, Denkmälern usw. und weist keinen signifikanten Unterschied zum ökonomischen Kapital auf. Es ist die Form, in der kulturelles Kapital materiell übertragbar ist. Diese Übertragbarkeit erschöpft sich in der juristischen Inbesitznahme. Die zu einer affektiven Aneignung benötigten kulturellen Fähigkeiten entziehen sich ihrer Übertragbarkeit (vgl. Bourdieu 1983: 188). Objektiviertes Kulturkapital weist im Feld der kulturellen Produktion, d. h. in der Kunst und der Wissenschaft, seinen höchsten Wert auf. Dem kulturellen Kapital wohnt die Tendenz inne, sich dort anzureichern, wo bereits kulturelles Kapital vorhanden ist. Träger von inkorporiertem kulturellem Kapital sind ausnehmend sensibilisiert für Bildung und legen besonderen Wert darauf, dass ihre Kinder ebenfalls Bildung erhalten (vgl. Bourdieu 1985: 57). Kulturkapital reproduziert durch dieses zirkuläre Prinzip die soziale Struktur. Die Schule als grundlegende Bildungsinstitution zementiert diese latente soziale Ungleichheit in der Verteilung von kulturellem Kapital, da sie nicht die Kenntnisse vermittelt, die sie für eine erfolgreiche Schullaufbahn verlangt, namentlich eine gesellschaftliche Gewandtheit, wie sie in der Sozialisation im Herkunftsmilieu erworben wird und nicht in der Schule. Bourdieu setzt den Erwerb von kulturellem Kapital in der frühsten Kindheit als Bedingung für eine habituelle Ungezwungenheit und Selbstsicherheit, die erst in schulischen Bewertungssituationen entscheidend für Erfolg und die weitere Bildungslaufbahn ist. Die Inhaber von inkorporiertem und institutionalisiertem kulturellem Kapital garantieren den Charakter der Schule als Selektionsinstanz, die auf diese Weise den Wert ihres eigenen Kapitals vor Inflation bewahren. Die Verteilung und Reproduktion von kulturellem Kapital in der Gesellschaft folgt demnach ähnlichen Mechanismen wie die Verteilung und Reproduktion von ökonomischen Kapital, wie Bourdieu betont: »Genau wie ökonomischer Reichtum erst als Kapital fungieren kann, wenn er auf einem ökonomischen Feld eingesetzt wird, werden kulturelle Fähigkeiten in allen ihren Formen zu kulturellem Kapital erst in den objektiven Verhältnissen, die zwischen dem ökonomischen Produktionssystem und dem System hergestellt werden, das die Produzenten produziert (und das wiederum aus der Beziehung zwischen Schulsystem und Familie entsteht)« (1987a: 226-227).
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Ressourcen, die im Zusammenhang von Mitgliedschaften in Gruppen über deren interne Interaktionen entstehen, bezeichnet Bourdieu als soziales Kapital. »Das soziale Kapital ist das Ensemble von aktuellen oder potenziellen Ressourcen, die an den Besitz eines dauerhaften Netzes von Beziehungen mehr oder weniger institutionalisierter Art gebunden sind« 59 (Bourdieu 1980: 2). Anders als die Apperzeption des kulturellen Kapitals stammt der Grundgedanke des sozialen Kapitals nicht von Bourdieu selbst. Der Begriff soziales Kapital taucht m. W. erstmals in der Studie von Jane Jacobs zum Stadtumbau in den USA auf, die Netzwerke von Bewohnern kleinteiliger Stadtteile und Nachbarschaften als »a city’s irreplaceable social capital« (Jacobs 1992: 138) bezeichnet. Die Idee Interaktionsbeziehungen in Gruppen als eine Form von Kapital analog zu Kapitalien in der Ökonomie aufzufassen, findet sich hingegen m. W. zuerst bei Thorstein Veblen, der Austauschprozesse jedweder Art zwischen Akteuren als »immaterial equipment« (1908: 518) einer Gruppe und speziell den Informationsfluss zwischen den Mitgliedern als »intangible assets« (Veblen 1908: 518) bezeichnet, ohne die soziales Leben unmöglich wäre (vgl. Veblen 1908: 518-519). Dieser Gedanke einer Ökonomisierung sozialer Kontakte darf als logische Grundlage aller weiteren Sozialkapitaltheorien gelten. Bourdieu kennzeichnet Beziehungen in seiner Theorie nur dann als soziales Kapital, wenn diese in praxi auf Grundlage materieller und symbolischer Tauschbezüge bestehen und zugleich zu deren Aufrechterhaltung beitragen. Die Verknüpfung der materiellen und symbolischen Aspekte des Tauschs, d. h. die Semiotisierung der ausgetauschten Dinge, muss für die beteiligten Akteure zu erkennen sein, will ein Reziprozitätsverhältnis als Sozialkapital gelten. Aus diesem Grund lässt sich soziales Kapital niemals vollständig auf Beziehungen objektiver physischer, ökonomischer oder sozialer Nähe reduzieren (vgl. Bourdieu 1983: 191). In der Kapital/Feldtheorie nimmt das soziale Kapital insofern eine Sonderrolle ein, als es nicht einem spezifischen Feld zugeordnet ist, in dem es die illusio der involvierten Akteure fokussiert, sondern es tritt in allen Felder gleichermaßen als Katalysator von Kapitalakkumulationsprozessen auf. Die klassische Ökonomie räumt dem sozialen Kapital dagegen lediglich eine Indikatorrolle ein, in der es auf Institutionen hinweisen darf, die u. U. bedeutsam für die ökonomische Theorie sind, jedoch ohne den Sozialkapitalbegriff unbeachtet geblieben wären. In der Ökonomie stellt der Begriff eine Metapher dar, nicht aber ein Kapital im
59 »Le capital social est l´ensemble des ressources actuelles ou poentielles qui sont liées à la possession d´un réseau durable de relations plus ou moins institutionnalisées« (Bourdieu 1980 : 2) [Übersetzung; P.D.]. 117
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wirtschaftlichen Sinne. Ökonomen benutzen diese Analogie in Studien zur ökonomischen Entwicklung, zu Übergangsökonomien sowie in Studien zu gemeinsamen Ressourcennutzung und Erziehung (vgl. Sobel 2002: 143-145). Der Soziologe Bourdieu hingegen weist dem Sozialkapital einen »Multiplikatoreffekt« (1983: 191) zu, der es einem Akteur ermöglicht, seinen Besitz an ökonomischen, kulturellen und symbolischem Kapital, je nach der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen auf, die er zurückgreifen kann, zu mehren. Er führt als Beispiel die freien Berufe wie Ärzte oder Rechtsanwälte an, die im Allgemeinen viel ökonomisches und kulturelles Kapital besitzen und dieses vornehmlich in solcherart Konsum investieren, der geeignet ist, den Besitz an materiellen und kulturellen Mitteln zu symbolisieren. Diese wiederum entsprechen den Regeln und Lebensstilen der bürgerlichen Gesellschaft und dienen somit letztlich der Sicherung von sozialem Kapital. Die Investitionen liefern folglich Vertrauen und Reputation in den oberen Klassen und damit bei ihrer Kundschaft. Die Ausdehnung der sozialen Netzwerke übersetzt sich so in ökonomisches Kapital (vgl. Bourdieu 1976a: 228). Auch marginalisierte Gruppen greifen u. U. ähnlich wie die oberen Klassen auf den »Multiplikatoreffekt« (Bourdieu 1983: 191) des sozialen Kapitals zurück. Das Beispiel der osteuropäischen Juden offenbart, wie eine marginalisierte und gettoisierte städtische Unterschicht mithilfe von sozialem Kapital, das durch Gründung von ehrenamtlichen Organisa-tionen sowie die Ausbildung einer literarischen Tradition erworben wurde, in der Lage war, unter widrigen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen die Akkumulation von kulturellem und zum Teil ökonomischen Kapital für ihre Mitglieder sicherzustellen (vgl. Lewis 1966: 23). Soziales Kapital erfährt heute eine inflationäre Verwendung in den Sozialwissenschaften. Nahezu ausnahmslos gelten soziale Kontakte in Netzwerkbeziehungen als Sozialkapital. Die allgemein vorherrschende »plethora of capitals« (Woolcock 1998: 155), d. h. die Definition gewöhnlicher Aspekte sozialer Praxis als Kapital, führt so nahezu zwangsläufig zu gravierenden theoretischen und empirischen Schwächen. Vor allem dem Begriff des sozialen Kapitals kommt nur noch eine geringe kritische Aufmerksamkeit bezüglich seines konzeptionellen und ontologischen Status zu (vgl. Woolcock 1998: 155). Auch Bourdieus Definition führt eine bedeutende Unschärfe mit. Sein Konzept von sozialem Kapital als Multiplikator von verschiedenen anderen Kapitalien wirft die Frage auf, ob es sich um die Rahmenbedingungen des Entstehens oder den Inhalt sozialer Beziehungen bzw. Netzwerke handelt. Soziales Kapital kann in der funktionalen Definition von Bourdieu sowohl das Medium als auch die Information sein. Bourdieus Art der Begriffsbestim118
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mung macht es unmöglich, die Form von dem Inhalt zu trennen.60 Genau diese im Letzten bestehende theoretische Unklarheit steht einem Einsatz des Sozialkapitalkonzeptes in empirischen Studien entgegen, da sie die Gefahr der Selbstreferenz birgt. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital sind die drei grundlegenden Dimensionen der bourdieuschen Kapitaltheorie, die auf der Idee einer Speicherung von Werten in anderen als genuin ökonomischen Medien wie dem Geld basiert. Wissen, Bildungstitel und soziale Kontakte stellen in der Theorie Werte dar, die mit Einschränkungen gleich dem ökonomischen Kapital in andere Kapitalien konvertierbar sind. Die der Theorie zugrunde liegende Leitidee ist die empirische Knappheit dieser strategisch einsetzbaren Mittel in der sozialen Wirklichkeit, Knappheiten, um die verschiedenste Akteure in funktional differenzierten Teilbereichen des sozialen Raumes konkurrieren. Bourdieu weist diesen unterschiedlichen Kapitalien darüber hinaus eine übergeordnete Kategorie zu, die sämtliche Kapitalarten zusammenfasst. Das Alleinstellungsmerkmal der bourdieuschen Kapitaltheorie bildet die Konzeption der Form von Kapital als eigenständige, den anderen Kapitalien übergeordnete Kapitalart. Bourdieu bezeichnet diese besondere Kategorie als symbolisches Kapital und weist ihr eine relative Autonomie zu (vgl. 1997a: 97). Jede beliebige Eigenschaft, z. B. jede Kapitalsorte, jede besondere Fertigkeit eines Akteurs usw., ist in Bourdieus Entwurf in der Lage, als ein Kapital zu fungieren. Nicht die Eigenschaft selbst, wie z. B. das juristische Wissen im Fall des juristischen Kapitals, ist indessen das symbolische Kapital, sondern der Mechanismus von Erkennen und Anerkennen, der erst dieser Eigenschaft einen Wert zuweist. Die Eigenschaft selbst ist arbiträr. Die Subsumierung der Kapitalien als symbolisches Kapital verdeutlicht den Typus ihres Wirkens. Die Funktionsweisen sämtlicher Kapitalien beruhen auf ihrer performativen Disposition, als reine Zeichen Wirkungsmacht in der Praxis zu entfalten. Beispielsweise offenbart Geld als semiotisiertes und institutionalisiertes ökonomisches Kapital eine hohe Performativität, da es sich bei Geld um ein Zeichen handelt, dessen Effekt in besonderem Maß sozial determiniert ist. Erst die Performativität, die dem Akt des Erkennens und Aner-
60 Das Problem der Trennung von Inhalt und Form im Zusammenhang des Begriffes Sozialkapital zu lösen, gelingt auch Putnam als wichtigem Referenzautor im amerikanischen Kontext nicht. Seine stärker auf das Kollektiv zielende Definition: »By ›social capital‹, I mean features of social life – networks, norms, and trust – that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives« (Putnam 1995: 664-665) vermeidet ebenfalls eine Festlegung und subsumiert nahezu sämtliche Seinsweisen sozialer Beziehungen unter dem Etikett Sozialkapital. 119
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kennens einer beliebigen Eigenschaft als Wert immanent ist, überbrückt die Kluft zwischen dem Symbolischen und dem Ontischen und lässt Kapital in jedweder Form erst wirksam werden (vgl. Winkler 2004: 40). Diese Performativität ist für Bourdieu symbolisches Kapital, definiert als »die Form, die jede Kapitalsorte annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die das Produkt der Inkorporierung der in die Struktur der Distribution dieser Kapitalsorte eingegangenen Gliederungen oder Gegensatzpaare sind (z. B. stark/schwach, groß/klein, reich/arm, gebildet/ungebildet usw.)« (Bourdieu 1998a: 108109). Symbolisches Kapital ist die erkannte und legitimierte Form von Kapital, die Bourdieu desgleichen als Renommee oder Prestige bezeichnet (vgl. 1985: 11). Voraussetzung der Wirksamkeit des symbolischen Kapitals ist dementsprechend ein Habitus der involvierten Akteure, der ihr Denken solcherart konstituiert, dass sie erkennen und anerkennen, was sich ihnen als Prestige und Renommee bietet und sie folgerichtig handeln lässt, d. h. an dieses zu glauben oder in bestimmten Fällen sich sogar zu unterwerfen (vgl. Bourdieu 1998a: 176). »Das symbolische Kapital ist ein Kapital mit kognitiver Basis« (Bourdieu 1998a: 151). In den Worten der klassischen Ökonomie ist symbolisches Kapital eine Form von Kredit, Diskont oder Akkreditiv, der nicht von einer Institution wie einer Bank gewährt wird, sondern allein vom Glauben einer Gruppe oder Gesellschaft. Er wird jenen Akteuren eingeräumt, die die größten materiellen oder symbolischen Ressourcen bieten und das meiste Charisma besitzen (vgl. Kraemer 2002: 174). Symbolischem Kapital wohnt daher gleichfalls wie dem kulturellen Kapital die Tendenz inne, »daß Kapital zu Kapital kommt« (Bourdieu 1987a: 218). Die Konzipierung des Mechanismus der Wertzuweisung als eigenständige, allen Kapitalien übergeordnete Kapitalform dient der Analyse charakteristischer Phänomene der Ökonomie der symbolischen Güter, die sich innerhalb der klassischen Ökonomie manifestiert. Bourdieu führt als Beispiel die Politik des symbolischen Investments in Stipendien oder Spenden in der modernen Ökonomie durch große Firmen oder Stiftungen oder verwandte Formen des Sponsorings an (vgl. Bourdieu 2003a: 290). Erst symbolisches Kapital verdeutlicht, dass scheinbar altruistisches Handeln in Wahrheit einer spezifischen Logik der Akkumulation von Kapital im Allgemeinen folgt, einer Strategie, die auf Wahrung und Mehrung von Kapital gerichtet ist. Bourdieu arbeitet dies beispielhaft anhand der Arbeiten von Marcel Mauss zur Gabe heraus, die er mit seinem Konzept des symbolischen Kapitals zu entmystifizieren in der Lage ist. Die Gabe dient der Ansammlung von symbolischem Kapital, das der Geber mit scheinbar altruistischen Motiven unter Wahrung 120
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der Normen des ökonomisch »Desinteressierten« im Tausch akquiriert. Das so erworbene symbolische Kapital ist anschließend in ökonomisches Kapital konvertierbar (vgl. Du Boulay 1991: 37). Bourdieu selbst führt als weiteres Beispiel des Einsatzes von symbolischem Kapital die Heiratsverhandlungen der Kabylen an. In den komplizierten Verhandlungen um Mitgift und Protokollarien fungieren Verwandte oder Schwiegerverwandte von hohem gesellschaftlichem Ansehen und folglich symbolischen Kapital als Autorität in der Heiratsverhandlung selbst und als gleichzeitige Garantie der Einhaltung des von ihnen ausgehandelten Vertrages (vgl. Bourdieu 1987a: 211). Das symbolische Kapital der verwandten Verhandlungspartner ist über die ausgehandelte Mitgift/Brautpreis usw. direkt in ökonomisches Kapital konvertierbar. Beispiele für den Einsatz und den Erwerb von symbolischem Kapital existieren viele. So sind Konsumgüter in der modernen Gesellschaft für ihre Besitzer objektiviertes symbolisches Kapital, das gezielt »im Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Anerkennung« (Helbrecht 2001a: 215) und somit weiterem Renommee eingesetzt wird. Auf differenzierte Formen der Akkumulation von Prestige und Ansehen weisen Arbeiten im Zusammenhang des Postkolonialismus hin. Beispielhaft zeigt Wikitoria August in ihrer Studie zum Einfluss des Kolonialismus auf die Körper von Maori-Frauen, wie im kulturellen Sinnzusammenhang der Maori befristete Betretungsverbote öffentlicher Räume für bestimmte Subgruppen, z. B. schwangere Frauen, als Form des Erwerbs symbolischen Kapitals verstanden und interpretiert werden (vgl. August 2005: 118-121). Die temporären Rückreisen der frühen Sojourner in den USA in ihre Herkunftsregionen sind ein weiteres Beispiel der Akkumulation von symbolischem Kapital. Diese kostspieligen und aufwändigen, u. U. nur einmal im Leben vorgenommenen Reisen dienten maßgeblich dem Zweck der Stilisierung des Sojourner als einer Person, die »es geschafft hat«, auf die man mit Neid zu blicken hat usw. Die befristete Heimkehr steigert so das symbolische Kapital der Familie in der Herkunftsregion (vgl. Siu 1952: 39). Auf die Stellung der Übertreibung als eine Funktion, die erst retrospektiv aus einem bedeutungslosen Ereignis Bedeutung und somit symbolisches Kapital extrahiert, weist Leary hin. Im Zusammenhang mit einer empirischen Untersuchung von Faustkämpfen in Gaststätten des Mittleren Westens der USA kommt er zu dem Ergebnis, dass die spontanen und gewalttätigen Konflikte hoch formalisierte Akte symbolisch aufgeladener Auseinandersetzungen sind, die unterschwelligen Regeln folgen, deren Verletzung sanktioniert wird. Erst die Übertreibung in der Nacherzählung des Kampfgeschehens generiert hier Unterschiede zwischen den einzelnen Kämpfen und dient als Mechanismus
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der Akkumulierung von Renommee und Prestige (vgl. Leary 1976: 3336). Symbolisches Kapital enthält somit, wie die Beispiele verdeutlichen, Potenzial zur Demaskierung verborgener Ökonomien in unökonomisch erscheinender Praxis. Einschränkend ist anzumerken, dass dies nur bei einer Setzung des Ausgleichs von spezifischen Knappheiten in den funktional differenzierten Feldern des sozialen Raumes als die Grundfigur der sozialen Welt gelingen kann. Bourdieu setzt Praxis mit Konkurrenz um begehrte Kapitalien gleich, mit einer »Art objektiver Zweckmäßigkeit« (1987a: 95), und ist so in der Lage, mit seinem primär ökonomischen Instrumentarium in Kombination mit der Dezentrierung des Akteurs in der Figur des Habitus als inkorporierter Gesellschaft die ökonomische Struktur sozialen Handelns zu enthüllen. Der signifikante theoretische Gewinn der bourdieuschen Kapitaltheorie liegt in der Tatsache, die Wirkungsmacht spezifischer Zeichen, ihre Performativität als die allen weiteren Kapitalien zugrunde liegende Form selbst als Kapital konstruiert zu haben. Bourdieu erhält auf diese Weise ein wirksames Instrument zur Analyse vordergründig altruistischer Praxis. Symbolisches Kapital ist damit in der Theorie der Praxis das basale Motiv gesellschaftlichen Handelns. Die binäre Struktur des Korrespondenzverhältnisses von Kapital und Feld, in der jedem Feld eine Kapitalsorte zugeordnet ist, auf die sich das Interesse sämtlicher im Feld engagierter Akteure richtet und somit das Feld als mehrdimensionale Matrix des Sozialen selbst erst konstituiert, bildet die Grundfigur der bourdieuschen Kapitaltheorie. Die von Bourdieu vorgelegten Feldanalysen zeigen jedoch ein deutliches Abweichen von dieser theoretischen Annahme. Die in praxi existierenden Interessen von Akteuren zielen abweichend von der Theorie auf mehrere Kapitalien. Beispielhaft zeigt sich dies anhand der Analyse des ökonomischen Feldes des französischen Eigenheimmarktes. Die entsprechende Kapitalart des Feldes ist das ökonomische Kapital, für die Makler, Entwickler und Verkäufer in Form von Geld, für die Käufer in Form von Immobilienbesitz. Das Interesse aller Akteure müsste daher ausschließlich auf die Anhäufung von ökonomischem Kapital gerichtet sein. Bourdieu arbeitet hingegen vielschichtige Formen von illusio heraus, die neben ökonomischem Kapital je nach Akteur und sozialer Position ebenfalls auf die Akkumulierung von technologischem Kapital, d. h. dem Bestand an differenziellen wissenschaftlichen oder technischen Ressourcen sowie Lösungen zur Reduktion von Arbeits- und Kapitalaufwand, juristischem Kapital, Organisationskapital, d. h. Informationen und Kenntnisse über das Feld, kommerziellem Kapital, d. h. der Verkaufskraft und der Organisationsstruktur des Vertriebsnetzes, Marketing und Kundendienst so122
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wie symbolischem Kapital in Form von Imagegewinn gerichtet ist (vgl. Bourdieu 2002b: 192-193). Die Feldanalyse zeigt, dass soziale Praxis komplexer ist, als dies das binäre Modell von Feld und einer korrespondierenden sowie konstituierenden Kapitalform nahe legt. Bourdieu bemerkt diesen Sachverhalt selbst und reagiert mit einer theoretischen »Kapitalinflation«. Ungeachtet diesem Risiko einer nahezu willkürlichen Einstufung sozialer Prozesse oder Kompetenzen als Kapitalien im ökonomischen Sinne ist Bourdieus Kapitaltheorie geeignet, die soziale Struktur und die grundlegenden sozialen Praxen der Gesellschaft sichtbar zu machen. Die Grundfigur der Speicherung von Werten in anderen als genuin ökonomischen Zeichen und ihre Performativität als eigenständige Kapitalform bilden eine fundierte theoretische Grundlage für empirisches und theoretisches Arbeiten.
Raum Den drei grundlegenden Dimensionen der Theorie der Praxis, Habitus, Kapital und Feld, stellt Bourdieu die Kategorie des sozialen Raumes zur Seite, die sämtliche sozialen Felder und Akteure in einem relationalen Verhältnis umfasst. In Bourdieus Theorie ist die Gesellschaft als ein sozialer Raum relationaler Positionen bestimmt. In seinen späteren Arbeiten taucht eine weitere räumliche Kategorie auf, die er bereits in seiner strukturalistischen Analyse des kabylischen Hauses (vgl. 1987a: 468489) vorbereitet hat – der angeeignete physische Raum. Bourdieu interessiert in diesem Sinnzusammenhang vor allem die Frage, wie sich soziale Strukturen in räumlichen Gegensätzen ausdrücken, und er entwirft ein Komplementärverhältnis von Gesellschaft und physischem Raum, den er als sozial konstruiert konzipiert. Bourdieu definiert Raum in Anlehnung an die relationalen Raumdefinitionen von Strawson und Leibniz als »set of coexisting points« (2003: 284). Er unterscheidet im Anschluss an diese Minimaldefinition zwischen drei Raumkonstrukten: dem sozialen Raum, dem physischen oder rein physischen Raum und dem angeeigneten physischen oder synonym dem reifizierten sozialen Raum. 61 Die drei verschiedenen Räume gleichen sich in der Tatsache, dass die Positionen in ihnen einander jeweils äußerlich sind. Sie unterscheiden sich jedoch in der Art und Weise ihrer Konstruktion. Das in Bourdieus Werk am weitesten ausgearbeitete Raumkonstrukt ist der soziale Raum. Er dient nicht als eine Metapher, 61 Zusätzlich zu diesen drei Raumkategorien führt Bourdieu noch den »geographischen Raum« an, der sich in »Regionen« unterteilen lässt (vgl. 1992a: 139), ohne dass dabei klar wird, ob es sich um einen angeeigneten physischen oder rein physischen Raum handelt. 123
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sondern ist ein Modell der sozialen Wirklichkeit. Die Struktur des bourdieuschen Denkens ist eine räumliche, die alle sozialen Beziehungen als Hierarchien und Relationen begreift und somit per se als eine Form der (mindestens) zweidimensionalen Räumlichkeit. So schreibt Bourdieu: »Die ›soziale Wirklichkeit‹ (...) ist ein Ensemble unsichtbarer Beziehungen, die einen Raum wechselseitig sich äußerlicher Positionen bilden, Positionen, die sich wechselseitig zueinander definieren, durch Nähe, Nachbarschaft oder Ferne sowie durch ihre relative Position, oben oder unten oder auch zwischen bzw. in der Mitte usw.« (1992a: 138).
Gesellschaft, mit Ausnahme der am wenigsten differenzierten Gesellschaften, stellt sich als ein sozialer Raum dar, der sich in der zitierten Struktur von Unterschieden ausdrückt. Sozialer Raum ist ein Raum, in dem es zuvorderst um die Bearbeitung von Knappheiten geht, die als empirische Knappheiten selbst vorkommen oder als Reflexionen, als semantische Repräsentationen und als sinnhafte Bedeutungen (vgl. Nassehi 2004: 176). Sämtliche Formen von Knappheiten subsumiert Bourdieu in seiner Theorie als Kapital. Das wichtigste Axiom in dem Modell des sozialen Raums ist die Verteilungsstruktur des ökonomischen und kulturellen Kapitals. Sie variiert nach Zeit und Ort und führt zur Ausbildung von zwei Subräumen des sozialen Raums (vgl. Bourdieu 1998a: 49). Der Unterraum der sozialen Positionen erklärt sich aus der spezifischen Kapitalstruktur der unterschiedlichen Berufsfelder. Er ist ein Synonym für das soziale Spiel oder den Kampf in den jeweiligen Feldern. Der Subraum der Lebensstile geht aus der symbolischen Lebensführung, die sich in Konsumgewohnheiten ausdrückt, hervor. Den Begriff der sozialen Position kennzeichnet Bourdieu als die objektive, ökonomische, kulturelle und soziale Bedingungslage eines Akteurs. Ein Akteur kann dementsprechend seine soziale Position nur mittels des Einsatzes von Kapital verändern. Regionen im Raum der sozialen Positionen bilden die konstruierten Klassen, die als abgrenzbare Gruppen von Akteuren über ähnliche Positionen im Raum verfügen (vgl. Bourdieu 1985: 28; 59). Der wichtigste Zuordnungsmechanismus zu sozialen Positionen ist der Beruf, der sowohl über ökonomische als auch kulturelle Möglichkeiten Auskunft gibt. Bourdieu konstruiert den Raum der sozialen Positionen als statisch mit nur geringen Variationen und Bewegungen zwischen den verschiedenen Positionen. Eine mögliche Irritation dieses fest gefügten Systems ist die Fremdenfeindlichkeit als Anmelden eines legitimen Anspruchs auf eine bestimmte soziale Position, die einem »zusteht«, die kollektiv zu sichern ist und die man mit individuellen Mitteln nicht mehr 124
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sichern kann (vgl. Hernes/Knudsen 1992: 123-124). Dies führt zu neuen Allianzen im sozialen Raum, die durch eine scharfe Grenzziehung zu den als Konkurrenten wahrgenommenen Individuen gekennzeichnet sind (vgl. Du Boulay 1991: 39). Solche Irritationen sind im Raum der sozialen Positionen möglich, aber sie sind nicht der Regelfall und werden von Bourdieu nicht in sein Modell involviert. Soziale Positionen korrespondieren vielmehr vermittelt über den Habitus der Akteure mit typischen Praktiken und Objekten der Lebensführung, die den Raum der Lebensstile konstituieren. Bourdieu setzt absolut, dass Akteure in vergleichbaren sozialen Positionen ähnliche Habitusformationen aufweisen, sie dementsprechend gleiche Praktiken zeigen. Zu jedem Zeitpunkt jeder differenzierten Gesellschaft besteht also ein Ensemble von sozialen Positionen, das über eine Homologie mit einem selbst wiederum relational bestimmten Ensemble von Tätigkeiten, z. B. Tennis, Klarinettespielen, oder Gütern, z. B. einer Gemäldesammlung, einem Ferienhaus an der Côte d´Azur usw., verbunden ist (vgl. Bourdieu 1998a: 17). Es besteht folglich eine »Homologie der Räume« (Bourdieu 1987c: 286). Die Variationsmöglichkeiten in der Verteilungsstruktur der Kapitalien motivieren Kämpfe um diese und damit um Positionen und Machtfaktoren, Kämpfe, die in den unterschiedlichen Feldern des sozialen Raumes ausgefochten werden. Die Struktur von sozialen Unterschieden ist nicht unwandelbar. Die Topologie der sozialen Positionen eignet sich für eine Analyse der Distributionsstruktur der empirischen Knappheiten des sozialen Raums. Der soziale Raum ist deshalb selbst als ein Feld, ähnlich wie ein Spielfeld im Sport, 62 zu beschreiben. Felder sind Konfigurationen von objektiven Relationen zwischen den sozialen Positionen, d. h. Netzwerke von Akteuren, die in denselben gesellschaftlichen Sektionen aktiv sind, dasselbe »Spiel« spielen. Bourdieus Definition des sozialen Raumes betont ein Zerfallen desselben in die funktional spezialisierten Teilbereiche der Felder: »Der soziale Raum, ein abstrakter Raum, der aus einem Ensemble von Subräumen oder Feldern besteht (wirtschaftliches, intellektuelles, künstlerisches, 62 Die Analogie zwischen Sport und den funktionalen Teilbereichen der Gesellschaft, die Bourdieu Feld nennt, wird deutlich, wenn man die wesentlichen Inhalte des Sportbegriffs von Pierre de Coubertin hinzuzieht. De Coubertin definiert Sport über die Begriffe Gewohnheit, Fortschritt und Risiko: »Le sport est le culte volontaire et habituel de l´exercice intensif incité par le désir du progrès, et ne craignant pas d´aller jusqu´au risque« (zitiert nach Stichweh 2005a: 113). Diese Begriffe spielen explizit oder implizit auch in Bourdieus Theorem des sozialen Raumes eine zentrale Rolle. 125
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universitäres Feld usw.), deren Struktur auf die ungleiche Verteilung einer besonderen Art von Kapital zurückgeht, kann erfasst werden in Form der Verteilungsstruktur der verschiedenen Arten von Kapital, die zugleich als Kampfmittel und als -einsätze innerhalb der verschiedenen Felder fungieren« (1991: 28).
Die Struktur des sozialen Raumes ist daher »eine Art Bilanz zu einem gegebenen Zeitpunkt des in den vorausgegangenen Kämpfen Erworbenen und damit in den künftigen Auseinandersetzungen auch wieder Investierbaren« (Bourdieu 1987c: 380). Das Ziel, das Bourdieu mit der Konstruktion von Gesellschaft als sozialem Raum verfolgt, ist ein Bruch mit der Tendenz, essentialistisch über die soziale Welt nachzudenken: »Die Vorstellung des Raumes enthält an sich bereits das Prinzip einer relationalen Auffassung von der sozialen Welt: Sie behauptet nämlich, dass die ganze mit ihm bezeichnete ›Realität‹ darauf beruht, dass die Elemente, aus denen sie besteht, einander wechselseitig äußerlich sind« (Bourdieu 1998a: 48). Der soziale Raum besteht somit aus der habituell verhandelten Überlagerung des Raumes der sozialen Positionen und des Raumes der Lebensstile. Positionelle Veränderungen in der Matrix dieser Homologie lassen sich nur über Einsatz der vier bedeutensten Kapitalformen ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital in den jeweils mit den Kapitalien korrespondierenden funktional differenzierten Subfeldern erreichen. Erfolge in den »Kämpfen«, die in diesen Feldern stattfinden, sind anschließend als Veränderung des Status im Koordinatensystem des sozialen Raumes abzulesen. Der soziale Raum ist letztlich eine komplexe Konfiguration von sozialen Relationen. Bourdieu unterscheidet überdies zwischen dem physischen oder rein physischen Raum und dem angeeigneten physischen Raum oder synonym dem reifizierten sozialen Raum. Der physische Raum ist für Bourdieu ebenfalls ein Konstrukt. Er »lässt sich nur anhand einer Abstraktion (physische Geographie) denken, daß heißt unter willentlicher Absehung von allem, was darauf zurückzuführen ist, daß er ein bewohnter und angeeigneter Raum ist« (1991: 28). Der physische oder rein physische Raum hat demnach nur eine theoretische Existenz. Er tritt im Verhältnis von sozialem und angeeignetem physischen Raum lediglich als physische Distanz in Erscheinung, die sich wiederum in zeitliche Distanz übersetzt. Jeder Effekt dieser Distanz wird anschließend wieder dem angeeigneten physischen Raum zugeordnet. Der angeeignete physische Raum ist ebenfalls eine soziale Konstruktion »und eine Projektion des sozialen Raumes, eine soziale Struktur in objektiviertem Zustand (zum Beispiel kabylisches Haus oder Stadtplan), 126
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die Objektivierung und Naturalisierung vergangener wie gegenwärtiger sozialer Verhältnisse« (Bourdieu 1991: 28). Der Begriff der Naturalisierung zielt auf das auf gewohnheitsmäßigen Umgang aufruhende, scheinbare Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem. Naturalisierung bedeutet demnach, dass die Akteure ihre eigenen Zeichensysteme nicht mehr als solche wahrnehmen und ihnen das Bewusstsein um die historische Bedingtheit und das Hergestellte der Zeichen entgleitet (vgl. Winkler 2004: 210). Die essentialistische Sichtweise auf den Raum verdeckt in diesem Fall, dass es sich um eine soziale Konstruktion handelt. Der reifizierte Sozialraum dient lediglich als eine Metapher des sozialen Raums (vgl. Lindner 1994: 221). Sämtliche Verteilungskämpfe um Kapital und Macht finden demnach im sozialen Raum statt und schlagen sich nachfolgend in der Objektivierung des angeeigneten physischen Raums nieder. Verdeutlichen lässt sich diese Komplementärbeziehung anhand eines klassischen Beispiels aus der Sozialgeographie. Die Sozialbrache nach Wolfgang Hartke tritt dementsprechend als Indikator der Hierarchisierung des von Bourdieu so bezeichneten angeeigneten physischen Raums auf. Hartke unterscheidet zwischen intendierten und unintendierten Handeln, das sich im Landschaftsbild niederschlägt. Mit dieser Unterscheidung ist er in der Lage, »in der Landschaft (…), wie auf einer photographischen Platte Aktionen und Reaktionen zu registrieren« (Hartke 1959: 428). Im Fall der Sozialbrache lassen sich durch eine Bewirtschaftung des Ackerbodens keine Statusverbesserungen der Akteure im sozialen Raum mehr erreichen. Ergebnis ist ein umgreifendes Brachfallen der Ackerflächen, da der zu erzielende Kapitalertrag in der Landwirtschaft den Einsatz der verschiedenen Kapitalien nicht rechtfertigen kann. Wolfgang Hartke erkennt in den Phänomenen des Brachfallens eine Reaktion auf der Registrierplatte des Raumes, namentlich die Objektivierung sozialer Verhältnisse analog zu Bourdieus Theorem des reifizierten Sozialraums (vgl. Hartke 1956: 262). Für eine weitergehende theoretische Verwendung bedarf das Konstrukt der Aneignung von Raum jedoch einer Erläuterung. Der Begriff der Aneignung erscheint in Bourdieus praxeologischer Soziologie in zweidimensionaler Weise, als juristische und kognitive Inbesitznahme gegenständlicher Produkte gesellschaftlicher Arbeit und er kennt folglich zwei Instrumente der Aneignung – ökonomisches und kulturelles Kapital. Aneignung ist, ähnlich dem Habitus, ein Mechanismus der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit. Bourdieu sieht Kapital und Aneignung in einem fortgesetzten Kreislauf, in dem die Aneignung von Gütern die vorherige Inbesitznahme der Instrumente dieser Appropriation voraussetzt. Ergebnis ist die exponentielle Verschiebung von Kapital hin zu Akteuren, die bereits Kapital besitzen, und die damit einherge127
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hende Reproduktion der Verteilungsstruktur von Kapital unter den sozialen Klassen und damit der Klassen selbst (vgl. Bourdieu 1976a: 223). Auf die Bedeutung dieser Unterscheidung zwischen einer Ausübung des Eigentumsrechts über den Raum und des sozialpsychologischen Prozesses der Aneignung von Raum macht Paul-Henry Chombart de Lauwe aufmerksam (vgl. 1977: 2). Dieser betont, dass die Aneignung von Raum die Fähigkeit erfordert, den objektiven Raum in eine Übereinstimmung mit dem subjektiven, dem vorgestellten Raum zu bringen, was den Eindruck einer kognitiven Vertrautheit ermöglicht (vgl. Chombart de Lauwe 1977: 3). Inbesitznahme erfordert über die reine vorherige ökonomische Kapitalakkumulation hinaus die Fähigkeit, die Nutzungswünsche mit den Nutzungsvorstellungen und der tatsächlichen Nutzung der im Raum verteilten Objekte zu kombinieren. Nur wenn dies gelingt, kann die Aneignung von Raum als vollständig betrachtet werden. Die Aneignung des Raums verbindet folglich die Formen alltäglicher Praxis mit den kognitiven Prozessen innerhalb der Grenzen der physischen und juristischen Inbesitznahme sowie der sozialökonomischen Bedingungen, denen die Akteure unterworfen sind (vgl. Chombart de Lauwe 1977: 6). Lucia Lo und Valerie Preston führen an Hand der Konflikte um asiatische »theme malls« im suburbanen Raum von Toronto beispielhaft die Konsequenzen vor Augen, die ein Misslingen von Raumaneignungsprozessen für die Gesellschaftsstruktur bedeuten kann (vgl. 2000: 187-189). Im Falle dieser »malls« kollidieren die kulturellen Aspekte und hier vor allem die auf asiatische Kunden ausgerichtete Angebotsstruktur der »theme malls« mit der Erwartungshaltung der angloamerikanischen Kanadier. Diese können dem Angebot der Einkaufslandschaften keinen Wert zuweisen und sind folglich nicht gewillt, die erhöhten Lärm-, Geruchs- und Verkehrsbelastungen hinzunehmen. Für die asiatischen Kanadier sind diese Einkaufszentren hingegen sichtbarer Ausdruck ihrer kulturellen Identität. Die Möglichkeit der kulturellen Raumaneignung ist hier eine unhintergehbare Bedingung für Inklusion in die gesellschaftlichen Teilsysteme (vgl. Lo/Preston 2000: 187-189). Bourdieus Begriff des angeeigneten physischen Raums umgreift die juristische und kognitive Inbesitznahme und kann auf diese Weise sämtliche Implikationen der Raumaneignung, wie das kanadische Beispiel zeigt, in ihrer Gänze erfassen. Der angeeignete physische Raum stellt eine Art materielles Bild des sozialen Raums dar. Er hat eine rein passive Stellung in Bourdieus Raumkonzeption und kann infolgedessen lediglich als Hinweis auf die gegenwärtigen Verhältnisse im sozialen Raum dienen. Bourdieu konstruiert keinen kausalen Zusammenhang, der eine Umkehrung dieser Objektivierung erlauben würde. Die Grundgedanken Bourdieus zum 128
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Raum lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der physische Raum in einer hierarchischen Gesellschaft existiert nur als angeeigneter physischer Raum und somit als eine Objektivierung der Verteilungsstruktur von unterschiedlichen Kapitalien sowie sozialen Positionen und bringt infolgedessen immer Hierarchien und soziale Distanzen zum Ausdruck. Er tritt ausschließlich als reifizierter sozialer Raum oder anders ausgedrückt als angeeigneter physischer Raum in Erscheinung, wobei Aneignung sowohl die juristische Inbesitznahme als auch die sozialpsychologische Raumaneignung umgreift. Soziale Praxis ist in Räume eingebettet, die wiederum das Ergebnis sozialer Praxis sind. Die Inkorporierung sozialer Strukturen, der Habitus, gestaltet den angeeigneten physischen Raum durch die Ausbildung spezifischer Vorlieben seiner Ausformung, des Habitats. In Bourdieus Soziologie strukturiert und formt sich der reifizierte Sozialraum durch die Wahrnehmung und Gewohnheit der Akteure. Zentral ist die körperliche Einschreibung der Strukturen des Raumes, die sich z. B. in Körperhaltungen oder Bewegungsarten ausdrückt. Die in Raumstrukturen gewandelten sozialen Strukturen organisieren diese Körperhaltungen, Bewegungen und Stellungen der Körper in Form von Nähe oder Ferne, Ein- oder Ausschluss von begehrten Orten des verdinglichten Sozialraumes und schreiben so die Strukturen der sozialen Ordnung vermittelt über räumliche Manifestationen sozialer Gegebenheiten in die Körper ein (vgl. Bourdieu 1991: 27). Eine Alternative zu dieser akteurszentrierten Sichtweise in der Raumgestaltung wäre der Vorrang von Institutionalisierungen, die »von oben« den angeeigneten physischen Raum prägen. Diesen Ansatz führt Bourdieu in seinen Arbeiten zum Raum nicht weiter aus. Er betont stattdessen den anthropologischen Vorrang von Wahrnehmung und Gewohnheit, der einen allgemeinen Bestandteil der menschlichen Erfahrung in Bezug auf Räume darstellt und sowohl für moderne als auch für traditionelle Gesellschaften 63 Gültigkeit aufweist (vgl. Mayerfeld Bell 1997: 813). Bourdieu ist sich bewusst, dass »nichts schwieriger (ist), als aus dem reifizierten sozialen Raum herauszutreten, um ihn nicht zuletzt in seiner Differenz zum sozialen Raum zu denken« (1991: 28). Diese
63 Tradition und Modernität sind keine gegensätzliche Pole eines linearen gesellschaftlichen Wandels. Weder sind »traditionelle Gesellschaften« statisch, normativ konsistent oder strukturell homogen, noch ist die Beziehung zwischen Tradition und Moderne durch Substituierung, Konflikt oder Exklusivität geprägt. Modernisierung schwächt nicht zwangsläufig die Tradition. Beides, Tradition und Modernität, bilden die Basis für Ideologien und soziale Bewegungen und zeigen eine Koexistenz, in der die traditionellen und modernen Formen gleichzeitig Wandel unterstützen (oder dagegen opportunieren) (vgl. Gusfield 1967: 351). 129
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Differenz zu erkennen, erschwert die einfache Möglichkeit der Visualisierung des sozialen Raums sowie eine metaphorische Wissenschaftssprache, die nicht zwischen physischem und sozialem Raum zu trennen vermag. Eine zusätzliche Maskierung erfährt diese Unterscheidung von sozialem und reifizierten sozialem Raum im Zuge der Naturalisierung, die durch die permanente »Einschreibung sozialer Wirklichkeiten in die natürliche Welt« (Bourdieu 1997b: 160) sozial produzierte Unterschiede als in der Natur der Dinge liegend nahe legt. Ein prägnantes Beispiel für diese »Verschleierung« ist der Rassismus, der Unterschiede der Kultur in die Natur des Menschen verlegt. In Bourdieus Raummodell korrelieren soziale Distanz und physische Distanz bzw. Ortzuweisungen im physischen Raum miteinander. Ihre Wechselbeziehung ist jedoch nicht deckungsgleich. Die Kopplungen zwischen sozialem und angeeignetem physischem Raum sind vielmehr lose und die soziale Distanz geht nicht vollends in der physischen Distanz auf. Die Geographie kritisiert vor allem das Zurückstellen des physischen Raums hinter die sozial produzierten Verteilungen, Distanzen und Anordnungen des reifizierten Sozialraums als eine zu einengende Sichtweise, die nicht die Strukturierungen berücksichtigt, die von dem physischen Raum ausgehen (vgl. Painter 2000: 255). Die Frage nach den Wirkungen eines als gegeben vorausgesetzten physischen Raumes auf den sozialen Raum rückt ebenfalls in der Soziologie zunehmend in den Blickpunkt. Rudolf Stichweh führt als Beispiel einer solchen Strukturierungsleistung des geographischen Raumes die Transhumanz an (vgl. 2003b: 97). Transhumanz bezeichnet eine saisonale Herdenwanderung aus Tälern auf höher gelegenen Sommerweiden in semi-ariden oder montanen Gebieten, wie z. B. dem Mittelmeerraum (vgl. Jones 2005: 358). Der Aufstieg der Transhumanz im 11. Jahrhundert fällt mit der Ausdehnung des Woll- und Textilhandels in Europa zusammen. Sie bildete daraufhin eine der wichtigsten Infrastrukturen von kommunikativen Vernetzungen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Beispielsweise reichten die transhumanten Beziehungen der Region Foix am Fuße der französischen Pyrenäen im 14. Jahrhundert von Valencia bis in den Languedoc und nach Toulouse sowie in das Zentralmassiv. Sie waren die bedeutendsten Fernverbindungen zu der damaligen Zeit (vgl. Blanks 1995: 68). Soziale Austauschbeziehungen stützten sich in diesen Regionen auf die vom Relief vorgezeichneten transhumanten Wanderwege. Dem verdinglichten Sozialraum, also dem angeeigneten physischen Raum, ist ein Mechanismus zu Eigen, der als ein Katalysator des in den Kämpfen im sozialen Raum gewonnenen symbolischen Kapitals fungiert. Er ist die objektivierte Struktur der Verteilung von Machtfaktoren. 130
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Bourdieu bezeichnet diesen Mechanismus als Raumprofit (vgl. 1991: 30). Raumprofite sind Ziel sozialer Auseinandersetzungen in den verschiedenen Feldern des sozialen Raums. Sie werden vermittelt über Orte, d. h. feste Punkte im Raum, und Plätze, dem vom Menschen eingenommenen Raum (vgl. Bollnow 1963: 38; 41) des verdinglichten Sozialraums. Raumprofite lassen sich spezifizieren in Lokalisationsprofite, die sich aus symbolischen Effekten der relationalen Situierung im Sozialraum ergeben, und Okkupationsprofiten die im wesentlichen Macht über Ein- und Ausschlussregelungen des Raumes bezeichnen. Um diese wertvollen Lokalisationen im angeeigneten physischen Raum werden in den verschiedenen Feldern des sozialen Raums Kämpfe geführt. Raumprofite sind mithin die objektivierte Form eines Zustands sozialer Auseinandersetzungen um symbolische Macht in den Teilsystemen der Gesellschaft. Unter symbolischer Macht fasst Bourdieu sämtliche Formen der Anerkennung von Macht zusammen, sei es ökonomischer, kultureller oder politischer Art. »Die eigentliche Wirksamkeit dieser Macht entfaltet sich nicht auf der Ebene physischer Kraft, sondern auf der Ebene von Sinn und Erkennen« (Bourdieu 1992b: 82). Raumprofite sind Gewinne, die aufgrund der hierarchischen Struktur des angeeigneten physischen Raums entstehen. Sie äußern sich durch die räumliche Nähe zu begehrten Gütern und Akteuren, d. h. Raumprofite bestehen aus Zeit- und Prestigegewinnen, die wiederum in den verschiedenen Feldern des sozialen Raumes als Spieleinsätze Verwendung finden. Der Raumprofit resultiert nicht aus der räumlichen Nähe selbst, die lediglich eine Potenzialität darstellt, sondern aus der Interpretation dieser Nähe aus Sicht eines Beobachters. Räumliche Nähe hat aus sich selbst heraus keinen Effekt, wie Gerhard Bahrenberg mit Blick auf die Entstehung von Regionen feststellt. »Räumliche Nähe kann alles bewirken, einschließlich des jeweiligen Gegenteils, und damit nichts. Sie scheint mir jedenfalls für einen Einsatz in theoretischen Überlegungen völlig unbrauchbar« (2002: 59). Nur mittels der Interpretation räumlicher Nähe durch einen Beobachter ist ein Zuwachs an symbolischem Kapital über Lokalisationen im angeeigneten physischen Raum denkbar. Die Wahrnehmung der Differenz zu anderen Lokalisationen weist erst jedem einzelnem Ort im verdinglichten Sozialraum einen Wert zu. Diese symbolische Differenz ist für Bourdieu symbolisches Kapital. Der Zusammenhang ist nicht kausal. Raumprofite werden im sozialen Raum errungen und vermittelt über den reifizierten sozialen Raum wieder im sozialen Raum abgeschöpft. Aus diesem Grund dient der von einem sozialen Akteur eingenommene Ort im hierarchischen, angeeigneten physischen Raum als ein »Indikator für seine Stellung im sozialen Raum« (Bourdieu 1991: 26). Besondere Orte und Plätze im reifizierten Sozial131
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raum sind überhaupt erst durch Erfolge in den Kämpfen der jeweiligen Felder des sozialen Raumes zu besetzen. Bourdieu nimmt folglich die räumliche Verteilung von Objekten oder Akteuren nicht als Erklärung oder eindeutiges Indiz, sondern lediglich als Hinweis oder Index für soziale Praxis. Diese Beziehung von Sozialem und Physischen kennt nur eine Ausnahme, die auf »die genuine Wirkung von Nähe und Ferne im rein physischen Raum zurückgeführt werden muß« (Bourdieu 1991: 33). Bourdieu nennt sie »Blendungseffekt« (Bourdieu 1991: 33) oder »Leinwand-Effekt« (1997b: 164). Nur dieses Phänomen ist der Lokalisation an einem Punkt des rein physischen Raumes geschuldet. Es basiert auf dem »anthropologischen Vorrang, welcher der direkt erfahrbaren Gegenwart und somit auch den sichtbaren und greifbaren Gegenständen und Akteuren (direkte Nachbarn) beigemessen wird« (Bourdieu 1997b: 164). Gegnerschaften im Sinnzusammenhang von physischer Nähe, wie sie Nachbarschaftskonflikte darstellen können, verdecken in diesem Fall Gemeinsamkeiten von Positionen im sozialen Raum, die Solidaritäten induzieren müssten. Eine identische Position der Akteure eines Nachbarschaftskonfliktes im sozialen Raum ist somit die unabänderliche Bedingung, um von der Lokalisation im physischen Raum auf Soziales schließen zu können. Die Erklärung jeder sozialen Praxis liegt für den Soziologen Bourdieu ausschließlich im Sozialen. Bourdieus Theorie der Objektivierung sozialer Verhältnisse zeichnet einen theoretischen Hintergrund, der strukturierende Wirkungen des verdinglichten Sozialraums als Matrize der sozialen Verhältnisse entwirft und daher als Ausgangsbasis für weiterführende theoretische und empirische Arbeiten zu Aneignungsmöglichkeiten von unterschiedlichen Kapitalien dienen kann. Der angeeignete physische Raum verstärkt die Resultate der Auseinandersetzungen um die empirischen Knappheiten im sozialen Raum. Die dauerhafte Verortung in exkludierten Räumen verstärkt und verfestigt symbolisch Misserfolg. Beispielsweise bekommen Bewohner von Marginalvierteln so ihre soziale Position bildlich vor Augen geführt. Diese Lokalisierung im reifizierten Sozialraum schränkt wiederum die Akkumulationsmöglichkeiten von Kapital ein. Bourdieu ist nicht gänzlich in der Lage, den »cartesianischen Riss« zwischen dem Sozialen und dem Physischen zu heilen, da er die Komplementärbeziehung zwischen sozialen und angeeigneten physischen Raum nicht deckungsgleich konzipiert. Gleichwohl ist die Betonung der körperlichen Einschreibung räumlicher Strukturen in den Habitus an weitergehende theoretische Überlegungen zum Raumbezug sozialer Prozesse anschlussfähig.
