Bewegungsmaterial: Produktion und Materialität in Tanz und Performance 9783839434208

With `movement material', this volume picks up on a concept which for dance practice and dance studies is as centra

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German Pages 396 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Bewegungsmaterial
VERFAHREN
Bewegen. Annäherung an ein künstlerisches (Forschungs-)Verfahren
Heterochronien, Heterogenitäten und instabile Wissensfelder – Lecture Performances als Suchbewegungen einer ›zeitgenössischen‹ Tanzforschung
Re-Thinking TR_C_NG: Reflexion zu einer Produktion historischer Materialität in Tanz und Wissenschaft
Wie klingt ein Raum? Inszenierung von Räumen durch Aneignung und Choreografie von architektonischem Klangmaterial
WERDEN
Bewegung als Material in Antje Pfundtners RES(E)T (2008)
Getanzte Erinnerung. Zur Produktivität der Erinnerung bei Pina Bausch
Material erproben. Dokumentationen der Probenarbeit des Tanztheaters Wuppertal
Gesten der Revolution: Material-Bewegung in Burning Beasts von Claudia Bosse
STABILISIEREN
Dramaturgie der Bewegung – Zur Rezeption tänzerischer Körperbewegung
Spontaneity in Dance: Language Matters
Einer bewegt alle. Zur performativen Produktion von Kollektiven und Singularitäten
»What else, besides the body, might physical thinking look like?« Überlegungen zur ästhetischen Bedeutung der Choreografie im zeitgenössischen Tanz
STILLSTELLEN
Medieneinsatz auf der Tanzbühne – Formen und Funktionsweisen
Bewegungen des Bleibens. Bildlichkeiten des Momenthaften im Tanz
Bewegte Bildräume. Zu den Fotografien der Site-Specific Performances von Trisha Brown
»Vom Fleisch zum Stein«. Strategien der Rahmung in der zeitgenössischen Tanzfotografie
Autorinnen und Autoren
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Bewegungsmaterial: Produktion und Materialität in Tanz und Performance
 9783839434208

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Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.) Bewegungsmaterial

TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 44

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)

Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance

Die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat die Drucklegung dieses Buches durch eine großzügige Finanzierung ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Unter Verwendung einer Fotografie von pathosformel / Daniel Blanga-Gubbay and Paola Villani, »La timidezza delle ossa« © Antonio Ottomanelli. Satz & Layout: Scarlett Dessilla, Katharina Kelter, Katharina Neumann Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3420-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3420-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Katharina Kelter und Timo Skrandies | 7 Bewegungsmaterial

Timo Skrandies | 9

V ERFAHREN Bewegen. Annäherung an ein künstlerisches (Forschungs-)Verfahren

Kerstin Evert | 65 Heterochronien, Heterogenitäten und instabile Wissensfelder – Lecture Performances als Suchbewegungen einer ›zeitgenössischen‹ Tanzforschung

Claudia Jeschke und Rose Breuss | 83 Re-Thinking TR_C_NG: Reflexion zu einer Produktion historischer Materialität in Tanz und Wissenschaft

Yvonne Hardt | 99 Wie klingt ein Raum? Inszenierung von Räumen durch Aneignung und Choreografie von architektonischem Klangmaterial

Saskia Reither, Gerriet K. Sharma, Nico Bergmann | 121

WERDEN Bewegung als Material in Antje Pfundtners RES(E)T (2008)

Maike Vollmer | 151 Getanzte Erinnerung. Zur Produktivität der Erinnerung bei Pina Bausch

Katharina Kelter | 169 Material erproben. Dokumentationen der Probenarbeit des Tanztheaters Wuppertal

Annemarie Matzke | 191

Gesten der Revolution: Material-Bewegung in Burning Beasts von Claudia Bosse

Gerald Siegmund | 209

STABILISIEREN Dramaturgie der Bewegung – Zur Rezeption tänzerischer Körperbewegung

Christiane Berger | 231 Spontaneity in Dance: Language Matters

João da Silva | 245 Einer bewegt alle. Zur performativen Produktion von Kollektiven und Singularitäten

Pamela Geldmacher | 265 »What else, besides the body, might physical thinking look like?« Überlegungen zur ästhetischen Bedeutung der Choreografie im zeitgenössischen Tanz

Eva Pröbstel | 283

STILLSTELLEN Medieneinsatz auf der Tanzbühne – Formen und Funktionsweisen

Claudia Rosiny | 311 Bewegungen des Bleibens. Bildlichkeiten des Momenthaften im Tanz

Susanne Foellmer | 327 Bewegte Bildräume. Zu den Fotografien der Site-Specific Performances von Trisha Brown

Isa Wortelkamp | 353 »Vom Fleisch zum Stein«. Strategien der Rahmung in der zeitgenössischen Tanzfotografie

Isabelle Drexler | 365 Autorinnen und Autoren | 387

Vorwort K ATHARINA K ELTER UND T IMO S KRANDIES

Der vorliegende Band basiert auf der Kooperation der Herausgeber mit dem tanzhaus nrw Düsseldorf. Insbesondere die langjährige, gastfreundschaftliche und inspirierende Zusammenarbeit mit der Dramaturgin des Hauses, Henrike Kollmar, hat wesentlich zur Entstehung dieses Bandes beigetragen. Daher gilt ihr an erster Stelle ein nachdrücklicher und herzlicher Dank. In den vergangenen Jahren haben im tanzhaus nrw zahlreiche gemeinsame Seminare, Workshops und Tagungen im thematischen Spannungsfeld von Tanz, Performance, Visueller Kultur und Medien stattgefunden. Die Verzahnung von Theorie und Praxis stand dabei stets im Mittelpunkt, mit dem Ziel, verschiedene wissenschaftliche und künstlerische Positionen und Arbeitsformen zueinander in Beziehung zu setzen. Unser Wunsch war es daher, diese stets anregende und angeregte Diskussion und interdisziplinäre Zusammenarbeit in einem Band zusammen- und weiterzuführen. Dabei sollte weder ein nüchterner Sammelband zur Tagung XY noch eine auf den Allgemeinheitsgrad eines ›Handbuchs‹ ausgelegte Veröffentlichung entstehen. Vielmehr möchte der Band den Austausch unter dem Fokus Bewegungsmaterial fortsetzen und führt zu diesem Zweck Autoren1 zusammen, die den gemeinsamen Veranstaltungen im tanzhaus nrw auf die eine oder andere Weise verbunden sind; zum Beispiel weil sie bei Gelegenheit vorgetragen, im Haus als Choreografen gearbeitet haben oder aber, weil ihre Forschungen wichtige Diskursbeiträge für eine Auseinandersetzung mit Bewegungsmaterial darstellen.

1

Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

8 | K ELTER/S KRANDIES

So bekommt der Band seinen Zuschnitt durch die besonderen methodischen, theoretischen und auch tänzerischen Ansätze der Beiträger, die sich im Spannungsfeld von Bewegungsmaterial positionieren, sich gegenseitig ergänzen und aufeinander beziehen sowie mit offenem Ausgang die Diskussion um Bewegungsmaterial in den performativen Künsten anregen. Dabei ist die Frage nach der Relationalität von Materialität, Produktionsprozessen, Bewegung und Visualität leitend, da erst aus ihrem Zusammenspiel wird, was Tanz ist. Bewegt man sich durch den künstlerischen Alltag im tanzhaus nrw (oder an anderen Produktions-, Proben- und Aufführungsstätten) merkt man schnell, dass das Wort »Bewegungsmaterial« von Tänzern und Choreographen – im Gegensatz zum wissenschaftlichen Diskurs – ganz alltäglich verwendet wird. Aber was meinen Tänzer und Choreografen eigentlich, wenn sie von »Bewegungsmaterial« sprechen? Und welche tanz-, kultur-, medien- und kunstwissenschaftlichen Dimensionen lassen sich diesbezüglich entfalten und vertiefen? Der vorliegende Band versteht sich als Versammlung verschiedenster Denkwege, Vorschläge und Analysen hierzu und greift mit »Bewegungsmaterial« einen ebenso zentralen wie alltäglichen und doch weitestgehend unbestimmten Begriff auf. Neben Henrike Kollmar danken die Herausgeber auch Stefan Schwarz, der die Programmleitung Bühne im tanzhaus nrw innehat. Darüber hinaus gilt ein Dank allen Beiträgern dieses Bandes für die produktive Zusammenarbeit, die interessanten Diskussionen und ihre Geduld. Die Publikation wurde ermöglicht durch die großzügige Förderung der Gesellschaft von Freunden und Förderern (GFFU) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der wir auf diesem Wege auch noch einmal herzlich danken möchten. Unser tiefer Dank gilt Katharina Neumann und Scarlett Dessilla für ihre intensive, sorgfältige und verlässliche Unterstützung bei Lektorat und Erstellung der Druckvorlagen – ihr Bewegungsmaterial waren Manuskripte, aus denen sie ein lesbares Buch gemacht haben.

Bewegungsmaterial T IMO S KRANDIES »Mind your step!« AUTOMATISIERTE ANSAGE, LAUFBÄNDER AM SCHIPHOL AIRPORT, AMSTERDAM »Nicht stehenbleiben. Bleib in Bewegung.« BECCA IN »CALIFORNICATION«

Material ist noch nicht, aber es wird. Bewegung ist Werdensmodus von Material. Sie bewohnt es. Material ist Stabilisierung von Bewegung, eine ihrer vorübergehenden Verdichtungen. Bewegung im Tanz materialisiert sich in einer leiblichen Ortsspezifität, verdichtet und stabilisiert diesen Ort auf eine ästhetische Weise (»Körper«), die uns aufmerken lässt. Das Kompositum Bewegungsmaterial heißt, Bewegung vom Material her zu denken: Sie zeigt sich an ihm, durch es, in ihm. Bewegungsmaterial ist Material von, in, durch Bewegung. Ebenso wie das Kompositum Haustür die Tür des Hauses meint, nicht ein Haus mit Tür. Doch: Was sollte eine »Haustür« ohne Haus sein – und andersherum: Ist Haus ohne Tür überhaupt sinnvoll denkbar? Und bei Bewegungsmaterial klingt diese Frage noch schärfer: Was wäre Material ohne Bewegung, was Bewegung ohne Material? Das eine ist ohne das andere kaum denkbar. Anders gesagt: In Bewegungsmaterial sind die beiden Elemente beziehungsweise Morpheme kopulativ und wechselweise affizierend. Schauen wir uns das genauer an, indem wir mehrfach ansetzen.

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I. S CHREIBEN Am Anfang steht ein Bild der Versuchung – und der Verführung: Wie die Möwen in kreisenden Bewegungen den Richtung Hafen schippernden Fischkutter begleiten, in der Hoffnung, aus seinem Innern etwas zu ergattern, aufzufangen oder zu fassen zu bekommen, so bewegen wir uns, die wir vom Tanz schreiben, schreibend der Tanzbewegung hinterher. Vielleicht bewegen wir uns und etwas, wenn wir über Tanz und von ihm schreiben, doch wir tanzen nicht. Unser »Bewegungsmaterial« wird nie das Bewegungsmaterial derjenigen sein, die tanzend im Ästhetischen forschen.1 Diesem Hiatus geht diese erste – wenn auch kurze – Meditation nach. Ob es möglich ist, vom Tanz zu sprechen oder zu schreiben, über Tanz zu arbeiten (wie man sagt), an ihm, ohne dass dies zugleich ein Tanzen ist? Technischer gefragt: Wie weit reicht das mimetische Vermögen des Sprechens und Schreibens für die Erfassung, Auffassung, Darstellung dessen, was im Tanz an Bewegung vor sich geht? Man könnte es sich leicht machen und darauf verweisen, der tanzende Körper entziehe sich gänzlich einem versprachlichenden beziehungsweise verschriftlichenden Zugriff, da der Tanz selbst und auch das Erleben eines Tanzes sprachfremd sei. Doch würde der Körper, materiales Medium des Tanzes, hier sowohl verrätselt als auch als das Naturding, das sich dem rationalen Zugriff entziehe reauratisiert. Zugleich würde er so auch als biomorphes Instrument angesehen, an und mit dem sich ohnehin in ganz direkter Weise ausdrücke, was zu fühlen, zu empfinden, zu verstehen sei. Wollen wir einem solchen Modell nicht folgen, stellt sich die Frage, ob es im Bewegungsmaterial der Schrift also gar nicht – wie oben erfragt – um Mimesis, um ein ›Vermögen‹, eine Leistungsfähigkeit geht, sondern vielmehr um Operationen der Übersetzung und des Bewegungstransfers im Material zwischen Schrift und Tanz. Erfordert gelingendes Sprechen vom Tanz also, dass die Schriftbewegung zu einer Tanzbewegung selber würde, dass sich ein ›Körper als Schrift‹ und eine ›Schrift als Körper‹ kreuzen?2 Demnach würde man konstatieren, dass es zwischen Sprachschrift und dem, was man unter Tanz als realisierte/materialisierte Bewegungsschrift (choreo-grafie) verstehen könnte, kein unmittelbares Abbildverhältnis gibt, vielmehr nur ein mittelbares der Übersetzung.

1 2

Zur Formulierung »Forschen im Ästhetischen«, vgl.: Dieter Mersch (2015). Antwortangebote auf solche und ähnliche Fragen, gibt es einige. Vgl., zusammenfassend, in: Huschka 2002, 17-28. Ebenso: Klein/Zipprich 2002, 1-14; mit einem eigenen Schriftmodell: Jeschke 2000.

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Damit ist aber nichts verloren für die Materialbewegungen zwischen den Bewegungsmaterialien aus Tanz und Schrift. Zugespitzt lesen wir das bei Roland Barthes: Der Text selbst sei wie ein wollüstiger Körper, ein tanzender, wie »die mit Haut bedeckte Sprache«: »Das laute Schreiben [das keineswegs das Reden ist; TS] [...] wird nicht von den dramatischen Modulationen, den boshaften Intonationen, den gefälligen Akzenten getragen, sondern von der Rauheit der Stimme, das eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache ist und daher einerseits, ebenso wie die Diktion, Material einer Kunst sein kann: der Kunst, seinen Körper zu führen« (Barthes 1974, 97).

Für das – auch temporale – Verhältnis von Aufführung und Aufzeichnung lässt sich dann mit Isa Wortelkamp festhalten: »Entfernt davon, die Aufführung einzig in ihrem flüchtigen Werden und Vergehen zu begreifen, wird eine Aufzeichnung denkbar, die nicht gegen die Flüchtigkeit der Aufführung anschreibt und ihre Schrift nicht an die Stelle eines vermeintlichen Verlustes setzt. Jenseits einer Aufzeichnung, die versucht, in einem bleibenden und stillgestellten Schriftzug gegen die Bewegung des Tanzes anzuschreiben, erscheint das Flüchtige schließlich selbst in seinen bleibenden Spuren der Erinnerung. Es geht um eine Schrift, die nicht still stellt, sondern sichtbar werden lässt, was sich bewegt, eine Schrift, die in dem Wissen schreibt, dass sie schließlich selbst mit der Lektüre in den Raum der Erinnerung und damit des Flüchtigen eintritt. [...] Mit der Lektüre wird die Schrift der Aufzeichnung vergessen und verloren, fortgeschrieben und verändert. Die Schrift der Aufzeichnung ist die des Verlustes und der Ergänzung, eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, ist ein AnwesendAbwesendes.« (Wortelkamp 2002, 608)3

Aufs Temporale von Bewegung hin besehen, bleibt Tanz – ähnlich der Musik – in der Aufführung ein radikal ephemeres Phänomen. Eine jede, sich zu einer

3

Von den Überlegungen zum Verhältnis von Tanz und Aufzeichnung führt ein Weg des Diskurses – das ist naheliegend – auf das Feld der methodischen und theoriepolitischen Fragen. Vgl. hierzu beispielsweise Koritz 1996, Adshead 1998, Copeland 1998, Kant 2001, Stamer 2002, Wulf 2007, Brandstetter/Klein 2015, dies. 2012. Aber es führt auch ein Weg – weniger naheliegend und noch nicht ausgiebig beschritten – zu der Frage des Verhältnisses von Tanzen und Denken, anders gesagt: von Tanzwissenschaft und neurologischer Kognitionstheorie (vgl. Birringer/Fenger 2006, insbes. die Beiträge von Fenger, Birringer, Dröge, Hartmann, Calvo-Merino; auch Hagendoorn 2002).

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Geste, zu Körperlichkeit materialisierende und verdichtende Bewegung hat nur jenen einen Augenblick für sich, den wir erst dann wahrnehmen, wenn er je schon gewesen ist. Hierin findet die Bewegung der Schrift ihr Momentum. Und Bewegung wird hier zu einer ›Spur‹ – verstanden als eine spezifische Form der Materialisierung und in dem Sinne, wie ihn die dekonstruktive Debatte um die Psychoanalyse als »Schauplatz der Schrift« herausgearbeitet und erläutert hat (vgl. Derrida 1967; Bedorf 2007). Im Raum der Schrift agiert das Bewegungsmaterial des Tanze(n)s weder als materiell Gegenwärtiges (wie etwa auf der Bühne oder im Probenstudio) noch als bloß Imaginäres oder Immaterielles. Die Spurhaftigkeit des Tanzens liegt hier darin, die Materialität seiner Bewegung dem Ereignisraum eines eigenen Bewegungsmaterials zu überantworten – der Schrift.

II. M ATERIAL

WERDEN

Aber vielleicht müsste man dazu kommen, solche translativen und transformativen Operationen (wie sie hier exemplarisch für das Verhältnis der Schrift-TanzBewegung genannt wurden), also das Spiel von Werden, Erscheinen, ontologischer Stabilisierung und Entzug, als die substanziellen Modi von sogenanntem ›Tanz‹ anzunehmen – und eben nicht als akzidentelle Modi, die lediglich Randphänomene eines Kern- oder Hauptereignisses von Tanz namens ›Aufführung‹ seien. Anders gesagt: Wir sollten zu einem Begriff von Tanz kommen, mit dem wir sowohl die Verknüpfungen und Wechselwirkungen von Produktionsprozessen (Proben, Projektanträge, institutionelle Anbindungen etc.), Aufführung, Archivierung und Medialisierung bedenken können,4 als auch die Agentialität der beteiligten institutionellen, dinghaften, personellen, medialen und ästhetischen Regime zu berücksichtigen verstehen.5 Was wir dann als ›Tanz‹ bezeichnen, wäre, so gesehen, ein immer wieder neu zu beschreibendes Resultat zahlreicher produktiver, koppelnder, transformativer und stabilisierender Operationen auf einem differenzierten Feld von Assoziierungen und Verfransungen der Regime. Im Modus des Ästhetischen ist Bewegungsmaterial – faktisch, also weder als Metapher noch als Begriff – ein Agens solcher Operationen. Daher hieß es oben: »Material ist noch nicht, aber es wird.« Diese Aussage verschiebt den Blick aufs Material als je schon gegebener Stofflichkeit hin auf seine

4

Vgl. Kelter 2014. Siehe auch ihren Beitrag im vorliegenden Band.

5

Zum Begriff »Regime«, vgl. Jacques Rancière (2006).

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prozessontologischen Stabilisierungen beziehungsweise Verdichtungen in spezifischen Produktivitätsdynamiken von Bewegung. Diese Blickverschiebung ist aber in den Diskursen um Material und Materialität (immer noch) keine Selbstverständlichkeit. Schauen wir also, wie wir dahin kommen. Der Bewegungsanfang beziehungsweise eine Anfangsbewegung ist immer ein produktiver Prozess. Aber fängt Produktion immer am Anfang an? Das Einziehen einer Grunddifferenz, eines Unterschieds oder auch eines Widerstreits ist die ursprüngliche Produktion. Wenn aber diese Bewegung der Unterscheidung, jenes krinein, das schon Kant zur Hauptaufgabe der Philosophie machte, der Anfang ist, ist der Ursprung im Sinne eines mit sich identischen Status – nichts. Genauer gesagt: Was von ihm bleibt, ist die Spur von ihm, die als Bewegung einer Unterscheidung beziehungsweise als eine Differenzierung sich austrägt und anschaulich wird. »La trace est la différance qui ouvre l’apparaître et la signification.« (Derrida 1967, 95) Jede Form kultureller Praxis hat mit dem Phänomen des Anfangens, der Entstehung, der Hervorbringung, des Erscheinens, kurz: dem Paradigma der Produktion zu tun. Die performativen Prozesse der Produktivität stellen sich kulturell in ganz diversen Formen dar: in sinnlicher Praxis, im Arbeiten, in der Einbildungskraft/Imagination, der Kreativität, der Fantasie, in Emergenzen, dem künstlerischen Schaffen, letztlich auch der biologischen Geburt ebenso wie in der technischen Innovation und des strategischen Managements. Alle diese Produktionsqualitäten sind in ihrem Inneren stets von jenem Moment bewohnt, das wir als Materialität erfahren und wahrnehmen. Doch hat es mit der kunst- und kulturgeschichtlich sehr einflussreichen Begriffstrias Form, Idee, Material lange eine diskursive Abwertung des letzteren gegeben. War doch Material als Synonym für ein zu bearbeitendes, zu formendes Etwas angesehen – ein Etwas, das stets in Abhängigkeit und Nachträglichkeit zu einer Idee, einer genialen womöglich, gesehen wurde. Material, etwa als Verkörperung (embodiment) gedacht, schien also – trotz einer unten noch anzusprechenden Dynamik im Feld moderner Künste – stets die Position des Sekundären, des Nachgeordneten zuzukommen und hierbei Funktion, Trägerin, Anzeichen von kulturellem Sinn, letztlich von Geist zu sein. Materialität wäre demnach nichts, ohne die Idee, die dahinter (oder wo eigentlich?) liegt und im Material beziehungsweise an ihm sich durch eine Form kundgibt oder erscheint. Meist galt das Material ohne Form und Idee als unbedeutend. Zwar sind historische Hierarchien beziehungsweise Ordnungen der Materialien bekannt (wie etwa Gold, Silber, Elfenbein, Bronze, Glas, Holz, Wachs, Beton und Ähnliches), doch hatte letztlich der Eigenwert des Materials in der Gestaltung dem Platz zu machen, was es zum Beispiel an symbolischem Wert

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zur Darstellung zu bringen vermochte (vgl. etwa Rübel/Wagner/Wolff 2005; Raff 2008; Naumann/Strässle/Torra-Mattenklott 2006). So arbeitet die Kunst seit je her mit natürlichen Materialien, doch geschah dies lange Zeit so, dass die Eigenart des verwendeten Materials zum Verschwinden gebracht wurde, um Sinn und Bedeutungsgehalt in den Vordergrund zu rücken. Die Kunst der Moderne (etwa seit der Industrialisierung) kennt dann allerdings die Durcharbeitung und Erforschung der materialen Bedingungen unserer Kultur als ein konstitutives Moment (nicht nur) künstlerischer Produktionsprozesse. Und bis heute wird der Überschuss der Materialität, wie ihn Derrida etwa als »Überschuß des Signifikanten« bestimmt (Derrida 1994, 438), in künstlerischen Arbeiten selbst zum Ereignis. Erst die modernen Künste seit der Industrialisierung widmen sich also nicht nur verstärkt den Eigenarten des verwendeten Materials, sondern lassen deren Dynamik zudem in den Vordergrund von künstlerischem Prozess und Darstellung treten (in der Bildenden Kunst ebenso wie in der Darstellenden und der Musik). Und die technisch-zivilisatorischen und gesellschaftlichen Naturverhältnisse des Anthropozän – etwa mit seinen industrialisierten Arbeitsformen, biopolitischen Maßnahmen und auch verdichteten urbanistischen und verkehrstechnischen Netzwerken – stellen selbst neuartige Stoffwechsel natürlicher und menschengemachter beziehungsweise menschlich induzierter Materialien dar. Eine offene Frage hierbei ist, wie Künstler seit dem 19. Jahrhundert auf solche spezifisch modernen, natürlichen und sozialen Metabolismen, die das Anthropozän bilden, reagieren und diese reflektieren. Diesbezüglich könnte die These triftig sein, dass es seit um 1800 kunstinterne Veränderungen gegeben hat, wie natürliche und soziale Materialbewegungen und -umbauten als Ästhetische Metabolismen dargestellt beziehungsweise aufgegriffen und angeeignet wurden und werden. Für das 19. Jahrhundert scheint eine vornehmlich darstellungsorientierte Verarbeitung natürlicher, energetischer und technischer Metabolismen verfolgt worden zu sein – etwa in Form des sich von jeglichem allegorischen oder symbolischen Überschuss befreiten Arbeits- beziehungsweise Industriebildes. Demgegenüber lässt sich für die zeitgenössische Kunst beobachten, dass die Performativität der ›natürlichen‹ Metabolismen in die Praxis und Selbstthematisierung der eigenen, ästhetischen Produktivität einbezogen wird (etwa bei Joseph Beuys, Land Art, Body Art, Dieter Roth, BioArt und vielen mehr), anders gesagt: Materialbewegung wird mehr und mehr als eigenaktives Bewegungsmaterial aufgefasst. Das Besondere der Materialitätserfahrung in solchen Sinnkulturen ist mithin, dass die Sinnmomente ohne Material ›nichts‹ sind, dass sie auf diesem aufsitzen, dass Sinn sich am Material zeigt, sich an ihm entlang entwickelt und durch Ma-

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terialitätsprozesse auch modifiziert und fraglich werden kann. Letzteres verweist eigentlich schon auf die oben annoncierte, dem Material eigene Produktivität, auf einen Eigensinn und eine Agentialität, die sich kundtut. Doch diese eigenaktive Qualität von Material wird von den wissenschaftlichen Diskursen traditionellerweise nicht gesehen oder berücksichtigt. Wie das? Hier wird zunächst davon ausgegangen, dass Material als Begriff Teil einer Trias ist, die sich durch die gesamte Kulturgeschichte zieht: Materie, Material, Materialität. Von Materie kann dann im Sinne einer grundlegenden und konkreten, naturgegebenen, physiko-chemischen Stofflichkeit der Dinge, der belebten und unbelebten Phänomene gesprochen werden. Materie steht dann »für etwas Widerständiges und Undurchdringliches. In ihrer Stofflichkeit erscheint Materie als ›tote Materie‹, konnotiert Starrheit und Unbeweglichkeit, aber auch Verwesung und Zerfall. Sie ist jedoch gleichermaßen ›lebendig‹ und produktiv, zum Beispiel wenn ihre biologisch-organische Prokreativität zur Debatte steht. […] [I]m Zuge der modernen Wissenschafts- und Technikentwicklung [wurde] [Materie] zunehmend ›dematerialisiert‹, das heißt aufgelöst in Kraftfelder, Energie oder Elementarteilchen, aber auch in Codes und Information. Daher steht die Vorstellung einer zugrundeliegenden, verläßlichen Substanz das Wissen um ihre immer weitergehende und längst noch nicht abgeschlossene Entmaterialisierung, nicht zuletzt auch in Form der Digitalisierung, gegenüber.« (Köhler/Siebenpfeiffer/Wagner-Engelhaaf 2013, 11f.;12f.)

In der genannten Trias wäre Material wiederum dann als jene Materie angesehen, die einem zivilisatorischen Zugriff unterzogen wurde beziehungsweise ausgesetzt war – also Gegenstand eines Formungs- und Produktionsprozesses gewesen ist. In der Debatte um Material Culture sind in dieser Perspektive zahlreiche Studien zur Ding- und Technikkultur vorgelegt worden.6 Monika Wagner verdeutlicht am Feld der Kunst die Bedeutung von Material als »ästhetische Kategorie« und bezieht sich damit auf die Dynamik in moderner Kunst, die oben bereits angesprochen wurde. Laut Wagner bezeichnet Material »im Unterschied zu Materie und Matrix diejenigen natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind. Material ist demnach der Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung. Alles, Rohstoffe wie industriell produzierte Waren, Pflanzen, Tiere und Menschen oder Energie, kann zum Material der Kunst werden.« (Wagner 2001, 12)

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Köhler/Siebenpfeiffer/Wagner-Engelhaaf (2013) geben einen Überblick hierzu, S.19. Vgl. auch: Miller 1998, 2005.

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Wir finden diesen Gedanken für das Feld performativer Künste auch bei Erika Fischer-Lichte formuliert, die den Zusammenhang von Material, Semiotisierung, Subjekt und Objekt ähnlich auffasst: »Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heißt […], sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen. […] In der Selbstreferentialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. Die Materialität fungiert nicht als ein Signifikant, dem dies oder jenes Signifikat zugeordnet werden kann. Vielmehr ist die Materialität zugleich als das Signifikat zu begreifen, das mit der Materialität für das wahrgenommene Subjekt, das sie als solche wahrnimmt, immer schon gegeben ist. Die Materialität des Dings nimmt, tautologisch gesprochen, in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität an, das heißt seines phänomenalen Seins. Das Objekt, das als etwas wahrgenommen wird, bedeutet das, als was es wahrgenommen wird.« (Fischer-Lichte 2004, 244;245)

Und, was sich in Fischer-Lichtes Überlegungen schon andeutete, wird, drittens, Materialität wiederum als jenes am Material in Erscheinung tretende Erfahrungsmoment innerhalb von Sinn- beziehungsweise Verstehensprozessen angesehen, das selbst nicht sinnhaft ist. Materialität stellt hier also weniger einen Begriff dar, der auf eine bestimmte Stofflichkeit verweist (so wie man etwa vom Material Holz, Fleisch oder Wasser sprechen kann). Materialität ist hier vorerst eher eine Bezeichnung für eine spezifische Ereignisform unseres Wahrnehmens, Erlebens und Erfahrens – nämlich jene, dass wir im Zuge unserer ständigen und nahezu unabgesetzten Sinnproduktionen immer wieder an oder auf etwas stoßen, dass sich weder einerseits der unberührten Materie noch andererseits dem kulturellen Sinn des Materials vollständig zurechnen lässt. Wir befinden uns hier auf dem gemeinsamen Spannungsfeld von Sinn- beziehungsweise Verstehensprozessen und Materialitätseffekten. Hans Ulrich Gumbrecht hatte diesbezüglich empfohlen, »wir sollten das ästhetische Erleben als ein Oszillieren (und mitunter auch als Interferenz) zwischen ›Präsenzeffekten‹ und ›Sinneffekten‹ begreifen.« (Gumbrecht 2004, 17f.) Gumbrecht beharrt auf der Insistenz der Materialität im Sinne eines »Nichthermeneutischen«. Paradoxerweise unterbricht sie das Verstehen nicht nur, Materialität macht Verstehen durch ihre Qualität des ästhetischen Erscheinens im Sinne eines Auffälligwerdens allererst möglich, indem sie dem Verstehen die Erfahrung seines Endes bereitet. Und das ist es wohl auch, was Gumbrecht meint, wenn er vom Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten spricht. So sollte man diese Betonung von Präsenzeffekten und Materialitätserfahrungen nicht als ein Plädoyer fürs Nicht-Verstehen oder für Irrationalität, für eine Renaturalisie-

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rung oder gar Theologisierung der Dinge auffassen. Es ist vielmehr die Konzentration auf Erlebens- und Wahrnehmungsmodi, zu denen eine hermeneutische Widerständigkeit gehört, die im Erscheinen von Materialität besteht. Materialität ist also nicht lediglich Anlass, sondern integrale Qualität von Wahrnehmung und kultureller Praxis. Im Erleben ist sie an eine ästhetischsinnliche Situativität und Intensität gebunden. Und in diese Situativität ist das eingebettet, was in den Worten Gumbrechts »Produktion von Präsenz« heißt. Das Wort Präsenz zeigt eine Bezugnahme auf Räumlichkeit an. Was »uns ›präsent‹ ist,« schreibt Gumbrecht, »befindet sich […] vor uns, in Reichweite unseres Körpers und für diesen greifbar.« (Gumbrecht 2004, 33) Das Wort Produktion wiederum, in der Formulierung »Produktion von Präsenz«, verweist für dieses Mal nicht auf die Semantik von Herstellen, Arbeiten oder Schöpfertum, sondern bezieht sich auf die lateinische Wortbedeutung als »vorführen« oder »nach vorne rücken«. Die Formulierung »Produktion von Präsenz« streicht in diesem Sinne heraus, dass »der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit auch ein in ständiger Bewegung befindlicher Effekt ist. Mit anderen Worten, die Rede von einer ›Produktion von Präsenz‹ impliziert, daß der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der (räumlichen) Greifbarkeit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflußt wird.« (Gumbrecht 2004, 33)

Schon die hier nur kurz skizzierten gedanklichen Schritte durch die Trias Materie, Material, Materialität haben gezeigt, wie wichtig es war, dass die dekonstruktive Kritik am Logozentrismus, die Machtanalysen zur Performativität der Dispositive und auch die Offenlegung der Technizität von Kommunikation als Aufschreibesysteme, die die Debatten der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, sich diskursdynamisch der Problematisierung von Materialitätsfragen zugewandt und dadurch einen Spin-off neuer Theorieperspektiven und -möglichkeiten ausgelöst haben. So vermag Materie aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit zwischen spröder Stofflichkeit und Dematerialiserung zu irritieren und beansprucht auch einen nicht-semiotischen Zugang zur Welt. Sodann Material als »ästhetische Kategorie« (Wagner) zu denken, öffnet einen gänzlich neuen Blick auf künstlerische Produktion und Werkbedeutungen (mindestens der modernen Künste). Schließlich Materialität für eine »Produktion von Präsenz« in Anschlag zu bringen zeigt, dass es neben dem Hermeneutischen weitere Erfahrens- und Erlebensweisen des Subjekts gibt.

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Doch so wichtig diese Forschungen übers Materielle von Welt – und spezifisch: in den verschiedenen Künsten der Moderne – sind: Material wird hier entweder als gegebene und kulturelle, in dem Sinne ›fertige‹ Formung von Materie erörtert, wird also erst in seiner Zuhandenheit in den Blick gerückt. Es ist auch möglich, dass Materialprozesse re-semiotisiert werden und – wie bei Gumbrecht – letztlich in Abhängigkeit und im Interesse der Erfahrungs- und Erlebenswelten eines Subjekts gesehen werden. Um hier ein Missverständnis zu vermeiden: Das alles soll keinesfalls in einem polemischen Sinn als ›falsch‹ benannt werden. In den folgenden Abschnitten und auch den Beiträgen dieses Bandes wird Material immer wieder in seiner stofflichen Gegebenheit und auch in seinen semiotischen Zuspitzungen erörtert. Und es wird sehr häufig von Subjekten namens Tänzer, Choreograf unter anderem die Rede sein. Warum auch nicht?! Aber es gehört zu einem ambitionierten Begriff von »Bewegungsmaterial« – trotz aller auch im Tanz zu findenden technologischen Zurichtungs- und Sinngebungsversuche –, die Eigenaktivität und damit den prinzipiellen Eigensinn von Materialitätsprozessen, der in ihrer nicht-sinnhaften Performativität liegt, für Tanzanalysen in Geltung zu bringen. Hier geht es also darum, ein Verständnis für das zu entwickeln, was man die Proaktivität des Materials nennen könnte. Die hieraus resultierende Ereignishaftigkeit – die im Übrigen vielfach im Zentrum des Interesses ästhetischer Produktionen liegt – hatte Adorno, so könnte man übersetzen, als den »Überschuß des Nicht-Identischen« bezeichnet (Adorno 1988, 184). Und es ist wohl wichtig das (auch) so zu formulieren. Denn es macht klarer, dass die Materialitätseffekte, von denen hier die Rede ist, nicht einfach weggelassen oder wie ein Stück überlappende Tapete einfach abgeschnitten werden können. Die Intraaktivität des Bewegungsmaterials ist auch in unseren aufs Sinnverstehen ausgerichteten Identifizierungs- und Erfahrungsprozessen zugegen: Der »Überschuß«, den die Intraaktivität des Bewegungsmaterials konstituiert, ist eine Erfahrung der Inkongruenz des Subjekt-Objekt-Schemas. Denn: Mit den Annahmen einer Zuhandenheit des Materials als Ausgangsstoff und der Subjektbezüglichkeit wird doch übersehen, dass im Material eine Agentialität liegt, die zwei korrelative Vektoren kennt: Bewegung und Material – hier heuristisch auseinander genommen – sind nicht nur erstens aufeinander intrarelational verwiesen, sondern eine solche Konstituierungsbewegung manifestiert sich zweitens auch für die Relation des – jetzt zusammen gedacht – Bewegungsmaterials zu den anderen für den sogenannten ›Tanz‹ relevanten, menschlichen und nicht-menschlichen, Elementen beziehungsweise Akteuren (Tänzer, Choreographen, Institutionen, Gegenstände/Dinge, Förderprogramme, technische Ensembles, Zuschauer, wissenschaftliche Diskurse und so weiter). Damit

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kann versucht werden, das Material (und was wäre im Tanz wichtiger als etwa ›tanzende Körper‹) in der Trias Idee, Form, Material aus der Passivität zu holen und den Einfluss prozessualer Eigenaktivität des Bewegungsmaterials für die Zusammenkunft sozialer (hier: künstlerisch-ästhetischer) »Assemblagen« (Bennett 2010) sichtbar werden zu lassen. »The locus of agency is always a humannonhuman working group.« (Bennett 2010, XVII) Mit einer solchen Vorstellung »intraaktiven« (Barad 2012, 19ff.) Bewegungsmaterials ließe sich, mit dem – durchaus (wissenschafts-)politisch motivierten – Gedanken Donna Haraways gesprochen, ein »situiertes Wissen« formulieren, »daß das Wissensobjekt als Akteur und Agent [vorstellt] und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herrn, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von ›objektivem‹ Wissen die Dialektik abschließt.« (Haraway 1995, 93)

Insgesamt wird hier also ein Blick auf »Bewegungsmaterial« vorgeschlagen, der – wie oben bereits angedeutet – eine prozessontologische Perspektivierung mit sich bringt: Es gilt, die ästhetischen Forschungs-Verfahren, das sich verdichtende und produktive Werden von Stücken beziehungsweise Projekten, die in Choreografie, Komposition, Improvisation, Rezeption liegenden StabilisierungsDynamiken und auch die archivarischen, bildhaften und medientechnischen Stillstellungen zu verfolgen, die Tanz, alle mit- und ineinander, ausmachen.7 Beginnen wir also ein weiteres Mal; nun dort, wo wir beobachten können, wie die Operationen der Assoziierungen beginnen. Nennen wir diese nun zu betretende Topografie – vorerst noch etwas ungenau, aber großzügig – Labor oder Laboratorium.

III. L ABORVERFAHREN Im Sommer 1999 vernetzten Barbara Vanderlinden und Hans Ulrich Obrist im Stadtgebiet von Antwerpen eine große Anzahl von Künstlerlaboren, -ateliers sowie -studios und wissenschaftliche Laboratorien (also geografische, biologi-

7

Verfahren, Werden, Stabilisieren, Stillstellen sind Parameter von Bewegung und Material. Nach ihnen haben wir die Beiträge dieses Bandes gegliedert. Im vorliegenden Text werden diese Parameter argumentativ genutzt, was zu der Entscheidung geführt hat, die Zusammenfassungen der Beiträge in den Gedankengang einzupassen.