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Die habituelle Urbanität Die Theorie der Praxis bietet mit ihren Begrifflichkeiten Habitus, Kapital/Feld und Raum das theoretische Rüstzeug, um Urbanität und die physischen Phänomene der Stadt theoretisch zu trennen und anschließend, aufbauend auf dieser theoretisch erzielten Möglichkeit, den tatsächlichen Grad der Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft empirisch zu prüfen. Dieser emergente Schritt der Trennung von physischem Raum und sich darin konstituierender dynamischer und komplexer Sozialordnung ist mit den eingangs der Arbeit angeführten, in der Stadtgeographie gebräuchlichen Urbanitätstheorien nicht möglich. Die grundlegende Idee der bourdieuschen »Theorie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt« (Bourdieu 1976c: 148), d. h. die Form einer Einschreibung von gesellschaftlichen Strukturen als dauerhafte Dispositionen in die Habitus der Akteure, erfährt in diesem Abschnitt eine theoretische Verschränkung mit dem erarbeiteten Urbanitätsbegriff zu einer habituellen Urbanität. Grundlegende These ist, dass Urbanität als Kontingenz im Habitus der Akteure bewältigt wird. Die akteursspezifische Bewältigung der erweiterten Variationskontingenz (b), d. h. die grundlegende Interpretation von Handeln entweder als riskant oder als gefährlich, sowie die Einbeziehung der erweiterten Möglichkeiten des Zufalls in das eigene Handeln, erfolgen habituell. Ein Habitus passt sich den sozialen Strukturen seiner Umwelt im Laufe seiner Entstehung an. Jeder Habitus, der unter den sozialökologischen Bedingungen einer Stadt erworben wurde, schließt demnach die kulturelle Kompetenz der Bewältigung des Lebens in einem Klima von bestimmter struktureller Fremdheit, subjektiv bewusster Individualisierung und sich ergebender erweiteter interner Variationskontingenz (b) ein. Der vorliegende Abschnitt entwirft einen Vorschlag zur theoretischen Fassung dieser akteursimmanenten Bewältigung von Kontingenz des urbanen Lebens. Mit Pierre Bourdieu ist der Ort dieser Bewältigung der Habitus des Akteurs bzw. der Klassenhabitus. Das Ziel ist daher die Amalgamierung des erarbeiteten Urbanitätsbegriffs mit dem Habituskonzept zu einer habituellen Urbanität, die die Bewältigung des erweiterten Kontingenzrahmens der Stadt in den Habitus und somit in den Akteur verlagert. Eine solchermaßen theoretisch entwickelte habituelle Urbanität ist getrennt von den physischen Phänomenen der Stadt denkbar und empirisch erfahrbar. Urbanität verlagert sich so von der Stadt und ihrer Interaktionsdichte auf den einzelnen Akteur und seinem Habitus. Die sozialwissenschaftliche Stadtforschung kennt im Wesentlichen drei klassische Ansätze zur Bewältigung des erweiterten Kontingenzraumes der Stadt. Der erste ist der »Simmel-Ansatz«, der postuliert, dass 133
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die Subjekte in der Stadt zur Ausbildung von Intelligenz gezwungen sind, da andererseits eine nicht mehr zu bewältigende Fülle an Informationen auf den Städter »einstürzt«. Die Interaktionsdichte und mit ihr die ungeheure Reizfülle der modernen Großstadt extrahiert erst durch ihre Anforderungen aus dem menschlichen Kollektiv das Individuum. Die in unablässiger Interaktion stehenden Individuen verfolgen in ihrem Kampf um Sichtbarkeit und Abgrenzung gegeneinander die unterschiedlichsten und gegenläufigsten Ich-Entwürfe. Sie finden jedoch aufgrund dieser vordergründigen Diversifizierung zu einem Verhältnis komplementärer Ordnung. Die Atrophie des Individuellen durch die Hypertrophie des Objektiven führt nach Simmel zu einer sozialen Ordnung, die im letzten die Bewältigung der Kontingenz der Großstadt ermöglicht. Nach diesen Überlegungen des Berliner Philosophen sind die Individuen gezwungen, kontinuierlich gegen die Unwirtlichkeit der sozialen Umwelt anzukämpfen und genau dadurch Ordnung und nachfolgend Kontingenzeindämmung zu erreichen (vgl. Simmel 1903). Die zweite klassische, jedoch stärker an die Biologie angelehnte Position zur Bewältigung der Kontingenz der Stadt ist der »Wirth-Ansatz«, der im Gegensatz zu Simmel die Stadt als einen heterogenen ökologischen Zusammenhang mit abwesender Ordnung begreift. Der »Wirth-Ansatz« fasst die polymorphe Einheit der verschiedenen Individuen unter dem neuen Begriff der Population zusammen und erkennt in der Diversität der Individuen innerhalb des Kollektivs der Population ihren endogenen Mechanismus zur Entstehung und Bearbeitung von Kontingenz (vgl. Wirth 1938). Neben diesen Entwürfen von Georg Simmel und Louis Wirth besteht darüber hinaus eine dritte, stärker an den Behaviorismus angelehnte, jedoch ebenfalls klassisch zu nennende Position, die desgleichen eine Bewältigung von Kontingenz im städtischen Raum im Zentrum ihrer Überlegungen führt. Diese Position lässt sich als »Woolston-Ansatz« bezeichnen, der die Stadt als einen starken Agenten sozialer Selektion konzipiert, in dessen sozialer Umwelt Individuen gezwungenermaßen einen »urban habit of mind« (Woolston 1912: 602) ausbilden. Dieser besondere Habit ermöglicht erst die Ordnung der ungeordneten Reize, mit denen Urbaniten andauernd konfrontiert sind. Die städtische Ordnung selektiert gemäß dieses Ansatzes ihrerseits, indem sie auf das neue behavioristische Konzept des Habits zugreift, dessen Aufgabe in erster Linie die akteurszentrierte Ordnung der per se ungeordneten Kommunikation in der Stadt darstellt. Der im Vergleich zum Land in der städtischen Umgebung deutlich ausgeweitete Kontingenzrahmen erzwingt eine Filterfunktion des Habits, in Bourdieus Terminologie die Hysteresis des Habitus, der die Grundvoraussetzung für ein Vertrautwerden mit dem Unvertrauten in der Großstadt bildet. Urbanes Leben ist in dieser beha134
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vioristischen Lesart eine Entweder-Oder-Bedingung, die soziale Ordnung entlang der geistigen Fähigkeiten der Individuen herstellt, indem sie »urban habits« als Verarbeitungsinstanzen der Multiplizierung von Gelegenheiten produziert und gleichzeitig »provinzielle Habits« nivelliert (vgl. Woolston 1912: 602 passim). Abweichend von Simmels Position, der die Bewältigung der Reizfülle und Kontingenz als eine Sache des Verstandes begreift, konzipiert Howard Woolston einen »urban habit« als minimalen, aber graduellen Unterschied zwischen Urbaniten und Landbewohnern und spricht letzteren die Fähigkeit ab, die Standardisierung und Objektivität der strukturellen Fremdheit zwischen den Städtern habituell fassen zu können. Howard Woolston verortet zum ersten Mal die Auseinandersetzung mit der Interaktionsdichte städtischen Lebens in dem neuen Konzept des Habits und erweitert praktisch die Position Simmels, der die gleiche Leistung in die unscharfe Kategorie des Verstandes verlegt wissen will. Das behavioristische Konzept des urbanen Habits besetzt quasi als evolutionäre Vorstufe einer habituellen Urbanität das primitive Ende eines imaginären Kontinuums von Habit-Habitus. Woolstons Entwurf sieht lediglich die Reaktionsmöglichkeit eines Habits als System von Reflexen auf von außen kommende Reize vor. Ein Akteur ist entweder in der Lage, adäquat auf diese Reizüberfüllung der urbanen Interaktionsdichte zu reagieren, oder er entwickelt pathologische Züge, zeigt deviantes Verhalten usw. (vgl. Woolston 1912). Die drei skizzierten philosophisch-soziologischen Entwürfe zur graduellen Anpassung an den vertrauten Umgang mit dem Unvertrauten beziehen sich allesamt auf die gesteigerte Reaktionsfähigkeit der Städter auf äußere Reize. Die Großstadt erscheint bei Georg Simmel als Analogon zur Geldwirtschaft und entwickelt ganz ähnliche nivellierende Tendenzen wie das Geld. Der Großstädter zeigt sich blasiert, reserviert und von einer leichten Aversion gegen seine Mitmenschen gezeichnet als eine unabdingbare Antwort auf die Interaktionsdichte und bleibende Herausforderung der eigenen Identität. Geld ist wiederum die Darstellung des Wertes anderer Objekte. Es ist unbegrenzt teilbar und summierbar und gibt daher die technische Möglichkeit für die genaue Gleichheit der Tauschwerte her. Georg Simmel bringt diesen Sachverhalt in dem Satz, »daß der Tausch selbst im Gelde Körper geworden ist« (1989: 389) zum Ausdruck. Die Großstadt segmentiert die Individuen und zwingt sie zur Ausbildung einer vorher nicht gekannten Spezialisierung. Simmel konzipiert die großstädtische Gesellschaft als einen Austausch und Wettbewerb von spezialisierten Tätigkeiten bis hin zur absoluten Zuspitzung im Beruf des Quartorzième im Paris des 19. Jahrhunderts, der immer dann bei bürgerlichen Schichten zu Tisch gerufen wurde, wenn sich zum 135
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abendlichen Souper dreizehn Personen versammelten. Der »Vierzehnte« wandte so erwartetes Unglück ab. Dieser Austausch zwischen segmentierten Spezialisierungen anstelle der ganzen Person entfaltet nach Simmel dieselbe nivellierende Kraft, wie die Objektivität des Geldes. Großstädter begegnen sich daher reserviert und sind nur an spezielle Funktionen des jeweils anderen interessiert. Reserviertheit und Blasiertheit, die verstandesmäßigen Reaktionen des Städters, sind folglich Reaktionen auf äußere Reize. Der Wirth-Ansatz geht hingegen von einem sukzessiven Steigerungszusammenhang zwischen städtischer Charakteristik und Dichte aus, der immer dort die mit Urbanität verknüpften Merkmale wie Anonymität, Reserviertheit und Segmentierung der Kontakte in ihrer stärksten Ausprägung vorfindet, wo auch die Interaktionsdichte am höchsten ist (vgl. Wirth 1938: 9). Die entstehende Diversität innerhalb der Population kennzeichnet Wirth als die charakteristische Gesellschaftsstruktur der Großstadt, die von ihren Individuen die gleichen Bewältigungsformen wie in Simmels Ansatz, Reserviertheit und Blasiertheit, verlangt. Auch der sozialökologische Versuch einer Erklärung von Kontingenzbearbeitung in der Stadt bezieht sich letztlich auf die Reaktionsfähigkeit innerhalb der habituellen Grenzen des für ein Großstadtindividuum Erwartbaren. Der »Woolston-Ansatz« schließlich verdeutlicht diesen Zusammenhang, indem er einen »urban habit of mind« aus dem neuen Begriffskanon des Behaviorismus konstruiert, der die Unterscheidung von Stadt und Land im notwendigen Fall entscheidbar macht. Die Stadt besteht nach diesem Verständnis dort, wo Akteure eine habituelle Filterfunktion besitzen, die sie vor den pathologischen Einflüssen ihrer sozialen Umwelt bewahrt. Allen drei Ansätzen ist zu Eigen, dass ihnen das theoretisch-analytische Instrumentarium fehlt, um die implizit oder explizit in ihnen angelegte Kontingenzbewältigung in der Großstadt empirisch zu untersuchen. Sie sind allesamt Versuche, die neu auftretenden sozialökologischen Bedingungen der modernen Großstadt mit ihrer Interaktionsdichte theoretisch zu fassen und zu begreifen. Die drei Ansätze suchen nach einer Möglichkeit der theoretischen Erfassung des erweiterten Möglichkeitsraumes sich realisierender Zufälle in der Stadt. Die Tatsache erkannt zu haben, dass die Großstadt im Wesentlichen eine Multiplizierung gegebener Möglichkeiten ist, kann als die entscheidende Leistung dieser drei klassischen Ansätze gelten. Die angeführten historischen Versuche zur Erklärung städtischer Sozietät verzichten allerdings auf die Einbeziehung eines denkbaren Funktionszusammenhangs von erweiterten Handlungsmöglichkeiten auf der einen und Zufall auf der anderen Seite in ihre Beschreibungen des mo136
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dernen Großstadtlebens, die im besten Sinne essayistisch zu nennen sind. Der entscheidende Begriff in diesem Sinnzusammenhang ist Kontingenz, der sich als eine zweifach bestimmte Modalkategorie darstellt. Bestimmte strukturelle Fremdheit und subjektiv bewusste Individualisierung erzeugen einen geweiteten Handlungsraum, in dem sich Zufälle konstituieren können. Pierre Bourdieu erfasst diese grundlegende Differenz zwischen Kontingenz und Zufall und trägt ihr in seinem Theoriegebäude Rechnung. Für Bourdieu bezeichnet der Begriff Zufall lediglich »das Zusammentreffen zweier unabhängiger Kausalreihen« (1992a: 104). Kontingenz hingegen definiert er m. W. an keiner Stelle seines Werkes. Dennoch taucht sie als eine unterschwellige Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und damit verschieden vom Begriff des Zufalls auf (vgl. Bourdieu 2005: 126). Bourdieu konzipiert Kontingenz als die Möglichkeit, dass das Ontische immer auch anders erdenklich ist. Kontingenz ist in der Theorie der Praxis eine Voraussetzung des Handelns, d. h. der Realisierung einer Möglichkeit aus theoretisch unendlich vielen. Der Habitus wiederum strukturiert das Handeln. Ihm fällt folgerichtig die theorieinterne Bewältigung des Kontingenzproblems zu. Die Theorie der Praxis setzt immer bereits eine Gegenwart voraus, die ihrerseits vorangehend die theoretische Unendlichkeit der Handlungsmöglichkeiten aufgrund von gesellschaftsinternen Strukturen begrenzt und auf diese Weise ein Trägheitsmoment in ihrer internen Organisation erzeugt. Genau jene Situation ist der Punkt im bourdieuschen Theoriegebäude, der die Kontingenz der sozialen Wirklichkeit bezeichnet und grundlegend verschieden von einer reinen Zufälligkeit ist. Die Auflösung dieser Situation der Kontingenz in sich realisierendes Handeln ist wiederum eine Sache des Habitus bzw. des Klassenhabitus. Bourdieu begreift die Gegenwartsgesellschaft als eine sich in verschiedene Felder funktional ausdifferenzierende, die allerdings feldintern wiederum hierarchisch strukturiert ist. Die bourdieusche Gesellschaftskonzeption ordnet die theoretischen Handlungschancen der Akteure entlang ihrer sozialen Positionen. Je herausgehobener die soziale Position eines Akteurs sich darstellt, desto mehr Handlungsoptionen sind ihm gegeben. So sind die oberen Klassen geprägt durch einen »legitimierten« Geschmack, der sich wesentlich in der Distinktion zu anderen, niederen Klassen ausdrückt. Die unteren Klassen zeichnet dagegen ein der geringen Verfügbarkeit von Kapitalien geschuldeter »Geschmack am Notwendigen« (Bourdieu 1987c: 587) aus. Zusätzlich umgreift das Konzept des Habitus sämtliche Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs innerhalb seiner klassenspezifischen Grenzen und strukturiert auf diese Weise die sich realisierende kontingente Praxis. Folglich kann der Ort einer Auseinandersetzung mit Urbanität, d. h. der geweiteten internen Variationskontin137
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genz (b) aufgrund von bestimmter struktureller Fremdheit und subjektiv bewusster Individualisierung, in der bourdieuschen Theorie der Praxis nur der Habitus sein. Verständlich wird das wechselseitig verschränkte Verhältnis von Urbanität und Habitus bzw. Klassenhabitus als Ort ihrer gesellschaftsinternen Bewältigung mithilfe des theoretischen Konstruktes eines »residenziellen Kapitals«. Residenzielles Kapital bezeichnet jene besondere Form von symbolischem Kapital, die sich durch die legitime Okkupation eines Ortes im angeeigneten physischen Raum erwerben lässt. Raum ist in der bourdieuschen Theorie die Objektivierung der Verteilungsstruktur der verschiedenen, jeweils mit einem gesellschaftlichen Feld assoziierten Kapitalien. Bourdieu legt dar, dass es in einer hierarchischen Gesellschaft keinen Raum geben könne, der nicht selbst hierarchisch wäre. Plastischer Ausdruck dieser in den Raum eingeschriebenen Hierarchie sind die Bodenpreise. Sie bilden ein unsichtbares Grundgerüst, das sich über den Raum legt und die Aneignungsmöglichkeiten von Orten faktisch entlang der den Akteuren zur Verfügung stehenden Kapitalien sortiert (vgl. Aring 2005: 34). Akteure in den jeweiligen höchsten sozialen Positionen der sozialen Felder und analog den begehrtesten Orten im angeeigneten physischen Raum neigen infolgedessen dazu, sich zu überlagern. Das bestehende Korrespondenzverhältnis zwischen dem angeeigneten physischen Raum und dem sozialen Raum bedingt in seiner Folge eine Konzentration von seltenen und begehrten Gütern und von ihren Besitzern an bestimmten Orten im objektivierten Sozialraum, deren Besetzung nur durch Erfolge in den Kämpfen der unterschiedlichen Subfelder des sozialen Raums zu erreichen ist (vgl. Bourdieu 1997b: 161). Diese Konzentrationen finden sich historisch und aktuell zumeist in Städten. Die aus der Überlappung von Akteuren und begehrten Gütern resultierende Bedeutung von Städten zeigt sich anschaulich in der französischen Literatur. Beispielsweise setzen die Realisten Balzac und Stendhal sozialen Aufstieg mit einem Umzug »hinauf« in die Stadt gleich, mit einer »Eroberung« der Stadt und Aufnahme in die städtische Gesellschaft. Die Stadt erscheint als eine Metapher für gehobene gesellschaftliche Positionen (vgl. Augé 1998: 407). Bereits der reine Umzug und die damit einhergehende räumliche Nähe zu den begehrtesten Orten des Sozialsystems wird als Aufstieg interpretiert, unabhängig davon, ob ein sozialer Aufstieg tatsächlich gelingt. Das Wohnen in der Stadt, ganz gleich in welcher Form, ist für die französischen Literaten traditionell bereits ein Zuwachs an Renommee bzw. symbolischem Kapital. Dem residenziellen Kapital korrespondiert vergleichbar mit dem symbolischen Kapital ebenfalls kein Feld, sondern es bildet eine eigene 138
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Subkategorie des symbolischen Kapitals, d. h. seine performative Kraft beruht allein auf Erkennen und Anerkennen. Residenzielles Kapital bezieht sich primär auf das Set von Eigenschaften, die sich nur durch die langfristige Besetzung eines bestimmten Ortes im angeeigneten physischen Raum selbst sowie dem kontinuierlichen Kontakt zu seinen Bewohnern erwerben lassen (vgl. Bourdieu 1997b: 165). Zwei Spielarten des Kapitals sind für die theoretische Erarbeitung eines residenziellen Kapitals von entscheidender Bedeutung: das Sozialkapital und das sprachliche Kapital. Das Netzwerk an Beziehungen und Verbindungen und vor allem die herausgehobenen Verbindungen und Freundschaften aus dem Kindes- und Jugendalter, die »vor Ort« entstehen, verleihen dem Geburtsort und abgeschwächt dem Wohnort seine besondere Bedeutung. Dieses Sozialkapital ist an den Ort des Wohnens bzw. der Enkulturation gebunden. Es ist umso bedeutender, je mehr symbolisches Kapital der Wohnort generiert oder je herausgehobener die sozialen Positionen der Bewohner im sozialen Raum sind. Empirische Studien zeigen die Bedeutung des am Wohnort akkumulierten Sozialkapitals exemplarisch auf. So untersuchen zum Beispiel Carrington et al. die strukturelle Form von »community« anhand eines Stadtteils von Toronto. Ihr innovativer Ansatz zielt darauf, die Bildung von Gemeinschaften losgelöst von dem Ort als ein reines Netzwerk, d. h. als »structures that help to determine which persons are available for interaction, what resources are available for use, and the extent to which these resources can flow to network members« (Carrington et al. 1988: 153) zu betrachten. Das Fallbeispiel in Toronto lässt sämtliche klassischen Indikatoren für eine lokale »Gemeinschaft«, wie räumliche Kontiguität, öffentliches Leben und Nachbarschaft, vermissen. Der physische Raum des Stadtteils tritt in Bezug auf die Interaktionen in den Hintergrund und lässt die Netzwerkidee als eine Herauslösung von Zusammenhängen aus ihrer direkten Anwesenheitsbedingung erscheinen. Carrington et al. kommen zu dem Ergebnis, dass das Sozialkapital des Viertels in dreifacher Weise bedeutsam für die Städter wird. Es stellt zunächst einen »Hafen« bereit, in dem sich die Bewohner immer wieder selbst vergewissern können, nicht alleine zu sein. Das Sozialkapital bietet ferner emotionale Unterstützung, um die Begrenzungen des Alltags im Stadtteil zu meistern, und es stellt »Leitern« zur Verbesserung der eigenen sozialen Position bereit. Der Stadtteil offenbart eine unsichtbare Netzwerkstruktur, die Carrington et al. als »personel communites« (Carrington et al. 1988: 176) bezeichnen. Diese sind nicht lokal gebunden, sondern regional ausgeprägt. Jedoch ist eine Partizipation und Einbindung in das Netzwerk in erster Linie durch Kontakte und Interaktionsbeziehungen im Stadtteil selbst möglich, die
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Akkumulation von lokalem Sozialkapital ist somit die Vorbedingung der Nutzung u. a. der Leiterfunktion des Netzwerks. Entscheidend sind nach Carrington et al. zunächst die »strong ties« des vor Ort akkumulierten Sozialkapitals, die erst die »weak ties« 64 als potenzielle Anschlussmöglichkeiten an andere Netzwerke in Wert setzten. Desgleichen korrelieren mit den theoretischen Überlegungen von Bourdieu neueste empirische Ergebnisse, die eine strukturelle »network poverty« in Marginalvierteln feststellen (vgl. MacDonald et al. 2005: 884). Sozialkapitalbeziehungen in benachteiligten Wohngebieten nehmen meist die Form von »bonding« (verbindendem) Sozialkapital 65 an und nicht die wertvollere Form von »bridging« (nach außen weisendem) Sozialkapital. Es fehlen die »weak ties«, die eine Verbindung zu weiteren Netzwerken herstellen würden. MacDonald et al. sprechen folglich von der »weakness of strong ties« (2005: 884). Die Grenze der »personal community« ist in diesem Fall nahezu identisch mit der räumlichen Grenze des Stadtteils. Innerhalb dieser Armutsgebiete existiert ein starker lokaler Nomadismus, ohne dass diese Umzugsbewegungen die Grenzen des Viertels überschreiten. Längsschnittuntersuchungen in Marginalvierteln in Großbritannien zeigen, dass beinahe alle Probanden in dem Viertel verbleiben, in dem sie geboren sind und enkulturiert werden (vgl. MacDonald et al. 2005: 877). Die Sozialkapitalbeziehungen in benachteiligten Orten des angeeigneten physischen Raums verfestigen folglich die hierarchischen Strukturen des sozialen Raums, da die »Leiterfunktion« von sozialen Netzwerken hier faktisch entfällt. Die Hierarchisierung des objektivierten Sozialraumes ist gleichzeitig eine Hierarchisierung von potenziell möglichen Sozialkapitalbeziehungen. Die zweite performative Eigenschaft, die der Wohn- bzw. Geburtsort verleiht, ist das sprachliche Kapital. Die Aussprache ist in Bourdieus Theoriegebäude ein Kapital, für das korrespondierend ein zugeordneter 64 »Weak ties« bezeichnen im Allgemeinen soziale Kontakte, die nicht der andauernden Affirmation bedürfen, aber dennoch als bestehend betrachtet werden können. Ihre besondere Bedeutung erfahren sie durch ihre »bridging-Funktion« zu anderen Netzwerken und ihrem damit einhergehenden Multiplikatoreffekt, der die Potenzialität eines sozialen Netzwerks exponentiell erhöht (vgl. Granovetter 1973). 65 Kennzeichen des verbindenden Sozialkapitals ist seine Abhängigkeit von der Art der Beziehung und nicht von den involvierten Akteuren. Beispielsweise erfolgt auf die soziale Unterstützungsleistung des Kinderhütens zwischen Haushalten eine generalisierte Erwiderung in Form einer gleichen Handlung. Die Sozialkapitalbeziehung des Kinderhütens erfährt keinesfalls eine Veränderung in eine finanzielle Unterstützungsbeziehung usw. Ihre Potenzialität ist so stark eingeschränkt. Wellman/Wortley erkennen in dieser Eindimensionalität des »bonding«-Sozialkapitals den eigentlichen Grund der »network-poverty« (vgl. 1990: 562-564). 140
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Markt besteht (vgl. Bourdieu 1993a: 117). Basisannahme des Sprachkapitalaxioms ist die Hierarchisierung einer jeden Sprache. Idiome, Jargons und Dialekte kommen in jeder menschlichen Sprache vor und ihre Signifikanz kann gelernt werden. Dennoch besitzt jede soziale Gruppe ihren eigenen sprachlichen Code, der auf einer gemeinsamen Vergangenheit beruht (vgl. Schütz 1944: 505). Nicht jeder Sprache haftet auf dem sprachlichen Markt der gleiche Wert an. Sprachlichen Profit kann nur erzielen, wer die jeweilige »Hochsprache« beherrscht, d. h. denjenigen sprachlichen Code, der von den Akteuren in den höchsten sozialen Positionen des sozialen Raums verlangt wird. Jede Sprache unterliegt einer sozialen Verwendung, deren Ziel die Reproduktion des Systems der sozialen Differenzen auf einer symbolischen Ebene ist. Sprache tritt dementsprechend als eine legitime Inklusionsregel für den Zugang zu diesen begehrten sozialen Positionen auf. Der »sprachlichen Herrschaft« (Bourdieu 1993a: 121) unterliegt jeder Akteur in jeder Interaktionssituation. Bourdieu zeigt dies am Beispiel des pariserischen Hochfranzösisch beispielhaft auf. An der Norm der Beherrschung dieses »akzentfreien« Französisch muss sich jeder Akteur messen lassen, d. h. der Pariser Sprecher »beherrscht« die anderen, da jeder in Interaktionssituationen, z. B. in der Schule, am Bankschalter, auf dem Postamt usw., in einem über die Sprache vermittelten objektiven Verhältnis zu ihm steht (vgl. Bourdieu 1993a: 122). Die »richtige«, mithin wertvolle Sprache auf dem sprachlichen Markt lässt sich daher vor allem erlernen, wenn der Geburtsort ein Ort ist, wo diese Sprache gefordert und tradiert wird. Aus dieser Tatsache resultiert die Bedeutung des Geburtsortes und in abgeschwächter Form die Bedeutung des Wohnortes im Zusammenhang mit dem Spracherwerb. Sprachliches Kapital in seiner wertvollsten Ausprägung akkumuliert sich demzufolge am Beispiel Frankreichs vor allem durch Situierung in Paris. Die Aussprache erlaubt die retrospektive Zuordnung eines Akteurs zu einem angeeigneten physischen Raum, in dessen Grenzen der Spracherwerb erfolgte. Schon Cicero beschreibt diesen Einfluss und die Bedeutung des objektivierten Sozialraums in Bezug auf die Sprache des Menschen. Das sprachliche Kapital einer urbanen, römischen Aussprache konzipiert Cicero als unverkennbaren Vorzug, den selbst der ungebildete Stadtrömer noch dem gebildeten Provinzler voraushabe (vgl. Lammermann 1935: 2). Die Akkumulierung des residenziellen Kapitals erfolgt über die Besetzung eines bestimmten Ortes im objektivierten Sozialraum und die daran anschließende, von verschiedenen Beobachtern wahrgenommene Differenz zu anderen Orten dieses Raumes. Sprachliches Kapital und soziales Kapital ermöglichen beide die Erfassung von Differenzen zwischen Orten. Von der Wertzuweisung des Ortes im verdinglichten Sozi141
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alraum, den ein Akteur sich anzueignen vermag, ist letztlich die relativ zu anderen Orten akkumulierbare Menge an residenziellem respektive symbolischem Kapital abhängig. Residenzielles Kapital bezeichnet das ursprüngliche Set von Eigenschaften, die sich durch die besondere Bedeutung des Wohn- und Geburtsortes akkumulieren. Es inkorporiert sich zu Teilen als Disposition des Habitus. Der Wohn- und Geburtsort beeinflusst somit die körperlichen und sprachlichen Ausdrucksformen, Bourdieu fasst sie mit dem Begriff des »kairos« (1993a: 116) zusammen, d. h. der Kunst, eine Sprache zu beherrschen und diese Kunst treffsicher anzuwenden. Sprachliches Kapital bezeichnet faktisch eine kulturelle Kompetenz des Akteurs und ebenfalls eine Form von inkorporiertem kulturellem Kapital. Im Konstrukt des residenziellen Kapitals fallen somit zum einen das inkorporierte kulturelle Kapital, das im Zusammenhang mit dem Wohn- und Geburtsort erworben wird, und das in der Folge der Situierung an einem Ort des angeeigneten physischen Raums gewonnene soziale Kapital zusammen. Residenzielles Kapital besteht somit zum Teil als verinnerlichte, inkorporierte Disposition des Organismus und zum Teil als soziales Kapital, d. h. als objektive Summe sozial bedeutsamer Bindungen. Grundlegendes Prinzip seiner Funktion ist ein Erkennen und Anerkennen. Residenzielles Kapital lässt sich somit als eine Subform von symbolischen Kapital auffassen. Die basale These der habituellen Urbanität ist, dass die Akkumulierung von residenziellem Kapital in einer Stadt zu einem Habitus führt, der an die sozialen Strukturen und die Interaktionsdichte seiner Umgebung angepasst ist. 66 Der urbane Habitus umfasst die kulturelle Kompetenz zu einer Bewältigung des Lebens in einem Klima von subjektiv bewusster Individualisierung, bestimmter struktureller Fremdheit und Kontingenz. Urbanität, d. h. interne Variationskontingenz (b), die aus den skizzierten Formen von Individualisierung und Fremdheit resultiert, zu bewältigen ist die Kompetenz, die einem Akteur in der Stadt akkumuliertes residenzielles Kapital verleiht. Ein urbaner Habitus versetzt ihn in die Lage, mit der Urbanität der Stadt zu leben. An einer Situation ver-
66 Empirische Ergebnisse stützen diese theoretisch abgeleitete Vermutung über das Verhältnis von angeeignetem physischen Raum und Sozialisation. So rekurriert beispielsweise das Konzept der »Kultur des Ortes« auf diese wechselseitige Beziehung. Kultur des Ortes bezeichnet die empirische Tatsache, dass Akteure »share a culture of place, which is learned in all youthful socialization contexts and which is activated by the demographic facts of population concentration« (Grasmick/Tittle 2001: 332). Jeder Wohnort ist folglich mit einem idealtypischen normativen Verhalten belegt, das sozial tradiert wird. 142
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deutlicht äußert sich dies beispielsweise in dem Vermögen, die Liminalis zwischen einer unbekannten und einer bekannten Person ohne Einbindung in einen ritualisierten Kontext zu überschreiten (vgl. Turner 1969: 94-125), d. h. ein Akteur besitzt ausreichendes sprachliches, kulturelles und soziales Kapital, um diese »Schwelle« zu übertreten, um seine »gezähmte Abneigung gegenüber dem Fremden« (Helbrecht 2001b: 112) punktuell oder kontinuierlich zu überwinden. Residenzielles Kapital als eine klassenübergreifende Form des symbolischen Kapitals und Funktion des Wohn- und Geburtsorts im Habitus der Akteure ist eine vorgenommene Ergänzung der Theorie der Praxis, die Bourdieu selbst am Rande bemerkt. Die Möglichkeiten eines solchen, den angeeigneten physischen Raum involvierenden theoretischen Ansatzes deutet Bourdieu in seiner umfassenden Studie zum kulturellen Konsum der unterschiedlichen Klassen in Frankreich an. Bourdieu bemerkt hier deutliche klassenimmanente Divergenzen bezüglich des Lebensstils zwischen sozial gleich positionierten Akteuren in der Provinz67 und in Paris. Er verfolgt diese Unterschiede allerdings im Anschluss nicht mehr konsequent weiter (vgl. Bourdieu 1987c: 569-572). Der Habitus gewährleistet als ein Produkt der Geschichte die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich im Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Er fungiert als Erzeugungsprinzip der individuellen und kollektiven Praxisformen (vgl. Bourdieu 1987a: 101). In der Stadt akkumuliertes residenzielles Kapital, d. h. die kulturelle Kompetenz des Umgangs mit einer urbanen Umgebung, ist in Form einer somatisierten Disposition auf diese Weise aktiv an den Erzeugungsformen von Praktiken beteiligt. Urbanität wird habituell, da ihre Bewältigung, bzw. der Umgang mit subjektiv bewusster Individualisierung und bestimmter struktureller Fremdheit tradiert über den Habitus, bleibenden Eingang in die Praxisformen der Akteure findet. Im Dispositionssystem des Habitus ist residenzielles Ka-
67 Bourdieu verfügt dagegen über einen eindeutigen Provinzbegriff, der Provinz als die relative Privation, d. h. als besondere Form einer Negation, bei der das negierende Prädikat dem Subjekt nicht nur eine Eigenschaft, sondern auch sein Wesen abspricht, von Kapitale und Kapital konzipiert, und damit in Frankreich annähernd jeden Ort außerhalb von Paris beinhaltet (vgl. Bourdieu 1991: 29). Als Kapitale bezeichnet Bourdieu demgegenüber denjenigen Ort des angeeigneten physischen Raums, an dem sich die positiven Pole aller Felder und die meisten der Akteure in dominanten sozialen Positionen konzentrieren (vgl. Bourdieu 1997b: 162). Diese wertaufgeladene Unterscheidung zwischen Zentrum und Provinz ist anscheinend für die gesamte europäische Kulturgeschichte bezeichnend, wie Salin mit Blick auf das Römische Imperium und seiner Hauptstadt feststellt (vgl. Salin 1960: 13). 143
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pital gegenwärtig und gewährleistet die aktive Gegenwart früherer Erfahrungen in den Praxisformen. Mit den Worten Bourdieus ist ein urbaner Habitus das Ergebnis einer »zur Tugend gemachten Not« (Bourdieu 1987a: 100) seiner sozialen Bedingungen und unter anderem ein Ergebnis der Interaktionsdichte in der Stadt. Der Habitus in seiner Eigenschaft als »sozialisierte Subjektivität« (Bourdieu/Wacquant 1996: 156) und als modus operandi, d. h. als strukturierende Struktur der Praxisformen, ist das Instrument, das die Verschiebung der Grenzen des Kontingenzraumes (b) in Richtung der Grenzen des Kontingenzraumes (a) bewältigt. Die Interpretation einer gegebenen Situation als riskant und somit eng mit einer Optionssteigerung des Handelns verbunden oder alternativ als gefährlich und damit handlungsbegrenzend, ist eine Sache des Habitus. Als habituelle Urbanität kann man daher die Fähigkeit zur Bewältigung der in städtischen Räumen gegebenen Verschiebung der Grenzen der internen Variationskontingenz (b) in Richtung der Schranken des Kontingenzraumes (a) bezeichnen. Habituelle Urbanität bezeichnet eine Veränderung des Hysteresiseffekts des Habitus. Die Hysteresis als Filterleistung des Habitus, die verhindert, dass dieser alle Reize verarbeitet, die auf ihn einwirken, garantiert die Kohärenz und Stringenz des Habitus. Das akkumulierte residenzielle Kapital bedingt in erster Linie eine Verengung der Kluft zwischen den potenziellen Gelegenheiten und Möglichkeiten der Praxis und den akteursspezifischen Dispositionen, die diese wiederum einengen. Das Dispositionssystem ist seinerseits nicht unabhängig vom angeeigneten physischen Raum, sondern in bestimmten Grenzen durch diesen geprägt. Ist der aufgezeigte Spalt zwischen der Potenzialität der Praxis und der sie kennzeichnenden Strukturen besonders groß, erfolgt eine Reaktion im Fall einer Krisensituation mit den Wahrnehmungs- und Denkkategorien der Vergangenheit (vgl. Bourdieu 1987a: 111). Bourdieu bezeichnet diese Apathie des Habitus in Anlehnung an Edmund Husserl mit »Protension« (1985: 17). Ein Beispiel für diesen Fall ist die organisationsinterne Kontingenzbearbeitung, die dazu führt, dass in die Zukunft gerichtete Planungen von den beteiligten Akteuren an den erzielten Erfolgen in der Vergangenheit ausgerichtet werden (vgl. Milliken/Starbuck 1988). Im Sinnzusammenhang der Urbanität bedeutet dies, dass interne Variationskontingenz (b) als unbekannte und unerwartet aus der Umwelt in die Gesellschaft tretende Kontingenz (a) definiert wird. Eine potenziell die gegebenen Handlungsoptionen steigernde Latenz erscheint in diesem Fall als Gefahr. Habituelle Urbanität bezeichnet das Ensemble an akkumulierten Kapitalien und Dispositionen, das in seiner Summe die Grenzen des Raumes der internen Variationskontingenz (b) in Richtung der Grenzen des Kontingenzraumes (a) ausdehnt. Diese Verschiebung bezieht sich auf den vertrauten Umgang 144
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mit dem Unvertrauten und Latenten. Die Omnipräsenz des Fremdkontakts und die dauerhafte subjektive Bewusstwerdung von Individualisierung bedingen die Komplexität der sozialen Umwelt in städtischen Räumen. Die Subsumtion dieser gegebenen mannigfaltigen Gelegenheiten unter den Oberbegriff des Risikos und die damit gleichfalls verbundene Betrachtung als Optionssteigerung des Handelns und Entscheidens ist die sie definierende Leistung der habituellen Urbanität. Urbanität geht somit in das Dispositionssystem des Akteurs ein. Ein Akteur mit einem unter Komplexitätsbedingungen erworbenen Habitus definiert auftretende Unbestimmtheit für sich eher als ein Risiko und eine Handlungs- und Entscheidungschance als ein Akteur, dem residenzielles Kapital fehlt. Dieser ist deutlich eher geneigt, Unbestimmtheiten einer von außen eintreten Kontingenz (a) zuzuordnen und sie damit als abzuwendende Gefahr zu interpretieren. Ein urbaner Habitus weitet somit die Grenzen des Handelns aus. Diese theoretische Konzeption unterstützen die empirischen Ergebnisse von Michael Aiken und Robert Alford, die eine Korrelation zwischen der Komplexitätssteigerung der sozialen Umwelt und der Übernahme von Innovationen feststellen (vgl. 1970a/ 1970b). Die vergleichsweise komplexe soziale Situation der Urbanität führt gemäß der beiden amerikanischen Soziologen zwangsläufig zu einem größeren Einbezug des Unvertrauten in das eigene Handeln. Urbanität, die in den Habitus der Akteure eingeht, lässt sich genauer bestimmen als eine Modifikation des Hysteresiseffekts. Das Dispositionssystem des Habitus erfährt durch die Anhäufung von residenziellem Kapital die entscheidende Erweiterung. Der Habitus wird auf diese Weise in die Lage versetzt, eine Form des gewohnheitsmäßigen Umgangs mit dem Unvertrauten und Neuen zu entwickeln. Empirische Studien stützen diese theoretisch abgeleitete Beziehung zwischen Dispositionssystem und Urbanität. Thomas Wilson erkennt einen Einfluss von Urbanität auf die Persönlichkeit der Großstädter. In seiner Studie zur Rücksichtnahme gegenüber Minoritäten kann er zeigen, wie mit steigender Größe des Wohnorts die Toleranz 68 in Bezug auf Minderheiten ebenfalls zunimmt. Er kommt zu dem Schluss, dass Urbanität zu einem Aushalten von Unterschieden auf engsten Raum führt (vgl. Wilson 1991: 117-121). Urbanitätseffekte auf die Toleranz gegenüber Minoritäten nehmen durch die Zeit zu und korrelieren mit der Heterogenität der sozialen Struktur einer Siedlung. Toleranz als Bewältigen dieser urbanitätsimmanenten Verschiedenheit nimmt im gleichen Maße zu, wie die Verschiedenheit
68 Toleranz definiert Wilson in seiner Arbeit als »the willingness to allow the expression of divergent ideas and to treat others according to universalistic criteria indipendent of value differences« (1991: 117). 145
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selbst (vgl. Tuch 1987: 504-505). Diese empirisch ermittelten Wechselbeziehungen zwischen der Toleranz gegenüber Minderheiten als Ausdruck des gewohnten Umgangs mit dem Unvertrauten und der Komplexität der sozialen Umwelt drücken den modifizierten Hysteresiseffekt eines unter urbanen Bedingungen erworbenen Habitus aus. Eine auf diese Weise verstandene habituelle Urbanität als die über den Habitus der Akteure vermittelte Fähigkeit zur Bewältigung des in Richtung der Grenzen des Kontingenzraumes (a) verschobenen internen Variationskontingenz (b) ist jetzt nicht mehr zwangsläufig an die Interaktionsdichte bzw. den physischen Raum der Stadt gebunden. Ein solcherart verstandenes Konzept von Urbanität erfüllt die im vorangegangenen Abschnitt aufgestellten theoretischen Anforderungen, um eine empirische Untersuchung der Urbanisierung und vorgeblich verschwundenen Unterscheidung von Stadt und Land zu fungieren. Die Urbanität ist historisch an die Stadt gebunden in Form der Figur des Fremden, der ursächlich für die bestimmte strukturelle Fremdheit in der modernen Gesellschaft ist. Erst in der sozialen Umwelt der Stadt geriet der Umgang mit dem Fremden zu einer erwartbaren Normalität. Die Stadt stellt historisch die Einrichtungen und Schwellenmechanismen zur Verfügung, die den ritualisierten Übertritt zwischen den zwei Seiten der Unterscheidung bekannt/unbekannt ermöglicht. Im Raum der Stadt ist so ein konfliktfreies Miteinander unter Fremden möglich.69 Der Begriff der habituellen Urbanität bringt demgegenüber zum Ausdruck, dass die Bewältigung dieser kontinuierlichen Situationen der Unbestimmtheit, die Übertritte und Interaktionen zwischen Fremden begleiten, nicht mehr wesentlich durch die Institutionen einer Stadt, wie Max Weber sie noch prägnant zusammenfasste (vgl. 1999: 84), gewährleistet werden, sondern dass die Bewältigung der situationsimmanenten Kontingenz Obliegenheit des Habitus ist. Habituelle Urbanität bezeichnet die Veränderung der Hysteresis des Habitus in Form einer Verringerung der »Kluft zwischen den Gelegenheiten und den Dispositionen« (Bourdieu 1987a: 111). Der erweiterte Kontingenzrahmen der Stadt erscheint einem urbanen Habitus als Chance, weiteres Handeln und Entscheiden zu verwirklichen. Mit Bourdieu ist die zugrunde liegende
69 Im Sinnzusammenhang seiner Arbeiten zur städtischen Gesellschaftsstruktur kann Claude Fischer zeigen, dass Urbanität mit einer Ablehnung von Fremden in der direkten sozialen Nachbarschaft korreliert, nicht aber mit einer Zunahme von sozialen Konflikten (vgl. Fischer 1981: 306-308). Großstädter besitzen ein Distinktionsbewusstsein gegenüber Fremden, das als Mechanismus der Abgrenzung jedoch nicht auf Gewalt oder Konflikt zugreift, sondern sich stärker auf Reserviertheit als städtischer sozialer Errungenschaft bezieht. 146
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Überlegung, dass die klassenstrukturell vermittelte Lokalisation eines Akteurs im angeeigneten physischen Raum die Grenzen des Habitus verschiebt und damit eine Modifizierung des Hysteresiseffektes bewirkt. Die Situierung an einem Ort addiert sich so zu dem Einfluss der sozialen Klasse im Zusammenhang des Habituserwerbs. Bourdieu selbst führt diesen Effekt lediglich randlich an Hand der Unterscheidung Provinz/Kapitale an (vgl. 1987c: 569-572). Als eine solcherart in den Habitus der Akteure eingegangene Urbanität ist sie demnach jenseits städtisch beobachteter Räume denkbar. Habituelle Urbanität ist nicht mehr an die Stadt als ihren notwendigen Ort gebunden. Sie ist darüber hinaus unabhängig von der Größe und Einwohnerzahl eines Ortes und bezieht sich ausschließlich auf die Dispositionssysteme ihrer Bewohner. Sie entzieht sich so der häufig geäußerten Kritik an Urbanitätstheorien, die diese zu stark auf die quantitative Größe von Orten beschränkt sehen und ihnen vorwerfen, qualitative Aspekte wie Kultur oder Politik gänzlich aus ihren Betrachtungen auszuschließen (vgl. zuletzt etwa: Grasmick/ Tittle 2001: 313). Habituelle Urbanität entgeht gleichfalls der von Thomas Wilson geäußerten Kritik einer generellen Unterschätzung des Einflusses von Urbanität auf die Persönlichkeiten der Großstädter (vgl. 1991: 122), da diese über den Habitus wiederum an zentraler Stelle Eingang in die Theorie findet. Die habituelle Urbanität verschiebt den Urbanitätsbegriff von den physischen Phänomenen der Stadt und ihren sozialen Folgen auf den Akteur. Mit diesem theoretischen Schritt ist anschließend die empirische Untersuchung von nicht-städtisch beobachteten Räumen und ihrer Urbanität möglich. Urbanität ist abgelöst von der Stadt in den Habitusformationen der Akteure anwesend. Der Habitus in seiner Eigenschaft als strukturierende Struktur, d. h. als modus operandi und somit der produktiven Aktivität des Bewusstseins, ist der Garant der Rückübersetzung der charakteristischen Kapitalstruktur eines Individuums in einheitliche Praxisformen. Praxis ist mithin das Ergebnis der strukturierenden Arbeit eines Habitus, analog zu der zur Verfügung stehenden Kapitalstruktur. Die Frage nach dem Grad der Urbanisierung der Gesellschaft zielt nach diesem erarbeiteten Verständnis von Urbanität also auf die Habitusformationen der Akteure. Die Frage, ob noch Räume in der modernen Gesellschaft bestehen, die als nicht-städtisch zu beobachten sind, ist eine Frage nach den Habitus ihrer Bewohner. Die empirische Analyse verlangt demnach nach einer Methode, die die Eigenschaften der Habitus erforscht. Residenzielles Kapital und habituelle Urbanität dienen als die Referenzmaßstäbe einer Einschätzung der Urbanisierung der Gesellschaft. Urbanität, verstanden als differenzierte Ausdehnung der unterschiedlichen Kontingenzräume (a; b), markiert historisch die Differenz 147
URBANITÄT ALS HABITUS
zwischen Stadt und Land. Ob diese Unterscheidung in der modernen Gesellschaft noch Gültigkeit aufweist, ist die Leitfrage dieser Untersuchung und mit dem in diesem Kapitel erarbeiteten Konstrukt der habituellen Urbanität zu ermitteln.
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M ETHODOLOGIE
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
Die empirische Untersuchung der habituellen Urbanität verlangt nach einer Methodik, die die dispositiven Kapitalien des residenziellen Kapitals ermittelt. Bourdieus Arbeiten zur Habitusanalyse sind für die Entwicklung dieser Methodik ein wichtiger erster Anhaltspunkt. Vor allem die von Bourdieu im Sinnzusammenhang der Habitusanalyse zur Anwendung gebrachten fotografisch-semiotischen Methoden der Bildanalyse scheinen für ein solches Vorhaben Erfolg versprechend (vgl. Bourdieu 1981b). Fotografien und Bilder stellen darüber hinaus in der Sozialgeographie keine Terra Incognita dar. Bilder sind vielmehr omnipräsent in der geographischen Wissenschaft. Die Geographie benutzt seit jeher verschiedene Arten von Visualisierungen zur Konstruktion und Kommunikation ihres Wissens. Die Bandbreite reicht dabei von Darstellungen in frühen Karten und Globen, wie sie beispielsweise in Jan Vermeers berühmten Gemälde »Der Geograph« von 1669 prägnant auf der zentralen senkrechten Achse des Kunstwerks zu sehen sind, bis hin zu satellitengestützten Fotoaufnahmen der Fernerkundung, die ein Themenspektrum von Landnutzungskonflikten bis zum globalen illegalen Menschenhandel mit Prostituierten (vgl. hierzu Biemann 2002: 75-86) abdecken. In diesem Zusammenhang weist vor allem die Neue Kulturgeographie in jüngerer Zeit verstärkt darauf hin, dass die Geographie noch längst nicht alle Möglichkeiten in ihrer Analyse des Visuellen ausschöpft. Selbst im alltäglichen Umgang des Fachs mit seinen z. T. selbstproduzierten Bildern wie Karten, Illustrationen, Charts usw. ist ein reflexives, diese Darstellungen nur selten zu erkennen. Gillian Rose 151
URBANITÄT ALS HABITUS
kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Geographie zwar eine visuelle Disziplin sei, allerdings ohne theoretisch-methodische Anstrengungen bezüglich der Implikationen, die sich aus dieser Tatsache ergeben (vgl. Rose 2003: 212). Es liegen zwar wichtige Arbeiten zum Themenkomplex des Visuellen über die Geschichte der Kartografie, der topografischen Zeichnungen und der kolonialen Fotografie vor, »but the relevance of these to thinking about academic geographies in the 20th century – let alone in the 21st century – is not, as far as I now, being explored. We just don’t know how, exactly, geography is a visual discipline« (Rose 2003: 213). Gleiches gilt für den Einsatz visueller Methoden. Die klassische geographische Methode der Kartierung liefert zwar Karten, die wie Texte oder Bilder visuelle Repräsentationen von Wirklichkeit sind, eine theoretische Hinterfragung dieser Darstellungen steht allerdings erst am Anfang. Die in der Humangeographie weiterhin am häufigsten zur Anwendung gebrachten empirischen Arbeitsweisen bestehen entweder aus einer der quantitativen Wende geschuldeten statistischen Analyse raumbezogener objektiver Massendaten oder aus verbal-sprachlichen, textuellen und partizipierenden Methoden der qualitativen Forschung. Eine empirische Methodik, die auf Bilder zurückgreift, sucht man in den einschlägigen qualitativen und quantitativen geographischen Lehrbüchern vergebens (vgl. statt vieler Hay 2000). Ein mögliches Feld empirischer Arbeitsweisen bleibt somit in der geographischen Forschung weitgehend unbeachtet. Aus dieser unbefriedigenden Situation heraus fordert Mike Crang daher, dass visuelle Methoden in der Geographie eingesetzt werden sollten, um die eigenen Visualisierungen zu dechiffrieren sowie darüber hinaus zu untersuchen, mit welchen Mechanismen Bilder und Fotografien überzeugen, anstelle ihrer einfach abzulehnen oder sie zu ignorieren (vgl. Crang 2003: 242). Vor diesem skizzierten Hintergrund des Diskussionsstandes um Visualität und visuelle Methoden in der Humangeographie erscheint es umso wichtiger, die Möglichkeiten von Bildern für eine Erweiterung des Methodenspektrums der Geographie zu nutzen. Gerade im Hinblick auf die Erforschung vielschichtiger empirischer Phänomene, wie die habituelle Urbanität ein solches darstellt, scheint ein stärker visuell ausgerichtetes Vorgehen erfolgversprechend. Die visual sociology bietet in diesem Sinnzusammenhang ein breites Methodenspektrum an und weist eine lange Tradition in der empirischen Forschung mit bildlichen Medien auf. Es erscheint umso verwunderlicher, dass die visual sociology offensichtlich keinen Bildbegriff kennt, auf dessen Grundlage sie ihr methodisch-theoretisches Gerüst aufsetzt. Methodologie bezeichnet zunächst lediglich »a general or overarching approach to understanding research 152
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
issues and ›method‹ to designate a specific research technique« (Prosser 1996: 29). Theoretische und empirische Forschungsarbeiten der visual sociology skizzieren anfangs meist die Geschichte der visuellen Forschung in der Soziologie. Anschließend beziehen sie die im Laufe ihrer Studien gewonnenen Ergebnisse nicht auf bildtheoretisch gesicherte Methodologien, sondern setzen stattdessen die allgemeinen Mittel qualitativer Inhaltsanalysen ein (vgl. statt vieler Heisley/Levy 1991). Ohne einen Bildbegriff erscheint die Auswertung komplexer visueller Daten allerdings zumindest als problematisch. Das in der visual sociology häufig genutzte Medium der Fotografie bietet sich als eine geeignete Form der Datenerhebung an, um den im anglophonen geographischen Diskurs eingebrachten Einwand der wissenschaftlichen Ignoranz gegenüber den Implikationen einer Methodologie des Visuellen entgegenzutreten und als Grundlage einer gewinnbringenden bildgestützten Methodik zu dienen. Die einzige Bedingung für den Einsatz von Fotografien in sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die die visual sociology vorgibt, ist die Berücksichtigung des Zusammenhangs der Aufnahme, da erst der gesamte Kontext entscheidet, ob eine Fotografie lediglich ein Sujet dokumentiert, journalistisch informiert oder es aber einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich macht (vgl. Becker 1995: 11-13). Die Operationalisierung von habitueller Urbanität verlangt eine Bestimmung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata in Bezug auf die Bewältigung der Kontingenz städtischen Lebens. Eine in Frage kommende Methodologie muss einen offenen Charakter aufweisen, um sämtliche Gelegenheiten als Ausdruck dieser Kontingenz zu berücksichtigen. Eine quantitative Methodik erscheint aufgrund ihres in sich geschlossenen Charakters als wenig geeignet. Innerhalb der qualitativen Forschung bietet die Forschungstradition der visual sociology das geeignete methodische Rüstzeug an, um die Dispositionen des Habitus zu untersuchen. Kennzeichen der visual sociology ist, dass sie u. a. Fotografien auf ihren wissenschaftlichen Gehalt hin befragt und darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten ihrer empirischen Inwertsetzung anbietet. Die Informationsvielfalt und -dichte der Fotografie ist eine Möglichkeit, um die Dispositionen der Habitus zu aktivieren oder zumindest anzusprechen. Es gilt im Folgenden die Methodologie der visual sociology dahingehend zu erweitern, dass sie die Untersuchung der habituellen Bewältigung von Kontingenz, in Abgrenzung zur Bearbeitung dieser Kontingenz im Habitus des wissenschaftlichen Beobachters, ermöglicht. Das bestehende Risiko der selbstreferenziellen Habitusanalyse, die die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata des wissenschaftlichen Beobachters auf die Probanden projiziert, verlangt nach einer Theorie, die die Wahrnehmungen der Akteure von den Wahrnehmungen des 153
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Wissenschaftlers trennt. Die fotografiebasierten Methoden der visual sociology leisten diese Trennung im Moment noch nicht. Das folgende Kapitel erweitert daher die aus der visual sociology stammende Methode der reflexiven Fotografie bildtheoretisch dahingehend, dass sie zwischen Wahrnehmung und Interpretation der Akteure und Wahrnehmung und Interpretation des wissenschaftlichen Beobachters zu trennen vermag. Auf Grundlage dieser epistemologischen Trennung ist anschließend eine Interpretation der habitusspezifischen Bewältigung städtischer Kontingenz möglich. Das Risiko der Selbstreferenz ist auf diese Weise minimiert, wenn auch nicht ausgeschlossen. Pierre Bourdieus eigene fotografiegestützte Arbeiten zur Habitusanalyse werden in dem Punkt kritisiert, dass ihre Rechtfertigung auf einer semiotischen Bildtheorie die skizzierte Trennung der Habitus von Forscher und Erforschtem nicht gewährleistet. Dieser Abschnitt erarbeitet zunächst aufbauend auf den bildtheoretischen Arbeiten von Edmund Husserl ein Fotografieverständnis, das sämtliche Teile eines Bildes klar voneinander unterscheidet und dabei nicht wie die Semiotik auf Regeln zurückgreift. Diese bildbegriffliche Unterscheidung dient anschließend zur theoretischen Erweiterung der reflexiven Fotografie. Mithilfe der reflexiven Fotografie ist aufgrund der ihr eigenen, durch die fotografische Motivwahl der Akteure erzeugten Selektivität, wiederum eine Analyse der Habitus möglich. Der Rückgriff auf eine Bildtheorie fügt sich darüber hinaus in die eingangs skizzierte aktuelle Diskussion um Repräsentation, Bildlichkeit und Methodologie im angelsächsischen geographischen Diskurs ein. Anschließend erfolgt eine Auswahl der Untersuchungsorte. Leitthese der Wahl ist der »Arkadiengedanke«, der landschaftlich reizvolle ländliche Räume einem starken Urbanisierungsdruck unterworfen sieht. Die Idealisierung des Lebens in gesunder Umgebung mit hohem Aufforderungscharakter führt diesen Überlegungen zufolge zu einer Urbanisierung ländlichster Räume. Anhand von Kennwerten erfolgt anschließend die Bestimmung der für eine Untersuchung habitueller Urbanität geeignet erscheinender Gemeinden.