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sche, medizinische, universitäre, zoologische etc.) öffneten ihre Pforten füreinander. Damit wurde in aller Plötzlichkeit für die Öffentlichkeit ein Netzwerk von Arbeitsstrukturen und Akteuren sichtbar, wie es seit je existiert und ›laboriert‹ – normalerweise allerdings ohne diese Öffentlichkeit und insbesondere ohne die Transition von Kunst und Wissenschaft. Das Projekt Laboratorium hatte also zum Gegenstand das, was es im Titel bezeichnet. So wurden Arbeits- und Produktionsstrukturen und Verfahren, Methoden der Recherche, der Realitätsproduktion etc. ausgestellt, diskutiert und verglichen. Im Katalog heißt es dem entsprechend programmatisch: »›Laboratorium‹ will search the limits and possibilities of the places where knowledge and culture are made. [W]e will establish […] ›Working places‹ where the participants communicate their findings on the ›work in progress‹. [...] For ›Laboratorium‹ we have invited practitioners from various fields to establish workplaces, workshops or laboratories – in a broad sense – places where people exchange ideas around an experimental set-up. [...] Places where the public will be able to visit and interact with the making of new and complex situations. Workplaces that occur as a creative blur between the making and the exhibition of work.« (Obrist/Vanderlinden 2001, 17;19)

Dieses Laboratorium ist eines der bekannteren und vielseitig rezipierten Beispiele von Arbeitsprozessen, wie sie seit einigen Jahren in ganz verschiedenen Formen von institutionellen Akteuren (Kuratoren, Dramaturgen, Kongressleitern und Ähnlichen) und insbesondere von Choreografen und Tänzern selbst intensiv genutzt und erprobt werden. Eine noch ältere Form als das Antwerpener Projekt ist etwa das World Question Center von Janes Lee Byars. Zusammen mit Hans Ulrich Obrist und John Brockmann stellte Byars seit 1971 Personen des öffentlichen Lebens, der Künste und Wissenschaften Fragen mit der Bitte um kurze, gerne eigenwillige Antworten (zum Beispiel: What is your formula? What is your dangerous idea? What have you changed your mind about? Why? What’s your law? What now? What questions have disappeared? …). Die drei gaben diesem durch die Konzeptkunst Byars’ angeregten Projekt den Titel The World Question Center. Im Herbst 2007 waren die Antworten zur gestellten Frage »What is your formula? Your equation? Your algorithm?« dann auch Teil einer Ausstellung in der Serpentine Gallery und dort ein Beitrag zum 24stündigen Serpentine Gallery Experiment Marathon – neben anderen gestaltet von Olafur Eliasson. Zur Erläuterung dieses Experiments beziehungsweise Laboratoriums hieß es:

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»The session featured live presentations of ›table-top‹ experiments from zoologist Seirian Sumner (A Cooperative Foraging Experiment – Lessons From Ants), archeologist Timothy Taylor (The Tradescant’s Art Experiment), physiologist Simon Baron-Cohen (Do Women Have Better Empathy Than Men), biologist Amrand Leroi (The Songs of Songs), geneticist Steve Jones (Some Like It Hot), physicist Neil Turok (What Banged? and The Morning Line), biologist Lewis Wolpert (How Our Limbs Are Patterned Like The French Flag), and playwright Marcy Kahan in conversation with psychologist Steven Pinker.«8

Eine solche Initiative schließt an künstlerische Bewegungen und Interessen an, wie sie etwa John Cage seit den 1960er Jahren begann und die zuvor auch bereits in die Arbeitsweisen des Black Mountain College Eingang gefunden hatten. Eine eigene Geschichte solcher laborartigen künstlerischen Praxen und Forschungsformen wäre noch zu schreiben. Doch man kann den Eindruck gewinnen, dass dies – was uns heute als so selbstverständliche Strategie tänzerischen und choreografischen Tuns erscheint – insbesondere im 21. Jahrhundert an Dichte und Fahrt zugenommen hat.9 Es mag sein, dass solche Arbeitsformen sich besonders anempfohlen haben im Zusammenhang mit mindestens zwei der großen Diskurse, die den Zeitgenössischen Tanz der vergangenen anderthalb Dekaden geprägt haben: Zum einen die Problematik des Wissens10 und im Anschluss daran (bis heute) die Bemühungen um die Rückvergewisserung der dem Tanz eigenen historischen Tiefe und Bezüge.11 Zudem muss berücksichtigt werden, dass solche laborartigen und prozessorientierten Arbeitsweisen sich wechselseitig verstärken mit dem, was seit einigen Jahren intensiv unter dem Label artistic research diskutiert und erprobt wird. Dieser Diskurs ist wiederum nicht nur ästhetisch motiviert, sondern findet seine Herkünfte ebenso in bildungspolitischen,

8

Siehe online: www.edge.org/documents/archive/edge226.html#formulae. Zum World Question Center allgemein: www.edge.org/questioncenter.html.

9

Vier weitere Beispiele prozessorientierter, laborartiger Projekte, die sich hinsichtlich der institutionellen Anbindungen, der ästhetischen Formen und Themen aber stark voneinander unterscheiden: COLINA (Collaboration in Arts), ab 2003, vgl. online: vimeo.com/22242765. Das »artistwin« Kattrin Deufert und Thomas Plischke, vgl. online: www.deufertandplischke.net. Der Schwarzmarkt für nützliches wissen und NichtWissen, vgl. Cvejic 2007. Das Projekt Unter uns! von Silke Z zum Zusammenhang von künstlerischer Forschung, Biografie und Performance, vgl. online: www.resistdance.de/index.php/forschen.html.

10 Das war beispielsweise Schwerpunktthema des »Tanzkongresses« 2006. Vgl. auch: Gehm/Husemann/von Wilcke 2007. 11 Beispielsweise online: www.tanzfonds.de.

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-ökonomischen und institutionellen Interessen und zeigt längst seine Rückwirkungen auf tänzerisch-choreografische Vorhaben (etwa im Kontext von Förderanträgen). Zu diesem letztgenannten Diskurszusammenhang äußert sich auch der Beitrag von Yvonne Hardt. Schon ihr Tanzstück TR_C_NG von 2007 beschäftigte sich mit der Historizität des Tanzens. Aus dem Stück entwickelte sie eine Lecture Performance, die wiederum die Thematik des Stückes in Fragen pointierte und auf einer Tagung präsentierte. Der vorliegende Beitrag greift nun diese Gesamtentwicklung wieder auf und kann daran zeigen, wie schon in der Entstehung und nochmals mehr in den durch Bildmaterial begleiteten Reflexionsprozessen von Tanzproduktionen Bewegungsästhetik, Medialität, Erinnerungen und Vorstellungen von Geschichtlichkeit ineinander übergehen.12 An Verfahren zur künstlerischen Erforschung von Geschichtlichkeit sind auch Saskia Reither, Gerriet K. Sharma und Nico Bergmann mit ihrer Projektserie keine Ahnung von Schwerkraft interessiert. Ihr Material ist aber nicht in erster Linie der tänzerische Körper, sondern der Klang und Sound, wie er in historischen Gebäuden und ihren architektonischen Gegebenheiten zu erfassen und kompositorisch zu verarbeiten ist. Auch hier gehen klangliche Ereignisse in den Räumen, kompositorische Interessen, das angeeignete Wissen über die Gebäude, kuratorische Momente und mitlaufend entstehende, multimediale Dokumentationen ineinander über und ergeben eine komplexe Forschungsbewegung, in der jedes neu erschlossene Gebäude als Laborsituation aufgefasst wird.13

IV. K OEXTENSIVE P RODUKTIVITÄT Die im vorherigen Abschnitt erörterten Formen und historischen Bezüge eines »Forschen im Ästhetischen« (Mersch 2015) können als Prozesse des improvisatorischen Bewegungswissens und als Arbeiten mit Bewegungsmaterial im Wechselspiel von poiesis und praxis verstanden werden. Mit Bewegungsmaterial wird hier in zweifacher Hinsicht gearbeitet: Selbstverständlich wird auf Gegenstände, Notate, Erinnerungen, gekonntes Bewegungsvokabular, institutionelles

12 Wie auch im Beitrag von Katharina Kelter, geht es hier um Arbeitsstrategien, die ihr Bewegungsmaterial in der Auseinandersetzung mit Medien und Erinnerung entstehen lassen. 13 Diese Projektserie folgt historischen Spuren und artikuliert insofern ein ähnliches Interesse an der performativen Auseinandersetzung wie auch in den hier vorgestellten Ansätzen von Gerald Siegmund, Yvonne Hardt und Claudia Jeschke.

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Equipment, technische Medien etc. durchaus instrumentell beziehungsweise intentional zugegriffen. Doch gilt auch andersherum: Diesem Material (ob physisch, mental, medial, technisch) wird eine eigene Bewegungsagentialität zugerechnet, die koextensiv mit den menschlichen Akteuren am Werden des gemeinsamen Projektes (eines ›Stückes‹ mithin, einer Lecture Performance, einer Installation oder ähnlichem) beteiligt ist. Dieser Werdensdynamik geht auch Katharina Kelter in ihrem Beitrag nach. Am Tanztheater Wuppertal Pina Bausch führt sie vor, wie die Arbeit an Erinnerungen dynamischen Einfluss auf das Werden des Bewegungsmaterials in Stücken von Pina Bausch, in Wiederaufnahmen, generationalen Adaptionen und auch im Film hat. Da Kelter die verschiedenen Stasen des Bewegungsmaterials des Tanztheater Wuppertal in Produktion, Aufführung, Archivierung und Medialisierung aufeinander bezieht, kann sie auf neuartige Weise das temporale Gefüge im Werden von Tanz freilegen. Weder die oben skizzierten laborartigen Projekte noch die bisher genannten Beiträge dieses Bandes können oder wollen von einer Beschäftigung mit tänzerischen Inhalten, der Thematik eines Stückes, ikonografischen oder intertextuellen Bezügen oder auch der rezeptionsästhetischen Verhältnisse absehen. Doch rücken sie verstärkt die diese bedingenden Verfahrensfragen und Werdensprozesse in den Vordergrund ihrer Praxis und Forschung. Sie interessieren sich »für das, was ein ›Ereignis‹ hervorbringt, für ein Wissen und dessen Produktion. Wo diese jedoch ins Spiel kommt, fällt das Augenmerk auf die Produktionsbedingungen, die konkreten Praktiken der Herstellung (poiēsis) und ihrer Medien und Materialien, auf die erratische Suche und ›Versuchung‹ durch die Dinge, ohne die damit verbundenen Affekte sowie das Verstehen und seine Prozesse zu privilegieren. Entschieden auf die Produktion zu setzen heißt demnach, zuerst eindringlich die Praktiken und ihre Hindernisse zu adressieren, ihr Tastendes oder Stockendes sowie die Störrigkeit des Materials, die Hindernisse und Grenzverläufe des Technischen, die Ereignishaftigkeit des Performativen, d.h. das, was ihm zugleich ›entgeht‹ und ›widerfährt‹.« (Mersch 2015, 14)

Hierzu im Folgenden ein Bericht, um die Koextensivität der oben angeführten. Agentialität des Bewegungsmaterials und der Produktionsprozesse protokollarisch nachzuzeichnen. Im Oktober 2007 fand im Düsseldorfer tanzhaus nrw das Festival Temps d’image statt, zu dem einmal pro Jahr, wie das tanzhaus nrw formuliert »Bühnenkunst« auf »Bildkunst« trifft. Im Rahmen dieses Festivals war für den 02. November eine Tagung zum Spannungsfeld von Bild und Bewegung eingeplant,

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die neben wissenschaftlichen Beiträgen und einer Aufführung mit Filmbeitrag auch eine Lecture Performance und den ›Bericht‹ des Künstlerlabors BildBewegung beinhalten würde. Ausgangspunkt zur Konstitutierung dieses Labors war ein Exposé, das von der Dramaturgin des Hauses, Henrike Kollmar, als Ausschreibung an möglicherweise interessierte und geeignete Personen geschickt wurde. Die Rahmung des Labors bestand also erstens in der definierten Dauer (jeweils ganztägig, Sonntag bis Donnerstag vor der Tagung, die Freitag stattfand), zweitens der thematischen Schwerpunktsetzung »Bild und Bewegung«, drittens dem Vorhaben, das Labor während der Tagung vorzustellen und viertens der Gewichtung der Arbeitsschwerpunkte der Laborteilnehmer (2 Choreografinnen: Stephanie Thiersch, Alexandra Waierstall; 2 Medienkünstler: Daniel Burkhardt, Manuel Graf; 2 Theoretiker/-innen: Isabelle Drexler, Timo Skrandies). Eine kurzfristige Abmachung im Vorfeld kam hinzu: Jeder Teilnehmer sollte Materialien in Form von Texten, DVDs oder anderen Bildformaten, Musik und sonstigen Gegenständen mitbringen, die er oder sie mit dem Thema des Labors verbindet. Wesentliches für die Arbeitssituation blieb unbestimmt: wie die Tage verlaufen sollten; wer, was, wann zu tun hatte; ob es am Ende ein Produkt geben würde, ja, ob am Ende überhaupt etwas existieren würde, was es als sinnvoll erscheinen lassen könnte, ›das Labor‹ während der Tagung zu präsentieren beziehungsweise etwas vorzuführen, was eine produkthafte Spur darstellen könne, dass das Labor überhaupt stattgefunden haben würde. Insofern war das Improvisatorische und das Experimentelle nicht nur zum zentralen Charakteristikum des settings geworden, sondern selbst das Moment des ›offenen Prozesses‹ war für den Beginn disloziert: Niemand wusste, ob überhaupt ein Prozess in Gang kommen würde – wenngleich klar war, dass die Beteiligten für eine Zusammenarbeit motiviert waren. Tatsächlich waren dann alle Laborteilnehmer sehr aktiv in der Gestaltung des Arbeitsprozesses, da alle ein Vertrauen in die improvisatorischen Interessen der jeweils anderen hatten. Es gab in der gesamten Laborlaufzeit nur zwei Situation des ratlosen Stockens im Tun – gegen Ende des zweiten und des dritten Tages. Und insbesondere diese krisenhaften Minuten führten dann – wie ein Nadelör – zu weiteren Ideen und Aktionen. Ausgangspunkt des Arbeitsprozesses war ein großer Tisch um den herum sich die Laboranten versammelten und von Henrike Kollmar, die die ersten Stunden als eine Art Moderatorin dabei war, begrüßt und in die hausinternen Bedingungen betreffs Technik, Verpflegung etc. eingeweiht wurden. Auf dem Tisch wurden die mitgebrachten Materialien ausgebreitet, die allerdings für die ersten Stunden weitgehend unberücksichtigt blieben, da die Personenrunde sich

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entschied, den Anfang bei (»gerne ausführlichen«) Berichten zu den aktuellen Projekten zu machen, die die Teilnehmer derzeit jenseits des Labors beschäftigen. Erst dann stellten – in einer weiteren Runde – die Teilnehmer die mitgebrachten Materialien vor. Darunter waren auch Beispiele der eigenen Arbeiten (in Form von DVD-Aufnahmen und ähnliches). Das löste das nächste Interesse aus und hatte einen ersten Umbau des Raums zur Folge: Zum Zweck der Sichtung von Choreografien von Stephanie Thiersch und Filmen von Daniel Burkhardt wurde ein mehrteiliges Sofa in der Mitte des Laborraums, des großen Produktionsstudios 6, platziert und alle Materialien auf dem Boden verteilt. Die Statik des Anfangs war dem Prozess gewichen. Interessant zu beobachten, wie sich die Arbeitssituation im Laufe des ersten Tages von – sowohl räumlich als auch persönlich – relativ konventionellen und statischen hin zu raumgreifenden, den Raum und die Personenbezüge immer wieder verändernden Konstellationen wandelte. Unterdessen hatte eine andere Entwicklung ihren Lauf genommen: Mitgebrachte Daumenkinos und eine Digitalfotokamera regten zu der Idee an, die Prozessualität der Labortage selbst nochmals prozessual medial zu repräsentieren. So wurde der Vorschlag angenommen, dass sich Timo Skrandies während der Gesamtlaufzeit des Labors – also für angesetzte fünf Tage – nicht rasieren dürfe und jede Stunde ein Portrait zu machen sei. Daniel Burkhardt wies auf die Möglichkeiten von Stopptricktechnik und ähnlichem hin, mit denen er das entstehende Bildmaterial in Bewegung setzen könne. Damit war auch eine erste künstlerische Realisierung des Verhältnisses von Bild und Bewegung gefunden, die für die gesamte Laborzeit beibehalten wurde. Am zweiten Tag wurde das Labor mit der Sichtung von Arbeiten von Alexandra Waierstall und Manuel Graf fortgesetzt. Diese Sichtung war durch einen kontingenten Umstand entstanden: Manuel Graf stellte eine spezifische Frage nach einer Fotografie, die als Cover einer DVD von Waierstall fungierte. Die DVD lag inmitten des auf dem Boden verstreuten Arbeitsmaterials. Zu diesem Foto entwickelte sich eine Geschichte über die Entstehung des Stücks Crossing Borders. Am Nachmittag kam es dann zur ersten der oben angedeuteten Situation des Stockens: In Vorbereitung auf die Berichte zu den aktuellen akademischen Projekten von Drexler und Skrandies, die in Vortragsform geschehen sollten, entstanden technische Probleme der Projektion des Bildmaterials. Diese zogen sich hin und konnten auch durch die Haustechniker nicht gelöst werden. Skrandies stellte den Choreografinnen die Frage, was sie in der Produktionsphase eines Stückes tun, wenn der Arbeitsprozess ins Stocken gerät. Die Antwort war simpel und überzeugend: Improvisieren. Das führte zu einem Gespräch zwischen den

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Choreografinnen über persönliche Techniken der Tanznotation, das sich schnell erweiterte und die anderen mit einbezog und sich zu neuen Bestimmungen von Bild und Bewegung verdichtete. Der Dritte Tag setzte dann mit den Projektpräsentationen von Drexler und Skrandies ein, was einen weiteren Theorieschub mit sich führte. So folgten lange Gespräche, unter ständiger Beachtung des stündlich zu fotografierenden Bartwuchses und unter Einbezug der Materialien (etwa: Forsythe’s Improvisation Technologies). Bei systematisierenden Überlegungen zum Bild-BewegungsVerhältnis tauchte ein methodisches Problem auf: Es war offensichtlich nicht möglich – und lag auch nicht im Interesse der Beteiligten – eine Taxonomie von Bild und Bewegung in der Schärfe einer Theorie mit Allgemeinheitsanspruch zu entwickeln. So entstand schnell Einigkeit: Man könne sich nur von den eigenen Arbeiten leiten lassen und die Begriffsarbeit zu Bild und Bewegung sei hier auch nur im radikalen Bezug aufs eigene (künstlerische) Arbeiten von Interesse. Gleichwohl: Die Theoriediskussion lief sich tot (die zweite Krisenphase). Es setzte sich die Einsicht durch, dass jetzt – im Sinne des tänzerischen Improvisierens – nur ein wirkliches Tun helfe. So kam der Vorschlag, das Projekt der Bartfotos um andere, gemeinschaftliche Aktionen des Stopptricks/Daumenkinos zu erweitern. Damit ging dieser Tag zu Ende: Mit langen, un-choreografierten Bewegungssequenzen aller, unter Einbeziehung der Gegenstände im Raum, fotografiert mit der basalen Technik der auf ein Stativ geschraubten und auf einem Tisch in einer Ecke des Raums postierten Digitalkamera. Der vierte Tag begann dementsprechend mit der Sichtung des Fotomaterials, das Daniel Burkhardt am Abend zuvor noch mit einer Software bearbeitet hatte, die den Stopptrickeffekt erzielt und variantenreiche Fassungen zulässt. Die Laboranten verstrickten sich in eine relativ kurze, aber dichte Theoriediskussion zum Verhältnis von Individuum und Abstraktion, kehrten dann aber zu den Bildern zurück und entschieden einhellig, andere Ideen, die in den vergangenen Tagen aufgekommen waren, nicht mehr zu verfolgen oder aufzugreifen (lediglich die Bartfotos wurden konsequent fortgesetzt) und stattdessen weitere, genauer geplante und choreografierte Stopptrickfilme zu erstellen. So verging der vierte Tag mit dem Wechsel von diesen ›Filmaufnahmen‹, choreografischen Überlegungen, theorieorientierten Zusammenfassungen und Bezugnahmen auf andere künstlerische Arbeiten. Die Mittagspause führte die Laborteilnehmer nochmals mit Henrike Kollmar zusammen, die als verantwortliche Vertreterin des tanzhaus nrw nun doch die Frage stellte, wie denn die Präsentation des Labors auf der Tagung aussehen solle.

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Am frühen Abend des vierten Tages, alle Fotoprojekte waren abgeschlossen, fanden sich die Laboranten wieder einmal in einer Runde wieder, verstrickt in eine Theoriediskussion über ›obszöne‹ und ›übersehene‹ Bilder und versuchten, solche Bildqualitäten mit Bezug auf die eigenen Arbeiten zu spezifizieren. Interessant hier: Binnen einer knappen halben Stunde entstand der allgemeine Eindruck, dass man mit den vielen Theorieausflügen, den Materialsichtungen und den eigenst im Labor realisierten performativen (Foto-)Projekten alles getan habe, was zu tun gewesen sei, um aus der Zusammenkunft des Künstlerlabors BildBewegung eine für alle bleibende Erfahrung zu machen – ohne schon sagen zu können, was im individuellen Fall daraus sich zu entwickeln vermöchte. Es wurde entschieden, den fünften Labortag als Generalpause anzusetzen. Die Präsentation für die anstehende Tagung war nach wie vor kein Thema. Die Einigung mit Henrike Kollmar, dass es ein offenes Gespräch zur Prozessualität der Labortage und ein showing der Stopptrickfilme geben solle, wurde von allen als konkret genug eingeschätzt. Dieser Moment, am Abend des vierten Tages war, wie paradox, als trete ein Maler von seiner soeben noch bearbeiteten Leinwand zurück, besehe sich das Ganze und habe den Eindruck, etwas sei fertig: Ein Werk, in der Schwebe.

V. M ATERIALFORSCHUNG Das Labor, als Kurzform des seine lateinische Herkunft nicht verbergenden Laboratoriums, ist der Ort der Arbeit.14 Mehr noch: Anderes betonend als die Fabrik (Ort einer Herstellung) und die Werkstatt (Stätte der Werkerstellung durch manufakturielle Gewerke), kommen im Labor das Tun des Arbeitens (lat. laborare) und die Bezeichnung des Ortes, dass also dieser Ort selbst Arbeit sei, zusammen. Und während das Büro – als Bezeichnung für einen anderen, die Art der Tätigkeit betreffend dem Labor eher entgegen gesetzten Raum der Arbeit – von seiner Wortherkunft und kultursemantischen Entwicklung bereits auf das theoretische, organisatorische und verwaltende Tun in Arbeit hinweist (etymologisch herkommend von lat. bura, dann altfrz. burel bis hin zu frz. bureau, bezeichnet das Wort zuerst einen groben Wollstoff als Decke beziehungsweise ein zottiges Gewand, und meint damit ein Stück Tuch, das auf einen Schreibtisch aufgespannt wird, später dann den Tisch selbst mit Tuch, schließlich den Raum

14 Teile dieses Abschnitts sind als Kommentare zu einer eigenen, zusammen mit Gudrun Lange erarbeiteten Lecture Performance bereits erschienen, vgl. Lange/Skrandies 2011.

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mit dem Arbeits- beziehungsweise Schreibtisch: das Büro) (Pfeifer 1999, 186), stellt die semantische Kongruenz von Ort und Tun bei Laboratorium die Praxis und Performanz des Arbeitens in den Vordergrund. In einem Labor, das im alltäglichen Sprachgebrauch vor allem mit den naturwissenschaftlich-technischen Arbeitsfeldern assoziiert wird, steht das Experiment (und sein Verlauf) im Vordergrund.15 Ausgehend von einer Versuchsanordnung mit klar definierten Bedingungen werden Reaktionsprozesse initiiert, die beobachtet, vermessen, kartiert und ausgewertet werden. Die experimentellen Prozesse in einem Labor dienen zur Modellbildung im Rahmen eines verallgemeinernden Theorie- und Systemanspruchs. So gesehen ist das Labor, als Ort, an dem Arbeit geschieht, ein kultureller Raum, in dem die Produktion (und Destruktion) von Wissen in Form von Emergenzprozessen stattfindet. Auch für das Feld performativer Künste wird das Laboratorium – wie oben an einigen Beispielen benannt – als Ort und Form von Arbeitsprozessen markiert (vgl. zum Beispiel Obrist/Vanderlinden 1999; Stamer 2005; 2007). Nach einigen Diskurs-turns innerhalb der sich etablierenden Tanzwissenschaft (Körperlichkeit, Performanz, Medialität, Kontrolle/Disziplinierung und ähnliches), wurde der tanzende und sich bewegende Körper dann insbesondere in Hinblick auf den Wissensbegriff erörtert (etwa: Baxmann/Cramer 2005; Gehm/Husemann/von Wilcke 2007). Naheliegend, dass Laboratorium hierüber als Ort des Wissens beziehungsweise der Wissensproduktion in den Blick gerät. Der besondere Spannungsbogen, der in dieser Diskussion geschlagen wird, ist nun just jener, der sich oben zwischen Büro und Labor abzeichnete: Das Verhältnis von Theorie und Praxis. Dabei ist evident, dass die körperliche Arbeit der Choreographen und Tänzer nicht einfach ›der Praxis‹ und die intellektuellen Zusammenkünfte von Akademikern, Journalisten, Kulturschaffenden etc. ›der Theorie‹ zugeschlagen werden können oder sollten. Aufgrund der Reflexionshöhe performativen Tuns auf der Basis des Wissens um die Diskurse der Körperlichkeit, faltet sich das Verhältnis von Theorie und Praxis vielmehr in der tänzerischen Arbeit selbst ineinander – und künstlerische Laborberichte, Lecture Performances und ähnliches sind hierfür nur die prominentesten Beispiele ästhetischer Forschungsverfahren. Für das Labor fasst Peter Stamer in diesem Sinne zusammen:

15 Hierzu sind in den vergangenen Jahren im Kontext der science studies, der laboratory studies, der Akteur-Netzwerk-Theorie und verwandter Modelle zahlreiche Untersuchungen entstanden, die ein Interesse am Zusammenhang von Produktion, Wissen und Materialität haben. Vgl. etwa: Latour 1987, Bellinger/Krieger 2006, Rheinberger 2006, Knorr-Cetina 2002.

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»Das künstlerisch-epistemische Format des Labors ist dabei eine Praxisform, die Wissen unter die gemeinsame Verfügung von Theorie und Praxis, von Diskurs und Tanzkunst stellt. Theorie wird nicht länger als eine Form von Reden über Praxis verstanden, sondern bereits als eigene Praxisform aufgefasst; umgekehrt zeigt sich die performative Praxis nicht nur als eine neutrale, sozial abgekoppelte Darstellungsweise, sondern immer schon als von Diskursen durchdrungen und informiert. Als Ort der Wissensproduktion ist das Laboratorium in jenem Sinne als topisch zu verstehen, als Ort, an dem diese Werkstatt situiert ist, Einfluss nimmt auf die Herstellung von Wissen.« (Stamer 2005, 42)

Auch Claudia Jeschke und Rose Breuss sind in ihrem Beitrag am Zusammenhang von Wissen und Verfahrensweisen beziehungsweise dynamischen, suchenden Arbeitsprozessen interessiert und untersuchen dies am Beispiel des Formats Lecture Performance. Ihre Erörterungen historischer Beispiele, die Analysen zeitgenössischer Projekte als auch die Herkunft des eigenen Textes aus einer Lecture Performance (Expansion of the Moment : Aufforderung zum Tanz, 2010) können zunächst die Bedeutsamkeit von Lecture Performances für die zeitgenössische Tanzszene aufzeigen. Besonders hieran ist aber, dass die Autorinnen so – vermittelt über den Begriff der Heterochronie – die prinzipielle innere Heterogenität von vor- beziehungsweise aufgeführtem Stoff herausarbeiten können: Inkorporiertes Bewegungsmaterial ist ein Hybrid historischen, zeitgenössischen und eigenen Bewegungsvokabulars und -wissens. Die Lecture Performance als Format wiederum kann der experimentelle Ort sein, an dem das Ineinander von Heterogenität und Bewegungswissen im Bewegungsmaterial reflektiert wird. Wenngleich also Stamer, Jeschke/Breuss und anderen zuzustimmen ist und die Emphase einer experimentell offenen Produktions- beziehungsweise Verfahrensdynamik wesentliche Momente zeitgenössischer Kunst zu benennen hilft, so darf doch die Erinnerung daran nicht fehlen, dass eine Wissensproduktion in der Arbeitsform des Labors oder des Experiments nicht per se widerständig, subversiv und schon gar nicht (in ethisch-politischer Hinsicht) unschuldig ist. Denn selbstverständlich wurde das Wissen über die Bombe in Labors und Testverfahren entwickelt, ja, von gewissen Regierungen wurden ganze Karibik-Atolle oder amerikanische Wüsten als Labore, Test- und Experimentierfelder hierfür uminterpretiert. Kaum ein Arzneimittel oder Kosmetika, das nicht in Labors unter Durchführung von Versuchen an Tieren und Menschen entwickelt wurde, bevor es auf den Markt gebracht wird. Und selbstverständlich ist bekannt, dass die Konzentrationslager der nationalsozialistischen Diktatur auch Laboratorien des Menschenexperimentes waren. Das ist hier nicht weiter auszuführen, muss aber erinnert werden. Eine noch zu schreibende Kulturgeschichte des Zusammenhangs von Arbeit, Körpermaterial und Labor hätte hier ihren Kern zu finden.

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Insofern: Das Labor als Ort der »Produktion von Wissen« kann auch Mittel und methodisches Dispositiv zur Erreichung von Zwecken sein, die von der Zurichtung des Körpers bis zu dessen Zerstörung reichen mögen. Auch dies wird man als eine Dialektik der (zivilisatorisch-technischen) Aufklärung bezeichnen können. Für den Konnex von Tanz und Bewegungsmaterial ist dies ebenso nachweisbar. Nicoletta Misler hat das für das biomechanische Labor des Zentra l instituts für Arbeit in Moskau nachgezeichnet und gezeigt, wie hier Kunst und Wissenschaft zum Zweck einer Arbeitsgesellschaft zusammengebracht werden: »Das Zentralinstitut für Arbeit (CIT) war ein Ort des Aufeinandertreffens unterschiedlichster Forschungen, deren gemeinsames Ziel darin bestand, den Taylorismus als industrielle Produktionsform auf die darstellenden Künste zu übertragen. Der große Einfluß des Taylorismus im postrevolutionären Russland ist vor allem darauf zurückzuführen, dass – in ideologischer Hinsicht – der Körper des Arbeiters (der ›proletarische Körper‹) die Gesamtheit der Debatte um die Körperpolitiken besetzte. Aus ökonomischer Sicht war die Absicht dabei eine doppelte: Es ging einerseits um die Rationalisierung der beruflichen Leistung und der Erholung des Arbeiters ›zum eigenen Wohl‹ und andererseits um die Erhöhung von dessen Produktivkraft ›zum kollektivern Wohl‹. In diesem Prozeß wurde der Arbeiter als eine bloße Schaltstelle betrachtet. Sinnbilder hierfür sind die Maschinentänze (in denen der Künstler den Rhythmus und die Bewegung eines Fertigungsbands imitierte) oder die körpermechanischen Tänze (in denen der Körper wie eine Maschine agiert).« (Misler 2005, 96f.)

Diese Forschungen wurden in Laboratorien so weit gehend konkretisiert und mit für diese Zwecke entwickelten Bildspeichermedien aufgezeichnet, dass selbst solche Detailbewegungen wie die des Hämmerns, Meißelns, Pausierens (also: Ausruhens) und Schlafens in den Blick kamen. Damit nicht genug: Die kulturelle Bedeutsamkeit der vermeintlich freiheitlichen, emanzipatorischen oder gar subversiven Implikationen der (künstlerisch verstandenen) Metapher von der ›Offenheit‹ von Bewegung reduziert sich auf ein Minimum, verfolgt man diese Form der ergologischen Bewegungsmaterial-Forschung noch weiter. Denn, an das Vorige anschließend, zum Beispiel lassen sich die Motivationen genauer differenzieren, mit denen die Bewegungsstudien von Arbeitern verfolgt wurden. Während etwa Frederick W. Taylors Interesse der kraft- und zeitsparenden Organisation des Gesamtgefüges der Abläufe in einem Betrieb galt, wendete sich sein Schüler Frank B. Gilbreth von ihm ab, um mit eigenen – medientechnisch durch chronofotografische Messmethoden unterstützten – Verfahren die einzelnen Bewegungsschritte genauer zur Darstellung und damit Messung bringen zu

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können.16 Autoren wie Aleksej Gastev oder Ernst Jünger adjudieren so etwas mit Kulturtheorien des »Arbeiters« (Jünger 2013), die diesen als exemplarische Figur einer erfolgreichen technischen Zivilisation feiern.17 Unter diesen Blicken der Arbeitswissenschaft und ergologischen Kulturtheorie muss die Praxis von Bewegung und Produktion als gesellschaftlichen Zwecken und Zielen dienendes, »gelehriges« Tun verstanden sein. So ergibt sich für Bewegungsmaterial im Kontext eines »Forschens im Ästhetischen« (Mersch) die zentrale Spannung von Reglement und Improvisation. Das den Körper ausstellende Reglement, deren Geflecht sich von der tänzerischen Ausbildung und ihren disziplinierenden Übungen bis zur Realisierung eines choreografischen Plans spezifischen Bewegungsmaterials oder -repertoires spannt, scheint auf den ersten Blick im Gegensatz zur Improvisation zu stehen. Diese ist im Alltagsverständnis assoziiert mit Kontrollverlust, dem Moment der Überraschung, dem Aufgeben eines Plans, dem ereignishaften, situativen Tun im Wechselspiel von Agieren und Reagieren.18 Allerdings ist ein Körper, der sich von seiner Geschichte, seiner Materialität, seinem Bewegungswissen und -können vollständig dispensierte, kaum denkbar. Daher wäre ein Begriff improvisierenden Handelns (Tanzens) schal, der alleinig auf der Betonung von Regellosigkeit beruhte: »Der Körper, der gerade im Verlust der Kontrolle ›sich selbst entschlüpft‹, befindet sich in jenem Status des Nicht-Wissens, der die (Auf)Lösung gebahnter Gedächtnisspuren von Bewegung präfiguriert. Nicht ein Nullpunkt des Wissens oder ein vollständiges Vergessen, sondern gleichsam ein ›Limbus‹ zwischen körperlichem Wissen, zwischen Kontrolle und Aussetzen der Kontrollinstanz. Dieses Intervall birgt das Potential einer ›anderen Bewegung‹. [...] Improvisation [hebt] den ›Waffenstillstand zwischen Choreographie und Tanz‹ auf, verschiebt die Gewichte von der Fixierung [...] zum Bewegungsereignis des tanzenden Körpers, dessen Komplexität nicht reproduzierbar ist.« (Brandstetter 2000, 126;128; vgl. auch Lampert 2002)

Bewegung vollzieht sich in der gegenseitigen Verfransung von ausdruckhafter, körperlicher Gelehrigkeit, von Gestischem, dem Sich-Zeigen des Zeigens und den Eigendynamiken und transformativen Potentialen des Materials (Materialität). Tanz trägt in seinem Bewegungsmaterial die Realisierung dieses Differenzverhältnis aus; und zwar im Spiel von Choreografie und Ereignis. Das Performa-

16 Vgl. Skrandies 2014. 17 Vgl. zusammenfassend von Hermann 2000. 18 Zum Diskurs über Improvisation aus der Sicht von Choreographen, Tänzern und Theoretikern, vgl. Cooper/Gere 2003.

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tive hierin kann als eine Verdichtungsbewegung von Form verstanden werden, als ein Prozess der Formung, der nur im Gange bleiben kann, insofern es mitlaufend eine ent-setzende Qualität des »Afformativen« (Hamacher 2002) gibt, die die Offenheit zu kommender Bewegung wahrt. Improvisation hat dann statt, wenn Stringenz und Konsequenz erwarteter beziehungsweise erwartbarer Bewegung einer Unterbrechung ausgesetzt werden; wohlgemerkt, das meint nicht: Bewegung werde abgebrochen oder unterbrochen. Vielmehr: Die Bewegungsqualität der Materialkontrolle wird einer DeFormation unterzogen. Die Kontrolle von Bewegung besteht weiterhin, doch wird sie versehen mit der Monströsität und gestischen Unsicherheit ihrer selbst im Material. Bewegungsmaterial wird damit abermals als Reflexionsfigur und – medium verstehbar. Improvisation ist, so gesehen, ein Fallen aus der Bewegung ohne gänzliches Aussetzen von Form. Hierauf hebt auch João da Silva in seinem Beitrag ab: In genauer Auseinandersetzung mit den Arbeiten und Arbeitsweisen von Mary O’Donnell und speziell der Strategie der ›Open-Form Composition‹ – die da Silva weitreichend in die Prozessästhetik des 20.Jahrhundert einbindet – erörtert er kritisch die Gegenübersetzung von Improvisation und Komposition und zeigt deren asymmetrische Verbundenheit und wechselseitige ontologische Stabilisierung. Offensichtlich, dass von Improvisation hier bislang als Qualität konkreten Tanzes gesprochen wurde. Das wurde notwendig, um zu klären, dass Improvisation hier nicht als ein eigenes Tanzgenre verstanden wird, das jenseits des choreografisch-planerischen Tuns läge oder gänzlich anders als kontrollierte Körperbewegungen geschähe. Damit kann nun gesehen werden, dass die Qualität des Improvisatorischen, kontroll- und planungsorientierte Prozesse mit einer gespensterhaften Deformation zu begleiten, Bedingung, besser: erwünschte Heimsuchung all jener in-situ-Projekte ist, die in Form von Werkstätten, Lecture Performances, Labors etc. tänzerische beziehungsweise performative Arbeits- und Produktionsprozesse in Gang setzen. Nicht nur in ihren vergangenen Publikationen hat Annemarie Matzke hierauf mehrfach abgehoben,19 sondern tut dies auch im vorliegenden Beitrag: Anhand von (filmischem) Dokumentationsmaterial zu Probenprozessen bei Pina Bausch arbeitet sie heraus, dass und wie die verschiedenen Akteure sich gegenseitig beeinflussen und im vergehenden Prozess verändern.20 Daher kann von ei-

19 Vgl. etwa Matzke 2012. 20 Dies ist ein enger Bezug zum Beitrag von Maike Vollmer, die auch danach fragt, wie etwas zu künstlerischem (Bewegungs-)Material wird.