Bild/Semiotik/Fotografie Was ist ein Bild? Und wie lassen sich dessen Eigenschaften für empirische Forschung nutzen? Arbeiten zur Methodologie in der visual sociology lassen diese Fragen außer Acht und verweisen stattdessen auf das Verhältnis von bildlichen Darstellungen und sprachlichen Äußerungen als die bisher unzureichend gelöste Kernfrage visueller Forschung. Die 154
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visuelle Soziologie bietet selbst keinen Bildbegriff und damit verbunden ein Antwort auf die Frage, was ein Bild sei, an (vgl. Prosser 1996: 29). Alltagssprachlichen Verwendungen des Wortes »Bild« liegen zwei getrennt zu betrachtende Bedeutungen zugrunde. Zunächst bezieht sich ein allgemeines Verständnis von Bild meist auf ein Artefakt, das anschließend als Bild benannt wird. Bild ist der gesamte sichtbare Gegenstand, das Material wie die Darstellung und das Dargestellte. Eine zweite alltagssprachliche Bedeutung des Bildbegriffs führt zu einem Terminus, der Bild als eine Vorstellung des menschlichen Bewusstseins begreift. Der Phänomenologe Edmund Husserl bezeichnet dieses immaterielle, im Bereich der Phantasie angesiedelte Bild als »geistiges Bild« (Husserl 1980: 43). Diese Verwendung von Bild kommt in Begriffen wie sprachliches Bild, Raumbild usw. zum Ausdruck. Das Bild steht hier für etwas, das ohne das Bild selbst nicht ohne weiteres zu erkennen wäre und erst durch die Konstruktion des Bildes transzendiert wird. Diese doppelsinnige Verwendung des Bildbegriffs in der Alltagssprache verweist auf eine grundlegende Unterscheidung in der Bildtheorie: Bilder führen ein zweifaches Dasein. Sie sind zum einen reine Wahrnehmungen oder Vorstellungen der Menschen, die sie erst »in die Welt setzen«. Diese Form von Bild lässt sich als »mentales Bild« bezeichnen (vgl. Reitz 2003: 170). Es hat keine physische Wirklichkeit. Bilder bestehen darüber hinaus als Artefakte in äußeren Trägermedien. Diese Form des Bildes bezeichnet Reitz als »physisches Bild« (vgl. Reitz 2003: 170). Die Eigenschaften der physischen Bilder sind es, die sich für die empirische Sozialforschung nutzen lassen. In der Humangeographie kommt mit der kognitiven Karte bereits seit Anfang der 1970er Jahre eine in der Unterscheidung von physischen und mentalen Bild wurzelnde empirische Forschungsmethode vor. Die Mental Map ist eine aus dem Gedächtnis gezeichnete Karte eines bestimmten Ausschnitts der Erdoberfläche. Sie kann sowohl die Abstraktion von einer vorgestellten Karte als auch die Abstraktion der direkten Realität sein (vgl. Tuan 1975: 209). Der Psychologe Edward Tolman entwickelte die Idee der mentalen oder kognitiven Karte Ende der 1940er Jahre als Antwort auf seine experimentell gewonnene Erkenntnis, dass Ratten ähnlich wie Menschen nicht nur auf punktuelle und sukzessive Reize des Außen reagieren, sondern ebenso auf die empfangenen Eindrücke ganzer Umwelten antworten (vgl. Tolman 1948). Eine sich im ambivalenten Zwischenraum von Behaviorismus und Psychologie bewegende Humangeographie der 1970er Jahre versuchte diese Technik für ihre Arbeiten zum wahrgenommenen Raum in Wert zu setzen. Diese Experimente visuellen Forschens wurden jedoch bald darauf aufgegeben, da es in der Humangeographie versäumt wurde, einen stimmigen 155
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Bildbegriff zu entwickeln, der eine erfolgreiche Auswertung der Zeichnungen ermöglicht hätte. Ferner erfasste das Fach Ergebnisse der Psychologie, die eindeutige Hinweise auf andere Formen der räumlichen Orientierung jenseits der mentalen Karten nahe legen, wie dies beispielhaft die These der highway hypnosis von Griffith Williams zeigt. Die highway hypnosis bezeichnet eine durch die Monotonie der modernen Fernstraßen erzeugte Form der Trance, durch die Autofahrer unbewusst ihrem Körper die Kontrolle über das Fahren übertragen, ohne dass sie später angeben könnten, welchen Weg sie genommen haben (vgl. Williams 1963: 144-146). Die Autofahrer »finden« offensichtlich ihr Ziel, ohne auf eine kognitive Karte zurück zu greifen. Ergebnisse empirischer Arbeiten in der Humangeographie zeigen darüber hinaus, dass die Fähigkeit des Zeichnens ganz entscheidend von der jeweiligen sozialen Klasse und dem damit einhergehenden Bildungshintergrund abhängt und die Mental Maps insofern deutlich verzerrt sind (vgl. Pocock 1976). Diese Erkenntnisse und Kritiken führten in ihrer Summe zu einem Aufgeben der kognitiven Karte als eine Methode. Die Ausarbeitung eines Bildbegriffes, der es in der Folge ermöglicht, Bilder analytisch in der empirischen Forschung zu verwenden, erscheint dennoch als ein möglicher Weg des Einbezugs visueller Elemente und damit einer weiteren Datenebene jenseits des Textes. Mit Edmund Husserl lässt sich ein physisches Bild in den Bildträger, das Bildsujet und das Bildobjekt gliedern. Husserls phänomenologischer Bildbegriff bildet eine Terminologie, die das darstellende Material, das abgebildete reale Objekt und die physische Darstellung auf dem Material unterscheidet. Das darstellende Material bezeichnet er als Bildträger. Dies kann Papier, Holz oder eine Leinwand sein. Der Bildträger verfügt in jedem Fall über eine Grenze, die das Bild von seiner Umgebung trennt und so erst die Einheit des Bildes erfahrbar werden lässt (vgl. Simmel 1995: 102). Das abgebildete reale Objekt, das im Bild zur Darstellung kommt, bezeichnet Husserl als Bildsujet. Das Bildsujet sind demnach die real existierenden Objekte, die bildlich dargestellt sind. Das Bildobjekt schließlich ist die im Bild sichtbare Darstellung des Bildsujets. Das Bildobjekt zeichnet sich in erster Linie durch seine Sichtbarkeit aus. Es ist das für den Menschen sichtbare Objekt der Wahrnehmung. Die Trennung von Bildträger, Bildsujet und Bildobjekt ist bildtheoretisch notwendig, da die »Ähnlichkeit zwischen zwei Gegenständen, und sei sie auch noch so groß, (…) den einen noch nicht zum Bilde des anderen« (Husserl 1984: 436) werden lässt. Die phänomenologische Bildtheorie kennt folglich drei Bedeutungen des Bildbegriffs. Der Bildträger als physisches Bild bildet die erste einfache Bedeutung. Die Unterscheidung von Bildträger und Bildobjekt, 156
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
die untrennbar voneinander sind, bildet die zweite Bedeutung des phänomenologischen Bildbegriffs. Die Unterscheidung fußt auf der Tatsache, dass Bildobjekt und Bildträger niemals ohne das jeweilig andere bestehen, sie aber dennoch terminologisch wie phänomenologisch leicht zu unterscheiden sind. Die dritte Bedeutung von Bild schließlich ist die Einheit von beiden, die sich z. B. in dem Satz: »Das Bild an der Wand steht auf dem Kopf« ausdrückt. Das Objekt an der Wand kann nur ein Bildträger sein, auf dem Kopf stehen kann wiederum nur das Bildobjekt (vgl. Wiesing 2005: 44-46). Diese drei Bedeutungen von Bild beziehen sich darauf, dass ein Betrachten von Bildern eine Vermittlung zwischen einer Imagination und der Wahrnehmung des betrachtenden Bewusstseins ist. Das Betrachten eines Bildes ist eine Syntheseleistung. Es verlangt »eine besondere Leistung des Tätigseins« (Gadamer 1977: 10) vom betrachtenden Bewusstsein. Das Bildobjekt steht zwischen dem Objekt der Wahrnehmung und der Imagination des Bewusstseins und lässt sich beiden Sphären zuordnen. Lambert Wiesing weist darauf hin, dass sich im Zusammenhang mit technischen Innovationen heute vier Formen von Bildobjekten unterscheiden lassen, die zu Lebzeiten Husserls so noch nicht bestanden. Wiesing differenziert zwischen dem starren Bildobjekt beispielsweise des Tafelbildes, dem bewegten, aber determinierten Bildobjekt des Films, dem frei manipulierbaren Bildobjekt der Animation und dem interaktiven Bildobjekt in der Simulation (vgl. Wiesing 2005: 122). Für die Problemstellung einer Inwertsetzung von Bildern in der empirischen Sozialforschung sind theoretisch alle vier Formen des Bildobjekts bedeutungsvoll, für die hier vorbereitete methodologische Grundlegung der Methode der reflexiven Fotografie ist hingegen ausschließlich das starre Bildobjekt des Gemäldes oder der Fotografie von Belang. Mit dieser dargelegten, von Edmund Husserl eingeführten Unterscheidung von Bildträger, Bildsujet und Bildobjekt lässt sich im Weiteren eine notwendige Abgrenzung zur semiotischen Bildtheorie vornehmen, deren Bildbegriff für den Einsatz in empirischer Forschung in mehrfacher Hinsicht problematisch ist. Die Semiotik bildet in gewisser Weise den »Mainstream« der Arbeiten mit Bildern in der Neuen Kulturgeographie. Aus diesem Grund soll sie an dieser Stelle kurz diskutiert werden, bevor ein phänomenologischer Bildbegriff entwickelt wird, der anschließend als Grundlage der Untersuchung dienen kann. In der Semiotik ist das husserlsche Bildobjekt in den Rang eines Zeichens erhoben. Die Semiotik als Lehre von den Zeichen zielt zum einen auf die Beziehungen zwischen (mindestens) zwei Menschen, Geistern, Organismen usw., die mittels Zeichen miteinander kommunizieren. Sie zielt darüber hinaus auf die vermittelten Absichten, Intentionalitäten, Weltanschauungen usw. (vgl. Wells 1967: 103). Ein Zeichen wird semi157
URBANITÄT ALS HABITUS
otisch zu einem Zeichen, wenn es als solches von einem Bewusstsein gedeutet wird. Seine Bedeutung erschließt sich nicht allein aus der Beschaffenheit des Zeichens selbst. Ein Zeichen will also als Zeichen »gelesen« werden (vgl. Trabant 1997: 638). Der Begriff des Zeichens ist dabei von dem Begriff des Symbols zu unterscheiden. Das Symbol bildet den Inhalt des materiellen Zeichens zumindest in Teilen ab. Der klassische europäische Symbolbegriff verdeutlicht dies, da er auf die tessa hospitalis, die griechische Erinnerungsscherbe zurückgeht. Der Begriff des Symbols ist ursprünglich ein technisches Wort der griechischen Sprache (vgl. Gadamer 1977: 41). Das Zeichen charakterisiert dagegen die fehlende Ähnlichkeit des Signifikanten mit dem Bezeichneten. Zeichen sind in diesem Sinne arbiträr (vgl. Trabant 1997: 646), d. h. die Beziehung zwischen dem Bezeichnendem und dem Bezeichneten ist konventionell festgelegt. In der semiotischen Bildtheorie steht die Zeichenhaftigkeit physischer Bilder aufgrund ihrer referenziellen Dimension, d. h. ihres darstellenden Charakters, außer jedem Zweifel. Für die Semiotik sind daher alle physischen Bilder zugleich Zeichen. Die Semiotik lässt als Ausnahme dieser Festlegung lediglich diejenigen Bilder zu, die keine referenzielle Dimension aufweisen. Nur die nicht-physischen mentalen Bilder können im Sinnzusammenhang der Semiotik keine Zeichen sein (vgl. Nöth/Santaella 2000: 356). Als Begründer der Semiotik des Bildes darf Roland Barthes gelten, der in seinem Aufsatz »Rhétorique de l´image« eine visuelle Semiotik auf Basis der saussureschen Zeichentheorie entwirft. Die grundlegende Idee seiner »Rhetorik des Bildes« ist die Abhängigkeit der Bedeutung des Bildes von seinem Begleittext. Die strukturalistische Semiotik des Bildes barthesscher Provenienz denkt Darstellungen ausschließlich in binären Oppositionen wie beispielsweise figurativ/abstrakt, zeichenhaft/ nichtzeichenhaft oder arbiträr/ikonisch. Die Übermittlung der bildimmanenten Bedeutungen geschieht vor allem in den Begleittexten der Bilder (vgl. Barthes 1964). Es kann als das Verdienst von Charles Sanders Peirce gelten, diese einengende Theorieposition des Struktur-alismus antizipatorisch überwunden zu haben. Peirce setzt dem binären Denken des Strukturalismus und der einhergehenden Abhängigkeit von Texten ein dreiteiliges Kategoriensystem entgegen. Er ist so in der Lage, das Denken in sich gegenseitig ausschließenden Strukturen durch Beschreibungskategorien zu ersetzen, die Aspekte der Phänomene selbst sind und folglich in unterschiedlichen Ausprägungen gleichzeitig präsent sein können. Gegenständliche Bilder sind in der peirceschen Semiotik Zeichen, die in der Lage sind, ein »Erstes«, d. h. den Zeichenträger oder Repräsentamen, mit einem »Zweiten«, das im Zeichen dargestellte Objekt, in einem »Dritten«, dem interpretierenden Bewusstsein, zu synthetisie158
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
ren (vgl. Nöth/Santaella 2000: 357-358). Beide bedeutenden Formen der Semiotik des Bildes, die struktur-alistische Bildsemiotik von Barthes und die Semiotik peircescher Provenienz, verweisen demnach auf die Syntheseleistung des inter-pretierenden Bewusstseins. Die strukturalistische Semiotik ist darüber hinaus abhängig von begleitenden Texten. Genau an diesem Punkt unterscheiden sich die phänomenologische Bildtheorie von Edmund Husserl und die semiotische Bildtheorie von Charles Peirce und Roland Barthes. Die phänomenologische Bildtheorie nach Edmund Husserl besteht darauf, dass Bilder gesehen werden. Sie bietet mit der Unterscheidung von Bildträger, Bildsujet und Bildobjekt ein Instrumentarium an, das den Aspekt des Sehens prägnant hervorhebt. Der Bildrezipient ist für die Phänomenologie ein Zuschauer. Konträr beruht die semiotische Bildtheorie darauf, dass ein Bewusstsein die Bilder interpretiert. Die semiotische Theorie sieht Bilder nicht, sondern liest sie. Die Unterscheidung der beiden Ansätze ruht auf der Tatsache, dass im Falle des Lesens eine Regel befolgt wird, im Fall des Sehens aber ein sinnliches Gegenwartsbewusstsein besteht (vgl. Wiesing 2005: 34). Diese Unterscheidung markiert die Problematik der semiotischen Bildtheorie für eine jede methodologische Umsetzung in empirische Forschung. Regeln entziehen sich ihrer Wahrnehmbarkeit. Sie sind nur in besonderen Ausnahmefällen visuell erfahrbar, z. B. als schriftlich fixierte Regeln. Die Semiotik versteht das Zeichen und folglich das Bild als ein Werkzeug, das der Wiedergabe und Weitergabe von Sinn dient. Das Zeichen fußt auf einer vorgegebenen Ordnung, die nur ein Wiedererkennen durch ein interpretierendes Bewusstsein erlaubt, keinesfalls aber ein Erkennen von Neuem. Dies kennzeichnet Bernhard Waldenfels als Hypothek des Zeichenmodells in Bezug auf das Sehen (vgl. 1995b: 243). Husserl folgert aus dieser Einschränkung des Zeichens gegenüber dem Bild, dass eine bildliche Darstellung keine Form von symbolisiertem oder semiotisch vermitteltem Sinn ist, sondern eine Form von artifizieller Präsenz, d. h. das Bildobjekt ist Träger des »Sujet-Bewusstseins« (Husserl 1980: 45). Bildsujet und Bildobjekt sind phänomenologisch direkt aufeinander zu beziehen. Das Bildobjekt ist demzufolge kein Zeichen des Bildsujets, sondern seine artifizielle Präsenz auf dem Bildträger. Ein Bild ist phänomenologisch ein Medium, das ein Bildsujet als sichtbaren Gegenstand sui generis herstellt (vgl. Husserl 1984: 436-437). Medien stellen eine unbegrenzte Reihe von Unterschieden oder Abstufungen einer bestimmten Art bereit, wie sie unterschiedliche Helligkeiten in Bezug auf das Medium des Lichts oder unterschiedliche Geldmengen in Bezug auf das Medium des Geldes darstellen (vgl. Seel 1998: 244). Die Phänomenologie fordert vom Medium zusätzlich, dass es selbst in Erfüllung seiner Funk159
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tion des Bereitstellens von Unterschieden unthematisch bleibt, wie der Bildträger in Bezug auf das Bildobjekt. Die artifizielle Präsenz einer physikfreien Wirklichkeit auf einem Bildträger ist die »unersetzbare Leistung des Bildes« (Wiesing 2005: 7). Der direkt sichtbare Bezug von Bildsujet und Bildobjekt ermöglicht eine größtmögliche Objektivierung des Forschers im Forschungsprozess. Der Wissenschaftler kann seine eigene Interpretationsleistung in der Zusammenführung von Bildsujet und Bildobjekt weitestgehend, wenn auch nicht vollständig, zurückstellen. Diese bildtheoretisch vermittelte Objektivierung des wissenschaftlichen Beobachters lässt sich methodologisch in Wert setzen und in sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden einbeziehen. Eine der technisch einfachsten Formen der Herstellung von Bildern bietet die Fotografie. Sie ist ein technisch einfaches Verfahren des Festhaltens sichtbarer Informationen, die einige Kulturkritiker nach ihrer Erfindung zur Totengräberin der Malerei und Kunst überhaupt erklärten (vgl. statt vieler: Baudelaire 2002: 111). Andere hingegen sahen in ihr eine fortschrittliche Methode der Visualisierung und schon zu Beginn mehr als nur reine Illustration. Walter Benjamin prophezeite: »Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein« (1963: 64). Folgt man der amerikanischen Publizistin Susan Sontag, hat Walter Benjamin Recht behalten. Für sie besteht keine Grenze, die die Aufnahme eines Amateurs von der eines Profis scheidet. Fotografie ist eine leicht zu erlernende Kulturtechnik und infolgedessen in der westlichen Gesellschaft weit verbreitet 70 (vgl. Sontag 2004: 128). Diese Alltäglichkeit der Lichtbildaufnahme macht sie für die sozialwissenschaftliche Methodik interessant. Die Fotografie ist ein Spezialfall eines Bildes. Ihre hervorstechende Eigenschaft ist die Reduktion der vier grundlegenden Dimensionen der Wirklichkeit - Höhe, Breite, Tiefe und Zeit - auf zwei Dimensionen, die auf dem Fotopapier zur Darstellung kommen (vgl. Fuhs 2003: 269). Die Fotografie reduziert somit die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit auf zwei im Bildobjekt sichtbare Dimensionen. Aus diesem Grund bezeichnet Lambert Wiesing den Fotoapparat als eine »Sichtbarkeitsisoliermaschine« (2005: 162), da er die Sichtbarkeit von der anwesenden physikalischen Substanz einer Sache ablöst. Die Fotografie stellt somit sichtbare Abbilder gegebener Objekte her. Sie lässt sich definieren als »das tech70 So geben auf die Frage »Können Sie fotografieren?« in der für die Bundesrepublik Deutschland repräsentativen Allgemeinen Bevölkerungsbefragung (ALLBUS) im Jahr 1986 insgesamt 90,5% der Befragten an, fotografieren zu können (72,44%) oder zumindest einigermaßen fotografieren zu können (18,03%). Diese Frage wurde 1986 zum bisher letzten Mal in den Fragekatalog des ALLBUS aufgenommen (Stand: März 2006). 160
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
nische Herstellen von Abbildern einer Sache durch optische Transformation und Konservierung von Lichtspuren. In diesem engen Sinne von Fotografie ist diese in erster Linie durch ihren auf Ähnlichkeit basierenden Objektbezug bestimmt: Fotografie stellt berechenbar Abbilder von sichtbaren Gegenständen her« (Wiesing 2005: 83-84). Die Fotografie entstammt dem Wunsch, die Bilder der camera obscura dauerhaft zu fixieren. Die camera obscura, von arabischen Astronomen seit dem 11. Jahrhundert verwendet, um Sonnenfinsternisse zu beobachten (vgl. Damisch 2002: 137), ist ein Gerät, das Bilder bzw. einen Ausschnitt der Wirklichkeit auf Papier projiziert, sodass der Künstler es mit einem Stift nachzeichnen kann. Sie hält es aber nicht auf dem Papier fest (vgl. Benjamin 1963: 47). Dies gelang zunächst Louis Jacques M. Daguerre, dessen als »Daguerreotypie« bekannt gewordenes Verfahren jodierte Silberplatten in der camera obscura belichtete und so ein »zartgraues Bild« (Benjamin 1963: 49) darauf entstehen ließ. Das Verfahren wurde erstmals 1839 der Öffentlichkeit vorgestellt und staatlich gefördert. Die ersten Bilder waren Unikate und so kostbar, dass sie nicht selten zusammen mit Schmuck aufbewahrt wurden. Den Beginn der modernen Fotografie markiert hingegen das Positiv-NegativVerfahren von William H. Fox-Talbott, der es im Jahre 1841 unter dem Namen »Kalotypie« patentieren ließ. Der Begriff »Kalotypie« stammt von dem griechischen Wort kalos, das schön bedeutet. Susan Sontag sieht in dieser Namensgebung bereits den Hinweis verborgen, dass Menschen dazu neigen, nur Dinge zu fotografieren, die sie als ästhetisch ansprechend empfinden (vgl. 2004: 84). Die Methode von Fox-Talbott erlaubt zum ersten Mal von einem Original, dem Negativ, unbegrenzt viele Abzüge als Positiv herzustellen und durch diese technische Reproduzierbarkeit des Bildes Fotografien in unbegrenzter Zahl zur Verfügung zu stellen. Die Eigenschaft des Festhaltens eines Augenblicks in einer sichtbaren Darstellung und ihre unbegrenzte Vervielfältigungsmöglichkeit verleitet Siegfried Kracauer zu der These, dass die Fotografie eine Darstellung der Zeit sei. In der Fotografie erschaffe die Zeit sich selbst ihre Bilder. Für ihn ist es kein Zufall, dass die moderne Geschichtsschreibung sich zeitgleich mit der modernen fotografischen Technik durchsetzte. Der Historizismus entwirft ein Zeitkontinuum, die Fotografie ein Raumkontinuum, das alle sichtbaren Objekte eines begrenzten Raumausschnitts erfasst (vgl. Kracauer 1963: 23-24). Die Fotografie unterscheidet sich von allen anderen Medien durch ihre Aufzeichnungsgeschwindigkeit. Im Akt der Aufnahme kann die Fotokamera Objekte festhalten, selbst wenn der Moment für das menschliche Auge nicht mehr wahrzunehmen ist. Darüber hinaus bürgt das mechanische Moment der Aufnahme für die Eigenschaft der Fotografie, 161
URBANITÄT ALS HABITUS
»ein getreuer Spiegel der Wirklichkeit« (Feininger 1965: 28) zu sein. Das Objektiv hält einen Ausschnitt der Wirklichkeit in einem einzigen Moment fest. Diese beiden Eigenschaften von Aufzeichnungsgeschwindigkeit und Genauigkeit der Aufnahme macht die Fotografie generell für einen Einsatz in der empirischen Sozialforschung interessant. Neben diesem technischen Gesichtspunkt der Fotografie tritt des Weiteren der Aspekt der einer jeden fotografischen Aufnahme immanenten Auswahl hinzu. In der Fototheorie sieht man als allgemein gültig an, dass jedes fotografische Bild die Wirklichkeit selektiert, jedes Bild durch das Nadelöhr des auswählenden Bewusstseins hindurch geht, jedes Bild kontextabhängig ist und dass diese Kontexte im Gehirn gespeichert werden (vgl. Günter 2001: 46). Diese Basisannahmen finden ihren Ausdruck in dem Axiom der Fotografie als »Prinzip des vorher gewußten Bildes« (Wiegand 1981: 8). Dieser Grundgedanke bringt zum Ausdruck, dass jeder Fotograf, ob Kunstfotograf oder Reporter, ob Amateurfotograf oder Röntgenfacharzt bereits in der Wirklichkeit ein Bild sucht. Er realisiert dieses Bild anschließend mit den physikalischen und chemischen Hilfsmitteln der Fotografie. Ein fotografisches Bild steht somit in direktem Bezug zu einer apparatfreien mentalen Bildproduktion (vgl. Reitz 2003: 170), die erst erfolgt und später im chemisch-physikalischen Prozess der Fotografie ihren Niederschlag findet. Fotografien lassen sich somit zum einen aufgrund ihrer technischen Vorzüge wissenschaftlich instrumentalisieren, sie eignen sich darüber hinaus selbst aufgrund ihres Objektbezugs als Forschungsobjekte in der Sozialwissenschaft. Das Betrachten von Bildern bzw. Fotografien erzeugt ein Bewusstsein beim Betrachter, das wiederum zwischen der Wahrnehmung des Bildobjekts und der Imagination, d. h. der symbolischen Ebene, vermittelt. Fotografische Bilder verdanken ihre Eigenschaften der Tatsache, dass Akteure sich nicht unentwegt über die ganze Bedeutung ihres Verhaltens unmittelbar bewusst sind, ihr Verhalten jedoch stets mehr Sinn umfasst als sie wissen oder wissen wollen (vgl. Bourdieu 1987a: 127; auch 1981a: 12). Im besonderen Fall der Fotografie, d. h. der chemisch-physikalisch realisierten mentalen Bildproduktion, steht das Bildobjekt als Vermittler zwischen dem Bildsujet und der Imagination. Die Kamera dokumentiert die visuell wahrgenommenen Informationen eines Menschen und ist in der Lage, sie ohne nennenswerte verzerrende Begleiterscheinungen zu reproduzieren, wie sie z. B. von Interviewtechniken hervorgerufen werden (vgl. Smith/Ziller 1977: 173). Die Fotografie ist aufgrund dieser direkten Dokumentation bereits eine teilweise Objektivierung des subjektiven Blicks, die durch das Objektiv der Fotokamera vollzogen wird. Die Fotografie hat der Fotograf bereits im Voraus »gesehen« oder zumindest in Ausschnitten ausgewählt. Das Objektiv ist dabei die Membran, die 162
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
den subjektiven Blickwinkel des Akteurs durch den Akt der Aufnahme vorangehend operationalisiert, d. h., bildtheoretisch formuliert, durch die Herstellung des Bildobjekts. In der Fotografie fallen das Bildobjekt und ein mentales Bild oder der Ausschnitt aus einem mentalen Bild zusammen und erhalten eine sichtbare Form. Die Fotografie bietet eine hohe Dichte vielschichtiger Informationen und ist zugleich ihre Operationalisierung.
Die Reflexive Fotografie Der Zweig der Sozialwissenschaften, der für sich reklamiert, die fotografischen Methoden zu vertreten, ist die visual sociology. Visuelle Soziologie bezeichnet allgemein die Benutzung von Fotografien, Film und Video, um eine Gesellschaft und ihre visuellen Artefakte zu studieren. Sie ist eine Kollektion von Ansätzen, mit deren Hilfe Forscher Fotografien einsetzen, um soziale Phänomene zu erkennen, zu beschreiben, zu portraitieren und zu analysieren (vgl. Harper 1988: 54-55). Soziologie und Fotografie sind etwa zur gleichen Zeit entstanden. Beide Formen der Beobachtung des Sozialen interessieren sich für Gemeinschaften und Gesellschaften sowie ihre Probleme von Armut, Ungleichheit oder Exklusion. Und beide Formen waren kurz nach ihrer Entstehung - im Fall der Soziologie kann das Werk Auguste Comtes als Geburtsstunde gelten, im Fall der Fotografie die Erfindung der Daguerrotypie - eng miteinander verzahnt, wie zahllose fotografisch illustrierte Artikel in den ersten 15 Jahren des Erscheinens des American Journal of Sociology belegen. In dem Moment, wo die Soziologie zur reinen Wissenschaft jenseits der Politik geriet, die Fotografie hingegen einen künstlerischen, persönlichen, aber dennoch politischen Weg einschlug, trennten sich diese beiden Formen der sozialen Erkundung der Wirklichkeit (vgl. Becker 1974: 6). Die fotografiebezogene visuelle Soziologie lehnt sich wieder an die Wurzeln des Faches an, indem sie Fotografien signifikant in den Mittelpunkt ihrer Methodologie rückt. Sie teilt sich in zwei voneinander verschiedene Konzepte. Die semiotisch ausgerichtete Form der visuellen Soziologie studiert vorhandene Fotografien aus Magazinen, Werbung, Zeitungen oder Fotoalben, um das zugrundeliegende Zeichensystem der sichtbaren Bilder und ihrer Auswahlentscheidungen und Absichten zu erklären. Der konventionelle visuelle Ansatz nutzt Fotografien zur Datenerhebung. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten besteht darin, dass die konventionelle Spielart Fotografien selbst herstellt, die semiotisch ausgerichtete auf bereits bestehende Fotografien zurückgreift 163
URBANITÄT ALS HABITUS
(vgl. Harper 1988: 55). Vor allem die kombinierten Fotografie-Interviewverfahren des konventionellen Ansatzes der visuellen Soziologie eignen sich besonders als Datenerhebungsverfahren in geographischen Forschungsarbeiten. Dieser konventionell visuell-soziologische Ansatz unterscheidet im Wesentlichen vier verschiedene Fotografie-Interviewverfahren: die Photoelizitation, die Photo Novella oder das PhotovoiceVerfahren, das Autodriving-Verfahren und die reflexive Fotografie. Die Photoelizitation ist vom Prinzip her eine narrative Interviewtechnik, bei der den Probanden eigens vom wissenschaftlichen Beobachter angefertigte Fotografien als Stimuli in einem Gespräch vorgelegt werden. Das Interview bezieht sich jedoch nicht zwangsläufig zur Gänze auf die verwendeten Fotografien. Die Photoelizitation ermöglicht so die Erhebung von Informationen, die von der mikroskalierten normativen Bearbeitung sozialen Handelns bis zur makroskalierten Ebene kultureller Definitionen reichen und nahezu die gesamte Bandbreite sozialwissenschaftlicher Themenstellungen abdecken (vgl. Harper 2000: 726727). Die Photoelizitation stellt das Interview, leitfadengestützt oder narrativ, deutlich in den Mittelpunkt ihrer Methodologie. Die Fotografien dienen vorwiegend der Auflockerung und Stimulierung der Interviewsituation. Ihre Bildobjekte sind nicht wesentlicher Gegenstand der Analyse (vgl. Curry 1986: 208-214). In der Ethnographie kennt man darüber hinaus ein weiteres Modell der Photoelizitation, in der Polaroidaufnahmen von den Probanden angefertigt werden, die als eine Gabe in der Interviewsituation dienen. Die Donation löst die Asymmetrie der Wechselbeziehung des Interviews auf und steigert so zumindest theoretisch die Antwortmotivation des Gesprächspartners (vgl. Da Silva/Pink 2004: 161). Dahingegen zielt die aus einem feministisch-marxistischen Theoriezusammenhang stammende Photo Novella auf eine Visualisierung von Marginalität mithilfe der fotografischen Betrachtung der jeweiligen Situationen. Die Methode der Photo Novella nutzt die fotografische Dokumentation des täglichen Lebens von marginalisierten Menschen als ein Werkzeug, um ihre Bedürfnisse zu ermitteln, einen Dialog zu initiieren, Handeln zu fördern und politische Entscheidungsträger zu informieren (vgl. Burris/Wang 1994: 171-172). Die Photo Novella ist daher eher ein Instrument der sozialpolitischen Intervention denn der wissenschaftlich-objektiven Dokumentation und Erhebung. Sie zielt auf die Kommunikation ihrer Ergebnisse weit über den wissenschaftlichen Kontext hinaus. Das sich in jüngster Zeit durchsetzende Synonym »Photovoice« unterstreicht diesen Anspruch der Photo Novella namentlich (vgl. Bell et al. 2004: 912).
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EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
Beim Autodriving-Verfahren werden dagegen zunächst Probanden in einer bestimmten Situation fotografiert, über die sie in einem anschließenden qualitativen Interview Auskunft geben. Die Methode ist daher nur auf besondere Themen z. B. in der psychiatrischen Forschung oder Konsumforschung anwendbar, aus deren Erfordernissen heraus sie entwickelt wurde (vgl. Heisley/Levy 1991; auch Arsenian/Cornelison 1960). Das Autodriving-Verfahren zielt auf die Dokumentation direkt sichtbaren Verhaltens und verwendet die Fotografie als ein Instrument zur Sensibilisierung der Probanden. Das Autodriving-Verfahren weist demnach einen starken experimentellen Charakter auf.71 Die reflexive oder synonym hermeneutische Fotografie schließlich rückt den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Methodik, da sie die Probanden zunächst unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter fotografieren lässt und diese erst anschließend reflexiv über die gewählten Motive befragt. Sie garantiert den Probanden so eine maximale Freiheit in Bezug auf die gewählten Sujets (vgl. Douglas 1998: 418). Die reflexive Fotografie erhebt folglich zwei verschiedene Datenformen. Zum einen hält sie die visuell wahrgenommenen Informationen des Akteurs in Form von bildlichen Daten als Bildobjekt auf der Fotografie fest, zum anderen zeichnet sie ihre textuell-sprachliche Deutung im anschließenden Interview auf. Von den bekannten kombinierten Fotografie / Interviewverfahren der visuellen Soziologie stellt die reflexive Fotografie die dichteste Datenerhebungsmethode dar. Die folgende Tabelle fasst die Merkmale der dargelegten kombinierten Fotografie/Interviewverfahren der visuellen Soziologie zusammen.
71 In der Geographie werden in jüngster Zeit Stimmen laut, die eine Abkehr von reinen reaktiven Forschungsmethoden und eine Hinwendung zu aktiven experimentellen Designs fordern, um die gesellschaftliche Bedeutung der erzielten Ergebnisse zu steigern (vgl. Cummins 2003: 220). Das Autodriving-Verfahren ist m. E. eine geeignete Methode, dieser nicht unberechtigten Forderung nachzukommen. 165
URBANITÄT ALS HABITUS
Tabelle 1: »Kombinierte Fotografie/Interviewverfahren in der visuellen Soziologie« Photoelizitation
Photo Novella (Photovoice)
Autodriving
Reflexive Fotografie
Wer fotografiert?
Forscher
Proband/en
Forscher
Proband
Untersuchungseinheiten/Konzepte
Subjekte, denen zur Stimulation in der Interviewsituation Fotografien vorgelegt werden
Subjekte oder Gruppen, die selbst über einen längeren Zeitraum ihre Lebenswelt fotografieren
Subjekte, die fotografiert werden und anschließend über sich in der Situation auf den Fotografien Auskunft geben
Subjekte, die selbst fotografieren und anschließend reflexiv über ihre Bilder Auskunft geben
Ursprung
Ethnologie/ Soziologie
Ethnologie/ Pflegewissenschaft
Psychologie/ Konsumforschung
Psychologie/ Ethnologie
Forschungsdesign
Querschnitt
Querschnitt/ Längsschnitt
Querschnitt/ Längsschnitt
Querschnitt
Implizite Bildtheorie
Semiotik
Phänomenologie
Semiotik
Phänomenologie
Vertreter/innen
u. a. Collier 1967; Bunster 1978; Harper 1986
u. a. Ewald 1985; Burris/Wang 1994; Berman et al. 2001
u. a. Arsenian/Cornelison 1960; Nielsen 1962; Heisley/Levy 1991
u. a. Adair/Worth 1972; Ziller 1990; Hagedorn 1994
Quelle: Dirksmeier (2007a: 7) Auffällig ist, dass keine der dargestellten kombinierten Fotografie/Interviewverfahren auf eine explizite Bildtheorie rekurriert. Die visuelle Soziologie zeigt offensichtlich eine bemerkenswerte Verweigerungshaltung, die von ihr verwendeten Bilder vertieft theoretisch zu hinterfragen. Sie weist darüber hinaus keinen gesonderten Bildbegriff auf. Vielmehr gehen alle visuell-soziologischen Ansätze heimlich von einer direkten Verbindung von Bildsujet und Bildobjekt in der Fotografie aus. Sie lassen jeweils nur unterschwellig erkennen, auf welche Bildtheorie sie sich in ihrer Methodologie stützen. Eine um die skizzierte Bildphänomenologie von Edmund Husserl erweiterte reflexive Fotografie scheint geeignet, das Spektrum an qualitativen Methoden in der Geographie um eine neuartige Arbeitsweise zu erweitern (vgl. Dirksmeier 2007a). Des Weiteren hilft eine solche bildphilosophisch abgesicherte Methode, die von Mike Crang berechtigterweise gestellte Frage, inwie166
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
weit verbale und visuelle Daten überhaupt miteinander kombinierbar sind und folglich in welchem Bezug sie zueinander stehen (vgl. 2005: 230), befriedigend zu beantworten. Edmund Husserls Diktum der artifiziellen Präsenz des Bildsujets im Bildobjekt sichert das Verständnis über den sichtbaren Gegenstand in der Fotografie und in den textuellen Ausführungen zwischen dem Probanden und dem wissenschaftlichen Beobachter theoretisch ab. Der Bezug zwischen Bild und Text wird über die artifizielle Präsenz methodologisch hergestellt und nachvollziehbar gestaltet. Edmund Husserls terminologische Unterscheidung des darstellenden Materials, des zur Darstellung gebrachten realen Objekts und der Darstellung auf dem darstellenden Stoff ermöglicht die kontrollierte Einbeziehung der Interpretationsleistung des wissenschaftlichen Beobachters, ohne sie absolut zu setzen, da Bildsujet und Bildobjekt direkt in einem über die reine Sichtbarkeit vermittelten Zusammenhang stehen. Bildträger und Bildobjekt können niemals ohne das jeweils andere vorkommen, sind aber dennoch auch getrennt terminologisch eindeutig bestimmt. Bildobjekt und Bildsujet stehen in einem direkt sichtbaren, keine weiteren interpretativen Zwischenschritte erfordernden Bezug zueinander. Das Bildobjekt ist die artifizielle Präsenz des Bildsujets auf dem Bildträger. Für die Methodologie der reflexiven Fotografie bedeutet dies, dass der wissenschaftliche Beobachter dank dieser theoretischen Festlegung in die Lage versetzt wird, hinter die Interpretationen des Probanden zurückzutreten, aber dennoch Bildobjekt und Bildsujet in einer direkten Verbindung sehen kann. Rein semiotisch gedacht wäre dies unmöglich, da in der semiotischen Bildtheorie alle physischen Bilder Zeichen sind (vgl. Nöth/Santaella 2000: 356), der basale Begriff des Zeichens aufgrund der u. U. fehlenden Ähnlichkeit zwischen Signifikant und Bedeutung jedoch bereits ohne die Interpretationsleistung eines intelligenten Bewusstseins undenkbar ist (vgl. Peirce 1986: 375). Die Fotografie als »Spiegel der Wirklichkeit« (Feininger 1965: 28) fixiert einen Ausschnitt der Realität in einem einzigen Moment, d. h. sie dokumentiert und reproduziert wahrgenommene Informationen und Eindrücke des fotografierenden Menschen. Die entwickelte Fotografie, d. h. die Symbiose aus Bildträger und Bildobjekt, ist anschließend rückwirkend durch einen jeden Beobachter wieder auf das Bildsujet zu beziehen. Die ausschnitthafte Objektivierung des subjektiven Blicks, bzw. der subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit eines Menschen und ihre gleichzeitige Operationalisierung aufgrund der Herstellung des Bildobjekts, sind mithilfe der skizzierten Methode der reflexiven Fotografie für empirische Sozialforschung in Wert zu setzen.
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Die reflexive Fotografie nutzt den mit fotografischen Akten verbundenen bewertenden und klassifizierenden Bezug der Menschen zu ihrer Umwelt aus. Bei der Durchführung der Forschungsmethode werden die Probanden gebeten, mit einer Einwegkamera bestimmte Fotografien zu abgesprochenen Themenkomplexen aufzunehmen. Diese Vorgaben sollten weit und offen sein, um einen Entscheidungsspielraum zu belassen, der motivierend wirken kann. Denkbare Kategorien sind z. B. »mein Lebensstil«, »Fremdheit«, »gutes Leben«, »Sympathie« oder »Identität«. Die Teilnehmer erhalten anschließend postalisch die entwickelten Fotografien zurück. Das folgende Interview bezieht sich auf die von den Probanden aufgenommenen Bildobjekte. Die Fotoaufnahmen erlauben so bei den Probanden ein tieferes, reflexiveres Denken über die abgesprochenen Themenfelder und generieren auf diese Weise Informationen, die ohne die vorgeschaltete Fotografiephase im Verborgenen verblieben wären. Der Impuls der Fotokamera inspiriert ein bildliches Nachdenken über die vorgeschlagenen Themengebiete und ein Reflektieren über ihre Visualisierung, das schon in dieser Phase viele Informationen und Gedanken erweckt. Die Methode der reflexiven Fotografie vollzieht einen Perspektivwechsel. Der Proband ist der unbezweifelte Experte über seine Aufnahmen. Er fotografiert nach einführenden Absprachen eigenständig ohne eine Beeinflussung durch den wissenschaftlichen Beobachter. Der Wissenschaftler ist der Laie. Er erscheint nur zu einer Vorbesprechung und anschließend wieder zum Interview. Auf Grund dieser Offenheit lässt die reflexive Fotografie ein großes Maß an Kontingenz zu, anstatt mit Hilfe von kontrollierten Methoden eine schon vorausgesetzte Ordnung »neu« und »erfolgreich« zu entdecken. Sie ist insofern zum Teil in der Lage, die Schwächen der konventionellen quantitativen und qualitativen Methodik zu vermeiden. Die allgemeine Problematik der quantitativen Sozialforschung liegt in der Präzision ihrer statistischen Verfahren, die die Genauigkeit der naturwissenschaftlichen Methoden nur simuliert aufgrund der Unkontrollierbarkeit ihrer Sujets und darüber hinaus den wissenschaftlichen Beobachter von der beobachteten Realität ablöst und der Austauschbarkeit preisgibt. Im Gegensatz zur positivistischen quantitativen Methodik neigt die qualitative Sozialforschung mitunter dazu, die Persönlichkeit, das Wissen und Können mithin den Habitus des Forschenden zu stark in das Zentrum ihrer Methodologie zu rücken, um auf diese Weise Kontingenz auszuschließen und Kontrollierbarkeit der Ergebnisse zu erreichen (vgl. Nassehi/Saake 2002: 67). Eine bildtheoretisch gesicherte reflexive Fotografie weist aus dieser Situation einen gangbaren Mittelweg, da sie zum einen die Interpretationsleistung der Teilnehmer sowie ihre Auswahlentscheidungen unabhängig vom wis168
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senschaftlichen Beobachter betont, zum anderen gleichzeitig den Forscher über die Auswertung der qualitativen Interviews in den Interpretationsprozess zurückholt.