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ner Zuhandenheit von Bewegungsmaterial keine Rede sei – stattdessen sollte davon ausgegangen werden, dass schon ein vermeintlicher Beginn von Tanz- oder Theaterproben nicht voraussetzungslos beginnt: »Jede Genese von Material ist […] auch ein Refigurieren, Arrangieren, Zitieren«, schreibt Matzke in ihrem Beitrag.21 Bewegungsmaterial ist und bleibt prozessual. Solche Arbeitszusammenhänge, in denen das Werden von Tanz im Sinne einer Stabilisierung und Verdichtung von Bewegungsmaterial statthat, rechnen mit der Potentialität menschlicher Handlungs- und Reflexionspraxis – mit dem Spiel der Potenz, das sich zwischen Akt und Form ereignet. Die werkhafte Aufführung einer Choreografie (Bühnensituation beispielsweise) lässt die Differenz des Realisierten lediglich (aber immerhin!) zwischen den einzelnen Aufführungsereignissen zu – keine Aufführung ist wie eine andere, sagt man – und kann so zu einem »Open Work« (Rubidge 2000) werden. Für die Form der Lecture Performance, der offenen Werkstatt oder des Labors gilt aber a fortiori, dass der Werkcharakter disloziert ist: Die ›Aufführungen‹ solcher Präsentationsformen machen das Werkwerden selbst zum Thema, haben jedoch zugleich nicht vor, an einem vermeintlichen Ende der Aufführung eine definite Werkschau zu bieten. Denn das Sich-Zeigen eines Labors, einer offenen Probe oder einer Lecture Performance ist die Vorführung des status nascendi selbst. Ausgestellt werden hier performative Arbeitsmethoden und -strategien, Produktionsformen, Reflexionsprozesse, Konzeptbildungen, -modifikationen und -verwerfungen, sodann das Ausprobieren von Bewegungsmaterial selbst, kurz: der Prozess tänzerischer Arbeit als ästhetisches Werden.22

21 Auch hier ist ein historischer Bezug zu sehen, der die Ausführungen Matzkes mit denen von Siegmund, Hart und Jeschke verbindet. 22 Wesemann (2001) und Husemann (2005) weisen darauf hin, dass die auffällige Verbreitung solch werkstattartiger Präsentationsformen auch Effekt inner-theatraler Fragen zur ›Zukunft des Theaters‹, seiner Chancen und Gefährdungen ist. Das trifft sicherlich zu. Doch etwas anders gewendet, lässt sich sehen, dass die Form der Lecture Performance und des Labors die Umstände ihrer eigenen institutionellen Rahmungen reflektiert, dessen Bedingungen und Zumutungen. Daher verlangt der Text von Husemann hier eine besondere Hervorhebung, weil er die schriftliche Version einer Reflexion zum Format der Lecture Performance darstellt, die ursprünglich selbst als eine solche aufgeführt wurde. So realisiert Husemann beispielsweise das Moment des Experimentellen und Improvisierten dadurch, dass sie in einem Wörterbuch nach Begriffen suchte, »die mit dem Thema lecture-performance zu tun haben und deren Anfangsbuchstaben zusammengesetzt das Wort lecture-performance ergeben.« (Herv. i. O.) Folgende Begriffe wurden ausgewählt: »Latenz, Ereignis, Chronik, Thema, Um-

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Ein jedes dieser in-situ- und in-actu-Projekte ist auch und vor allem Arbeit: Das Ereignen von Arbeit; aber nicht nur das – wenn sie ›nur‹ das wäre, gäbe es keine Auszeichnung der klassischen Aufführung gegenüber (denn der Darsteller, der den Hamlet gibt, arbeitet offensichtlich auch) –, es ist Arbeit, die Arbeit selbst thematisch werden lässt, Arbeit, die sich zeigt, ohne schon (und ohne je) Abbild, Repräsentation, Motiv von Arbeit zu sein. Anders gesagt: Arbeit wird sowohl gezeigt als auch im Tun des Bewegungsmaterials realisiert. Damit aber bricht das kulturhistorisch eingewohnte Junktim von Arbeit und gesellschaftlicher Produktivität (als Form direkter Wertschöpfung) auf. Denn was sich im Labor ereignet, ist der kairos der Arbeit: Ereignis einer Krise, in der nicht mehr messbar ist, was sich gesellschaftlich verwerten ließe – und was nicht. Denn die Verwertbarkeit, Zweck- und Zielbindung von Produktivität ist der Messbarkeit im Sinne des chronos verpflichtet. Selbstverständlich: Jedes Labor hat einen verabredeten Anfang und ein einvernehmliches Ende, die Teilnehmer sind meist professionnels, die nicht selten dafür bezahlt werden und – schließlich –, dass so ein Labor stattfand, wird gerne dokumentiert. Das steht außer Zweifel und es wäre naiv, diese gesellschaftliche Rahmung zu verleugnen. Aber: Für die Charakterisierung der Qualität des Arbeitens mit Bewegungsmaterial im Hier, in situ des Labors oder in praxi, ist dies nicht relevant. Denn die Rede vom kairos der Arbeit meint hier, dass das, was in einem künstlerischen Labor geschieht, um seiner selbst willen günstig ist (vgl. Mersch 2000a, 134137). Es ist das Sich-Zeit-geben der Arbeit im Prozess selbst, wie er sich am Bewegungsmaterial zeigt. Wie der kairos als günstiger Augenblick einen Riss in die chronische Temporalität einfügt, der als Unterbrechung selber nicht messbar ist (das ist seine viel beschworene temporale ›Qualität‹: Ereignis einer Gabe zu sein, die nur in Gelassenheit empfangen, nicht aber im Planerischen ermessen werden kann), und damit den chronos mit einer stetigen Verschiebung, einem Aufschub versieht, so bleibt die Arbeit des Künstlerlabors radikal a-produktiv, da es seine Produktivität darin findet, das Paradigma gesellschaftlicher Arbeit in eine Form der Krise zu führen, ohne – und das ist wichtig, ja, geradezu Voraussetzung dieses kairos – diese direkt – etwa im Sinne einer Subversion oder eines Protestes – zu adressieren. Weder Vor-Stellung, Dar-Stellung, Inszenierung oder Choreografie, sind künstlerische Laboratorien ästhetischer Räume, in denen sich Bewegungsmaterial zwischen Stabilisierung und Improvisation zu erkennen gibt. Das ist ihre Arbeit – Realisierung eines Arbeitsprozesses, dem das Sich-Ereignen ei-

stand, Realisierung, Evidenz, Prozess, Erfindung, Realität, Form, Orientierung, Relation, Montage, Absenz, Nachweis, Chance, Ende« (Husemann 2005, 85;88).

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ner Leerstelle innewohnt: Unterbrechung und Aufschub der Zweck- und Mittelhaftigkeit instrumenteller Produktivität. Doch bleibt es in all den Tanzlaboren, inter art-Experimenten, Künstlerlaboren, offenen Studios, Probenphasen, Tanzwerkstätten und Plattformen bekanntermaßen in der Regel nicht beim Agieren ins Offene und Ungewisse. Das lässt sich auch im Beitrag von Gerald Siegmund sehen: In einem persönlichen, mit theoriegeleiteten Reflexionen durchzogenen Erfahrungsbericht zu Claudia Bosses Burning Beasts beschreibt er, wie das unverfugte Zusammenspiel der verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteure (Performer, Touristen, Autowracks, die Architektur der Frankfurter Innenstadt, mediale Einspielungen, Megaphone etc.) die äußere Form des Stücks durch eine aufs Ereignishafte setzende Materialdramaturgie im Werden halten. Gerade auch durch die Notwendigkeit, als Teilnehmer einen eigenen Weg durch die Arrangements und Ereignisse zu finden, scheint diese Performance in ständiger Bewegung zwischen Auflösung und Verdichtung zu verbleiben und vermag es so, die latenten Relationen von Revolution, Terrorismus, Medien, Tourismus und Heimeligkeit im un-vermittelten Beisammen der Materialien und Bildebenen – das Siegmund als allegorisch versteht – herauszuarbeiten. Während Bewegungsmaterial – wie wir bisher gesehen und betont haben – eine Dynamik eigener Agentialität besitzt, ist es ebenso richtig zu beobachten, dass der choreografische Prozess zugleich eine ontologische Stabilisierungsdynamik besitzt. Dies führt zu Szenarios, in denen das Bewegungsmaterial zwar nicht seine Eigensinnigkeit verloren hat (ganz und gar nicht!), aber im Durchgang durch die ästhetische Mediation der Choreografie doch seine Erscheinungsund Existenzweise verändert.

VI. S ZENARIOS Setzen wir daher nochmals im tanzhaus nrw ein, 18. Januar 2008: In der deutschen Erstaufführung sind die Bolero Variationen von Raimund Hoghe zu sehen. Und es sind Variationen. Entgegen der inneren Entwicklungslogik der Ravel‘schen Komposition präsentiert Hoghe einzelne, geradezu in sich geschlossene Szenen und, fast paradox, öffnet damit das so bekannte und populäre Stück Musik hin zu seinen ästhetischen, popkulturellen, historischen, interkulturellen, sogar sportlichen (die Eiskunstlaufkür von Torville/Dean bei der WinterOlympiade 1984 in Sarajewo) Bezügen. Dieser Bruch mit der klimax- und crescendoartigen Anlage bei Ravel wird unterstrichen, da das Stück in zwei von einer Pause unterbrochene, gleichlange Hälften geteilt ist und diese Hälften fast

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symmetrisch gebaut sind: Auf die Etablierung der Tänzer folgt eine Reiheninterpretation von verschiedenen ländlichen Bolero-Variationen, den Sportbezügen (mit Toneinspielung des damaligen Kommentars), weiteren unbekannteren, teils fragmentarisch gegebenen klassischen Einspielungen und einer ausgelassenen, am Swing- und Fred Astaire-Stil orientierten Episode. Abschluss beider Teile ist die Einspielung von Ravels Bolero-Komposition in seiner ganzen Länge von rund fünfzehn Minuten (der zweite Teil, und damit das Ende von Hoghes Stück geht nur mit einer stillen kurzen Szene darüber hinaus). Hier ist ein Gestus des Zeigens am Werk, der das Bewegungsmaterial narrativ verdichtet und ihm zugleich Spielraum so lässt, dass sich die Materialität, über einen dichten Sinn hin ausgehend, entfalten kann. Wie die Dramaturgin des tanzhauses nrw, Henrike Kollmar, formuliert: »Indem Raimund Hoghe den ›Bolero‹ dem Publikum in immer wieder neuen musikalischen Varianten näher bringt, führt er konsequent ein stilistisches Merkmal, das seine Choreografien auszeichnet, fort: der Akt des Wiederholens und des Inszenierens von ritualisierten Handlungen als Werkzeug, den Blick auf den Gestus selbst, auf das ›Zeigen‹ zu lenken […]. [W]enn sich Raimund Hoghe einem Klassiker der Musik- oder Tanzgeschichte zuwendet, dann kann man sicher sein, dass er daraus sowohl poetische Momentaufnahmen von hoher Qualität schafft als auch in einer kristallinen Inszenierung eine intensive Verdichtung von persönlichen und kollektiven Erinnerungen erreicht, in der sich zeitgeschichtliche und aktuelle Befindlichkeiten spiegeln.« (Kollmar 2008)

Ein Beispiel einer solchen »Verdichtung« nun genauer: Gegen Ende des Stücks, nach rund zwei Stunden also, versammeln sich die fünf männlichen Tänzer am vorderen Rand der Bühne – die einzige Tänzerin des Stücks, Ornella Balestra, sitzt im linken, abgedunkelten Bühnenhintergrund, auf einem Stuhl – und lassen, auf dem Boden sitzend, aus kleinen Stoffsäcken vier Linsenarten und Reis (bei Hoghe selbst) auf den Boden rieseln und formen diese fein säuberlich zu tellergroßen, runden, spitz zulaufenden Hügeln. In einigen Metern Abstand hinter den Haufen ziehen sie ihr Hemd aus und legen sich dort selber ab. Keine Bewegung jetzt, nur eine Tonbandaufnahme läuft. Wir hören den Bericht einer Frau, die nach Auschwitz deportiert wurde und dort überlebte, weil sie in einem Gespräch während der Tätowierung wie zufällig äußerte, Cellistin zu sein. Dem Lagerorchester fehlte ein Bassinstrument und so bekam sie die Möglichkeit, zu spielen. Die Tänzerin steht von ihrem Stuhl auf, tritt aus dem Dunkel, sammelt die Hemden der Männer ein und setzt sich wieder. Der Ravel-Bolero hat eingesetzt und, an die Regelmäßigkeit des Crescendo angepasst, beginnt ein Tänzer nach dem anderen, sich auf Unterschenkel und Knie zu hocken, den nackten Oberkörper

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und die Arme nach vorne überzustrecken und in dieser Streckung die Fingerspitzen zu Boden zu führen. In dieser Haltung drehen sie sich um die eigene ›gehockte Achse‹ – langsam, regelmäßig, stetig. Es gibt Phasen dieser Rotationen, da der einzelne Körper sich aufzurichten, aufzubäumen scheint, doch letztlich bleibt das mühsame, scheins endlose Drehen der nackten und gebückten Oberkörper die prägnanteste Ordnung des Bewegungsmaterials. Hier zieht sich nichts auf eine Aussage zusammen, tatsächlich bleibt das Gestische alles, was geschieht: Die Linsen werden aufgehäuft und geordnet, wir hören den Bericht aus Auschwitz, eine Frau sammelt Hemden ein, Männer knien und drehen sich ›mühlradartig‹ mit nacktem Oberkörper, das Ravelstück wird eingespielt. In dieser Viertelstunde des Ravel‘schen Stücks verdichtet sich im Bewegungsmaterial so allerdings ein komplexes Geflecht kultureller und historischer Parameter: Rhythmus (die Zirkularität der Musik, die gleichmäßige Drehbewegung der Körper wie von ineinandergreifenden Zahnrädern); Disziplinierung (der Zusammenhang von Arbeit, Bewegung und Körperlichkeit); Geschlecht (die geschlechtliche Trennung der Arbeit: die Frau für den zurückgezogenen oikos, der Mann auf dem Feld; die Trennung der Geschlechter an den Rampen der Konzentrationslager); Überleben (das Lager als Arbeitslager; das Programm der Lager als Programm der Ideologie: »Arbeit macht frei«); Geste (das Gestischwerden der Musik: das Cellospiel, um zu überleben; die Bewegung der Arbeit).23 Im Vollzug der Gesten und Handlungen, der Musik und der Stimmeinspielung überlagern sich Erzählungen, anders gesagt: Im Moment des Bühnengeschehens schieben sich ganz verschiedene kulturelle Räume ineinander. So wäre es zum Beispiel zu kurz gegriffen, darauf zu verweisen, dass »Arbeit« hier das Motiv eines Szenarios sei. Das ist sie, aber sie ist nicht nur Motiv, da die Körperlichkeit des Arbeitens hier durch das Gestische des Bewegungsmaterials hervorgerufen wird. Und genauso geschieht es mit den anderen Elementen (Musik, Auschwitz-Bericht, Linsen, das Einsammeln der Hemden etc.): In der Gemeinsamkeit ihres Ereignens entsteht jenes Offene von Sinn, das durch die Materialität der Bewegung versichert wird und das dann nicht zum Tragen kommen könnte, wenn die einzelnen Elemente durchweg als ein als Etwas fungierten (Musik als Kunst, Arbeit als Lohnerwerb etc.). Hans-Thies Lehmanns hat dieses Entzügliche im Sichtbaren programmatisch in einer Reflexion zum Obszönen beschrieben: »Verstehen wir das Obszöne als das/den Moment von Risiko, Überschreitung und Verantwortung des Subjekts, so ist dieses Obszöne gerade das, wovon auf der Szene des The-

23 Zu Raimund Hoghe, vgl.: www.raimundhoghe.de.

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Mit seiner Konzentration aufs Bewegungsmaterial hält Hoghe das im Spiel und realisiert es an kulturellen Erzählungen. So ruht in jedem Akt des Performativen etwas, das die deiktisch-leibliche Formierung, die die Performativität darstellt, offen hält, offen halten muss, dass sie sich ereignen kann. Hier ist mithin eine Nicht-Darstellung, genauer: ein Entzug, ein »Afformatives« (Hamacher) im Zeigen zu Gange, das Effekt von Bewegung ist und das Material heimsucht.

VII. S TABILISIERUNGEN »G ELEHRIGER K ÖRPER « Die Materialität verkörperter Bewegungsästhetik hat eine Agentialität in der kulturellen Produktion von Sinn (Entzug, Verschiebung, Aufschub, Verführung, Kommentierung, Ironisierung etc.). Man könnte auch sagen: Tanz macht sich an die Arbeit in seiner Bewegung – und: in seiner Bewegung. Das hatten nicht zuletzt Raimund Hoghes Bolero Variationen gezeigt. »Erst über die Aneignungsverfahren, die dem Körperlichen Bewegung, Form, Normierung und Codierung auferlegen, reift der Körper zum Tanzkörper, wobei er nicht allein zum Zeichen generiert, sondern als leiblicher Komplex gefühlter Dynamiken strukturiert und durch die Arten seiner Mobilisierung und Instrumentalisierung begriffen wird. Sein ästhetisches Antlitz verkörpert im Verhältnis von Spannung und Entspannung, im Gebrauch von Kraft und Gewicht, im Aufbau von Haltung und Form, seiner räumlichen Strukturierung und seines zeitlichen Bewegungsfluxus die grundlegenden Prinzipien des jeweiligen tänzerischen Bewegungsinventars.« (Huschka 2002, 26)

Tanz ist »a special kind of movement« (McFee 1992, 51). Seine Artistik und Artifizialität besteht im Kern aber nicht darin, die ästhetisierte Variante, Abart oder Ausarbeitung einer ›normalen‹, alltäglichen oder lebensweltlichen Bewegung zu

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sein. Sicher kann Tanz das Bewegungsinventar unscheinbarer Handlungen bis hin zu einer perfekten Mimikry in sich aufnehmen und dadurch zum Beispiel gesellschaftliche oder kulturelle Themen tänzerisch erörtern (Geschlechterverhältnisse, Krieg, Körperutopien und so weiter). Eine solche mimetische Übernahme von Bewegung (zum Beispiel als Zitat eines bestimmten Habitus) als Prozess der Ästhetisierung im Sinne der künstlerischen Verfremdung (Abstraktion, Ironisierung, Hyperbolismus oder ähnlichem) zu beschreiben und als eines der choreografischen Verfahren zu verstehen, ist sicher wichtig und zulässig. Damit bliebe aber unberücksichtigt, dass die besagte Ästhetisierung nicht nur, wie es die Endung »-ierung« für ein Verbalsubstantiv anzeigt, ein Prozess des Übergangs ins künstlerische Vokabular und Repertoire, sondern sie ist auch Bruch, hiatus. Tanz ist nicht nur »a special kind of movement«, sondern ist vor allem ein eigener Bewegungsmodus im Ästhetischen. McFee fasst das zusammen mit Bezug auf die ›Alltagshandlung‹ des Fegens in einer Choreografie: »What goes on there is the transformation of the movement in question (the sweeping) into something else, namely dance. So no doubt dance is aestheticized movement, but aestheticization involves a transformation. The activity is dance. And that means it is not sweeping.« (McFee 1992, 51)

Beginnen wir also nochmals dort, wo die Tanzforschung des 21. Jahrhunderts vehemente Einsichten in den Zusammenhang von Körper(lichkeit) und Bewegung gewonnen hat:24 Bei den »gelehrigen Körpern« – wie Michel Foucault sie nannte.25 Wenngleich die Herkunft der Worte Tanz/tanzen umstritten ist, finden sich alle etymologischen Bedeutungsvarianten doch auf einem recht homogenen Feld körperlicher Bewegunsgaktivität, an deren deutschsprachigen Entsprechungen man ohne Mühe ›tänzerisches‹ ausmachen kann: Sei es anfrk. *dintjan ›sich hin und her bewegen‹, nl. deinzen ›zurückweichen, -schrecken‹, fries. dintje ›leicht zittern‹, isl. dynta ›den Körper auf- und niederbewegen‹, oder vom lat. rotare ›(sich) kreisförmig herumdrehen‹ zu *retundare, *rotantiare ›drehen‹, »woraus sich im Westroman. *redançare und *redança beziehungsweise mit Abfall von re- *dançare und *dança entwickelt haben.« (Pfeifer 1999, 1412).

24 Dies insbesondere durch Gabriele Klein (2004) 25 Teile dieses Abschnitts sind als Kommentare zu einer eigenen, zusammen mit Gudrun Lange erarbeiteten Lecture Performance bereits erschienen, vgl. Lange/Skrandies 2011.

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Während Tanz als Form künstlerischen Ausdrucks erst im 18. Jahrhundert Anerkennung findet, muss er kulturhistorisch hingegen – neben Bild und Sprache – als sehr frühes kulturelles Medium im Kontext ritueller, sakraler und sozialer Verfahren verstanden werden. Gerade diese funktionale Bindung dient aber auch für eine lange Zeit als Voraussetzung, tänzerische Bewegung des menschlichen Körpers gesellschaftlich zu akzeptieren.26 Gerade im sakralen beziehungsweise klerikalen Kontext war Tanz als Ausdruck von Körperlichkeit oder als Kunstform verpönt. Die (tänzerische) Bewegung des Körpers diene der Selbstund Naturbeherrschung, sei es mit dem Ziel ritueller, militärischer, pädagogischer oder standesbedingter Zwecke – sie ist dann gutzuheißen, wenn sie vernunftgeleitet und von Rationalität durchzogen ist. Erst so, in ihrer »vernünftigen« Gestaltung sei Tanz im humanen Sinne »natürlich«. So schreibt Johann Pasch 1707: »Wahre Tanz-Kunst ist in Theoria eine Wissenschaft, welche dem Triebe der Natur zu mehr als höchst-nöthiger/ oder auch freudiger Bewegung (per disciplinas Philosophicas) solche Regeln setzet oder giebet/ damit die Bewegung in Praxi (in specie per disciplinas Mathematicas) vernünftig/ und also recht natürlich und menschlich verrichtet/ und zu einem und dem anderen Gebrauche angewendet werden können.« (zit. n. Müller Farguell 2005, 2)

Wer von Tanz sprach, meinte die Möglichkeiten, den Körper in Bewegung so zu disziplinieren, dass er vernunftgemäß nutzbar ist im Habitus ritueller Verfahren, gesellschaftlicher Notwendigkeiten oder kulturell-künstlerischer Ästimation. Dieses Motiv findet sich im Tanz bis heute in noch jeder ›klassischen‹ Tanzausbildung: An der Disziplinierung und mikrotechnologischen Formung der Ausdrucksmöglichkeiten des individuellen Körpers zeigt sich die jeweilige Qualität des Tänzers. Diesem trainierenden Zugriff auf den Individualkörper gesellt sich ganz analog das Konzept von »Tanz als Gesellschaftsutopie« bei. Auch hier geht es um das funktionelle Einbinden des Körpers in ästhetische, politische und/oder gesellschaftliche Ziele; jetzt nicht des individuellen allein, sondern der individuellen Körper zu einem Kollektivleib. Müller Farguell fasst hierzu zusammen: »Der Tanz als Gesellschaftsutopie, als Ausdruck einer Arbeits- und Volksgemeinschaft, wie sie sich bereits beim Theaterreformer Georg Fuchs in Der Tanz (1906) als ›Kultform‹ der Massen abzeichnet und von Havelock Ellis in The Dance of Life (1923) zum kultur-

26 Vgl. zum Folgenden Müller-Farguell 2005.

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philosophischen Monismus erhoben wird, erlebt in der Zwischenkriegszeit durch die Synthese von Kult- und Arbeitsbewegung seine größte Verbreitung. Als ›neuen Kulturfaktor‹ begrüßt John Schikowski in Der neue Tanz (1924) die Solidaritätserfahrung im Rhythmus des kollektiven Tanzes, während Rudolf Bode den ›Rhythmus als Lebensanschauung‹ zelebriert, die den gymnastischen Gruppentanz gegen das ›metrische Prinzip‹ von Technik und Intellekt profiliert. Von Labans chorischem Gesamtkunstwerk über die ›Bewegungschöre‹ der kommunistischen Agit-Prop-Gruppen bis hin zu den Massenornamenten der Revuetheater etablieren sich Basistechniken der Massenchoreographie, an die eine totalitäre Inszenierung der Volksgemeinschaft anknüpfen kann, die den ›rhythmischen Faktor‹ zur Verbindung ›aller Glieder des Volkes‹ einsetzt.« (Müller Farguell 2005, 14)

Vor diesem historischen Hintergrund von Individuum und Kollektiv ist auch der Beitrag von Pamela Geldmacher zu lesen: An einer Performance von Andreas Liebmann mit dem paradoxen Titel Wir – ein Solo arbeitet sie die Überlagerungen materiell-physischer und immateriell-mentaler Prozesse in der Stabilisierung eines sogenannten »Kollektivkörpers« heraus. Mit Rückgriff auf die Philosophie des »Mit-sein« von Jean-Luc Nancy zeigt sie, wie in Liebmanns als Solostück angelegter Arbeit die Ambivalenzen des Ich/Wir, des »singulär plural sein« (Nancy) gerade dadurch entstehen, dass ein auf das Kollektiv gerichtete Bewegungsmaterial realisiert wird und zugleich der Kollektivkörper »Publikum« zum Bewegungsmaterial eines Solo-Performers wird. Doch zurück zur ›Gelehrigkeit‹: Der Auf- und Umbau des Körpers zu einer funktionierenden Einheit ist als solches die gesellschaftliche Aneignung von spezifischem Bewegungspotential mittels zivilisatorischer Techniken. Körperliche Bewegungen – sei es in individueller oder kollektiver Formierung und Formation – können insofern als Prozesse für die funktionale Gestaltung gesellschaftlichen Fortschritts – allenthalben durch Arbeit – und seiner Ideologie genutzt und eingesetzt werden. Nochmals anders: Qualitäten körperlichen Bewegungsmaterials sind – wie etwa im Rhythmus – gesellschaftlich variabel nutzbar: Idealisiert als Emblem für die vermeintliche Naturverbundenheit des Körpers, kann der Rhythmus in ethnologischer Perspektive eingesetzt werden zur Begründung einer folkloristisch verstandenen Utopie von Gemeinschaft, die den entfremdenden Anforderungen des Industriezeitalters durch Orientierung an ›naturverbundenen‹, etwa: landwirtschaftlichen Tätigkeiten wider- und entgegensteht. Andererseits finden sich aber gerade auch Belege, die Rhythmizität des Körpers und deren tänzerische Qualitäten in eine Genealogie des industrielltechnischen, tayloristisch codierten Körpers zu stellen (wie er als ›Endprodukt‹ etwa als »Tramp« in Charlie Chaplins Modern Times in der Fabrik zu sehen und zu bewundern ist, oder von Karl Bücher in Arbeit und Rhythmus formuliert wur-

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de) – womit wiederum eine Naturalisierung des standardisierten Arbeitens zu erreichen wäre (vgl. etwa Bücher 1919; Baxmann 2005; Misler 2005). Körper sind »gelehrig« – so hatte Foucault formuliert und damit erinnert an eine Geschichte der Inbetriebnahme des Körpers in gesellschaftlichen Institutionen (Foucault 1977). In Abwendung von der Vorstellung eines Essentialismus der Körperlichkeit wurde darstellbar, wie das Militär, frühe Erziehungsanstalten, Gefängnis, Kliniken, Fabriken und Arbeitshäuser jene institutionalisierten kulturellen Räume sind, die die Körper durch Drill, Disziplin, Diätetik, Überwachung, Prüfung und vor allem Übung in Form bringen. Solche Körper, unsere Körper mithin, sind, so gesehen, Formen der Macht: Die in den Institutionen ausdifferenzierten Übungs- und Disziplinierungsbewegungen setzen den Körper einer Formung aus, so, dass seine Praxis – seine Bewegung in ihrem Begehren, Können und Nicht-Können – zu jener der Institutionen wird. Objektivierung und Subjektivierung fallen in eins. Mit der Prüfung und Prüfbarkeit körperlicher Bewegungsleistungen und Leistungsbewegungen kann sich die klassische, auf Repräsentation angelegte Macht zurückziehen und zu einer Disziplinarmacht werden, die den Körper des Individuums ausstellt, sichtbar und bis ins Kleinste verstehbar, messbar und dokumentierbar macht – Macht und Machtkontrolle haben nun, durch die institutionellen Technologien, am Körper statt. »Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist.« (Foucault 1977, 246) So schließt sich der Kreis des Regimes moderner, gesellschaftlicher Körperlichkeit: Die »gelehrigen Körper« unterziehen sich der Mimesis institutionalisierter Machttechnologien der Bewegung, subjektivieren sie, werden gemessen, vermessen, kontrolliert und geprüft und schließlich wiederum beobachtet, gemäß der an ihnen gewonnenen Daten. Man wird allerdings Pierre Bourdieu lesen müssen, um zu verstehen, wie die individualisierende Aneignung solch allgemein-gesellschaftlicher, institutioneller Bewegungsdisziplinierungen als »Habitus« einer einzelnen Biografie entsteht (vgl. etwa Bourdieu 2001, 184;189f.). In der »illusio« findet und versteht der individuelle Körper seinen Ort im Geflecht der Welt – er ist nicht nur dort, sondern er kann sich auch zu anderen Akteuren, Dingen, zu Materiellem wie Immateriellem in Beziehung setzen, sich verorten in den körperlichen, symbolischen, interaktiven Räumen der Gesellschaft. Diese Bewegung ist eine Aktivität. »Die Welt ist erfassbar, unmittelbar sinnerfüllt, weil der Körper, der dank seiner Sinne und seines Gehirns fähig ist, auch außerhalb seiner selbst in der Welt gegenwärtig zu sein, von ihr Eindrücke zu empfangen und sich durch sie dauerhaft verändern zu lassen, über

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lange Zeit hinweg (seit seinem Ursprung) ihrem regelmäßigen Einwirken ausgesetzt war. Infolgedessen hat er ein mit diesen Regelmäßigkeiten harmonisierendes System von Dispositionen erworben und ist geneigt und fähig, sie in Verhaltensweisen praktisch vorwegzunehmen, die eine ein rein praktisches Erfassen der Welt sichernde körperliche Erkenntnis einschließen.« (Bourdieu 2001, 174)27

Gunter Gebauer fasst, mit Bezug auf Marcel Mauss, die hier bei Foucault und Bourdieu gesehenen gesellschaftlichen Implikationen der Kulturalität und Kulturalisierung von Bewegung zusammen: »Im Prozeß der Technisierung des Körpers werden Bewegungen in soziale Zusammenhänge eingebunden, sie werden zu zweckvollen, oft zielgerichteten, aber nichtreflektierten habitualisierten Tätigkeiten gemacht, die stetig verfeinert und in den verschiedensten Sektoren des gesellschaftlichen Lebens spezialisiert werden, als Manieren, als Haltung, als ein Benehmen, das ›zu einem bestimmten Lebensstil gehört‹. Sie werden einerseits individuell, persönlich angeeignet, vom Individuum auf seine eigene Art vollzogen und seinem Gesamthabitus angepasst. Andererseits sind sie das Ergebnis von sozialen Prozessen, in denen für alle Beteiligten gleichartige Verhaltensmodelle, Vorschriften, Normen verbindlich gelten. Bewegungen sind in einem doppelten Sinne konstruktiv: Sie erzeugen nicht nur die materielle Welt der Körper und Umweltdinge, sondern wirken auch im Inneren der Person, indem sie Haltungen, Einstellungen und Bewertungen entstehen lassen, die weit mehr sind als eine einfache psychische Begleitung oder sekundäre Effekte.« (Gebauer 1997, 507)28

27 Zur körperlichen Erkenntnis als spezifisch körperliche Sinneserfahrung, diskutiert im Kontext einer phänomenologischen Theorieanlage und Ästhetik der Bewegung, vgl. Diaconu 2005. Neben Riechen und Schmecken behandelt die Autorin auch ausführlich das Tasten und kommt hier auf den Zusammenhang von Bewegung und Berührung zu sprechen (bes. 155-180). 28 Sowohl hier als auch bei Foucault ist besonders der einzelne Körper in seiner Bewegung, Gestik, Materialität und Produktivität im Blick und manches Mal der Körper als einzelner in einer Gruppe (zum Beispiel in einer Gruppe von Tänzern). Ausgespart wird hier das Phänomen der Bewegung von gruppierten Körpern, etwa in Form von Schwärmen, Horden, Meuten, Mobs oder ähnlichem. Dies wäre hier anschlussfähig, führte aber zu einer neuen Thematik; etwa mit Deleuze/Guattari 1997; Rheingold 2002; Brandstetter/Brandl-Risl/van Eikels 2007; Horn/Gisi 2009. Wir werden weiter unten den Beitrag von Eva Pröbstel kennenlernen und hier abermals auf diese Perspektivierung stoßen.

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Ohne Zweifel hat der künstlerische Tanz der vergangenen Jahrzehnte seit Mitte des 20. Jahrhunderts – ob Neoklassik, Ausdruckstanz, Modern Dance, Postmodern Dance, Tanztheater oder der sogenannte Zeitgenössische Tanz (vgl. Skrandies 2009) – diese leibhaftigen Bedingungen erkannt, künstlerisch erforscht und in Form von Anzitationen, Verweisen, Persiflagen, Mimikry und ähnlichem in sein Bewegungsrepertoire integriert und reflektiert, man möchte fast sagen: durchgearbeitet. Das bedeutet aber mitnichten: ab- oder aufgearbeitet. Warum nicht? Weil die Verkörperung von Bewegungsmaterial in einem sich stets erneuernden gesellschaftlichen Spannungsfeld von körperlicher Disziplinierung und Emanzipation, von Darstellung und Verschiebung statthat. »Verkörperung wäre demnach der Modus der Generierung von Praxis, die Semantisierung des Körpers wäre ihr Effekt.« (Klein 2005, 44) Durch das Brechen mit dem Ausdrucks-Paradigma, das noch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geprägt hatte und selbst als (teils pädagogisch verstandene) Reformbewegung aus dem klassischen Tanz des 19. Jahrhunderts und dessen punktiert gedachten Bewegungskonzept hervorgegangen war (Oberzaucher-Schüller 1992), wird in den Tanzkonzepten und Choreografien der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Bewegungsmaterial als solches thematisch. Es wird in Szene gesetzt als Eigensinn und Dynamik von Körperlichkeit aber auch in Hinblick auf deren kulturelle Bedingtheiten und Bedingungen. Dabei werden in den Choreografien strategisch Verfahren verfolgt, die den eingewohnten Blick auf und die Empfindung von Bewegung stören, irritieren, verunmöglichen, abstoßen. Das bedeutet, das sich im Bewegungsmaterial ein Wissen darum kundtut, dass sich in der Bewegung der Körper nicht nur das Fleisch bewegt, sondern auch gesellschaftliche Ordnungen (vgl. Waldenfels 2007, 30) und ein ganzes Regime von Wahrnehmungen und Blicken – kurz: eine Optik. Optik, so heißt es bei Donna Haraway, »ist eine Politik der Positionierung.« (Haraway 1995, 86f.) Eine solche Optik wiederum sichtbar, besser: be-sehbar zu machen, bedarf es im tänzerischen Produktionsprozess und im Vollzug der Chorerografien methodisch dessen, was der Phänomenologe Bernhard Waldenfels eine »kinetische[ ] Epoché« nennt: »Ich verstehe darunter ein Anhalten der gewohnten Bewegung, eine Suspendierung von Bewegungszielen und Bewegungsumständen, eine Erfindung von Gegenbewegungen, auch eine Überschreitung der vorgegebenen Bewegungsgrenzen. Alles in allem handelt es sich um eine Verfremdung der vertrauten Beweglichkeit und in eins damit um eine Verfremdung der Lebenswelt. […] [U]nsere Bewegungen [tanzen] aus der Reihe« (vgl. Waldenfels 2007, 29f.).

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Bewegungsmaterial ist Agens von Tanz. Im Zeitgenössischen Tanz wird es und stabilisiert sich durch ein heterochrones und heterotopes gestalterisches Arbeiten am und mit dem Körper (aber nicht nur am Körper, wie wir in Abschnitt IX argumentieren werden) und nicht (mehr), wie im Ballett etwa, andersherum, durch die leibliche Auskleidung eines Bewegungsrepertoires in tradierten Raumordnungen und -hierarchien. Was nun zählt, sind aus Potentialitäten sich verdichtende, offene Vokabularien, die das Werden und die Qualitäten von Bewegung als solche thematisieren und die immer wieder erprobt, variiert und, da sie selbst sich einschleifen, verändert werden:29 Spannungsfelder und Konstellationen wie Zentrum und Peripherie, Stocken und Dynamik, Speed und Stillstellung, Einfachheit und Komplexität, Ereignis und Entwicklung, (An-)Spannung und Flow, Parallelität und Kontrapunkt und Ähnliches können als ästhetische Materialforschungen in Bewegung verstanden werden.30 Solchen Konstellationen geht auch Maike Vollmer in ihrem Beitrag nach, in dem sie sich mit Antje Pfundtners Stück RE(s)ET befasst. Vollmer konzentriert sich darauf, den Materialbegriff an solchen Bewegungen entlang zu konturieren, die innerästhetische Handlungs- und Beziehungskontexte ausbilden. In Pfundtners Stück ist es die found footage-Ästhetik des Tanzens und Performens gesammelter und wiederverwerteter Passagen alten Tanzmaterials, anhand der Vollmer Bewegung als Material herausarbeitet. Die Körper werden als Oberfläche und auch als Raum von (biografischem, psychischem, leiblichem, gesellschaftlichem, politischem, popkulturellem, ästhetischem etc.) Bewegungswissen eingesetzt, genutzt, benutzt, vernutzt. An ihnen und aus ihnen heraus entäußert sich ein leibliches Archiv und gibt Informationen über ›uns‹ (und die ›anderen‹) preis, die an kaum sonst einem Ort eine solche Reflexivität entwickeln könnten, wie in dem Bewegungsmaterial, aus dem Tanz wird.

29 Diese Dynamiken verfolgen insbesondere die Beiträge von Geldmacher, Pröbstel, Berger und da Silva. 30 Christiane Berger hat dies en detail an choreografischen Arbeiten William Forsythe’ und Saburo Teshigawaras verfolgt und unter anderem im Spannungsfeld von Wahrnehmung und tänzerischer Flüchtigkeit eine Heuristik von Bewegungsmomenten extrapolieren können, die hier kurz zur Ergänzung des obigen genannt seien: »Komplexität: Enthierarchisierung, Dezentrierung, Dynamisierung«, »Bewegungsfluss: Entspannung und Enthierarchisierung«, »Geschwindigkeit: Auflösung in Beschleunigung und Verlangsamung«, »Materialisierung von Erfahrung«, »Zwischen Kontrolle und Eigensinn«, schließlich »Verwandlung und Verformung« (Berger 2006, 7f.).

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VIII. B ILDMATERIAL »Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt. Damit aber erweitert sich die Frage nach der ›Natur‹ der Medien zur Frage nach der Medialität unseres Weltverhältnisses. Denn wie wir denken, wahrnehmen und kommunizieren, hat immer auch Folgen für die Art und Weise, in der unsere Umwelt für uns zur Welt wird, in der sich die Vorstellung über das, was für uns wirklich ist und was ›Wirklichkeit‹ heißt, ausbildet und verdichtet.« (Krämer 1998, 14)31

Alles ändert sich, sobald Körper, Tanz, Bewegung, Material in den Raum des technischen Bildes eintreten. Vielleicht ändert sich nicht »Alles«, aber doch Entscheidendes. Wir sind es im Alltag gewohnt, davon auszugehen, dass Medien den kulturellen Sinn, in und mit dem wir leben, schlicht speichern, transportieren und kommunizieren, kurz: die Genesis von Sinn zur Geltung bringen (vgl. Wiesing 2005), und dass sich darin ihre Funktion erschöpft. Doch bleibt jener Sinn hierdurch nicht medial unberührt. Was wir ›Medialität‹ nennen ist jene Agentialität, die aktiv an der Konstituierung des kulturellen Gehaltes beziehungsweise Sinns beteiligt ist und gleichwohl als solche in der medialen Wahrnehmung von Inhalten nicht thematisch wird. »›Medialität‹ drückt aus, daß unser Weltverhältnis und damit alle unsere Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender – und nicht einfach weltkonstruierender – Funktion geprägt sind von den Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen und den Beschränkungen, die sie dabei auferlegen.« (Krämer 1998, 15)

»Die Dimension der Medialität entzieht das Kommunizieren und Interpretieren dem Ausschließlichkeitsanspruch des intentionalen Handlungsmodells.« (Krämer 1998a, 90) – das ist es, hier aufs Medium gewendet, was an anderen Stellen als Agentialität und Intraaktivität des Bewegungsmaterials benannt wurde und was für Bildräume und medientechnische Ensembles auch zu berücksichtigen ist. Daher ändert sich tatsächlich nicht »Alles«, doch wollen die medieninduzierten Transformationen berücksichtigt sein. So plädiert etwa Isa Wortelkamp, in der Auseinandersetzung mit Performance-Fotografien der 1970er Jahre, dafür, die vergängliche Bewegtheit des Tanzes und die fotografische Stillstellung der Fotografie nicht mehr gegeneinander auszuspielen, sondern beider Wechselwirkung als eigenwertige ästhetische

31 Vgl. zu diesem Gedanken auch den Beitrag von Katharina Kelter.

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Erfahrung zu bedenken. Wortelkamp eröffnet damit die Debatte um Funktion und Bedeutung von Bildmaterial für die Tanzwissenschaft auf neue Weise, da hierdurch sowohl der Tanz aus dem Argumentationszwang des ewig Vergänglichen geholt wird als auch die Fotografie das schlechte Ansehen als abkünftige Dokumentation oder Illustration verliert. Gerade die fotografische Bildaktivität der Stillstellung kann dann zu Wahrnehmungsdynamiken führen, dem tänzerischen Bewegungsmaterial anders zu begegnen. Die »Dimension der Medialität«, von der Sybille Krämer oben spricht (vgl. ähnlich Seel 1998; Mersch 2000; Tholen 2002), liegt in der Fotografie darin, instantane Aufnahmen eines zwischen Realität und Imaginärem changierenden Augenblicks zu sein. Doch scheint es ist nicht gleichgültig zu sein, welcher Augenblick gewählt ist, also: was aus einem situativ-habituellen Kontext jeweils festgehalten wird. Und auch erschöpft sich der fotografische Augenblick nicht darin, ein mathematisch, technisch, physikalisch messbarer zu sein. Henri Cartier-Bresson war es, der die fotografische Gewichtungsmöglichkeit des Augenblicks konzeptionell zugespitzt hatte, indem er mit einer ontologischen Bestimmung gelungene Fotografie als eine Zusammenkunft von innerer Bedeutung und äußerer Formenwelt charakterisierte (Cartier-Bresson 1999). Fotografie wäre also das ausgezeichnete Medium des kairos. Mit diesem Konzept des »entscheidenden Augenblicks« der Fotografie, spitzt Cartier-Bresson für den bildästhetischen Zusammenhang zu, was schon bei Shaftesbury, Winckelmann, Mendelssohn, Lessing, Goethe und anderen (vgl. Wolf 2002) anlässlich der Laokoon-Gruppe als ein Grundproblem von Kunst und Ästhetik diskutiert worden war: Das Verhältnis von Aufnahme und Zeitlichkeit, von Darstellung und Ereignis (Gombrich 1984; Roesler-Friedenthal/Nathan 2003; Ward 2008). Bei aller thematischen Differenziertheit und inneren Differenz der klassischen Ästhetik-Debatte, ging es doch allen Autoren auch immer um das Verständnis des Augenblicks, des prägnanten Moments. In unseren Kontext übersetzt: Wie wäre jener transitorische Augenblick des Bewegungsmaterials künstlerisch zu erfassen, in dem aus der formalen Anordnung der Szenerie im Artefakt die Bedeutsamkeit und Narration des ehemals leiblichen Tanz-Ereignisses spricht? Diese Frage stellen sich die im Beitrag von Isabelle Drexler vorgestellten Tanzfotografen in gewisser Weise auch. Drexler geht es hierbei um einen systematischen Begriff der Rahmung, verstanden als bildaktive Strategie, die Chance des einen Moments – den Drexler, ganz wie die klassiche Debatte, wiederum stark macht – zu nutzen. ›Nutzen‹ heißt hier, nicht nur Etwas zu zeigen, sondern, mit Aby Warburg wohl verstanden, dass die Fotografie einen Moment ›greift‹ und ›begreift‹. Es ist ein »Fort-Da!-Spiel«, dessen Kontingenz die Bewegung

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zwischen den beiden Kunstformen, Tanz und Fotografie, ausmacht und in der letztere die Gunst des Augenblicks künstlerisch strategisch unterschiedlich nutzen kann (wie Drexler an den Tanzfotografen Greenfield, Uhlig und Weigelt zeigt). Zurück zum Augenblick also: So grundsätzlich die hinter dem FotografieText Cartier-Bressons liegende ästhetische und künstlerische Fragestellung auch sein mag: Es wäre ein Fehler, Cartier-Bresson als ›role model‹ anzusehen, anzunehmen also, dass mit diesen Positionen auch schon erschöpfend beschrieben wäre, wie in den Darstellungsstrategien künstlerischer und medienkultureller Kontexte seit um 1800 mit dem Augenblick umgegangen wird – wie er für und in Aufnahmen gefunden, umspielt, ironisiert oder gar entwertet wird – und auch: wie er für die ästhetische Reflektion über materiale Artefaktualität genutzt wird. Vielmehr spannt sich von der Laokoon-Debatte über die Chronofotografie, die Entfaltung bewegter Bilder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Ausbreitung der privaten Fotopraxis (Amateure, Knipser, Web 2.0), das mediale Dispositiv sozialdokumentarischer Fotografie (etwa im Kontext von Roosevelts Farm Security Administration-Programm) seit den 1930er Jahren, die Strategien der Street Photography, die Dekonstruktionen des Augenblicks in der zeitgenössischen Fotografie (etwa bei Fischli/Weiss, Alec Soth, Paul Graham) bis hin zur Medienkunst eines Douglas Gordon (etwa 24 Hour Psycho), loop-Strukturen oder found footage-Strategien ein polychrones Szenario zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert auf, das zu bedenken gibt, wie sich verschiedene Bildformen zu den Varianzen des ästhetischen Augenblicks verhalten beziehungsweise diese allererst hervorrufen. Für den Tanz geht Claudia Rosiny solchen Formen und Funktionen verschiedener medialer Settings als Einflussfaktoren aufs tänzerische Bewegungsmaterial nach. Die vorgestellten Tanz- und Performancebeispiele seit den 1970er Jahren zeigen die Vielfalt der Nutzung von Bild- und Medientechnik auf der Bühne, die Rosiny anhand der Parameter Projektion, Extension und Interaktion systematisiert. Je nach Intensität des medialen Zugriffs auf das körperliche Bewegungsmaterial, entfaltet sich die Spannung von Realität und Virtualität neu. Ein differenzierender Blick auf die Darstellungsinteressen bildhafter Gestaltungen des Augenblicklichen ist im Spannungsfeld von tänzerischem Bewegungsmaterial und Bildwerdung beziehungsweise Aufnahme also angeraten. Die Strategien reichen hier etwa von der Verknüpfung persönlicher Wahrnehmung mit den Erfahrungen und Erlebnissen der eigenen, privaten Geschichte (Bourdieu/Boltanski/Castel 1981; Keppler 2002; Regener 2009; Skrein 2004; Starl 1995), über das Spiel der Kommunikation mit Bildern (oder genauer: aus Anlass der Bilder) (Bruns 2009; Peters o.J.), die Produktion des »entscheidenden Au-

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genblick« post festum im Akteurs-Netzwerk einer komplexen politischen, medieninstitutionellen und publizistischen Maschinerie (Becker 2006; Hagen 1991; Daniels 2002), das Spiel mit dem Verhältnis von Bildmedium und Bilddarstellung; die Übergänglichkeit vom unbewegten zum bewegten Bild (Paech 2007); das Ver- oder Ineinanderfließen der Augenblicke und ihre Dezentralisierung in Bild-Gruppen (Ferguson 2009); die Dekonstruktion des entscheidenden Augenblicks durch die Absetzung oder Unterbrechung des erfassenden, dokumentarischen Blicks (Arns 2007; Schulte Strathaus 2005); bis hin zur Spaltung der Augenblicklichkeit im Sinne des Deleuzeschen »Kristallbildes«, also in eine Dimension des aktuell Vorüberziehenden und eine Dimension des virtuell, bewahrten Vergangenen (Deleuze, 1989; 1991; Fahle 2002). Die Debatte der klassischen Ästhetik kann also die Frage aufwerfen, welche Spielarten des »entscheidenden Augenblicks« es in den Bildkulturen seit 1800 gibt – und wenngleich die Augenblickhaftigkeit der Fotografie als ein Kern der diskursiven und ästhetischen Bewegung anzusehen ist, kann – wie angedeutet – die Formstrenge der Cartier-Bresson‘schen Position oder die der LaokoonDebatte doch nicht uneingeschränkt als Vorbild für andere Bild-Praxen beziehungsweise deren Deutung gelten. Der Augenblick ist keine ontologische Größe (in) der Zeit. Vielmehr ist er Symptom ästhetischer Eigenzeiten gestalteter, künstlerischer und medialer Aufnahmen – ein ästhetisches Symptom, für dessen Verständnis die Verhältnisse von Erscheinung und Ereignis (Alloa 2013), Begehren und Blick (Stiegler 2004), von Materialität und Narration (Goetz/Löckemann 2011), von Darstellung und Medialität (Ruchatz 2003), von Notation und Praxis als mindestens ebenso entscheidend zu berücksichtigen sind wie die Augenblickhaftigkeit des Motivs (Rancière 2007; Reck 2007; Seel 1996; Mersch o.J.; Holschbach 2005). Das zeigt auch, dass eine Reflektion über ästhetische Eigenzeiten des Bewegungsmaterials, die ihren roten Faden in der Konzentration auf die Eigentümlichkeit des Augenblicks wählt, es ermöglicht – über das Feld moderner Bildmedien wie Malerei, Fotografie, bewegte Bilder etc. hinausgehend – insbesondere auch sowohl Übergänglichkeiten als auch Differenzen der Zeitgestaltungen in Bild und Tanz/Performance herauszuarbeiten. Daher auch wendet Susanne Foellmer sich den »Bildlichkeiten des Momenthaften im Tanz« zu und spricht hier aber, unseren Fragehorizont zum Verhältnis von Bewegungsmaterial und Stillstellung klug erweiternd, nicht über technische, Tanz darstellende Medienbilder. Stattdessen wendet sie sich der paradoxen Figur der »Bewegungen des Bleibens« in verschiedenen Tanzproduktionen (Xavier Le Roy, Isabelle Schad, Setareh Fatehi Irani, Guilherme Botelho) zu. Daran arbeitet Foellmer – gerade im Gegensatz zu einem statischen Begriff

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des Augenblicks und mit Rückgriff auf bildtheoretische Überlegungen bei Benjamin, Nancy und Deleuze – das Modell des »Situationsbildes« heraus, mit dem sie die Verschränkung von »(flukturierenden) Körperbildern und Bewegungsbildern« (Foellmer) erfasst. Fast paradox: Vermittelt über Bildlichkeit zeigt sich die genuine Bedeutung von Zeit, oder besser: Temporalität als Bewegungsmaterial von Tanz. In unserem Kontext wäre demnach zu bedenken, inwiefern es keinen ontologischen (Zeit-)Rahmen des Augenblicks gibt, sondern das momenthaft stillgestellte Bewegungsmaterial gleichwohl polychron (etwa als verschoben, ironisch, verteilt, dekonstruiert, ereignishaft) auftreten und agieren kann und die Temporalität allererst mit konstituiert. Die ästhetische Eigenzeit des Augenblicks würde, so gesehen, die temporale Spannung, die als Heterochronie im tänzerischen Bewegungsmaterial liegt ebenso austragen, wie jene aus Stillstellung und Ereignishaftigkeit in der Aufnahme. Die Eigentümlichkeit seiner temporalen Kontur erhält der Augenblick je neu mit dem choreografischen Stabilisierungsprozess des ästhetischen Materials im Transformationsverhältnis von Bewegung und Aufnahme.32

IX. U NTERWEGS Nicht nur durch das komplizierte Verhältnis von Tanz und Bildlichkeit, um das es zuvor ging, ist die begriffliche Bestimmung von »Bewegung« wohl alles andere als einfach – und wird, verständlicherweise, in den mit ihr befassten Diskursen auch auf ganz unterschiedliche Weise verstanden und eingesetzt. Darauf weisen Kai van Eikels, Annemarie Matzke und Isa Wortelkamp in ihrem Eintrag »Bewegung« im Metzler-Lexikon Theatertheorie hin. Ein erster allgemeiner »Ausgangspunkt« könnte daher in der »Ortsveränderung eines Körpers mit der Zeit gelten. B[ewegung] stellt damit die elementare Beziehung von Raum und Zeit und zugleich ein Definiens von Körperlichkeit dar. Das Zusammenspiel von Motorik und Sensorik macht B[ewegung] zudem zu einem entscheidenden Moment von Wahrnehmung.« (van Eikels/Matzke/Wortelkamp 2013, 35)

Eine solche Bestimmung kann nur zufriedenstellen, wenn man von der faktischen Gegebenheit von Kultur ausgeht – und nicht berücksichtigt, dass Welt

32 Wir finden hier – obgleich in einem anderen Medium – die Struktur unserer Überlegungen aus Abschnitt I wieder (Schrift).

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auch als Kultur nie substanziell vorgegeben ist, sondern in generativen und operativen Prozessdynamiken allererst hervorgebracht wird. Daher verweisen die drei Autoren gegen Ende ihres Artikels zu Recht darauf, dass die »Konzentration auf den Körper in B[ewegung] im gegenwärtigen Tanzgeschehen« eine »Bewegungsforschung zu[lässt], die Tanz jenseits seines ästhetischen Kodex und tradierter Konventionen befragt, und […] zu einer Dynamisierung eines statischen Körperverständnisses bei[trägt].« (van Eikels/Matzke/Wortelkamp 2013, 44) In ihrem Beitrag »Bewegen« setzt Kerstin Evert an diesem Dynamisierungsinteresse an und radikalisiert es mit dem Vorschlag, nicht vom Substantiv Bewegung zu sprechen, sondern in der praxeologischen Beschäftigung mit der Verbalform bewegen Ansätze für ein »künstlerisches (Forschungs-)Verfahren« zu entwickeln. Damit steht der Körper der Tänzer/Performer nicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern die Körper rücken in die Funktion von Mittlern oder Schwellenräumen, durch die hindurch die verschiedenen Beteiligten interagieren können – das Bewegt-Werden ebenso wie das eigene Sich-Bewegen und die Auflösung der Bühnengrenzen sind Gelingensbedingungen für dieses künstlerische Forschungsverfahren, wie Evert an verschiedensten Tanz- und Performance-Projekten vorführen kann. Doch muss man Bewegungsphänomene nicht dazu nutzen, Verfahrensfragen zu erörtern. Auch Christiane Berger setzt bei dynamisierten Beteiligungsrelationen an, nimmt aber, anders als Evert, die Umstände der Tänzer-ZuschauerRelation zum Anlass, das Verhältnis von Dramaturgie beziehungsweise Choreografie von Bewegungsmaterial und der Bewegungsintelligenz des Zuschauers zu untersuchen. Die Frage ist also, ob speziell beim Tanz das eigene Bewegungswissen des Zuschauers Einfluss auf sein Rezeptionsverständnis hat. Der kinästhetische Sinn des Zuschauers ist Teil einer Wahrnehmungsrelation, in der er so affiziert wird, dass er das Bewegungsmaterial in einer Art »Metakinese« (Martin) nachzuvollziehen weiß. Die Neurophysiologie hat das mit dem Begriff der »Spiegelneuronen« ebenfalls reflektiert. Abermals wird hiermit die intraaktive Agentialität des Bewegungsmaterials deutlich, die darüber mitentscheidet, ob oder wie wir etwas als dramaturgisch stabilisiertes Ereignis »Tanz« wahrnehmen und (durchaus nicht-sprachlich) verstehen, und die Berger über den Begriff der »Bewegungslogik« ins Spiel bringt. Und auch Gabriele Klein, die in ihrem wichtigen Buch von 2004 die mannigfaltigen sozial- und kulturwissenschaftlichen und -historischen Dimensionen der Bewegungen »gelehriger Körper« entfaltet – von denen oben ja auch an mancher Stelle die Rede war –, hebt hervor, »dass Bewegung nicht nur eine ›physikalische Tatsache‹ und damit etwas quasi Natürliches ist, sondern ein soziales und

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kulturelles Konzept, das auf verschiedene Weise in der Moderne naturalisiert und essentialisiert worden ist.« (Klein 2004, 14) Möglicherweise spielt bei jenen Naturalisierungstendenzen eine kultur- und tanzwissenschaftliche Fokussierung auf Körperlichkeit eine ungewollt deutliche Rolle. So überlegt jedenfalls Eva Pröbstel in ihrem Beitrag und nimmt hierzu eine markante und gewinnbringende theoriepolitische Position ein: Sie empfiehlt ein Absehen vom Körper als zentralem Bezugspunkt zugunsten eines schwarm-, system- und emergenztheoretisch gestärkten Bewegungs- und Materialitätsbegriffs. Hieraus entsteht ein Begriff von Choreografie, der nicht mehr auf die dynamisierte (An-)Ordnung von Körpern und Objekten abzielt, sondern als »InFormation« gedacht wird, die sich auf Ordnungsintensitäten von Bewegung und Materialität selbst bezieht. In Auseinandersetzung mit Stücken und Installationen von William Forsythe kann Pröbstel auf eine Ästhetik hinweisen, bei der nicht mehr der Körper, sondern das Zusammenspiel von Bewegung und Materialität im Zentrum choreografischer Ordnungs- beziehungsweise Stabilisierungsinteressen steht.33 Die neun Abschnitte dieses Textes weisen, wie etwa auch die Position Kleins, ein essentialistisches Verständnis von Körperlichkeit, Bewegung und Material zurück, gehen aber auch noch darüber hinaus, indem sie Tanz in der operationalgenerativen Prozessdynamik von Bewegungsmaterial verorten. Mithin ging es darum, Bewegung und Material als intrarelationale Konstituenten für etwas zu verstehen, das wir »Bewegungsmaterial« nennen und das dann aber etwas anderes geworden ist, als seine Einzelelemente noch waren. »Bewegungsmaterial« ist intraaktiv und akteurhaft im Zusammenhang all der anderen Elemente und Dynamiken, die schließlich werden lassen, was wir einem nicht-essentialistischen, aber prozessontologischen Verständnis nach schließlich Tanz nennen. Dass Material und Bewegung in diesem Sinne nicht erst in den performativen Künsten zusammenkommen, lässt sich nochmals mit Karen Barad auf den Punkt bringen, die, wenngleich sie hier von »Materie« und nicht von »Material« spricht, gleichwohl auch für den Zusammenhang von Tanz und Bewegungsmaterial die entscheidende Prozessualität benennt: Demnach ist Materie »Substanz in ihrem intraaktiven Werden – kein Ding, sondern eine Tätigkeit, eine Gerinnung von Tätigsein. Materie ist ein stabilisierender und destabilisierender Prozeß schrittweiser Intraaktivität. […] ›Materie‹ bezieht sich nicht auf eine vorgegebene, feste Eigen-

33 Man kann dies auch als eine gedankliche Fortsetzung des Beitrags von da Silva ansehen.

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schaft abstrakter, unabhängig existierender Objekte; vielmehr bezieht sich ›Materie‹ auf Phänomene in ihrer fortlaufenden Materialisierung.« (Barad 2012, 40)

Materialisierung »ist eine dynamische Artikulation/Konfiguration der Welt.« (Barad 2012, 41) Doch findet sie als Bewegungsmaterial des Tanzes nicht zusammenhangslos statt – im Gegenteil. Daher hatten erlerntes Bewegungswissen, institutionelle Interessen, künstlerische Artistik, historische Episteme der Körperlichkeit, machtvolle Dispositive, technisch-mediale Ensembles und Mediationen, ästhetische Verfahren, Arbeitsräume und anderes mehr Gegenstand der bisherigen Überlegungen zu sein und werden sich auch in den Einzelbeiträgen in veränderlichen Gewichtsanteilen wiederfinden. Und wir können sicher sein, dass sich diese »Welt« (Barad) aus Bewegungsmaterial nicht nur als Tanz, sondern auch andernorts artikuliert … … Soeben bin ich mit dem Flieger aus Düsseldorf in Amsterdam gelandet. Ich bin in Eile, mit Koffer und Rucksack beladen und mit Kindern unterwegs. Auch einige Gedanken zu meinem Vortrag beim anstehenden Workshop im norwegischen Trondheim gehen mir durch den Kopf. Wo sind hier die Toiletten?, ist eine Frage, die ich gerade gar nicht gebrauchen kann. Viele Passanten kommen uns entgegen, denen wir ausweichen – und sie uns. Andere überholen uns – und wir sie. Der Anschlussflug wartet. Ich bin froh, kurz vor mir ein Laufband zu sehen – es wird die Bewegung beschleunigen und erleichtern. Plötzlich, kurz bevor wir auf das Band steigen, höre ich über mir eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Mind your step!«

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VERFAHREN

Bewegen. Annäherung an ein künstlerisches (Forschungs-)Verfahren K ERSTIN E VERT

Der Text versucht, eine erste Beschreibung von bewegen als transdisziplinärem Verfahren künstlerischer Forschung vorzunehmen. Beispiele künstlerischer Projekte, in denen bewegen zentrale Methode ist, sind Grundlage dieser praxisbezogenen Annäherung. Es geht somit um bewegen als Verb: als Handlung sowie als Modus des bewegt Werdens. Eine Bestimmung von Bewegung als Substantiv in seinen vielfältigen Bedeutungsvarianten in unterschiedlichen sozial-, kultur- und auch naturwissenschaftlichen Disziplinen steht nicht im Fokus.1

S ZENE 1: P ING P ONG (B EGÜM E RCIYAS , 2009) Leere Bühne, von bühnen-links2 tritt auf: ein weißer Tischtennisball, der mit mittlerer Geschwindigkeit über die Bühne rollt. Einige Sekunden später wiederholt sich der Vorgang, doch kommt der Ball dieses Mal von bühnen-rechts, rollt in langsamem Tempo aus und bleibt mittig auf der Bühne liegen. In schneller Folge rasen nun einzelne Bälle von bühnen-rechts nach bühnen-links. Einige Bälle haben eine größere Distanz zum ruhenden Tischtennisball, andere wiede1

Eine Annäherung an den unterschiedlich genutzten Begriff Bewegung im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften nimmt Gabriele Klein (2004) vor. Ein Überblick über die Bedeutungsebenen von Bewegung aus theaterwissenschaftlicher Perspektive findet sich unter dem gleichlautenden Stichwort in: Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat 2005, 33ff.

2

Bühnen-rechts ist aus Zuschauerperspektive links und bühnen-links ist aus Zuschauerperspektive rechts.

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rum rollen dicht vor und hinter ihm vorbei. Schließlich trifft ein Ball den ruhenden Ball, versetzt ihn mit dem Aufprall wieder in Bewegung und lenkt ihn diagonal nach bühnen-links hinten ab, wo er wieder zum Stillstand kommt. Dies ist das Signal für den bühnen-rechten Auftritt eines Trios springender Bälle, kontrastiert von zwei langsam von bühnen-links rollenden Bällen. Alle Bälle verteilen sich im Raum und kommen zum Stehen. Weitere Bälle ›flanieren‹ in verschiedenen Tempi aus verschiedenen Richtungen über die Bühne, verstreuen und verteilen sich. Eine Gruppe von Tischtennisbällen ›betritt‹ diagonal von links hinten die Bühne und bewegt sich in gemessenem Tempo in Richtung Zentrum. Plötzlich entsteht Dynamik: Wind erfasst die Bälle und treibt sie von bühnenrechts nach bühnen-links ins Off. Die Bühne bleibt für eine Weile leer. Stille. In wechselnden Tempi ›treten‹ erneut einzelne Bälle von bühnen-rechts und bühnen-links auf. Die Dynamik steigert sich, einzelne Bälle springen aus unterschiedlichen Höhen herein, andere kommen als Duo, Trio, Quartett oder Gruppe auf die Bühne. Wieder erscheint eine große Tischtennisballgruppe von bühnenlinks hinten und verteilt sich über die Bühne. Auch aus den anderen Ecken rollen nun Ballgruppen herein und verteilen sich im sich langsam füllenden Raum. Dabei berühren Bälle ab und an bereits ruhende Bälle, geben diesen einen neuen Impuls sich zu bewegen oder die Richtung zu ändern. Die Bälle haben sich für die Zuschauer quasi zu eigenständigen Performern mit Solo- und Gruppenauftritten entwickelt. Mit Erscheinen der beiden menschlichen Performer ist jedoch klar: Die Bälle rollen nicht von alleine, sondern werden von zwei Tänzern bewegt beziehungsweise angestoßen oder geworfen. »Slowly enter the stage, slowing down, even more, almost stopping«; »A high fall aaaand bounce, bounce, bounce, aaaaand start rolling...«; »Now you enter as a group and you find your spot in the space«; »Make your way across the stage without hitting another ball« – all das sind Beispiele für Bewegungsanweisungen der beiden Tänzer an die Bälle. Die Bälle scheinen ihnen mal eifrig oder virtuos, mal gelangweilt oder unwillig zu folgen. Nicht immer führen sie die Anweisungen aus: treffen andere Bälle, obwohl sie das nicht sollen oder verfehlen einen Ball, obwohl die Aufforderung lautete, diesen zu berühren. Diese Szene ist der Beginn der Choreografie Ping Pong von Begüm Erciyas. Ping Pong ist eine Versuchsanordnung, die die physischen Bewegungseigenschaften und das kinetische und dynamische Bewegungsverhalten von Tischtennisbällen sowohl im Probenprozess als auch im Rahmen der Aufführung untersucht.3

3

Die Choreografie Ping Pong wurde von Begüm Erciyas im Rahmen des K3Residenzprogramms 2009 entwickelt (Premiere: 2. Dezember 2009): http://k3-ham

B EWEGEN . A NNÄHERUNG

AN EIN KÜNSTLERISCHES

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Die Tischtennisbälle benötigen einen Auslöser, der sie in Bewegung versetzt. In Ping Pong übernehmen dies die beiden Tänzer (Jenny Beyer und Sigurdur Arent Jonsson) sowie die seitlich, für das Publikum nicht sichtbar aufgestellten Ventilatoren, die die Bälle mit dem von ihnen durch Strom erzeugten Wind immer wieder von der Bühne treiben. Für bewegen als Tätigkeitsbezeichnung bedeutet dies: Einen Gegenstand/Körper beziehungsweise sich selbst zu bewegen und somit die »Ortsveränderung eines Körpers mit der Zeit« (van Eickels/Matzke/Wortelkamp 2005, 33) zu bewirken, verlangt immer den Einsatz von Energie. Bewegt sich ein Körper durch den Raum, kann es zu Begegnungen mit anderen – statischen oder sich in Bewegung befindenden – Körpern kommen. Das Aufeinandertreffen in einer Kollision (wie es sich in Ping Pong beim Aufeinanderprallen zweier Bälle beziehungsweise auch beim Auftreffen des Balles auf den Boden zeigt) überträgt Energie und bremst Körper aus, verändert ihre Position beziehungsweise Richtung und Dynamik und kann auch zur Verformung des Materials führen. »Slowly enter the space and infiltrate the group« ist eine Aufforderung der Tänzer an einen Ball: Bewegen besitzt ein andere Körper affizierendes Potential, das in der Lage ist, auch unfreiwillige (Re-)Aktionen hervorzurufen und Körper aus der Ruhe4 zu bringen. Bewegen impliziert damit Unkontrollierbarkeit als Modus des Risikos und des möglichen Kontrollverlustes. Gleichzeitig bewirkt es als motorischer beziehungsweise physikalischer Vorgang eine Positionsveränderung in Raum und Zeit. Damit verbunden ist die Veränderung des Blickwinkels als ein durch die veränderte Position im Raum bedingter Perspektivwechsel. Ping Pong verdeutlicht, wie bewegen als szenische und künstlerische Forschungsmethode nicht nur die Materialeigenschaften und das Bewegungsverhalten eines Körpers (hier der Tischtennisbälle) untersucht und daraus eine Choreografie entwickelt. Die Choreografie selbst verdeutlicht Energieeinsatz und -übertragung, Perspektiv- und Positionswechsel und damit Veränderung als grundlegenden Aspekt von bewegen: »Bewegung ist, wie Aristoteles sie in der Metaphysik bestimmt, Veränderung: ›Veränderung aus etwas in etwas anderes‹.« (Wortelkamp 2010, 271)

burg.de/de/archiv/residenzen.php?kat=&oid=139. (Stand 29.12.2012) Eine Weiterentwicklung des Stückes ist 2010 unter dem Titel Ballroom entstanden. 4

Physikalisch wird unter Ruhe eine Bewegung mit der Geschwindigkeit Null verstanden. Es wirkt somit keine äußere Kraft auf einen Körper im Ruhezustand ein.

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S ZENE 2: C ARGO S OFIA –X 5 (R IMINI P ROTOKOLL , 2006) Eine Gruppe aus circa 45 Personen besteigt den Ladebereich eines zum Zuschauerraum umgebauten Lkws, in dem sie anschließend in Begleitung zweier bulgarischer Performer, beide von Beruf Lkw-Fahrer, zwei Stunden durch Basel fährt. Die Zuschauenden sitzen auf einer kleinen Tribüne im Inneren des Lkws in einem Neunzig-Grad-Winkel zur Fahrtrichtung. Die Längsseite der Lkw-Ladefläche auf Beifahrerseite ist sowohl Fenster in die Stadt als auch Projektionsfläche für eingespielte Videos. Die Route führt an Orten entlang, die mit Transport, Ladung, Logistik, Warenumschlag assoziiert sind. Die beiden Performer-Fahrer sind getrennt vom Publikum in der Fahrerkabine des Lkws. Sie begleiten die Zuschauenden somit im doppelten Sinn: als Fahrzeugführer, die den Wagen durch den Verkehr der Stadt lenken, und als Erzähler und Berichterstatter, die den Zuschauenden Einblick in ihren mobilen Beruf und ihr Leben geben, das durch diesen Beruf geprägt ist. Erzählte Zeit und Erzählzeit stehen – wie auch erzählte Kilometerdistanz und tatsächlich in den zwei Stunden der Aufführung zurückgelegte räumliche Entfernung – in einem Verhältnis des inszenierten Nachvollzugs zueinander. Die durchfahrene Stadt repräsentiert zugleich Ausgangspunkt, Streckenabschnitte und Zielort der Lkw-Tour durch Europa: Ein imposantes Gebäude der Baseler Innenstadt steht zum Beispiel für das Bulgarische Parlament. Eine Firmeneinfahrt wird zur Grenzkontrolle und eine Verkehrsinsel zur Bühne für eine Sängerin. Am Ende der zweistündigen Aufführung erfährt das Publikum, dass man gemeinsam rund 2000 fiktive Kilometer zurückgelegt und 650 Liter Diesel verbraucht habe. Das Roadmovie als Filmgenre verbindet in metaphorischer Weise die Verschränkung von zurückgelegter räumlicher Strecke und Narration/Inhalt als innerem, metaphorischem Weg der Protagonisten. Die Suche nach Freiheit und/oder die Flucht vor Verfolgung sind wesentliche Motive der meist allein beziehungsweise in einer kleinen Gruppe fahrenden Protagonisten. Die äußere Reise durch eine häufig karge Landschaft mit metaphorischen wie tatsächlichen Kreuzungsund Knotenpunkten wird dabei zum Sinnbild der inneren Reise der Fahrenden/Flüchtenden, die unterwegs eine wichtige Entscheidung treffen, einen inneren Konflikt und damit verbunden eine persönliche Veränderung durchlaufen

5

Die Beschreibung bezieht sich auf Cargo Sofia–Basel. Ein Videozusammenschnitt der Aufführung ist zu sehen unter: http://www.rimini-protokoll.de/website/de/project_ 108.html. (Stand 12.01.2013) Das X im Titel bezieht sich auf die Stadt der jeweils realisierten Aufführung.

B EWEGEN . A NNÄHERUNG

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oder eine neue Sichtweise beziehungsweise eine neue Erkenntnis gewinnen.6 Die Verknüpfung von bewegt werden durch ein beziehungsweise in einem Verkehrsmittel und Erkenntnisgewinn beziehungsweise Perspektivänderung ist übertragbar auf Cargo Sofia–X, das gleichsam als eine Art theatrales Roadmovie betrachtet werden kann: Dem inneren-äußeren Prozess des Bewegens im Roadmovie ähnlich, (er-)fährt der Zuschauende eine räumliche Distanz und erhält zugleich Einblick in die Touren der zwei Lkw-Fahrer quer durch Europa und ihre damit verbundenen (vermeintlich) autobiografischen Lebensgeschichten. Im besten Fall wird der Zuschauer also nicht nur als Körper im Lkw durch den Stadtraum transportiert, sondern auch innerlich bewegt – berührt, zum Nachdenken angeregt, mit neuen Erkenntnissen versehen – und damit einer doppelten Positionsveränderung ausgesetzt, die mit und auf dem Weg durch die Stadt neue Perspektiven – auf den Beruf des Lkw-Fahrers, den Verkehr und Warentransport in Europa und die eigene Stadt – eröffnen kann. Cargo Sofia–X verbindet über bewegen als Verfahren die räumliche Positionsveränderung eines Körpers in Raum und Zeit mit der inneren Bewegung als einer Erfahrung beziehungsweise eines inneren Mitgehens mit dem Erlebten: »In der Theatergeschichte wird Bewegung meist über eine Mittlerfunktion zwischen inneren und äußeren Vorgängen bestimmt.«7 (van Eickels/Matzke/Wortelkamp 2005, 33) Dabei rekurriert das Stück auf das praktische Erfahrungswissen der beiden Performer als ›echte‹ Lkw-Fahrer und ›Experten des Alltags‹8 und macht dieses in der Inszenierung für das Publikum nachvollziehbar.

6

Zur dramaturgischen Verknüpfung von zurückgelegter Strecke und persönlicher Veränderung der Protagonisten vgl. Kaiser/Stutterheim 2009, 211.

7

Der fünfte Abschnitt des Lexikonartikels Bewegung in Metzler Lexikon Theatertheorie gibt einen Kurzüberblick über die Verschränkung von innerer und äußerer Bewegung im Kontext von Schauspiel- und Theatertheorien. (Vgl. Fischer-Lichte/Kolesch/ Warstat 2005, 36ff.)

8

Zur Arbeit von Rimini Protokoll und zu ihrer Arbeit mit sogenannten ›Experten des Alltags‹ vgl. zum Beispiel Dreysse/Malzacher 2007.

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B EWEGEN Obwohl die beiden vorab beschriebenen Stücke verschiedene Themen behandeln und unterschiedliche Inszenierungsstrategien wählen, sind sie dennoch über bewegen als künstlerisches (Forschungs-)Verfahren miteinander verbunden: einerseits als Untersuchung des Bewegungsverhaltens und des choreografischen Potentials von Tischtennisbällen, andererseits als Verknüpfung von Fortbewegung und Erzählung. Um sich den Möglichkeiten von bewegen als künstlerischem Forschungsverfahren weiter anzunähern, lohnt ein Blick in Wortbedeutung und -entstehung. Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache erläutert die Wortherkunft des Verbs bewegen: »Bewegen Vb. ›die Lage verändern, veranlassen, beeindrucken‹ zeigt in seinen Formen und in seiner Bedeutungsentwicklung Vermischung eines starken und eines schwachen Präfixverbs, die beide seit Beginn der Überlieferung ohne scharfe Trennung in schwankendem Gebrauch nebeneinander stehen. Das starke Verb ahd. biwegan ›aus dem Zustand der Ruhe bringen, wägend prüfen, bewegen‹ (um 800), mhd. bewegen ›bewegen‹, refl. ›sich abwenden, verzichten, sich zu etw. entschließen‹ gehört zu dem Simplex ahd. wegan ›wiegen, wägen, einschätzen, bewegen‹ (8. Jh.), mhd. wegen ›in Bewegung setzen, (sich) bewegen, wägen, einschätzen, Gewicht, Zahl, Wert haben‹, […] Eine bedeutungsdifferenzierende Scheidung in bewegen (mit starkem Prät. bewog) ›veranlassen, zu etw. bestimmen‹ und bewegen (mit schwachem Prät. bewegte) ›die Lage verändern‹ gilt erst in neuerer Zeit.«9

Diese Herleitung verdeutlicht die enge Verbindung der physikalischen Bedeutungsebenen von bewegen als räumlicher Positionsveränderung und Gewichtsbestimmung mit der inneren, emotionalen beziehungsweise mentalen Willens-, Meinungs- oder Perspektivveränderung, die mit dem Verlust von Ruhe – emotional wie physikalisch – verknüpft ist. Ein näherer Blick auf die Bedeutungsebenen von bewegen erweitert dieses Spektrum entsprechend um den Aspekt der Wissbegierde, inneren Erregung beziehungsweise des Mitgefühls.10

9

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: http://www.dwds.de/?qu=bewegen& view=1. (Stand 13.01.2013)

10 Bewegen nach Dornseiff-Bedeutungsgruppen: »8.21 Antrieb, Stoß […] 9.12 Veranlassung, Beweggrund […] 10.5 Erregung […] 10.49 Mitgefühl […] 11.6 Wissbegierde […]«. Entnommen aus: http://wortschatz.uni-leipzig.de/abfrage/. (Stand 13.01.2013)

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Als Wortbestandteil verweist die Vorsilbe be darauf, »dass eine Person oder Sache mit etwas versehen wird, ist«11, das heißt, dieser Körper ist einem externen Einfluss ausgesetzt. Das Substantiv Weg wiederum bezeichnet einen Streifen zum Begehen oder Befahren beziehungsweise eine Richtung, die Strecke, den Gang sowie die Art und Weise des Vorgehens.12 Die Annäherung an die Wortbedeutung von bewegen unterstützt somit die aus den zwei beispielhaft beschriebenen Produktionen abgeleitete Begriffsbestimmung: Durch Einwirkung von außen beziehungsweise Aufwendung von Energie verursacht bewegen als gekoppelt äußerer-innerer Vorgang eine Veränderung der Position, die nicht ohne Verlust von (physikalischer beziehungsweise emotionaler) Ruhe erfolgen kann. Diese Veränderung als messbarer und zugleich symbolischer Weg steht in Beziehung zur zurückgelegten Distanz und der dabei vergangenen Zeit.

B EWEGTES P UBLIKUM Der Blick auf Wortbedeutungen und Konnotationen macht deutlich, warum bewegen als künstlerisches Arbeits- und Forschungsverfahren doppelt interessant ist und Anknüpfungspunkte für transdisziplinäre Prozesse bietet, die Teilnehmende mit verschiedenen Erfahrungen und Kenntnissen in einen gemeinsamen Erkenntnisweg einzubinden vermag: Bewegen eröffnet die Möglichkeit, im gemeinsamen Zurücklegen eines (metaphorischen oder tatsächlichen) Weges unter Einfluss externer Faktoren und unter Aufwendung von Energie beziehungsweise Einsatz aller Beteiligten durch eine räumliche beziehungsweise innere Positionsveränderung eine neue Perspektive beziehungsweise Erfahrung zu eröffnen. Dies ist schon immer ein zentrales Anliegen von Theater gewesen: Das Spezifische des Theaters wird zumeist über die Kopräsenz von Darstellenden und Zuschauenden, seinen Live-Charakter sowie die sich daraus ergebenden kommunikativen Prozesse bestimmt: »Theater heißt: eine von Akteuren und Zuschauern gemeinsam verbrachte und gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmeten Luft jenes Raumes, in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen. […] Wie sich virtuell die Blicke aller Beteiligten treffen können, so bildet die Theatersituation eine Ganzheit aus evidenten und verborgenen kommunikativen Prozessen.« (Lehmann 1999, 12f.)