Das Problem der Habitusanalyse Die empirischen Habitusanalysen in der Literatur zeigen eine Vielzahl an verwendeten Methoden. Dagegen existiert keine gesonderte Arbeitsweise, die den praktischen Sinn in idealerweise für eine wissenschaftliche Untersuchung zugänglich machen würde. Pierre Bourdieu selbst entwickelt als grundlegendes Prinzip seiner Methodik die Leitidee der Einbeziehung der sozialen Bedingungen, die zur Entstehung des ursprünglichen Forschungsproblems geführt haben, in den eigentlichen Forschungsprozess. Das Verfahren verlangt einen kontinuierlichen Rückbezug gewonnener Ergebnisse auf bereits erhobene empirische Daten, um nicht den sozialen Kontext der Entstehung dieser Ergebnisse aus der Untersuchung auszublenden (vgl. Müller 2002: 162). Bourdieu entwickelt keine reine habitusanalytische Methode (zur Kritik der bourdieuschen Methoden siehe: Dirksmeier 2007b). Er vollzieht vielmehr in seiner Methodologie eine Hinwendung von einer stark positivistisch geprägten Position, die in seiner Studie zum kulturellen Konsum in der französischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt (vgl. Bourdieu 1987c), hin zu einer qualitativen Methodik, die sich erst durch die Kodifizierung in praxi nach und nach ausdifferenziert 72 (vgl. Bourdieu 1997c: 780). Die klassenstrukturelle Analyse der Habitusformationen in »Die feinen Unterschiede« basiert auf der Berechnung statistischer Regelmäßigkeiten aus eigens zu diesem Zweck erhobenen Datensätzen. Bourdieu dechiffriert auf diese Weise nicht die habitusspezifische Verbindung von Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschemata und ihrer korrespondierenden sozialen Lage, sondern erfasst objektive Strukturen sowie klassenimmanente statistische Verteilungen von Indikatoren und Items. Er schließt rückwirkend auf die in diesen Datenmatrizen zum Ausdruck gebrachte synthetische Leistung eines Habitus, oder Klassenhabitus. Diese Methode lässt sich nur auf der Grundlage theorie72 Bourdieus Kritik an der strukturalistischen Methode von Claude LéviStrauss gründet sich auf dessen spärliches empirisches Material. LéviStrauss war nur einmal in Mato Grosso empirisch tätig und vertrat fortan die Ansicht, von mentalen Strukturen auf soziale Strukturen schließen zu können, ohne weitere empirische Daten erheben zu müssen. Bourdieu sieht in diesem unberechtigten Schritt eine Eskamotierung der Akteure, die jene »zu Epiphänomenen der Struktur erklärt« (1992a: 28). 169
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geleiteter und feststehender Hypothesen ausarbeiten. Bourdieus methodisches Vorgehen beruht folglich darauf, dass »der Ausgangspunkt (...) [den] Endpunkt der Untersuchung bildet« (Bourdieu 1987c: 784). Nach seinem epistemologischen Bruch mit dieser positivistischen Methodik, die lediglich aus dem Wunsch hervorgegangen sei, »die äußeren Merkmale der Strenge von denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen zu imitieren, die die größte Anerkennung genießen« (Bourdieu 1997c: 779), orientiert er sich zwangsläufig nicht mehr an dem quantitativen Vorbild der Repräsentativität, sondern zielt auf die Datengewinnung »[at] the first-corner« (Hamel 1998: 9). Bourdieu gelangt zu der Einsicht, dass in der qualitativen Forschung ein Nachdenken über die Art und Weise ihrer Erkenntnis notwendig ist, da sie gleichfalls wie quantitative reaktive Verfahren in der Gefahr schwebt, ihren Gegenstand kraft ihrer Einmischung zu verfälschen. Die qualitative Sozialforschung zielt auf Praktiken, die u. U. das Ergebnis von praktischen Ansichten der Menschen sind und folglich im Forschungsprozess einer ungewollten Veränderung preisgegeben sein könnten (vgl. Bourdieu 1993c: 344). Die von Bourdieu verwendete qualitative Methodologie zielt mithin auf die Demokratisierung des Interaktionsprozesses im Forschungszusammenhang. Das Subjekt der wissenschaftlichen Objektivierung erscheint nicht weiter als ein »soziales Neutrum«. Das heißt, der einem jeden Interview innewohnende Zwang der gesellschaftlichen Strukturen, der aus den unterschiedlichen Positionen der beteiligten Akteure im sozialen Raum folgt, wird in die Forschungsagenda einbezogen. Das Interview folgt dem Bonmot der »gewaltfreie(n) Kommunikation« (Bourdieu 1997c: 781). Das Ziel ist ein größtmögliches Zurückweisen des »Eindringen(s) und Sicheinmischen« (Bourdieu 1997c: 781) in die Lebensbereiche der Probanden. Jedem Interview ist eine Form der Zensur immanent, die zum einen aus der ungewohnten Situation einer direkten Interaktion mit einem Fremden73 selbst resultiert, die darüber hinaus zusätzlich protokolliert wird, die zum anderen ihren Grund in den unterschiedlichen sozialen Positionen der beteiligten Akteure hat. Diese besondere Einschränkung zu erken73 Die Interaktion zwischen Fremden unterscheidet sich von der Interaktion zwischen Bekannten dadurch, dass die Möglichkeit der Erwiderung einer Gabe bzw. einer Schuld stark eingeschränkt ist. Die Unausgewogenheit der Austauschbeziehung wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausgeglichen. Unausgeglichenheiten in den Reziprozitätsbeziehungen zwischen Bekannten fallen dagegen kaum ins Gewicht, solange der Austausch aufrechterhalten bleibt (vgl. Shapiro 1980: 262). Die persönlichen Kosten des Probanden können diesem in einer Interviewsituation folglich als zu hoch erscheinen, was seinen Ausdruck in einer Ablehnung oder in einem verkürzten, unwahren oder ausweichenden Antwortverhalten findet. 170
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nen, zu verstehen und anschließend zu nivellieren ist das Ziel der bourdieuschen qualitativen Methodologie. Die geläufigen Methoden der qualitativen Sozialforschung werden dem französischen Soziologen zufolge diesem Anspruch nicht gerecht. Vielmehr fallen sie einem Fehler anheim, den Bourdieu als »scholastic bias« (1993b: 371) bezeichnet. Dieser Fehler benennt den Vorgang, die Denkweise des Forschenden an die Stelle der Denkweise des zu analysierenden handelnden Akteurs zu setzen. Akteure besitzen meist weder die Muße noch das Verlangen der Selbstanalyse gegenüber einem Fremden. Der »scholastic bias« ist die häufigste Folge der intervieweigenen Zensur in der konventionellen qualitativen Forschung. Zwar verkennt diese keineswegs die Tatsache, dass Akteure die soziale Welt konstruieren, jedoch bezieht sie die sozialen Bedingungen der Produktion dieser Konstruktionen sowie die Akteure, die diese Konstruktionen hervorbringen, nicht in einem ausreichendem Maße in ihre Methodologie mit ein. Dies kann nach Bourdieu nur mithilfe einer participant objectivation gelingen, d. h. einer »objectivation of the subject of objectivation (...) in short, of the researcher herself« (Bourdieu 2003: 282). Der Zugang der teilnehmenden Objektivierung ist in der Marginalisierungsstudie »Das Elend der Welt« in idealer Weise verwirklicht. Soziale Nähe und Vertrautheit zwischen den beteiligten Handelnden soll hier eine Objektivierung des Forschenden und die Gewaltfreiheit im Interaktionsprozess garantieren. Die narrativen Interviews führten eigens für die Studie gewonnene Akteure, die eine ähnliche soziale Position wie die Probanden aufwiesen. Mit dieser Vorgehensweise beseitigt Bourdieu den Zwang der objektiven gesellschaftlichen Strukturen, ohne sie gleichzeitig zu ignorieren. Das Interview ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen in der Lage, einen »natürlichen Diskurs einzufangen, der möglichst wenig vom Effekt der kulturellen Asymmetrie beeinflusst ist« (Bourdieu 1997c: 784). Hintergrund des methodischen Vorgehens ist der Effekt, der aus dem Wissen des Interviewers um die soziale Position des Befragten und der einhergehenden einfühlenden Interviewführung resultiert. Der Proband erkennt in der Interviewsituation zwischen sozial Gleichgestellten eine Möglichkeit der Artikulation seiner Interessen und öffnet sich somit in einer Art und Weise, die in einer konventionellen Wissenschaftler/Probandinteraktion nicht erfolgt. Ziel des methodologischen Kunstgriffs der »Objektivierung des Subjekts wissenschaftlicher Objektivierung« (Bourdieu 1997a: 90) ist die Ermöglichung von Verstehen, d. h. eine Aufmerksamkeit, die aus Gedanken, Interesse und Betroffenheit dem Gesprächspartner gegenüber besteht (vgl. Bourdieu 1997c: 787). Verstehen ist die retrospektive, anhand der Interviewtranskription vollzogene Konstruktion der Wahrnehmungs-, 171
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Denk- und Handlungsschemata der Probanden. Bourdieu erforscht die Dispositionen und dadurch die Habitusformationen der Subjekte mithilfe einer Methodologie, die den Wissenschaftler selbst aus der eigentlichen Datenerhebung heraushält und stattdessen auf einen »natürlichen« Interaktionsprozess zwischen Akteuren mit ähnlichen sozialen Positionen rekurriert, der erst nachträglich hermeneutisch interpretiert wird. Fundament seiner qualitativen Habitusanalyse ist somit nicht mehr die scheinbare Objektivität der statistischen Massendaten, sondern die wirkliche Objektivität der Interviewsituation zwischen Akteuren mit ähnlichen Positionen im sozialen Raum. Bourdieus qualitativ-methodologisches Programm sieht sich der Kritik ausgesetzt, dass es nicht in Form von methodischen Regeln festgeschrieben ist, sondern lediglich eine Zusammenfassung hermeneutischer Positionen repräsentiert. Bourdieu erklärt nicht die Theorie, die seiner Methodologie zugrunde liegt. Dies äußert sich z. B. in der Auswahl der Gesprächspartner, die keiner Regel zu folgen scheint. Die Informanten sind offensichtlich grundsätzlich in der Lage, Auskünfte zu jedem Thema zu erteilen und weisen darüber hinaus keine weiteren theoretisch fundierten Qualitäten auf (vgl. Hamel 1998: 12-13). Jacques Hamel zufolge zeichne Bourdieu mit diesem methodischen Paradigma lediglich die »dichte Beschreibung« von Clifford Geertz nach, obwohl Bourdieu selbst diese als Schwindel anprangert 74 (vgl. Hamel 1998: 16). Clifford Geertz erarbeitet in seinem wissenschaftlichen Œuvre eine Methodik, die »mit Methodologie nichts zu tun hat« (Geertz 1987: 10). Sie basiert stattdessen auf der ethnographischen Praxis, die eine Herstellung von Beziehungen zu den Untersuchten, die Auswahl von Informanten, die Transkription von Interviews usw. im Zentrum führt und auf diese Weise zu einer »dichten Beschreibung« (Geertz 1987: 10) der untersuchten Kultur zu gelangen versucht. Nach Bourdieus Verständnis von qualitativer Forschung basiert die sozialwissenschaftliche Erkenntnis dagegen auf dem Aufsetzen eines wissenschaftlich-objektiven Standpunktes auf den subjektiven Standpunkt eines Akteurs. Das Problem der bourdieuschen Methodologie liegt demgegenüber in der fehlenden theoretischen Erklärung dieser vorgenommenen Emergenz zwischen den subjektiven Aussagen eines Akteurs und der theoretisch abgesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis. Bourdieu zeichnet diese Emergenz nach, ist aber nicht willens oder in der Lage, sie theoretisch zu begründen. Die eingangs dargelegte Methode der reflexiven Fotografie ist geeignet, an die74 Bourdieu bezeichnet die hermeneutische Methode der »dichten Beschreibung« von Clifford Geertz als »refurbished positivism« (Bourdieu 1988: 11), der kein Verstehen der Probanden gewährleistet, sondern einfach die Kategorien des wissenschaftlichen Beobachters bestätigt. 172
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ser Stelle das »missing link« in der umrissenen Emergenz theoretisch zu füllen und die von Bourdieu angestrebte Umgestaltung von alltagssprachlichen Aussagen in wissenschaftliche Erkenntnis bezüglich der Habitusformationen der Akteure zu leisten. Die bildtheoretisch begründete reflexive Fotografie erfasst die Schwächen der bourdieuschen qualitativen Methodik und bietet gleichzeitig das theoretische und praktische Rüstzeug für ihre Überwindung. Bourdieus eigene Arbeiten zur Fotografie beruhen auf einem semiotischen Verständnis von Bild, Bildlichkeit und Fotografie. Die Fotografie ist das Ergebnis einer Auswahlentscheidung eines Bewusstseins. Sie ist für Bourdieu allerdings keine realistische und objektive Aufzeichnung der wirklichen Welt. Ihr sind lediglich soziale Gebrauchsweisen eingeschrieben, die als realistisch und objektiv gelten (vgl. Bourdieu 1981b: 85-86). Der Habitus ist die Instanz, die eine Auswahlentscheidung trifft. Fotografien sind folglich klassenstrukturell geprägt und zeigen je nach sozialer Position des Fotografen unterschiedliche Sujets. Bourdieu analysiert in seinen Studien vorwiegend Familienaufnahmen der unteren Klassen und arbeitet ihre sozialen Gebrauchsweisen als ikonische Chronik der Familiengeschichten heraus. Die Familienfotografie als Forschungsgegenstand hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie im Gegensatz zu anderen kulturellen Tätigkeiten wie Musizieren, Malen oder Zeichnen keine wesentlichen zu erlernenden Fähigkeiten voraussetzt (vgl. Bourdieu 1981a: 17). Die Amateurfotografie 75 setzte sich so bereits in den 1970er Jahren durch. In den von Bourdieu herangezogenen Fotografien dokumentiert sich nunmehr ein Weltbild als Ergebnis eines Sozialisationsprozesses. Es begründet die ästhetischen Regeln, die ein Sujet erst für fotografierwürdig erachten. Die Vermittlungsinstanz des Habitus schiebt sich zwischen die wahrgenommene äußere Umwelt und die direkt zu beobachtenden Verhaltensweisen der Akteure. Der Habitus ist als das Erzeugungsprinzip zu verstehen, das zum einen das Handeln gestaltet, welches das Sujet fotografischen Handelns darstellt. Es strukturiert zum anderen das fotografische Handeln selbst. Die Analyse von Fotografien kommt demnach einer Analyse der Habitus gleich,
75 Der Begriff des Amateurs ist mit einer positiven Semantik verbunden, die historisch betrachtet sowohl eine Nähe zu den Künsten als auch eine soziale Skepsis mit einer personalen Spezialisierung in der ständisch organisierten Gesellschaft des neuzeitlichen Deutschland bekundet. Amateur bezeichnet in der frühen Neuzeit zunächst den Kunstliebhaber, bevor der Begriff im 19. Jahrhundert die heutige generalisierende Bedeutung als nichtprofessionelle Tätigkeit annimmt (vgl. Stichweh 2005b: 70). Die Begriffe Fotografie und Amateur entstammen folglich beide aus dem Sinnzusammenhang der Kunst. 173
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die ihre Aufnahme instruierten. Bourdieu folgt in seinen fotografiebasierten habitusanalytischen Arbeiten zwangsläufig einem semiotischen Bildverständnis, da für ihn »das Sichtbare stets nur das Lesbare ist« (Bourdieu 1981b: 87). Die Fotografie als Zeichen dient ihm als ein Werkzeug zum Nachvollzug des praktischen Sinns, der die Aufnahme lenkt. Es geht Bourdieu vor allem um die Zuordnungsregeln, die Akteure unterschiedlicher sozialer Positionen anlegen, um Auswahlentscheidungen bezüglich der aufgenommenen Sujets zu treffen. Die Motive der Fotografien, phänomenologisch ausgedrückt die Bildobjekte, sind Zeichen für normative, klassenspezifische und ästhetische Kriterien. Jede Fotografie bringt demnach sowohl die Absichten ihres Fotografen als auch das System von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata zum Ausdruck, die einer Gruppe von Akteuren ähnlicher sozialer Positionen zu Eigen sind (vgl. Bourdieu 1981a: 17). Die Deutungshoheit und somit die Formulierung der Zuordnungsregeln liegt eindeutig bei dem interpretierenden wissenschaftlichen Beobachter. Bourdieus fotografiebasierte Habitusanalysen sind aufgrund ihres semiotischen Bildverständnisses zu kritisieren. Die theoretisch eindeutige Trennung zwischen den Interpretationsleistungen der Subjekte und denen des wissenschaftlichen Beobachters gelingt ihm nicht. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie zeichnen sich zwar durch eine »Lesbarkeit« dieser Bilder durch die Akteure aus, die »zwischen Bedeutendem und Bedeuteten ein Transzendenzverhältnis her[stellen], wobei der Sinn an die Form gebunden ist« (Bourdieu 1981b: 103). Die Akteure sehen folglich in der Fotografie ein Zeichen für ihre eignen Vorstellungen, Ideale, Strategien, Wünsche usw. Für Bourdieu ist aber die Lesbarkeit des Bildes respektive des Zeichens selbst eine Funktion der Lesbarkeit ihrer Absicht oder ihrer Funktion. Er unterstellt mithin, dass jedwede außenstehende Person und somit ebenfalls der wissenschaftliche Beobachter diese Intention und damit das Transzendenzverhältnis zwischen Sujet und Bedeutung aus der Fotografie, genauer dem Bildobjekt, herauslesen könnte. Diese Beziehung ist nach Bourdieu habitusspezifisch und somit klassenstrukturell geprägt (vgl. Bourdieu 1981b: 103). Es geht ihm um die Regeln, nach denen die Probanden ihre Absichten und Bedeutungen bildlichen Zeichen zuordnen. Nach diesem Verständnis des Verhältnisses von Sujet und Bild ist es im Wesentlichen dem Interpreten vorbehalten, auf Basis seines Vorwissens über die Probanden oder seiner subjektiven Intention das den fotografischen Auswahlentscheidungen zugrunde liegende Transzendenzverhältnis zu rekonstruieren und zu interpretieren. Die Habitusformationen gehen somit nur noch indirekt über die aus der objektiven Klassenlage determinierten Auswahlentscheidun-
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gen der Sujets in die Analyse ein. Ihr habitusanalytisches Potenzial wird auf diese Weise nicht ausgeschöpft. Letztlich vertauscht Bourdieu die Konsequenzen des semiotischen und des phänomenologischen Ansatzes. Letzteren verdächtigt er, dass dieser nur die eigene Perspektive in die Untersuchungsperson hineinprojiziere und zu einer auf Empathie setzenden Empirie führe (vgl. Meuser 2001: 213). Er übersieht dabei die deutliche bildtheoretische Unterscheidung des Sichtbaren, des Dargestellten und des Darstellenden in der husserlschen Bildtheorie, die eine klare Trennung der Sichtweise des Probanden und des wissenschaftlichen Beobachters garantiert und theoretisch begründet. Die Habitusanalyse mittels der reflexiven Fotografie baut auf genau dieser Trennung auf, indem zunächst die Probanden frei über ihre Sujets entscheiden können. Anschließend werden diese Bildobjekte nicht selbst nach ihren inhärenten Auswahlmotiven befragt, sondern den Probanden für ihre Interpretation vorgelegt. Die Grundlage der Eignung von Fotografien zur Habitusanalyse, die Bourdieu anführt, bleibt bei diesem Verfahren unberührt. Die Probanden selbst haben nicht das Gefühl, einem System unmissverständlicher und kodifizierter Normen in ihrem fotografischen Handeln zu folgen, das die fotografische Praxis im Hinblick auf ihre Sujets, ihre Anlässe und ihre Modalität festlegt. Bourdieu betont in seinen eigenen fotografischen Arbeiten zur Habitusanalyse, dass die Nichtbewusstwerdung dieser unterschwelligen Prinzipien eine wesentliche Grundlage einer jeden Habitusrekonstruktion ist (vgl. Bourdieu 1981a: 18). Die Habitusanalyse mittels der reflexiven Fotografie fußt hingegen auf der Grundannahme, dass jedes fotografische Bildobjekt durch den Habitus des Bildproduzenten geprägt ist. Bildsujet und das habituell vermittelte Bildobjekt sind nach Edmund Husserl direkt aufeinander zu beziehen. In der Fotografie verstärken beide Dimensionen einander in ihrer Überlagerung. Die qualitativen Interviews erheben anschließend die unbewussten Prinzipien der den Fotografien zugrunde liegenden Motivwahl, indem die Teilnehmer über ihre Auswahlentscheidungen bezüglich der Bildsujets Auskunft geben. Die reflexive Fotografie operationalisiert den Habitus über die teilweise Objektivierung des subjektiven Blicks im Bildobjekt und hält somit der Fundamentalkritik an Bourdieus Theorie vonseiten der Ethnologie stand, die dem Habitus jegliche Möglichkeit zur Operationalisierung abspricht. Beispielsweise sieht Brenda Farnell den ontologischen Status der Dispositionen als nicht geklärt an. Dieser liege irgendwo zwischen der Neurophysiologie und der Person. Bourdieu selbst operationalisiere lediglich das implizite Wissen der Akteure, nicht aber ihre Dispositionen (vgl. Farnell 2000: 402-403). Im Gegensatz zu den textuell-sprachlichen Methoden, 175
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die Farnell anführt, bezieht sich die reflexive Fotografie auf die eigenen Auswahlentscheidungen der Akteure und fügt den textuellen Bruchstücken somit eine weitere Informationsebene hinzu. Die Dispositionen der Akteure werden so über die Objektivierung des menschlichen Blicks im Bildobjekt operationalisiert. Die reflexive Fotografie ist mit diesen zwei Datenebenen anderen kombinierten qualitativen Methoden überlegen. Dies zeigt sich beispielhaft an einer neueren Studie zur Habitusanalyse von Akteuren der New Yorker Swingtanzszene. Die hier mit den eingesetzten Methoden der teilnehmenden Beobachtung in Kombination mit qualitativen biografischen Interviews erzielten Ergebnisse verbleiben trotz des beträchtlichen methodischen Aufwandes lediglich auf der Ebene von soziologischen Imaginationen und sind nur teilweise in der Lage, die Habitusformationen der sich aus der ehemaligen Punk/HardcoreSzene 76 rekrutierenden Akteure der New Yorker Swingtanzszene zu erklären (vgl. Doane 2006: 94-112). Die reflexive Fotografie ist abschließend in Anlehnung an eine Formulierung von Bourdieu als »eine Methode mit Bourdieu gegen Bourdieu« zu charakterisieren (vgl. Dirksmeier 2007b). Sie nutzt die Existenz der habitusgesteuerten Auswahlentscheidungen im Zusammenhang mit der Fotografie. Die reflexive Fotografie greift aber nicht, wie Bourdieu selbst, auf ein semiotisches Bildverständnis zurück, das die Auswertung der Bildobjekte der Interpretationsleistung des wissenschaftlichen Beobachters überlässt. Die wichtigen von Bourdieu geleisteten Arbeiten zum Verhältnis Fotografie-Habitus finden so gleichrangig Eingang in eine Methodologie wie die bildtheoretischen Überlegungen von Edmund Husserl. Der Vorteil dieses methodischen Vorgehens liegt in dessen grenzenloser Narrativität, die aber wiederum in den Grenzen des Bildobjektes eingefroren wird. Im Gegensatz zu vielen textuellen Methoden der qualitativen Forschung ist also die Entscheidung, was Gegenstand des Forschungsdialogs ist, allein auf Seiten der Probanden oder genauer: ihrer Habitus.
76 »Hardcore« ist die Bezeichnung für einen puristischer Musikstil, der zunächst in Washington, D.C. und Südkalifornien in den frühen 1980er Jahren entwickelt wurde. »Hardcore« als Jugendbewegung und Subkultur entstand aus dem Protest gegen die Assimilierung des Punk durch die Musikindustrie und dessen Vermarktung und Weiterentwicklung als »New Wave« (vgl. James 1988: 35). 176
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Die Auswahl der Untersuchungsorte In welchen Räumen kann man jetzt die habituelle Urbanität mit der reflexiven Fotografie, also qualitativ, am besten untersuchen, um Aussagen über die Urbanisierung in der Gegenwartsgesellschaft treffen zu können? Mögliche Untersuchungsräume sollten als wenig städtisch erscheinen. Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: Man untersucht Räume, die besonders ländlich in Bezug auf bestimmte Indikatoren erscheinen oder man untersucht Räume, die eine Mittelstellung einnehmen, die also sowohl urbanisiert als auch nicht-städtisch sein könnten. Entscheidet man sich für die zweite Möglichkeit der intermediären Räume, bietet sich das südliche Bayern an. Zum einen ist es bereits durch Urbanisierungsstudien in der Vergangenheit gut untersucht. Zum Beispiel hat die Arbeit von Reinhard Paesler hier bereits Urbanisierungstendenzen, allerdings in formalistischer und rein quantitativer Weise, aufgezeigt (vgl. Paesler 1976). Zum anderen gilt es aufgrund seiner landschaftlichen Gunstlage als ein verdächtiger Kandidat für eine starke Urbanisierung. Die Wahl für die zweite Möglichkeit und die Auswahl geeigneter Untersuchungsgemeinden beruht auf empirischen Ergebnissen, die aufzeigen, wie die naturräumliche Beschaffenheit Einfluss auf die Wohnortwahl von Akteuren nimmt (vgl. statt vieler Fairweather/Swaffield 1998; Curry et al. 2001; Smailes 2002; Dirksmeier 2008). Grundlegende Überlegung bei der zugrunde liegenden Auswahl ist dabei, dass in landschaftlich attraktiven, als »arkadisch« zu bezeichnenden ländlichen Räumen eher ein Kaleidoskop an sozialen Milieus und gesellschaftlichen Schichten anzutreffen ist, das die Analyse von habitueller Urbanität als lohnendes Unterfangen erscheinen lässt, als in strukturschwachen peripheren Räumen geringer Attraktivität. Der Grad der Urbanisierung des nicht-städtischen Raumes ist so für die landschaftlich attraktiven Räume auf Grundlage der vorzufindenden habituelle Urbanität einzuschätzen. Im Fall einer geringen habituellen Urbanisierung wäre davon auszugehen, dass die sozial deutlich weniger heterogenen randlichen nichtstädtischen Räume ebenfalls nicht vollständig habituell urbanisiert sind. Würde sich jedoch in den als attraktiv wahrgenommenen Untersuchungsräumen eine habituelle Urbanisierung nachweisen lassen, wären diese Räume ein nächstes lohnendes Studienziel. Ältere Arbeiten über die Urbanisierung des ländlichen Raumes greifen häufig auf eine Imagination eines von der Stadt abgegrenzten, idealen Lebens zurück. Die Stadt in der frühen Moderne galt als miasmatisch und weckte Sehnsüchte nach einem Leben fern der Enge, der Belastungen und der Krankheiten eines überbeanspruchten Raumes. Die Suche 177
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nach Gesundheit in einer Ära, in der die wahren Ursachen von Krankheiten und Seuchen noch nicht bekannt waren, fokussierte sich zunächst auf Heilquellen, deren Wasser getrunken und in denen gebadet wurde (vgl. Vance, Jr. 1972: 187). Zeitgleich ersetzte die moderne Gesellschaft frühe symbolische Betrachtungsweisen des Wassers in der Stadt als Lebensspenderin durch normative, soziale und politische Aspekte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen (vgl. Gandy 2005: 522-526). Die hygienischen Verhältnisse der modernen Großstadt änderten sich jedoch zunächst lediglich marginal. Die Belastungen durch Zuwanderung und physische sowie soziale Dichte führte immer wieder zu Epidemien, wie das Auftreten von Cholera, Gelbfieber oder anderen Infektionskrankheiten. Die Suburbanisierung als eine Migrationsbewegung aus der Stadt in das angrenzende ländliche Umland lässt sich als eine erste Antwort der Industriegesellschaft auf diese Herausforderung verstehen. Als ihre zweite Antwort vertritt der amerikanische Geograph James Vance, Jr. die kontroverse These, dass seit Ende des zweiten Weltkriegs der soziale und intellektuelle Gedanke von »Arkadien« weltweite Aufmerksamkeit gefunden hat und in seiner Folge sich die moderne Stadtentwicklung als eine Dreiheit von Kernstadt, Suburbia und Exurbia/Arkadien zeigt. Vance, Jr. lokalisiert »Exurbia« im ländlichen, dünn besiedelten Hinterland des amerikanischen Siedlungsbandes an der Ostküste. »Arcadia« sieht er hingegen in Südkalifornien im sog. »sanatorium belt« 77 verwirklicht (vgl. Vance, Jr. 1972: 185). Der Begriff »Arkadien« bezeichnet ursprünglich einen alten Topos der bukolischen Dichtung und kennt keine Verbindung zur Siedlungsentwicklung in der Antike. 78 Das Leben in Arkadien erscheint in den
77 Der südkalifornische »sanatorium belt« als Siedlungsgebiet vor allem für wohlhabende Rentiers ist der Eröffnung der ersten interkontinentalen Eisenbahnverbindung im Jahr 1869 in den USA geschuldet. Er entwickelte sich innerhalb nur einer Dekade entlang einer Linie von San Bernadino, den San Gabriel Bergen bis Pasadena und Los Angeles (vgl. Vance, Jr. 1972: 197). Die bekanntesten Orte innerhalb dieses Siedlungsbandes sind heute Palm Springs und Indian Wells. 78 Die Bukolik differenziert zwischen zwei unterschiedlichen Arkadien, einem geographischen Raum Arkadien und einem lyrischen Arkadien der Schäferinnen und Schäfer, der Liebe und der Dichtung. Das reale Arkadien bildet das Mittelgebirge der Peloponnes, wo mit der Kornelkirsche eine Baumart wuchs, dessen Holz zur Herstellung der gefürchteten Langlanzen der griechischen und makedonischen Phalanx verwendet wurde (vgl. Markle III 1977: 324). Das lyrische Arkadien der Schäfer hingegen »entdeckt« erst der römische Dichter Vergil im Jahr 42 oder 41 v. Chr. Er übernimmt die Ausführungen des aus Arkadien stammenden Historikers Polybios, der berichtete, dass die Arkader von frühster Kindheit an daran gewöhnt seien, sich im Singen zu üben und sich in musikalischen Wett178
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bukolischen Gedichten als ein Dasein fern dem Getriebe der Menschen und seinen negativen Begleiterscheinungen. Das in der Hirtendichtung vorgestellte Arkadien ist das friedliche, liebliche und politisch stabile Land. Es erscheint als eine Antithese zu der Dichte und Distanzlosigkeit des großstädtischen Lebens. Vergils »Arkadien ist nicht nur ein Zwischenland zwischen Mythos und Wirklichkeit, sondern auch ein Zwischenland zwischen den Zeiten, ein jenseitiges Diesseits, das Land der Seele, die sich nach ihrer fernen Heimat zurücksehnt« (Snell 1945: 37). Diese Imagination eines naturnahen, sozial intakten Lebens fern aller Unwägbarkeiten und Gefahren der Zivilisation ist tief in der Geistesgeschichte Europas verwurzelt und erscheint in unregelmäßigen Abständen etwa in utopischen idealen Stadtentwürfen, die beharrlich einen Entwurf von der idealen Gesellschaft implizit mitführen, wie die Gartenstadt von Ebanezer Howard dies beispielhaft verdeutlicht. Die Malerei und Literatur der europäischen Renaissance »entdeckte« die arkadische Ideale der Bukolik neu und führte sie als ein bedeutendes symbolisches Element wieder in die Literatur und Kunst ein. Aus dieser Symbolik entstammen z. B. die Formen und Strukturen der englischen »landscape«, aber auch andere physische Formen und Zusammenhänge, wie der städtische Park, die Gartenstadt oder der Suburb (vgl. Fairweather/Swaffield 1998: 113). »Arkadische« Ideale weisen, wie die Arbeit von Vance, Jr. beispielhaft aufzeigt, seit langem einen Einfluss auf die Siedlungsmuster der westlichen Gesellschaft auf. Sie lieferten das Motiv z. B. für die Anlage kolonialer Sommerfrischen wie Nuwara Eliya auf Sri Lanka oder Dalat in Vietnam und finden sich bis heute in der englischsprachigen Welt als Wahrnehmungen des Landlebens von Städtern. Diese imaginieren für sich die Vorzüge eines Lebens im ländlichen Raum als den Inbegriff von Gesundheit und Ordnung. So kommen Fairweather/Swaffield in einer empirischen Studie über die Art und Weise, wie die Vorstellung von Arkadien und seiner Ideale und Werte die Umzugsentscheidungen von Großstädtern im heutigen Neuseeland beeinflussen, zu dem Ergebnis, dass die vier Motive Privatheit und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung, die malerische Landschaft und naturnahe Umwelt, die Rekreationsmöglichkeiten in der direkten Nähe sowie die Möglichkeit, Kinder in
kämpfen zu messen. Vergil überträgt die Sangeswettkämpfe auf die arkadischen Hirten, denn Arkadien ist traditionell ein von pastoralen Wirtschaftsformen geprägtes Land und die Heimat des Hirtengottes Pan (vgl. Snell 1945: 26). Arkadien gerinnt so zu einem Vorstellungsinhalt einer idealisierten Landschaft, in der mythisches und empirisches verschwimmen. Vergil symbolisiert dies in seinen Eklogen in der Tatsache, dass sich in Arkadien Götter und Menschen treffen, eine für die griechische Dichtung unerhörte Vorstellung. 179
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einer naturnahen Umgebung aufwachsen zu lassen, entscheidenden Einfluss auf die Wohnstandortwahl nehmen. Ökonomische Motive wie Kosten oder Entfernungen zum Arbeitsort treten hinter diese »arkadischen« Motive zurück (vgl. Fairweather/Swaffield 1998: 117-120). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Curry et al. in ihrer Studie zu Bevölkerungsverschiebungen im ländlichen Raum Australiens. Sie erklären den kontinuierlichen Bevölkerungsverlust der Regenfeldbauregionen im Inneren des Kontinents und den zeitgleichen Bevölkerungsgewinn ausgewählter ländlicher Räume über deren landschaftliche Attraktivität. Einige wenige attraktive, szenische ländliche Räume, meist durch Küstenstreifen, Flussufer oder Gebirge gekennzeichnet, verzeichnen einen anhaltenden Zuzug von Bevölkerung. Die Autoren erklären diesen Prozess mit der »arkadischen« Qualität dieser Räume, die als Urlaubsregion, Zweitwohnsitz oder dauernder Wohnsitz von Großstädtern gewählt werden. 79 Sie sehen diesen Prozess eingepasst in eine globale Form der Restrukturierung des ländlichen Raums. Das Ergebnis ist eine Kommodifikation dieser Räume in Form von Bodenspekulationen (vgl. Curry et al. 2001: 109; 118-120). Ähnliche Formen der Vorstellung eines natürlichen Lebens in intakter physischer und sozialer Umwelt finden sich unter den Bewohnern des ländlichen Raumes selbst, wie Walker auf Grundlage einer empirischen Studie in Somerset/England feststellt. Die These, dass ein ländliches »Arkadien« ein urbanes Konstrukt sei, lässt sich nach Walker nicht aufrechterhalten (vgl. 2002: 131). Festzuhalten bleibt, dass »Arkadien« als eine geographische Imagination einen festen Platz in der Geistesgeschichte Europas aufweist und, wie die ausgewählten empirischen Studien zeigen, sich räumlich ausdrückt. »Arkadien« ist zum einen eine regionale Semantik und zum anderen eine Regionalisierung, d. h. ein Begriff und Bild von einer Region, über die in der modernen Gesellschaft kommuniziert wird (vgl. Hard 1994: 54). In der Terminologie von Gerhard Hard ist »Arkadien« eine Regionalisierung sowohl im Medium80 Geld, aufgrund der Kommodifikation 79 Diese in Australien verstärkt auftretende sozioökonomische Umgestaltung von ausgewählten ländlichen Räumen bezeichnet Smailes als »rural dilution« (2002). Die wichtigsten Faktoren dieser sozialen Veränderung im ländlichen Australien sind die Entfernung zur nächsten Metropole, die »arkadische« Qualität des Raumes respektive sein Resortcharakter, das Vorhandensein von Küsten und ein abwechslungsreiches Relief sowie die Bevölkerungsdichte (vgl. Smailes 2002: 92-93). 80 Gerhard Hard bezieht sich mit dem von ihm verwendeten Begriff Medium nicht auf den in diesem Buch zugrunde gelegten Medienbegriff von Martin Seel, sondern auf den Begriff des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums von Niklas Luhmann. In dessen Systemtheorie ermöglichen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Kommunikation 180
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
der Landschaft, als auch im Medium Kunst/Schönheit, aufgrund der Stilisierung von »Arkadien« als schön, lebenswert usw. Eine Region bedarf dabei nicht notwendigerweise eines physisch abgrenzbaren Territoriums, um sich zu manifestieren. »Eine Regionalisierung ist nicht die Wirklichkeit, repräsentiert nicht die ganze Wirklichkeit, bezieht sich zuweilen auf gar nichts Wirkliches und wird gemeinhin nicht aufgrund primärer Erfahrungen, sondern aufgrund von Karten (bzw. Symbolen) konstruiert, die in der sozialen Kommunikation schon zuvor - mit oder ohne Wirklichkeitsbezug - zirkulierten« (Hard 1994: 55).
Die Konstruktion des sozialen und intellektuellen Gedankens von »Arkadien« als naturnahem Lebensraum in szenischer Landschaft ist dem Wunsch nach Gesundheit und Lebensqualität geschuldet, der nach dem zweiten Weltkrieg weltweite Aufmerksamkeit erhielt (vgl. Vance, Jr. 1972: 185). »Arkadien« stellt sich als eine regionale Semantik ohne Territorium dar, die dennoch wirkungsmächtig ist. Der Arkadiengedanke besteht losgelöst von bestimmten Räumen und entwickelt eine beziehungslose Eigendynamik, in dessen Zentrum die Idealisierung von bestimmten als »arkadisch« imaginierten Regionen 81 steht, deren Lokalisierung wiederum kontingent ist. Folgt man den Ausführungen von Vance, Jr., so sind diese als »arkadischen« Landschaften bereits seit dem zweiten Weltkrieg einem verstärkten Urbanisierungsdruck unterworfen. Für die in diesem Buch aufgeworfene Frage nach dem Auftreten von Urbanität im nicht-städtischen Raum stellen sich daher »arkadische« Räume als ein lohnendes Untersuchungsziel dar. Das Beispiel der Urbanisierung des ländlichen Raums in der Provence, die aufgrund ihres »arkadischen« Charakters einem traditionell hohen Zuzugsdruck aus den
über den Kreis der Anwesenden hinaus und für noch nicht bekannte Situationen. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dienen somit der Ermöglichung bestimmter unbestimmter Kommunikation (vgl. Luhmann 1987: 205-206). 81 Beispiel für die Wirkungsmacht einer solchen Idealisierung einer (fiktiven) Region als Basis von Regionalisierungen ist die anfangs des 20. Jahrhunderts gegründete Rastafaribewegung. Grundlage dieser Revitalisierungsbewegung ist ein biblischer Symbolismus von Äthiopien bzw. Abessinien als göttlichem Land, mit dem sich die Jamaikaner afrikanischer Abstammung identifizierten. Äthiopien imaginierten die Anhänger der Rastafaris als heiliges Land und dessen letzten Kaiser Haile Selassi als letzten lebenden Gott. Grundlage der Konstituierung der Rastafari als eine homogene Gruppe ist folglich die Regionalisierung auf Basis eines biblischen Symbolismus, die erst einen kongruenten Glaubensinhalt liefert (die Repatriierung der Sklaven in das gelobte Land Äthiopien) (vgl. Simpson 1985: 286-289). 181
URBANITÄT ALS HABITUS
französischen und zum Teil außerfranzösischen Metropolitangebieten unterworfen ist (vgl. Daligaux 2001: 289), zeigt, das dieses Thema für die ländlichen Räume Europas eine hohe Bedeutung aufweist. »Arkadische« Räume in Deutschland sind Regionen, die eine hohe landschaftliche Attraktivität aufweisen. Diese natürliche Anziehungskraft wirkt sich anschließend auf die Übernachtungszahlen aus. Die »arkadische« und somit naturnahen, reizvollen Gebiete liegen häufig in Fremdenverkehrsregionen. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung misst diese »arkadische« Qualität mithilfe eines quantitativen Indikators, der eine additive Verknüpfung von sechs am Bundeswert normierter und gleichgerichteter Indikatoren darstellt. Regionen, die in der Summe von Zerschneidungsgrad, Bewaldungsgrad, Reliefenergie, Wasserflächen, Küstenlinien und Übernachtungen im Fremdenverkehr (vgl. BBR 2005: 209) über 60 Prozent über den Bundesschnitt liegen, können als »arkadisch« bezeichnet werden. »Arkadische« Räume finden sich demnach an den Nord- und Ostseeküsten, an der Mecklenburger Seenplatte, im Harz und Rothaargebirge, in der Eifel und dem Spessart sowie in Teilen des Schwarzwaldes, des Bayerischen Waldes und im südlichen Bayern. Diese Regionen kennzeichnet ein erhöhter Urbanisierungsdruck, wie internationale Studien aufzeigen (vgl. Dirksmeier 2008: 161-163). Diese Regionen eignen sich daher besonders, will man den Grad der habituellen Urbanisierung in nicht-städtischen Räumen untersuchen. Von diesen hochattraktiven Regionen weist Südbayern die stärkste sozio-ökonomische Dynamik auf. Südbayern verzeichnet Bevölkerungsgewinne sowohl aus einer bayerischen als auch aus einer deutschlandweiten Nord-Süd Wanderung. Die Arbeitslosenquote liegt für ausgewählte Kreise in der Region unter 3 Prozent (vgl. Goedecke 2001: 54). Südbayern kennzeichnet eine flexible Verwaltung, hohe Qualifikationen der Arbeitnehmer und ein kreatives Milieu (vgl. Steinberg 2003: 102). In Südbayern kulminiert eine für Deutschland beispiellose sozioökonomische Dynamik mit einem landschaftlich reizvollen Raum. Das südliche Bayern weist somit strukturelle Gemeinsamkeiten mit anderen weltweit von Zuwanderung betroffenen landschaftlich attraktiven Regionen auf. Zieht man Indikatoren aus den laufenden Raumbeobachtungen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung hinzu, die auf Urbanisierungstendenzen hinweisen wie Physiotherapeuten, Singlehaushalte, Personen je Haushalt und Ausländeranteil, zeigt sich, dass die Indikatoren in den Regionen des südlichen Bayern am stärksten von allen arkadischen Regionen typischen Ausprägungen dieser Indikatoren in Großstädten ähneln. Die ländlichen Räume des südlichen Bayern weisen sowohl einen arkadischen Charakter als auch Haushaltsgrößen, Physiothe182
EINE METHODOLOGIE DER REFLEXIVEN FOTOGRAFIE
rapeutenzahlen und Ausländeranteile 82 auf, die denen in Großstädten ähneln. Das Buch untersucht im Folgenden das Vorkommen von habitueller Urbanität in den ländlichen Räumen des südlichen Bayern, da hier eine »arkadische« Qualität des Raums und damit zu erwartende Urbanisierungstendenzen (vgl. Vance, Jr. 1972) und städtische Strukturen nebeneinander vorkommen. Zur Ermittlung der Untersuchungsgemeinden werden faktoranalytisch alle südbayerischen Gemeinden untersucht, die am Stichtag des 31. Dezember 2003 weniger als 5.000 Einwohner aufwiesen, d. h. sämtliche Gemeinden, die die amtliche deutsche Statistik seit 1887 als »Landstadt« führt. In der Einwohnerzahl von 5.000 fällt die statistische Grenze der »Landstadt« mit der theoretischen Grenze des kategorischen Kennens zusammen. Kategorisches Kennen bezeichnet einen Minimalstandard an Wissen über einen Fremden. »By categoric knowing, I refer to knowledge of another based on information about his roles or statuses, to use the standard sociological jargon. That is, one knows who the other is only in the sense that one knows can be placed into some category or categories« (Lofland 1973: 15). Lyn Lofland gibt als Grenze des kategorischen Kennens eines Individuums ein Maximum von ca. 5.000 Personen an. Bei einer Siedlungsgröße bis zu 5.000 Einwohnern ist es folglich theoretisch denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich, dass alle Einwohner sich kategorisch kennen. Bei einem Personenkreis von über 5.000 Individuen sind diese nicht mehr in der Lage, sich alle kategorisch zu kennen (vgl. Lofland 1973: 10). Gemeinden dieser Größe sind bereits Zusammensiedlungen von Fremden und daher theoretisch Städte. Aus diesem Grund erscheinen Gemeinden mit 5.000 Einwohnern als Obergrenze der Siedlungsgröße sinnvoll. Sortiert man die südbayrischen Gemeinden anhand ihrer städtischen und »arkadischen« Charakteristiken und liegen die ersten vierzehn Gemeinden der Rangliste ausnahmslos im suburbanen Raum von München, der eine ausgesprochene sozioökonomische Dynamik aufweist, die sich beispielsweise in einem Übersteigen der Arbeitsplatzzahlen über die Einwohnerzahlen in diesen Gemeinden ausdrückt (vgl. Goedecke 2001: 56). Die Gemeinden Bodolz im Landkreis Lindau/Bodensee und Te-
82 Bereits vor hundert Jahren legte Friedrich Ratzel eine solche Urbanisierung des südlichen Bayern nahe: »Eine solche Verwandlung der Hochgebirgstäler in Parke voll geputzter Städter, unter denen hilflose Greise und Kinder am stärksten vertreten sind, wie sie etwa im Berchtesgadener Land jährlich weiter schreitet, wäre doch schon im Mühlbachtal der siebenbürgischen Karpathen undenkbar, in dessen oberen Teilen die walachischen Hirten noch heute mit der Flinte ihre Herden gegen Bären und Wölfe schützen« (Ratzel 1906: 129). 183
URBANITÄT ALS HABITUS
gernsee im Landkreis Miesbach sind die höchstplatzierten nicht im Münchener, Ingolstädter oder Salzburger suburbanen Umland gelegenen und zugleich »städtisch-arkadische« Ortschaft. Aus diesem Grund bieten sich die beiden Gemeinden stellvertretend für Südbayern an, die habituelle Urbanisierung in nicht-städtischen Räumen und damit den Grad der Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft zu untersuchen. Die Ergebnisse in den zwei Gemeinden werden mit Interviews aus München verglichen, die als ein Referenzmaßstab für habituelle Urbanität dienen. München darf aufgrund ihrer Lebensqualität, ihres postindustriellen Charakters und ihrer hohen Wohn- und Freizeitqualität als prototypische urbane Großstadt gelten (vgl. Helbrecht 2001a: 214). 83 Als Auswahltechnik wird das aus der Anthropologie stammenden »Extremgruppen-Samples« angewendet, um die Typik des untersuchten Gegenstandes zu bestimmen und dadurch die Generalisierbarkeit auf andere, ähnliche Forschungsprobleme zu gewährleisten. Die grundlegende Idee ist bei dieser Auswahlmethode, eine Kultur in ihren extremsten Ausprägungen zu studieren, um so zu gültigen Ergebnissen zu gelangen (vgl. Kleining 1982: 236). In der qualitativen Forschung wird diese Samplingmethode auch als Methode »maximaler Variation« (Flick 2002: 111) bezeichnet. Ihr Kennzeichen ist die Aufnahme weniger, aber möglichst unterschiedlicher Fälle ins Forschungssample zur Erweiterung der Variationsbreite und Unterschiedlichkeit. Die insgesamt ca. 20 Fotoaufnahmen pro Proband wurden mit einer Einwegkamera hergestellt, die an die Teilnehmer versand wurde. Anschließend erfolgte ein Interview über die aufgenommen Fotografien zu den Themen »Stadt«, »Identität«, »Fremdheit«, »Ungewöhnlich« und »Änderungswunsch«. Insgesamt wurden elf fotografische Interviews durchgeführt, was vor dem Hintergrund des großen Zeitaufwandes für die Probanden eine befriedigende Zahl darstellt. Drei Interviews entfallen auf Bodolzer, vier auf Tegernseer Bürgerinnen und Bürger, denen vier Interviews mit Münchnerinnen und Münchnern gegenübergestellt werden. Fünf Probanden sind weiblich, sechs männlichen Geschlechts.
83 Im Gegensatz zu der Einschätzung von Ilse Helbrecht, die München vergleichbar mit Vancouver oder Genf als prototypische Vertreterin einer postindustriellen Urbanität sieht, die wiederum selbst Anziehungskraft auf vor allem jüngere Menschen entwickelt und ausübt (vgl. 2001a: 214), erkennt Edgar Salin in München keine echte Urbanität. Diese existiere in München nur in Schwabing, das »eine Oase in München [sei], aber keine Stadt der Münchner« (Salin 1970: 873). 184
E MPIRIE
DIE URBANISIERUNG
IM SÜDLICHEN
BAYERN
Die Auswertung der Studie folgt vier Topoi, die deutlich in den Antworten der Teilnehmer zu erkennen sind. In sämtlichen Entgegnungen der Gesprächspartner tauchen diese Motive unabhängig voneinander in einer jeweils ähnlichen Form auf. Sie orientieren sich im Wesentlichen an den vorgegeben Kategorien, zu denen die Probanden fotografische Aufnahmen angefertigt haben. Die Zitate aus den Transkripten sind im Wesentlichen in ihrer Originalform, d. h. meist in einer dialektischen Umgangssprache, belassen, da die Fähigkeit des Wechsels von Dialekt zur Hochsprache und umgekehrt in der Interviewsituation einen Teil des sprachlichen Kapitals der Probanden darstellt und somit für die inhaltliche Auswertung bedeutsam ist (vgl. Bourdieu 1997c: 781-782). Der anschließende Abschnitt diskutiert zunächst die eigentlichen Assoziationen der Probanden mit der Stadt und bietet so einen ersten Zugang zu habituellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern im Sinnzusammenhang mit Urbanität. Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in den Wahrnehmungen städtischen Lebens weisen auf ungleiche Bemessungen von alltäglichen Komponenten städtischen Lebens. Urbanität kennzeichnet eine Verschiebung der habituellen Variationskontingenz (b) in Richtung der gesamten Kontingenz (a). Der darauffolgende Teil analysiert die Lagen der Kontingenzräume aus den Antworten der Gesprächspartner. Die habituelle Urbanisierung des »arkadischen« nicht-städtischen Raums erklärt sich im Folgenden anhand der unterschiedlichen Verteilungen und Akkumulationsstrategien von residenziellem Kapital und abschließend mittels der Verteilung von habitueller Urbanität in den verschiedenen Akteursgruppen.
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URBANITÄT ALS HABITUS
Assoziationen von Stadt Der erlebte alltägliche Kontakt mit der Vielschichtigkeit der Stadt korrespondiert in den spontanen Assoziationen mit deutlich unterschiedlichen Bewertungen und Betonungen von Elementen städtischen Lebens. Städter nehmen potenzielle Belastungen und Einschränkungen viel weniger als solche war wie Personen, die im ländlichen Raum leben. Verdeutlichen lässt sich dieser Sachverhalt mit dem Symbol des Fensters. Die bauliche Dichte der Stadt ermöglicht es ihren Bewohnern, ohne eine eigene teilnehmende Einbindung Ereignisse durch Beobachtungen beizuwohnen. Das Fenster erlaubt einen Blick auf das Diesseits, der mit dem Betrachten eines Bildes zu vergleichen ist. Die bestehende Welt bietet sich dem Betrachter bei einem Blick durch ein Fenster dar, und das Fenster bürgt gleichzeitig für das Bewusstsein der realen Anwesenheit des Betrachteten (vgl. Wiesing 2005: 100). Das Fenster ist somit die Schnittstelle, an der sich die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten treffen. In der Stadt erlaubt der Blick aus dem Fenster zugleich den Blick in das Private des Nachbarn oder Gegenübers, ohne dass es dazu einer Bekanntschaft bedarf. Das Private ist somit in der Stadt immer ein Stück weit öffentlich. Genau diese Verschränkung von privat und öffentlich symbolisiert prototypisch das Fenster. »Das ist Foto eins. Das verbinde ich mit der Stadt. Das ist genau mein Blick hier raus (lacht). Dazu muss man sagen, ich bin auffem Land groß geworden, also innen äh Süden von München und des is für mich wirklich. Also wenn ich außem Fenster gucke und lauter Fenster gucke und lauter andere, äh Wohnungen und Menschen rumlaufen, dass is für mich das Stadtgefühl überhaupt« (M-I 4).
Das Fenster in seiner Eigenschaft als lediglich für den Blick bestimmte Öffnung nach außen (vgl. Bollnow 1963: 159) steht hier als Symbol für das Städtische schlechthin. Das Fenster symbolisiert die Möglichkeit der Beobachtung von Ereignissen, ohne selbst beobachtet zu werden. Das andauernde Beobachten von Fremden und das unentwegte Beobachtetwerden durch Fremde ist Teil des alltäglichen Lebens in der Stadt und gleichsam eine spontane Gedankenverknüpfung mit Stadt. Die Enge, die es ermöglicht, dem Nachbarn »auf den Frühstückstisch zu gucken« (M-I 4), ist Teil der städtischen Lebenswelt und die damit verbundene Verkleinerung des Privaten gilt nicht als Einschränkung der Lebensqualität, sondern als ein natürlicher Begleitumstand des städtischen Lebens. »Das liegt an den an den Fenstern, an den vielen Fenstern. Den vielen Fenstern. Die ja dann wieder symbolisieren, da leben Menschen, da sind Wohnun188
DIE URBANISIERUNG IM SÜDLICHEN BAYERN
gen, da ist einfach ne Fülle na ne viele Menschen. Was du aufm Land einfach nicht hast (…). Die vielen nahen Fenster sind schon für mich ein Symbol für Stadt« (M-I 4).
Das Fenster als Symbol für Stadt zielt auf das Nebeneinander vieler Menschen, die hohe Dichte der Stadt und ihre Beobachtungsmöglichkeit. Der Bedeutungsinhalt des Fensters lässt sich in zwei verschiedene Kategorien unterteilen. Es steht zum einen für die Existenz anderer Menschen und nachfolgend vieler Kontakte sowie den sich ergebenden Belastung, der aus dem wechselseitigen Zusammenhang von Reizdichte und Reaktionsvermögen folgt. Die unablässige Konfrontation mit äußeren akustischen, visuellen und olfaktorischen Reizen führt zu stärkerer Ermüdung und zu einer Belastung des Organismus mit Stress, was sich z. B. in geringerer Hilfsbereitschaft Fremden gegenüber ausdrückt (vgl. Korte 1978: 95-96). Die zweite Bedeutung des Fensters zielt auf ein Ermöglichen der Beobachtung ohne Teilhabe und seinen Charakter als Membran von Öffentlichkeit und Privatheit. Erst das Fenster macht öffentlich, was sonst privat ist. »Da leben Menschen die sicher die ich nicht kenne, die ich für die so sicher eine Privatsphäre haben, aber durch die Fenster werden sie natürlich ...wird öffentlich (lacht) und ich kann mit reingucken zum Teil. Das ist Stadt, das ist für mich Stadt« (M-I 4). Die Überbetonung des Fensters als Symbol für Stadt tritt durch die mehrfache Wiederholung dieses Themas im Interview (M-I 4) deutlich hervor. Das Symbol ist in seiner Wirksamkeit auf die Wiederholung angewiesen. Das Symbolische konstituiert sich insofern erst in seiner Wiederholung (vgl. Winkler 2004: 27). Die Stadt ist für die Städter demzufolge stark verbunden mit der Möglichkeit der Beobachtung von Menschen und Ereignissen, ohne dabei selbst beobachtet zu werden. Der städtische Alltag vollzieht sich in einem Klima der Indifferenz und Anonymität. Die Großstädter begegnen sich gegenseitig als bestimmte Fremde. Die Alltäglichkeit der Fremdheit ist für die städtischen Probanden eine starke Gedankenverknüpfung mit der Großstadt. Die gegenseitige Unbekanntheit, die schon im eigenen Wohnhaus beginnt, wird als prototypisch für die eigene Lebenssituation in der Großstadt wahrgenommen. Die Nachbarin oder der Nachbar ist noch kategorisch bekannt, 84 d. h. man weiß, dass es sich um die Nachbarin oder den 84 Dem kategorischen Kennen ist begrifflich das persönliche Kennen gegenübergestellt: »By personel knowing, I refer to knowledge of another based on information not only about his roles and statuses, his categories, but on information, however slight, about his biography as well. To know another personally is always to apprehend him as a unique historical event« (Lofland 1973: 16). 189
URBANITÄT ALS HABITUS
Nachbarn handelt, allerdings sind schon der Beruf oder weitere Lebensgewohnheiten meist unbekannt. Die Nachbarn sind sich gegenseitig fremd. Diese alternierende Fremdheit unter Bedingungen räumlicher Nähe ist assoziativ stark an die Stadt gekoppelt, wie das folgende Zitat verdeutlicht. »Was des is? Das sind die Briefkästen in meinem Haus. Und das hab ich unter Fremdheit glaub ich aufgeschrieben, weil mir aufgefallen ist, weil ich wir uns alle nicht kennen. Weil das finde ich typisch großstädtisch auch« (M-I 5). Die gegenseitige Unbekanntheit mit den Hausnachbarn erscheint als ein gewöhnlicher Topos des Lebens in der Großstadt. Erst die »erzwungene« Assoziation im Zusammenhang mit der reflexiven Fotografie führt diese Anonymität unter den Hausbewohnern der Probandin wieder ins Bewusstsein. Die Semantik des Nachbarn steht dabei in einem funktionalen Zwischenraum innerhalb der Semantik des Fremden und der des Freundes. Der Nachbar erfüllt im Unterschied zum Fremden, der bestimmte Objektivierungsleistungen zu vollführen hat, wie z. B. die Rechtssprechung, den Handel usw. und im Gegensatz zum Freund, der Subjektivierungen leistet, wie persönliche Hilfen oder emotionalen Beistand, die Aufgabe der Sicherung von Freiheitsgraden in der direkten sozialen Umwelt (vgl. Grathoff 1994: 35-36). Der Nachbar kann als Fremder oder als Freund auftreten und gewährleistet in beiden Fällen verschiedene weitere Handlungsmöglichkeiten. Hier im Gespräch mit der Probandin erscheint er als Fremder und ermöglicht so ein unerkanntes Leben in einem anonymen Wohnumfeld. Diese Situation, in der sich die Semantik des Fremden mit der Semantik des Nachbarn deckt, erscheint für die Gesprächspartnerin als prototypisch für großstädtisches Leben. Diese Konstellation symbolisieren die Namensschilder an den Briefkästen. Demgegenüber ist solcherart Symbolik, und als ein Beispiel dessen im Sinnzusammenhang der Stadt das Fenster oder der Briefkasten, im nicht-großstädtischen Raum weit weniger präsent. Städtische Elemente sind hier physische Entitäten wie Gebäude und die Institutionen, die diese Gebäude beherbergen. Die Ebene des Symbolischen wird nicht zur Kennzeichnung von Stadt herangezogen (T-I 6). Prägnant treten hier klassische Stadtbilder in den Vordergrund. »Des wär des Minimum, was i zum Begriff Stadt brauch oder so hab i des aufgefasst. Da is also zum Beispiel amol die Hauptstraße mit mit der Sparkasse. Mit nem Bankgebäude, Versicherung und Haus des Gastes, also so Verwaltung und was weiß ich. Hauptstraße, Parkplätze so was in der Art. Des is nich des is nich Dorf« (T-I 1).
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Die Auflistung der Verwaltungseinrichtungen, von Institutionen und allgemeinen Indikatoren von Zentralität, wie die Bank, die Versicherung und die Tourismuszentrale, steht in deutlichem Gegensatz zu den anfänglichen Assoziationen wie in Interview (M-I 4). Die Aufzählung städtischer Institutionen erinnert in dieser Form eher an die klassische Stadtbeschreibung von Max Weber (vgl. 1999: 84-85) als an die moderne Großstadt. Die weitere Betonung der Anwesenheit von Verwaltungseinrichtungen im Ort Tegernsee unterstreicht diese Haltung nochmals. Die Stadt erscheint hier als eine Ortschaft, die mit einem deutlichen Zentralitätsüberschuss gegenüber nicht städtischen Siedlungen ausgestattet ist. Diese Assoziation steht somit quer zu den üblichen Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung, die die gesellschaftliche Zentralität der Stadt unter den Bedingungen der Globalisierung als aufgelöst oder zumindest als so stark geschwächt begreift, dass diese nicht mehr wiederkehrt oder wiederkehren kann. Die moderne Stadt weist diesen Arbeiten zufolge kaum noch Zentralität auf (vgl. beispielhaft Stichweh 2006: 498). Die starke Betonung von Institutionen und Einrichtungen findet sich in weiteren assoziativen Zugängen zu dem eigentlich Städtischen. Städte weisen ein Moment der Größe auf. Sämtliche städtische Einrichtungen sind größer als vergleichbare Einrichtungen im Dorf. Die Stadt wird zuvorderst mit Größe verbunden (T-I 7). Die infrastrukturellen Einrichtungen sind im eigenen Dorf »nicht einmal halb so groß« (T-I 7) wie in der nächst größeren »wirklichen« Stadt. Die Kombination von Größe und Dichte wird als eine Triebfeder der in Städten bestehenden Anonymität und ihres negativen Begleitumstandes der Verantwortungslosigkeit interpretiert. Die Indifferenz der Urbaniten erscheint Personen, die im ländlichen Raum leben, nicht als eine erstrebenswerte und zivilisierte Errungenschaft (vgl. Tuan 1988: 323), sondern als ein Synonym für das Ermöglichen verantwortungslosen Handelns, das in eine Unausweichlichkeit und eigene Reaktionsunfähigkeit mündet. Die Errichtung von Neubauwohnungen mit entsprechender Veränderung der Verkehrsführung zum Nachteil der übrigen Dorfbewohner durch einen anonymen Bauträger ist ein Beispiel für dieses geäußerte Gefühl der Ohnmacht (BI 6). Den Bewohnern ist die Möglichkeit zur Reaktion genommen. Die Unausweichlichkeit der Verschlechterung in der Verkehrsführung wird interpretiert als ein verantwortungsloses Handeln einer nicht zu spezifizierenden Institution. Ergebnis ist eine Resignation und leichte Abneigung gegenüber den Neubürgern in den betreffenden Wohnungen, die von ihrer sozialen Position her unter der eigenen Positionierung im sozialen Raum verortet werden.
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URBANITÄT ALS HABITUS
»Des ischt relativ viele Ausländer schon noch drin, klar, aber sind auch genug äh Bodolzer, ischt scho scho mer die ärmere Schicht wo wo drin wohnt, also es ischt.... Was halt auch vom Ambiente ischt ja net rasend... Es sind einige von denen großen Blocks, wo in Linie noch nebeneinander stehen, äh und ...davor die Garagenhöfe und…« (B-I 6).
Dies steht der Interpretation der Großstädter im Sample widersprechend gegenüber. Die soziale Mischung und bauliche Heterogenität erscheint den Städtern nicht als Ärgernis oder Bedrohung. Sie bedeutet hier vielmehr Potenzialität. Die räumliche Nähe von verschiedensten Institutionen und Einrichtungen erlaubt in der Wahrnehmung der Städter eine Antizipation zukünftigen Handelns. Als urban erscheint zwangsläufig die Chance zur Aktualisierung von Potenzialitäten, d. h. die Vergegenwärtigungen von etwas Nicht-Aktuellem (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 172). Der grundlegende Unterschied in den beiden Auffassungsarten ist, dass die Veränderungen in der Umwelt einmal als Ärgernis und Bedrohung und einmal als Handlungsmöglichkeit betrachtet werden. Die Städter integrieren die wahrgenommene Umwelt als eine Potenzialität in das eigene Handeln, ohne auf die Vergangenheit oder vergangene Ereignisse zu schauen. Der dieser Interpretation inhärente Zwang zur Antizipation ist gerade das urbane, das städtische Moment. »Weil die Arbeit ist außer…nicht außer, aber am Rand von München und des ist keine nette Gegend. Also hier ist halt viel urbaner und viel städtischer und hier kann man ausgehen und hier kann man einkaufen gehen und hier kann man mit nem Rad auch alles abends machen und so…« (M-I 5). Die Möglichkeiten zum Ausgehen und Einkaufen nach Feierabend in fußläufiger Entfernung unterscheidet für die Probandin ihren Wohnort bereits grundsätzlich von ihrem Arbeitsort am Stadtrand von München. Die Potenzialität der Umwelt ihres Wohnorts in der bayerischen Metropole, seine Mischung und Heterogenität ist ein entscheidendes Kriterium der Wohnortwahl. Im Gegensatz zu der Interpretation des Bewohners im ländlichen Raum erfolgt ein habitueller Einbezug dieser Vielfältigkeit in die Planung des Alltags und führt zu der geäußerten Interpretation dieser Vielschichtigkeit als zu Verfügung stehende Optionen des Handelns. Nach Bourdieu erfolgt diese Einbeziehung der Potenzialität der Zukunft in die Routinen des alltäglichen Handelns über eine Umformung der Dispositionen des Habitus. Die Antizipation zukünftigen Handelns im Rahmen der gegebenen objektiven Möglichkeiten ist eine Fertigkeit, die der Habitus einem Akteur verleiht (vgl. Bourdieu 1963: 61). Die Gedankenverknüpfungen des Städtischen bei den Teilnehmern sind geleitet von normativen Vorstellungen einer idealen Gestalt des eigenen Dorfes. So zeigen diese Personen im nicht-städtischen Raum häu192
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fig stark dichotome Einstellungen bezüglich neuerer Einrichtungen in ihrem Wohnort. Bauliche Formen, die nicht als traditionell zu erkennen oder zu interpretieren sind, sich nicht in den eigenen Interpretationsrahmen der Ortsgeschichte bzw. Ortstradition einfügen, erfahren eine starke Ablehnung. Verdeutlichen lässt sich dies Muster an der Dichotomie Supermarkt/»Tante-Emma-Laden«. Diese binäre Opposition fügt sich nahtlos in weitere gedanklich mit der Stadt verbundenen Oppositionen ein, wie Stadt/Dorf oder »Baracke«/traditionelles Gebäude. »Nö...man hat natürlich gesagt, des sollen keine Baracke bauen wie die üblichen äh...Supermarktbaracken. Man soll wenigstens a bisserl Holz und a Giebeldach machen, damits innen Ort rein passt, aber für mi ist des trotzdem eigentlich a städtische Erscheinung. Des is des is des sin keine keine Tante Emma Läden mehr... Dann so was hats äh a Tiefgarage ja... Wenn man da runter kommt, diese Einfahrt da oben äh des is a Fremdkörper. Des passt eigentlich nicht innen Ort wie Tegernsee so was, aber na ja gut des is halt die Zeit...« (TI 1).