11 http://www.duden.de/rechtschreibung/be_#Bedeutung2. (Stand 27.01.2013) 12 Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Weg (Stand 13.01.2013) und http://wort schatz.uni-leipzig.de/abfrage/. (Stand 13.01.2013)

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Bedingt durch ihre kopräsente Aufführungssituation haben die performativen Künste große Erfahrung in der Herstellung von Situationen der Teilhabe. Mit Blick auf bewegen als künstlerischem Verfahren kann die Teilhabe an einer Aufführungssituation als gemeinsamer performativer Weg aller in der Situation Anwesenden verstanden werden. Indem Lehmann Theater zudem als Ort der aktiven Kommunikation und des Austauschs aller an der Theatersituation Beteiligten bestimmt, wird deutlich, dass eine Aufteilung von Akteuren und Zuschauern in aktiv Handelnde und passiv Betrachtende nicht sinnvoll ist. Der kommunikative Austausch – sprachlich, mimisch, gestisch, schriftlich, schweigend, kommentierend, zustimmend, protestierend – kann vielmehr graduell unterschiedliche Aktivitätsintensitäten der Beteiligten beinhalten und während der temporären Aufführungssituation zwischen den einzelnen Beteiligten variieren, sodass die Grenzen zwischen den Funktionen Performen und Zuschauen fließend zu werden scheinen: Alle Anwesenden übernehmen in unterschiedlichen Graden beide Funktionen: (Zu)sehen und Agieren/Performen. Die Möglichkeiten der Aktivitätsverschiebung wird durch die räumliche Anordnung der Beteiligten im/am Aufführungsort bedingt, die eine klare räumliche Trennung in Zuschauende und Handelnde mal betont, mal nahezu aufzuheben scheint.13 »Das Theater klagt sich selbst an, die Zuschauer passiv zu machen und so sein Wesen als gemeinschaftliches Handeln zu verraten. Es erlegt sich folglich die Sendung auf, seine Wirkungen umzudrehen und seine Schuld zu sühnen, indem es den Zuschauern den Besitz ihres Bewusstseins und ihrer Aktivität zurückgibt. […] Sie machen es sich zur Aufgabe, ihre Zuschauer die Mittel und Wege zu lehren, aufzuhören Zuschauer zu sein, und Handelnde einer kollektiven Praxis zu werden.« (Rancière 2009, 17f.)

13 Die früheren Arbeiten des Performance-Kollektivs She She Pop sind exemplarisch für die graduelle Verschiebung der Funktion Zuschauen und der Funktion Performen/Darstellen in einer Aufführungssituation. Warum tanzt ihr nicht (2004) macht dies besonders deutlich: Der Aufführungsraum ist als Ballsaal gestaltet; an den seitlichen Rändern der Tanzfläche befinden sich Stuhlreihen, an der Front der Fläche eine Tribüne mit logenartig angeordneten Tischen. Die Zuschauer werden von Beginn der Vorstellung an als Tanzpartner direkt Teil der Aufführung. Im Verlauf der Aufführung variiert die Option der aktiven Teilnahme, die mal höher und mal eingeschränkter ist und dem einzelnen Zuschauer unterschiedliche Stufen des performativen Engagements eröffnet: Durchtanzen, zeitweilig mitmachen oder nur Beobachten? Dafür besteht jederzeit eine Rückzugsmöglichkeit in die Zuschauerfunktion, insbesondere durch die Plätze auf der Tribüne, die eine größere Distanz zur Tanzfläche erlauben.

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Gegen die performative Beteiligung beziehungsweise Aktivierung der Zuschauenden als inszenatorischem Leitprinzip zeitgenössischen Theaters macht Rancière stark, dass die für dieses Leitprinzip grundlegende kausale Verknüpfung von Sitzen und Passivität der Zuschauer nicht zu halten ist: Wenn Sehen und Betrachten nicht als passive Zustände, sondern vielmehr als aktive Handlungen verstanden werden, können sie als Aktivitäten Grundlage für Erkenntnisprozesse, Wissensaneignung, Perspektiv- und Positionsveränderung sein. (Vgl. Rancière 2009, 22ff.) Sehen als aktive Handlung ist so verstanden integraler Bestandteil der kopräsenten theatralen Kommunikation, die Grundlage für das Reagieren – sei es durch Lachen, Gähnen oder Klatschen, Protest oder Zustimmung geäußert – als Antwort auf die betrachtete Situation ist und damit Ausdruck des gemeinsamen Weges, der sich als Wechselverhältnis von bewegen und bewegt werden darstellt. So verlagert Rimini Protokolls Cargo Sofia–X den Zuschauerraum zwar in ein Transportmittel und bewegt mit diesem die Zuschauenden durch die Stadt, doch ist das Publikum innerhalb des mobilen Zuschauerraums und angeschnallt auf den Sitzen in seiner eigenen räumlichen Beweglichkeit stark eingeschränkt. Die Zuschauersituation bleibt also konventionell, behält sie doch die Aufteilung in Zuschauerraum und Bühne bei: Zuschauer und Performer sind durch die Wände des Lkws voneinander getrennt, sodass die mögliche graduelle Funktionsverschiebung zwischen Zuschauen und Performen gering bleibt. Was jedoch nicht heißt, dass die gemeinsame Fahrt mit dem Lkw keine (Re-)Aktionen der Zuschauenden in Form von gestischen, mimischen oder stimmlichen Äußerungen hervorruft. Bewegen als innere oder äußere Positionsveränderung kann auch als inneres Mitgehen des Weges der Performer und damit als innere Bewe-

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gung beziehungsweise Einfühlen14 – oder auch als Langeweile und Abschweifen in eigene Gedanken und Assoziationen – zum Ausdruck kommen.15

S ZENE 3: D ER N EUE M ENSCH (L IGNA, 2009) Der Neue Mensch beschäftigt sich mit vier Positionen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die die Entwicklung eines neuen Verständnisses des Menschen zu entwickeln suchen. Jede dieser Positionen weist dabei dem Körper und der Art und Weise, wie er sich bewegt, eine zentrale Bedeutung zu, versucht somit über eine Neudefinition von Körper und Bewegung eine Utopie der Neugestaltung des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen: Rudolf Laban, Wsewolod

14 Brechts Kritik am »Einfühlen« des aristotelischen Theaters und sein Plädoyer für eine beim Publikum zu erzeugende distanzierte Haltung des nicht-aristotelischen Theaters verlieren unter dem Aspekt von bewegen als künstlerischem Verfahren ihre Opposition. Sowohl Einfühlen als auch Distanz als theatrales Ziel der Zuschauerwirkung gehen davon aus, beim Zuschauenden eine Veränderung zu bewirken, sie bewegen zu wollen. Lediglich die geforderte Haltung der Zuschauenden – als Einfühlung oder Distanz – ist eine andere. Beide Positionen legen jedoch Zusehen als aktive Handlung und Voraussetzung für den Erkenntnisprozess zugrunde, der eine innere Bewegung initiiert, die – im Sinn des Verstehens, Kombinierens, Assoziierens, Rührens, Mitleidens – eine Perspektiv- und Positionsveränderung bewirken kann. Zum Begriff der »Einfühlung« siehe als Überblick Roselt 2005, 84f. 15 Wie auch Inszenierungen in konventionellen Guckkastenbühnen die Zuschauer zu von ihnen wohl nicht erwarteten eigenen Aktivitäten führen können, zeigt zum Beispiel Volker Löschs Inszenierung Marat, was ist aus unserer Revolution geworden, die im Oktober 2008 am Hamburger Schauspielhaus Premiere hatte. Löschs Inszenierung beinhaltet einen Chor aus dafür gecasteten HartzIV-Empfängern. Der Text, den der Chor spricht, thematisiert im Laufe der Aufführung die soziale Schere in Hamburg und konfrontiert so die im Zuschauerraum zur Premiere anwesenden wohlhabenden Bürger und Kunstmäzene mit den ›echten‹, sozial schlechter gestellten Chormitgliedern auf der Bühne. Diese Konfrontation gipfelt im Benennen der Vermögensverhältnisse der zwanzig reichsten Hamburger. Aus dieser genannten Gruppe sind offensichtlich einige im Zuschauerraum anwesend, denn aufgebracht durch die als Anklage empfundene Nennung der finanziellen Vermögen verlassen einige sich direkt adressiert Fühlende Türen schlagend und unter Protest den Zuschauerraum. Der ›echte‹ Chor hat somit eine vorab von den betroffenen Zuschauern nicht erahnte performative Aktivität als Beitrag zur Aufführung provoziert.

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Meyerhold, Bertolt Brecht sowie Charlie Chaplin als Kontrast beziehungsweise Parodie dieser utopischen Entwürfe. Vor Beginn der Aufführung erhalten alle Teilnehmenden ein kleines Radio und Kopfhörer. Die Frequenzen, auf die die Geräte eingestellt sind, teilen die Teilnehmenden ohne deren Wissen in vier Gruppen ein. Jeder Gruppe ist eine der vier Körperkonzepte zugeordnet. Über Kopfhörer erhalten sie Bewegungsanweisungen, die die Gruppenmitglieder gleichzeitig ausführen. Die Handlungsaufforderungen übersetzen die utopischen Bewegungskonzepte in körperliche Bewegungen, sodass die Konzepte physisch und damit zugleich inhaltlich nachvollziehbar werden. Die vier Gruppen sind im Ablauf ihrer Bewegungsaktivitäten choreografisch aufeinander bezogen. Aus den umgesetzten Handlungsanweisungen ergibt sich somit eine Gesamtchoreografie aller Beteiligten. Im Viertelstundentakt durchlaufen die vier Gruppen – jede in einer anderen Reihenfolge – die vier Bewegungskonzeptionen. Damit erschließt sich den Teilnehmenden im Lauf des Abends zusehends, wie die einzelnen Handlungsanweisungen als Bewegungskompositionen miteinander verzahnt und aufeinander bezogen sind. Im Bewegen wird somit Bewegung im politischen und utopischen Sinn erfahrbar. Die inhaltlichen Positionen der Konzepte materialisieren sich im körperlichen Vollzug und werden auf ihr implizites revolutionäres Potential hin von allen Beteiligten – als Teil der Gruppe und zugleich individuell – mit dem eigenen Körper erprobt. Lignas Der Neue Mensch ist zwar – anders als ihre ortsspezifischen, auf Stadträume bezogenen Radioballette16 – in einem Bühnenraum angesiedelt, doch auch hier ist das performative Setting darauf angelegt, die Zuschauer als Teilnehmende einzubeziehen: Die Handlungsanweisungen, die sie im Kopfhörer über das Radio erhalten und die sie in Bewegung übersetzen, erzeugen erst die Aufführung im gemeinsamen performativen Vollzug. Im Vergleich zu Cargo Sofia–X ist der Grad der geforderten performativen Aktivität der Zuschauenden sehr hoch angesetzt, sogar unabdingbar für das Stattfinden der Aufführung. Zuschauen im Sinne des Beobachtens der Situation ist nicht vorgesehen, vielmehr werden alle Anwesenden zu Teilnehmenden, zu den Performern der Aufführung, die diese als gemeinsames Ereignis in Zeit und Raum temporär herstellen. Doch die Einbeziehung des aktiven performativen Potentials der Zuschauenden als sich bewegende und bewegte bleibt auch bei Lignas Arbeiten auf das Moment der theatralen Kopräsenz in der Aufführung bezogen. Die Teilnehmenden sind

16 Zum Begriff des Radioballetts siehe zum Beispiel das Interview mit Ligna: Vrenegor 2003.

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am Entwicklungsprozess des Stücks nicht beteiligt und kommen erst im Moment der Aufführung als die Situation konstituierende und tragende Performer hinzu.

B EWEGUNGSMATERIAL Sebastian Matthias’ Produktion Wallen (2012) nutzt emotionale Regungen als Grundlage tänzerischen, also bewegten Handelns, das mit und durch die Bewegung andere Körper affiziert.17 Die Zuschauenden sitzen auf Drehstühlen, die in inselartigen Gruppierungen über den Aufführungsraum verteilt sind. Die Drehstühle ermöglichen es, die eigene Perspektive permanent zu verändern und den Tänzern nicht nur mit den Blicken, sondern auch mit dem sich sitzenddrehenden eigenen Körpern zu folgen. Damit sind die Zuschauenden in das Bewegungsgeflecht der Aufführung eingebunden. Ähnlich des Lkws in Cargo Sofia–X ist der Drehstuhl eine Art Transportmittel des Zuschauers. Das Bewegungsmaterial18 also, das durch seine spezifische Form und Nutzung die (Fort-)

17 Zur künstlerischen Arbeit von Sebastian Matthias und zu Wallen vgl. http://www. sebastianmatthias.com/wallen.html. (Stand 21.01.2013) 18 Der Begriff des Bewegungsmaterials ist bislang in der Tanzwissenschaft nicht eindeutig bestimmt. Im Sportkontext wird Bewegungsmaterial als Sportgerät verstanden (zum Beispiel die Bälle, Seile, Reifen, Keulen der Rhythmischen Sportgymnastik), das durch seine spezifischen Eigenschaften Bewegungsoptionen eröffnet. In der Tanzwissenschaft hingegen verweist der Begriff Bewegungsmaterial zumeist ohne nähere Definition auf die, durch verschiedene choreografische Methoden der Bewegungsgenerierung entwickelten Bestandteile, die Teil der choreografischen Komposition werden können. Wikipedia definiert den Material-Begriff der Fertigungstechnik als „Sammelbegriff für alles, was zur Produktion oder Herstellung eines bestimmten Zwischen- oder Endproduktes verwendet wird und in dieses Produkt eingeht oder verbraucht wird“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Material, Stand 09.02.2013). Übertragen auf künstlerische Arbeitsprozesse verweist diese Bestimmung auf den von Adorno auf Musik bezogenen Materialbegriff: »Material dagegen ist, womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrensweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben« (Adorno 1997, 222). Mit Blick auf Tanz und Choreografie verwendet Jonathan Burrows den Begriff des (Bewegungs-)Materials als Kompositionselement, das im choreografischen Arbeitsprozess beziehungsweise in Improvisationen entsteht

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Bewegung ermöglicht, aber diese auch in der Art ihrer Bewegungsqualität formt und bedingt. Es ist gleichzeitig Auslöser und Verstärker der inneren sowie physischen Beteiligung der Zuschauenden. Das Bewegungsmaterial kann sowohl Objekt/Körper als auch Text, Thema oder Idee und damit Ausgangspunkt und Anlass von bewegen sein. Die Wahl und Definition des Bewegungsmaterials für den künstlerischen Prozess von bewegen eröffnet dabei eine Zugangsmöglichkeit, die motorische oder tanztechnische Erfahrung nicht als grundlegend für die Beteiligung setzt, sondern vielmehr durch einen niedrigschwelligen Ansatz als transdisziplinäres Verfahren Personen mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissenshintergründen bereits in den künstlerischen Arbeitsprozess einzubeziehen vermag. Die Trennung in Proben-/Arbeitsprozess und Präsentation19 wird damit zudem zur Disposition gestellt.

S ZENE 4: E NTROPISCHES I NSTITUT ( DEUFERT & PLISCHKE , 2012) Ausgestattet mit je einem Set beschriebener Karteikarten betritt eine Personengruppe einen Raum, der mit einer rechteckigen, grünen Teppichfläche ausgelegt ist. Jede Karte beinhaltet einen Handlungsvorschlag, den die Teilnehmenden im Laufe des nun folgenden ›choreografischen Konzerts‹ ausführen können. Auch das Tauschen der Karten mit anderen Teilnehmenden ist möglich. In dem Moment, in dem die Gruppe den Raum betritt, werden sie zu Teilnehmenden, zu den Tänzern des Konzerts, das ohne sie nicht stattfinden kann und in dem sie frei sind, den Bewegungsaufforderungen zu folgen. Zuschauen als ausschließliche Funktion ist nicht vorgesehen, vielmehr erfordert das eigene Handeln als Umsetzung der Bewegungsvorschläge auf den Karten das genaue Zusehen und Beobachten der anderen Teilnehmenden im Raum. In den folgenden circa zwanzig Minuten entwickelt sich aus den Bewegungsoptionen, die die Karten als Bewegungsmaterial eröffnen, ein komplexes Geflecht von choreografischen Bezügen zwischen allen Teilnehmenden. Aus den Bewegungsvorschlägen der Karten – umgesetzt, interpretiert, aktiviert, variiert von den Teilnehmenden – entsteht eine gemeinsame choreografische Komposition. Die Handlungsvorschläge sind unterschiedlich komplex, umfassen sowohl einfache Anweisungen – »Sit on a chair

und zusammen mit allen in diesem Prozess entstandenen Materialien Teil des Kreationsprozesses einer Choreografie ist. Vgl. Burrows 2010, 5f. 19 Zum Research-Presentation-Divide im Kontext künstlerischer Forschung vgl. Evert/Peters 2013.

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and cover your face with both hands. Stay like this until you have counted to 100« – als auch komplexere Bewegungsfolgen, die Bezug nehmen auf andere Aktionen: »When a person covers their face with their hands: lift both arms up, interlace the fingers of both hands and move your hands down in a half circle to the height of your navel. Move them up again. Pause. Repeat this five times«.20 Schnell wird deutlich, dass sich durch die Beziehung, die zwischen den Handlungsvorschlägen besteht, das choreografische Konzert als ein komplexes soziales Gefüge entwickelt, in dem es erforderlich ist, auf die Aktionen der anderen Teilnehmenden zu achten. Erst so wird es möglich Handlungsvorschläge umzusetzen, die sich direkt auf Aktionen anderer Teilnehmer beziehen. Aus (Re-)Aktionen entsteht so eine komplexe, mal dynamischere, mal langsamere Choreografie, die Ensemble-Situationen, Solos, Trios, partnerbezogene Handlungen und Duos herstellt und Bewegungskorrespondenzen und Rhythmen im Raum erzeugt. Die Handlungsvorschläge sind so gestaltet, dass sie auch ohne tänzerische Expertise oder Vorerfahrung umsetzbar und ausführbar sind. Im Rahmen des gemeinsam von allen im Raum Anwesenden hervorgebrachten choreografischen Konzerts als körperliche und kommunikative Verflechtung der Teilnehmenden erzeugt bewegen einen gemeinsamen Raum, der in dieser Form nicht wiederholbar, da an die jeweiligen Teilnehmenden geknüpft ist. Bewegen als künstlerisches Verfahren verbindet so alle Anwesenden als aufmerksam Beobachtende und (Re-)Agierende, und somit als Performende und Zuschauende in einem (Re-)Aktionsgeflecht, das durch die Handlungsvorschläge der Karteikarten als Bewegungsmaterial initiiert ist und notwendig Zusehen als aktive Haltung und Handlung setzt, die motorischer Aktivität vorausgehen.

S ZENE 5: K INDER TESTEN S CHULE (F ORSCHUNGSTHEATER IM F UNDUS T HEATER H AMBURG , 2009) Ein großer Berg aus Schulstühlen in einem Pausenhof; ein weiterer Stuhl wird auf diesen geworfen. Ergebnis: Der Stuhlberg fällt in sich zusammen. Eine Tischtennisplatte und eine Gruppe Kinder, die auf ihr stehen und hüpfen. Ergebnis: Die Tischtennisplatte hält dem kollektiven Hüpfen stand.

20 Zum Entropischen Institut siehe: http://www.entropischesinstitut.net/index.php/theentropic-institute. (Stand 21.01.2013) Herzlichen Dank an deufert&plischke für die Einsicht in die Bewegungskarten.

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In Kinder Testen Schule21 ist das Schulgebäude mit all seinen Innen- und Außenräumen Gegenstand der Untersuchung durch die, die ausgewiesene Experten für die Nutzung dieser Gebäude sind: Kinder, die sie jeden Tag besuchen und einen Großteil ihres Tages dort verbringen. Neben anderen Verfahren und Aktionen ist insbesondere bewegen ein wichtiges Testverfahren der Kinder, um die Grenzen von Handlungsmöglichkeiten, die durch das Schulgebäude und seine Einrichtungsgegenstände genauso wie durch schulspezifische Verhaltensregeln gegeben sind, auszutesten. Dies umfasst zum Beispiel verschiedene Varianten des im Unterricht nicht erlaubten Lümmelns auf Schultisch und -stuhl genauso wie den Versuch, drei ineinander verkeilte Schultische als Halfpipe zu nutzen. Aus dem Testtag in der Schule entwickeln die Performer des Forschungstheaters eine Aufführung, die die Forschungsergebnisse der Kinder und auch die Kinder selbst mit ihrer Expertise in die Aufführung einbindet. Für die Schulversuche müssen die Kinder als bewegt Forschende keine tänzerischen oder spezifischen motorischen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Viel wichtiger ist ihre Expertise, die sich aus der täglichen Nutzung der Schulumgebung ergibt, auf die sie im Rahmen des Projekts Kinder testen Schule zudem deutlich unvorsichtiger reagieren dürfen als im normalen Schulalltag. Bewegen beinhaltet hier das Testen und auch Überschreiten von Grenzen und besitzt damit in gewissem Maß unkontrollierbare Anteile.

T EILHABEN Bewegen als transdisziplinäres künstlerisches Forschungsverfahren besitzt – wie am Beispiel von Kinder testen Schule und dem Entropischen Institut zu sehen ist – das Potential, Menschen durch die niedrigschwellige Wahl des Bewegungsmaterials mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Expertisen und Kenntnissen in künstlerische Arbeits- und Forschungsprozesse einzubeziehen, um neue Perspektiven und Erkenntnisse zu gewinnen, also zu bewegen. Ein wichtiger Zugangsaspekt für bewegen als künstlerischem Forschungsverfahren ist deshalb sein möglicher niedrigschwelliger Charakter. Bedingt durch die kopräsente Aufführungssituation haben die performativen Künste Erfahrung im Experimentieren mit Teilhabe sowie Kommunikation innerhalb einer Aufführungssituation. Statt Forschen stellvertretend zu übernehmen, kann bewegen als künstlerisches Forschungsverfahren die Erfahrung und das Wissen aller Mitglieder der Gesell-

21 Informationen und Videomaterial zur Produktion unter: http://www.fundus-theater.de/ forschungstheater/projekte/kinder-testen-schule/. (Stand 21.01.2013)

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schaft stärker einbeziehen. »Wann verwandelt sich ›Forschen über‹ in ›Forschen mit‹? Wie verbinden sich How-To-Wissen und Analyse, Kritik und Intervention?«22 waren deshalb wesentliche Fragestellungen des in dieser Form ersten künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkollegs mit dem Titel Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Dabei stand neben den konkreten Forschungsvorhaben der Beteiligten das Entwickeln von Kooperationen an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Alltagsexpertise und die Frage nach Verfahren künstlerischer Forschung im Fokus der gemeinsamen Arbeit des Kollegs. In diesem Zusammenhang entstand zudem ein Online-Lexikon, das Begriffe und Verfahren sammelt, die sich im Zusammenhang mit den Forschungsprojekten als wichtig erwiesen. Diese sind jeweils anhand konkreter Beispiele dargestellt und im Wiki dem gemeinsamen Schreibund Diskussionsprozess geöffnet. Über die Dauer des Kollegs entstand auf diese Weise das A-Z der transdisziplinären Forschung, das eng mit den künstlerischwissenschaftlichen Forschungsprojekten der Kollegsmitglieder verbunden ist und die Beschreibung der Verfahren begleitend aus der individuellen Forschungsarbeit entwickelte.23

22 http://www.versammlung-und-teilhabe.de/az/index.php?title=Hauptseite. (Stand 27.01.2013) Das Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe ist mit Beginn 2012 gestartet. Es wird von einer Kooperation aus Universität (HafenCity Universität Hamburg) und zwei künstlerischen, forschungsorientierten Einrichtungen (Fundus Theater Hamburg und K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg) getragen. Informationen zum Kolleg und den Forschungsvorhaben der Mitglieder: http://www.ver sammlung-und-teilhabe.de. (Stand 21.01.2013) 23 Vgl. http://www.versammlung-und-teilhabe.de/az/index.php?title=Hauptseite. (Stand 21.01.2013) Der Schreibprozess hat im Juni 2012 begonnen. Bewegen war ein wichtiges Verfahren in mehreren Forschungsprojekten des Kollegs und hat entsprechend einen Eintrag der Autorin im WiKi des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe. (Vgl.

http://www.versammlung-und-teilhabe.de/az/index.php?title=Bewegen):

Im

Rahmen seines Projekts Zu Fuß in der Stadt untersucht Martin Nachbar Gehen als Vorgang, der städtische Räume mitgestaltet. Elise von Bernstorfs Analyse der Performance des Gerichts nutzt bewegen im Rahmen einer Führung durch das Gerichtsgebäude, die sie mit Schülern einer Hamburger Schulklasse entwickelt. Mit Coming together, coming apart nimmt Esther Pilkington Reisen als Form des Bewegens und als Voraussetzung von Versammlungen in den Blick. Sebastian Matthias’ Forschung untersucht groove als Modus der Wahrnehmung von Tanz als Gruppenphänomen. Informationen zu den Forschungsprojekten unter: http://www.versammlung-und-teil habe.de/cms/category/versammlung-teilhabe-forschungsprojekte/. (Stand 21.01.2013)

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Bewegen, sich bewegen, bewegt werden: Als künstlerisches Forschungsverfahren bezieht bewegen die Beteiligten aktiv, physisch und inhaltlich in den gemeinsamen Prozess ein. Der Körper fungiert dabei als Mittler, als Verbindender zwischen innerer und äußerer Bewegung, welcher die Veränderung der Position in Zeit und Raum und damit die Verschiebung von Perspektiven und eine Erweiterung von Erfahrungen erlebbar werden lässt. In Tanz, Choreografie und Performance wird bewegen zunehmend zu einem zentralen Verfahren künstlerischer Arbeit und Forschung. Mit seiner niedrig gelegten Zugangsschwelle eröffnet sich mit bewegen zugleich ein großes Potential für die Vermittlung von Tanz. Diese erste Annäherung an eine Bestimmung von bewegen als Forschungsverfahren wird sich so in verschiedenen Projekten und Produktionen weiterentwickeln und vertiefen lassen.

L ITERATUR ADORNO, Theodor W. (1997): Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Band 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp. BURROWS, Jonathan (2010): A Choreographers’s Handbook. Oxon: Routledge. DREYSSE, Miriam/MALZACHER, Florian (Hrsg.) (2007): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin/Köln: Alexander Verlag. VAN EICKELS, Kai/MATZKE, Annemarie M./WORTELKAMP, Isa (2005): »Bewegung«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hrsg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 33-42. EVERT, Kerstin/PETERS, Sybille (2013): »Artistic Research: Between Experiment and Presentation«, in: Gabriele Brandstetter/Gabriele Klein (Hrsg.): Dance [and] Theory. Bielefeld: transcript, S. 35-43. FISCHER-LICHTE, Erika/KOLESCH, Doris/WARSTAT, Matthias (Hrsg.) (2005): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart: J. B. Metzler. KAISER, Silke/STUTTERHEIM, Kerstin (2009): Handbuch der Filmdramaturgie. Das Bauchgefühl und seine Ursachen. Frankfurt am Main: Peter Lang. KLEIN, Gabriele (Hrsg.) (2004): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Bielefeld: transcript. LEHMANN, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. RANCIÈRE, Jacques (2009): Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen Verlag.

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Heterochronien, Heterogenitäten und instabile Wissensfelder – Lecture Performances als Suchbewegungen einer ›zeitgenössischen‹ Tanzforschung1 C LAUDIA J ESCHKE UND R OSE B REUSS

Es dürfte in der Tanzszene unbestritten sein: Das Format der Lecture Performance2 spiegelt die kreative Instabilität zeitgenössischer Umgangsweisen mit Tanzwissen, die traditionelle Hierarchien zwischen Geschichte, Theorie und Praxis, zwischen richtig und falsch, zwischen Wissen und Nichtwissen außer Kraft setzen und diese prozessual und rhizomatisch, also nicht länger linear und ideologisch re-strukturieren. Performance und Performativität lassen sich als Kulturtechniken begreifen, in welchen die Dominanz von Text und Lesen durch die mobilen Gefüge des in actu/in motu in Frage gestellt wird. Und umgekehrt. Durch das Format der Lecture Performance, einer Kombination aus wissenschaftlicher, diskursiver und künstlerischer sinnlich wahrnehmbarer aisthetischer Darbietung, hat die traditionelle Performance- und Aktionskunst als Motiv grenzüberschreitender Events eine Wendung genommen, in der die Dimensionen von Performativität nun kritisch beziehungsweise selbst-kritisch ausgelotet werden. Es wird gesprochen und gezeigt: »Lecture und Performance erweisen sich beide, in ihrer Mit-Teilung, als Choreografien und Szenografien des Sagens und 1

Dieser Text ist ebenfalls erschienen in: Rose Breuss und Claudia Jeschke (Hrsg.): dearchiving movement #1 research : choreography : performance.

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Der folgende Text ist als theoretisierende Nach-Schrift einer spezifischen Lecture Performance, Expansion of the Moment : Aufforderungen zum Tanz, entstanden; der experimentelle Charakter, die Unmittelbarkeit des Ereignisses sind in der Übersetzung ins Medium Schrift nur noch als Spuren vorhanden.

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Zeigens: Es eröffnet sich ein Raum, in dem sich etwas zeigt, das nur in dieser Überlagerung des zeigenden Sagens und des sprechenden Zeigens evident wird.« (Brandstetter 2010, 50) Als ein Ergebnis des im Folgenden zu verhandelnden Projekts Expansion of the Moment wurde deutlich – und dies sei hier vorweggenommen –, dass nicht nur der Medienwechsel vom Sagen zum Zeigen (und umgekehrt) Räume eröffnet, in denen sich etwas zeigt, sondern auch die Kollusion beziehungsweise Kollision unterschiedlicher choreografischer und performativer Suchbewegungen.

E VIDENZEN Evidenz als Begriff der Phänomenologie verweist nicht auf Daten oder Fakten, sondern verhandelt Potentialitäten (vgl. Huddlestone 2010, 18).3 Lecture Performances zielen demnach vor allem darauf, den Bereich zwischen Ereignis und Wahrnehmung zur Erscheinung zu bringen. Und sie tun dies, wie jede Aufführung, in mehrfacher Weise: auf der Ebene der Produktion und Rezeption sowohl durch die Performer als auch durch die Zuschauer. Beide, Performer und Zuschauer, wechseln ständig ihre Rollen: Selbstdarstellung und Selbstreflexion finden auf verschiedenen Ebenen statt, auf der Ebene der Erzählung und ihrer Rezeption ebenso wie auf der Ebene der Darstellung und deren Rezeption. Die Überkreuzung, Infiltration von Sagen und Zeigen verweist auf die Bedeutung der häufig irritierenden Erfahrung von etwas, die sich im Zwischen von Urteil und sinnlichem Erleben beziehungsweise jenseits von Urteil einstellt. Das was in den Lecture Performances gesagt wird, folgt keinen verbindlichen rhetorischen Vorgaben, das Spektrum des Gesagten erstreckt sich vom persönlichen Kommentar bis zum wissenschaftlichen Vortrag. Wichtig in diesem Format ist die Informations- und Wirkungsebene eines anderen Mediums, des Wortes, durch das der Tänzer – oder auch dessen Gesprächpartner – auf der Bühne die Aktionen des Tanzens erweitert und seine Kompetenz als Akteur unterstreicht. Die Lecture ist als verbale Präsentation einer vorausgehenden Lektüre zu verstehen – einer auf einer essayistischen Strategie beruhenden Lesart, die sich aus dem ursprünglichen Medium des Literarischen transferieren lässt in den Bereich der Aufführungskünste. Der Essay kommentiert verschiedenste Konzepte sowie vielfältige Phänomene moderner Kunst, integriert disparates kulturelles Material und versucht so, die Bedingungen und Grenzen des Denkens zu bestimmen und zum Sprechen zu bringen. Die Strategie des Befragens als essayis-

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Vgl. auch Sabisch 2011.

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tisches, das heißt vernetztes und vernetzendes Denken und Zeigen, findet sich auch im Format der Lecture Performance. Lecture Performances wurden 1998 in theatrale Kontexte eingeführt, als Xavier LeRoy Product of Circumstances präsentierte. Ein weiterer Protagonist dieses Formats ist Jerôme Bel, der Tanzkünstler einlud, die Reibungen zwischen ihren persönlichen Biografien und ihren persönlichen Erfahrungen zu zeigen. Beide, LeRoy und Bel (und es gibt viele mehr), stellten auf der Bühne Erinnerungen beziehungsweise Geschichten aus, die in spektakulär-theatralen Zusammenhängen traditionell verborgen sind oder verborgen werden. Ent-deckungen (dis-coveries, re-coveries) von Geschichten, nicht Erfindungen, bilden die Motivationen und Inhalte von Lecture Performances – Geschichten, die in den persönlichen Biografien der Tänzer ebenso präsent sind wie in der Tanzgeschichte. Wie persönliche Biografien verfügen Tanzgeschichten – als kulturelle Biografien – über Merkmale tänzerischen Erbes, die (gleichwohl verborgen) aktiv sind, wenn Tänzer tanzen. Tanzgeschichte stellt einen zwingenden und einflussreichen Aspekt von Gedächtnis dar, der – als Teil der persönlich-professionellen Biografie – in jeder zeitgenössischen Performance existiert. Wie Biografie hängt auch Tanzgeschichte nicht davon ab, ob oder ob nicht die Tänzer wollen, dass sie ihr Tanzen beeinflusst, manipuliert oder kontrolliert; anders als im Fall der Biografie wurde der Tanzgeschichte jedoch bislang meistens nur indirekt, eben über die Biografien, vitales, kritisches und/oder kreatives Potential im Tanz zugestanden.

H ETEROCHRONIE

UND

H ETEROGENITÄT

In der zeitgenössischen Kunstszene wird mit dem Begriff der Heterochronie eine Strategie benannt, mit der Künstler ihre Arbeiten in einer nicht genau zu benennenden Zeit situieren. Diese Nicht-Festlegung auf der Zeitschiene, beziehungsweise die bewusste Verwischung und Mischung von Zeitebenen, zielt auf die Fragestellung ab: Was ist zeitgenössisch? Oder genauer: Welche konzeptionellen, ästhetischen oder handwerklichen Bestandteile eines Werks machen dieses zu einem zeitgenössischen Kunstwerk? Für den Tanz gilt: Der Tänzer-Körper ist ein »unmöglicher Körper« (Kunst 1999), ein Körper, der ebenso wie die Strategie der Heterochronie, prozessual und rhizomatisch funktioniert. Zeitgenössische Tanzpraxis umspannt eine Vielfalt von Körpertechniken, die jeweils ein konkretes Bewegungsvokabular erschließen und entwickeln. Der künstlerische Zugriff auf die Tanzpraxis erfolgt

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im individuellen und kulturellen Erinnern der Tänzer und in choreografisch wie improvisatorisch geprägten Verfahren zur Erforschung neuen Bewegungsterrains. Im künstlerischen Zugriff kollidiert deshalb ein historisches Bewegungsvokabular, das durch die erlernte Tanzpraxis im Bewegungsspeicher des Tänzers existiert, mit vorerst abstrakt intendierten Körper- und Bewegungskonzepten, die Versuchsanordnungen entwerfen, um zu neuen Bewegungsmaterialien und Körperdarstellungen vorzudringen. Die Tänzer reflektieren also in der Erarbeitung und Performance neuen Materials vielfältige Spuren, Sedimente aus Bilderwelten, Situationen, Erlerntem und sozial-kulturellem Embodiment. Und sie überformen, transformieren diese Spuren, Sedimente durch präzises physisches Erinnern zu citable gestures – zu Gesten also, die sich wiederholen, wiedererkennen, vermitteln lassen. »Jede Tanztechnik ist […] sowohl ein Körpergedächtnis, eine Art Speicher, als auch der Zugang zu ihm, eine Aktivität. Das heißt aber auch, dass sie ein bestimmtes Wissen des tanzenden Körpers ist, wie er sich im Raum und Zeit sowie zu anderen Tänzern im Raum verhalten muss. Der tanzende Körper wird zum Archiv von Erfahrungen, die in Bewegungen und Schritten kodiert sind. Dieses Wissen wird im Unterricht zwischen Lehrer und Schüler mündlich in Form von Anweisungen weitergegeben als auch körperlich durch Nachahmung erfahren, es ist schriftlich in Handbüchern oder bildlich in Form von Fotografien, Videos oder Diagrammen festgehalten. Es ist mithin eine Praxis, die sich unterschiedlicher Medien bedient und die nie als solche abbildbar oder schriftlich fixierbar ist. Dieses Wissen ist darüber hinaus auch ein Wissen von der kulturellen Situation und ihren Diskursen, in der es sich herausgebildet hat. Der Körper ist eine aktualisierte historische Formation, in die man sich tanzend hinein begibt, um sich auf die Spuren seiner Geschichte, seiner Geschichten und der damit verbundenen Emotionen zu begeben.« (Siegmund 2010, 172f.)

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Gerald Siegmund dem Körpergedächtnis des Tanzes und dem Körper als Gedächtnisort »das Potential des Widerstands, der Reibung an der Gedächtnis- und damit Körperlosigkeit« (ebd., 175) attestiert. Und er führt weiter aus: »Nicht um archivarische Identitätsstiftung geht es dem Gedächtnis des Tanzes in ästhetischer Hinsicht, es geht eher von einer Spaltung des Subjekts aus, in dessen Zwischenräume es sich auf die Spurensuche nach Heterogenem begibt.« (Ebd.) Jede Befassung mit historischem Material (sei es biografisch oder tanzhistorisch perspektiviert) ruft von vornherein mehrere Zeitebenen ab, indem der Tanz im Moment der Performance von einem heutigen Tänzer realisiert wird. Präziser: Jede aktuelle Auseinandersetzung mit Entwürfen aus der Biografie bezie-

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hungsweise Tanzgeschichte verlangt Überlegungen zur Zeitgenossenschaft – im Tanz betreffen sie vor allem das komplexe Verhältnis von Konzeption, Ästhetik, Tanztechnik und Performance: Wie also konkretisiert sich ein getanzter historischer Entwurf als zeitgenössischer Entwurf?

D ENKFIGUREN – T ANZFIGUREN Als Beispiel für die Kollusion wie Kollision von diskursiven wie performativen Suchbewegungen wird an dieser Stelle Konzept und Struktur der Lecture Performance Expansion of the Moment : Aufforderungen zum Tanz thematisiert, die wir, die beiden Autorinnen, 2010 gemeinsam mit Dorota Leçka und Rainer Krenstetter beim OdeonTanz in Wien ausprobiert und 2012 für den Dance Summit in Berlin überarbeitet haben. Im Mittelpunkt dieser Lecture Performance stehen zwei unterschiedliche choreografische und performative Umgangsweisen mit dem Walzer: einerseits das als »Gedächtnisritual« (Brandstetter 2009, 33) bezeichnete Le Spectre de la Rose von Michel Fokine, das der Choreograf für Wazlaw Nijinsky schuf, und andererseits die als »Mundart der Wiener Moderne« (Brandstetter/OberzaucherSchüller 2009) charakterisierten Walzer der Schwestern Wiesenthal. Beide Walzer-Formen entstammen dem beginnenden 20. Jahrhundert und bilden wesentliche Texturen der (zentraleuropäischen) Traditionspflege; sie haben als signifikante Momente der Tanzgeschichte den Wissenskanon der Tanzpraxis und ihrer Historiografie entscheidend beeinflusst. Diese signifikanten Momente werden in Expansion of the Moment durch verschiedene Denk- und Tanzfiguren erkundet. Während der gesamten Performance erscheinen mögliche Denkfiguren, in Schrift und Bild, als Projektionen auf der Rückwand des Aufführungsortes; sie sind thematisch geordnet und gelistet.4 Weitere Denkfiguren gestalten die Ge-

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Die während der gesamten Lecture Performance projizierten Loops zeigen Fotografien der Schwestern Wiesenthal und Nijinskys als Rosengeist. Sie zitieren Zeilen aus den beiden Gedichten, die Spectre de la Rose beziehungsweise dem Tanzstil von Grete Wiesenthal zugeordnet werden. Das erste Gedicht stammt von Théophile Gautier und die zitierten Zeilen lauten: »Ich bin der Geist einer Rose/die Du gestern trugst beim Ball. Je suis le spectre d’une rose/Que tu portais hier au bal.« (Théophile Gautier zit. n. Buckle 1984, 188) Das zweite Zitat ist aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke: »Oft bricht in eine leistende Entfaltung/das Schicksal ein, des Blutes stilles Gift.« (Rilke 1985, 131) Es folgen drei Themengruppen mit Stichworten, die auf tanzund kulturhistorische Aspekte der Zeit, auf ästhetische Kategorien der beiden Walzer

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spräche während und nach der Performance; diese sind flexibel und ergeben sich aus den Bedingungen der jeweiligen Aufführungssituation. Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang auch, dass das Zusammentreffen der beiden Tänzer nicht geprobt wird, dass also auch hier das Risiko-bereite physische und mentale Einlassen auf das Ereignis der Performance im Mittelpunkt der tänzerischen Suchbewegungen steht. Die Tanzfiguren, die beiden Walzer, werden präsentiert von einer zeitgenössischen Tänzerin, Dorota Leçka, die sich ihrem Bewegungsgedächtnis mittels somatischer, a-stilistischer Techniken nähert und von einem Balletttänzer, Rainer Krenstetter, dessen Bewegungsspeicher auf der Materialebene traditionell tanztechnisch und stilistisch einordbar funktioniert. Beide Arten des Tanzens produzieren eine Art transkorporalen Mehrwert, der sowohl in den während der Aufführung aufeinander folgenden solistischen Darbietungen als auch – und vor allem – in der Interaktion der beiden Tänzer wahrnehmbar wird. In der synchronisierten Konstellation der beiden Walzer-Formen geht es um eine andere, um die heterochrone und instabile Wahrnehmung der ästhetischen und handwerklichen Argumente des Wissenskanons im Tanz (oder auch um das gestalterische Potential des kulturellen Erbes) – um eine Wahrnehmung also, deren aktuelle Qualitäten, Ereignishaftigkeit sich in den/als Tanzdarbietungen der Lecture Performance vermitteln. Rainer Krenstetters Präsentation des Spectre-Bewegungsmaterials fokussiert den selektiv-kreativen, retrospektiven wie innovativen Umgang mit ›klassischem‹ Bewegungsvokabular; er tanzt eine Version des Stücks, die er als sogenannte Originalfassung gelernt hat. Im Bewegungsmaterial von Le Spectre de la Rose geht es um mögliche Verbindungen von Ekstase und Linienführung, geht es um Umformungen und Verfremdungen von Walzer-Traditionen. Und wie in den Wiesenthal-Tänzen steht die Gestaltung von Atmosphäre im Mittelpunkt der choreografischen und tänzerischen Auseinandersetzung. Die motorische Identität der Wiesenthal-Walzer wird in einer Choreografie von Rose Breuss, Sphäroide, gespiegelt, kommentiert und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Berichte interpretiert. Sphäroide, mit der Musik von Franz Hautzinger, entstand im Kontext eines Tanzabends, der der Tradition und (imita-

und auf Strategien des Umgangs mit der Tanzgeschichte verweisen: I Grete Wiesenthal/Wazlaw Nijinsky/Wiener Walzer/Konzertwalzer/Kulturkrise/Tradition/Avantgarde; II Ekstase/Materialität/Drehen und Schwingen/Virtuosität/Atmosphäre/Duft; III strange loops/Übermalung/Dialog/Kommentar.

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tiven) Rekonstruktion der sogenannten Wiesenthal-Tänze gewidmet war.5 Grete Wiesenthal initiierte gemeinsam mit ihren Schwestern Elsa und Berta eine innovative Herangehensweise an den Rhythmus und die Musikalität der Wiener Walzer – geprägt von einer ekstatisch wirkenden Schwung- und Drehtechnik. Der Erfolg der Wiesenthals gründete sich auf Auftritte, die während der Wiener Sezession vor allem in Künstlerkreisen Aufsehen erregten; zum sezessionistischen Stil wies die natürliche, deutlich definierte Linearität ihrer Tänze eine besondere Affinität auf.6 In dem in Expansion of the Moment vorgeschlagenen Experiment einer »Dysposition« (Didi-Huberman 2012, Inhaltsverzeichnis), das heißt der zeitlichen Verwischung und Störung unterschiedlicher Traditionslinien, eröffnen sich nicht nur neue Felder für die Diskussion des Tanzkanons, vielmehr werden auch die komplexen Schichtungen von Kodierungen und A-Kodierungen gegenwärtigen Tanzens wie Tänze-Machens sichtbar und erfahrbar.

K ODIERUNGEN /A-K ODIERUNGEN Mit Kodierungen beziehungsweise A-Kodierungen setzen sich Choreografen und Tänzer in einem Zwischenraum auseinander, in dem das Zusammenspiel von Handwerklichkeit und Interpretation beziehungsweise Kreation evident wird. In diesem Zwischenraum wird das Körpergedächtnis der Tänzer, ihre techné, aktiv; dieser Zwischenraum ist gleichzeitig der Ort für ein kritisches, experimentelles, experientielles Hinterfragen, das sich den Praktiken des jeweiligen Tanzens stellt. Die Tänzer erschließen hier ihr verfügbares Körperarchiv durch Suchbewegungen, de-konstruieren intentional die jeweilige Tanztechnik und deren biografische wie historische Kontexte und kreieren ihre Performance.

5

Die Aufführungen waren Teil von Österreich tanzt, Festspielhaus St. Pölten, Juni 2008 und Berührungen, Theater Odeon, Wien, Oktober 2008.

6

Zur ästhetischen Diskussion des Bewegungsrepertoires der Wiesenthal-Schwestern siehe Brandstetter 2009, 19-32.

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S PHÄROIDE ALS L ESART /T ANZART DES B EWEGUNGSMATERIALS DER W IESENTHAL -T ÄNZE Oft bricht in eine leistende Entfaltung das Schicksal ein, des Blutes stilles Gift RILKE 1985, 131

Im konkreten Fall der Wiesenthal-Tänze beziehen sich Wiederaufführungen meist auf die Rekonstitution der Choreografien. Hingegen scheinen die Rekonstruktionsversuche der Wiesenthal-Technik, die Grete Wiesenthal selbst als »sphärische Technik« (Wiesenthal 1985b, 148) bezeichnet, was handwerkliche Fragen betrifft, eher unkritisch zu verfahren; die tradierten Bewegungsabläufe werden vor allem als Übe-Modelle für das Bewegungsvokabular der Choreografien verstanden und verwendet. Welche Körpertechnik nun lässt sich im Sinne von techné als Handwerklichkeit im Wiesenthal-Oeuvre entdecken? Welche Artefakte entstehen aus einem experimentellen, experientiellen Umgang der ›sphärischen Technik‹ als einem Performancemodus, der sich, wie die sogenannte Wiesenthal-Technik, vor allem in motorischen und literalen Fragmenten überliefert hat? Welche Kodierungen beziehungsweise A-Kodierungen sind in den Wiesenthal-Tänzen unter heterochroner Perspektive auffindbar und erlauben einen re-konstruktiven, rekreativen Umgang mit dem Bewegungsmaterial?7 Sphäroide basiert auf dem Experiment, die möglichen motorischen Identitäten des Schwingens und der ›sphärischen Kopfbewegungen‹ (vgl. Wiesenthal 1985b, 148), die als Signifikanten der Wiesenthal-Technik gelten, den Strategien zeitgenössischer Tanzpraxis auszusetzen. Da diese immer auch mit somatischer

7

Dass die Wiesenthal-Tänze auch in historisierender Perspektive eine Tendenz zur programmierten Geste (also Kodierung) aufwiesen und damit die kreativen tänzerischen Momente (der A-Kodierung) unterliefen, beobachtete bereits der Maler Oskar Kokoschka, der sich in einem Brief an Erwin Lang 1908 von Grete Wiesenthal wünschte: »Die Wiesenthal hat in jedem Tanz fünf sechs Momente die ich immer fast mit dem ganzen Körper erwartet habe ich glaube sie soll sich von dem bewussten Ausdrückenwollen des Stofflichen enthalten es wird dann so wie die Strauss Programmmusik und immer mehr diese Tanzornamente suchen […]. Diese Stellen wirken auf mich mit einer dunklen Wärme die von der furchtbaren Reaktionsfähigkeit meiner Empfindlichkeit kommt. Ich hab meine ganze Innigkeit immer auf solche Dinge richten dürfen, die nicht antworten konnten und mein Gleichgewicht wieder hergestellt hätte.« (Kokoschka 1985, 72)

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Aneignung zu tun hat, wurden die motorischen Motive der Technik somatisch integriert, das heißt im Körpergedächtnis bearbeitet, das die »Spurensuche nach Heterogenem« (Siegmund 2010, 175) möglich macht.8

K ÖRPERSCHWÜNGE

UND

S PHÄRISCHER K OPF

Definiert (das heißt als Technik wie performativer Modus vermittelt) wird das Wiesenthal-Repertoire über Figuren wie ›Großer Schwung‹‚ ›Vogelschwung‹, ›Amazonenschwung‹, ›Auf- und Abschwünge‹, ›schwingendes Aufdrehen und Abschwingen‹ und so weiter (vgl. Wiesenthal 1985b, 148f). Sie gestalten die Raumlinien und Kompositionen der Bein-, Oberkörper- und Armschwünge. Die Wiesenthal-typischen ›tiefen Knielagen‹ werden aus dem Spiel der Schwünge zum federnden Ausbalancieren des Körpers notwendig. Aus dem »Bemühen […], das Schwingende, schwebende Element im Tänzerischen« (Wiesenthal 1985b, 147) einzuführen, entsteht ein bewegtes Körperbild, in dem die schwingende Peripherie des Körpers die Mitte destabilisiert und den Fuß vom Boden zu lösen scheint. Die Schwungbewegungen beherrschen die Linienführung des Körpers und definieren die Linien im Raum. Sie sind im Verhältnis zur Körperachse parallel oder überkreuzt geführt, tiefer, höher in verschiedenen Konstellationen von Armen, Beinen und Oberkörper und in verschiedene Richtungen komponiert. Das Tempo der Bewegungen ist von ausladenden Ritartandi und Accelerandi geprägt. Die Tempowechsel akzentuieren die Bewegungen.

8

Zeitgenössische Tänzer verwenden in ihrer Tanzpraxis den Begriff ›somatisch‹ im Sinne einer physischen Aneignung einer Idee, einer Bewegung, einer Form. Impliziert sind Fragen nach den Identitäten des Tänzers in der Bewegung, nach seinem ›Subjekt‹ in den Bewegungen. Innerhalb des Probenprozesses zu Sphäroide schienen uns neben anatomischen, physiologisch-funktionalen Gesichtspunkten diejenigen von Thomas Hanna, (Herausgeber der Zeitschrift somatics in den 1980er Jahren) interessant, die Somatik als Prozess zu beschreiben suchen. »Soma is not a thing or objective body but, rather, is a process.« (Hanna 1993, 128) Und »At any given instant the soma is in a state of incompleteness and suspense« (ebd., 155). Bonnie Bainbridge Cohen spricht von »soma« und »somatization«: »soma« ist »the experienced body in contrast to the objectified body« (Bainbridge Cohen 1993, 1); und somatization bedeutet: »to engage the kinesthetic experience directly, in contrast to ›visualisation‹ which uses visual imagery to evoke kinesthetic experience« (ebd.).

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In die vielfältigen Schwungkonfigurationen wird hineingesprungen; sie heben sich für Momente im Raum und versetzen die Bodenkante ins Schweben; sie werden gedreht und erzeugen nach innen oder außen kreisende Wirbel im Raum. In den Choreografien erscheinen die Schwunglinien der Körper (da die Tänzerinnen meist nicht parallel ausgerichtet sind) vervielfacht. Mit dem Hineinschwingen in den Raum ergeben sich raffinierte Dreh- und Spiralgebilde. Ineinander verdreht scheinen die vielen Schwunglinien Kräfte aus dem Raum zu ziehen. Ins Schwingen versetzt werden Körper und Raum. In den Schwungfigurationen bleibt der Kopf sphärisch. Tanztechnisch bedeutet dies, den Kopf schwebend wie in einer »Gloriole« (Wiesenthal 1985b, 146) und außen zu halten, das heißt der Kopf wird, um die Stabilität des Körpers zu unterstützen, aus der Schwungbewegung desintegriert. Ist es der sphärische Kopf, also eine der motorischen Realität der Körperbewegung entgegengesetzte Haltung des Kopfes, der den Rausch, den Schwindel, den Wirbel, die Ekstase erzeugt?

B EWEGUNGSFORMELN 9 Um der imitativen Sicht auf das Wiesenthal‘sche Bewegungsmaterial zu entkommen, wurden in Sphäroide die motorischen Identitäten bearbeitet. Dies geschah auf der Basis von notierten Bewegungsformeln.10 Sie sind als Sichtfilter auf das Wiesenthal-Material zu verstehen, sie scannen die Bewegungen, überzeichnen sie mit Umrissen und übermalen ihre Dimensionen, ziehen Innenlinien, Vektoren ein und tasten ihre Oberflächen ab. Die notierten Bewegungsformeln repräsentieren das ins Material Hineingedachte. Wie dem Gedanken Raum und Zeit entzogen ist beziehungsweise wie sich der Gedanke in anderen Zeiträumen als die vorgestellte reale Aktion abspielt, so sind aus den Bewegungsformeln konkrete Raum- und Zeitangaben herausgefiltert. Raum und Zeit entstehen in motu durch die Tänzerin, die experimentiert und ihr Körpergedächtnis prozessiert.

9

Abbildungen dieser notierten Bewegungsformeln finden sich in Jeschke/Breuss 2011, 82;83;85.

10 Die Bewegungsformeln greifen durch die verwendeten Zeichen aus der Labanotation auf die kanonisierten Parameter der Tanzanalyse beziehungsweise Tanznotation zu. Der Zugriff identifiziert die Formenpotentiale der Bewegungen im Körper, in Körperteilkoordinationen, als Richtungen, als Orte im Raum, als Zeitraum, in Körperspannungen, in den Gewichtsübertragungen und so weiter.

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Die Notationsweise der Bewegungsformeln stimuliert diesen kreativinterpretativen Vorgang. Während tradierte Tanzschriften als in sich geschlossene Systeme für Prozesse im Zwischenraum von ›body and mind‹11, von Körperwahrnehmung und Imagination, von Subjekt und Objekt ungeeignet sind,12 werden in den Bewegungsformeln zu Sphäroide zwar Zeichen der Labanotation verwendet, jedoch außerhalb des eigentlichen Schriftsystems. Der Labanotation wird Spalte und Zeile entzogen. Damit sind der Raum und die Zeit der Bewegungen gelöscht. Sie verlieren ihre Festschreibungen in der Zeitachse und die Determiniertheit im Raum. Der Tänzer greift selbst auf Raum und Zeit zu. Oder anders gesagt: Raum und Zeit werden in die dynamischen Zwischenräume des Subjekts verlagert. Die Tänzerin Dorota Leçka transformierte die beschriebenen Materialien zu einem Solo, das sie in Sphäroide präsentierte und das Teil von Expansion of the Moment wurde:

11 ›Body and mind‹ sind im Proberaum Teil der Sprachregelung der Tänzer. Im Wesentlichen stehen sie als Begriff für die kritische Befragung des Bewegungsmaterials beziehungsweise für die angestrebte Einsetzung des Subjektiven in ein Bewegungsmaterial. In den Probenprozessen zu Sphäroide fungierten ›body and mind‹ in dem von Lisa Nelson und Nancy Stark Smith beschriebenen Sinne als »fantastic voyage into the mind of the body« (zit. n. Bainbridge Cohen 1993, xi). ›Mind of the body‹ steht für ein dem Tänzer weitgehend Unbewusstes. Dieses wird der Ort der Recherche und der Suche nach Übersetzung und Umsetzung der Bewegungsmaterialien, die nicht imitativ, visuell bearbeitet werden sollen. Gesucht und prozessiert wird im Eintauchen ins Unbewusste das ›Subjekt‹ Bewegung, ein im Lacan‘schen Sinn Subjektives: Lacan spricht, so Christoph Braun, vom Unbewussten als »nicht schlicht ein Nicht-Wissen oder Nicht-Gewußtes, sondern ein Wissen, dessen Subjekt nicht bewusst ist« (Braun 2010, 80). Das Subjekt des Unbewussten ist somit nicht das »vordiskursive Reservoir der Affekte und Triebe« (Žižek 2010, 45); es ist vielmehr wie eine Sprache strukturiert und, wie Braun formuliert, »nicht der Schatten einer individuellen Realität, sondern jener Teil des konkreten Diskurses als transindividuellem, das der Verfügung des Subjektes fehlt« (Braun 2010, 81). Erkundet wurde in den Proben ›mind‹ nicht nur als Agens, das das ›monitoring‹ der Bewegung leistet, einzusetzen, sondern ›mind‹ als Agens des ›Subjekts‹ und als Agens der Sprache wirksam werden zu lassen. 12 Die Grammatik tradierter Schriften ist durch hierarchische Einschreibungen der Bewegungsinformationen ins System determiniert. Diese Teilinformationen sind nur als konkrete Körperbewegung lesbar, wenn sie ihren zugewiesenen Platz im System einnehmen.

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»I created a sense of excitement in the body, very high state of alertness and in the same time, calm state of mind. While improvising I decided to create a movement pattern that always appears as a chain of sudden impulses, coming from different directions and different body parts. Keeping the idea of independent joints and bones, it created fascinating qualities: softness, speed, volume. By constant observation of my body while moving I was able to locate the impulses without getting stuck/stiff because of too much control. Freedom of observation enabled me to send impulses from one body part to another, in that sense, avoiding natural, organic kinesthetic chains within the body, by searching for ecstasy and pleasure... It appeared as if body was simultaneously torn into different directions.« (E-Mail an Rose Breuss vom 06.09.2012)

Bewegung ist in Sphäroide nicht linear als zu beschreitende Richtung konnotiert. Etwas bricht in sie ein und faltet sich aus. Bewegung ist als eine Erfahrung von etwas (Evidenz) kodiert, als etwas, dem man seine Empfindlichkeit widmen kann und das nicht auf sie antwortet (vgl. Kokoschka 1985, 72), als etwas, das rauscht (»Und dieses Sausen in den Ohren, man hört in sich hinein, als ob man selbst Muschel wäre« (Wiesenthal 1985a, 167) oder als etwas wie der »Wienerwald«, der »noch einmal seine Märchen rauscht« (Brandenburg 1985, 76). Räumlich steht die Bewegung still, sie kreist innerhalb der Gebilde, zeitlich verharrt sie in einem Moment. Die Zeit steht im »Einbrechen des Schicksals« (Rilke 1985, 131) in der Bewegung still, sie pausiert und expandiert in den Moment. Die Ekstase generiert sich im Anhalten, im Verwerten der Spannungen, im Entfalten, im Einbruch.

L E S PECTRE

DE LA

R OSE – D E -T HEATRALISIERUNGEN Ich bin der Geist einer Rose/die Du gestern trugst beim Ball. (Je suis le spectre d’une rose/Que tu portais hier au bal.) THÉOPHILE GAUTIER ZIT. N. BUCKLE 1984, 188

Spectre de la Rose, die andere Choreografie, die mit dem Solo aus Sphäroide zunächst kontrastiert wird und dann in einem Duett zusammenfließt, wird in Expansion of the Moment nicht strukturell dekonstruiert. Vielmehr geht es um den Verzicht der für Spectre charakteristischen Theaterzeichen – das Kostüm, das

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Bühnenbild, die Partnerin.13 Dadurch werden dem Tanz der durch das Kostüm markierte Körperraum, der Tanzraum als Referenzsysteme ebenso wie die Interaktion entzogen und so auch die theatral-spektakuläre Identität dieses Tanzes. Durch den Entzug beziehungsweise Verzicht treten auch in der Präsentation dieser tradierten und als ›Werk‹ bekannten Choreografie die strukturellen und motorischen Elemente ihrer Faktur und Textur in den Vordergrund. Wie in Sphäroide fangen sich Blick und tänzerisches Erleben im Spiel mit dem Kodex und den Grenzen des damals neu kreierten Organischen und lassen – jedenfalls in der Interpretation durch Rainer Krenstetter – den somatischen Gehalt von ästhetisch kodifizierten Bewegungen ahnen. Spectre verfügt in der Variation des männlichen Tänzers über zwei unterschiedliche Vokabularien: über »flinke, scharfe, spitze Füße und über weiche Arme« (Rainer Krenstetter, mündl. Aussage). Mit der Entgegensetzung beziehungsweise Verbindung von Repräsentationen tanztechnischen Erbes, etwa der Virtuosität der Beine, und Visualisierungen von Organischem, den Armbewegungen, die an sich entfaltende und fallende Rosenblätter erinnern, erweitert die Choreografie sowohl die damaligen Grenzen der tanztechnischen Machbarkeit als sie auch gewohnte Darstellungskonventionen unterläuft. Positionen und Repräsentationen (als Charakteristika des klassischen Tanzes) werden quasi aus ihrer Zuschreibung und Wirkungsdimension entlassen und geraten in Bewegung. Deutlich wird hierbei die Nähe von Interpretation und Kreation: Obwohl Rainer Krenstetter die tradierte Choreografie interpretiert, erscheint der Entzug des theatralen Kontextes als Zugang zum kreativen Potential dieses Tanzes. Während sich in Sphäroide die Walzer-typischen Elemente mit ihrem ekstatischen Potential quasi nach innen stülpen, bevor sie wieder nach außen treten, bleiben sie in Spectre als dreidimensionale Raumspuren sichtbar und spürbar – Raumspuren, innerhalb derer sich der Tänzer bewegt, die er im Tanzverlauf im-

13 Jean Cocteau schreibt über den Auftritt von Wazlaw Nijinsky als »Geist der Rose«: »In einem Kostüm aus sich kräuselnden Blütenblättern, hinter denen das Mädchen möglicherweise das Bild ihres letzten Tanzpartners wahrnimmt, kommt er aus der warmen Juni-Nacht durch die blauen Musselin-Vorhänge. Er vermittelt etwas, was man für unmöglich gehalten hätte, nämlich den Eindruck eines melancholischen, gebieterischen Duftes. In seiner rosenfarbigen Ekstase jubelnd scheint er die MusselinVorhänge zu durchtränken und vom träumenden Mädchen Besitz zu ergreifen. Es ist eine höchst außergewöhnliche Leistung. Wie durch Zauber läßt er das Mädchen davon träumen, daß sie tanzt und all die Freuden des Balls heraufbeschwört.« (Jean Cocteau zit. n. Van Norman Baer 1997, 46)

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mer wieder aufruft und bestätigt, die sich jedoch ebenso in seiner physischen Identität als abstrakte Energie verdichten. In beiden Choreografien und ihrer Zusammenführung wurde auf die von Wiesenthal wie auch Fokine angestrebte ästhetische Wirkung im Raum, also die räumlich und energetisch vielschichtige Linienführung als Prädisposition von ekstatischen Zuständen beziehungsweise Effekten zugunsten unterschiedlichster Momente der Entgrenzung von Kontexten verzichtet. Im Experimentieren mit diesen Momenten ergaben sich für die Tänzer ungewohnte Verfeinerungen der Artikulation im Körper und eine räumliche Resonanz im Auflösen der Bewegung. Die Kollusion der beiden Soli verdichtete sich zu einem Pas de deux, in dem die performativen, per-formierten Texturen der beiden Choreografien Momente intensiver Interaktionen passieren ließen: Es ereigneten sich nachhaltige inhaltliche wie formale Resonanzen zwischen den beiden tanzenden Körpern; sie waren ebenso ungeplant, überraschend (weil nicht choreografiert oder probiert), wie sie sich als überzeugend Gestaltetes präsentierten. In der Gleichzeitigkeit des Verschwindens von Vorbestimmtheit und der Aufrechterhaltung der subjektiven Energien der Tänzer kam etwas zur Wirkung, was Lacan als »ex-tim« (Lacan zit. n. Žižek 1998, 203) bezeichnet – als »ein äußeres, kontingentes, gefundenes Element, das zugleich für das Innerste des Seins des Subjekts steht« (ebd.): Die tänzerische Energie haftet wie die Wahrnehmung der Zuschauer einer kaum existierenden Bewegung wie einem »kleinen Stück des Realem« (ebd.) an. Das Duett der beiden Tänzer, das zu einem Mashup aus den Soundtracks der Einzelchoreografien abläuft, stellt »ein kleines Stück des Realen« (in diesem Fall: der Zugriff auf motorische Realitäten des Materials in den Wiesenthal-Walzern und in Spectre), also die Ereignishaftigkeit der kreativen Interpretation (Krenstetter) und interpretativen Kreation (Leçka) nicht nur aus, sondern potenziert deren jeweiligen Umgang mit der Entfaltung beziehungsweise Auflösung von Bewegungsführungen und -spannungen. Dieses Duett erweist sich als getanzte Lecture, als kommunikative Aktion zweier Tänzer, die innerhalb ihrer motorischen Identitäten verbleiben, also Technik, Interpretation, Kreation und Performance auf jeweils spezifische Art verwenden, die aber gleichzeitig in eine quasi als Argumentation wahrnehmbare Interaktion miteinander treten und so ästhetische Wirkungserwartungen außer Kraft setzen zugunsten eines weniger inhaltlich als strukturell viszeralen Dialogs. Dass dieser Dialog wiederum interpretierbar wird, indem der Andere in die durch motorischen oder theatralen Verzicht/Entzug vibrierenden und ekstatisch zu füllenden Leerstellen einbricht, ist dem jeweiligem Konzept von Erarbeitung und Performance, aber auch der Dramaturgie des Settings (Walzer, Wiesenthal, Nijinsky) geschuldet.

H ETEROCHRONIEN , H ETEROGENITÄTEN

UND INSTABILE

W ISSENSFELDER | 97

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Re-Thinking TR_C_NG: Reflexion zu einer Produktion historischer Materialität in Tanz und Wissenschaft Y VONNE H ARDT

I. E INLEITUNG Wo bleiben Bewegungen, wenn ihre Tänzer nicht mehr anwesend sind? Wie und mit welchen Medien, mit welchen Geschichten und Rahmungen beschwören wir das herauf, was bereits vergangen ist? Diese bekannten Fragen pointieren die Problematik, Tanz historisch zu erfassen und als ›Material‹ zu denken. Diese Fragen bildeten auch den Ausgangspunkt für das Tanzstück TR_C_NG (2007)1, das sich performativ mit der Inszenierung von Tanzgeschichte und -rekonstruktion auseinandersetzte. In einer daraus entwickelten Lecture Performance für die Temps d’Image Tagung wurden insbesondere Strategien der Erzeugung, Authentifizierung und Dramaturgie von tanzhistorischem ›Material‹ in den Mittelpunkt gerückt. Unweigerlich gerieten hier Fragen nach den Spuren und Medien des Erinnerns, nach der Übersetzung und Rahmung in den Mittelpunkt. Nicht nur die Beschaffenheit der Spuren, die der Tanz in unterschiedlichen Medien hinterlässt, sondern auch die Lücken, Auslassungen und Unzulänglichkeiten, die durch die Vergänglichkeit von Bewegungen entstehen, wurden zum kreativen Material. Wo verläuft dabei die Grenze zwischen Rekonstruktion und Imagination?

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Das Tanzstück entstand in Kooperation mit den Tänzerinnen Lea Martina und Kristina Müllenmeister sowie der Dramaturgin Anna Wagner. Premiere: Dock 11, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

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Mit diesen kritischen Fragen an die Rekonstruktion von Tanz lässt sich TR_C _NG in einem Trend zu einer performativen Tanzgeschichte und einer Bewegung zu mehr Bildlichkeit als Quelle und Teil von Tanzinszenierungen verorten.2 Denn seitdem sich der Schaffensprozess im zeitgenössischen Tanz der Historie zugewandt hat und damit von der ehemaligen Prämisse der Moderne gelöst hat, immer Neues schaffen zu müssen, ergeben sich daraus Arbeitsstrategien, die Bewegungsmaterial in der Auseinandersetzung vermehrt mit Medien wie Text, Objekt, Bild und Video entstehen lassen. Sie rücken das Recyceln, Verweisen und Rekonstruieren historischen Tanzmaterials ins Zentrum des Schaffens (vgl. Döhl/Whörer 2014). Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bewegungen ist nicht mehr eine Bewegungsrecherche im Sinne einer genuinen Bewegungsaufgabe oder eines gegebenen Themas, sondern historische Bilder, Objekte oder Videos (vgl. Hardt 2010). Die Arbeit mit Medien dient heute nicht nur als Erinnerungshilfe, sondern als Motor für Bewegungsgenerierung und für eine Reflexion des Spannungsverhältnisses von Bild und Körper. Es geht um einen wechselseitigen Einfluss von Medien und tänzerischem Schaffen, die Teile choreografischer Strategien und Produktionsprozesse ausmachen. Dies ist auch für die historische Arbeit und die Theoretisierung von Rekonstruktion von Bedeutung. TR_C_NG vertritt dabei eine Perspektive auf Rekonstruktion, die diese selbst als einen Akt des Schreibens, Dokumentierens begreift. Auch das Archivieren wird als ein Prozess ausgestellt; etwas, das nicht der (Re-)Konstruktion lediglich vorgelagert ist (vgl. Hardt 2010). So lässt sich rückblickend TR_C_NG auch bildtheoretisch reflektieren, denn im Prozess der Erarbeitung kam dem bildlichen Material und deren Übersetzung eine besondere Stellung zu; Fotos und deren Animation standen also im Zentrum der Inszenierung. Dabei ging es um die Konstruktion von Geschichte aus Fotos, die Reproduktion von historischer Bildlichkeit, die Bedeutung von Narration und Rahmung für diese Bilder und deren Rezeption. Das Wechselverhältnis zwischen diesen Medien und dem choreografischen Prozess möchte dieser Beitrag nun nutzen, um einen kritischen Blick auf die Verfahren der Tanzgeschichte zu

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Während 2006 dieser Trend erst in Ansätzen zu erkennen war, zum Beispiel durch die einflussreichen Performances von Jérôme Bel oder Boris Charmatz, Olga de Soto und Martin Nachbar, so wurde er durch die spezifische Förderung im Tanzfond Erbe in der Nachfolge des Tanzplan Deutschland institutionalisiert. Auch die wissenschaftliche Erforschung boomte in diesem Kontext, da hier exemplarisch die Bezüge zu Theoriebildung, Historiografie und Produktion besonders eindringlich diskutiert werden können. Vgl. Thurner/Wehren 2010 sowie Döhl/Wöhrer 2014.

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werfen und dabei insbesondere zu thematisieren, welche Relevanz bildtheoretische Fragen für die historische Erforschung von Tanz haben.

II. D YNAMISCHE M ATERIALIEN Das Tanzprojekt TR_C_NG arbeitete von Beginn an mit einem Bild- und Spurenverständnis, das nicht statisch ist. Was eine Spur ist, entsteht im Blick des Betrachters; was ein jeder in einem Bild sieht, ist keinesfalls gleich: Bilder und Spuren lassen sich als Teil kreativer Prozesse im choreografischen Akt wie in der Wahrnehmung verstehen. Sie sind, wie Ren Burnett schreibt: »the middle ground for intervention and interpretation« (Burnett 2005, 40). Dieser Sachverhalt schien uns besonders relevant für die Auseinandersetzung mit Formen der Tanzgeschichte und Tanzgeschichtsschreibung, in der ein dokumentarischer Gestus im Umgang mit Bildern immer noch eine dominante Tradition ist.3 In einem Großteil historischer Forschung wird der analytische Fokus darauf gerichtet, inwiefern Bilder die Realität ablichten beziehungsweise nicht und weniger auf die kreativen Prozesse der Produktion und die Auswahl und Verwendung von Bildern als Teil choreografischer Praktiken (vgl. Burnett 2005, 15). Gerade diese produktiven Prozesse sowohl auf Seiten der Künstler als auch auf der der Wahrnehmenden begreife ich jedoch für die Auseinandersetzung und Produktion von tanzgeschichtlichem Wissen als zentral. Vor einem bildtheoretischen Hintergrund sind diese Ansichten sicherlich wenig innovativ. Allerdings ist es nicht nur für die Tanzhistoriografie von Bedeutung bildtheoretische Fragen zu integrieren, sondern auch für die Arbeit mit Rekonstruktion, die gerade durch die Förderprogramme wie dem Tanzfonds Erbe besonders boomt.4 Der Text richtet sich somit sowohl an Wissenschaftler als auch Praktiker, und

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So antwortet zum Beispiel Susan Manning (eine wichtige Historikerin des Ausdruckstanzes) auf die Frage nach den Fotografien von Wigman in der Neuausgabe Ecstasy and the demon: The dances of Mary Wigmann (2006), dass ihr Buch ja nur einige Bilder ablichtet, dass sich aber ihre Beschreibung aus der Summe aller Fotografien, die sie gesichtet hat, ergibt. Die Frage nach dem Verhältnis von Fotografie und einer vermeintlich historischen Realität greift auch in anderen Fällen oft auf die Frage nach der Menge von Dokumentationsmaterial zurück und blendet die Produktionsprozesse dieser aus. Für eine der wenigen Studien, die sich auch mit der Fotografie des Ausdruckstanzes theoretisch auseinandersetzen vgl. Kuhlmann 2003. Allerdings wird hier wiederum eine etwas ›holzschnittartige‹ Darstellung des Ausdruckstanzes dargestellt.

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Siehe hierzu die Ausschreibung des Tanzfonds Erbe unter http://www.tanzfonds.de.

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möchte eine Vorgehensweise vorstellen, in der die Arbeit am Material (in diesem Fall besonders in Bezug auf die Fotos, Bewegungsgestaltung und narrative Struktur) einen Ausgangspunkt für eine kritische Reflexion bilden kann. Mit dieser Vorgehensweise möchte ich zugleich ein dynamisches Materialitätsverständnis pointieren, ohne dies aber vom Aufrufen des Ephemeren der Aufführung her zu theoretisieren. Diese dominante Diskursfigur schreibt letztlich einen Topos des Verschwindens fort. Vielmehr nimmt der Beitrag jene Schwierigkeiten in den Blick, inkorporierte und stabile Strukturen (sowohl körperlicher Materialität als auch ästhetischer Prämissen) in ihrer jeweils spezifischen dynamischen Übersetzung über den historischen Wandel hinweg offenzulegen. Dabei wird die Interdependenz von Bildern (ob nun Fotos, Imaginationen, Skizzen) und Bewegungen für den choreografischen Prozess ebenso wie für Differenzerfahrung hervorgehoben. Auf Grundlage dieser theoretischen Position und dem Versuch die Performance der Tagung schriftlich zu erfassen, schlage ich ein etwas ungewöhnliches Verfahren vor: und zwar möchte ich Sie zunächst beschreibend in dieses Stück TR_C_NG mitnehmen. Dabei möchte ich an Ihre Vorstellungskraft appellieren, um Ihnen einen kleinen Eindruck vom Bild- und Bewegungsmaterial des Stückes, aber auch vom Prozess der Aufführung zu geben. Denn wenn wir davon ausgehen, dass wir Bilder in einem Prozess wahrnehmen, und dass deren Interpretation hochgradig von der Rahmung und anderen sinnlichen Eindrücken beeinflusst wird, so bietet sich diese Vorgehensweise an (auch wenn sie hier spezifisch anderen Regeln des prozesshaften Lesens unterworfen ist). Es geht hier also um eine konsequente Auflösung eines vermeintlich wissenschaftlich objektiven Blicks, der auch dadurch schon relativiert wird, dass meine eigene künstlerische Produktion hier vorgestellt wird. Damit wird zugleich der Fokus nicht auf die Betrachtung des Tanzes, sondern die Produktion verschoben, nicht auf ein gegebenes Material, sondern dessen Entstehungsprozess.