Die normative Vorstellung eines »passenden« Gebäudes tritt deutlich hervor. Traditionelle Elemente wie Holzfassaden oder Giebeldächer sind für ein gemäßes Aussehen wesentlich. Nicht das Angebot eines Supermarktes mit seinen Vorzügen wie niedrigen Preisen oder umfangreichem Sortiment wird zurückgewiesen, sondern die »unpassende« Gestaltung des Gebäudes. Diese Ausformung des Supermarktes fügt sich nahtlos in die amorphe Vorstellung von städtischen Elementen ein, die sich in der allgemeinen Vorstellung nicht an traditionelle Bauweisen orientieren. Das Gebäude des neuen Supermarktes erinnert die Probanden andauernd daran, dass Tegernsee funktional bereits eine Stadt ist. Die phänotypische Erscheinung des Ortes ist dabei ein entscheidender Aspekt. Der eigene Ort weist eine spezifische sedimentierte Geschichte und Tradition auf, die sich wiederum in der ortstypischen Bauweise der Häuser ausdrückt. Tradierte Bauformen garantieren eine dörfliche Identität und Selbststilisierung als beschaulich, »arkadisch« oder pittoresk. Diesem Eindruck arbeiten »gesichtslose« Gebäude entgegen, die anscheinend nur dem Diktat des niedrigen Baupreises verpflichtet sind, jedoch keinerlei Rücksicht auf die ortstypischen Stile und Bauformen nehmen. Genau diese Gesichtslosigkeit und Beliebigkeit der baulichen Formen ist eine starke Assoziation von Stadt bei den Probanden des nicht-städtischen Raums. Die Stadt erfährt eine negative Konnotation, wenn sie in Form von gesichts- und gestaltlosen Bauten in das eigene Leben eindringt. Die Stadt wird in ihrem Phänotyp als traditionslos, modern und beliebig begriffen. Diese negativen Assoziationen werden 193
URBANITÄT ALS HABITUS
buchstäblich erst durch entsprechende Baumaßnahmen im eigenen Ort erweckt. »Des isses nicht mehr, des sin, ich weiß net, wer da wohnt ne (lacht). Ja des solche Sachen, die die dadurch gehen Fremdenbetten verloren und verliert der Ort auch an Attraktivität dann. Ja des is klar, des is wen interessieren denn solche Häuser da? Ja des is Stadt. Da geh i da geh i ja des kann irgendwo sein. Da geh i vorbei und bin froh wenn i vorbei bin ....des mein ich eben, solange ich so was seh...« (T-I 1).
Seine Attraktivität zieht der Ort somit aus seiner traditionellen, nichtstädtischen Erscheinung, die einer amorphen, austauschbaren baulichen Gestalt entgegensteht. Die Tradition drückt sich hier deutlich in Bauformen und Baustilen aus, die jeder legitime Bewohner des Ortes sogleich entschlüsseln kann. Im Gegensatz dazu offenbart die Stadt keinen wiedererkennbaren Stil. Bourdieu konzipiert Stil als voneinander unabhängige kausale Reihen im Bereich der Kausalität, deren Verbindung oder Zusammentreffen durch Zufall herbeigeführt wird (vgl. Bourdieu 1974: 158). Die Ausformung des Stils ist kausal, da die habituellen Dispositionen der Akteure einer Epoche quasi als ein unsichtbares Band sämtliche Künstler, Architekten, Musiker usw. verbinden und diese so zu der Formgebung des Stils gelangen. Der Stilbegriff ist in einer solchen Auffassung kein Grenzsystem von formalen Bestimmungen, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Ideologie und des Wertesystems einer realen gesellschaftlichen Gruppe (vgl. Chvatík 1987: 110). Der Habitus als Vermittler hinter den künstlerischen und baulichen Leistungen einer Epoche führt erst zu dieser Form der Affinität des Stils. Die baulichen Erscheinungen, die als sedimentierte Tradition anmuten, sind die Ergebnisse des Zusammenwirkens einer Gruppe von Akteuren mit ähnlichen Positionen im sozialen Raum, die hiernach erst den Baustil des Ortes prägten. Nach Bourdieu folgt dieser Vorgang der Synchronisierung von Stilen keiner logischen, sondern einer praktischen Systematik (vgl. Bourdieu 2002a: 28). Die Erkennung und Anerkennung dieser sich ergebenden stilbildenden Formen erfolgt anschließend habituell. Der ästhetische Kanon der Beurteilung von angemessen/nicht-angemessen, ortstypisch/ortsuntypisch usw. schreibt sich vermittelt über den angeeigneten-physischen Raum in die Dispositionen der Habitus der Bewohner ein. Die dauerhaften Residuen des prägenden Stils der »traditionellen« Gebäude sind der sichtbare Maßstab, an den sämtliche neue Gebäude, bauliche Formen, architektonische Stile usw. gemessen werden. Städtische Gebäude entsprechen nicht diesem Ideal und sämtliche Bau-
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werke im eigenen Ort, die dieser habituellen Norm widersprechen, werden als urban betrachtet und folglich zugleich negativ konnotiert. Bourdieu benutzt den Begriff des Habitus zur Erklärung der stilistischen Einheitlichkeit, die gewählte Güter und Praktiken eines einzelnen Akteurs oder einer Klasse von Akteuren miteinander verbindet. Diese Lebensstile sind Regelmäßigkeiten kultureller Ausdrucks- und Verhaltensweisen der Menschen im Hinblick auf ihre Interaktion, ihr Wissen, ihre Meinungen, ihre Konsumstile und ihre Einstellungen (vgl. Junge 2002: 140). Bourdieu definiert den Begriff Lebensstil als »einheitliches Ensemble der von einem Akteur für sich ausgewählten Personen, Güter und Praktiken« (1998a: 21). Im Lebensstil drückt sich die Position des Akteurs im sozialen Raum aus. Die Vermittlungsleistung zwischen den objektiven Rahmenbedingungen, d. h. der akteursspezifischen Kapitalausstattung, und den daraus folgenden Vorlieben und Verhaltensweisen fällt dem Habitus zu, der so zum einen die Stabilität von Lebensstilen garantiert. Zum anderen liefert er dem allgemeinen Lebensstilkonzept die konstitutive Komponente, die die Kennzeichnung der Einheitlichkeit, die Festlegung der Lebensstilträger und die Analyse der Lebensstilstrategien von Statusgruppen oder Klassen erst ermöglicht. Genau dies ist der Gewinn, den die Lebensstilforschung 85 aus den Arbeiten von Bourdieu ziehen kann (vgl. Müller 1992: 218). Der duale Charakter des Habitus, der auf der einen Seite ein systematisches Konstrukt ist, auf der anderen Seite jedoch ebenfalls eine lose Systematik darstellt, zeigt sich im Entwurf des Lebensstils. Hier liegt der Grund der Entsprechung von künstlerischen Stil und Lebensstil, die Bourdieu anführt, um die Idee der Grenzen des Habitus und damit des Lebensstils zu verdeutlichen. Jeder Künstler schafft Kunst in den Grenzen seiner Epoche. Er schöpft immer aus Vorhandenem. So kann beispielsweise in der Romantik zwangsläufig kein gotischer Stil auftauchen. Gleiches gilt für den Lebensstil, der nur in den Grenzen seines
85 Der habituelle Bezug des bourdieuschen Lebensstilkonzepts wird vor allem in der deutschen Kultursoziologie bestritten. So hält z. B. Gerhard Schulze Bourdieus klassenbasierten Entwurf seine These der freien Beziehungswahl von Lebensstilkomponenten in Erlebnismilieus entgegen, die eine Bedingtheit durch Herkunft und soziale Position abgelöst haben sollen. Er erreicht eine Kohärenz der konstruierten Erlebnismilieus jedoch nur um den Preis der Aussparung der sozialen Positionen, die ein solches Milieu bilden (vgl. Schulze 2000: 219-333). Sighard Neckel merkt dazu passend an: »Gerhard Schulze indes entwirft eine Kultursoziologie über Leute, die Geld ausgeben, aber keines verdienen müssen« (1995: 938). Ein Hinzuziehen der sozialen Lagen zu den Erlebnismilieus würde keinen Unterschied mehr zu Bourdieus Theorie erkennen lassen (vgl. Neckel 1995: 937). 195
URBANITÄT ALS HABITUS
Habitus entstehen kann (vgl. Bourdieu 1992b: 33). Die Effektivität des Habitus als Möglichkeitsraum der Praxisformen liegt so in seiner Unbewusstheit. Bourdieu zeigt mithilfe der Ideen des Kunsthistorikers Erwin Panofsky im Habituskonzept auf, wie Strukturen der Praxis erklärt werden können, die den Menschen selbst nicht bewusst sind. Die unterschiedlichen Lebensstile und in ihrer Folge die unterschiedlichen konsumierten Güter analysiert Bourdieu als Zeichen, 86 die ein Fortbestehen von Klassenunterschieden unterstreichen. Bourdieu setzt für die Differenzen zwischen den unterschiedlichen klassenabhängigen Lebensstilen den Begriff der Distinktion ein. Ihm gilt sein eigentliches Interesse. Distinktion definiert Bourdieu »im Sinne von Unterscheidung (…) [als] die in der Struktur des sozialen Raums angelegte Differenz, wahrgenommen entsprechend der auf die Struktur abgestimmten Kategorien« (1985: 21-22). Distinktion kennt drei unterschiedliche Bedeutungen. Sie kennzeichnet zum einen die Differenz zwischen den Geschmäckern. Geschmack ist immer in den Grenzen des jeweiligen Habitus erworben und somit sozial bedingt. Die zweite Bedeutung von Distinktion ist ihre evaluative Dimension. Diese bildet das anscheinend natürliche Abgrenzungsbedürfnis der Akteure nach Andersartigkeit oder Höherwertigkeit und umgreift sämtliche gezielten Versuche der symbolischen Repräsentation von Überlegenheit. Distinktion als expressiver Effekt schließlich ist das unintendierte Ergebnis schlichter Andersartigkeit als soziales Apriori, der den Lebensstilen der oberen Klassen aufgrund ihrer herausgehobenen quasi natürlich-distinktiven Stellung an der Spitze der sozialen Hierarchie immanent ist (vgl. Müller 1995: 930). Der soziale Raum tritt folglich objektiv als ein System von Zeichen auf, das nach einer Logik des differenziellen Abstands organisiert ist. Die bedeutende Stellung des Lebensstilkonzepts in der praxeologischen Kultursoziologie Bourdieus erklärt sich zum einen aus der durch den Habitus garantierten Konstanz von Lebensstilen und zum anderen aus der Neigung
86 Bourdieus Analysen behandeln die konsumierten Güter insofern tatsächlich als Zeichen und nicht als Symbole, da es ihm ausschließlich auf die Differenzen zwischen den einzelnen Gütern ankommt und nicht auf die »Symbolkraft« eines einzelnen Guts. Dies verleitet in jüngster Zeit manche Autoren zu der Interpretation, Bourdieu habe seine Überlegungen zur Distinktionspraxis zwischen den Klassen der Sprachtheorie Saussures entlehnt (vgl. Schinkel/Tacq 2004: 64). Der Unterschied zwischen dem Begriff des Symbols und des Zeichens liegt in der Tatsache, dass im Fall des Symbols das materielle Zeichen den Inhalt zumindest teilweise abbildet. Deutlich wird dies im klassischen europäischen Symbolbegriff, der auf die griechische Erinnerungsscherbe abzielt. Im Fall des Zeichens dagegen haben die Signifikanten keine Ähnlichkeit mit der Bedeutung und sind in diesem Sinne »willkürlich« oder »abiträr« (vgl. Trabant 1997: 646). 196
DIE URBANISIERUNG IM SÜDLICHEN BAYERN
des sozialen Raums, wie ein symbolischer Raum von Lebensstilen zu funktionieren (vgl. Bourdieu 1993a: 146). In Tegernsee offenbart sich eine Gemeinsamkeit bezüglich der Bewertung des Baustils der Häuser, der einen starken ortstypischen Lebensstilaspekt darstellt. Die Bewohner Tegernsees zeigen so ähnliche Positionen im Raum der Lebensstile, die sich in der ästhetischen Bewertung der Baustile und bevorzugten Wohnformen ausdrücken. Zu dieser normativen Konzipierung von ländlichen, nicht-urbanen Baustilen fügt sich die Vorstellung der chronologischen Abfolge der Einführung von Innovationen ein. Eine Neuerung, z. B. im Bereich der Gebäudetechnik oder der Verkehrsleitsysteme, wird überwiegend erst in der Stadt eingeführt, bevor diese Neuheit anschließend in den ländlichen oder nicht-städtischen Raum diffundiert. Das erstmalige Vorkommen von innovativer Technik ist daher eng mit der Stadt verbunden. Die Stadt ist mit der Einführung von Neuerungen verbunden. Dies korrespondiert mit den empirischen Ergebnissen von Michael Aiken und Robert Alford, die eine positive Korrelation zwischen der Einführung und Durchsetzung von Innovationen im Alltagsleben und der Vielschichtigkeit der sozialen Umwelt feststellen. Je höher die theoretisch mögliche Interaktionsdichte an einem Ort ist, desto eher erfolgt an diesen eine Übernahme von neuen Ideen, Produkten, Prozessen oder Dienstleistungen (vgl. Aiken/Alford 1970b). Dieses Verhältnis zeigt sich in der Sichtweise der Probanden im nicht-städtischen Raum in Bezug auf Verkehrsregulierungssysteme. Ampeln stehen hier als Symbol überkommener Technik der Verkehrsregulierung, die im Wesentlichen kontraproduktiv für den Verkehrsfluss ist. »Und da standen hier noch die Ampeln, da ne Ampel, da ne Ampel, da ne Ampel. Da sind sie nur im Stau gestanden und seit der Kreisverkehr gebaut wird, ist ja auch mit nen Vorteil für das Einkaufszentrum, dass sich hier net alles staut. Sonst hat sich des immer runtergestaut bis da oben, bis runter…« (B-I 7). Der Kreisverkehr als eine Form verkehrstechnischer Innovation ist in der benachbarten Stadt Lindau bereits seit längerem fester Bestandteil der Verkehrsregulierung. In der Wahrnehmung der Probanden ist diese Reihenfolge Stadt-Land eine quasi natürliche Abfolge technischer Evolution. Die frühe Einführung von Innovationen ist so gedanklich an die Stadt gebunden. Die Bewohner des nicht-städtischen »arkadischen« Raumes zeigen hier eine beinahe schon fatalistisch zu nennende Einstellung zu den Einschränkungen der überkommenen Verkehrsregulierung, die sich in den vermeidbaren langen Wartezeiten an Kreuzungen ausdrückt. Eine ähnliche Einstellung bezüglich des Verhältnisses von Innovationen und der Stadt bekunden die Städter des Samples. Hier steht al197
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lerdings nicht die Verbesserung der Lebensqualität nach Einführung der Neuerung im Vordergrund, sondern die Konsequenzen des technischen Fortschritts für das tägliche Leben. Die Innovation erfährt keinen uneingeschränkten Zuspruch, sondern Einschränkungen der eigenen Lebenswelt werden kritisch hinterfragt. In diesem Fall schimmert auf der empirischen Ebene derjenige Topos durch, den Michael Polanyi mit »Geist der Moderne« (1985: 54) bezeichnet, namentlich die Verschmelzung einer Leidenschaft für den Fortschritt, die mit einer skeptizistischen Haltung ihm gegenüber einhergeht. Als prototypisches Symbol für jene Ambivalenz erscheint das Automobil, das zum einen neue Freiheitsgrade in der alltäglichen Mobilität ermöglicht, zum anderen aber wiederum Einschränkungen durch seinen ernormen Platzbedarf bedeutet. Der unschätzbare Gewinn des Automobils besteht in seinem Stellenwert als ein Differenzierungsmechanismus des Alltagshandelns, dessen Einsatz diese ihm geschuldete Ausdifferenzierung des Handelns in herausgehobener Weise beschleunigt. Die moderne Automobilbesitzerin ist frei in der Entscheidung, wo sie arbeitet oder anschließend einkauft, ins Theater geht oder zum Arzt geht usw. Das Auto garantiert die Verbindung der verschiedenen räumlich getrennten Aktivitätsorte in kürzester Zeit. Der soziale Differenzierungsmechanismus Automobil ist daher unabdingbar für die moderne Gesellschaft geworden (vgl. Krämer-Badoni/Kuhm 2000: 168). Folgerichtig erscheint das (parkende) Automobil als ein Symbol des Städtischen. »Das verbinde ich auch mit Stadt. Das und dass sind die vielen parkenden Autos (lacht). das findet man einfach aufm Land nicht. Also für mich jetzt als Landkind ist das einfach ungewöhnlich. Da ist mal ein Auto pro Haus und dann lange nichts und hier das Parkplatzproblem und die vielen Autos die sich stapeln, die was ich leider jetzt nicht erwischt hab, die hier auch oft auf zweiter Reihe stehen, also auffm Bürgersteig. Das ist für mich auch ein Symbol von Stadt ...Autos …« (M-I 11).
Die starke Belastung des öffentlichen Raums der Straße mit dem ruhenden Individualverkehr ist zweifellos eine negative Gedankenverknüpfung, die eine skeptizistische Einstellung gegenüber dem Wohnen in der Stadt vermuten lässt. Eine Probandin äußert daher den Wunsch eines Umzuges in den ländlich geprägten suburbanen Raum südlich von München (M-I 4). Dessen ungeachtet wird die öffentliche Verkehrsinfrastruktur, ebenso wie der ruhende Individualverkehr, mit dem Städtischen verbunden. Hier allerdings mit einer positiven Konnotation. Der öffentliche Personennahverkehr ist in dieser Dichte nur in der Stadt vorzufinden und nach Ansicht der Gesprächspartnerin ein ähnlich starker Diffe198
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renzierungsmechanismus, wie das Automobil nach Krämer-Badoni/ Kuhm (vgl. 2000: 168). Der öffentliche Personennahverkehr ist nur in der Stadt eine wirklichkeitsnahe Alternative zum motorisierten Individualverkehr und wird folglich gleichfalls gedanklich mit der Stadt verbunden. Die Vorzüge des Autos werden gegenüber den Risiken der Automobilbenutzung abgewägt. Das Automobil wirkt gleichsam als eine Quelle von Risiken, sowohl finanzieller als auch gesundheitlicher Art. Die Dichte an Angeboten des öffentlichen Personennahverkehrs erscheint als eine annehmbare Alternative zu den vom Automobil garantierten Freiheitsgraden. Diese Assoziation ist so bei den Gesprächspartnern aus den »arkadischen« Gemeinden nicht zu erkennen. Demgegenüber tritt allgemein das Bestehen von Infrastruktureinrichtungen im ländlichen Raum in den Vordergrund. Nicht die Frage der Erreichbarkeit oder der Verkehrsmittelwahl ist für diese Probanden interessant, sondern einzig, ob ein entsprechendes Angebot überhaupt besteht. Als Beispiel kann hier das Theater in Tegernsee dienen. Die Kulturform des Theaters diente neben der Zerstreuung ab dem Mittelalter ebenfalls als eine Art Kontingenzeindämmungsformel. Die mittelalterliche europäische Stadt war aufgrund ihrer physischen Beschaffenheit nicht in der Lage, sämtliche Unterschiede zwischen den neu zuströmenden Fremden und den Autochthonen zu mindern. Diese Aufgabe erfüllten Institutionen, die für die Etablierung eines Mindeststandards an geteilten Normen, Werten und Weltanschauungen sorgten. Jacques Rossiaud führt als Beispiele solcher Institutionen in der mittelalterlichen europäischen Stadt kirchliche Rituale, Predigten und das Theater an (vgl. 2004: 183-184). Das Theater stellte den Ort dar, an dem ungestraft Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen geübt oder die Stadtherren und Bürger karikiert werden konnten. Das Theater ist historisch als eine eng mit der Stadt verbundene Institution anzusehen. Die Gesprächspartner in Tegernsee parallelisieren ebenfalls das Fortdauern des Bauertheaters im Ort, das allerdings nur als Bühne für zeitlich begrenzte Gastspiele dient und nicht kontinuierlich bespielt wird, und ihre Wahrnehmung der Gemeinde als Stadt. »Und dann (räuspert)...das nen Theater da is nen Theatersaal, wenn’s auch net ständig bespielt wird, aber des es überhaupt Infrastruktur gehört für mich zur Stadt ...is natürlich auch im ländlichen Raum aber (räuspert)...« (T-I 1). Eine urbane Infrastruktur, und dazu zählt ebenfalls ein Theater, ist folglich in den Meinungen der Gesprächspartner konstitutiv für das Städtische überhaupt. Zwar besitzt die Gemeinde Tegernsee einen Theatersaal, dennoch verweist das Adverb »überhaupt« in der zitierten Aussage darauf, dass der Proband Tegernsee als klein, provinziell und dörf199
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lich wahrnimmt. In einer Gemeinde wie Tegernsee ist ein Theater eigentlich nicht zu erwarten. Die Ambivalenz des Ortes Tegernsee zeigt sich in dem Vorhandensein sämtlicher als städtisch betrachteter Institutionen wie einem Rathaus, Theater, Sparkassenverwaltung, Geschäftstraßen usw., ohne im ursprünglichen Sinne urban zu sein. Tegernsee weist zwar urbane Merkmale auf, ist aber im Verständnis der Probanden keine Stadt im eigentlichen Sinne. »Tegernsee is ja eine Stadt des wissen sie ja, ...aber natürlich (lacht) keine eigentliche Stadt. Was jetzt was jetzt wenn ich sag Tegernsee is ne Stadt, was ich dann verbinde is einfach die Hauptstraße mit Geschäften und so was...« (T-I 1). Als ein Beispiel dieser in den Interviews hervortretenden Ambivalenz in der Wahrnehmung von urbanen Merkmalen des Ortes, ohne dass diese im allgemeinen Verständnis urban sind, kann die Hauptgeschäftsstraße dienen. Die Geschäfte an dieser Straße in Tegernsee sind alle bekannt. Im Gegensatz zu dieser Überschaubarkeit im »arkadischen« Raum verlangt eine Stadt hingegen nach der Möglichkeit für die Menschen, ihre Einrichtungen in das Schema von bekannt/unbekannt einordnen zu können. In einer Stadt sind nach dem Dafürhalten des Probanden bei weiten nicht alle Geschäfte bekannt (T-I 1). Gerade die Residuen unbekannter Institutionen, die wiederum Potenzialitäten darstellen, kennzeichnen demnach erst eine Stadt. Dem Soziologen Dirk Baecker zufolge wird von »städtischen Identitäten«, unter denen er unter anderen Schulen, Kirchen, Geschäfte, Passanten, Verkehrsregeln, Wegweiser oder Straßennamen versteht, verlangt, »dass sie jeweils und damit ›selbstähnlich‹ (›fraktal‹) eine Codierung nach bekannt/unbekannt an den Tag legen, an die andere Identitäten anschließen können« (Baecker 2004: 264). Mit anderen Worten konstituiert erst die Möglichkeit zur Einordnung einer solchen »Identität« unter die Kategorie unbekannt das Städtische an der gegebenen Siedlung. In der Stadt Tegernsee hingegen sind sämtliche Institutionen bekannt, somit entfallen mit dieser Codierungsmöglichkeit ebenfalls die mit dem Unbekannten verbundenen Potenzialitäten. Die Abwesenheit dieser Möglichkeiten führt in ihrer Folge zu der von den Probanden geäußerten Wahrnehmung von Tegernsee als Kleinstadt (T-I 2) oder Dorf (T-I 1; T-I 3; T-I 9). In der Gemeinde Tegernsee ist für die Probanden nichts unbekannt. Damit entfällt die gewichtige, von Baecker angeführte Seite der die Stadt mitkonstituierenden Unterscheidung bekannt/unbekannt in Bezug auf ihre Institutionen und Bürger oder mit Baecker formuliert, ihrer »Identitäten« (vgl. 2004: 264). Die Abwesenheit dieses Moments der Unbekanntheit ist trotz der bestehenden städtischen Infrastruktur von Belang. Erst die funktionalstädtische Ausstattung des Ortes führt dieses Fehlen bzw. den sich da-
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hinter verbergenden Unterschied zur Stadt in das Bewusstsein der Interviewpartner. Ein weiterer von den Gesprächspartnern im ländlichen Raum angeführter Gedankengang ist die Verbindung von Stadt und Unpersönlichkeit assoziiert mit fehlenden, u. U. auf generalisierter Reziprozität beruhender Hilfen. Als Beispiel führt ein Proband den Rückgang von Fachgeschäften mit persönlicher Beratung zugunsten von Filialbetrieben, die für den Verkauf auf angelernte Hilfskräfte zurückgreifen, an (T-I 2). Dies führt wiederum in Verbindung mit dem als massiv erlebten Zuzug von Fremden, die Tegernsee als Zweitwohnsitz oder Ruhestandswohnsitz wählen, zu einer Erosion der tradierten Unterstützungsnetzwerke, in die auch Geschäftsinhaber involviert sind. Addiert erscheinen diese zwei Phänomene als ein Einschnitt in die Lebensqualität. »Es is insgesamt a Qualitätsverlust dem ma in so Kleinstädten, i nenn Tegernsee amal a Kleinstadt, äh leben muss, und wie gsagt, des seh i als als die negativen Seiten« (T-I 2). Verantwortlich für diese erlebte schwere Veränderung der Lebensbedingungen im Ort sind neben den Filialbetrieben nicht die Fremden selbst, denen die Autochthonen eher wohlwollend bis indifferent gegenübertreten, sondern die Immobilienmakler. Die Immobilienvermittlung dient aus Sicht der Einheimischen ausschließlich kommerziellen Zwecken und nimmt keinerlei Rücksicht auf tradierte Sozialbeziehungen. Als Ergebnis entsteht aus der Perspektive der Probanden eine für eine ländliche Gemeinde ungewöhnlich hohe Bevölkerungsfluktuation, die eindeutig negativ konnotiert ist. »Das san Immobilien. Des is eben das gewachsene Gut plötzliche eine verkäufliche Ware geworden is. Da ist das Elternhaus plötzlich eine Immobilie, die verkauft wird. Und so ist das in Tegernsee passiert. Ganze, ganze, ganze Sippen die da über Jahrzehnte Jahrhunderte gelebt ham, verschwinden einfach, weil die Immobilie, weil das Haus verkauft wird. Die ziehen dann weiß der Teufel wo hie« (T-I 2).
Schuld an dieser negativen Entwicklung, die als eine Umformung des Eigenen in Fremdes oder von Tradition in Nichttradition erlebt wird, ist der aus Sicht der Gesprächspartner der unkontrollierte Handel mit den auf den Markt kommenden Gebäuden. Die Gemeinde ist einer massiven Kommodifikation ihrer »arkadischen« Qualität ausgesetzt, die nachfolgend die tradierten Reziprozitätsbeziehungen aushebelt. »Irgendwelche Immobilienhaie kaufen des, reißen ab, und bauen Eigentumswohnungen und zerstückeln des alles. Das ist gang und gäbe hier unten« (T-I 3).
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Eine hohe Fluktuation der Bevölkerung mit einer einhergehenden Nivellierung tradierter Unterstützungsbeziehungen zwischen den Autochthonen ist eine bedeutende Gedankenverknüpfung mit der Stadt. Tegernsee verstädtert in dem Sinne, dass nach und nach die bekannten alteingesessenen Bewohner durch neu zuziehende und zum Teil finanzkräftige Akteure in ihrer Zahl übertroffen werden. Die Gesprächspartner stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber. In diesem Fall ist den Einwohnern aus ihrer Sicht die Möglichkeit zu reagieren genommen. Ähnlich wie im Beispiel der oben angeführten negativen Konnotation der Anonymität und Indifferenz in der Stadt erscheint die Praxis des unkontrollierten Immobilienhandels ebenfalls als ein typisch städtisches Phänomen. Die »Immobilienhaie« (T-I 3) handeln verantwortungslos und profitausgerichtet. Ergebnis ist die Zerschlagung der althergebrachten Dorfstruktur mit ihren Unterstützungsnetzwerken. Der Einfluss des Städtischen wirkt so als eine Spielart der individuellen Profitorientierung fremder Akteure. Die Vorstellung von Urbanität als ein Zustand fehlender Ordnung findet sich genauso in den Assoziationen zur Stadt der Großstädter des Samples. Diese verbinden die Stadt mit Schmutz und Devianz in einer Situation latenter Unordnung. Ein Beispiel hierfür ist die Sauberkeit der Münchner Bürgersteige. »Weil ich glaub...weil ich glaub, das war ungewöhnlich, weil, weil in München sind die Bürgersteige so sauber. Also des sind wirklich Blätter. Laub ist das, also die sind extrem sauber hier. Hier musst du nie Angst haben, dass du irgendwie in Hundescheiße tritts. Das finde ich ungewöhnlich für ne Großstadt. Ja…(lacht)« (M-I 5). »Die Bürgersteige hier sind extrem sauber, hier wird alles geputzt, da liegt nie mal ne´ McDonaldstüte rum oder so« (M-I 10).
Der öffentliche Raum des Trottoirs weist von je her eine Bedeutung als Aktivitätsraum auf, der Publikumsverkehr ermöglicht, Fremdkontakte erlaubt und so die Diversität einer Stadt sichtbar machen kann. Die Lebensqualität einer Stadt ist nicht zuletzt von der Gestaltung der Gehwege abhängig, wie eine empirische Studie aus Neuseeland anhand des Fallbeispiels Pononb/Auckland verdeutlicht (vgl. Latham 2003: 1703-1705). Der in Neuseeland traditionelle bestimmende calvinistische und maskuline Anspruch der Beherrschung des öffentlichen Raums der Straße weicht in diesem Stadtteil von Auckland langsam einer globalisierten Cafékultur, die zu einer Belebung und Demokratisierung der betroffenen Räume in der Stadt führt (vgl. Latham 2003: 1706-1714). Die Gestaltung der Gehwege ist in der neuseeländischen Metropole ursächlich für 202
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die empirisch nachgewiesene Steigerung der Lebensqualität der Stadt in der Wahrnehmung der Bewohner von Pononb. Die Probanden erwarten aufgrund ihrer Erfahrungen aus anderen Großstädten in München ebenfalls verunreinigte Bürgersteige und zeigen sich stark überrascht, dass diese in der bayerischen Landeshauptstadt aus ihrer Sicht so sauber sind. Schmutz oder Dreck tritt als eine »semantische Verdichtung« (Lindner 1994: 209) auf, d. h.»eine Vorstellung, die für sich allein mehrere Assoziationsketten vertritt, an deren Kreuzungspunkt sie sich befindet« (Lindner 1994: 209). Der erwartete Schmutz auf dem Bürgersteig reproduziert als semantische Verdichtung eine Assoziationskette, die Schmutz, fehlende Ordnung und Verantwortungslosigkeit verschränkt. Nach Rolf Lindner ist die Rede vom Schmutz auch heute noch eine moralische (vgl. 1994: 210). Der auf dem Bordstein liegende Hundekot, für dessen Entfernung sich anscheinend niemand, inklusive der Hundebesitzer, verantwortlich fühlt, ruft insofern direkte Assoziationen wach, die auf Devianz, fehlende Ordnung und Verantwortungslosigkeit in einer anonymen Umgebung schließen lassen. Umso mehr irritiert das Fehlen von Schmutz im öffentlichen Raum von München. Die u. U. seit langem tradierte Vorstellung von der städtischen Sozietät gerät auf diese Weise ins Wanken. Gleichzeitig bewerten die Großstädter diesen für sie irritierenden Zustand des öffentlichen Raumes als positiv und als bedeutenden Teil der Münchner Lebensqualität, analog zu der sich entwickelnden Cafékultur in den empirischen Ergebnissen aus Auckland. Ein einfacher Vergleich der spontanen Assoziationen zur Stadt zwischen den Städtern und den Bewohnern des »arkadischen« Raums im Sample zeigt Differenzen. Letztere legen ein stärkeres Gewicht auf physische Gegebenheiten, wie die bauliche Gestalt, das Vorhandensein und Nicht-Vorhandensein von bestimmten Institutionen sowie deren Unbekanntheit. Die Städter wiederum betonen stärker interaktive Ereignisse. Die Möglichkeit der Beobachtung des Anderen, die Anonymität und die teilweise fehlende Ordnung sind hier die stärksten Gedankenverknüpfungen. Interaktive Ereignisse sind im »arkadischen« nicht-städtischen Raum vor allem durch den gefühlten Rückgang von Unterstützungsnetzwerken und die negative Konnotation von Indifferenz präsent. Die beiden Subgruppen unterscheiden sich folglich im Hinblick auf ihre Prioritäten. Institutionen beispielsweise spielen für die Großstädter keine Rolle. Sie sind demgegenüber für die Bewohner des »arkadischen« Raumes von entscheidender Bedeutung für eine Stadt. Die zwei Gruppen des Samples gleichen sich jedoch in der Anführung von Indifferenz zwischen den Urbaniten. Im einen Fall erscheint sie als willkommene Möglichkeit eines ungestörten, unbeobachteten, mithin freien Lebens 203
URBANITÄT ALS HABITUS
inmitten der anderen (vgl. Tuan 1988: 323). Im anderen Fall erfährt die Indifferenz eine Auslegung als Anonymität und Verantwortungslosigkeit, die als typisch für die Großstädte angesehen wird. Sie ist jedoch in beiden Fällen in den Antworten zu finden. Einfache Konstruktionen einer Dichotomie Stadt/Land als zwei Pole menschlicher Vergesellschaftung (vgl. statt vieler Böhme 1982: 107) sind demzufolge nicht zutreffend. Vielmehr ähneln sich die Prioritäten in den Einstellungen. Sie unterscheiden sich jedoch in Bezug auf die tägliche Erfahrung. Großstädter sind mit dem Verlassen ihrer Wohnung Teil einer »world of strangers« (Lofland 1973) und folglich an die Indifferenz und Nichtbeachtung des anderen gewöhnt. Bewohner des nicht-städtischen Raumes identifizieren sich stärker mit der physischen Umwelt ihres Ortes und assoziieren somit zunächst Veränderungen in den bekannten Erscheinungen dieser Umwelt als urban. Diese unterschiedlichen, auf der Alltagserfahrung beruhenden Wahrnehmungen führen zu den jeweils verschiedenen Vorrängen. Ein erster Vergleich der ursprünglichen Assoziationen der Probanden mit der Stadt zeigt somit bereits leichte Differenzen, aber ebenfalls große Gemeinsamkeiten. Eine weitere Annäherung an einen u. U. gegebenen Unterschied in Hinblick auf die theoretisch erarbeitete habituelle Urbanität erfolgt im folgenden Kapitel. Nach der einführenden Betrachtung von Assoziationen vollzieht der anschließende Abschnitt eine Bestimmung der Kontingenzräume (a; b) und ihrer Lage zueinander. Die Festlegung der Grenzen dieser Räume ermöglicht anschließend erste Folgerungen bezüglich der habituellen Urbanität.
Die Lage der Kontingenzräume In diesem Buch wird Urbanität als eine Form der vergrößerten internen Variationskontingenz des habituell Fassbaren definiert. Die Urbanität ist dort gegeben, wo ein Habitus Situationen als riskant und chancenreich anstelle von gefährlich und vermeidbar begreift. Als Urban ist somit eine Ausweitung des habituell Bestimmbaren in Richtung der gesamten Kontingenz des sozialen Lebens definiert. Grundlegend ist hier die Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Gefahr bezeichnet entscheidungsunabhängige, unkontrollierbare Schäden. Sie scheint im Gegensatz zum Risiko, das Bedrohungen einbezieht, die den eigenen Entscheidungen zuzurechen und somit bei einer anderen Entscheidung zu vermeiden sind, in der Gegenwartsgesellschaft zurückgedrängt zu sein (vgl. Hahn 1998b: 51). Die interne Variationskontingenz (b) ist damit umso größer, je mehr Ereignisse, Irritationen und soziale Situationen von Akteuren als 204
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riskant und somit der eigenen Entscheidung zuzurechnen, anstelle von gefährlich und damit als dem eigenen Handeln entzogen, subsumiert werden. Die lediglich wahrgenommene Sicherheit birgt immer ein Restrisiko an Unbestimmtheit, d. h. von Kontingenz, die es erlaubt, handlungszielgefährdende Zufälle mit einer gewissen Restwahrscheinlichkeit eintreten zu lassen. Ob dieses Restrisiko vornehmlich der eigenen Entscheidung zugerechnet wird, diese Zurechnungsoperation bezeichnet habituelle Urbanität. Gefahren werden in der modernen Gesellschaft in dem Maße zu Risiken, in dem bekannt ist, welche Entscheidungen zu treffen sind, um sie zu vermeiden (vgl. Luhmann 1991b: 88). Die Großstädter des Samples zeigen eine feine Distinktion in Bezug auf Situationen und Orte, die entweder als potenziell und sicher oder als unsicher und gefährlich erscheinen. Die Stadt erfährt in der Wahrnehmung der Gesprächspartner eine starke Differenzierung in Hinblick auf ihre verschiedenen Teile. Manche Stadtteile gelten per se als sicher, manche als unsicher. »...sicheres Viertel. Findest du das sieht aus wie die Bronx? Das ist, das ist aber was typisch München ist, finde ich, dass man sich hier ziemlich wenig unsicher fühlt. Oder auch als Frau nicht alleine Nachts. Natürlich gibt’s schon noch Viertel, wo ich jetzt nicht hinfahrn würde, alleine irgendwie. Neuperlach Feldmoching also da hoch, so Hasenberge und so, und ich fahr auch nicht so gerne nachts meine U-Bahnlinie hier, weil die fährt halt in, in ins soziale Brennpunktviertel von München und dementsprechend ist halt …ähm…und auch wo ich wohne, dahinter und noch nen bisschen weiter nördlich, geht fängts an, die Gegend nen bisschen schlechter zu werden also für München schlechter« (M-I 5).
Die Stadt teilt sich in der Wahrnehmung der Interviewpartnerin in sichere und in unsichere Räume und Viertel. Es scheint in der Antwort eine Gleichsetzung von Armut und Unsicherheit durch. Unsichere oder gefährliche Stadtteile sind die Gebiete, in denen sozial schwache Bevölkerungsschichten konzentriert sind. Mit Bourdieu spiegeln in diesem Fall die Standorte im sozialen Raum die Positionierungen im angeeigneten physischen Raum wider (vgl. Bourdieu 1985: 13). Akteure, deren eigene Stellung im sozialen Raum verschieden von denen der »legitimen Bewohner(n)« (Bourdieu 1997b: 165) dieser Orte ist, neigen dazu, eigene Aufenthalte in diesen Räumen als gefährlich zu betrachten. Der New Yorker Stadtteil Bronx steht dabei als Metapher für die angenommene Gefahr, in diesen Stadtvierteln Opfer einer Straftat zu werden. Die häufigste Angst von Städtern ist dabei diejenige vor dem Angriff eines Fremden. Die Wahrnehmung dieser Gefahr ist dabei die entscheidende Größe. Allerdings ist diese Angst vor Gewalttaten nicht an die objektiv 205
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bestehende Gefahr, wie sie sich in Kriminalitätsstatistiken ausdrückt, gekoppelt, sondern beruht auf der individuellen Perzeption (vgl. Merry 1981: 5-6). Die als gefährlich eingestuften Stadtteile sind objektiv sicherer, als die Wahrnehmung den Stadtbewohnern glauben machen will. Der omnipräsente Fremdkontakt erfährt damit eine Differenzierung im Hinblick auf den angeeigneten physischen Raum. In bestimmten als arm oder sozial benachteiligt geltenden Vierteln subsumiert die Semantik der Gefahr die gesamte Kontingenz des Fremdkontakts. Der bestimmte Fremde ist in diesen Räumen a priori gefährlich. Die Semantik der Gefahr kehrt personalisiert als der bestimmte Fremde in Form einer ausgeprägten Unsicherheit wieder in die Sinneseindrücke der Städter zurück (vgl. Stichweh 2005c: 58). Resultat ist eine Verkleinerung des Kontingenzraumes (b). Urbanität als habituelle Urbanität ist in diesen Räumen nur eingeschränkt oder nicht vorhanden. Dieser Effekt der unterschiedlichen Interpretation von Kontaktsituationen entweder als riskant oder als gefährlich wiederholt sich mit Bezug auf die soziale Dichte der Stadt. Erst die hohe soziale Dichte verlangt nach einer Interpretation des Fremdkontakts als riskant oder sicher. Die andauernde Anwesenheit des Anderen erlaubt es den Gesprächspartnern, ihr eigenes Handeln als ein Risiko zu interpretieren. Der nächtliche Kneipenbummel mit anschließender alleiniger Rückfahrt ist nicht gefährlich, sondern allenfalls riskant, da in einer regelmäßigen Folge Fremdkontakte stattfinden, die zu einem subjektiv erlebten Sicherheitsgefühl führen. Das Wissen um die dauerhafte Anwesenheit des Anderen leitet somit zu einer weitgehenderen Interpretation eigenen Handelns als gefahrlos möglich über und erweitert den Kontingenzrahmen des habituell Fassbaren. »Ähm …da draußen würd ich mich unsicherer fühlen, wenn ich da nachts unterwegs noch bin. Also nicht im Viertel, aber weil ich dann mehr U-Bahn fahren müsste nachts, noch rausfahren müsste, weil da weniger los ist. Also ich wohn lieber wos´ belebter is, weil ich dann freier fühle mich zu bewegen, auch also wo nachts auch noch was los is« (M-I 5).
Die Anwesenheit der anderen bestimmten Fremden interpretiert die Gesprächspartnerin als ihre persönliche Freiheit in Bezug auf die Bewegung in der Stadt. Sie ist so in der Lage, beispielsweise ihre Aktivitäten in die Nachtstunden hinein auszudehnen und auf diese Weise neue Freiheitsgrade zu erringen, ohne dass ihr Verhalten durch Angst gegenüber dem Fremden bestimmt wäre. Die individuelle Angst vor dem Fremdkontakt ist empirisch der stärkste Hinderungsgrund einer weiteren Ex-
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pansion menschlicher Aktivitäten in die Nachtstunden hinein (vgl. Melbin 1978: 17). Die soziale Dichte weist einen Gradienten vom Zentrum zur Peripherie auf. In dem Zitat ist ein virtueller Umschlagpunkt zu erkennen, der den Moment markiert, ab dem die soziale Dichte so gering ist, dass jeder Fremdkontakt wieder als gefährlich betrachtet wird. Ab diesem Punkt verschiebt sich die Wahrnehmung dahingehend, dass bis dato sicheres Handeln und Entscheiden plötzlich als unsicher angesehen wird. Der eine geringere Siedlungsdichte aufweisende Stadtrand von München ist somit genauso unsicher, wie die zentrumsnäheren sozial benachteiligten Wohnviertel. Der Grund dieser Unsicherheit ist jedoch ein anderer. Ist im zweiten Fall die Distanz im sozialen Raum zwischen der Probandin und den »legitimen Bewohnern« (Bourdieu 1997b: 165) der benachteiligten Wohngebiete der Grund, ist es im ersten Fall ausschließlich die Quantität der zu erwartenden Fremdkontakte. Die Aushandlung der Lage dieses Umschlagpunktes erfolgt habituell, d. h. es ist Sache des Habitus zu entscheiden, ab welcher Kontaktfrequenz die jeweiligen Begegnungen nicht mehr neue Freiheitsgrade ermöglichen, sondern als gefährlich erscheinen. Dieses Motiv taucht in den Interviews noch einmal mit Bezug auf die Leere von U-Bahnsteigen auf, die als fremd und störend wahrgenommen wird. Leere U-Bahnsteige sind gedanklich mit Anonymität verbunden und erzeugen bewusst oder unbewusst ein Gefühl der Angst. Folgt man sozialpsychologischen Argumenten, ist diese Angst nicht unbegründet, da Experimente zeigen, dass Anonymität in der sozialen Umwelt Devianz wenn nicht provoziert, so doch zumindest befördert (vgl. Milgram 1970: 1464). Das Ergebnis dieser Aushandlung der Lage des Umschlagpunktes von sicher oder riskant zu gefährlich bestimmt folglich ebenfalls die individuelle Größe des Kontingenzraumes (b). Die habituelle Urbanität zeigt sich in der akteursspezifischen Festsetzung dieser Deutung der Frequenz des Fremdkontakts. Bei den Großstädtern ist eine Tendenz zu erkennen, angenommene Distanzen im sozialen Raum in potenzielle Gefährdungen der eigenen Person zu übersetzen. Diese Neigung zeigt sich in der aktiven Meidung bestimmter Bereiche der Stadt bzw. von Verkehrsmitteln, die in diese Bereiche führen. Des Weiteren deuten die Aussagen über die als gefährlich empfundenen »leeren Räume« (M-I 5) und unbelebten Straßen (M-I 4) auf eine hohe Toleranzschwelle in Bezug auf das »Umschlagen« der Fremdkontaktfrequenz hin. Die Städter empfinden erst auftauchende Fremde in nahezu menschenleeren Orten als potenziell bedrohlich. Die Häufigkeit als entscheidende Größe bei der Bewertung des Kontakts mit dem bestimmten Fremden im öffentlichen Raum zeigt sich in 207
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den Antworten der Bewohner des »arkadischen« nicht-städtischen Raums nicht in dieser Deutlichkeit. Fremdkontakte treten in einer geringeren Regelmäßigkeit auf als in der Stadt und sind daher keine ursächliche Gedankenverknüpfung für die Gesprächspartner. Vielmehr tritt ein Motiv als bedeutend in Erscheinung, das bereits Georg Simmel in seinem klassischen »Exkurs über den Fremden« anführt. Der Fremde tritt nach Simmel immer in einer bestimmten Konstellation von Nähe und Distanz auf. Ihn kennzeichnet die »Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält« (Simmel 1992: 765). Dieser von Georg Simmel bezeichnete Status der sozialen Distanz tritt als eigentliche Assoziation mit der Figur des Fremden bei den Gesprächspartnern im ländlichen Raum in Erscheinung. Die Fremden sind so beispielsweise die Bewohner der Siedlung des Sozialwohnungsbaus aus den 1960er Jahren am Rande von Bodolz, deren marginale Position im sozialen Raum mit der Positionierung im angeeigneten physischen Raum korrespondiert. Sie sind zum einen nah, da sie als Bewohner des Ortes tagtäglich in Erscheinung und unter Umständen in Kontakt mit den anderen »legitimen Bewohnern« (Bourdieu 1997b: 165) der Ortschaft treten. Sie sind zum anderen fern, da die Umstände, die zu ihrer sozialräumlichen Marginalisierung führten, von den im Hinblick auf ihre sozialen Position besser gestellten Akteuren nicht nachvollzogen werden können. Bei vereinzelten bestimmten Fremden, deren physische Distanz im Ort nur gering, deren soziale Distanz hingegen enorm ist, überschneiden sich Nähe und Ferne in ihrer Person. »(...) die kenn ich natürlich net, die kennt man net, mit denen kommt auch nicht in Berührung. Man weiß zwar, meine Frau hat ne Frisöse ne Hausfrisösin, die hat da unten jetzt auch son Haus gekauft. Da wissen mer zufällig, die wohnt da, aber sonst wüsst ich niemand. Ja gut nen früherer Modellflugkollege von mir, der wohnt auch noch in der alten, aber sonst kennen mer da niemand« (B-I 7).
Die Frisörin der Ehefrau des Probanden und ein Bekannter, der das Hobby des Modellfliegens teilt, sind die einzigen zwei Personen in der Randsiedlung, zu denen eine Beziehung des persönlichen Kennens besteht. Zwar sind diese zwei Individuen bis zu einem bestimmten Grad vertraut, dennoch sind sie Figuren, die die Eigenschaften von fern und nah, fremd und vertraut in ihrer Person vereinen. Die Konstellation der Überschneidung von nah und fern, wie in der Person der Hausfrisörin prototypisch angelegt, nimmt nach Bernhard Waldenfels quantitativ zu, je heterogener sich die Gesellschaft gestaltet. Denn wer erscheint fremder, »der arabische Arzt in der Klinik oder der deutsche Psychopath, der 208
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Fußballspieler aus Ghana oder der Skinhead von nebenan, der afghanische Übersetzer von Grimms Märchen oder der einheimische Bildzeitungsleser« (Waldenfels 1997b: 148)? Das Problem der strukturell bestimmten Fremdheit löst sich im Fall der Gesprächspartner im »arkadischen« Raum in einer Ignorierung der Fremden, die man natürlich nicht kennt oder kennen will. Die Kontingenz und folglich die Potenzialität des Fremdkontakts weicht einer strikten Ökonomisierung, wie im Fall der Hausfrisörin, zu der ausschließlich eine geschäftliche Verbindung besteht, die durch Geld ausgeglichen wird, oder wie im Fall des Modellflugkollegen, der mit seinem Austritt aus dem Modellflugverein wieder in den Status des Fremden zurückfällt. Die Ignorierung der sozial fern stehenden, bestimmten Fremden führt zur Beherrschung ihrer Kontingenz. Diese Form der Kontingenzbewältigung steht quer zu der Wahrnehmung des Fremden durch die Großstädter. Hier eröffnet gerade die Anwesenheit der Fremden neue Freiheitsgrade und Potenzialitäten des eigenen Handelns und Entscheidens, indem sie zum Beispiel die Bewegung in öffentlichen Räumen als sicher erscheinen lässt. Bei den Gesprächspartnern im ländlichen Raum besteht dagegen eine unterschwellige Xenophobie, eine diffuse Angst vor dem Fremden, die sich in den Antworten zu erkennen gibt. Der Fremde ist in der Lage, die bestehende Ordnung der eigenen Sozialbeziehungen zu irritieren. Die Bewohner der Sozialwohnungen am Rande des Ortes sind für die Probanden habituell nicht mehr fassbar. Sie stehen sozial so fern, dass ihre Anwesenheit bereits die Sozialordnung der Lebenswelt der Probanden in Frage stellt. »Desch isch hier unterhalb, eigentlich a bisschen mehr unterhalb von den Gebäude da, äh ...da die Dr.-Emil-Hasel-Siedlung heißt des. ...Hat halt, kenn den Mann auch net, hats halt vielleicht hat der irgendwann amol was Gutes tan...kein Ahnung ...(lacht)... Des ischt halt nach dem benannt worden. Des war eben früher hat des geheischen, das Ghetto...hat nur, äh die nur Ausländer und ....die untere Schicht hat drin gewohnt. Es hat sich geändert, es hat sich geändert« (B-I 6).
Mit Bourdieu lässt sich darauf verweisen, dass die Rede von einem »Ghetto« nicht auf die Wirklichkeit Bezug nimmt, sondern ein diskursiv konstruiertes Phantasma anspricht (vgl. Bourdieu 1997b: 159). Der Begriff des »Ghettos« ist einem massenmedialen Diskurs geschuldet, in dem Begriffe und Bilder völlig unkontrolliert verwendet werden. Dieser Diskurs betrachtet das »Ghetto« nicht in Relation zu anderen Räumen, sondern liefert eine eigene Erklärung seiner selbst. Diese substantialistische Verkennung des »Ghettos« kann gemäß Bourdieu nur vermieden werden, wenn man die Interdependenz zwischen dem angeeigneten physi209
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schen Raum und dem sozialen Raum in die Betrachtung einfließen lässt, die besagt, dass eine Nähe im reifizierten Sozialraum mit einer Nähe im sozialen Raum korrespondiert (vgl. Bourdieu 1997b: 159 passim). Die Klassifizierung des Fremden nach Georg Simmel »als der, der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992: 764) ist die Figur, die die im Zitat erkennbare Irritation evoziert und nachfolgend die Rede von dem »Ghetto« erst hervorbringt. Als Kontingenzbewältigungsformel erscheint hier die Selbstvergewisserung, dass »alles nicht mehr so schlimm ist, wie es mal war« sowie eine symbolische Distanzierung von den dort lebenden Fremden durch Vokabeln der Distinktion, wie »Ausländer« oder »untere Schicht« (B-I 6). Die Fremden mögen noch irritieren, sie sind aber hinreichend weit sozial entfernt, dass sie den Lebenszusammenhang des Gesprächspartners nicht wirklich berühren. Im Gegensatz zu der bei den Großstädtern des Samples zu erkennenden Nutzung der Potenzialität des Fremden bewältigen die Bewohner des ländlichen Raumes dessen innewohnende Kontingenz viel eher durch Strategien der Abgrenzung, Benennung und Ignorierung. Fasst man mit Bourdieu Dispositionen als eine Form der Virtualität (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 168), zeigt sich, dass den Gesprächspartnern im ländlichen Raum genau diese Disposition fehlt, die es erlauben würde, den Fremdkontakt in irgendeiner Form in Wert zu setzen. Das Dispositionssystem des Habitus manifestiert sich erst im Verhältnis zu einer Situation und dokumentiert in deren weiteren Verlauf seine Dynamik. In dem empirischen Fall der Bearbeitung des Fremdkontakts illustriert sich das Fehlen der dafür notwendigen Disposition bei den Gesprächspartnern im »arkadischen« nicht-städtischen Raum. Die strukturell bestimmte Fremdheit der Fremden wird nicht bewältigt, z. B. durch die Umdeutung einer bestimmten Häufigkeit an Fremdkontakten in der Großstadt in Sicherheit, sondern klassifiziert und benannt und auf diese Weise aktiv aus der alltäglichen Lebenswelt ausgeschlossen. Die Frequenz der Fremdkontakte ist im Alltag der Probanden im »arkadischen« nicht-städtischen Raum geringer als in der Vergleichsgruppe der Urbaniten. Die Umdeutung der Unbestimmtheit dieser Kontakte in Möglichkeiten für das eigene Handeln erscheint daher nicht als Vorrang. Dennoch ist gerade wegen der geringeren Häufigkeit zumindest ein Bewusstsein für die kontinuierliche Gegenwart des Fremden vorhanden. »Lindau isch eh gemischt, da sind eh viele Fremde, wie überall warscheinlisch auch. Also so richtige Urlindauer gibscht wenige (lacht), ne« (B-I 8). Auch die Personen, mit denen man im Alltag verkehrt, sind Fremde. Die Abgrenzung zu den Autochthonen erfolgt über Aspekte der Tradition oder über Handlungen und Objekte, die als traditionell definiert wer210
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den. Die Fremden geben sich dabei mimetisch zu erkennen, d. h. sie lassen sich aufgrund ihres Bemühens identifizieren, die Einheimischen zu imitieren. Mimesis ist eine beim Menschen stark entwickelte Fähigkeit zur Nachahmung des anderen (vgl. Wulf 2005: 70), die dazu dient, sich der Umwelt anzupassen. Die Probanden würdigen durchaus diesen Versuch der Anpassung. Einen solchen Beitrag stellt das Trachttragen dar, das nach Aussage der Probanden nur bei Fremden vorkommt (B-I 7; B-I 8; T-I 9). Die Probanden differenzieren folglich zwischen den zwei grundlegenden Erscheinungsformen des Fremden nach Georg Simmel. Im Fall der Fremden, deren Distanz zu den Autochthonen im sozialen Raum diese erst als fremd und versteckt gefährlich erscheinen lässt, erfolgt eine scharfe Grenzziehung. Sie sind habituell so fern stehend, dass keine Kontaktaufnahme jenseits rein ökonomisch definierter Beziehungen als eine Möglichkeit anmutet. Sie entsprechen der Figur des bleibenden Fremden. Die im obigen Zitat angesprochenen Fremden sind im Gegensatz dazu eher die Wandernden, die heute kommen und morgen gehen (vgl. Simmel 1992: 764). Sie werden nur episodisch wahrgenommen. Ihre Mimese der Autochthonen ist eher amüsant als ärgerlich. Diese Fremden sind habituell nahe stehend. Ihre Kontingenz erscheint weder bedrohlich noch gefährlich. Eine solche Differenzierung nach habituell nah- und fern stehenden Fremden findet sich bei den Städtern nicht in dieser Ausprägung. Diese klassifizieren Fremde eher nach der Frequenz der Kontakte und meiden bestimmte Räume in der Stadt, in denen sie die dortigen Fremden als per se gefährlich ansehen. Dennoch ist eine Parallele offenkundig. Sowohl die Großstädter als auch die Bewohner des »arkadischen« nichtstädtischen Raums zeigen Vermeidungsstrategien in Bezug auf den Kontakt mit habituell fern stehenden Fremden. Der Unterschied ist hingegen, dass die Städter durchaus in der Lage sind, sich in einer Umgebung von vielen Fremden sicher zu fühlen, die Bewohner des ländlichen Raums hingegen auf Ausgrenzungs- und Vermeidungsstrategien zurückgreifen. Die Urbaniten erweitern die interne Variationskontingenz (b) dahingehend, dass sie ebenfalls eine hohe Dichte an Fremdkontakten mit sozial Fernstehenden für sich als Potenzialität nutzen. Eine hohe Dichte an Fremden generiert Sicherheit und erweitert so den Möglichkeitsraum für eigenes Handeln und Entscheiden. Als Beispiel kann hier die Ausweitung der Aktivitäten in die Nachtstunden hinein dienen. Dieses Gefühl der Sicherheit schwindet erst in den angeeigneten physischen Räumen, deren legitime Bewohner korrespondierend im sozialen Raum eine große Distanz zu der eigenen sozialen Position aufweisen. Die habituelle Ferne wird als gefährlich und nicht als riskant, potenziell oder sicher gedeutet. Die Bewohner des nicht-städtischen Raums ziehen diese Mög211
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lichkeit nicht in Betracht. Ihr Handeln zielt ausschließlich auf Distinktion. Sie erkennen keine Möglichkeiten in den habituell fern stehenden Fremden. Der Raum der internen Variationskontingenz (b) ist folglich kleiner als im Fall der Großstädter. Für das Teilproblem der Interaktion mit den Fremden besteht mithin eine Differenz zwischen Stadt und Nicht-Stadt. Beide verfolgen Vermeidungsstrategien gegenüber habituell Fernstehenden. Die Großstädter verfolgen diese jedoch nicht absolut, sondern sie nutzen eine hohe Dichte an Fremdkontakten zur Optionssteigerung eigenen Handelns und Entscheidens. In den Antworten der Bewohner des ländlichen Raums ist ein fehlendes Bewusstsein für die strukturell bestimmte Fremdheit zu erkennen, die aus dem folgenden Zitat deutlich wird. »Dann kummen, dann wird’s ernst dann kommen Fremdheit, was is mir denn eigentlich fremd? Zeige ich ihnen amol das erste.« »Und i find in son Ort wie Tegernsee gehört ein Hotel, des, des is, da hat man Gäste, da is Leben, da gibt’s Geschäft, da is, was los, da gibs in dem Hotel waren früher auch dann äh die Feste, wenn dann Fasching oder irgendwie großer Geburtstag von jemanden, da war noch, des war einfach der Mittelpunkt und jetzt ist das halt einfach trist« (T-I 1).
Die an sich selbst gerichtete Frage nach dem Fremden in der Umgebung zeigt, dass diesem in der Wahrnehmung des Probanden nur ein geringer Spielraum bleibt. In einem Ort von der Größe Tegernsees überdauert wenig, was einer Person, die ihr Leben lang dort wohnte, fremd erscheint. Die Spanne, die dem Fremden zur Verfügung steht, verkleinert sich noch zusätzlich, da der traditionelle Ort für Feste in Tegernsee nicht mehr besteht. Das Fest kann als Symbol eines zeitlich befristeten Ausbrechens aus dem Alltag gedeutet werden, als das Gegenteil der jetzigen »tristen« Situation. Bei einem Fest verlassen die Menschen ihre gewohnte Welt und werden für einen begrenzten Zeitraum Teil einer anderen. Das Fest führt Fremde zusammen und knüpft die communitas (Turner 1969), ein gemeinschaftliches Band der Überzeugung, zwischen ihnen (vgl. Tuan 1986: 12). Das Fest bietet somit eine Abwechslung von der Eintönigkeit des Alltags und fesselt seine Beteiligten durch seinen Ausnahmecharakter. Die das Fest kennzeichnende, erlaubte Umkehrung oder Aufhebung des ansonsten Gebotenen oder Erwarteten ist ein zeitlich begrenzter Einbruch des Fremden in das Normale, der nicht zuletzt aufgrund seiner temporären Beschränktheit als ausgesprochen attraktiv erscheint (vgl. Hahn 1994: 151-152). Das in dem obigen Zitat angesprochene alte Hotel als der traditionelle Ort für Dorffeste und zum Teil privater Feste, die dort mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfanden, ist 212
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verschwunden. An dessen Stelle sind Eigentumswohnungen und ein Chinarestaurant getreten. Das Chinarestaurant dient als Symbol des Niedergangs, der Profanisierung des Fremden. Chinarestaurants erscheinen in der Wahrnehmung der Gesprächspartner als eintönig und erwartbar, standardisiert und alltäglich, aber keinesfalls als fremd oder aufregend. Die zeitlich begrenzte Eintrittsmöglichkeit des Fremden in den Alltag, die die Dorffeste ermöglichten, wurde substituiert durch das profane Fremde des Chinarestaurants, und dieser Zustand erscheint nachfolgend als trist. In der Wahrnehmung der Gesprächspartner in Tegernsee ist das Fremde somit ein überraschendes, unerwartetes oder irritierendes Moment, nicht hingegen die Fremdheitsimitation des Chinarestaurants oder die alltägliche Interaktion mit einem bestimmten Fremden. Sie interpretieren im Gegensatz zu den Großstädtern den einfachen Kontakt im öffentlichen Raum mit einer u. U. unbekannten Person nicht als eine strukturelle Fremdheit, die Handlungsoptionen bietet. Vielmehr zeigt sich eine dreifache Klassifizierung der anderen in den Antworten der Tegernseer Gesprächspartner. Es bestehen hier nebeneinander die Kategorien der Autochthonen, der lange in Tegernsee Lebenden oder bereits dort Geborenen, die Kategorie der Feriengäste, d. h. der Fremden, deren Aufenthalt von vorhinein zeitlich begrenzt ist und die eine von Einheimischen unbesetzte soziale Rolle ausfüllen, namentlich die des Touristen und somit ausschließlichen Konsumenten von Dienstleistungen (vgl. Paul 2003: 226), sowie die Kategorie des Fremden, in die diejenigen Zuzügler fallen, die nicht ständig in Tegernsee wohnen. Die letzte Rubrik umfasst somit die Figur des störenden Fremden, die überhaupt erst mit Beginn der Moderne toleriert wurde. Der Fremde stört, aber die aufnehmende Gesellschaft ist dem Prinzip verpflichtet, dies zu ertragen (vgl. Stichweh 1997b: 50). Die Zuzügler stören, weil sie die Infrastruktur mitbenutzen ohne sich einzubringen (TI 2), weil sie aufgrund ihrer häufigen Abwesenheit Teile des Ortes als unbewohnt erscheinen lassen (T-I 1), ein Phänomen, das ebenfalls in Bodolz als problematisch gesehen wird (B-I 6), und weil sie sich nicht in das Vereinsleben, den »sozialen Klebstoff« (B-I 7), einbringen. Während die Touristen als Gäste gesehen werden, oszillieren die Zuzügler in ihrer Bewertung durch die Autochthonen zwischen den abstrakten Kategorien des Gastes und des Feindes. Dieses Schwanken ist ein alter kultureller Topos und hat seine Ursache in dem Konflikt der beiden normativen Imperative – Ressourcenknappheit und Reziprozitätsverpflichtung (vgl. Stichweh 1997b: 169). Zum einen sind die Tegernseer nicht gewillt, die Gefährdung des Ortsbildes und der lokalen Gesellschaft durch nicht eingegliederte Zuziehende zu akzeptieren und befürchten einen »Niedergang an Tradition« (T-I 2, auch T-I 9). Zum anderen bestehen 213
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normative Vorstellungen von Gastfreundschaft, die nicht ohne weiteres aufgegeben werden können (T-I 1). Die Probanden in Tegernsee nutzen die strukturell bestimmte Fremdheit der anderen nicht als eine Ressource zur Optionssteigerung des eigenen Handelns, wie im Fall der Großstädter, die viele Fremdkontakte für sich als eine Form der Sicherheit interpretieren, sondern sie akzeptieren sie im Fall der Touristen als einen begleitenden Aspekt der landschaftlichen, »arkadischen« Attraktivität ihres Ortes und ignorieren sie im Fall der störenden fremden Zuzügler (T-I 9). Strukturell bestimmte Fremdheit ist keine Ressource, aber ebenfalls kein als problematisch oder gefährlich wahrgenommener Aspekt für die Gesprächspartner. Mit Bernhard Waldenfels lässt sie sich als eine Form der normalen Fremdheit kennzeichnen, d. h. einer Fremdheit, die innerhalb der jeweiligen Ordnung verbleibt, wie die Touristen oder die Zuzügler, mit denen sich die Autochthonen trotz aller Differenzen auf alltägliche Weise verständigen können (vgl. Waldenfels 1995a: 615). Der landläufige Umgang mit strukturell bestimmten Fremden und die daraus resultierende hohe Frequenz des Fremdkontakts führen im Fallbeispiel von Tegernsee zu einer Ausweitung der Grenzen des Raumes der internen Variationskontingenz (b). Doch im Gegensatz zu den Großstädtern erfolgt keine Inwertsetzung der daraus resultierenden Möglichkeiten, mit Ausnahme der ökonomischen Einnahmen aus der Tourismuswirtschaft. »Ich weiß jetzt net…ich weiß jetzt net, ob mer so den Schluss ziehen kann, des das doch nicht so oft stattfindet oder das i sag, des is bei uns so normal, dass man sich gar nicht drüber wundert. Ich würde eher so sagen. (lacht)… In einem anderen Dorf, wo also kein keine Fremden sich bewegen, da is so etwas natürlich a Sensation, aber bei uns, da brauchst mal nur die Zeitung lesen, da steht jeden Tag der und der war da, der hat da gegessen und der hat da nen Vortrag gehalten oder so was…also des is bei und so normal fast, dass i sag pfft…« (lacht) (T-I 1).
Die unablässige Anwesenheit von Fremden aufgrund des Fremdenverkehrs erweitert so die Grenzen des habituell Fassbaren. Der Proband wundert sich nach eigener Aussage über wenig, was ihm im Ort begegnet. Die Verwunderung ist dabei eine Kategorie, die sich gegen jede Eindämmung und ideologische Vereinnahmung sperrt und dennoch einen unabwendbaren Zwang auf das Individuum ausübt. Sie konstituiert sich in einem Moment des Fehlens von Bedeutungen und geht einher mit dem Auseinanderbrechen eines kontextorientierten Verstehens (vgl. Behrend 2001: 53). Erst die Verwunderung und das Staunen treibt das Verlangen nach Wissen an, wenn zunächst ein unmittelbarer Nutzen die214
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ses Wissens nicht ersichtlich ist (vgl. Matuschek 1991: 10). Das Staunen vergrößert somit indirekt den Rahmen dessen, was habituell zu begreifen ist, indem es zur Akkumulation von Wissen anregt. Im Fallbeispiel Tegernsee führt der omnipräsente Fremdkontakt nicht zu dieser habituellen Weitung. Tegernsee ist in der Wahrnehmung des Gesprächspartners so urban, dass nichts mehr verwundert, d. h. dass alle Ereignisse und Entitäten eine Bedeutung aufweisen. Allerdings treten die Fremdkontakte nicht mit einer Regelmäßigkeit und Intensität auf, die ihre Integration in das alltägliche Handeln erzwingt, wie im Fall der Großstädter. Eine Inwertsetzung unterbleibt. Ein Antwortmotiv im Sinnzusammenhang der Interaktion mit Fremden bleibt nahezu ausschließlich den Großstädtern des Samples vorbehalten – die Enge. Ähnlich wie die Frequenz des Fremdkontakts einen Umschlagpunkt zeigt, nachdem die zunächst ein Sicherheitsgefühl produzierenden Kontakte als gefährlich wahrgenommen werden (M-I 5), erscheint eine zu große soziale Dichte als störend, unangenehm und potenziell gefährlich (M-I 4). Zunächst ist ein Einschnitt in die intime Distanz durch nicht vermeidbare Fremdkontakte, wie z. B. in der U-Bahn, eine Quelle von wahrgenommener Gefahr (M-I 4). Situationen, in denen die Gegenwart des anderen, in der Stadt meist eines Fremden, überdeutlich wird, beruhen auf einer Verletzung der intimen Distanz, die nach Edward Hall bei etwa fünfzehn Zentimeter beginnt. Fremde, die in diesen Raum um den Körper des Menschen herum eindringen, lösen ein Unbehagen aus, aufgrund der von ihnen verursachten Beeinträchtigung der Sinneswahrnehmung (vgl. Hall 1966: 111-112). Die gefühlte Enge, die aus Verletzungen der intimen Distanz resultiert, erscheint den Großstädtern als bedrohlich. Der entscheidende Faktor neben dem reinen ungewollten körperlichen Kontakt ist dabei der Geruch der anderen. Der in besonders engen Situationen, beispielsweise einer U-Bahnfahrt zur Rushhour, wahrnehmbare Odeur erzwingt eine habituelle Verarbeitung, da die Bedeutung des Geruchs durch das Verhältnis von dessen Wahrnehmung im Sinnzusammenhang weiterer Aspekte der Geruchssituation definiert wird (vgl. Guttantin 1994: 56). Die Enge der Situation in Verbindung mit der Geruchsbelastung und der Verletzung der intimen Distanz hat zusammengenommen eine Interpretation dieses Kontextes als gefährlich oder bedrohlich zur Folge (M-I 4, M-I 5; M-I 11). Die positive Interpretation von Fremdkontakten als Handlungsoptionen bedarf demnach bestimmter räumlicher Anordnungen, die bestimmten Ansprüchen genügen müssen. Ist die Distanz zwischen den Fremden zu gering, interpretieren die Urbaniten diese Situation als gefährlich. »... weil mich das...diese, diese Enge, diese Nähe, dieses auch das Gefühl in der
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Münchner U-Bahn, hier klaut mir gleich jemand was außem Rucksack, alles an sich raffen...« (M-I 4). Die Wechselbeziehung der beiden anthropologischen Konstanten Fremdheit und Freiheit bedarf zur ihrer Wahrnehmung einer gewissen sozialen Umwelt. Nur wenn die Kontakthäufigkeit in einem bestimmten Bereich liegt und ein Mindestabstand zwischen den Körpern eingehalten wird, interpretieren die Großstädter diese Kontakte als ein Zugewinn an Freiheit und dehnen somit die Grenzen des habituell Bewältigbaren aus. Die interne Variationskontingenz (b) erscheint so empirisch abhängig von Häufigkeit und Wahrnehmung der Fremdkontakte. Die hohe physische Dichte, die von den Großstädtern als potenziell gefährlich betrachtet wird, wenn sie einen virtuellen Schwellenwert, z. B. in der U-Bahn überschreitet (M-I 4; M-I 5; M-I 10; M-I 11), ist den Gesprächspartnern im »arkadischen« nicht-städtischen Raum unbekannt. Hier ist vor allem die soziale Dichte in Form von sozialer Kontrolle problematisch. Die Unmöglichkeit, Handlungen unbeobachtet oder anonym ausführen zu können, ist ein besonderes Problem des Lebens in einer sozialen Umwelt von Autochthonen. »Na na ..dieses klein klein ...und jeder kennt jeden ...und jeder woas was der andere fürn Schicksal hat und was er für Unterwäsche trägt und was er im Korb hat und was er einkauft. ...Das war furchtbar ...Und es war wirklich noch richtig ländlich hier. ...Des hat mich eigentlich gar nicht so abgeschreckt, aber ich war halt a Großstadtmädchen. ...Ich kam aus der Großstadt« (T-I 3).
Bezogen auf die Wahrnehmung von Ereignissen als Risiko oder Gefahr zeigt das obige Zitat, dass in der Wahrnehmung der Probandin in Tegernsee kein Raum mehr für Überraschendes, Ungewöhnliches oder Riskantes bleibt. Bedrohungen können in einem Klima, in dem jeder weiß, was der andere »für Unterwäsche trägt« (T-I 3), nur von außen als Gefahr an die soziale Ordnung herantreten. Tegernsee ist in den Augen der Probanden sicher (T-I 1). Mögliche Gefahren bilden Einbrüche, die von Fremden begangen werden, und Schlägereien auf Dorffesten, die meist übermäßigem Alkoholkonsum geschuldet sind. Andere Gefahrenmotive tauchen in den Antworten der Gesprächspartner nicht auf. Erfolgt einmal ein massiver Einbruch von Bedrohung in den als sicher apostrophierten Bereich der alltäglichen Lebenswelt, hat dies deutliche und zum Teil dauerhafte Folgen für die Einschätzung von Gefahren und Risiken. Eine solche Irritation, hervorgerufen durch ein völlig unerwartetes und nicht dem Kontingenzraum (b) zu zuordnendes Ereignis, erschüttert die habituell geordnete Lebenswelt und führt mitunter zu somatischen Störungen (B-I 8). Als Beispiel für den Einbruch einer sol216
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chen habituell nicht mehr zu begreifenden Gefahr in den Kontingenzraum (b) kann ein Überfall dienen, den ein Nachbar auf eine Probandin verübte. Die Situation benennt die in der Wahrnehmung der Probanden unvorstellbare Devianz in der nächsten Umgebung. Diese Form des Einbruchs der Gefahr ist für die Gesprächspartner im nicht-städtischen Raum absolut unbegreiflich. In diesem Fall transformiert sich das als beherrschbar gesehene Risiko des Offenlassens der Terrassentür (B-I 7) in die unberechenbare Gefahr durch den Angriff eines Fremden, der in diesem Fall der nicht näher bekannte Nachbar war. Die Unvorhersehbarkeit gründet auf den ländlichen, »arkadischen« Kontext, der als »Idylle« (B-I 8) interpretiert wird, in der solche Formen abweichenden Verhaltens unvorstellbar sind. »Ein normaler Mensch, ein Großstädter rechnet mit irgendeinem Überfall oder so was, aber auffem Land rechnet man nicht damit. Da isch man unbedarft. Seit dem mach ich da zu, wenn ich nach oben geh in das obere Stockwerk (lacht)« (B-I 8). In diesem Zitat verdeutlicht sich die Lage der Kontingenzräume (a; b). Nach Jean Clam nimmt die Kontingenz bezogen auf das Handeln und Entscheiden unmittelbar räumliche Teilungen vor, um sich selbst eigene Freiräume zu schaffen. Das Auftreten von nicht zu erkennender und zu erwartender Variation und die Vielfältigkeit an Möglichkeiten innerhalb erwartbarer Ereignisse spannen so je eigene Kontingenzräume auf, die sich wechselseitig überlagern (vgl. Clam 2004: 20-24). Die Probandin sieht ein Ereignis in der Großstadt als erwartbar an, d. h. in einem Raum zu realisierender Möglichkeiten, das an ihrem Wohnort bis zu seinem Eintreten völlig unrealistisch und abwegig erschien. Der Angriff des unbekannten Nachbarn drang folglich in der Wahrnehmung der Probandin von außen in den internen Kontingenzraum (b) ein. Aufenthalte oder Bewegungen in der Stadt führen in ihrer Vorstellung als Begleitrisiko immer den Angriff eines Fremden mit. Die Grenzen des Kontingenzraumes sind folglich ausgeweitet. Tatsächlich ist in Städten ein solches Ereignis selten, allerdings häufiger als im ländlichen oder nichtstädtischen Raum (vgl. Merry 1981). Die Grenze dessen, was erwartbar ist, definiert wiederum der Habitus, der unter spezifischen sozialen und räumlichen Bedingungen erworben wurde (vgl. Bourdieu 1987a: 167). Die Probandin sieht den Angriff bei sich zu Hause als Gefahr an, hätte ihn aber in einer Großstadt erwartet und somit den Aufenthalt dort als ein Risiko betrachtet. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses übersteigt die habituelle Grenze der Gesprächspartnerin und führt nachfolgend zu ihrer somatischen Erkrankung (B-I 7; B-I 8). Dasselbe Ereignis in der Stadt hätte unter Umständen keine körperlichen Schäden nach sich gezogen, da ihr Habitus auf die Situation hätte reagieren können. Die Begebenheit wird somit als unbeherrschbarer Gewaltakt, der von außen 217
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eintritt, interpretiert und nicht als eine Begleiterscheinung des eigenen Handelns und Entscheidens. Die Existenz des Fremden ist ein starkes Motiv in der Wahrnehmung der Probanden. Sowohl die Gesprächspartner im »arkadischen« Raum als auch die Großstädter sind gezwungen, mit Formen von Fremdheit umzugehen. Umso erstaunlicher ist, dass die Alterität der anderen in den Antworten keine so herausgehobene Rolle spielt. Die Unterschiede der Menschen gehen nicht auf den Zwang zur Unterscheidbarkeit zurück, den noch Georg Simmel als ein nicht weiter ableitbares Verhalten oder einen Urtrieb zu erkennen glaubte (vgl. 2000: 299-300). Vielmehr bemängeln die Probanden im ländlichen Raum eine Ähnlichkeit in der Erscheinung zwischen den Bewohnern ihres Ortes, die sie fast nicht mehr unterscheidungsfähig macht. Der Drang zur Distinktion führt zwangsläufig ebenfalls im nicht-städtischen Raum zu dem Effekt einer Paradoxie der Mode (vgl. Esposito 2004), den Bernhard Waldenfels in der Prinzipwerdung der Überraschung erkennt (vgl. 1998: 254). Da sämtliche Akteure versuchen, »mit der Mode zu gehen« bzw. über ihr Aussehen zu einer Form der Distinktion zu gelangen, stellt sich unweigerlich der Effekt ein, dass der eine dem anderen gleicht. Der Individualismus mündet in einem »Perpetuum Mobile des symbolischen Übertreffens und Überbietens« (Bourdieu 2005: 175), das zugleich ein Antrieb des kulturellen Lebens ist. Diese Distinktionsbemühungen erreichen dennoch nur ihr Gegenteil (T-I 3). »Schauns alle gleich aus. Was aber früher hats da a ganze Menge Typen geben, die eben ihre Abende im Braustüberl verbracht haben und net vorm Fernseher. Die ham also noch ihre eigene Welt dabei gehabt. Die sterben jetzt aus, die werden jetzt immer weniger« (T-I 2). Das Empfinden von Individualität hat sich dahingehend gewandelt, dass nur nicht-modisches als originell betrachtet wird (T-I 9). Die Probanden schreiben den »Typen« oder »Originalen« (T-I 3) von früher retrospektiv diese Eigenschaft zu. Die heutigen Bewohner sind dagegen kaum mehr zu unterscheiden. Selbst starke Formen von Individualismus oder normativer Abweichung wie Transsexualität oder die Zugehörigkeit zu eher großstädtischen Subkulturen werden lediglich verzeichnet, nicht aber in irgendeiner Form weiter bearbeitet. »Da hat einmal der eine da unten gewohnt, der war etwas eigenartig. Der isch nen Mann, der läuft als Frau rum. Weischt der mit de lange schwarze Haar, (…) der Amrasch, der wohnte da unten. Der war etwas anders wie die Einheimischen, aber der isch wieder weggezogen« (B-I 8). Diese Formen des Individualismus provozieren lediglich Reaktionen wie ein Lächeln (B-I 6), nicht aber dieselben Abwehrreaktionen, wie der Kontakt mit dem Fremden. Das Lächeln tritt der geringen Dissonanz in 218
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der Interaktionsbeziehung entgegen, verkleinert sie zugleich und macht sie kongruent bei einer gleichzeitigen Zurückstellung der eigenen Meinung (vgl. Rittner 1986: 330-331). Das Lächeln ist eine kulturgeschichtlich alte Institution der »minimalen Akzeptation des Anderen« (Stichweh 2003a: 108). Die Alltäglichkeit der sich im Beispiel des transsexuellen Bewohners ausdrückenden Alterität erweitert zwar deutlich den Kontingenzraum (b), da Formen sexueller Normabweichungen in den Raum des Habituellen wechseln. Die Alltäglichkeit erzwingt aber gerade keine Reaktionen, wie z. B. Meidungsstrategien, sondern ihre Beantwortung verbleibt im Rahmen von gewöhnlichen Interaktionsformen. Zusammenfassend zeigen sich Unterschiede zwischen den Großstädtern und den Bewohnern im »arkadischen« nicht-städtischen Raum bezüglich der Interaktion mit dem Fremden. Keine Unterschiede sind hingegen im Fall der zweiten urbanitätsaufspannenden Kategorie der subjektiv bewussten Individualisierung zu erkennen. Die Städter gebrauchen unter bestimmten Bedingungen den episodischen Fremdkontakt zur Ausweitung ihrer Handlungsoptionen. In bestimmten Räumen der Stadt, die nicht aufgrund der angenommenen Sozialstruktur ihrer Bevölkerung als a priori gefährlich betrachtet werden, nutzen die Gesprächspartner bestimmte Frequenzen von Fremdkontakten, die als einzige Bedingung ihrer Inwertsetzung die intime Distanz nicht verletzen dürfen. Solcherart Kontakte erweitern den Raum der internen Variationskontingenz (b), da sie die Potenzialität der in urbanen Räumen häufigeren Fremdkontakte tatsächlich zu einer Ausweitung der eigenen habituellen Muster und Handlungsoptionen nutzen. Im Gegensatz dazu ist die bedeutendste Form des Umgangs mit Fremden und Fremdkontakten im ländlichen Raum die Distinktion. Fremde erfahren eine Einteilung in die Kategorien »Touristen«, nach Georg Simmel die Fremden, die heute kommen und morgen gehen, und »Zuzügler«, d. h. in simmelscher Terminologie, die Fremden, die heute kommen und morgen bleiben. Die bleibende Anwesenheit dieser beiden Subgruppen von Fremden führt dazu, dass den Gesprächspartnern »nichts fremd« erscheint oder sie verwundern kann. Der Unterschied zu den Großstädtern beruht auf der Tatsache, dass sie diese Fremden nicht für eine Ausweitung der eigenen habituellen Grenzen instrumentalisieren. Die Zuzügler entsprechen vielmehr der Figur des störenden Fremden (vgl. statt vieler: Greifer 1945: 740), die Touristen versprechen dagegen ökonomischen Gewinn. Der zweite kontingenzausweitende Aspekt der Urbanität ist die subjektiv bewusste Individualisierung aufgrund der Alterität des Anderen. Die Antworten lassen hier keine Unterschiede zwischen den Subgruppen des Samples erkennen. Die Alterität der anderen nimmt die Form einer Prinzipwerdung der Überraschung (vgl. Waldenfels 1998: 254) an und 219
URBANITÄT ALS HABITUS
vermag nicht zu irritieren oder zu beängstigen. Selbst ausgeprägte Formen des Individualismus, wie sie beispielsweise eine transsexuelle Erscheinung in der Öffentlichkeit darstellt, verursachen keine Meidungsstrategien, sofern diese Individuen nicht selbst auf solche zugreifen (B-I 6). Der Einbezug der subjektiv bewussten Individualisierung in die habituellen Grenzen des Erwartbaren erfolgt in beiden Untergruppen. Die Großstadt ist anders als in der Literatur vielfach angemerkt (vgl. Beck 1986: 138) nicht (mehr) der exklusive Ort stärkster subjektiv bewusster Individualisierung und Individualität. So bleibt als einziger Unterschied der Kontingenzbewältigung ein struktureller. Die Großstädter sind in der Lage, die auftretende hohe Frequenz der Fremdkontakte in der Stadt zu einer teilweisen Ausweitung der eigenen Handlungsoptionen zu nutzen. Dies ist allerdings an besondere Bedingungen geknüpft, wie die Häufigkeit der Kontakte, die körperliche Nähe der Kontakte und die Stadtteile, in denen diese Kontakte sich vollziehen. Diese hohe Kontaktfrequenz tritt im »arkadischen« nicht-städtischen Raum nicht auf, eine vergleichbare Ausweitung des Kontingenzraumes (b) unterbleibt somit. Bestimmte Ereignisse wie der Angriff eines Fremden sind für die Gesprächspartner hier unvorstellbar. Treten sie dennoch ein, führen sie zu einer massiven Irritation bis hin zu körperlichen Erkrankungen (B-I 7, B-I 8). Die Großstädter beziehen ein solches Ereignis in ihre Handlungen mit ein. Sie sehen Fremde als eine potenzielle Gefahr und rechnen mit Formen der Devianz wie Diebstahl oder körperlichen Übergriffen. Genau in diesem unterschiedlichen Einbezug der strukturell bestimmten Fremdheit besteht die Differenz im Hinblick auf die Lage der zwei Kontingenzräume (a, b) zueinander. Die Großstädter betrachten bestimmte Fremdkontakte als riskant oder unter Umständen als lohnend, etwa im Zusammenhang mit der Bewegung zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Räumen. Sie sind so in der Lage, ihre Handlungsspielräume zeitlich und räumlich auszudehnen. Die Probanden im nicht-städtischen Raum zeigen dieses Verhalten nicht, sondern sehen mehr Kontakte als ausschließlich gefährlich an. Die Variationskontingenz (b) ist damit, wie theoretisch hergeleitet, in städtischen Räumen größer. Der Unterschied ist allerdings ausschließlich der unterschiedlichen Bearbeitung des Fremdkontakts geschuldet. Die subjektiv bewusste Individualisierung vermag keine Verschiedenheit zwischen den Untergruppen aufzuzeigen. Individualismus ist ein genuin gesamtgesellschaftliches Phänomen.
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DIE URBANISIERUNG IM SÜDLICHEN BAYERN
Das residenzielle Kapital Die Analyse der habituellen Urbanität als Bewertungsmaßstab des Urbanisierungsgrades der nicht-städtischen Räume ist ohne den Referenzpunkt des residenziellen Kapitals nicht möglich. Habituelle Urbanität ist eine Veränderung des Hysteresiseffektes des Habitus, der dessen Trägheit, zum Beispiel in Bezug auf die Unfähigkeit von Individuen, auf plötzlich eintretende Veränderungen der sozialen Umwelt zu reagieren, bezeichnet. Die Hysteresis ist der Grund für die häufige Diskrepanz zwischen den sich einem Individuum bietenden Potenzialitäten und der sich realisierenden und vollziehenden Praxis (vgl. Bourdieu 1987a: 111). Residenzielles Kapital ist eine besondere Form des symbolischen Kapitals, das sich durch die legitime Besetzung eines Ortes bzw. einer Stelle im angeeigneten physischen Raum erwerben lässt. Bourdieu entwickelt einen Begriff der Besetzung, der ein affektives Engagement und eine materielle Investition in einem Konzept vereint (vgl. 1989: 399). Nur wer gerichtetes, affektives und materielles Interesse zeigt, ist in der Lage, einen Ort im reifizierten Sozialraum legitim, d. h. seiner sozialen Position entsprechend, zu besetzen. Der Begriff Investition umgreift zudem sowohl ökonomische als auch sozialpsychologische Aspekte, d. h. den affektiven Einsatz mentaler Ressourcen (vgl. Bourdieu 1992a: 67). Dem residenziellen Kapital korrespondiert vergleichbar mit dem symbolischen Kapital kein Feld, sondern es ist in sämtlichen Feldern des sozialen Raums einheitlich wirksam. Seine performative Kraft beruht auf Erkennen und Anerkennen, das Basistheorem der bourdieuschen Theorie der symbolischen Gewalt (vgl. Bourdieu 2005: 8). Bedeutsam für die Bildung residenziellen Kapitals ist das »vor Ort« akkumulierte Sozialkapital sowohl in Form von »bonding social capital«, d. h. den nach innen weisenden Netzwerkbeziehungen, als auch als »bridging social capital«, d. h. den nach außen weisenden Kontakten, die wiederum die Verbindungen zu auswärtigen Netzwerken herstellen. Ferner umfasst residenzielles Kapital ebenfalls das sprachliche Kapital eines Akteurs und somit seine Fähigkeit zur Akzeptabilität, d. h. sein Vermögen, eine Übereinstimmung zwischen dem ihm eigenen Wortschatz sowohl in Bezug auf dessen sprachimmanenten Regeln als auch mit den unterschwelligen Regeln des sprachlichen Marktes, d. h. der Interaktionssituation mit einem sozial positionierten Interaktionspartner, herzustellen (vgl. Bourdieu 1993a: 117). Sprachliches Kapital ist folglich eine Unterkategorie des inkorporierten kulturellen Kapitals. Das residenzielle Kapital weist mithin eine binäre Struktur auf. Es ist zugleich eine Disposition des Habitus, somit inkorporiert, und zusätzlich die Summe der sozial bedeutsamen Beziehungen, die ein Akteur aufgrund 221
URBANITÄT ALS HABITUS
seiner Verortung im angeeigneten physischen Raum knüpfen kann. Residenzielles Kapital ist eine klassenübergreifende Form des symbolischen Kapitals, das sich ausdrücklich auf die Lokalisierung im angeeigneten physischen Raum bezieht. Das an als urban beobachtbaren Orten angehäufte residenzielle Kapital verleiht einem Akteur letztlich die kulturelle Kompetenz des produktiven Umgangs mit Urbanität. Residenzielles Kapital verengt die Kluft zwischen den möglicherweise zu realisierenden Gelegenheiten und den Dispositionen (vgl. Bourdieu 1987a: 111) und modifiziert auf diese Weise den Hysteresiseffekt des Habitus. Das sprachliche Kapital stellt sich als eine Form des Zugangs zu den Interaktionsnetzwerken im nicht-städtischen Raum dar. Die Notwendigkeit der Beherrschung des örtlichen Dialekts, um in der örtlichen Gemeinschaft akzeptiert zu werden, verleiht ihm seine Bedeutung. Erst der richtige Gebrauch des vor Ort gepflegten Dialekts eröffnet die Möglichkeit der Akkumulation von weiteren Kapitalien. Vor allem im Zusammenhang mit dem Erwerb von sozialem Kapital im Ort selbst ist das Beherrschen des »richtigen« Dialekts wesentlich (T-I 3). Dieser Zusammenhang von einem sozial erwünschten Gebrauch eines lokalen Dialekts und der Eingliederung in vor Ort bestehende soziale Netzwerke ist in der Linguistik und linguistisch ausgerichteten Sozialwissenschaft nur unzureichend empirisch erforscht (vgl. Haeri 1997: 799). Bestimmte Hinweise deuten jedoch daraufhin, dass selbst minimale phonetische Variationen der lokalen Aussprache als eine deutliche Distinktion zwischen sozialen Klassen auftreten können und so soziale Distanzen und Grenzen verdeutlichen. Eine empirische Studie über die städtische Oberklasse in Philadelphia zeigt, wie die Angehörigen dieser gehobenen sozialen Schicht den lokalen Dialekt beherrschen, jedoch über minimale phonetische Veränderungen ihre Distanz zu den sozialen Positionen der anderen Klassen ausdrücken und so Distinktionsgewinne erzielen, indem sie in jedem Sprechakt die Differenz zur auf dem sprachlichen Markt »wertvolleren« Hochsprache herausstellen und symbolisch verstärken (vgl. Kroch 1996: 30-42). Demgegenüber dient die Beherrschung des lokalen Dialekts in Abgrenzung zur Hochsprache in Tegernsee erst als ein Zugang zu ressourcenbereitstellenden Netzwerken. Die symbolische Abgrenzung zu den Sprechern der Hochsprache ist folglich nötig, um in die dörfliche Gemeinschaft eingegliedert und akzeptiert zu werden. »Da bin ich jeden Tag zum Bauern gegangen mit ner Milchkanne in der Hand und hab nen halben Liter oder nen Liter Milch geholt und die hab i jeden Abend in ihrem besten Hochdeutsch zu mir gesagt: Was bekommen Sie? Und dann hab ich brav gesagt: Einen Liter Milch, äh oh fünfzig Pfennig oder wat des kostet …hab ich da hingelegt und bin wieder abmarschiert. ...Jeden Tag.. 222
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und ich war immer: Und was bekommen Sie? Und irgendwann hat dann mal, nach so anderthalb oder zwei Jahren, so zu mir gesagt: Was kriegsten (Dialekt)? …da war ich angekommen….da war ich angekommen…so war des…« (T-I 3).
Das Angesprochenwerden in dem lokalen Dialekt signalisiert der Gesprächspartnerin, dass sie von nun an als Bürgerin von Tegernsee unter den Autochthonen akzeptiert ist. Diese Form der Akzeptanz bezieht ihre Notwendigkeit in diesem Fall aus der Tatsache, dass die Probandin erst in den 1960er Jahren nach Tegernsee gezogen ist, insofern nicht auf die wertvollsten Sozialkapitalbeziehungen vor Ort zurückgreifen kann, d. h. auf »jene ganz besonderen Verbindungen, die sich aus Freundschaften im Kindes- und Jugendalter entwickeln« (Bourdieu 1997b: 165). Ein Beispiel für eine solche von Bourdieu avisierte Verbindung ist die Autorengemeinschaft, die das Journal »Tegernseer Tal. Zeitschrift für Kultur, Landschaft, Geschichte, Volkstum« publiziert (vgl. Abbildung 2). Das Magazin beschäftigt sich mit kulturellen Themen im weitesten Sinne, die aus der Region des Tegernseer Tals stammen. Die ehrenamtlichen Autoren und Mitarbeiter kennen sich zum Großteil seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Tegernsee. »Und i hab a sehr guaten Zeichner, a Freund von mir, der is a mit mir, der is zehn Jahr jünger wie i, aber wir waren auffm selben Gymnasium, und wir arbeiten seit 35 Jahren beim Tegernseer Tal Heft. I mach die Gschichten und er macht die Zeichnungen. Seit 35 Jahr« (T-I 2). Hier zeigt sich das residenzielle Kapital, da u. a. die Sozialkapitalbeziehungen aus dem Kindesalter den Akteuren aufgrund des langen ehrenamtlichen Engagements in der Herausgabe des Heftes symbolisches Kapital verleihen. Die Erstellung des Heimatmagazins stellt ein affektives Engagement und zugleich eine materielle Investitionen dar, da die beteiligten Akteure viel Zeit darauf verwenden, Investoren und Anzeigenkunden zu gewinnen, sowie die z. T. aufwendig recherchierten Texte zu erarbeiten. Die Herausgeber der Zeitschrift investieren folglich im bourdieuschen Verständnis des Begriffs, d. h. sie setzten neben ökonomischen ebenfalls inkorporiertes kulturelles Kapital, ihre Disposition, ein (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 150). Unter der Bedingung des Einsatzes von sozialen, ökonomischen und kulturellem Kapital können die Akteure anschließend das symbolische Kapital ansammeln, das die Herausgabe des Magazins ihnen verleiht. Die aus Tegernsee stammenden Mitarbeiter des Heftes greifen somit zunächst auf ihr verbindendes Sozialkapital sowie ihr inkorporiertes kulturelles und vor allem sprachliches Kapital zurück, generieren aber zugleich überbrückende Sozialkapitalbeziehungen, durch den Kontakt mit Anzeigenkunden, Interviewpart223
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nern und Vertreibern des Heftes. Somit stellt die Mitarbeit am Tegernseer Tal Heft und seine Herausgabe einen Mechanismus zur Gewinnung von residenziellem Kapital dar. Abbildung zwei verdeutlicht den aufwendigen Charakter des Magazins. Abbildung 2: Tegernseer Tal Heft 141 (1/2005). Kriegsende im Tegernseer Tal
Quelle: Tegernseer Tal Verlag GmbH Über den Einsatz und die Anhäufung der verschiedenen Formen des sozialen Kapitals hinaus setzen die Akteure ihre Fähigkeit zur Akzeptabilität ein (vgl. Bourdieu 1993a: 117), indem sie die sprachimmanenten Regeln mit den unterschwelligen Bestimmungen des sprachlichen Marktes, 224
DIE URBANISIERUNG IM SÜDLICHEN BAYERN
d. h. im Fall der Magazinherstellung der von den möglichen Lesern erwarteten Sprache, synchronisieren. Im Fall der Autorengemeinschaft übersetzt sich das dispositive kulturelle Kapital in Verbindung mit dem sozialen Kapital der Verbindungen und Freundschaften, die z. T. aus dem Jugendalter stammen, über den Akt der Herstellung der Heimatzeitschrift in symbolisches Kapital respektive residenzielles Kapital, da sämtliche legitimen Bewohner Tegernsees die Herausgeber kategorisch oder persönlich kennen (vgl. Lofland 1973: 15-17) (T-I 2). Die Teilnahme an der Veröffentlichung sichert so das gemeinschaftlich erzeugte, symbolische Kapital. Vor allem eine solche Kombination von verschiedenen Kapitalien ist empirisch bedeutsam, wie Studien zum kulturellen Kapital zu belegen scheinen. Bourdieus Arbeiten zum kulturellen Kapital sind von verschiedenen Autoren mit unterschiedlichsten Datensätzen empirisch überprüft worden. Die Ergebnisse zeigen dabei kein einheitliches Muster. So kommt Paul DiMaggio für die Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis, dass kulturelles Kapital weniger stark an den elterlichen Bildungshintergrund gebunden ist, als dies in der Theorie von Bourdieu angelegt ist und als es aktuelle Diskussionen über Klassen und Kultur in den USA nahe legen (vgl. DiMaggio 1982: 199). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Paul Kingston, der in seiner Studie das kulturelle Kapital zwar als exklusive klassenrelative Disposition konzipiert, es aber nicht als ursächlich für die Beziehung von gehobener Position im sozialen Raum und akademischem Erfolg ansieht. Vielmehr seien zu viele konzeptionell unterschiedliche Variablen an das bourdieusche Konzept angehängt, die sein ursprüngliches Ziel, die Erklärung der Reproduktion der Klassenstruktur aufgrund unterschiedlicher Bildungschancen, zunehmend verwässern (vgl. Kingston 2001: 88). Im Zusammenhang mit der Lebensstilforschung arbeitet Andreas Gebesmair die theoretische Bedeutung der bourdieuschen Kapitaltheorie angesichts verschwimmender Milieu- und Klassengrenzen für die empirische Analyse sozialer Ungleichheit heraus. Kulturelles Kapital konzipiert als Lebensstil leiste nach wie vor einen ausnehmenden Beitrag zur empirischen Erklärung des Statuserwerbsprozesses. Andreas Gebesmair erweitert Bourdieus Kulturkapitaltheorie um den Aspekt der Interaktionsressource. 87 Seine statistischen 87 Bourdieu hat ebenfalls die besondere Bedeutung von kulturellem Kapital im Zusammenhang mit der Beherrschung einer Sprache und ihrem Einsatz als Ressource in Interaktionssituationen gesehen. »Das sprachliche Kapital ist die Macht über die Mechanismen der Preisbildung für sprachliche Produkte, die Macht, die Preisbildungsgesetze zum eigenen Profit ausschlagen zu lassen und den spezifischen Mehrwert abzuschöpfen. Jeder Interaktionsakt, jede sprachliche Kommunikation, selbst zwischen nur zwei Per225
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Analysen zeigen in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland eine Entwicklung des kulturellen Kapitals hin zu dieser Form von sprachlichem Kapital und eine gleichzeitige deutliche Abschwächung des ursprünglichen Charakters als Distinktionsmerkmal (vgl. Gebesmair 2004: 181-198). Bourdieus theoretische Annahmen zum Einfluss des Bildungskapitals der Eltern auf den Schulerfolg und die Art der besuchten Schule der Kinder bestätigt die Arbeit von Claudia Beckert-Ziegelschmidt und Jörg Rössel. Der Zugang zu ausgewählten Bildungsinstitutionen und ein Reüssieren in diesen ist in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor auf bestimmte soziale Gruppen beschränkt (vgl. Beckert-Ziegelschmidt/Rössel 2002: 510-511). Die Akkumulierung von residenziellem Kapital in Tegernsee verlangt über der einfachen Situierung im Ort hinaus Zeit. Die legitimen Bewohner des Ortes kennzeichnet eine affektive Bindung an den Ort selbst, die sich erst über eine lange Zeitspanne entwickelt. Meist umfasst sie das gesamte bisherige Leben (T-I 1; T-I 2) oder zumindest den Großteil des bisherigen Lebens (T-I 3). Diese affektive Bindung an den angeeigneten physischen Raum verdeutlicht sich in den Reaktionen, die der Verlust des Kreiskrankenhauses in Tegernsee bei den Gesprächspartnern auslöst. Das Krankenhaus war ein zentraler Punkt im Ort, der nahezu sämtliche individuellen Biografien der alteingesessenen Bürger in irgendeiner Form berührte. »Da stand des Krankenhaus in Tegernsee. Tegernsee hatte ein Kreiskrankenhaus, das hat dem Landkreis gehört, und des is in Tegernsee halt entstanden vor über hundert Jahren, und das is halt immer vergrößert worden (...). So jetzt is der riesen Komplex dagestanden, fufzehnmal umgebaut, keine Schönheit ja. Aber es war unser Krankenhaus, ne. Ich bin da drin auf die Welt gekomme, meine Kinder sind da drin auf die Welt gekomme, wenn man krank war, war man da oben, mein Vater is da oben gestorben. Des war unser Krankenhaus. So des is jetzt weg, Identität verloren« (T-I 1).
Diese Idealisierung des Abwesenden, die sich in der Antwort des Gesprächspartners zu erkennen gibt, verdeutlicht die affektive Beziehung zum angeeigneten physischen Raum. Der Proband zeigt hier ein Interesse und einen Einsatz mentaler Ressourcen, die durchaus systematisch und zweckgerichtet auf die legitime habituelle Besetzung des Ortes im reifizierten Sozialraum zielen (vgl. Bourdieu 1987a: 122). Er verdeutlicht dies, indem er aufzeigt, dass er ein legitimes Interesse am Erhalt sonen, zwei Freunden, einem Jungen und seiner Freundin – alle sprachlichen Interaktionen sind gewissermaßen Mikro-Märkte, die immer von den globalen Strukturen beherrscht bleiben« (Bourdieu 1993a: 118). 226
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des Kreiskrankenhauses besitzt. Eine ähnliche Äußerung findet sich ebenfalls bei anderen Gesprächspartnern in Tegernsee. Die Soziologie erklärt diese Idealisierung des Nichterreichbaren mit der Neigung des Individuums zur Sicherung einer von seinem Standpunkt aus betrachteten bestmöglicher Lebensqualität und nicht mit Bourdieu als Voraussetzung der Ansammlung von Kapital. »The idealization of the absent serves one significant purpose. It keeps before the individual the optimum of lifeconditions« (Gregory 1944: 54). Zu erklären ist dieses theoretisch formulierte normative Festhalten an Vergangenen und Nichtwiederkehrbaren aus der Entstehung der These. Edgar Gregory entwickelte sie mit Bezug auf amerikanische Soldaten, die im Pazifischen Raum während des zweiten Weltkriegs ihren Dienst taten. Diese zeigten im Einsatz eine Idealisierung des Familienlebens, im Fronturlaub jedoch eine Idealisierung des Soldatenlebens (vgl. Gregory 1944: 53). Im Fall des Tegernseer Krankenhauses dient diese Idealisierung des alten und investitionsbedürftigen Hospitals der Versicherung einer affektiven Beziehung mit dem Wohnort, was eine Voraussetzung zur Anhäufung von sozialem und symbolischem Kapital im Ort darstellt. Die Großstädter des Samples zeigen nicht diese affektive Verbundenheit mit besonderen Orten im angeeigneten physischen Raum. Der Wohnort wird stärker nach dem Moment des ihm immanenten symbolischen Kapitals beurteilt (M-I 10; M-I 11). Die entscheidende Eigenschaft ist das symbolische Kapital, das der Wohnort zu vergeben hat oder das der Wohnort seinem Bewohner verleiht. Dieser Klub-Effekt (vgl. Bourdieu 1991: 32) ist mithin das wichtigste Kriterium in der Wohnortwahl. Eine affektive, über den Klub-Effekt hinausweisende Besetzung des Ortes wie im Fall der Tegernseer Probanden unterbleibt. »Ja also im Glockenbachviertel würd ich gerne wohnen, da …das kannst du vergessen, also weil ohne Beziehungen kriegst du da keine Wohnung. Glockenbachviertel, Dreimühlenviertel das is so innenstadtnäher noch, also zwischen Isar und und Sendlinger Tor, also so kann man so schwer also ist eigentlich so auch nen bisschen son Ausgehvierteln, ein junges Viertel und nen Weggehviertel« (M-I 5).