III. TR_C_NG: E INE S TÜCKBESCHREIBUNG Also beginnen wir: Stellen Sie sich vor, wie eine Tänzerin in der Bühnenmitte in einer Position verharrt, die an den Moment vor einem Sprung von einem Startblock ins Wasser erinnert. Versuchen Sie sich diese Bewegung sehr genau vorzustellen. Fühlen Sie sich hinein. Wann sind Sie das letzte Mal von einem Startblock ins Wasser gesprungen? Was fühlten Sie dabei? Verweilen Sie hier einen Moment in ihrem Vorstellungsbild, denn die Tänzerin wird sehr lange so verharren. Sehen Sie die zurückgestreckten Arme, die gebeugten Knie, den flachen

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Rücken! Können Sie das Wasser riechen? Antizipieren Sie, wie sich die Bewegung jeden Moment im Fall oder Sprung nach vorne auflösen könnte. Spüren Sie kinästhetisch genau jenen Moment des Ausbalancierens kurz vor dem Sprung. Wenn Sie diese Vorstellung genau vor sich haben, lesen Sie weiter und halten Sie sie dabei wach oder kommen immer wieder zu ihr zurück. Während die Tänzerin dort verweilt, läuft nun ein einführender Videotrailer ab, und Sie sehen am linken vorderen Bühnenrand zwei Tänzerinnen, die sich an einem Tisch platzieren. Sie beginnen Karten aus Karteikästen zu sortieren: die eine systematisch ordnend, die andere wild Stapel bildend. Nach und nach beginnen sie von ihren Bewegungserinnerungen zu erzählen (derweilen steht die andere Tänzerin immer noch in ihrer Ausgangsposition). So berichtet die eine Tänzerin vom Eiskunstlaufen und einer Bewegung, die sich ›Flieger‹ nennt. Sie bittet uns sich vorzustellen, dass man das Bein gerade nach hinten hebt, den Oberkörper nach vorne beugt und die Arme zur Seite streckt. Auch die andere Tänzerin berichtet von Geschichten aus dem Kunstturnen oder ihren choreografischen Projekten. Allmählich wird das ganze bewegter. --- Aber an dieser Stelle möchte ich einen Sprung zu einer Szene im Stück machen, die für diesen Aufsatz wichtig ist – es geht ja schließlich um Bilder. --Abbildung 1: Foto von Jjone Lander, TR_C_NG, 2007

Quelle: © Henrike Meyer

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Und zwar berichten wir hier davon, dass uns auch historisches Bewegungsmaterial interessierte, das keine direkte Verbindung zu unserer eigenen Erfahrung hatte. Bei unserer Recherche sind wir auf die Fotos und Briefe der dänischen Ausdruckstänzerin namens Jjone Lander (1899-1932) gestoßen, deren Bild Sie hier (Abb. 1) sehen. Neben Sprüngen wie diesem, die auf zahlreichen Bildern zu sehen sind, ist ihre Arbeit von geometrischen und spannungsgeladenen Bewegungen erfüllt (Abb 2). Wir berichten davon, dass es uns schwer fiel diese nachzustellen. In einer ersten Version reihten wir zunächst die Bewegungen der Fotos schlicht aneinander. Stellen Sie sich also nun drei Tänzerinnen vor, die zu Popmusik quadratische Bewegungen der Arme und deren Kombination miteinander zeigen. Diese Vorgehensweise befriedigte uns natürlich keinesfalls und wir begaben uns auf Spurensuche zu dieser Künstlerin. Hierbei half uns auch der Zufall, denn ein befreundeter Architekt wusste um einen Briefwechsel von Lander mit dem bekannten amerikanischen Architekten Francis B. Scott. Über ihn wird im Stück gleich noch mehr zu erfahren sein. Abbildung 2: Foto von Jjone Lander, TR_C_NG, 2007

Quelle: © Henrike Meyer

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Um Ihnen einen Einblick in unsere Recherche zu geben, haben wir einen kleinen Dokumentarfilm über Lander erstellt. Stellen Sie sich nun also vor, dass Sie einen Film mit animierten Fotos sehen, Lander sitzend mit quadratisch abgewinkelten Armen: Oder ein anderes Bild (Abb. 2) wird so animiert, dass die Kameraführung beim Fuß der Tänzerin beginnt, dem Bein bis zum nach hinten gebeugten Oberkörper folgt und dann auf die spannungsgeladenen Hände schwenkt, bis die ganze Gestalt im Bild zu sehen ist. Eine Sprecherin aus dem Off erzählt dabei etwas zu Lander: dass sie in Kopenhagen geboren wurde, dass sie zunächst an der Dänisch-Königlichen Ballettschule ausgebildet wurde, vor ihrem Debut ins Ausland floh, weil ihr der Tanzstil dort veraltet vorkam, denn er war immer noch primär vom Repertoire von August Bournonville geprägt. An der Labanschule von Susanne Perrote in Zürich fand sie zu ihrer eigenen Ausdrucksweise. Allerdings blieb in ihrem spezifischen Gebrauch der Arme und der Faszination für Sprünge ihre frühe Prägung durch das Ballett immer sichtbar. In Zürich lernte sie auch durch Max Pfister (besser bekannt als Max Terpis) ihren späteren Freund Franklin B. Scott kennen, dessen strenge geometrische Formsprache die Tänzerin ebenso beeinflusste wie Labans klare räumliche Gestaltung. Der Film und die Stimme aus dem Off fahren noch eine Weile fort, doch ich möchte erneut einen Sprung machen, nämlich zu jener Szene im Stück, in der wir die kleine Kamenate, die Landers Übungsraum im Kopenhagen war, mit Klebeband auf der Bühne skizzieren. Dazu liest eine Stimme aus dem Off einen Brief Landers: »Mein Geliebter, das Warten hat ein Ende. Endlich ein Reich für mich. Johann konnte Vinstadt überzeugen, den Kontrakt zu unterzeichnen. Nun habe ich Platz zu arbeiten. Damit Du eine Vorstellung von meiner kleinen Kemenate hast […], will ich sie Dir geschwind skizzieren. Beste Adresse: Ny Haven 6. Doch wunderen sie sich nicht mein Herr, wenn man ihnen den Dienstbotenaufgang weist, wenn sie nach Fräulein Lander fragen, diese Person will nämlich hoch hinaus. Momentan befindet sie sich im fünften Stock. Achtung, Blick über die Dächer von Kopenhagen und auf den Kanal gratis. Allerdings muss man hierzu seinen Blick gehörig durch die Dachluke biegen. Auf großzügigen 16 Quadratmetern erstreckt sich Fräulein Landers Reich. Geben sie jedoch Acht, mein Herr, bei allzu großen Schritten stoßen sie sich gehörig den Kopf an der Dachschräge. Mögliche Beulen werden jedoch durch das milde und konstante Lüftchen hier oben geheilt, denn die losen Dachschindeln sorgen für die nötige Belüftung.

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Tausend Dank für das famose Skizzenbuch. Ich will mich gleich an die Arbeit machen, sodass ich Dir recht große Fortschritte zeigen kann, wenn wir uns bald wiedersehen. Vergiss nicht, deine kleine Frau wartet auf Dich.« (TR_C_NG, 2007)

Die quadratischen Bewegungen, die enge Körperhaltung wird sehr viel plastischer und verständlicher, wenn man sich vorstellt, dass sich drei Tänzerinnen in diesen Raum begeben und sich auf 16 Quadratmetern bewegen (Abb. 3). Abbildung 3: Lea Martini, Christina Müllenmeister, Yvonne Hardt in Yvonne Hardt, TR_C_NG, 2007

Quelle: © Jens Vogt

Der Maschinentanz brodelt nun in der Kammer: Arme schwingen rhythmisch und symmetrisch, ein Zischen ist zu hören. Schwitzende Körper sind in einer gestaffelten Reihe aufgestellt. Immer wieder müssen wir auf die Lücken unserer Darstellung verweisen, auf mögliche andere Bewegungen und weitere Tänzerinnen, die hier zu sehen gewesen wären. Wir können an vielen Stellen nur Vermu-

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tungen anstellen. Ein Schnitt und wir sind in einem weiteren Dokumentarfilm, diesmal über unsere Spurensuche in Kopenhagen. Aufnahmen der staatlichen dänischen Ballettakademie oder der Probenort Landers sind zu sehen, ebenso wie die Stimme eines Experten zu der Kulturbewegung namens kulturradikal in Dänemark zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu hören ist. Der Film zeigt Tänzerinnen, die sich in der Lichtung eine Baumgruppe im Kreis hüpfend bewegen und wie wir durch die Straßen Kopenhagens laufen. Es ist eine sinnlich endende Dokumentation am Meer, denn wir machen abschließend einen Ausflug nach Skagen, wo das Ferienhaus von Landers Bruder stand. Hierin zog sich Lander Ende der 1920er Jahre zunehmend zurück und hier verfasste sie zahlreiche sehnsuchtsvolle Briefe an Scott. Nach 1932 verlieren sich jegliche Spuren von ihr. Und dann bin ich ganz alleine auf der Bühne. Denn für die Recherche zu dieser Arbeit war ich in einer Künstlerresidenz in Ahrenshoop und arbeitete eine Weile alleine. Hier fühlte ich mich Lander zunehmend näher, denn auch ich war am Meer und ohne Freund. Ich begann ernsthaft an der Rekonstruktion und unserer bisherigen Recherche zu zweifeln. Denn ich fühlte mich in meiner Melancholie eher weich in meinen Bewegungen. Ich schwinge durch jene bereits bekannten Bewegungen, die nun gar nicht mehr eckig erscheinen, sondern nur kurze Punkte in einem Fluss von Bewegungen sind. Währende ich weich schwinge, überlege ich laut, ob vielleicht diese Fotos lediglich der Fantasie einer Fotografin entsprungen sind, die – als Lander sich wild schwingend bewegte – einfach rief: »Halte diese Pose! Das sieht gut aus!« Oder: »Bitte noch einmal genau das!« So wie ich Ihnen das jetzt demonstriere. Lander hingegen war gar nicht spannungsgeladen, sondern weich und fließend, so als initiierte sie zwar die Bewegung vom Ellenbogen, aber der Unterarm folgt bereits weich nach außen. Ich vollführe einen weichen, dynamischen, schwingenden Tanz, der die Posen auflöst, nur noch schemenhaft erkennen lässt. Die Bewegung gibt die Formen und Posen nur noch als Übergänge zu erkennen. Sie haben ihre markante Schärfe, ihren Status als herausragenden Moment verloren. Letztlich resümiere ich, dass wohl nicht zu klären sein wird, was in den Erinnerungskisten von Tänzerinnen alles zu finden ist. Eine Spieluhr mit einer Tänzerin springt aus einer der Archivkisten und während sie dreht, läuft ein Trailer, der unter anderem unsere Quellen benennt, der unser Team bei der Arbeit zeigt, der zeigt, wie ich geschminkt werde, wie Fotos gestellt werden. Wir diskutieren darüber, welche Ausschnitte wir aus den Fotos nehmen möchten. Der Film zeigt, wie ich bis drei zähle und dann springe. Die Aufnahme endet mit einem Stillstellen des Sprungs, sodass der Film genau zu jenem Bild wird, das anfangs als Bild Landers zu sehen war.

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IV. ›F AKE ‹ Der Trailer verrät, dass Lander niemals existierte und dass die Fotos, der Dokumentarfilm und unsere Geschichte von Lander als ›Fake‹ zu verstehen sind. Die Rekontextualisierung des Bildes in den Prozess seiner Entstehung hat zahlreiche Funktionen, die ich hier als Ausgangspunkt bildtheoretischer Überlegungen, künstlerischer Produktionsprozesse ebenso wie für Fragen von Wissenskonstruktion in der Tanzgeschichte nutzen möchte. Zunächst einmal sei angemerkt, dass mit der Preisgabe des ›Fakes‹ keinesfalls jeglicher historischer Aspekt oder Einsicht dem Stück genommen wurde. Theorien zum ›Fake‹ beziehungsweise zur Fälschung zeigen gerade die enge Verbindung zum historischen Kontext auf: »Verweist doch die Fälschung – unter umgekehrten Vorzeichen – auf Paradigmen, Konsense, Rituale, Verabredungen, Erwartungshaltungen, kurz: auf ungeschriebene und geschriebene Gesetze von Diskursen und Disziplinen; zeigt sie doch ex negativo, welche Begriffe von Originalität, Echtheit, Autorschaft, Authentizität und Wahrheit in den wissenschaftlichen und künstlerischen Systemen wirksam und konstitutiv sind.« (Reulecke 2006, 22)

Aber auch in einem sehr praktischen Sinne bedeutet zu fälschen, sich historische Kenntnisse anzueignen. So hat beispielsweise Sybille Peters zu ihrem Laboratory of Fake konstatiert: »[T]o produce a fake one needs to know more than the person producing the original and that teaching students to fake historical artefacts might link complex interdisciplinary theories with the practical know-how« (Peters 2002, 121-126; vgl. auch Metken 1977).

Unsere praktische Arbeit ging sowohl von diesen Prämissen aus, als auch plastisch in einen Dialog damit traten. Dieser Verbindung von theoretischen Implikationen des ›Fakes‹ und dem gleichzeitigen praktischen Know-How, das ihm inhärent ist, möchte dieser Text als einer Hybridform folgen, in der die eigenen künstlerischen Schaffensprozesse in Wechselbeziehung zu wissenschaftlichen Theorien gelesen werden. Solch eine Vorgehensweise lenkt den Blick sowohl auf die Bedeutung der Produktion und Kontextualisierung von Quellen in der Tanzgeschichte, als auch auf den Modus ihrer Präsentation – also auf die Konstruktionsprozesse, die Wissenschaft und Kunst teilen. Zentraler Ausgangspunkt für solch eine Diskussion stellt zunächst einmal die Produktion der Quellen dar. Die Fotos haben dabei einen zentralen Stellenwert, weil sie die Verwobenheit ihrer technischen Bedingtheit mit den inhärenten fo-

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tografischen und dokumentarischen Idealen und der Bewegungen inklusive ihrer körperlichen Ästhetiken besonders verdeutlichen. Daher lohnt es sich, diesen Konstruktionsprozess genauer anzuschauen.

V. F OTOS KONSTRUIEREN UND DAS P OTENTIAL ZUR R EFLEKTION HISTORISCHER I NTERPRETATIONEN Wir orientierten uns sowohl für die Bilder als auch für die daran zu knüpfende Lebensgeschichte an konkreten historischen Vorbildern. Dabei schöpften wir insbesondere aus den Dokumenten zur Ausdruckstänzerin Vera Skoronel (18991929), einer Schülerin von Mary Wigman. Sie leitet mit Berthe Trümphy zusammen die Berliner Wigmanschule und wurde unter anderem durch ihre geometrischen Tänze und die Arbeit für den Bewegungschor der Volksbühne bekannt (vgl. Radrizzani 2005). In der Geschichtschreibung ist sie längst nicht so präsent wie andere Schülerinnen Wigmans, allen voran Gret Palucca. Dies ist wahrscheinlich auch auf ihren frühzeitigen Tod im Alter von 29 Jahren zurückzuführen; eine Lebensspanne, die wir dann auch ungefähr unserer Tänzerin zuwiesen: 1899-1932. Die überlieferten Fotos von Skoronel stammen zum großen Teil von der Fotografin Charlotte Rudolph, die wegweisend in der Dokumentation und damit auch für das Gestalten eines Erinnerungsbildes des Ausdruckstanzes war (vgl. Kuhlmann 2003, 22). Wir schauten uns ihre ästhetischen Entscheidungen sowie technischen Möglichkeiten der Fotoproduktion genauer für die Produktion unserer Bilder an. Teil unserer Arbeit war eine Recherche zur Geschichte der Tanzfotografie: Wie entstanden Fotos in den 1920er Jahren? An welchen Orten wurden sie geschossen? Welche Auflösungen besaßen Filme und Drucke? Wie wurden Lichtquellen platziert? Wie wurden sie nachbearbeitet? Wir mussten die Bilder dunkler machen, die Auflösung verringern, die Lichtquellen in spezifischen Winkeln aufstellen, das Licht (was zum Beispiel auf die Oberschenkel fiel) später retuschieren, eine Praxis, die auch Rudolphs sehr gestaltete Tanzfotografie aufzeigt.5 So ließ die Arbeit mit dem Schatten beziehungsweise sogar die Abbildung mehrerer Schatten relativ leicht die Assoziation an Fotos von Rudolph erwecken, denn diese mehrfachen Schatten, die mindestens zwei Lichtquellen basierten, sind charakteristisch für ihre Fotos (Abb. 4a/b und Abb. 5a/b).

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Hierbei half uns die Fotografin Henrike Mayer. Für eine genaue Diskussion zur Produktion der Fotos von Rudolf vgl. Kuhlmann 2003.

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Abbildung 4a/b: Charlotte Rudolph, Vera Skoronel, 1927

Quelle: Kuhlmann 2003, Abb. 95/94

Abbildung 5a/b: Charlotte Rudolph, Vera Skoronel, 1927

Quelle: Kuhlmann 2003, Abb. 93/94

Die Schatten setzten zudem oftmals die Bewegung fort, die im Bild beschnitten ist. Hier endete dann auch die Detailgenauigkeit unser Reproduktion, denn wie Kuhlmann in ihrer Studie zu der Tanzfotografie der 1920er Jahre aufzeigt, sind diese Fotos durchaus im Prozess mit den Tänzerinnen entstanden: Es gibt unterschiedliche Versionen dieser Bilder, die den Kunstcharakter dieser verstärken (vgl. Kuhlmann 2003). Diesen zu reproduzieren schien besonders schwierig und letztlich für unser Unterfangen, Historizität zu reproduzieren nur bedingt notwendig, insofern es darum gehen musste, jene zentralen Aspekte herauszufiltern,

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die dem Bild den Anschein eines historischen Dokumentes gaben. Die Begrenztheit unserer Mittel führte somit letztlich dazu, dass wir genau das ausstellten, was uns am ›Fake‹ für unsere Geschichte als wichtig erschien. Dazu gehörte neben Fragen der technischen Darstellung in zentraler Weise auch die Gestaltung der Bewegung, die spezifisch genug sein musste, um historisch zu wirken. Die Arbeit mit den historischen Fotos wirkte auf unsere Körper zurück. Wir mussten diesen stärken und dehnen, um die quadratischen Armbewegungen der Fotos nachzustellen und um die Spannung mit unseren releasetrainierten Körpern umsetzen zu können. Bei der Rekonstruktion von Bildern bedarf es eines feinen Gespürs körperlicher Platzierungen, Haltungen, Spannungszustände, die verdeutlichen, dass in den Bildern mehr als nur eine Pose festgehalten wird, sondern ein Angebot an die Fotografin gemacht wird, das in sich ein kohärentes Bewegungsgefüge besitzt, das in der Körperlichkeit, den Dispositionen der Tänzerin mit verankert ist. Hierfür spielten wir mit Hinweisen, die Waltraud Luley der ehemaligen Assistentin der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer, Martin Nachbar, gegeben hatte, als er Hoyer’s Tänze rekonstruierte.6 Zudem integrierten wir sein dabei von ihm gezeigtes Bewegungsmaterial und seinen Modus der Präsentation dieser Zusammenarbeit aus seiner Lecture Performance Re-Konstrukt (2000-2009) wiederum als Bewegungszitat und narrative Strategie in unser Stück. Die Produktion dieser Fotos hatte somit nicht nur Einfluss auf die Gestaltung der Bewegungen, sondern lieferte auch dramaturgische und textliche Bausteine, die uns hilfreich erschienen, um den Anschein von Historizität der Fotos und der präsentierten Geschichte später zu gestalten. Dabei fiel uns auf, dass diese formale Auseinandersetzung mit den Formen, in denen Tanzgeschichte sich authentifiziert, durchaus dazu führen kann, zu einer anderen inhaltlichen Lesart von Fotos zum Ausdruckstanz zu gelangen beziehungsweise die eigenen oder auch dominanten Interpretationen und Vorstellungen vom Ausdruckstanz zu relativieren. Insbesondere die Darstellungen und Interpretation von Gret Paluccas Schaffen – wie es sich scheinbar aus ihren zahlreichen Fotos von Rudolph interpretieren lässt – geriet dabei ins Wanken. Palucca war neben Wigman eine der großen Ausdruckstänzerin und gilt im Vergleich als die lebhaftere, fröhlichere und vor allem als eine gute Springerin (vgl. Stabel 2001; Erdmann-Rajski 2000). Zahlreiche Fotos (auch jene von Charlotte Rudolph) halten sie im Sprung, in der Luft fest. Theoretisch existiert ein Wissen darum, dass eine Kameraperspektive von unten, kurze Belichtungszeiten und das

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Diese Zusammenarbeit ist sowohl videotechnisch als auch schriftlich sehr gut dokumentiert und zugleich reflektiert worden. Vgl. Hardt 2007.

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Beschneiden des Bildes, vor allem das Abschneiden des Bodens den Sprung effektvoll bildlich unterstützen. Allerdings führt das praktische Nachstellen nachhaltiger und tiefgreifender zu dem Wissen um diesen Effekt. Ich bin keine gute Springerin, dennoch suggerieren die Fotos von mir als Lander das Gegenteil. Die Diskrepanz zwischen Bewegungsausführung und Foto wurde besonders im Vergleich zur filmischen Aufzeichnung des Fotoshootings eklatant. Wir hatten von Beginn an geplant, das Fotoshooting unserer ›historischen‹ Bilder zu filmen, um durch den Trailer unsere Arbeitsweise am Ende offenzulegen. Allerdings wäre unsere Idee, das Bild von Lander in ihrer springenden Pose am Ende durch das Stillstellen des Films noch einmal zu zeigen, beinahe daran gescheitert, dass ich mich weniger als 1/25 Sekunde in dieser Sprungposition befand. Damit war es schwierig, einen nicht zitternden Filmstill zu produzieren, der dem Foto entspricht. Was für die künstlerische Rahmungsstrategie technisch etwas aufwendiger wurde, verdeutlicht praktisch diese Verschiebung zwischen Bewegungsfluss und Bild. Diese spezifische Qualität des Sprungs, sein herausgehobener Moment, ist nur im Foto sichtbar. Wer den Film einfach ablaufen sieht, entdeckt nichts Spannendes an diesen eher unspektakulären Hüpfversuchen. Die mediale Verschiebung kreiert ein anderes Bewegungsmatarial mit anderen Akzenten. Diese Lesart möchte jedoch keinesfalls die Fotos als ein verstellendes Phänomen. Es geht nicht so sehr darum, zu fragen, ob Bilder die Realität ablichten oder nicht. Die Fotos sind also nicht lediglich Ausdruck einer technischen Möglichkeit; vielmehr schweben in ihrer Aufnahmetechnik, in der Entscheidungsfindung Wahlmöglichkeiten mit, die sowohl von ästhetischen Idealen sprechen als auch von der dynamischen Vorstellung des Tanzes. Die Bilder von Palucca und den anderen springenden Ausdruckstänzerinnen lassen sich durchaus interpretieren und sind aussagekräftig in Bezug auf ästhetische Entscheidungen, die in dieser intermedialen Konstellation getroffen wurden. So wird in ihnen ein ästhetisches Ideal auffällig, das scheinbar der bekannten Geschichtsschreibung des Ausdruckstanzes, die diesen als das Schöne und Leichte ablehnend darstellt, gegenüber steht (vgl. Müller/Stöckemann 1994, 22-31). In den Bildern erkennt man nicht, dass der Ausdruckstanz das Bodenschwere und das Unschöne verkörperte (vgl. ebd.). Ganz im Gegenteil: Schaut man sich einen Großteil der Fotos an, die von Charlotte Rudolph gemacht und dann von den TänzerInnen ausgewählt wurden (oftmals für Werbungszwecke als kleine Postkarten gedruckt), so dominiert ein ästhetisches Ideal der Leichtigkeit und Virtuosität, die im Sprung (selbst mit abgewinkelten Beinen – dem Hexensprung) besonders deutlich wird. Diese Bilder sind Referenzen an die lange Geschichte des Ideals des Schwebens, exemplarisch verkörpert durch den ballon im Ballett. Sich durch die Quellen des Tanzes zu arbeiten – im wahrsten Sinne des Wortes – kann also

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durchaus zu einer Revision der Geschichte seiner Ideale führen und provoziert Fragen danach, wie die Tanzgeschichtsschreibung mit den Fotos umgehen soll. So ein Nachstellen schärft daher sicherlich die Sinne für die mediale Verschiebung mehr als ein rein theoretisches Wissen, das in der Quellenkritik zwar immer benannt wird, aber in der Interpretation letztlich doch nicht völlig angewendet wird. Zugleich macht es auch die Potentiale der Fotografie als Dialogpartner im choreografischen Prozess erkennbar. Bilder sind darüber hinaus zentraler Teil der Selbstinszenierung tänzerischer Praxis, ob nun als Vermarktung, Teil choreografischer Arbeit, der Inszenierung historischer Vergangenheit oder der Auseinandersetzung mit Historizität des Tanzes. Nicht nur durch die Prozesshaftigkeit von Bildlichkeit, sondern gerade auch in dem Herausstellen bestimmter Momente, in der Wahl des Fokus, der Stillstellung von Entscheidungen werden choreografische und tänzerische Selbstverständnisse sowohl kreiert als auch festgehalten.

VI. S TRUKTURELLE R ÜCKWIRKUNGEN UND DIE M ACHT REFERENZIELLER V ERFAHREN Diese Ambivalenz von Bildern und unsere kritische Erkenntnis aus der Produktion der Fotos machten wir uns für das Stück zunutze und rekurrierten hier auf das Format der kritischen Quellenkritik als eine Ebene der Erzählung. So stellten wir mit der letzten tänzerischen Szene in Frage, ob denn die Tänze wirklich so spannungsgeladen und geometrisch waren, oder ob diese posenhafte Choreografie nicht eher der Fantasie des Fotografen entsprang. Diese theoretische Lesart war Teil einer Spannungsdramaturgie des Stücks. Zugleich half die Artikulation von Zweifel unserem Anliegen zu zeigen, wie Wissenschaft sich selbst authentifiziert. Unsere kritische Reflektion des Rekonstruktionsprozesses ließ diesen eher noch wahrscheinlicher erscheinen, gerade weil wir mögliche Probleme damit artikulierten. Auch diese Form der Rekonstruktionsarbeit hatte ein konkretes Vorbild: Wir hatten in Paris Rekonstruktionen der Arbeit einer weiteren Ausdruckstänzerin, Gertrude Bodenwieser, gesehen und dieses Vorgehen beobachtet. Zitieren fand also auf allen Ebenen statt: Bewegungsmaterial, wissenschaftliche Narrationen, Formate der Lecture Performance wurden so also als zitierfähiges ›Material‹ integriert. Material bezieht sich also in diesem Sinne auch auf die Verfahren, mit denen Stücke produziert werden, selbst wenn sie nicht immer in ihrer Verweiskraft selbst im Stück erkenntlich sind. Materialität wird nicht nur strukturiert in Stücken, sondern die

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Verfahren der Strukturierung generieren auch ästhetische und wissenschaftliche Produktionen und Materialien. Auch für die Produktion der Dokumentarfilme griffen wir auf bekannte Formate und narrative Strategien zurück. Durch die Verwendung von Zitaten im Sinne einer Formatvorlage, die wir dann lediglich mit unseren Inhalten füllten, rückte die Form der historischen Präsentation in den Mittelpunkt. So begann unser Dokumentarfilm über unsere vermeintliche Recherche in Kopenhagen wie ein Roadmovie. Man sieht uns in einen Bus und auf eine Fähre steigen, gefolgt von Bildern aus Kopenhagen, die vermeintlichen Schaffensorte Landers und auch ein Interview mit einem lokalen Experten – eine Reihung, wie sie in unzähligen Dokumentarfilmen zu finden ist. Für den Dokumentarfilm zu Lander wählten wir Dokumentarfilme über den Ausdruckstanz als Vorbild, auch hier ist beispielhaft zunächst ein Schwenk in die Landschaft oder Natur zu sehen, dann die Animation der Fotos durch eine Kamerafahrt, die zumeist bei den Extremitäten beginnt und dann langsam aufzieht. Den Dokumentarfilm mit einer Live-Stimme aus dem Off auf der Bühne zu begleiten, war als eine Strategien gedacht klare Zeitlinien zu durchbrechen, weil wir hofften, die Aufmerksamkeit auf den Modus der Präsentation der Erzählung zu lenken; also auf jene performativen Akte, die jeglicher historischer Erzählung inhärent sind und welche die Verwobenheit der Erinnerungsarbeit mit der Gegenwart ausstellen (vgl. Assmann 2006; Assmann 1992; Erl/Nünning 2004). Es war unser Anliegen, Formate künstlerischer und wissenschaftlicher Produktion, vor allem deren narrative Strategien, aufzugreifen und als solche zu exponieren.

VII. N ARRATIVITÄT

UND

H ISTORIZITÄT

Fotos und Filme alleine hätten jedoch nicht die Basis für eine geschichtliche Interpretation und für die Dramaturgie und Erzählung unseres Stückes, für die Auseinandersetzung und Fragen zur Erinnerungskultur gebildet. Wie konnte dieses Bildmaterial gerahmt werden, in welchen Dialog zu anderen Materialien musste es treten, um historisch wirken zu können? Wir schufen also weitere ›Quellen‹, die nicht nur eine ausführlichere Narration erlaubten, sondern auch eine emotionale Bindung an unseren Charakter Jjone Lander erlauben würden, gilt doch Emotion als ein zentraler Aspekt in der Generierung von Erinnerung. Wir ließen Lander nicht nur eine Zeit in Zürich an der Laban-Schule von Susanne Perrottet studieren, sondern wir stellten uns vor, dass sie hier ihren amerikanischen Freund und Partner Franklin B. Scott kennenlernte. Die Geschichte sollte Details haben, um sie dicht erscheinen zu lassen und dem Anschein zu geben,

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auf einer soliden Recherche zu basieren. So behaupteten wir, dass sie Scott durch Max Pfister kennenlernte, der in der Tanzgeschichte eher als Max Terpis bekannt ist – beide hatten Architektur studiert. Solche Details wie Aliasnamen und Überschneidungen von Bildungswegen rufen ein lexikalisches, positivistisches, aber auch auf Enthüllungsnarration gebautes Geschichtsverständnis auf. Die Briefe von Lander und Scott entstanden, so entschieden wir, nachdem er aufgrund der weltweiten Finanzkrise 1929 in seine Heimat zurückgekehrt war. Wir betteten unsere Quellen in einen historischen Kontext, ohne dass diese selbst sehr ausführlich davon sprachen, um Dinge zu vermeiden, die für Zeitgenossen offensichtlich gewesen wären – also jenes Wissen, das in Quellen niemals benannt wird. Was ist das implizite Wissen, welche Subtexte sind unterschwellig in Quellen präsent? Diese Fragen für die ›künstlerische‹ Produktion sind nicht von jenen einer kritischen Tanzgeschichtsschreibung zu unterscheiden. Im ersten Augenblick anders zur klassischen Geschichtsschreibung war hingegen der Versuch durch eine emotionale Lesart Lander dem Zuschauer näherzubringen und auch jene zu interessieren, die Tanzgeschichte selbst nicht fasziniert hätte. Dennoch ist auch die Produktion dieses Materials tanzhistoriografisch relevant. Die Konstruktion dieses Quellenmaterials verband sich für uns mit Fragen nach der Intertextualität historischer Quellen. Solch eine Analyse historischer Quellen interessiert sich nicht zwangsläufig dafür, ob Aussagen oder Dokumente einer vermeintlichen historischen Realität entsprechen, sondern wie Quellen versuchen Bedeutung zu erzeugen und welche gemeinsamen Strukturen sie mit anderen Dokumente der Zeit teilen (vgl. Hammergreen 2004). Während mich7 ursprünglich an der historischen Analyse das Freilegen inhärenter und verdeckter Denk- und Glaubensschemata interessierte, provoziert die Gestaltung von Quellen, ihre materielle Produktion, ein Interesse für die geteilten Modalitäten dieses Quellenmaterials. Bei den Briefen bedeutete dies, uns mit Metaphern, Stilen und Narrationsweisen beziehungsweise einem narrativen Gestus auseinanderzusetzen. Auch hierfür bedienten wir uns Inspirationsquellen. So zogen wir die Briefe Alma Mahlers an ihren Mann ebenso wie den Briefwechsel der Fitzgeralds als zeitgenössische Pendants heran (vgl. Mahler-Werfel 1997; Fitzgerald 2005). Wir wollten eine Sprache finden, die der Epoche entsprechend erschien. Dies bedeutete aber auch, dass wir Ijone (wie wir sie liebevoll nannten) ein eher ambivalentes Verhalten gegenüber ihrem Partner zuwiesen, in dem Sinne, dass sie wie Mahler zwar eine eigenständige Künstlerin war, jedoch zugleich

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Ich spreche im Text immer dann von mir, wenn es um meine eigene künstlerische und vor allem wissenschaftliche Forschung geht, und immer von wir, wenn es um die gemeinsame Produktion mit anderen zusammen geht.

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eine sich unterordnende Position ihrem Mann gegenüber einnahm. Dieser Sachverhalt, der in den Briefen Alma Mahlers so hervorstechend für heutige Leser ist, erlaubte uns, dass wir uns im Gegenzug von Jjone Lander distanzieren konnten, indem wir diesbezüglich ihre Sprache und ihre Argumente als Ausdruck heute eher anachronistisch wirkender Genderverständnisse in unserer Darstellung interpretierten. Teile dieses Diskurses konnten wir dann nicht in der Performance selber unterbringen, sondern wurden in einer längeren Biografie präsentiert, die wir in einem buchähnlichen Programmheft veröffentlichten. Neben den Fotos und Briefen konnte der Zuschauer hier auch etwas über die Probleme der Materialsammlung und der historischen Recherche erfahren, sodass sich die Texte einer historischen Präsentationsweise annäherten.8 Die Konstruktionsprozesse dieses Materials warfen Fragen danach auf, wie Quellen als Grundlage historischer Erzählung erst hervorgebracht werden. Hayden White hat in seiner einflussreichen Aufsatzsammlung The Content of Form darauf hingewiesen, dass Narration immer Teil einer politischen Dimension der Geschichtsschreibung ist. Erst die Erzählung erlaubt es der Geschichtsschreibung zu entstehen, indem sie sich von älteren Formen wie den Annalen oder den Chroniken abgrenzt. Doch dafür bedarf es ein Subjekt der Erzählung, eine Ordnungsstruktur auf die alle Ereignisse hin bezogen werden. Narration hat ein soziales Gesetzt als Referenzpunkt (vgl. White 1990, 14). Wie wird also Geschichte auf der Bühne erzählt, welches Ordnungsprinzip, welche Idee von Geschichte wird inszeniert? Mit diesen Fragen hantierend, war es wichtig, die Verbindung von Performance, Narration und dem Aufrufen der Vergangenheit des Tanzes auszustellen, der die Bilder in ein Bedeutungsnetz spannt und sie als historisch erscheinen lässt. Welche Modi der Präsentation und der Narrationen machten am Ende den Zuschauer glauben, er/sie hatte – obwohl im Theater sitzend – etwas über das Leben einer tatsächlichen existierenden Person erfahren? Welchen Strategien der Verifizierung der Geschichte fallen wir anheim? Welche Autorität haben Bilder, Personen, Formen der Narration – werden durch diesen Fake einmal mehr aufgeworfen. Doch dieser Akt der Konstruktion von Quellen wird in der Regel weder in der Tanzhistoriografie noch in zeitgenössischen Rekonstruktionspraktiken her-

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Dieses Programmheftbuch mit Fotos, Lebenslauf, Texten und Briefen diente weiter als Authentifizierungsstrategie. Anders als in anderen Produktionen, die sich mit ›gefakten‹ Lebensläufen oder ›erfundenen‹ Tänzeridentitäten auseinandersetzten, gab die Produktion weder in der Werbung noch durch das Programmheft Indizien, dass es Lander nicht gab. Der Zuschauer wusste in der Regel vorher nicht, dass es sich um keine wirkliche Tänzerin handelt.

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ausgestellt, inklusive der Teilhabe des Wissenschaftlers oder Künstlers an diesem Prozess. Vielmehr wird durch eine kritische Lektüre der Quellen lediglich auf die Einschränkungen und Probleme der Quelle hingewiesen. Dieser kritische Akt verschleiert den Modus der Konstruktion der Lesart, weil er einen authentifizierenden Aspekt hat. Preiszugeben, dass man nicht alles weiß, gibt jenen Dingen mehr Bedeutung und Nachdruck, die man als wissend ausgibt. Zweifel ist zudem eine gute Strategie, um Authentizität in einer Aufführungssituation zu erzeugen, wie zum Beispiel die Recherche zur zeitgenössischen Performancekunst von Annemarie Matzke in Bezug auf die Selbstinszenierung demonstriert hat (vgl. Matzke 2005). Nicht die Konstruktion von Narrativen, sondern auch ihre authentifizierenden Aspekte teilen Geschichtsschreibung und Performance.

VIII. F AZIT Eine Analyse von Bildlichkeit des Tanzes, allen voran in der historischen Interpretation, bedarf daher einer Betrachtung, die diese Bildlichkeit nicht als gegeben ansieht, sondern sowohl deren kreativen Produktionsprozess in der Entstehung der Quelle als auch in der Konstruktion einer Geschichtlichkeit durch den Wahrnehmenden mit betrachtet. Was wir sehen und was wir nicht sehen, unterliegt dabei nicht dem reinen Zufall, sondern bewussten oder unbewussten Strategien historischer Deutungsmacht und künstlerischer Entscheidungen. Eine Herangehensweise, die nach den wechselseitigen Produktionsprozessen historischer Bildlichkeit fragt, kann die politischen Dimensionen dieser Sichtbarkeit, Einschluss und Ausschluss thematisieren – wie sie allgemein auch für das Archiv relevant sind (vgl. Schulze 2005).

L ITERATUR ASSMANN, Aleida (2006): Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Auflage. München: Beck. ASSMANN, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. München: Beck. BURNETT, Ren (2005): How Images Think. London/Cambridge, Mass.: MIT Press. DÖHL, Frédéric/WÖHRER, Renate (Hrsg.) (2014): Zitieren, Appropriieren, Sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten. Bielefeld: transcript.

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ERDMANN-RAJSKI, Katja (2000): Gret Palucca: Tanz und Zeiterfahrung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms. ERL, Astrid/NÜNNING, Ansgar (Hrsg.) (2004): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktion – Historizität – Kulturspezifität. Berlin/New York: Walter de Gruyter. FITZGERALD, F. Scott und Zelda (2005): Lover! Briefe. München: DVA. HAMMERGREN, Lena (2004): »Many Sources, Many Voices«, in: Alexander Carter (Hrsg.): Rethinking Dance History. A Reader. London/New York: Routledge, S. 20-31. HARDT, Yvonne (2007): »Reconstructing Dore Hoyers ›Affektos Humanos‹. About a discussion with Waltraud Luley, Susanne Linke und Martin Nachbar«, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hrsg.): Knowledge in Motion. Bielefeld: transcript, S. 193-200. HARDT, Yvonne (2010): »Sich mit der Geschichte bewegen. Historische Bewegungszitate und Rekonstruktion als Strategie zeitgenössischer Choreographie«, in: Karin Fenböck/Nicole Haitzinger (Hrsg.): Denkfiguren: Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden. München: epodium, S. 214-223. KUHLMANN, Christiane (2003): Bewegter Körper – mechanischer Apparat: zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 1920er Jahren an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi. Frankfurt am Main: Peter Lang. MAHLER-WERFEL, Alma (1997): Tagebuch-Suiten 1898–1902. Frankfurt am Main: Fischer. MANNING, Susan (2006): Ecstasy and the demon: The dances of Mary Wigmann. Minneapolis: University of Minnesota Press. MATZKE, Annemarie (2005): Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern: Formen szenischer Selbstdarstellung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim/ Zürich/New York: Georg Olms. METKEN, Günter (1977): Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst. Amsterdam/ Dresden: DuMont. MÜLLER, Hedwig/STÖCKEMANN, Patricia (1994): »Zur Bestimmung des Ausdruckstanzes«, in: Jahrbuch Tanzforschung 5, S. 22-31. PETERS, Sibylle (2002): »The Academic Laboratory of Fake – a Proposal«, in: Performance Research 7, 4, S. 121-126.

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RADRIZZANI, René (2005): Vera Skoronel/Berthe Trümpy – Schriften und Dokumente. Wilhelmshaven: Florian Noetzel. REULECKE, Anne-Kathrin (2006): »Fälschung – Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hrsg.): Fälschung. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-46. SCHULZE, Janine (2005): »Tanzarchive: ›Wunderkammern‹ der Tanzgeschichte?«, in: Inge Baxmann/Franz Anton Cramer (Hrsg.): Deutungsräume: Bewegungswissen als kulturelles Archiv der Moderne. München: K. Kieser. STABEL, Ralf (2001): Tanz, Palucca!; die Verkörperung einer Leidenschaft. Berlin: Henschel. THURNER, Christina/WEHREN, Julia (Hrsg.) (2010): Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz. Bern: Chronos. WHITE, Hayden V. (1990): Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main: Fischer.