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Abbildung 3: Fotografien aus Bodolz, Tegernsee und München
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Das Viertel, in dem die Probandin zum Zeitpunkt des Interviews wohnt, bezeichnet sie selbst als »Kompromiss« (M-I 5). Die Adresse im eigenen Viertel verleiht nicht ausreichend symbolisches Kapital, als dass eine affektive Besetzung des momentan besetzten Ortes im angeeigneten physischen Raum erfolgt. Konsequenterweise äußert die Gesprächspartnerin den Wunsch, in ein Viertel umzuziehen, das dieses symbolische Kapital verleiht. Die genannten Stadtteile von München, die die Probandin zum Wohnen bevorzugt, gelten weithin als »Szeneviertel«. In ihnen konzentrieren sich subkulturelle Institutionen und Einrichtungen, wie z. B. Konzertsäle, Kneipen, Clubs, Vereine usw. und es finden die szenespezifischen Ereignisse oder Events statt (vgl. Freudenburg et al. 2000: 812), mit deren Hilfe die Szene sich ihrer selbst vergewissert und konstituiert. Die Zugehörigkeit zu einer räumlich konzentrierten subkulturellen Szene ist dabei nicht unabhängig von der sozialen Klasse. Die Szene oder Subkultur verlangt nach besonderen Dispositionen, die sich z. B. durch die soziale Position und einhergehend angehäuftem kulturellen Kapital ausdrücken. Das erworbene Bildungskapital ermöglicht so eine Anpassung an die jeweils vorherrschenden subkulturellen Trends, deren Befolgung wiederum symbolisches Kapital verleiht. Dieses Renommee ist anschließend in soziales oder ökonomisches Kapital zu konvertieren. Randal Doane skizziert diesen Sachverhalt beispielhaft anhand der New Yorker Swingtanzszene. Mitglieder der in den 1980er Jahren populären Hardcore/Punk-Szene wechselten demnach Ende der 1990er Jahre in die Swingtanzszene und hatten keine Probleme, sich den hier verlangten kulturellen Codes anzupassen. Ihre erworbenen Dispositionen ermöglichen es ihnen, ebenfalls in der von Hardcore/Punk völlig verschiedenen sozialen Umwelt der Swingtanzakteure zu interagieren und so symbolisches Kapital zu gewinnen. Die Ex-Hardcorer sind ferner in der Lage, Kontakte zu knüpfen und die Potenzialitäten dieser neuen Sozialkapitalbeziehungen zu ökonomisieren, beispielsweise durch innerhalb der Szene vergebene Aufträge, z. B. an Mitarbeiter von Werbeagenturen oder Consultingfirmen. Ihre kulturellen Dispositionen erlauben ihnen folglich problemlos, aus der einen Subkultur in eine andere zu wechseln und dabei nur eine geringe Ungleichmäßigkeit zwischen den sich auf diese Weise ergebenden Möglichkeiten und der eigenen habituellen Befähigung entstehen zu lassen (vgl. Doane 2006). Die Fähigkeit zur Anpassung an die verschiedenen kulturellen Codes zwischen den verschiedenen Szenen ist gekoppelt an das angehäufte kulturelle Kapital und somit eine Disposition des Habitus. Die affirmative Besetzung eines Ortes im angeeigneten physischen Raum, der von der Gesprächspartnerin erwünschtes symbolisches Kapital zu akkumulieren erlaubt, ist folglich 230
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mit einem affektiven Engagement und materieller Investition in die vor Ort existierenden Subkulturen oder Organisationen verbunden (vgl. Bourdieu 1989: 399). Diese Investitionen wiederum verlangen nach Dispositionen, die die neu gegebenen Möglichkeiten der Aneignung erst in Wert setzten. »Schwabing ist gar nicht trendy. Schwabing find ich nicht mehr trendy, also wars vielleicht mal, aber ist eher son bisschen und auch schicki-micki zum Teil, also jetzt nicht…hier noch nicht aber weiter Richtung Leopoldstraße …ist mehr schicki-micki und bisschen touristisch (lacht)« (M-I 5). Im Fall der Großstädter erfolgt keine emotionale Bindung an einen Ort, die darüber hinaus als eine normative Verhaltenserwartung dient, die sämtliche legitimen Bewohner teilen (T-I 2; T-I 3), sondern sie bewerten den angeeigneten physischen Raum nach seinem Vermögen, seinen Bewohnern symbolisches Kapital zu verleihen. Die Inwertsetzung dieses symbolischen Kapitals ist anschließend Sache des Habitus, wie das New Yorker Beispiel verdeutlicht, und somit abhängig von der sozialen Position. Die Bezeichnung »schicki-micki« für das Publikum der Schwabinger Lokale und Kultureinrichtungen zeigt eine Selbsteinschätzung, die die Gesprächspartnerin selbst jenseits dieser »Schicki-MickiSzene« verortet und ihr generell nur begrenzten Wert zuweisen kann, etwa durch gelegentliche Besuche dieser Lokale (M-I 5). Sighard Neckel spricht in diesem Zusammenhang vom »Trivialschema des kulturellen Geschmacks« (1995: 937), das sich als Freiheit zur Ironie äußert. Beispielsweise suchten Angehörige einer exzentrischen Szene Mitte der 90er Jahre in US-amerikanischen Großstädten sog. »white thrash« Lokale auf, um für eine Nacht »cheap and common« zu sein (vgl. Neckel 1995: 937). Das Ziel dieses Handelns ist die Anhäufung von szeneinternem Prestige und Renommee. Die Gesprächspartnerin sieht hingegen in dem Besuch der Szenelokale in ihrem Wohnviertel keine Akkumulationschancen von symbolischem Kapital. Eine Widersprüchlichkeit zwischen der affektiven Besetzung des angeeigneten physischen Raums tritt in den untersuchten unterschiedlichen Subgruppen deutlich hervor. Die Probanden im nicht-städtischen Raum zeigen eine starke emotionale Verbundenheit mit dem okkupierten reifizierten Sozialraum, die sich beispielsweise in der Idealisierung vergangener Zustände kenntlich macht. Sie bringen sich durch affektives Engagement in Verbindung mit ökonomischen Investitionen in ihr soziales und physisches Umfeld ein (T-I 1; T-I 3; B-I 6; B-I 8). Die Großstädter hingegen zeichnet eine stark ökonomische Beziehung zum angeeigneten physischen Raum aus. Sie wählen den Wohnort nach den Kapitalakkumulationsmöglichkeiten, z. B. werden so symbolisch »wertvolle« Stadtteile, wie bestimmte Szeneviertel, die es erlauben, durch einfaches 231
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Bewohnen symbolisches Kapital zu erwerben, bevorzugt (M-I 5). Weitere Kriterien sind die Infrastrukturausstattung, wie z. B. Kindertagesstätten oder Einkaufsmöglichkeiten (M-I 4). Entspricht das Wohnumfeld nicht mehr den Erwartungen und Ansprüchen, wird ein Umzug erwogen. 88 Beide Positionen zeigen das Vorhandensein von residenziellem Kapital. Die Großstädter sind in der Lage, sich aufgrund ihrer Dispositionen den veränderten Bedingungen in einer neuen Wohnumgebung, z. B. sprachlichen oder kulturellen Codes, anzupassen und dort wiederum soziales Kapital zu erwerben (M-I 4; M-I 5; M-I 10, M-I 11). Die Gesprächspartner im ländlichen Raum wiederum verfügen über die sprachlichen, kulturellen und sozialen Ressourcen, um Einfluss auf ihre soziale Umwelt zu nehmen. Sie ziehen keine Ortsveränderung in Betracht, sondern verändern durch aktives Eingreifen ihr Wohnumfeld. Ein wichtiger Aspekt der Ansammlung von symbolischem Kapital über den Wohnsitz ist die Arrondierung von Akteuren mit ähnlichen sozialen Positionen und die räumliche Nähe zu Akteuren mit höheren Positionen im sozialen Raum. Durch die Nähe im angeeigneten physischen Raum zu höheren sozialen Positionen erhoffen sich die Probanden im ländlichen Raum einen Zugewinn an Renommee. Als auffälliges Beispiel kann hier ein bundesweit bekannter Schönheitschirurg dienen, der in direkter Nachbarschaft eines Probanden wohnt (B-I 7). Dieser Chirurg wohnt zwar im Ort, ist darüber hinaus aber durch ein regelmäßiges Zugegensein im Fernsehen bundesweit bekannt. Der Schönheitschirurg garantiert so dem Probanden den Erwerb von symbolischem Kapital vermittelt über die einfache Nachbarschaft. Das Fernsehen als Popularisationsmedium garantiert »die Verbreitung von Selbigkeit: Im Fernsehen können viele Menschen an vielen Orten dennoch dasselbe Programm sehen« (Wiesing 2005: 159). Diese auf der Gegenwart im Fernsehen beruhende Prominenz, die aus der fernsehvermittelten bundesweiten Bekanntschaft des Arztes folgt, garantiert das symbolische Kapital, das die Verortung in der Nähe zu ihm im angeeigneten physischen Raum verleiht. Diese Nähe erscheint umso wertvoller, je begrenzter die Zugangs88 Erscheint beispielsweise die soziale oder physische Umwelt des Wohnortes als nicht ansprechend genug, um die persönlichen Wünsche zu verwirklichen, sind Akteure in der Lage, auf drei unterschiedliche Weisen zu reagieren. Sie haben erstens die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse und Ansprüche den Umweltbedingungen anzupassen. Sie können zweitens versuchen, die Umweltbedingungen ihren Ansprüchen anzupassen oder sie können sich drittens entscheiden, den Wohnstandort zu verlagern (vgl. Kecskes 1994: 130). Die Ergebnisse der Interviews zeigen auf, dass die Großstädter eher zur letzteren Möglichkeit neigen, die Bewohner im nichtstädtischen »arkadischen« Raum dagegen eine Anpassung der sozialen und physischen Umwelt an die eigenen Bedürfnisse bevorzugen. 232
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möglichkeiten zu dieser Form von telegen vermittelter Bekanntheit sind. Bourdieu fordert in diesem Zusammenhang daher eine »Universalisierung der Zugangsbedingungen zum Universellen« (1998b: 95), um die symbolische Gewalt des Fernsehens und seine Macht in Bezug auf die in Teilen politisch gewollte und forcierte Beeinflussung der Zuschauer zu brechen. Im Fallbeispiel dient die symbolische Knappheit der Fernsehpräsenz als Mechanismus, der vermittelt über den angeeigneten physischen Raum den Probanden im »arkadischen« nicht-städtischen Raum den Erwerb von Renommee und Prestige ermöglicht. »Und desch isch jetzt auch nen Neubaugebiet von Bodolz, auch ganz neu erschlossen hier. Da wohnen auch ehemalige Nachbarn, nen ehemaliger Bankdirektor, der hat hier gegenüber gewohnt und der isch halt auch zum Bankdirektor aufgestiegen und hat…halt schön Kohle gemacht und der hat das Haus dann verkauft. Da wohnt jetzt nen Physiker drin, der Dr. Sack« (B-I 7).
Der Ort, den die Akteure im angeeigneten physischen Raum okkupieren, erscheint umso wertvoller, je herausgehobener die sozialen Positionen der Nachbarn sind. Die besondere Betonung der sozialen Positionen der Nachbarn, Bankdirektor und promovierter Physiker, verdeutlicht dies. Die herausgehobenen sozialen Positionen der Nachbarn ermöglichen so die Herstellung wertvoller Sozialkapitalbeziehungen am Wohnort selbst und somit ebenfalls von residenziellem Kapital. Okkupationsprofite, die über die Verortung im angeeigneten physischen Raum errungen werden, sind folglich für die Gesprächspartner gewichtig. Die soziale Position der Nachbarn ist so im »arkadischen« nicht-städtischen Raum bedeutend, während hingegen die Großstädter die Positionierungen ihrer Nachbarn im sozialen Raum nicht oder überwiegend nicht kennen. Symbolisches Kapital vermittelt sich hier auf der globaleren Ebene des Stadtviertels, das z. B. in der kollektiven Wahrnehmung als begehrtes Szeneviertel erscheint. Dahingehend ist die Gestaltung der direkten Umgebung der eigenen Wohnung ein vielsagendes Moment im nichtstädtischen Raum. Auch hier zeigen die Probanden ein ausgeprägtes Distinktionsbewusstsein, das sich in der Betonung der Exklusivität des eigenen Hauses, z. B. durch Ortsrandlage oder direkten Zugang zum Boden- oder Tegernsee, äußert (B-I 6). Die Großstädter bewerten die Wohnumgebung dagegen stärker nach funktionalen Gesichtspunkten wie Infrastrukturausstattung und Lebensqualität. 89 89 Empirische Studien legen eine positive Korrelation zwischen der Lebensqualität, verstanden als die Wahrnehmung der eigenen sozialen Position im Kontext der Erwartungen und Ziele für das weitere Leben, und der Umwelt nahe. Eine positive Wahrnehmung der physischen Umwelt im ei233
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Ein bedeutender Topos zur Anhäufung von sozialem Kapital am Wohnort ist unter den Probanden des nicht-städtischen Raums das Vereinsleben (T-I 1; B-I 7). Das vor Ort erworbene und nach Bourdieu somit wertvollste Sozialkapital (vgl. 1997b: 165) akkumuliert sich zu großen Teilen über die Mitgliedschaft in einem örtlichen Verein. Die Vereine beruhen vornehmlich auf alteingesessenen Autochthonen, d. h. das Vereinsleben des Ortes und somit gleichzeitig die wichtigen Zugangsmöglichkeiten zu wertvollem Sozialkapital, sind überwiegend durch Einheimische besetzt. Die Vereine verbinden ihre Mitglieder über gemeinsame Interessen und Ziele. Sie sind eine Organisationsform, die ausschließlich für Tätigkeiten entworfen ist, die wiederum als Privatangelegenheiten gelten und somit vornehmlich die Freizeit betreffen. Vereine verbinden nicht nur ihre Mitglieder untereinander, sondern häufig einen weiteren Personenkreis, z. B. Angehörige, Mitbewohner, Freunde usw. »Vereine werden daher nicht nur als Dienstleister oder Interessenvertreter, sondern ebenfalls als ›Vernetzer‹ für das Privatleben gesucht« (Agricola 1997: 91). Die Besonderheit eines Vereins besteht darin, dass eine Person nicht in einer subordinierten Position eintreten kann, sondern nur als ein vollgültiges Mitglied, dem jede im Verein durch Mitglieder besetzte Position theoretisch zugänglich ist (vgl. Stichweh 2000: 22). »Die Vereine sind sehr wichtig. Sonst würd das alles auseinanderfallen. Da gäbs überhaupt keine Identität mehr. Wenn man zum Beispiel schaut, was is das größte Ereignis in Tegernsee; des is Waldfest. Da is da unten vor der Kirche, wo der Parkplatz do is, da is die ganze Wiese ist dann mit Tischen und Stühlen bestückt, und da wird Bier ausgeschenkt, da werden Händel gebraten werden ähäh…Bratwürsch gmacht, da gibs a Schießbude, hau den Lukas und wer macht des? Das machen die Vereine« (T-I 1). »Die Vereine haben eine ganz starke Bedeutung. Man ist in drei, vier ja fünf Vereinen gleichzeitig. Bei einer Beerdigung weiß man gar nicht, bei welchem Verein man mitgehen soll« (B-I 9).
Die Vereine gewähren ein gewisses Maß an Solidarität für ihre Mitglieder und dienen in den Gemeinden des ländlichen Raums als »sozialer Klebstoff« (T-I 1; B-I 7; B-I 9). Die Probanden selbst zeigen ein deutliches Interesse an den sozialen Beziehungen, die sie durch ihre Vereinsaktivitäten zu knüpfen in der Lage sind. Die Vereine bieten die Möglichkeit, »bridging social capital« zu erwerben und damit die eigenen sozialen Kreise über die engsten Kontakte hinaus zu erweitern (vgl. genen Lebensumfeld führt demnach zu einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität (vgl. Ogunseitan 2005: 144-146). 234
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MacDonald et al. 2005: 884). Soziales Kapital als Teil des residenziellen Kapitals akkumuliert sich in den Orten des ländlichen Raums vornehmlich über diese Mitgliedschaft in den ortsansässigen Vereinen. Eine affektive Teilnahme an den Aktivitäten, d. h. eine Investition nach Bourdieu (vgl. Bourdieu 1992a: 67), ist dabei die Voraussetzung, um das wertvolle Sozialkapital und parallel das symbolische Kapital der Vereinszugehörigkeit abzurufen. Die Aneignungsmöglichkeiten von residenziellem Kapital sind daher für die Fallbeispiele des ländlichen Raums exklusiv. Sie verlangen einen aktiven Einsatz der Akteure bei örtlichen Ereignissen, wie z. B. die selbstorganisierten Dorffeste solche darstellen (T-I 1; T-I 9). Eine einfache Besetzung eines Ortes im angeeigneten physischen Raum reicht hier nicht aus, die Kapitalaneignungsmöglichkeiten dieser Lokalisation im verdinglichten Sozialraum zu aktivieren. Der Erwerb von sozialem Kapital vollzieht sich bei den Großstädtern des Samples demgegenüber vorwiegend mithilfe zweier unterschiedlicher Mechanismen. Zum einen dienen generalisierte Reziprozitätsbeziehungen, d. h. Austauschprozesse, bei denen der Zeitpunkt des Ausgleichs der Asymmetrie dieser Beziehung nicht festgelegt ist, als Möglichkeit der Etablierung von Sozialkapital. Zum anderen ist Vertrauen ein solcher Mechanismus, der soziale Beziehungen ermöglicht (M-I 4; M-I 10). Vertrauen bezeichnet einen riskanten Vorschuss auf das erwartete Verhalten eines anderen. Die Großstädter sind gezwungen, dieses Risiko des Vertrauens zu tragen, da dessen entlastende Effekte zum Vollzug der eigenen Handlungen zwingend benötigt werden (vgl. Stichweh 2003a: 106). Das Vertrauen in das Verhalten der anderen ist ein Umgang mit dem Risiko des Fremdkontakts, der wiederum habituell und nicht bewusst erfolgt. Beispielsweise betont eine Gesprächspartnerin ihr Vertrauen in die Befähigung der Ärzte und ihrer eigenen Kollegen in der Klink, in der sie als Physiotherapeutin arbeitet (M-I 11). Vertrauen fungiert hier selbst als eine Form von sozialem Kapital. Es ist ein Nebenprodukt ihrer Tätigkeit in der Klink. Nach Bourdieu ist diese Form von sozialem Kapital ein kultureller Mechanismus, den Akteure nutzen, um die Grenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Positionen zu definieren oder neu zu implementieren (vgl. Bourdieu 1983). Das Vertrauen bestätigt zunächst die herausgehobene soziale Position des Arztes, ermöglicht aber gleichzeitig das Zugreifen auf die mit der Zugehörigkeit zu der Organisation der Klink gegebenen Möglichkeiten, wie beispielsweise bevorzugte Behandlung des eigenen Kleinkindes oder sofortige Behandlung einfacherer Erkrankungen (M-I 4; M-I 11). Der zweite Mechanismus der generalisierten Austauschbeziehung zeigt sich zum Beispiel bei der interfamiliären und nachbarschaftlichen Hilfe in 235
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der Betreuung von Kleinkindern (M-I 5). Soziales Kapital ersetzt hier ökonomisches Kapital, da durch ein Austauschnetzwerk zum Kinderhüten, das verschiedene Personen als potenzielle Betreuung einschließt, ein teurer Platz in einer Kindertagesstätte umgangen wird. Die Zeitpunkte und die Zeitdauer des Kinderhütens sind dabei nicht normativ festgelegt. Die Reziprozitätsbeziehung ist folglich generalisiert, da die Betreuungszeiten situativ vereinbart werden und so durchaus Asymmetrien oder Schulden entstehen können. Die Ungleichmäßigkeit ist jedoch durch das Vertrauen zwischen den beteiligten Akteuren kontrolliert. Das soziale Kapital optimiert in diesem Fall die Lebenssituation zwischen der Arbeit und der Betreuung des Kleinkindes. Ähnliche Formen der Akkumulation und des Einsatzes von sozialem Kapital finden sich ebenfalls bei den Probanden im nicht-städtischen Raum. Der bedeutenste Katalysator der Austauschbeziehungen ist hier jedoch die Organisationsform des Vereins und nicht die Nachbarschaft, Freundschaft oder Familienbeziehung, wie im Beispiel der Großstädter. »Ich kenn den Schmied schon länger, der hat auch, ja der hat bei meinem Sohn, wo der gebaut hat, hat der auch das Bad gefliest und geglättet. Den kenn ich auch äh durchs Tischtennis. Die Gemeinde oder die Feuerwehr Bodolz macht jedes Jahr im März nen Tischtennisturnier, nen Gemeindetischtennisturnier und da trifft sich dann jung und alt. Wenn i da bin, spiel i a mit, weil i spiel eigentlich beim ESV Lindau, beim Eisenbahnersportverein, spiel ich in der Seniorenmannschaft aktiv« (B-I 7).
Das soziale Kapital der gegenseitigen Hilfe akkumuliert sich vermittelt über den Tischtennisverein. Das am Ort selbst durch die Nähe im angeeigneten physischen Raum und somit durch die Nähe im sozialen Raum potenziell vorhandene Sozialkapital setzt sich erst über die Teilnahme am Vereinsleben in Wert. Es bedarf eines affektiven Engagements und einer zeitlichen Investition zur Aktivierung der wechselseitigen Unterstützungsleistung bei der Fertigstellung des Wohnhauses des Sohnes des Probanden. Die Investitionen in die sozialen Kontakte äußern sich in den aktiven Tätigkeiten als Funktionsträger in den örtlichen Vereinen. »Ich kenn auch viele Lindauer. Wissen Sie, wenn sie 30 Jahre irgendwo leben und im Vereinsleben a bisserl tätig sind, i bin im Modellklub noch Kassierer, das will ich jetzt auch abgeben. Dann hocken mer viel auffem See, da kennt man diesen oder jenen, also man kennt schon viele, aber überwiegend halt durch, durch des ...Vereinsleben praktisch imprägniert« (B-I 7).
Der Proband ist sich der Bedeutung und der Notwendigkeit dieser Investitionen bewusst und ist daher aktiv am örtlichen Vereinsleben beteiligt. 236
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Die Ergebnisse zeigen, dass Vereinsaktivität die erfolgreichste Strategie in der Akkumulierung von sozialem Kapital darstellt. Das Beispiel der aktiven Hilfe bei dem Hausbau des Sohnes zeigt den Multiplikatoreffekt der Sozialkapitalbeziehung in aller Deutlichkeit auf. Die erworbenen Beziehungen übertragen sich vermittelt über Hilfen bei der Errichtung des Hauses in materiellen Gewinn. Das zugrunde liegende Beziehungsnetz ist hierbei das Produkt der individuellen Investitionsstrategien im Zusammenhang mit der Vereinsaktivität, 90 die bewusst oder unbewusst auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Bourdieu betont in diesem Zusammenhang, dass bei den Austauschbeziehungen, auf denen das Sozialkapital beruht, materielle und symbolische Aspekte, d. h. das affektive Engagement, z. B. an persönlicher Freizeit und die materiellen Investitionen, untrennbar verknüpft sind. Sie können nur in Gang gebracht und aufrechterhalten werden, wenn diese Einbeziehung zu erkennen bleibt (vgl. Bourdieu 1983: 191). Der Anteil am residenziellen Kapital, der sich über die Verortung im angeeigneten physischen Raum erwerben lässt, erfährt seine Inwertsetzung im nichtstädtischen »arkadischen« Raum vornehmlich über die Teilnahme an und Investition in Vereinsaktivitäten. Die sozial bedeutsamen Beziehungen, die auf diese Art gewonnen werden, sind die wertvollen »bridging« Kontakte. Einen Hinweis auf den Hysteresiseffekt des residenziellen Kapitals, d. h. auf eine Verengung »der Kluft zwischen den Gelegenheiten und den Dispositionen« (Bourdieu 1987a: 111), liefert die Problematisierung der »Gerontokratie«, d. h. der sukzessiven Veränderung und Anpassung der Infrastruktur für ein genuin älteres Publikum in Tegernsee durch einen Gesprächspartner (T-I 1). Bourdieus Skizzierung der Hysteresis der Habitusformen als Unvermögen, Krisen und Veränderungen in anderen Wahrnehmungs- und Denkkategorien als denen der Vergangenheit zu begegnen (vgl. Bourdieu 1987a: 111), tritt in der Problematisierung der Überalterung der örtlichen Bevölkerung zu Tage. »Einmal die Überalterung, die wollen keine Änderungen mehr ja. Dann natürlich die in ganz 90 Interessant ist in diesem Zusammenhang eine geschlechtspezifische Aufteilung der Pflege von Sozialkapitalbeziehungen. Bourdieu weist darauf hin, dass in Familien der Frau die Rolle der Pflege des symbolischen Kapitals der Familie zufällt, z. B. in Form der Teilnahme an Ritualen, die der Aufrechterhaltung von Sozialkapitalbeziehungen dienen (vgl. Bourdieu 2005: 173). Im Fall einer Gesprächspartnerin äußerte sich dieser Sachverhalt dahingehend, dass sie zum verabredeten Interviewtermin direkt von der Beerdigung eines Bekannten kam, zu der ihr Mann nicht mitgegangen war (B-I 8). Die Pflege des symbolischen Kapitals durch die Teilnahme an dem Begräbnisritual fiel somit allein ihr zu. 237
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Deutschland weit verbreitete Angst vor jeder Änderung ja, weil man ja bis her gut gelebt hat ja. Es kann ja nur noch schlechter werden, also machen wir lieber gar nix ja, und des is es irgendwie« (T-I 1). Die in dem Zitat deutlich werdende Abneigung gegen die wahrgenommene Innovationsfeindlichkeit der ansässigen Bürger zeigt, dass der Proband selbst dieses Unvermögen nicht mit den anderen Bewohnern teilt. Das Problem der Ausrichtung der Infrastruktur auf vorwiegend ältere Menschen, ein Sachverhalt, der sich z. B. darin dokumentiert, dass Tegernsee als Fremdenverkehrsgemeinde drei Hörgerätegeschäfte und Augenoptiker sowie vier Apotheken aufweist, aber kein Fotogeschäft (T-I 1), führt zu einer Verhinderung von Neuerungen wie z. B. einem durchgängigen Fußsteg am Ufer des Tegernsees und zu einer Fixierung der örtlichen tradierten Strukturen. Der überwiegende Teil der Bewohner des Ortes ist nicht in der Lage, mit anderen Kategorien an Probleme und Aufgaben heranzutreten als den etablierten und bekannten der Vergangenheit. Genau dieses Verhalten verdeutlicht den Hysteresiseffekt des Habitus (vgl. Bourdieu 1992c: 252). In der Handlung des Problematisierens dieses Sachverhalts zeigt sich ein differenzierter Habitus, der in der Lage ist, die Einführung von Neuerungen zu bearbeiten und in die alltägliche Praxis zu integrieren. Das residenzielle Kapital des Probanden drückt sich genau in dieser Fähigkeit des produktiven Umgangs mit dem Neuen im angeeigneten physischen Raum aus. Sein Habitus verwehrt nicht die Bearbeitung von Sachverhalten in anderen als den bekannten Kategorien. Die Interviews lassen zwei verschiedene Strategien bei der Anhäufung von residenziellem Kapital erkennbar werden, die die Großstädter von den Bewohnern des »arkadischen« Raums unterscheiden. Bei den Probanden in Tegernsee und Bodolz tritt zum einen der Topos hervor, dass sprachliches Kapital hier die Form der Beherrschung des örtlichen Dialekts neben einer Beherrschung der gewöhnlichen Schriftsprache annimmt. Der Gebrauch des Dialekts wiederum ermöglicht unter anderem die Aneignung von am Ort zu erwerbenden Sozialkapitals. Zum anderen ist ein emotionales oder affektives Engagement in Aktivitäten im Ort nötig, um dieses soziale Kapital erwerben zu können. Die Probanden sind selbst sämtlich in ortsansässigen Vereinen aktiv oder arbeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von dörflichen Festen mit, die einen zweiten Weg zu einer Sozialkapitalgewinnung darstellen. Ein Proband ist darüber hinaus Redakteur einer Heimatzeitung, die als ein besonderer Mechanismus der Umwandlung von kulturellen Dispositionen in residenzielles Kapital interpretiert werden kann. Die Mitarbeit an dem im Tegernseer Tal bekannten Magazin erlaubt den Erwerb von symbolischem Kapital. Sämtliche ehrenamtlichen Mitarbeiter wohnen seit langer 238
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Zeit in Tegernsee und kennen sich mitunter seit der gemeinsamen Schulzeit (T-I 2). Residenzielles Kapital akkumuliert sich im Fall der Bewohner des nicht-städtischen Raums eindeutig über ein eigenes Engagement für die Belange des Ortes. Die aktive Teilnahme und die richtigen kulturellen und sprachlichen Dispositionen sind über die einfache Besetzung eines Ortes im angeeigneten physischen Raum hinaus notwendig, um in der sozialen Umwelt des Ortes seinen Strategien und Zielen gemäß erfolgreich zu interagieren und so symbolisches Kapital zu erwerben. Die Großstädter des Samples zeigen von den Bewohnern des »arkadischen« Raumes deutlich differenzierte Formen des Erwerbs von residenziellem Kapital. Der Unterschied liegt vor allem in der Beziehung zum Wohnort selbst. Zeigen die Gesprächspartner im nicht-städtischen Raum sämtlich ein affektives Engagement für kollektive Ziele im Ort, so bewerten die Stadtbewohner ihren aktuellen Wohnort nach rein funktionellen Kriterien. Die Städter setzen das vorhandene inkorporierte kulturelle und sprachliche Kapital in einer Weise für die Gewinnung von symbolischem und residenziellem Kapital in Wert, die sich signifikant von den Strategien im »arkadischen« Raum unterscheidet. Die Städter gebrauchen ihr inkorporiertes kulturelles Kapital, d. h. ihre kulturellen Dispositionen, zur Nutzung der im angeeigneten physischen Raum gegebenen Möglichkeiten. Symbolisches Kapital lässt sich hier vermittelt über das Wohnen im »richtigen« Viertel gewinnen. Die Adresse fungiert so als ein Medium der symbolischen Kapitalgewinnung. Um an den symbolischen Effekten zu partizipieren, bedarf es keines affektiven oder emotionalen Engagements. Dieses »investitionslose« Gewinnen von symbolischem Kapital, vermittelt über eine Adresse im angeeigneten physischen Raum, wird allerdings erst bei einer genaueren Betrachtung ihres Mechanismus´ deutlich. Nach Bourdieu ist symbolisches Kapital eine Form von Akkreditiv, Vorschuss, Diskont oder Kredit, den eine Gruppe aufgrund materieller oder kultureller Gegebenheiten gewährt (vgl. Bourdieu 1987a: 218). Das im reifizierten Sozialraum gespeicherte Renommee, der Klub-Effekt, verleiht symbolisches Kapital über die Knappheit an wertvollen oder begehrtem Raum und gleichzeitig von der Gegenwartsgesellschaft aufgestellten materiellen und kulturellen Zugangsregelungen, wie z. B. die Mietpreise oder implizit geforderte kulturelle Codes in den Bewerbungsgesprächen mit Maklern und Vermietern (vgl. Bourdieu 1991: 32). Die Besetzung eines solchen Ortes im angeeigneten physischen Raum, z. B. durch den Bezug einer Wohnung, lässt wiederum das gespeicherte Renommee und Prestige auf den Akteur übergehen. Nach Bourdieu ist diese Form der Kapitalübertragung ein Grund für die soziale Stratifizierung der Gegenwartsgesellschaft, da die239
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se Mechanismen der symbolischen Gewalt »dafür sorgen, daß Kapital zu Kapital kommt« (Bourdieu 1987a: 218). Dieser Automatismus der Kapitalübertragung erklärt, warum eine Gesprächspartnerin ihren Wohnort lediglich als »Kompromiss« bezeichnet und ihm weiterhin keinen gesonderten Wert zuweisen will (M-I 5). Die zweite Unterkategorie des residenziellen Kapitals, das soziale Kapital, vermittelt sich ebenfalls durch Strategien, die von denen der Bewohner im nicht-städtischen Raum deutlich verschieden sind. Die zwei dominierenden Strategien der Sozialkapitalbindung sind auf der einen Seite Vertrauen als riskanter Vorschuss auf erwartetes Verhalten des anderen und generalisierte Reziprozitätsnetzwerke auf der anderen Seite. Die Probanden bilden so Unterstützungsnetzwerke, z. B. zum Hüten von Kleinkindern (M-I 4) und Erwerben mit diesen Handlungen gleichzeitig das wertvollere »bridging social capital« (MacDonald et al. 2005: 884). Beide Untergruppen zeigen sich erfolgreich in der Gewinnung von residenziellem Kapital. Sie unterscheiden sich allerdings im Hinblick auf die verfolgten Strategien, um über die Verortung im angeeigneten physischen Raum zu erreichendes symbolisches Kapital zu gewinnen. Die Probanden im nicht-städtischen »arkadischen« Raum verfolgen aktive Strategien, in dem sie sich in Aktivitäten engagieren, deren Teilnahme wiederum soziales und symbolisches Kapital zu erzielen gewährt. Sie sind in Vereinen aktiv und erlangen auf diese Weise Renommee und Prestige sowie soziales Kapital. Ferner setzten sie ihre kulturellen und sprachlichen Dispositionen zu Gewinnung von residenziellem Kapital ein. Die Städter hingegen erzielen Okkupationsprofite durch das einfache Wohnen im »richtigen« Stadtteil, der vermittelt über die Adresse symbolisches Kapital verleiht und eine Teilnahme an den örtlichen kulturellen und subkulturellen Möglichkeiten zulässt. Soziales Kapital stellt sich als Vertrauen und gegenseitige Unterstützung dar. Beide Untergruppen des Samples sind dadurch erfolgreich in der Akkumulierung von residenziellem Kapital. Sie unterscheiden sich lediglich in der Form dessen Erlangung. Residenzielles Kapital ist definiert als die Grundlage der kulturellen Kompetenz, die einem Akteur zu einem produktiven Umgang mit Urbanität, d. h. mit erweiteter interner Variationskontingenz, befähigt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden die Kapitalausstattung besitzen, um die Hysteresis, d. h. die Unfähigkeit zur Nutzung der urbanitätsbedingten neuen Möglichkeiten, zu minimieren, mithin die »Kluft zwischen den Gelegenheiten und den Dispositionen« (Bourdieu 1987a: 111) annähernd zum Verschwinden zu bringen.
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Die habituelle Urbanität im südlichen Bayern Die soziale und physische Umwelt der Stadt charakterisiert ein im Vergleich zu nicht-städtischen Räumen erweiterter Rahmen von Möglichkeiten. Die gesellschaftsinterne Bewältigung dieser Fülle an Gelegenheiten fällt nach der bourdieuschen Theorie der Praxis dem Habitus und dem Klassenhabitus zu. Der Habitus weist die Kompetenz für diese Ausdehnung der Grenzen des Handelns auf, da er selbst als ein »System von Grenzen« (Bourdieu 1992b: 33) zu beschreiben ist, dessen eigene Schranken wiederum nicht statisch, sondern dehnbar sind. Die Grundlage der geweiteten Handlungs- und Entscheidungsoptionen in der Stadt bilden die Strukturvariablen der bestimmten strukturellen Fremdheit sowie der subjektiv bewussten Individualisierung. Die Bewältigung dieses auf Grundlage der genannten Variablen entstehenden Kontingenzwachstums im Habitus bezeichnet der Begriff der habituellen Urbanität. Mithilfe des so gewonnenen Terminus verschiebt sich die Urbanität von der Stadt und ihrem physischen Phänomenen auf den Akteur. Ihre wissenschaftliche Erforschung in nicht-städtischen, im Falle dieser Untersuchung der »arkadischen« Räume muss sich somit auf den Akteur und seinen Habitus konzentrieren. Die Urbanität präsentiert sich dem Individuum als ein erweiterter Raum sich vollziehender Ereignisse bzw. verwirklichender Zufälle. Die Auflösung dieser damit benannten Kontingenz in reale Praxis ist wiederum die Aufgabe des Habitus, dem in der Theorie der Praxis die Bearbeitung des gesellschaftsinternen Phänomens des Kontingenzwachstums zufällt. Der Habitus ist in der praxeologischen Theorie Pierre Bourdieus die theoretische Konzeption der Voraussetzung des Handelns und Entscheidens. Mit ihm versucht Bourdieu zu zeigen, dass Handeln ein komplexes Geschehen ist, dessen Sinnhaftigkeit die Kognitionsleistungen der Akteure weit übersteigt. Der soziale Sinn des Handelns liegt außerhalb des bewusst steuerbaren Bereichs sozialer Praxis. Der Habitus verweist darauf, dass »die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun« (Bourdieu 1987a: 127). Doch durch das Befolgen der im Habitus erzeugten Strategien »hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen« (Bourdieu 1987a: 127). Der Habitus als sozialisierter Körper inkorporiert die Strukturen der sozialen Welt im Rahmen der Sozialisation und strukturiert gleichzeitig die Wahrnehmung und das Handeln und Entscheiden in dieser Welt, aber immer innerhalb seiner Grenzen, die klassenspezifisch erworben werden. Er ist das Produkt der Geschichte eines Individuums, die verinnerlichte Gesellschaft. Der Habitus setzt sich aus einem System von Dispositionen zusammen, die unbewusst die Praxis anleiten. Er besitzt immanente Strategien, die die Akteure gefühlsmäßig ihren eigenen 241
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Interessen folgen lassen. Die Dispositionen des Habitus reagieren nur langsam auf Veränderungen der sozialen oder materiellen Umwelt. Sie bleiben im Wesentlichen durch die Zeit stabil (vgl. Müller 2002: 164). Der Habitus bildet folglich in Bourdieus praxeologischer Sozialtheorie das stabile, unbewusste, strategische und inkorporierte Prinzip, das die gesellschaftliche Struktur mit dem sozialen Akteur verbindet. Die Gesamtheit der Verhaltensformen und Praktiken eines Akteurs offenbart sich erst durch den Habitus als ein kohärentes sozial bedingtes Ganzes. Die grundlegende Vermutung ist, dass die Akkumulierung von residenziellen Kapital zu einem Habitus führt, der an die soziale Umwelt einer Stadt und ihrer Eigenheiten, wie dem omnipräsenten Kontakt mit Fremden und einer hoher Interaktionsdichte, angepasst ist. Die Besonderheit der theoretischen Konzeption des Habitus nach Bourdieu ist gerade die Präsenz des Vergangenen in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die die Praxis in der Gegenwart strukturieren. Die Urbanität ist so als habituelle Urbanität an dem Prozess der Genese von Praxis beteiligt. Die mangelnde Kompetenz, diese entstandenen Möglichkeiten in das aktuelle Handeln mit einzubeziehen, bezeichnet Bourdieu mit dem Begriff der »Protension« (1985: 17), der ein Phlegma des Habitus benennt. Protension verhindert ein Antizipieren von Nötigem und lässt einen Habitus lediglich mit den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der Vergangenheit reagieren. Die habituelle Urbanität wiederum ist eine Veränderung dieses Effekts der Hysteresis. Die entscheidende theoretische Bedeutung der habituellen Urbanität liegt in der auf ihrer Grundlage vollziehbaren theoretischen Trennung von den physischen Phänomenen der Stadt und ihrer Urbanität, da die Urbanität in dieser Form nicht als ein Attribut einer physisch-räumlichen Gegebenheit erscheint, sondern als habitusimmanente Disposition und Fähigkeit eines Akteurs. Die habituelle Urbanität zeigt sich deutlich in Bezug auf die in der Untersuchung u. a. gestellte Aufgabe, etwas zu fotografieren, das die Probanden in der eigenen Wahrnehmung als ungewöhnlich oder erklärungsbedürftig beobachten. Die von mehreren Testpersonen geäußerte Schwierigkeit, Ungewöhnliches zu entdecken, zeigt den habituell erfolgenden Einbezug von sich verwirklichenden Zufällen in das eigene Handeln (Interview T-I 1; M-I 4; M-I 5; T-I 9). »Ich hab überhaupt nichts gefunden zur Kategorie Dinge, die ich ungewöhnlich finde (…). Mir ist nix ungewöhnliches begegnet, weil ich kenn halt die Sachen, die meinen Alltag prägen. ...Ich hab wirklich gesucht und geguckt und gemacht und gedacht, was ist denn ungewöhnlich« (M-I 4). Die beiden Untergruppen zeigten kaum einen Unterschied in Bezug auf die Problematisierung von Ungewöhnlichem. Beide Gruppen erken242
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nen in ihrer direkten Lebenswelt keine Ereignisse oder Dinge, die sie in irgendeiner Form irritieren. Ihre Habitus beziehen vielmehr diese Eventualitäten oder möglichen Irritationen in ihr tägliches Handeln ein und bilden die sich ergebende Praxis aus sämtlichen Ereignissen, mit denen sie konfrontiert sind. Den Probanden erscheint so nichts mehr erklärungsbedürftig, da sie sich ihre gesamte Praxis begreiflich machen können. »Ich hab sonst keine Fotos, was ich ungewöhnlich find. …Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich versuch die Dinge zu erklären. Ja ungewöhnlich heißt ja, ich stehe vorm Rätsel, ich weiß es nicht« (T-I 1). Bourdieu erklärt diese Statik in der Betrachtung von Gegebenheiten mit der Tatsache, dass in einer notwendigen oder unvorhergesehenen Konfrontation eines Habitus mit einem Ereignis dieses auf den Habitus nur in dem Fall einen bedeutsamen Reiz ausüben kann, wenn der Habitus das Ereignis seiner Zufallsbedingtheit entreißt und für sich selbst zu einem Problem stilisiert, »indem er genau die Prinzipien darauf anwendet, mit denen es gelöst werden kann« (Bourdieu 1987a: 104). Mit anderen Worten ist ein Habitus unfähig, ein Problem als ein solches zu erkennen, wenn er es als zufällig deutet. Im Fall der Probanden sind folglich sämtliche Ereignisse oder Gegebenheiten, die in der Zeit der Untersuchung erfolgten, als zufällig betrachtet worden. Sie erfahren so einen Einbezug in die alltägliche habituelle Praxis. Der Raum der internen Variationskontingenz (b) erfährt dadurch eine deutliche Ausdehnung und beinhaltet sämtliche potenziellen Ereignisse, die von den Probanden zwar als zufällig, aber als erklärbar und somit als nicht rätselhaft betrachtet werden. Dieser Punkt verdeutlicht die habituelle Urbanität. Der theoretisch dargelegte habituelle Einbezug der erweiterten Möglichkeiten sich verwirklichender Zufälle, die Urbanität konstituieren, zeigt sich an dieser Stelle sowohl bei den Großstädtern als auch den Bewohnern des »arkadischen« nicht-städtischen Raums im Sample. Beide zeigen sich »blind« in Bezug auf das Fotografieren von Ungewöhnlichem. Ihre Habitus thematisieren diese Gegebenheiten oder Ereignisse nicht als bedeutsam, da sie für sie im Rahmen der Zufallsbedingtheit verbleiben. Der Habitus ist als das Erzeugnis objektiver Regelmäßigkeiten, z. B. im Rahmen der Sozialisation eines Akteurs, darauf bedacht, nur die »vernünftigen«, d. h. die Verhaltensweisen, die sich im Rahmen seines Erwerbs als erfolgreich erwiesenen haben, zu reproduzieren (vgl. Bourdieu 1987a: 104). Die Inwertsetzung oder die Ignorierung von Irritationen dieser Regelmäßigkeiten, z. B. in Bezug auf das Handeln, die eigene Kapitalausstattung usw., erfolgt wiederum habituell und deutet auf das Vorhandensein einer habituellen Urbanität.
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Ein Fehlen dieser Fähigkeit, Unregelmäßigkeiten der sozialen Ordnung in die eigene Praxis zu integrieren, zeigt einen Mangel an residenziellem Kapital und damit einhergehend eine Deprivation von habitueller Urbanität. Die Verletzung der Grenzen des Handlungsrepertoires eines Akteurs evoziert eine Gegenwirkung, die bei mangelnder kultureller Kapitalausstattung häufig durch Strategien der Abwehr oder Vermeidung gebildet wird. Jeder Habitus weist die Möglichkeit auf, aus den Strukturen früherer Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen zu gewinnen, die diese überkommenen Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens berühren. Der Habitus sorgt so für eine kongruente, von den Primärerfahrungen dominierte Aufnahme von neuen Ereignissen und Gegebenheiten in den Vollzug alltäglicher Praxis (vgl. Bourdieu 1987a: 113). Residenzielles Kapital katalysiert diese Inkorporierung äußerer Eindrücke und erweitert auf diese Weise die Grenzen des Handelns, sodass die erweiterten Möglichkeiten und zu verwirklichenden Zufälle des Kontingenzraums (b) in die alltägliche Praxis mit einfließen. Die Erschütterung der habituellen Ordnung der Welt durch den Bau einer Moschee in Lindau verdeutlicht beispielhaft diese Deprivation von habitueller Urbanität. In der Literatur werden die symbolischen Konflikte um die Errichtung und die baulichen Elemente von muslimischen Sakralbauten überwiegend als Sinnbild für die Konflikthaftigkeit der Eingliederung von Fremden in die funktional differenzierten Felder der Gegenwartsgesellschaft interpretiert (statt vieler: Kapphan 2004). Das artikulierte Unbehagen im Zusammenhang mit räumlichen Repräsentationen des Fremden indiziert gleichzeitig eine vorliegende Grenzverletzung im Dispositionssystem des Habitus. »... für Religionsfreiheit bin i eigentlich schoo, aber man hätt...das, es net gleich so optisch als Moschee ausschaut, hätt man es anders bauen können« (B-I 6). Der Habitus weist in diesem Fall nicht die dispositiven früheren Erfahrungen auf, um diese neue Erfahrung des Raumelementes Moschee seinen Strukturen gemäß in das habitusimmanente Dispositionssystem aufzunehmen. Der Gesprächspartner besitzt nicht genügend inkorporiertes kulturelles Kapital, um sich dieses neu auftretende kulturelle Gut der islamischen Moschee symbolisch anzueignen. Bourdieu unterscheidet zwei Formen der Appropriation kultureller Güter, d. h. der Aneignung von objektiviertem kulturellem Kapital. Dieses kann entweder materiell unter Einsatz von ökonomischem Kapital angeeignet werden oder es kann symbolisch angeeignet werden, ein Vorgang, der wiederum inkorporiertes kulturelles Kapital voraussetzt (vgl. Bourdieu 2001d: 117). Inkorporiertes kulturelles Kapital ist als Disposition Teil des Habitus. Im Fallbeispiel des Moscheebaus in Lindau fehlt die kulturelle Disposition zur symbolischen Aneignung dieser Neuerung in der physischen Um244
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welt. Die Existenz der Moschee verletzt die Grenzen des Dispositionssystems des Habitus. Die zu erwartende Reaktion auf diese Form des »Affronts« ist eine Abwehr und Auslegung des Neubaus als eine Art Angriff des Fremden auf die gewohnten Lebensumstände. Diese Überforderung des habituellen Dispositionssystems zeigt sich anschließend häufig in Bürgerprotesten und weiteren z. T. militanten Formen des Agitierens gegen Moscheeneubauten im Allgemeinen (vgl. Kapphan 2004). Diese in der Abwehrhaltung gegenüber der Moschee sichtbar werdende Grenze des Habitus´ tritt in der Interviewsituation noch in einer zweiten Weise zu Tage. Der Gesprächspartner unterbricht seine Ausführung auf dem ihm habituell fernen Gebiet des Diskurses um die Moschee und wechselt ohne Einflussnahme des wissenschaftlichen Beobachters auf ein ihm besonders vertrautes Feld. »Die (Moschee; P.D.) is in Lindau ja. Es isch zwar a Gewerbegebiet neben dran, das is net so schlimm als wenn’s irgendwo innem Wohngebiet drin wär, aber man hätts vom Optischen her anders bauen können. Also passt, passt halt net vom Stil dazu. Gar net. Und was i noch ganz toll find, schaut jetzt im Moment net so toll aus, isch des isch, äh, nen Kompostplatz, wo i a mei Grün, mei Grünabfälle hinbringen kann« (B-I 6).
Das Zitat verdeutlicht die Grenze des Habitus. Die »Protension« (Bourdieu 1985: 17) zeigt sich in dieser kommunikativen Wendung von einem fremden zu einem vertrauten Thema. Der unvermittelt vollzogene Wechsel des Gesprächsinhalts deutet diese Protension an. Bourdieu konzipiert die Protension als eine Form der Strategie, die sich ausschließlich auf die objektiven Möglichkeiten richtet, die in der Gegenwart unmittelbar gegeben sind (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 162). Die Strategie der Protension beruht auf den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der Vergangenheit, die für sämtliche Eventualitäten der Gegenwart genutzt werden. Sie bezeichnet einen Mangel an Dispositionen, die es erlauben würden, innovativ auf neue Gegebenheiten zu reagieren. Der direkte Wandel im Gespräch von der symbolischen Repräsentation des Fremden im Raum hin zu einem habituell vertrauten Thema des täglichen Lebens deutet diese Strategie an. Die habituelle Urbanität müsste sich vielmehr in einer Form der symbolischen Aneignung des Moscheebaus ausdrücken. Eine Form dieser Appropriation wäre z. B. eine Wahrnehmung in bekannten, habituellen Kategorien, die diese besondere Moschee in Lindau und den Diskurs um ihre Errichtung als einfachen Sakralbau und selbstverständliche räumliche Repräsentation einer Weltreligion interpretieren würde. Der Bau irritiert dagegen und ruft Abwehrreaktionen hervor. Der plötzliche Versuch des Gesprächs245
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partners, das Interview von diesem Thema auf ein ihm habituell vertrautes Thema zu lenken, weist daher auf die Grenze des Dispositionssystems des Habitus hin. Sein inkorporiertes kulturelles und residenzielles Kapital reicht nicht aus, um sich differenziert zu dieser Objektivierung des Fremden in Form eines Gebäudes zu äußern oder damit auseinander zu setzen. Die Abwehrhaltung gegenüber dem Fremden zeigt einen Mangel an habitueller Urbanität. Im Gegensatz zu dem Beispiel des Moscheebaus kann die Abwehrhaltung gegenüber dem störenden Fremden auf habituelle Urbanität hindeuten. In dem Einbezug dieser Irritationen in die vom Akteur vorkonstruierte soziale Ordnung und der Problematisierung des Fremden offenbart sich ein Habitus, dessen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata diese wahrgenommene Unregelmäßigkeit produktiv zu verarbeiten weiß (vgl. Bourdieu 2003: 282). Der störende Aspekt wird zunächst analysiert, d. h. die Kapitalausstattung lässt einen produktiven Umgang mit der Abweichung zu und eignet sich diese anschließend symbolisch an, z. B. in Form einer Einordnung in das bestehende Kategoriensystem des Akteurs. Das Fremde wird auf diese Weise nicht einfach gemieden, wie dies im Beispiel des Moscheebaus in Lindau der Fall ist, sondern der Akteur ist aufgrund seines Habitus zu einem produktiven Umgang mit dem Fremden in der Lage. Dieser aktive habituelle Umgang zeigt sich am Beispiel der Nikolausfiguren in Tegernsee, die als Kunststoffpuppen in der Adventszeit an den Hausfassaden befestigt werden. »Und der hängt jetzt wie so a Kletteraffe an die Häuser dort, des is jetzt die neue Zeit, also da merkt man jetzt a mein Alter, die Jugend stört sich da weniger dro, aber ich find des einen solchen Verfall an Bewusstsein, a Heiliger der also für die Kinder gutes bringt. Im Prinzip ist er auch noch der Schutzheilige der Seefahrer (...) und so was tuat dann also als traditionsbewussten Mensch ja dann schon weh, wenn dann der Coca-Cola Affe an die Hausfassaden rumklettert« (T-I 2).
Der Gesprächspartner besitzt ausreichend inkorporiertes kulturelles und residenzielles Kapital, um den »Verfall an Bewusstsein«, den die Nikolausfiguren für ihn bedeuten, zu klassifizieren und sich symbolisch mit der Situation auseinander zu setzen. Coca Cola und die symbolische Vereinnahmung eines Heiligen und einer ursprünglich christlichen Figur durch einen der größten Getränkehersteller der Welt erscheinen für den Probanden als schadhafter Einfluss einer sämtliche Traditionen nivellierenden Globalisierung. Die örtliche Tradition des heiligen Nikolaus als Schutzheiligem der Tegernseer Binnenschiffer verschwindet aus dem 246
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Bewusstsein der Tegernseer Bürger und wird durch die Werbefigur des Getränkeherstellers ersetzt. Im Gegensatz zum Beispiel zur Lindauer Moschee, die eine simple Ablehnung durch den Probanden auf Grundlage von Ressentiments gegenüber dem Fremden erfährt, setzt sich der Proband in Tegernsee aktiv mit der aus seiner Sicht zweifelhaften Situation auseinander. Er ist in der Lage, sich auf Grundlage seiner Kapitalstruktur das aus seiner Sicht störende Element symbolisch anzueignen. Seine Kritik ist ausgesprochen informiert und wohlüberlegt. Hier offenbart sich ein Habitus, der keine Schwierigkeiten hat, das Fremde mithilfe des ihm zur Verfügung stehenden Dispositionssystems zu bewältigen. Die aktive Auseinandersetzung mit dem Störenden zeigt einen urbanen Habitus, der Unerwartetes in Wert zu setzen versucht. Dies zeigt sich im Fall des Gesprächspartners ebenfalls in seinem aktiven Bemühen, diesen Traditionsverlust entgegen zu wirken. Der Proband organisiert seit 34 Jahren die Kulturveranstaltung der »Tegernseer Woche«, in deren Kontext Lesungen, Vorträge und Konzerte zu Traditionen des Tegernseer Tals veranstaltet werden. Darüber hinaus tritt er selbst im Rahmen der »Tegernseer Woche« in Lesungen auf. Sein gesamtes akkumuliertes residenzielles Kapital erlaubt ihm demnach ein aktives Gestalten der kulturellen und traditionellen Gegebenheiten im Ort. Dieser in den oben angeführten Zitaten sich darstellende Kontrast zwischen den unterschiedlichen Bewältigungsformen von einer einfachen Ablehnung des Fremden (B-I 6) und einer Ablehnung der Kommerzialisierung christlicher Symbolik (T-I 2) zeigt den Unterschied zwischen dem Besitz und der Deprivation von habitueller Urbanität beispielhaft auf. Im ersten Fall führt der Mangel an residenziellem Kapital zu einer pauschalisierten Ablehnung räumlicher Repräsentationen des Fremden. Im zweiten Fall bedingt das residenzielle Kapital die aktive Gestaltung der Traditionen im Ort und zeigt sich eben nicht ausschließlich in einer Ablehnung des Neuen und Ungewohnten. In dieser aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt zeigt sich das Vorhandensein von residenziellem Kapital und von habitueller Urbanität. Ein urbaner Habitus drückt sich neben dieser aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt darüber hinaus in dem Vermögen aus, in unterschiedlichen sozialen Bereichen zu reüssieren oder unterschiedliche Interessen zu bündeln und produktiv zu wenden. Nach Bourdieu bestehen so viele Formen von Interesse oder Arten von libido, wie es Felder gibt. Im Akt der Selbstproduktion des Feldes stellt jedes Feld eine eigene Form von Interesse her, die wiederum aus dem Blickwinkel eines anderen Feldes als vollständige Freiheit von Interessen erscheinen kann oder als mangelnder Realitätssinn oder Absurdität (vgl. Bourdieu 1998a: 149). Der Habitus ist der Ort, an dem die unterschiedlichen Interessen, 247
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die zu einer erfolgreichen Teilnahme am feldinternen Spiel notwendig sind, koordiniert werden. Er dient als eine »Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein« (Bourdieu 1987a: 105), die eine reibungslose Abstimmung der nötigen verschiedenen Interessen garantiert. Die habituelle Urbanität zeigt sich in der akteursspezifischen Nutzung der persönlichen Ressourcen, 91 deren Einsatz in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern eben die habituelle Koordinierung von Interessen voraussetzt. Das akkumulierte residenzielle Kapital führt zu einer stärkeren Nutzung der einem Akteur gegebenen Möglichkeiten in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, in denen dieser aktiv ist, bzw. wirkt auf den Sinn für das Spiel (vgl. Bourdieu 1998a: 65-66; auch 1987a: 52), in dem es als eine Aufweitung der libido fungiert. »Aber ich mein, wenn ich son Grund hab, dann mach ich doch was ja….aber das is Lethargie vielleicht auch zuviel Reichtum, die Leute sitzen auffem Geld und machen und wissen gar nicht, was sie damit machen sollen. Ich weiß es net. Aber des is natürlich sehr schade, des is ein eine Scheußlichkeit sondergleichen« (T-I 1).
Als Hinweis kann hier die im Zitat genannte Verständnislosigkeit gegenüber Akteuren dienen, die, obschon sie die ökonomische Kapitalausstattung besitzen, keinerlei Interesse aufweisen bzw. keinen Sinn für Spiele zu entwickeln scheinen. Das Ensemble der Kapitalien, die dem Gesprächspartner zur Verfügung stehen, sorgt vermittelt über den Habitus dafür, dass ihm ein solches Verhalten als fremd erscheint. Der Habitus zeigt sich in der Nutzung der akteursspezifischen Ressourcen (vgl. Bourdieu 1987a). Die habituelle Urbanität zeigt sich in dieser Unfähigkeit des Probanden, zu verstehen, wie andere Akteure gegebene Möglichkeiten ungenutzt lassen können, obwohl sie die nötige Kapitalausstattung mitbringen. Der Hysteresiseffekt ihres Habitus verantwortet diese objektiv mangelhafte Nutzung der ihnen zugeordneten Kapitalien. Sie antworten folglich mit den Kategorien der Vergangenheit. Ihre Habi91 Edward Hall (vgl. 1966: 100-101) gibt ein Beispiel für den Fall des kollektiven Misslingens einer Nutzung individueller Ressourcen. Im indischen Straßenverkehr entstehen viele Unfälle aufgrund der gesellschaftlichen Schieflage des Kastensystems, die dazu führt, dass Angehörige der unteren und untersten Kasten im Straßenverkehr nicht den persönlichen Raum nutzen können, den sie bräuchten. Statusbewusste Autofahrer okkupieren hier gewaltsam den Raum der meist armen und statusniedrigeren Fußgänger und nutzen so deren persönliche Ressourcen mit. Das Ergebnis sind viele tödliche Unfälle auf den überfüllten Straßen der indischen Metropolen aufgrund der klassenspezifischen anstelle der situativen Nutzung individueller Ressourcen. 248
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tus sind darauf eingestellt, ganz wie die »Opfer der Hysteresis der Habitus« (Bourdieu 1992c: 252), die Bourdieu im französischen Hochschulsystem herausgearbeitet hat, mit einer gegebenen Struktur an kulturellem, sozialen und ökonomischen Kapital zu handeln. Veränderungen in der Kapitalausstattung, wie z. B. eine Erbschaft, führen in diesem Fall nicht zu Umgestaltungen der Praxis. Die habituelle Urbanität umgreift einen Gewinn an Kontingenz und ist habitustheoretisch die Überwindung dieses Effekts der Hysteresis. Dem Gesprächspartner erscheint aus diesem Grund seiner eigenen Beherrschung der Trägheit des Habitus heraus das mangelnde Engagement in den Belangen des Ortes, das die von ihm avisierten Personen zeigen, im simmelschen Sinne als fern und fremd (vgl. Simmel 1989: 395). Sein Habitus kennt offensichtlich diese mit einem solchen Verhalten umrissenen Grenzen nicht. Die Gesprächssequenz deckt beispielhaft die Existenz und das Fehlen von habitueller Urbanität auf. Im Fall der inaktiven aber wohlhabenden Bürger von Tegernsee bleiben die erweiterten Möglichkeiten der ihnen zugeordneten Kapitalstruktur ungenutzt. Im Fall des Probanden herrscht ein Unverständnis über diese Unnutzung von Möglichkeiten. Das habituelle Vermögen des Einbezugs von Potenzialitäten in das eigene Handeln zeigt sich bei den Großstädtern vor allem in der Definition und dem Umgang mit Ungewöhnlichem (M-I 4; M-I 5; M-I 10; M-I 11). Als Beispiel kann hier die im einen Fall irritierende Sauberkeit der Bürgersteige in München dienen (M-I 5; M-I 10), die für eine andere Probandin, die aus München stammt, gewohnt und zu erwarten ist (M-I 4). Diese Position kennzeichnet einen habituellen Einbezug der Sauberkeit und folglich der selten vorkommenden Verschmutzungen, z. B. der Bürgersteige mit Hundekot, in der Art, dass diese Reinlichkeit nicht mehr bemerkt wird, die für andere Großstädte durchaus bemerkenswert wäre. Die anderen Gesprächspartner sehen diese Reinheit des Trottoirs als völlig ungewöhnlich an und einer dokumentiert dies auf einer Fotografie. Aus der Perspektive einer Zugezogenen ist diese Sauberkeit völlig fremd. Beide Positionen sind Ausdruck habitueller Urbanität. Die erste Position fasst alle Phänomene des Straßenraums inklusive der im Vergleich zu anderen Großstädten ungewöhnlichen Sauberkeit der Gehsteige als gewöhnlich und somit als habituell zu erwarten zusammen. »Aber ungewöhnlich heißt kommt von Gewohnheit. Für mich ist gewohnt gewohnt. Für mich wärs ungewöhnlich, wenn München schmutzige Bürgersteige hätte...« (M-I 4). Diese Gewohnheit verstärkt noch die deutliche Betonung des »Für mich wärs ungewöhnlich« (M-I 4), die diesen skizzierten habituellen Einbezug charakterisiert. Die zweite Position kennzeichnet eine Vergegenwärtigung und Erkenntnis dieser Differenz von München zu anderen 249
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Städten, die diese als so bedeutsam klassifiziert, dass eine Probandin sie fotografisch abbildet. »Was wäre denn zum Beispiel ungewöhnlich? Ich hab die sauberen Bürgersteige in München, finde ich sehr ungewöhnlich für ne Stadt, muss ich sagen« (M-I 10). Dieser Vergegenwärtigung der Differenz zwischen München und anderen Großstädten folgt ein sofortiger Einbezug dieses Unterschieds in die eigene Praxis, da der Proband, der das Foto aufgenommen hat, angibt, in München nicht mehr darauf zu achten, wo er hintritt. Im Gegensatz zu München ist dies jedoch an sämtlichen anderen Orten seiner habituelle Praxis, wie er mit Bezug auf Berlin angibt (M-I 10). Die Grenze dieser habituellen Nutzung der Möglichkeiten in der Umwelt, beispielhaft verdeutlicht im Fall der Nutzung von Gehwegen ohne eine Fokussierung der eigenen Aufmerksamkeit auf etwaige Verschmutzungen, zeigt sich allerdings bei einer Gesprächspartnerin (M-I 4). Erscheint die Umwelt als zu vielschichtig, ist sie somit habituell nur schwer fassbar, ist die Reaktion Angst oder Scheu. Dieser plausible Zusammenhang zeigt sich beispielhaft an dem Gebäude der Klinik, wo die Probandin beschäftigt ist. Die Universitätsklinik in München ist eine der größten Universitätskliniken in Europa und im Wesentlichen in einem Gebäudekomplex am Rand von München zentriert. Obschon die Probandin täglich dort zur Arbeit geht, erscheint ihr das Gebäude als unheimlich und unwirtlich. »Ja es hat was spaciges. Drinnen denkt man ja auch immer, es würd abheben und fliegen. Ganz besonders nachts ja, abends, wenn da so der Nebel schwimmt und dann so sind da die äh paar Fenster beleuchtet, dann sieht es so aus wie´n Raumschiff. Hat man echt des Gefühl gleich is es weg. Also des is schon bisschen seltsam (lacht) das Gebäude« (M-I 4).
In dieser im Zitat durchscheinenden diffusen Furcht in Bezug auf die räumliche Umwelt der Klinik, die aufgrund ihrer Größe und Architektur für die Probandin eine potenzielle Gefahrenquelle darstellt, zeigt sich ein Topos, der bereits seit der Neuzeit in Europa existiert. Die Angst ist in diesem Fall eine Gegenwirkung von Individuen auf die mögliche Gefahr aus der Umwelt, im Fall der Gesprächspartnerin die Anonymität und Unwirtlichkeit des Klinikgebäudes, die sie nicht aktiv in einem für absoluten Schutz ausreichendem Maße beeinflussen können. Das Gebäude und seine vielen Angestellten und Patienten stellt eine stetige Quelle von diffuser Gefahr dar. In der europäischen Kulturgeschichte ist diese Angst vor einer diffusen Umwelt, mit der dennoch tagtäglich interagiert werden muss, vor allem im Kontext des Meeresraumes thematisiert worden. In diesem Zusammenhang tritt sie am deutlichsten zu Tage. 250
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Jean Delumeau kennzeichnet sie als »die Angst der Seefahrer vor dem Meer« (1984). Im Sinnzusammenhang dieser existenziellen Furcht führt die Gewohnheit bzw. die Erfahrung dauerhaft nicht eintretender Schädigung trotz der allgegenwärtigen Gefahr nicht zu ihrem Verschwinden, d. h. sie ist habituell nicht zu begreifen, obwohl ihr im Alltag andauernd begegnet wird. Zur Eindämmung der Kontingenz, die aus dieser Gefahr des Meeres resultiert, verfolgten die Menschen der Neuzeit verschiedene Rituale und Strategien, z. B. die Schlachtung von weißen Schafen beim Stapellauf eines Schiffes, die Rezitierung des Johannes-Evangeliums als bedeutendstem Teil des christlich-exorzistischen Rituals oder die Vermeidung des Transports von »Sündern« und »Sünderinnen«, wie z. B. einer schwangeren Frau (vgl. Delumeau 1984: 58-63). Diese Handlungen sind ausnahmslos nicht geeignet, den Gefahren des Meeres wie Skorbut, verdorbenen Lebensmitteln, unbekannten Krankheiten, starken Wirbelstürmen oder absoluten Flauten in den Rossbreiten, die ganze Besatzungen verdursten ließ, in einem rationalen modernen Sinne zu begegnen, waren aber dennoch wesentlich für die neuzeitliche Seefahrt. Die Gefahren des Meeres sind für die Matrosen habituell nicht zu begreifen. Eine Konsequenz dieser Fassungslosigkeit ist, dass der Ozean lange Zeit als außerhalb der menschlichen Erfahrung liegend betrachtet wurde und lediglich literarisch beherrschbar erschien, z. B. bei Homer, Vergil oder in dem mittelalterlichen Drama Tristan und Isolde (vgl. Delumeau 1984: 52-57). Die Gesprächspartnerin (M-I 4) zeigt mit Bezug auf ihren Arbeitsplatz in der Münchener Universitätsklinik eine diffuse Ablehnungshaltung gegenüber ihrer täglich erlebten Umwelt, die ähnlich wie die neuzeitlichen Seefahrer auf eine bestmögliche Vermeidung des Kontakts mit dem furchteinflössenden Gegenstand setzt. Die Furcht vor dem Gebäude aufgrund dessen ästhetisch unansprechender Gestaltung ist zwar keinesfalls gleichzusetzen mit der existenziellen Angst der Matrosen. Sie kann aber als eine moderne Auslegung dieses Grundprinzips der diffusen Furcht vor dem Gewöhnlichen dienen. Die dominierende Strategie der Probandin ist der Verzicht auf regelmäßige Aufenthalte in dem Hauptgebäude der Klinik, das aus ihrer Perspektive als unheimlich und bedrohlich erscheint. In diesem Fall bleibt das Gebäude habituell fremd oder fern und selbst die Gewohnheit, als das repetitive, mechanische, automatische sowie reproduktive Moment der beständig gleichen Nutzung des Gebäudes, vermag nicht den Habitus als erworbene körperliche Disposition zu verändern (vgl. Bourdieu 1993a: 127-128). »Aber von innen auch, es is halt sehr niedrige Decken, also die ham schon sehr platzsparend... sehr platzsparend gebaut, also grad für ne Klinik finde ich, 251
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und dann noch mal durch die Räume da, da kannste durch, durch Gänge laufen, kilometerlang und du siehst kein Fenster, kein gar nichts und, also ich hab ein total bedrückendes Gefühl, immer wenn ich da durchlaufe. Ich laufe, da wir bisserl außerhalb in son Kasten arbeiten, ich lau..., also äh obwohl es gestern geregnet hat, bin ich außen rum gelaufen. Ich finde das ganz unangenehm, da durch zu laufen. Wie man da gesund wird, frag ich mich« (M-I 4).
Die Probandin zieht es vor, einen mit Unannehmlichkeiten verbundenen Umweg in Kauf zu nehmen, anstatt den direkten Weg durch das abweisende Gebäude einzuschlagen. Obwohl die Großstädter in der Lage sind, den Kontakt mit Fremden im öffentlichen Raum für sich selbst in Wert zu setzen, in der Art, dass sie diese Fremdkontakte als eine Form von Sicherheit für sich selbst interpretieren und auf diese Weise die Grenzen ihres Handelns ausdehnen können, ist die Probandin im Fall der Universitätsklinik zu genau dieser Strategie nicht willens. Der gewohnheitsmäßige Umgang mit der sozialen und physischen Umwelt führt nicht zu einem zwangsläufig zu einem habituellen Einbezug dieser Möglichkeiten in die alltägliche Praxis. Dieses Verhalten verdeutlicht eine Spielart der Grenze ihres Habitus. Für ein tieferes Verständnis dieser habituellen Grenze ist der Begriff des Sentiments von Interesse. Der Begriff des Sentiments bezeichnet das Verhältnis eines Akteurs zu einem bestimmten Objekt oder Subjekt im Sinnzusammenhang seines Habitus. Sentiments sind kulturell und sozial konstruierte Muster von Eindrücken und Expressionen, die sich um die soziale Beziehung zu Subjekten oder Objekten anlagern. Sentiments erschaffen einen Bedeutungsrahmen, innerhalb dessen der Akteur sein eigenes Selbst und die Beziehung zu anderen Subjekten und Objekten interpretiert. Beispiele für eine solche Relation sind Scham oder Furcht (vgl. Neckel 1993: 288). Der Habitus der Probandin verarbeitet dieses Sentiment gegenüber der Klinik, indem er eine Vermeidungsstrategie wählt. Das dadurch ausgedrückte diffuse Unbehagen vor dem Objekt ist zum einen das Sentiment selbst und zum anderen gleichzeitig die Grenze des Habitus. Die Gesprächssequenz und das darin zu erkennende Sentiment verdeutlicht so, dass die Fähigkeit des Habitus zur Genese einer Praxis, wie z. B. die Inwertsetzung des omnipräsenten Fremdkontakts in der Stadt zur Generierung von Sicherheitsgefühlen, nicht in jeder beliebigen Situation in der selben Art und Weise zum Tragen kommt. Die Vielschichtigkeit der Umwelt führt in diesem Beispiel zu einer Bevorzugung des wiederholenden Moments der Gewohnheit, d. h. der Vermeidung des Kontakts mit dem unwirtlichen Gebäude. Beispielsweise könnte die Probandin die Populationsdichte auf den fensterlosen und niedrigen Fluren des Gebäudes in der gleichen Weise für ein individuel252
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les Sicherheitsgefühl in Wert setzen, wie den Kontakt mit Fremden im öffentlichen Raum der Stadt, um sich die Unannehmlichkeiten des Umwegs wie Zeitverlust oder Nässe zu ersparen. Die Gesprächssequenz zeigt eine Spielart der Grenze der habituellen Urbanität auf. Die Probandin ist zum einen in der Lage, die Kontakte mit Fremden sowie die Indifferenz, die mit der einhergehenden Auseinandersetzung mit der Alterität der anderen verbunden ist, habituell in ihre Praxis zu integrieren. Sie versetzt sich so in eine Situation, in der sie ihre Handlungsräume und -zeiten in Bereiche ausdehnen kann, die sie ansonsten als unsicher ansehen würde. Auf der anderen Seite ist sie nicht willens, genau dies in Bezug auf ihren Arbeitsort in gleicher Weise zu interpretieren. Die soziale und physische Umwelt ist hier in einem Maße unwirtlich und abweisend, dass sie ihre habituellen Schemata der Kontingenzbearbeitung nicht greifen lässt. Sie ist nicht willens, der hohen Frequenz an Fremdkontakten auf den langen und niedrigen Fluren der Klinik in derselben Weise zu begegnen, wie sie dies im öffentlichen Raum der Straße praktiziert. Die habituelle Urbanität umgreift folglich nicht zwangsläufig alle Lebensbereiche und Räume. Der gewohnte und häufig frequentierte Raum des Arbeitsplatzes initiiert trotz der Regelmäßigkeit des Aufsuchens Vermeidungsstrategien. Auf der anderen Seite erschafft die gleiche Bedingung von strukturell bestimmter Fremdheit und Alterität neue Freiheitsgrade in Bezug auf die Bewegung in bestimmten Teilen und zu bestimmten Zeiten in der Stadt. Eine Grenze der habituellen Urbanität als das Vermögen zur Bewältigung des erweiterten Kontingenzrahmens von Fremdheit und Individualisierung wird bei den Probanden im »arkadischen« nicht-städtischen Raum vor allem in der Beschreibung von Extremsituationen deutlich. Ein massiver Einbruch von unerwarteter Kontingenz führt zu einer Überforderung des Habitus (B-I 8). Die Probandin erfährt den versuchten Überfall des Nachbarn als traumatisch und dies führt zu einer Grenzverletzung ihres Habitus. Der Einbruch des unerwarteten Ereignisses in ihr Leben ist so massiv, dass eine somatische Krankheit die Folge ist, die sie aber im Interview nicht benennt. Ihre Erkrankung führt die Gesprächspartnerin direkt auf das Erlebnis des Überfalls zurück. Der Überfall ist aber nicht der einzige auslösende Grund gewesen (B-I 8). Die habituelle Urbanität, verstanden als Kontingenzverarbeitung des Habitus, fasst damit nicht alle denkbaren Ereignisse im nicht-städtischen Raum zusammen. Wie die Probandin angibt, hätte sie eine vergleichbare Erfahrung in der Großstadt durchaus als alltägliche Gefahr und somit als erwartbar betrachtet. Den entscheidenden Unterschied bildet für sie der Raum, in dem der Vorfall erlebt wurde. Ein Überfall in der Stadt hätte demnach in ihrer eigenen Wahrnehmung nicht dieselben pathogenen 253
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Folgen gezeigt wie in der von ihr imaginierten Sicherheit der ländlichen Idylle »Arkadiens«. Die Auswirkungen des Überfalls sind so ein Ergebnis der Protension, d. h. des nicht erfolgten Antizipierens von Nötigem. Im Beispiel unterbleibt ein Einbezug von Irritationen der sozialen Ordnung, wie der versuchte Angriff des Nachbarn eine solche darstellt, in die alltägliche Praxis im nicht-städtischen Raum. Die in dem Fall des seltenen Ereignisses, das der Überfall eines Fremden darstellt, sichtbar werdende Grenze des Habitus stellt allerdings eine Ausnahmesituation dar. Die Protension als Verhinderin von Nötigem tritt außer im Beispiel des Überfalls an keiner weiteren Stelle in dieser Deutlichkeit hervor. Ein viel häufiger vorkommender Topos ist der umgekehrte Fall einer Anpassung der Gelegenheiten an die Dispositionen (vgl. Bourdieu 1987a: 110-111), d. h. der Einbezug von Ereignissen und deren habituelle Verarbeitung in die alltägliche Praxis. Diese Anpassung verdeutlicht die häusliche Pflege naher Verwandter. »Bei den Bauern, bei den Landwirten ischt das so. Das ist irgendwie Tradition. Das ischt nicht so wie, I hab jetzt meine Mutter geholt, die lebte, die ist jetzt 92 wird 93, die hab ich jetzt geholt vor a Jahr, die ist jetzt draußen im Seniorenheim (…). Des wäre eigentlich für uns Normalsterbliche, ich weiß ja nicht wie sie drüber denken, undenkbar, dass ich jetzt meine Mutter mit 92, die pflegebedürftig ischt, hierher genommen hätte ins Haus. Erstens hätte ich gar keine Möglichkeit gehabt, hier in dem Erdgeschossbereich sowieso net, und im Keller müsst ich umbauen. Hätt ich zwar mache könne, aber sie braucht nen Rollstuhl, sie kann kaum noch auf die Toilette gehen, mit nem Rollator, wäre undenkbar hoch im Oberstock, wäre undenkbar« (B-I 7).
Bourdieu betont, dass ein Habitus innerhalb seiner Grenzen durchaus erfinderisch und innovativ sein kann, diese Grenzen indes in Akten der Aufregung oder des Schockzustands hervortreten (vgl. Bourdieu 1992b: 33). Die deutliche, durch mehrmaliges Wiederholen besonders betonte Tatsache, dass für ihn eine häusliche Pflege der hochbetagten Mutter »undenkbar« sei, veranschaulicht diese Grenze des Habitus. Der Gesprächspartner lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Mutter entgegen den vor Ort bestehenden »Traditionen« (B-I 7) in professionelle Pflege übergeben hat und dies die einzige gangbare Möglichkeit für ihn ist. Er stellt sich damit quer zu den üblichen Verhaltensweisen im Ort und gründet »ne neue Tradition, keine alte« (B-I 7). Dem Proband bereitet es offensichtlich keine Schwierigkeiten, nicht den normativen Verhaltenserwartungen zu entsprechen und traditionelle Formen der Familienhilfe nicht zu erfüllen. Sein Verständnis von Tradition ist fließend (vgl. zu dem Thema des Nebeneinanders von Tradition und Moderne Gusfield 1967 sowie Fußnote 63). Der Proband zeigt mit der Selbstverständlich254
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keit, mit der er die professionelle Hilfe der Pflegeeinrichtung in Anspruch nimmt, d. h. indem er traditionelle familiäre Verpflichtungen in Form einer monetären Leistung erfüllt, weite Grenzen seines Habitus. Mit Bourdieu lässt sich an dieser Stelle vermuten, dass eine Veränderung des Akteurs im Raum der sozialen Positionen aufgrund einer erfolgreichen Berufslaufbahn als Ingenieur ebenfalls zu einer Veränderung der Lebensgewohnheiten respektive zu Abwandlungen im Raum der Lebensstile geführt hat (vgl. Bourdieu 1987c: 277-288). Das Hinwegsetzen über traditionelle Normen des Dorfes ist eine Form der Grenzverschiebung des Kontingenzraumes (b) und ein Ausdruck von habitueller Urbanität. Der Gesprächspartner wählt eine Option des Handelns, die für andere Akteure im Ort undenkbar ist, und weitet somit den Möglichkeitsraum des Handelns aus. Das über die Jahre erworbene Dispositionssystem des Habitus ist dementsprechend in der Lage, sich über traditionelle Normen des Verhaltens hinwegzusetzen. Diese Fähigkeit zur Wahrnehmung von Alternativen ist Ausdruck von habitueller Urbanität. Der Habitus eines Akteurs gründet sich vermittelt über eine soziale Benennungs- und Einprägungsarbeit, die sich tief in die biologische Natur des Menschen eingräbt. Diese Einprägungsarbeit bestimmt zunächst eine Form, die als soziale Identität angesprochen werden kann. Diese prägt sich anschließend in den somatischen Körper ein und bildet den Habitus (vgl. Bourdieu 1997d: 173). Einen Teil dieser sozialen Identität bildet der angeeignete physische Raum, an dem ein Akteur »seinen Platz hat« oder sich »heimisch« fühlt. »Ja ich bin hier geboren. Und ganz wichtig für mich war, …des Bild des eigentlich, immer wenn ich von der Bundeswehr heimfahrn bin. Ich war zuerst in Kempten dann in Landsberg äh stationiert, war des zuerst der Blick runter auffem See. Des isch wenn ma von Kempten oben runterkommt. Schebühl heisst des, des isch der erste Blick: Berge See und des isch ich bin wieder daheim« (B-I 6).
Der Habitus des Gesprächspartners zeigt eine starke Affinität zu dem Ort seiner Sozialisation und Enkulturation. Die starke Bindung an seinen Geburtsort offenbart sich in seinem im Gespräch geäußerten Verhalten, seine gesamten ökonomischen und sozialen Ressourcen zum Bau eines Hauses eingesetzt zu haben, das in einer vergleichsweise herausgehobenen Lage im Ort positioniert ist (B-I 6). Zu diesem Zweck greift der Proband auf seine Sozialkapitalbeziehungen vor Ort zurück, und konvertiert diese in ökonomisches Kapital in Form eines Einfamilienhauses. Durch das Zurückgreifen auf sein soziales Kapital vermag er es erst, in der Nähe zum Bodensee und in Ortsrandlage, d. h. in der ökonomisch 255
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und symbolisch wertvollsten Lage des Ortes, ein Eigenheim zu errichten. Der Gesprächspartner ist so imstande, Okkupationsprofite durch die Übersetzung von sozialem und ökonomischem Kapital in symbolisches Kapital zu erzielen. Nach Bourdieu ist dieses Verhalten eine Form der Inkorporierung sozialer Strukturen bzw. der sozialen Ordnung in den Habitus. Die wiederholte Erfahrung der räumlichen Distanzen im angeeigneten physischen Raum und die hier vergebenen Verortungen (wertvoll = Bodenseenähe/Randlage; wertlos = sozialer Wohnungsbau der Dr.-Emil-Hasel-Siedlung/Binnenlage an Ausfallstraße) führt zu einer Behauptung und Verfestigung der sozialen Distanzen. Die von allen Gesprächspartnern in Bodolz unisono geäußerte Tatsache, dass man mit den Bewohnern der Siedlung des sozialen Wohnungsbaus nicht bekannt ist, verdeutlicht diese soziale Distanz. Die Strategie des Hausbaus und die damit verbundene Übersetzung ökonomischen und residenziellen Kapitals in symbolisches Kapital und Okkupationsprofit deutet letztlich auf eine Grenzerweiterung des Habitus, da der Gesprächspartner, vermittelt über die legitime Verortung im angeeigneten physischen Raum, bestrebt ist, eine Verkürzung der Distanzen im sozialen Raum zu den begehrten Positionen zu erreichen (vgl. Bourdieu 1997b: 162). »Des isch genauso als wenn man hier jetzt so weiter Richtung See geht, hier den Kilometer oder hier die hundert Meter zum See, dann hat man hier von de Preise her vom Bauland, also des isch extrem (…). Da isch noch a bisserl Land, äh Grund is noch a bisserl da gewesen und des hier war der letzte Bauplatz und den hab ich naher bekommen« (B-I 6).
Eine Verbesserung in der Verortung im angeeigneten physischen Raum führt demnach zu einer Verbesserung der sozialen Position und anschließend zwingend zu einer Erweiterung der habituellen Grenzen. »Ganz allgemein spielen die heimlichen Gebote und stillen Ordnungsrufe der Strukturen des angeeigneten Raumes die Rolle eines Vermittlers, durch den sich die sozialen Strukturen sukzessiv in Denkstrukturen und Prädispositionen verwandeln« (vgl. Bourdieu 1997b: 162). Diese Akzeptanz und der Respekt vor den sozialen Positionen der anderen ist ein bestimmendes Motiv in den Strategien der Bewohner des ländlichen Raums. Ihre eigene Strategien zur Verbesserung der sozialen Position und damit innewohnend zur Ausweitung ihrer habituellen Grenzen verbleibt strikt im Rahmen der sozialen Ordnung, wie dies beispielhaft die über die Konvertierung von residenziellem und ökonomischem Kapital vermittelte Strategie der Gewinnung von Okkupationsprofiten verdeutlicht. Aufgrund der Inkorporierung der Strukturen des angeeigneten physischen Raums (Bodenseenähe = wertvoll) verbleiben ihre Strategien 256
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strikt innerhalb dieses gegebenen Rahmens sozialer Strukturen. Die Strategie, die eigene soziale Position mit Hilfe von Okkupationsprofiten zu verbessern, ist nach Bourdieu dispositiv angelegt und damit habituell. Auffällig ist die Entsprechung zu den Okkupationsprofiten der Großstädter (vor allem M-I 5). Diese gewinnen Okkupationsprofite über die Anmietung einer Wohnung im »richtigen« Stadtteil, der ihnen wiederum symbolisches Kapital verleiht. Der Unterschied besteht in der Form des Erwerbs. Der Proband im nicht-städtischen Raum bündelt seine gesamten materiellen und sozialen Ressourcen in Richtung des Erwerbs eines Hauses an der »richtigen« Stelle seines Geburtsortes, um so ein Maximum an symbolischem Kapital und ökonomischer Sicherheit zu erlangen. Die Probandin in der Stadt erwirbt symbolisches Kapital rein über die Adresse, ohne dies mit Aneignung im materiellen Sinne zu verknüpfen. Die beiden Strategien unterscheiden sich folglich nicht in Hinblick auf ihre Form, sondern lediglich in Hinblick auf ihren Inhalt. Beide erzielen Okkupationsprofite, im Fall der Städterin über die Anmietung einer Wohnung in einem »wertvollen« Stadtteil, im Fall des Bewohners im ländlichen Raum über die Errichtung an einer »wertvollen« Stelle im Ort. Zeigt sich in Bezug auf den Erwerb von Okkupationsprofiten noch die Differenz zwischen Inhalt und Form, tritt diese Differenz im Zusammenhang mit dem Ethos des Habitus deutlich zurück. Der Ethos des Habitus, d. h. eine Folge praktischer Prinzipien und dispositiver moralischer Kategorien, die unterschwellig die Praxis berühren (vgl. Bourdieu 1993a: 126), zeigt sich beispielhaft in der Einschätzung des Streites um die Benennung des Tegernseer Gymnasiums durch einen Probanden. Das Gymnasium in Tegernsee sollte nach einem Stifter benannt werden, der allerdings am Ende des zweiten Weltkriegs im Alter von 17 Jahren für mehrere Monate in die Waffen-SS eingezogen wurde. Nach längeren Diskussionen im Kollegium des Gymnasiums über die biographische Vergangenheit des Stifters zog dieser schließlich sein Angebot zurück (T-I 1; T-I 2). »Also ich muss sagen, ich hätt mit dem Namen leben können (…). Also wenn ich unbedingt was finden will, find ich doch an jedem Menschen was ja. Also is für mich lächerlich und die Schule, die hätt wirklich was davon gehabt. Man hätt was machen könne ja. Man hätt unheimlich fördern könne und des is wahrscheinlich jetzt endgültig verloren. Also des is etwas wo ich auch sagen muss, muss des sein? Müssen die Leut alle so borniert sein« (T-I 1)?
Der in der Gesprächssequenz zu erkennende unausgesprochene Vorwurf an die Protagonisten des Diskurses, das Lehrerkollegium am Tegernseer 257
URBANITÄT ALS HABITUS
Gymnasium, richtet sich auf den sich in der Diskussion zeigende Naturalisierungseffekt. Die Lehrer als Träger von institutionalisierten kulturellem Kapital erleben ihre eigene Bildung wie eine Naturgabe und vergessen die sozialen Voraussetzungen des Erwerbs (vgl. Bourdieu 1985: 64). Die Verweigerungshaltung der Lehrer führt nach Meinung des Probanden zu einer sozialen Schieflage, da die Stiftungsgelder nicht zu einer Förderung von kostspieligen Austauschprogrammen eingesetzt werden können, für die sie vom Stifter ursprünglich vorgesehen waren, und so die Möglichkeiten des Fremdsprachenerwerbs für Schüler aus niedrigeren sozialen Positionen eingeschränkt oder gänzlich verhindert werden. Die habitusimmanente Ethik, der Ethos des Habitus, zeigt sich in dieser Bewertung der Entscheidung des Lehrerkollegiums durch den Gesprächspartner. Das Bevorzugen von abstrakten politischen, ethischen und elitären moralischen Wertekategorien, die die Lehrer untereinander teilen und die sie in diesem Fall für ihre moralische Distinktion einsetzen, vor einer Praxis, von der alle, inklusive der sozial niedrig positionierten Schüler profitieren würden, ist für den Probanden nicht nachzuvollziehen oder habituell nicht fassbar. Die habituelle Urbanität zeigt sich an dieser Einschätzung der Situation. Die Tatsache, dass Akteure Möglichkeiten nicht wahrnehmen, sie sogar aktiv aus dem Raum des Möglichen ausschließen, ist für ihn nicht nachzuvollziehen.92 Nach Meinung des Probanden zielt Praxis demnach immer auf die Erweiterung der eigenen Möglichkeiten und nicht auf normative Einschränkungen. Der Gesprächspartner verdeutlicht an dieser Stelle des Interviews, dass sein Habitus an einer anhaltenden Verschiebung seiner ihm gegebenen Grenzen interessiert ist. Für ihn ist im Gegensatz zu den Lehrern des Gymnasiums klar, dass er sein inkorporiertes kulturelles Kapital in einem kontinuierlichen Lernprozess erworben hat und dieses keine »Naturgabe« (Bourdieu 1985: 64) aufgrund seiner ererbten sozialen Position darstellt. Habituelle Urbanität als Kontingenzbewältigung drückt sich in diesem Fall in dieser Abneigung gegen eine Praxis der Kontingenzeindämmung aus, die diese sozialen Bedingungen des Erwerbs von kulturellem Kapital ignoriert. Wird die habituelle Urbanität im dargelegten Beispiel durch die Ablehnung von Positionen deutlich, die Möglichkeiten einschränken oder ganz verhindern, so zeigt sie sich im Fall der Großstädter im Rahmen 92 Das aktive Verhindern der Lehrer, dass Schüler aus benachteiligten Familien an Fremdsprachenaustauschprogrammen teilnehmen können, ist ein überdeutlicher Indikator für Bourdieus Diktum, dass Kapital unweigerlich zu Kapital kommt. Bourdieu analysiert die Rolle des Schulsystems und seiner individuellen Akteure, der Lehrer, in diesem Prozess in seiner Arbeit »Kulturelle Reproduktion« (vgl. Bourdieu 1976a). 258
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des Umgangs mit alltäglichen Risiken. Die Interpretation von räumlicher Enge als potenziell riskant, z. B. das Risiko, im dichten Gedränge der U-Bahn das Portmonee entwendet zu bekommen, ist ausschließlich auf Situationen beschränkt, die nicht alltäglich sind, beispielsweise eine Reise in eine andere Großstadt (M-I 5). Die Gesprächspartnerin fasst ihren Alltag als einen ausgedehnten Raum des Risikos auf, in dem bestimmte Praxen mit bestimmten Risiken untrennbar verbunden sind, die allerdings nicht bewusst gemacht werden. Nichtalltägliche Situationen, z. B. eine Reise in eine andere Großstadt, empfindet sie hingegen als potenziell riskant. »Manchmal denke ich dran, wenn ich so wegnicke, beinahe wenn ich auf der Rückfahrt bin und neben mir die Tasche stehen hab und wegnicke, und wo ich dann neben mir die Tasche stehen hab und denke, ob ich das wohl merken würde, wenn mir jemand mein Portmonee rausholt, aber....also da denke ich in München irgendwie wenig dran, da denke ich eher in Berlin dran...ja« (M-I 5).
Es ist hier ein deutlicher habitueller Unterschied in der Betrachtung derselben Situation am Wohnort und in einer fremden Großstadt zu erkennen. Die alltägliche Praxis der Heimfahrt mit der U-Bahn wird nicht als eine übermäßig riskante Handlung angesehen. Die Fremdheit und Alterität der anderen in einer vollen Untergrundbahn an ihrem Wohnort sind Fakten, die die Grenzen ihres Habitus nicht berühren. Die hier erkennbare Differenz zwischen der Einschätzung der Münchener U-Bahn, die sie täglich benutzt, und derselben Situation in einer anderen Großstadt verdeutlicht die habituellen Urbanität. Der geweitete Kontingenzrahmen der Fremdkontakte in der Großstadt erscheint nicht als Bedrohung. Die Fahrt mutet als so sicher an, d. h. habituell erwartbar, dass die Probandin keinen Wert auf einen besonderen Schutz ihres Eigentums legt. Die habituelle Urbanität als Bewältigung des Kontingenzwachstums durch Fremdkontakte zeigt sich in diesem Verhalten. Die Protension zwänge die Probandin, sich beständig mit der Situation in der Art auseinander zu setzen, dass sie Abwehrmaßnahmen ergreift, die sie kennt, z. B. eine besondere Achtsamkeit gegenüber Fremden. Die Selbstverständlichkeit des Umgangs mit der Situation in einer überfüllten U-Bahn zeigt hingegen die Fähigkeit der Probandin, in diesem Moment Nötiges zu antizipieren und nicht mit den Dispositionen bzw. Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata der Vergangenheit zu reagieren. Habituelle Urbanität als Veränderung des Effekts der Hysteresis kommt daher in den Momenten zum Tragen, in denen eine Umgestaltung tradierten Verhaltens zu einer Verbesserung der augenblicklichen Situation des Akteurs führt, wie im Fall der U-Bahnfahrt die Interpretation der Anwesenheit 259
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von Fremden als sicher zu einer deutlichen Verminderung von Stress führt. 93 Die Interpretation der empirischen Ergebnisse unter dem Aspekt der Diffusion von Urbanität zeigt eine habituelle Urbanisierung der in die Untersuchung eingegangenen Orte im südlichen Bayern. Die zu dieser Einschätzung herangezogenen Punkte, namentlich die wesentlichen Assoziationen mit der Stadt, die Lage der Kontingenzräume, der Erwerb von residenziellem Kapital und die habituelle Urbanität, weisen bezogen auf eine Beurteilung der Urbanisierung der Gesellschaft Unterschiede auf. Diese Verschiedenheiten sind jedoch marginal und nicht ausreichend, eine noch bestehende Stadt/Nicht-Stadt-Differenz zu begründen. Der These einer habituellen Urbanisierung ist für die untersuchten »arkadischen« nicht-städtischen Räume zuzustimmen. Dieses Phänomen erklärt sich über die in den Habitus der Akteure eingegangene Urbanität, die in städtischen wie in »arkadischen« Regionen zu einer identischen habituellen Bewältigung des Kontingenzwachstum führt. In Bezug auf unterschiedliche Urbanisierungsformen oder -typen sind damit keine Differenzen (mehr) festzustellen. Die wesentlichen Gedankenverknüpfungen der unterschiedlichen Gruppen in Bezug auf das Städtische unterscheiden sich durch ihre Gegenstände. So treten die physischen Phänomene der Stadt und ihre Institutionen, die gleichzeitig ihre Zentralität bedingen, bei den Probanden des nicht-städtischen Raums deutlicher hervor. Ihr Schwerpunkt der Betrachtung liegt stärker auf physischen Gegebenheiten, die die Größe und Funktionalität einer Siedlung kommunizieren. Demgegenüber verbinden die Großstädter deutlich stärker die Anwesenheit von Fremden und die Möglichkeiten, die sich aus dieser Anwesenheit ergeben, mit der Stadt. Die Belastungen des städtischen Lebens, z. B. durch die hohe soziale Dichte, erscheinen ihnen nicht als solche. Das Beispiel des Fensters als ein Symbol der Beobachtung von Fremden, ohne selbst beachtet zu werden (vgl. Wiesing 2005: 99-100), verdeutlicht diese Wahrnehmung sozialer Dichte. Ein bedeutender Topos der Bewohner des »arkadischen« nicht-städtischen Raums ist darüber hinaus die zeitliche Verzögerung in 93 Sozialpsychologische Experimente zeigen diesen behaupteten Zusammenhang zwischen der Interpretation der sozialen und physischen Umwelt in einem Zug oder einer U-Bahn und dem Auftreten von Stress deutlich auf. Die gefühlte Belastung ist dabei nur in einem eingeschränkten Maße abhängig von der Länge oder Dauer der Zugfahrt. Die entscheidenden Faktoren sind die sozialökologischen Bedingungen der Zugreise. Der habituelle Einbezug, z. B. in Form von Gelassenheit, dieser Bedingungen wie Enge, unfreiwillige Kontakte, Gedränge und geringer persönlicher Freiraum reduziert in seiner Folge deutlich die psychischen und somatischen Belastungen (vgl. Frankenhaeuser et al. 1978: 41-53). 260
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der Einführung von Neuerungen. Diese sehen sie zunächst in der Stadt verbreitet und erst im Anschluss daran diffundieren Innovationen in den ländlichen Raum. Eine von den Großstädtern verschiedene Bewertung erfährt ebenfalls die Bevölkerungsfluktuation im Ort. Während dies die Städter zur ihrer alltäglichen Praxis zählen und kaum vermerken, erscheint sie für die Probanden im nicht-städtischen Raum als ein Zeichen von Unregelmäßigkeit und Unordnung. Trotz dieser verschiedenen Assoziationen und deren Bewertungen zeigt sich eine starke Übereinstimmung in Bezug auf die Indifferenz. Beide Untergruppen verknüpfen als ein wesentliches Merkmal die Indifferenz als formalen Umgang zwischen den Fremden mit einer Stadt. Indifferentes Verhalten ist ein Thema sowohl für die Urbaniten als auch für die Bewohner des nichtstädtischen Raums. Der Kontakt mit Fremden erfährt eine unterschiedliche Wahrnehmung zwischen den beiden Subgruppen. Bei den Städtern überwiegt eine Inwertsetzung in Form der Ausweitung des eigenen Handelns sowohl zeitlicher als auch räumlicher Art. Die Fremdkontakte ermöglichen den Urbaniten, ihre Aufenthalte in bestimmten Räumen zeitlich zu dehnen oder überhaupt erst auf bestimmte Räume auszuweiten. Diese Praxis ist an bestimmte Bedingungen gebunden. Beispielsweise verhindert eine zu geringe räumliche Distanz zwischen ihnen und den Fremden diese Praxis. Die Probanden im nicht-städtischen Raum nehmen gegenüber Fremden eine Grundhaltung ein, die eher eine Form des Ignorierens darstellt. Es unterbleibt eine Ökonomisierung der von der Frequenz her deutlich geringeren Fremdkontakte in Richtung der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des Handelns und Entscheidens. Im Sinnzusammenhang mit der subjektiv bewussten Individualisierung lassen sich keine Differenzen zwischen den beiden Untergruppen feststellen. In beiden Fällen ist die Auseinandersetzung mit der Alterität der anderen alltäglich und selbst extreme Formen von Individualität erzwingen keine weiteren Praktiken ihrer Bewältigung. Der im Zusammenhang mit der habituellen Urbanität theoretische Referenzpunkt der Hysteresis, das residenzielle Kapital, akkumuliert sich zwischen den zwei Gruppen in unterschiedlicher Art und Weise. Die Probanden im »arkadischen« Raum zeigen eine affektive Bindung an Orte und Stellen im angeeigneten physischen Raum und kommunizieren diesen affektiven Bezug durch ihr Handeln nach außen. Die affektive Besetzung eines Ortes ist wiederum Grundlage der Gewinnung von residenziellen Kapital. Das soziale Kapital, das vor Ort erworben wird, lässt sich im Wesentlichen über eine Teilnahme an der Vereinsarbeit und an dörflichen Festen erwerben. Im Gegensatz dazu benötigen die Großstädter kein emotionales Engagement zum Erwerb von residen261
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ziellem Kapital. Sie schöpfen symbolisches Kapital über die Okkupierung eines Ortes im angeeigneten physischen Raum allein über die Adresse. Auf der Grundlage ihrer kulturellen Dispositionen passen sie sich an die sprachlichen und kulturellen Codes der Wohnumgebung an und über Mechanismen von Vertrauen und generalisierter Reziprozität erfolgt die Aquise von sozialem Kapital am Wohnort. Ferner greifen die Probanden im nicht-städtischen Raum auf der Basis ihres residenziellen Kapitals aktiv in die Gestaltung der Umwelt ein, etwa durch die Organisation von Dorffesten oder der Beteiligung an baulichen Veränderungen des Ortes. Die beiden Subgruppen zeigen letztlich einen Unterschied lediglich im Zusammenhang mit dem Erwerb von sozialem Kapital am Ort selbst, d. h. sie verfolgen ungleiche Strategien. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe. Beide Akteursgruppen sind erfolgreich in der Aquise von Sozialkapital, sowohl als »bridging-« als auch als »bonding-social capital«. Bezogen auf den Hysteresiseffekt als Phlegma des Habitus lassen sich keine substanziellen Unterschiede zwischen den Untergruppen feststellen. Bourdieus Charakterisierung des Habitus als »geschichtlich produziertes, aber aus der Geschichte relativ herausgenommenes Prinzip der Neuschöpfung« (Bourdieu 1993a: 128), das auf der Grundlage stabiler Dispositionen distinkte Formen der Hysteresis produziert (vgl. Bourdieu 1993a: 128), ist nicht in der Lage, zwischen den zwei Akteursgruppen tief greifende Unterschiede fest zu stellen. Beide Gruppen akquirieren erfolgreich residenzielles Kapital, den Referenzpunkt der Hysteresis im Sinnzusammenhang mit der habituellen Urbanität. Die Unterschiede in den jeweiligen Strategien sind hingegen der sozialen Umwelt zuzurechnen und nicht den Habitus der Akteure. Die Herausgehobenheit der theoretischen Konzeption des Habitus besteht nach Bourdieu in der in ihm wirkenden »Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat« (Bourdieu 1987a: 105). Diese Gegenwart der Geschichte im Habitus ist für die Unabhängigkeit der Praxis von den »äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart« (Bourdieu 1987a: 105) verantwortlich. Als »Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein« (Bourdieu 1987a: 105) kann der Habitus nur dann ein Ereignis als einen bedeutsamen Reiz wahrnehmen, wenn er in der Lage ist, das Ereignis nicht als zufällige Gegebenheit zu klassifizieren, sondern zu problematisieren, »indem er genau die Prinzipien darauf anwendet, mit denen es gelöst werden kann« (Bourdieu 1987a: 104). Diese von der äußeren Determiniertheit der unmittelbaren Gegenwart gelöste habituelle Unfähigkeit, ein Ereignis als bedeutsamen Reiz zu erkennen oder wahrzunehmen, zeigt sich in dem gezeigten Unvermögen der Probanden, Situationen oder Gegebenheiten zu fotografieren, die sie als ungewöhnlich erachten. Beide Akteursgruppen finden in ihrer direkten Um262
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welt keine Besonderheiten, die sie als so irritierend betrachten, dass diese als ungewöhnlich erscheinen und fotografiert würden. Bezogen auf Bourdieu zeigt sich an dieser Stelle ein Ausbleiben des Problematisierens des Zufälligen. Sämtliche Ereignisse oder Entitäten der direkten sozialen und physischen Umwelt beziehen die Akteure in ihre habituelle Praxis mit ein. Beide Gruppen bewältigen nicht das Zufällige, sondern nehmen es nicht als solches wahr. Ereignisse werden daher nicht ihrer Zufälligkeit entrissen und habituell zu einem Problem stilisiert (vgl. Bourdieu 1987a: 104). Dieses habituelle Miteinbeziehen von Kontingenz in das alltägliche Handeln und Entscheiden veranschaulicht die habituelle Urbanität. Diese zeigt sich damit sowohl bei den Großstädtern als auch bei den Bewohnern des nicht-städtischen Raumes. Beide Akteursgruppen sind befähigt, Alternativen zu tradierten Handlungsweisen aufzuzeigen und so die Grenzen ihres Handlungsraumes zu erweitern, und beide Subgruppen gewinnen Okkupationsprofite über ihre Verortung im angeeigneten physischen Raum. Die habituelle Urbanität zeigt sich darüber hinaus in der symbolischen Appropriation des Fremden durch die Bewohner des »arkadischen« Raums. Das theoretische Konstrukt der habituellen Urbanität vermag so, die Grundüberlegung einer vollständigen Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft zu untermauern. Die in die Habitus der Akteure eingegangene Urbanität als Bewältigung von Kontingenzwachstum findet sich in beiden Subgruppen. Die Auswahl der Untersuchungsgemeinden in nichtstädtischen Räumen »arkadischer« Qualität bedingt hingegen eine Einschränkung für die Generalisierbarkeit. Die habituelle Urbanisierung der »arkadischen« nicht-städtischen Räume bedeutet nicht eine ebenfalls erfolgte habituelle Urbanisierung von peripheren ländlichen Räumen. Die vorliegende Studie kann hingegen die eingangs der Arbeit dargestellte These der Urbanisierung der Gesamtgesellschaft (vgl. Amin/Thrift 2002; Siebel 1999; Stichweh 2006; Tenfelde 2006) für den Ausschnitt der »arkadischen« nicht-städtischen Regionen bestätigen. Urbanität kommt vermittelt über die Habitus der Akteure in diesen nicht-städtischen Räumen vor. Diese Räume sind genauso urban oder urbanisiert wie die Großstadt München. Die habituelle Urbanität kann als ein entscheidender Referenzmaßstab für eine Urbanisierung dienen. Nur dort, wo Urbanität vorkommt, lässt sich von Urbanisierung sprechen oder lassen sich ihre Synonyme sinnvoll verwenden, wie z. B. die Nivellierung des Stadt/Land-Gegensatzes oder der Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Die Urbanisierung des ländlichen Raums respektive die Nivellierung des Stadt/Land-Gegensatzes vollzieht sich über die Diffusion von habitueller Urbanität, d. h. der habituellen Bewältigung von Kontingenz, die aus bestimmter struktureller Fremdheit und subjektiv bewusster Indivi263
URBANITÄT ALS HABITUS
dualisierung entsteht. Diese Leistung vollbringen sowohl die Akteure in der Stadt als auch die Akteure in »Arkadien«. Über eine etwaige habituelle Urbanisierung peripherer ländlicher Räume kann damit (noch) nichts ausgesagt werden. Gleichzeitig sind ebenfalls keine Angaben über Bereiche in Großstädten, die nicht in einem habituellen Verständnis als urbanisiert gelten können, zu treffen. Es ist nicht davon auszugehen, dass alle Teilräume in Großstädten tatsächlich urban sind. Entwicklungen, die dem entgegenstehen, sind beispielsweise die stark ansteigende Privatisierung öffentlicher Räume in der Stadt, die mit individuellen und überwachten Zugangsregelungen versehen sind und auf diese Weise Kontingenz massiv einschränken. Teresa Caldeira bezeichnet solche privatisierten, geschlossenen und überwachten Räume zum Wohnen, Konsumieren, Entspannen und Arbeiten als »fortified enclaves« (Caldeira 1996). Darüber hinaus bestehen in Großstädten weiterhin Räume, deren legitime Bewohner verstärkt Ausgrenzungsprozessen unterworfen sind, die Bourdieu mit »Ghetto-Effekt« (1991: 32) bezeichnet. Auch diese infrastrukturell extrem verarmten Gebiete inmitten von Großstädten sind nicht zwangsläufig habituell urbanisiert (vgl. zu Exklusion und Stadt Kuhm 2000).
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RESÜMEE: DIE HABITUELLE URBANISIERUNG DER GESELLSCHAFT
Das Buch verfolgte zwei Ziele. Zum einen erarbeitete es eine Theorie, die eine wissenschaftliche Erforschung der Urbanisierung des ländlichen Raums ermöglicht. Mit der Theorie der habituellen Urbanität wird es möglich die Urbanisierung in lebendigen Großstädten wie ruhigen Weilern, entlegensten Orten und quirligsten Metropolen zu untersuchen. Die Urbanisierung wird dabei als ein Diffusionsprozess von habitueller Urbanität, d. h. der habitusimmanenten Kontingenzverarbeitung der Akteure, aufgefasst. Zum anderen untersuchte das Buch als ein Fallbeispiel die habituelle Urbanisierung im »arkadischen« nicht-städtischen Raum des südlichen Bayern. Der Hintergrund dieses Vorgehens ist die These der Ubiquität des Urbanen oder die Annahme einer vollständigen Urbanisierung der Gegenwartsgesellschaft, die zwar vielfach behauptet wird, die aber nirgendwo empirisch bewiesen ist. Für die »arkadischen« Räume des nicht-städtischen Südbayerns liegt dieser Beweis jetzt vor. Südbayern ist habituell urbanisiert. Folgt man Überlegungen aus der anglophonen Literatur, sind diese »arkadischen« Regionen höchster landschaftlicher Attraktivität bereits seit langem aufgrund ihrer Attraktivität als Wohnstandort einem starken Urbanisierungsdruck ausgesetzt, der sich in einem Ausbreiten städtischer Infrastrukturen bemerkbar macht (vgl. Vance, Jr. 1972; Birch 1977; Fairweather/Swaffield 1998; Curry et al. 2001; Smails 2002). Es ist mit den vorliegenden Ergebnissen davon auszugehen, das diese »arkadischen« Regionen weltweit auch habituell urbanisiert sind. Am Ende der Studie steht eine habituelle Urbanisierung der »arkadischen« nicht-städtischen Räume in Deutschland. Zwischen den Bewoh265
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nern von Städten und den Bewohnern dieser »arkadischen« Regionen lässt sich kaum noch eine Differenz bezüglich der Form von habitueller Urbanität feststellen. Beide Gruppen zeigen sich in der Lage, Kontingenz als Risiko zu betrachten und dem eigenen Handeln und Entscheiden zu zuordnen. Urbanität ist folglich über diese Kontingenzbewältigung in den »arkadischen« Räumen gegeben. Diese sind mithin urbanisiert, so wie dies von den Epigonen der These der vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft für alle Räume behauptet wird. Mithilfe der Theorie der habituellen Urbanität kann dieser Vorgang nun erklärt werden. Die Urbanität ist, vermittelt über die habitusimmanente Kontingenzbewältigung, in diesen landschaftlich attraktiven Regionen präsent und bedingt deren Urbanisierung. Von diesem Ergebnis unberührt bleiben all jene ländlichen Räume, die nicht diese »arkadische« Qualität aufweisen. Auf der Grundlage der gewonnenen empirischen Ergebnisse lassen sich für die Zukunft lediglich Vermutungen formulieren, inwieweit auch diese Regionen ebenfalls als urbanisiert gelten können. Damit steht am Ende der empirischen Arbeit die These der vollständigen habituellen Urbanisierung der Bundesrepublik Deutschland. Schaut man rückblickend auf den vor mehr als hundert Jahren publizierten Aufsatz The Probable Diffusion of Great Cities des englischen Romanciers und Science-Fiction Autors Herbert George Wells, so ist dieser als eine bemerkenswerte Voraussage der tatsächlich eingetroffenen »Diffusion der großen Städte« anzusehen. Zwar sind bestimmte getroffene Aussagen, z. B. dass ganz England südlich von Nottingham und östlich von Exeter zu einem Vorort von London würde (vgl. Wells 1924: 41), teilweise fragwürdig, da die von Wells zugrunde gelegte Fortentwicklung von technischer Infrastruktur nicht in dem Maße eingetroffen ist, wie er dies erwartete. Doch bestätigt sich die unterschwellig von Wells in seinem Essay behauptete These einer weitgehenden Urbanisierung der modernen Gesellschaft. Zumindest die landschaftlich attraktiven Räume sind bereits von einer habituellen Urbanisierung erfasst und unterscheiden sich diesbezüglich nicht mehr von Großstädten. Betrachtet man die eingangs angeführten Zahlen der weltweiten Verstädterung, sind Residuen von Regionen, die nicht habituell urbanisiert sind, in absehbarer Zeit, so wie von Herbert George Wells zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts prognostiziert, nicht mehr zu erwarten.
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