Wie klingt ein Raum? Inszenierung von Räumen durch Aneignung und Choreografie von architektonischem Klangmaterial S ASKIA R EITHER , G ERRIET K. S HARMA , N ICO B ERGMANN

Seit 2010 beschäftigt sich der Klangkünstler Gerriet K. Sharma mit der Projektreihe {kA}: keine Ahnung von Schwerkraft und der künstlerischen Erforschung von Gebäuden und ihren Räumen. Die Projektreihe ist mehrteilig und nutzt unterschiedliche, temporär leerstehende Gebäude in verschiedenen Städten als Klangräume. Das aus der akustischen Erforschung der Raumarchitektur gewonnene Klangmaterial wird als integraler Bestandteil von mehrkanaligen Klangkompositionen verstanden und erfahrbar gemacht. So entsteht allmählich eine Werkreihe von Kompositionen mit und in diesen Gebäuden, die Erfahrungswerte sammelt und dokumentiert. Sie zeigt, wie klangkünstlerisch auf ortsspezifische Gegebenheiten reagiert werden kann beziehungsweise diese umweltbedingten akustischen Charakteristika Teil einer vorher nicht existierenden Komposition werden. Parallel zu jeder Gebäudeklangkomposition entsteht eine Dokumentation, die den Entstehungsprozess der Produktion fotografisch nachzeichnet und die historisch-soziale Situation des Gebäudes sowie klangkünstlerische und produktionsästhetische Aspekte der Kompositionen beleuchtet. Neben der ausführlichen Begleitdokumentation, werden die Kompositionen und Rauminstallationen auch immer vor Ort einem Publikum zugänglich gemacht. Bislang sind in der Reihe sechs Gebäudeklangkompositionen erarbeitet worden, darunter • •

eine ehemalige Offiziersvilla der US-amerikanischen Kaserne in Würzburg (Villa03), ein Bürogebäude in Graz (Sauraugasse 4) und

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eine Gerber-Werkstatt samt angrenzendem Wohnhaus in Murau in der Steiermark (Alte Gerberei).

Zentrale Idee der Produktionsreihe ist nicht allein die akustische Erforschung eines Eigenklangs architektonischer Räume. Ebenso wichtig ist die Auseinandersetzung mit dem vorgefundenen akustischen Material und die Herstellung von weiteren (inszenierten) Räumen, indem das Klangmaterial durch die vorhandenen Räume des Gebäudes ›geschoben‹ und ›bewegt‹ wird und so Räume inszeniert werden können. Der nachfolgende Text wird diese prozesshafte und modulare Arbeitsweise herausarbeiten und versuchen, sie in einen übergeordneten Zusammenhang von Raum, Bewegung und Aneignung zu stellen. Abbildung 1: Lautsprecherposition, Sauraugasse 4, Graz

Quelle: © Nico Bergmann

{ K A}:

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»[S]o stark dieses Erlebnis einer ersten Raum-Musik auch war, so zeigte sich doch von Anfang an die Schwierigkeit, diese Musik in einem Raum vorzuführen, der für ganz andere Zwecke gebaut wurde. Es müssen neue, den Anforderungen der Raum-Musik angemessene Hörsäle gebaut werden« (Stockhausen 1987, 153).

Diese nach der Uraufführung von Gesang der Jünglinge vom Komponisten niedergeschriebenen Zeilen schildern ein mittlerweile klassisches Problem der

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elektroakustischen Aufführungspraxis. Im Studio produzierte Kompositionen treffen im herkömmlichen Konzertsaal auf für ihren Klang und ihre Struktur meist ungeeignete akustische Bedingungen. Als Konsequenz wurden entweder Klang-Raumreproduktionsverfahren entwickelt, die eine Raumbespielung möglichst unabhängig von der jeweiligen Raumsituation erlauben oder spezielle Säle für die elektroakustischen Vorführungen gebaut. Im Rahmen der Kompositionsreihe keine Ahnung von Schwerkraft verfolgt Gerriet K. Sharma konzeptionell und kompositorisch einen umgekehrten Ansatz. Bislang beschäftigte er sich mit Raum-Klangkompositionen in Verbindung mit den Audiotechnologien Ambisonics und Wellenfeldsynthese (WFS), bei deren Anwendung der Raum der Klangproduktion eine eher nachgeordnete Rolle spielte. Bei keine Ahnung von Schwerkraft soll der Raum als Ausgangspunkt und untrennbarer Bestandteil der Komposition im Vordergrund stehen. Trotz aller interessanten theoretischen Überlegungen und Hintergründe zu Ambisonics oder Wellenfeldsynthese, Sweet Spot oder Sweet Field, spielt der Kompositions- und Aufführungsraum eine grundlegende und nicht konservierbare oder gar transportable Rolle für den Gesamtklang und die Wahrnehmung. Der Raum ist somit häufig nicht Bedingung für die Produktion oder die Wahrnehmung, sondern fester Bestandteil der Komposition. Die Arbeit in den leerstehenden Gebäuden zielt auf eine sukzessive Erforschung der klangkünstlerischen Möglichkeiten an verschiedenen Orten ab. Die jeweiligen akustischen und baulichen Eigenheiten und ihre spezifische Geschichte werden mit einem bestimmten Grundinstrumentarium verarbeitet. Sowohl die Komposition als auch Präsentation (Konzert, Installation, Veröffentlichung) im Anschluss daran sollen nicht im eigens für elektronische Musik gebauten Saal oder Studio stattfinden, sondern am jeweiligen Ort selbst, der üblicherweise einem anderen Zweck dient oder gedient hat und der durch seine bauliche Beschaffenheit Ausgangspunkt und Hauptbestandteil der Komposition geworden ist. »Es geht also nicht mehr um die Erfindung, Originalität, Individualität, sondern um die Perspektive auf das Vorzufindende, auf das Erzählen mit dem Vorgefundenen, in anderen als den bekannten Kontexten.« (Goebbels 2002a, 181) Die Kompositionsreihe verfolgt eine andere (neue) Praxis der Raum-Klangkomposition, durch die Gebäude beim Betreten kompositorisch ›gelesen‹ werden können. Sie beginnt mit dem ersten (Hör-)Eindruck des Komponisten. Dieser besteht aus der Eigenakustik des Raumes sowie Alltagsgeräuschen und Testgeräuschen. Das Material wird in einer kompositorischen Antwort verarbeitet und wieder in den Raum entlassen. Die so entstehenden unterschiedlichen Klang-Räume beginnen, sich gegenseitig zu verstärken und zu überlagern.

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D ER P RODUKTIONSPROZESS Der künstlerische Produktionsprozess von keine Ahnung von Schwerkraft ist komplex, da er eine zeitliche Dimension eingeschrieben hat, also prozesshaft verläuft und aus unterschiedlichen Teilbereichen zusammengesetzt wird. Vor diesem Hintergrund wurde 2010 die Kanzlei für Raumbefragungen gegründet, die sich mit den logistischen, organisatorischen, produzierenden und dokumentierenden Aufgaben der Gebäudeklangkompositionsreihe beschäftigt. Der Kunstbegriff der solitären Erfindung hat ausgedient, wenn er nicht schon immer ein Mythos war. Künstler, die wissen, was sie wollen, Komponisten, die alle Klänge selbst und alleine erfinden, entsprechen einer bürgerlichen Vorstellung des Künstlergenies, die mit der heutigen Wirklichkeit künstlerischer Produktionsprozesse nicht mehr überein zu bringen ist: »Was ist das, dieses Material? Muss es nicht gefügig sein? Den Wünschen des Autors, des Komponisten, des Malers, des Theatermachers entsprechen? Ist nicht er derjenige, der darüber befindet? Oder haben wir uns vielleicht längst einer künstlerischen Praxis genähert, die sich von der weitverbreiteten Auffassung vom Künstler, der weiß, was er will, fein unterscheidet?« (Goebbels 2002b, 214)

Der Komponist Heiner Goebbels greift hier ein Thema auf, das in der aktuellen Debatte über künstlerische Produktionsprozesse gerade hohe Brisanz erfährt. Wie entstehen komplexe künstlerische Projekte? Wie sind sie räumlich und zeitlich organisiert? Welche Personen sind daran beteiligt und zu welchem Grad? Als Co-Autor, Produktionsmanager oder nur Ausführende? Goebbels unterscheidet zwei entgegengesetzte Strategien der künstlerischen Praxis. Da ist einmal der Komponist, der seine Klänge erfindet. Und dann ist da andererseits ein Produktionskontext, in dem mehrere Personen mitwirken und wo das Werk in »direkter Reibung« entsteht, als »Verdichtung gesellschaftlicher Erfahrung« (ebd., 211). Zwar hält sich noch hartnäckig die gängige Auffassung von Kunst als Ergebnis einer mächtigen Form von Autorschaft. Ein Blick auf gegenwärtige künstlerische Produktionen aber zeigt, dass diese Vorstellung längst überholt ist und Künstler auch in Gruppen, Ensembles oder Kollektiven arbeiten. Zur Frage nach dem Ursprung und der Herkunft des Materials kommt auch die Frage nach der Strukturierung des künstlerischen Entstehungsprozesses. Zur künstlerischen Arbeit gehört heute selbstverständlich auch, die Umsetzung des Projektes zu organisieren, zu kommunizieren (Ideen, Prozesse, Tätigkeiten, Erkenntnisse, Artefakte etc.) und zu dokumentieren. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die zwar schon von jeher auch von anderen Akteuren des Kunstbe-

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triebes geleistet wurden als nur den Künstlern selbst, zum Beispiel von Kritikern, Kuratoren, Impresarios etc. Die Arbeitsteilung heutiger künstlerischer Produktionsprozesse geht aber über eine organisatorische Funktion hinaus. Sie ist dem Prozess nicht nur äußerlich, sondern inhärent, das heißt Bestandteil der künstlerischen Arbeit selbst. keine Ahnung von Schwerkraft ist keine Reihe, die – vereinfacht gesagt – im Computer des Komponisten entsteht, keine Arbeit über ein programmiertes Softwaretool, ein Patch, eine im Computer erzeugte Klangcollage oder eine vom Computer nach gewissen Regeln erzeugte Komposition. Die Kompositionen bestehen zunächst als ein komplexes theoretisches Konzept mit bestimmten Rahmenbedingungen, die einen Möglichkeitsraum für Raum-KlangKompositionen eröffnen, ohne dass bereits ihre konkrete Erscheinungsform festgelegt sein würde. Die langfristige und nachhaltig angelegte Arbeit ist ohne engverzahnte personelle Zusammenarbeit nicht möglich, sondern bedarf einer logistischen Planung, überlegten Organisation, theoretischen Reflektion und schließlich einer ausführlichen Dokumentation. Die Kanzlei für Raumbefragung dient als Plattform zur Steuerung und Realisierung des Projektes und als Ausgangspunkt zur Vernetzung mit anderen künstlerischen und wissenschaftlichen Ansätzen. Die drei Gründungsmitglieder, Gerriet K. Sharma (Klangkünstler), Saskia Reither (Projektmanagerin/Research) und Nico Bergmann (Gestalter), begreifen sich als Ensemble und arbeiten mit verteilten Aufgaben am Gesamtprojekt. Seit 2011 hat sich die Gruppe vergrößert und wird durch Astrid Mönnich (Projektmanagerin/Research) verstärkt. Bei der Ensemblearbeit im Sinne von geübtem Zusammenspiel handelt sich nicht um eine organisatorische Notwendigkeit (dann wäre der Spediteur auch Teil der Komposition), sondern um eine künstlerische Setzung. Die Zusammenarbeit ist zeitlich und organisatorisch so verzahnt, dass sie selbst performative Züge enthält und in ihrer Gesamtheit als künstlerischer Produktionsprozess begriffen werden muss. Organisation, Vermittlung, theoretische Reflexion und Dokumentation werden in die künstlerische Produktion integriert und beeinflussen sich gegenseitig (Abb. 2).1

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Die Internetseite http://www.kavs.cc der Projektreihe informiert über den Arbeitsprozess in seinem jeweiligen aktuellen Stand.

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Abbildung 2: Skizze des Produktionsprozess

Quelle: © Nico Bergmann

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D AS M ATERIAL : B EGEHUNG UND B EFRAGUNG Die Erarbeitung eines jeden Gebäudes folgt einem stringenten Ablaufplan: Begehung, Befragung und kompositorische Antwort. Die Idee ist, die Arbeit am Ort und aus dem Ort heraus zu entwickeln. Das heißt sie wird nicht, auch nicht in Teilen, im Studio vorproduziert und dann an den jeweiligen Raum angepasst. Vielmehr beginnt die raum-klangkompositorische Arbeit immer erst im Moment des Betretens des Gebäudes. Das Material entsteht im Moment des Hörens. Der Komponist setzt an den Anfang des Arbeitsprozesses die Begehung des Gebäudes und lässt es auf sich wirken. Er geht durch die Räume und hört aufmerksam, wie sie klingen, welche vorhandenen (Alltags-)Geräusche sich an den Wänden und Winkeln brechen, wie sie sich ausbreiten, in den Räumen aufgehen oder aber abgebrochen, gestört oder geschluckt werden. Er nimmt wahr, welchen Einfluss Bodenbeläge auf die Akustik haben, Holz, Fliesen, Stein, Teppich. Treppen, Kammern, offene Bereiche reflektieren Geräusche auf jeweils unterschiedliche Weise. Der Komponist ist in diesem Moment zugleich Sammler und Zuhörer seines Materials. Dieser Prozess dauert meist fünf bis sieben Tage. Nach dem ersten Höreindruck erfolgt eine Testphase, die Raumbefragung. Eigens erzeugte Klänge werden jetzt in die Räume gespielt, in denen zuvor Lautsprecher positioniert wurden, um das Klangverhalten der Räume zu erforschen. Zur Verfügung stehen hier speziell programmierte Software-Werkzeuge, Standard-Anwendungen, die die Räumlichkeiten durch eine Art akustischen Fragebogen testen (zum Beispiel Eigenfrequenz, Hallzeiten, Absorption, Grenzfrequenz, Raumeigenmoden). Der Komponist fragt, der Raum antwortet: »Ich klebe Kontaktmikrofone an die Fensterscheiben der Villa03 und nehme am Morgen und in der Nacht auf. Das Material filtere ich, speichere, verstärke Frequenzen und spiele diese Klänge an verschiedenen Stellen im Gebäude wieder ein. Ich sammle, notiere und versuche, Reaktionen, Zusammenspiele und Durchdringungen zu reproduzieren. Die Kellerlautsprecher z.B., vor allem der im Waschtrog, erzeugen bei tiefen Frequenzen um die 80 Hertz ein Vibrieren in Teilen des Fundaments, das sich auf das Holz des Treppenaufgangs und die Garderobe überträgt. Dieses Vibrieren erzeugt Geräusche und lässt sich steigern und rhythmisch zentral im Gebäude steuern. Ich nehme die leeren Räume auf, spiele das Signal wieder ab, erzeuge Feedbacks und zeichne diese wieder als Material auf, um damit wieder den Raum anzuregen, seine Reaktionen zu provozieren. Ich suche ein elektroakustisches Equivalent zu den Grillen (die um das Gebäude herum konzertieren), spiele kleine zirpende bursts, per Zufallsgenerator angeregt und mit unterschiedlichen Ereignisdichten. Und ich versuche, unterschiedlich gestimmte Sinusgeneratoren auf die einzelnen Räume zu legen, um an meinem Abhörpunkt eine Stimmung, gefärbt durch die

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verschiedenen Räumen, zusammen zu setzen. In meinem Rücken die Außenwand, durch die durch Hecken und Lärmschutzwand gefiltert, die Klangereignisse der Zubringerstraße dringen. Die Straße wird zu einem wichtigen Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen. Die Lautstärken, die Frequenzen, die Bewegungen im Gebäude. Alle erzeugten und zu erzeugenden Klangkonstellationen sollen sich zu diesem Punkt verhalten. So geht es in der dritten Woche Tag und Nacht, solange die Konzentration reicht und die Ohren halten.« (Aufzeichnung zu Villa03, Würzburg)

Eine große Bedeutung spielt bei der Materialgewinnung die Bewegung des Hörenden durch die Räume. Ein Raum ist nicht einfach da, sondern konstituiert sich immer erst in Relation zu etwas. In der Bewegung, in der sinnlichen Wahrnehmung, durch weitere Objekte in ihm, in der akustischen Erforschung. Ein Raum zeigt sich in seinem Ausmaß erst in der Begehung, in der menschlichen Erfahrung. Und diese Erfahrung ist eine Aktion von zeitlicher Ausdehnung, ein Annäherungsprozess mit der Methode der aufmerksamen Sinneswahrnehmung, hier dem Hören und der Bewegung des Hörenden durch die Räume hindurch, der Ortsveränderung und permanenten In-Beziehung-Setzung des eigenen Körpers zur Akustik und Architektur: »Ich sitze und lausche und da ist erstmal wenig. Wenig heißt nach einer halben Stunde: Grillen, eine Wasserspülung, die sich um 12 Uhr wie von Geisterhand betätigt (und die das an den folgenden Tagen auch tun wird), Wind/Graszischen in verschiedenen Schattierungen und ab und zu eine Fliege, die innen gegen das Fenster fliegt. Und dann immer wieder verschiedene Kraftfahrzeuge, die hinter der Lärmschutzmauer sich mit verschiedenen Rauschintensitäten in für einen kurzen Moment auftauchenden Pattern von links und/oder rechts in das akustische Panorama schieben, gleiten, einbrechen. Ich gehe durch das Gebäude, sitze auf dem Boden im oberen Flur, sitze eine Weile im Wandschrank, stehe auf dem vermoosten und wackeligen Balkon. Tür auf, Tür zu, Fenster auf ›kipp‹. Überall Fliegengitter, aber die hört man nicht, nur, wenn der Wind das Aluminium bewegt, ein kurzes Rattern und wenn ich die Augen nach einer halben Stunde wieder öffne und aus der halb offenen Küche in das leere Wohnzimmer blicke, tristes, leichtes Rauschen. Ich löse alle Fliegengitter an allen Fenstern einseitig und höre mir an, was der Wind mit diesen macht. Nicht viel, aber das muss ich sammeln. Ich nehme die leeren Räume auf, notiere Zeiten, Takes. Nicht zu viel, Abhören braucht Echtzeit. Abends im Hostel setze ich dann Kopfhörer auf und lerne die Mikrofonperspektive kennen. Was habe ich alles nicht gehört, was auf der Aufnahme zu finden ist? Warum nicht? Aber auch: Was fehlt hier, was ich in Erinnerung habe? Und dann vor allem eine wiederkehrende Erkenntnis: Konzentriertes Hören geht nur eine kurze Zeit, danach fängt

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man an, zu phantasieren. Auch spannend, aber man muss einen Umgang damit finden.« (Aufzeichnung zu Villa03, Würzburg)

Akribische Repetition ist ein Grundelement des künstlerischen Prozesses von keine Ahnung von Schwerkraft: Klänge werden immer und immer wieder in unterschiedlichen Raumzusammenhängen, Ecken, Winkeln, Schränken mit offenen oder geschlossenen Türen, zu verschiedenen Tageszeiten, mit Alltagsgeräuschen im Hintergrund, aus mehreren Richtungen, drinnen oder draußen, und mit sich verändernder physischer und psychischer Verfassung des Künstlers abgespielt und gehört. Wie unterschiedlich diese Raumeindrücke sein können, zeigt die Erfahrung mit den ersten beiden Gebäuden: Die Villa03 aus den 1970er Jahren ist eine Doppelhaushälfte zur Privatnutzung der US-Streitkräfte, also eigentlich ein ziviles Gebäude. Es ist unterkellert und verfügt über zwei Etagen, inklusive Dachboden, Carport, zwei Terrassenanlagen und Garten. Abbildung 3: Innenraum, Villa03, Würzburg

Quelle: © Nico Bergmann

Das Erdgeschoss besteht aus Eingangsbereich, Abstellkammer, Gäste-WC, kombiniertes Wohn-Esszimmer, Küche mit Durchreiche und Büro. In der ersten Etage befinden sich vier Schlafzimmer und ein Badezimmer. Die beiden Etagen sind durch eine geschwungene Treppe miteinander verbunden. Im Keller befinden sich Heizungs-, Wasch- und Vorratsräume. Die Räume der Villa sind eher konventionell geschnitten, klare Winkel, standardisierte Größen und eine übliche Deckenhöhe. Eine Besonderheit ist, dass sich in allen Schlafzimmern, dem Büro

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und auch Teilen des Wohnzimmers fest installierte Einbauschränke befinden, in der Küche eine fest installierte Küche, bestehend aus Unter- und Oberschränken. Im Haus ist Parkett ausgelegt sowie Teppichboden auf den Treppenstufen. Küche und Bäder sind gefliest. Die Wände sind tapeziert und gestrichen und die Aluminiumfenster sind doppelt verglast. Das zweite Gebäude der Reihe keine Ahnung von Schwerkraft, das Haus Nr. 4 in der Sauraugasse, datiert aus dem frühen 17. Jahrhundert und befindet sich in der historischen Altstadt im 1. Stadtbezirk Graz, der sogenannten Inneren Stadt in der Nähe von Schlossberg und Rathaus. Die Altstadt, die sich insgesamt über sechs Stadtbezirke erstreckt, kennzeichnet ein enges Gassensystem, geprägt von Sakralbauten und eine für mitteleuropäische Städte typische niedrige und homogene Verbauung. Das Gebäude hat in seiner langen Geschichte mehrfach Besitzer und Funktion gewechselt. Es handelt sich um ein Wohneckhaus mit drei Geschossen, mit einem zur Sauraugasse hin gelegenen Schopfwalmgiebel. Das Haus wurde 1612 erbaut und 1861 umgebaut, wobei es eine neue Fassade erhielt. Das Eckgebäude ist im Hinterhof durch niedrigere Hoftrakte zu einer Vierflügelanlage verbunden. Die Gebäudekomposition findet in einem dieser kleineren eingeschossigen Gebäudeteile statt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Gebäude über lange Jahre von der Medienfabrik Graz angemietet und als Büro-, Geschäfts- und Lagerraum genutzt. Derzeit befindet sich die Geschäftsstelle der Grazer Altstadtsachverständigenkommission (ASVK) im Gebäude: »Als ich dann zwei Monate später den Schlüssel ausgehändigt bekam und am 1. August das Gebäude alleine betrat, gähnten mich die mittlerweile ausgeräumten Räume an. Eine gänzlich andere Atmosphäre am gleichen Ort. Das Erdgeschoss ist fast völlig leer geräumt. Wo vormals noch Tische und Schränke standen, gibt es jetzt nur harten Estrichboden, große Glasflächen zur Straße und zu einem Innenhof, Werkstattmetalltüren und Überreste früherer Nutzungen wie angelehnte Metallschienen, Müllsäcke, einen alten Plotter, zusammengefegte Schutthaufen und eine große Ladung in Papier eingeschlagener Metallschilder mit der Siebdruckaufschrift: »Ortsbildschutzgebiet«. Ansonsten gibt es viel Licht und Außengeräusche, die durch die Scheiben in die Hallen dringen. Werkstattcharakter, kahle Räume, sehr lange Hallzeiten, diffus. Auf dem von der Behörde übersandten Plan finde ich zwei der Wände aus dem der Straße abgewandten Teil des Untergeschosses nicht wieder. Hier wurden Räume eingebaut, Rigips-Wände eingezogen. In der ersten Woche sitze ich mit einem Stuhl in den verschiedenen Winkeln und Ecken des Untergeschosses. Während der Geschäftszeiten hört man die Autos, wie sie gegen einen losen Kanaldeckel stoßen, und wenige Passanten an der Straßenseite vorbei gehen. Zwischendurch immer wieder Glocken und Stimmen aus dem Innenhof. Das Erdge-

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schoss ist in Kammern aufgeteilt, die jeweils in einen weiteren Abschnitt führen. Kein Gangsystem, an dem Einzelräume liegen. Öffnet man alle Türen im Innenbereich, kann man fast alle Außengeräusche in verschiedenen Lautstärken hören. Lehnt man Türen an oder öffnet sie nur ein wenig, entstehen wahrnehmbare Dämpfungen und Filterungen. Am Wochenende werden die Autos weniger und die Passanten mehr. Ganze Ströme von Menschen bewegen sich an dem Gebäude vorbei in Richtung Stadtpark. Samstagabend, ein sich langsam bewegender Tross von Partypeople, der vom Schlossberg zum Forum Stadtpark zieht und über Stunden grölt, bis spät in die Nacht. Ich sitze drinnen, alle Lichter aus. Ich befinde mich mitten in einem geschäftigen Treiben, sehe die Schatten, die durch die Scheiben fallen, kann die Menschen ahnen, höre den Widerhall ihrer Stimmen, Schritte die durch das Gebäude klingen. Ich habe das Gefühl, mich in diesem Wabern aufzulösen. Sitzt man im unteren Stockwerk, glaubt man ab und zu, dass jemand direkt durch die großen Industriescheiben blickt und man entdeckt ist. Aber das ist ein Irrtum, denn man kann von draußen nichts im verdunkelten Innenraum sehen. Trotz der sommerlichen Temperaturen bleibt das untere Geschoss kühl, was das Gefühl von Leere verstärkt. Eine Stunde in der hintersten, der Straße am weitesten entfernten Kammer, lässt mich vollends vereinsamen. Nur manchmal dringt ein definierbarer Laut von der Straße herein, alles andere verschwimmt im Raumsystem zu einem dumpfen Summen. Geht man über die Betontreppe in den oberen Stock, ist es fast so, als betrete man ein anderes Gebäude. Der Büroteppich dämpft mit Betreten der Etage den Schritt. Das Gebälk wurde aus optischen Gründen freigelegt. Funktionale Büroatmosphäre mit Naturholzeinschlag, ein bisschen Loft und viel Verwaltung. Blaugrau, bedrückend. Die Dachschrägen sorgen für ein Gefühl von Enge, die Fensternischen lassen Licht in die gedämpfte Atmosphäre dringen. Vereinzelt stehen zurückgelassene Büromöbel, hüfthohe Aktenschränke und Normschreibtische herum. Die Oberflächen der Funktionsmöbel erinnern an die Wandschränke der Villa03 in Würzburg. Die Etage besteht wie das Erdgeschoss aus einem L, das aber links neben der Treppe durch eine Glasabtrennung mit Glastür komplett unterteilt wird. Zudem wurde zentral neben der Treppe noch eine verglaste Kammer als Besprechungsraum (ca. 8 qm) eingebaut, die von allen Seiten einsehbar ist. Diese Kammer sollte vermutlich ein Platz- und Lichtproblem für Besprechungssituationen lösen. Hier sitze ich an mehreren Tagen für jeweils 30 Minuten. Ich fühle mich eingesperrt, denn der Blick geht viel weiter als das Ohr. Man kann das ganze Geschehen auf der Etage beobachten, kaum ein Klang dringt herein. Hier drinnen klingt alles dumpf, man ist abgeschnitten vom Gesamten. Die eigenen Worte werden durch das Glas und den Teppich unangenehm hohl gefärbt. Ganz am Ende des L-Teils befindet sich ein Serverraum, eine kleine, mit Tür verschließbare Kammer. Auf der anderen, kurzen Seite des L sieht man durch die Glasabtrennung hindurch zwei Türen. Dahinter befinden sich ein Raum mit einer großen Klimaanlage und eine Dachkammer ohne erkennbaren Nutzen. Betätigt man den Schalter der Klimaanlage, ertönt ein ohrenbetäubender Lärm der Maschine und pumpt im oberen

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Stockwerk weithin vernehmbar Luft durch ein offen im Giebel angebrachtes Rohrsystem, so präsent, dass man daneben kein anderes Geräusch mehr vor Ort hören kann. Man kann dann bei geschlossenen Fenstern atmen und die unter dem Dach ab mittags schwüle Atmosphäre wird erträglich heruntergekühlt, gleichzeitig dröhnt es wie aus 5000 Fönen. Ich sitze eine Weile in den verschiedenen Winkeln des Obergeschoss-L. Ehemalige Kaffee-Küche, Büronischen. Ich öffne die Fenster und höre eine Stunde dem Innenhof zu; dann die andere Seite, Straßenklänge, hier schwächer, weil es nur ein Dachfenster zur Straße gibt. Und immer wieder die Glocken der Altstadt und die Menschen auf dem Weg in den Park. Ich mache Audio-Aufnahmen der verschiedenen akustischen Szenen und höre diese mit dem Kopfhörer als Begleiter auf zwei Kurzreisen nach Deutschland ab. Dieser solide Ort liegt in der Mitte der Stadt und ist gleichzeitig ein Versteck, ein leerer Fleck auf der Karte. Ein Nicht-Ort. In ihm resonieren die Klänge der Stadt, sie dringen in ihn ein, hallen in ihm wieder, durch seine unterschiedlichen Materialien und Durchlässe gefiltert, und vergehen. Die Sauraugasse 4 ist wie der Corpus eines seltsamen Instruments. Wenn ich morgens das Gebäude betrete, schnippe ich mit den Fingern im Eingangsbereich, im Erdgeschoss-L an den Enden und im Knick und den angrenzenden Räumen und den beiden Toilettenräumen (Damen, Herren), ich stampfe hier und da mit dem Turnschuh (bei der Arbeit immer derselbe) und die Antworten sind immer vertrauter. Ich verstehe, durch welche Durchlässe und Türspalten die Klänge in andere Räume dringen. Ich experimentiere mit halb geöffneten Fenstern zu verschiedenen Tageszeiten, notiere die akustischen Veränderungen und vermerke die verschiedenen verbauten Materialien im Grundrissplan. Im Gegensatz zur Villa 03 in Würzburg, die klein, eng und starr wirkt und wenig verschiedene Außenklänge und wenig Innenraumklänge hat, gibt es hier eine äußerst breite Palette von Klängen und Eigenschaften, an die ich mich langsam gewöhne, die ich als Gesamtstimmung nach einer guten Woche des reinen Hörens erfassen kann.« (Aufzeichnung zu Sauraugasse 4, Graz)

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Abbildung 4: Innenraum, Sauraugasse 4, Graz

Quelle: © Nico Bergmann

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Bereits von Anfang an notiert der Komponist seine Erfahrungen in einer Art Logbuch, wozu auch handschriftliche Skizzen des Gebäudegrundrisses zählen, in denen dann die Lautsprecherpositionen eingetragen werden (Abb. 5). Die Position der Lautsprecher ist wichtig, wenn anschließend sowohl die zuvor aufgenommenen Eigengeräusche als auch die künstlich erzeugten Geräusche in die Räume gespielt werden, um ihr Klangverhalten kennenzulernen: »Die Lautsprecherpositionen ergaben sich zunächst aus sehr einfachen Beobachtungen und Mutmaßungen: Hallverhalten der gekachelten drei Toilettenräume oder Klangfärbung durch die hölzernen Wandschränke. Ich spiele selbstähnliche2 Klangsequenzen im oberen Stockwerk und im Erdgeschoss sowie im Keller, mache A/B/C-Vergleiche, ich verschiebe Rhythmuspattern durch die Räume, ich verschiebe die Lautsprecher, verändere deren Ausrichtung. Ich stelle auf der Feldseite Lautsprecher auf, die in das Gebäude hinein spielen. Ich teste verschiedene Klangmaterialien, Lautstärken, geöffnete, angelehnte und geschlossene Fenster mit verschiedenen Lautsprecherausrichtungen und -konstellationen. Und immer wieder gehe ich die Räume ab, um die Absorptionseigenschaften des Baus und der Materialien besser zu verstehen. Am Anfang der dritten Woche fixiere ich die Lautsprecheraufstellung.« (Aufzeichnung zu Villa03, Würzburg)

Abbildung 5: Skizze der Lautsprecherpositionen

Quelle: © Nico Bergmann

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Es handelt sich hier um Mutationen von Klängen, die aus demselben Grundmaterial entstanden sind.

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Abbildung 6: Lautsprecherposition, Sauraugasse 4, Graz

Quelle: © Nico Bergmann

Je nach Gebäudecharakter und dessen akustischem Klangeindruck entsteht schließlich aus der auditiven Befragung der Räume ein idealer (subjektiver) Ort, von dem aus der Klang der Architektur auf besondere Weise gehört werden kann. Dieser Ort nennt sich Abhörpunkt und ist ein vom Komponisten gesetzter und damit subjektiver, weil auf seiner Hörerfahrung und seinem Höreindruck basierender Ort im Gebäude. Dieser Ort kann anschließend vom Publikum eingenommen werden, bleibt aber als Hörpunkt optional. Das Gebäude kann auch ergangen werden, das heißt der Zuhörer ist frei in der Wahl der Positionen, die er in den Räumen einnehmen möchte: »Und immer wieder, beim Wechsel zwischen dem oberen Stockwerk und dem Erdgeschoss, komme ich an dieser Ecke auf der mit Teppich überzogenen Treppe vorbei. Man läuft von beiden Seiten immer auf eine Wand zu und biegt dann ab. Am Ende der zweiten Woche im Bus zurück in die Stadt wird mir dann klar: wenn ich mich dort umdrehe und in die Ecke stelle, höre ich links mehr unten und rechts mehr oben. Sehr einfach. Am nächsten Morgen sitze ich auf dem Teppichboden in der Ecke des Treppenaufgangs. Ich habe meinen Abhörpunkt gefunden. (Aufzeichnung zu Villa03, Würzburg) Durch die Erfahrungen aus Würzburg sensibilisiert beschäftige ich mich sehr früh mit der Treppe, die Unter- und Obergeschoss verbindet. Sie ist aus Beton, offen und eine natürliche, akustische Brücke im Raumsystem der beiden Etagen. Steht man oben am Absatz, kann man sowohl die akustischen Ereignisse auf der oberen Etage als auch die aus den unteren Räumen hören. Nach der ersten Woche steht bereits fest, dass ich auf dem Absatz

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den Abhörpunkt für die Komposition fixieren möchte. Hier baue ich dann auch für die folgenden Raumbefragungen die Audiotechnik und das Laptop auf.« (Aufzeichnung zu Sauraugasse 4, Graz)

Abbildung 7: Abhörpunkt, Sauraugasse 4, Graz

Quelle: © Nico Bergmann

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Während in den beiden ersten Produktionen, Villa03 und Sauraugasse 4 jeweils solche Abhörpunkte existierten, bot sich in Murau eine andere Situation: Die Alte Gerberei wies dagegen so vielschichtige und unterschiedliche Klangeigenschaften auf, dass die Besucher sich im Gebäude bewegten und die Klangräume gehend wahrgenommen haben. Dennoch installierte der Komponist an mehreren ausgewählten Orten Sitzbereiche zum Verweilen.

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KOMPOSITORISCHE

ANTWORT

Durch die vom Komponisten durchgeführte Raumbefragung wurde neben dem vorgefundenen Klangmaterial noch weiteres Material durch das Testverfahren entdeckt beziehungsweise generiert. Mittlerweile entwickelten sich aus den verschiedenen Software-Werkzeugen standardisierte Anwendungen, um Gebäude dieser Art auf ihr Klangverhalten und ihre akustischen Eigenheiten hin zu testen. Der bei keine Ahnung von Schwerkraft verwendete Werkzeugkasten beinhaltet verschiedene in SuperCollider 3 geschriebene Programme, mit denen man das Gebäude akustisch erkunden kann: zum Beispiel mehrkanalig abspielbare Klangpartikel-Ketten (bursts) oder tiefe kurze Pulse zur Erfahrung der Halligkeit von Gebäuden. Zudem lassen sich so je nach Situation Vibrationen von Türen oder losen Blechen provozieren, deren Geräusche eventuell in eine spätere Komposition mit einfließen können. Ebenfalls im Werkzeugkasten befindet sich ein Generator für einfaches weißes Rauschen, das dann auf einem Lautsprecherkreis in verschiedenen Geschwindigkeiten bewegt werden kann, sodass man das Absorptionsverhalten des Gebäudes auf dem Weg vom jeweiligen Lautsprecher zum Abhörpunkt kennen lernt. 3 Ein anderes Werkzeug-Patch erzeugt Klänge, die an ein Einritzen mit einem spitzen Gegenstand erinnern. Auf diese Weise kann das Gebäude an der jeweiligen Lautsprecherposition markiert werden. Die so erzeugten Klänge tragen dann die akustischen Informationen über Material, Entfernung, Raumgröße bis zum gewählten Abhörpunkt. Ferner werden bei der Arbeit entwickelte Software-Templates zum Arrangieren von Klängen und für die Klangabstimmung mit Equalizern in den einzelnen Kanalzügen der Mehrkanalausgabe verwendet. So können Klangatmosphären und Stimmungen schnell arrangiert, gemischt, getrennt und in Schleife gespielt werden. Wenn jetzt ein

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Lässt man ein kontinuierliches Signal auf einem Lautsprecherkreis im Tonstudio rotieren, wird es klanglich kaum verändert. Verteilt man diesen Kreis auf eine Folge von angrenzenden Räumen, verändert sich das gleiche Signal beim Wandern durch die Räume aufgrund der baulichen Eigenschaften.

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Hörender die eigene Abhörposition durch Ortswechsel verändert, erfährt er etwas über die konkreten raumspezifischen Einflüsse, die sich auf die Klänge auf dem Weg zum ursprünglich gewählten Abhörpunkt auswirken. Diese so gewonnen Materialfülle bildet die Grundlage oder besser: das Reservoir, aus dem die kompositorische Antwort auf die akustische Befragung formuliert wird. Hierzu gibt es eine vorher definierte Struktur, die den Handlungsrahmen markiert und aus dem anfangs festgelegten Konzept zur Reihe keine Ahnung von Schwerkraft hervorgeht. Vier spezifische Umgangsweisen sind hier denkbar: 1.

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3.

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Einbeziehung der akustischen Gegebenheiten und Verwendung ortspezifischer Klänge: zum Beispiel Straßenbahnklänge bei geöffneten Fenstern und Tram-Fahrplan als Zeitachse für die Makrostruktur der Klangorganisation, Trittschall von Passanten, Aufzugsgeräusche, Lüftungs- und Heizungsschwebungen, Entladungsknacken elektrischer Lampen, Windgeräusche im Gebäude. Aber auch Klänge die assoziativ mit dem Ort verbunden sind (geräuschauffällige Gebäude in der Nachbarschaft, Fabriken etc.) können zumindest als Ausgangsmaterial dienen. Modifizierung ortspezifischer Klänge: z.B. die Filterung aufgezeichneter Klänge, sodass bestimmte Rhythmen (bei Schritten) übrigbleiben, oder Schichtung und Harmonisierung sowie zeitliche Dehnung oder Verdichtung von Klangereignissen. Spatialisierung von Klängen im Gebäude: zum Beispiel durch zeitlich abgestimmte Sprünge von Klangereignissen durch unterschiedliche Räume oder Bildung verschiedener Klanginseln mit verschiedenen Dichten und Ausbreitungen im Gebäude. Das heißt Lautsprechergruppen mit ähnlichen Klängen scheinen zu korrespondieren und werden so von anderen Gruppen mit anderen Klängen unterscheidbar. Dichten können durch zeitliche Stauchung von Klangereignissen erzeugt werden, Ausbreitungen durch entsprechende Anordnungen von Lautsprechergruppen im Gebäude. Völlige Verweigerung gegenüber akustischen Gegebenheiten und ortspezifischen Klängen: zum Beispiel Einbau einer ortsfremden Klanglandschaft, die rein elektronisch erzeugte Klänge verwendet; oder ortsfremde Klänge, die durch ihre Gegensätzlichkeit zu den ortspezifischen Klängen einen Assoziationsraum eröffnen.

Welche der hier aufgeführten Haltungen der Komponist gegenüber dem Material einnimmt, hängt unter anderem mit der Art des Gebäudes, seiner Umgebung und

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den dort entstehenden Atmosphären und akustischen Eindrücken zusammen. An dieser Stelle erfolgt ein vom subjektiven Höreindruck des Komponisten geprägter Verarbeitungsprozess des Klangmaterials: »Nach den ausführlichen Raumbefragungen und anschließenden Materialtests stand für mich fest, dass ich hier die Möglichkeit hatte, alle vier Positionen gegenüber dem Gebäude einzunehmen und diese im Vergleich zu erleben. Die Klangsituation vor Ort besteht aus 7 prominenten Elementen: Die Kirchenglocken in der Umgebung, die vorbeifahrenden Autos auf dem Weg von oder zu der Tiefgarage, die Passanten auf ihrem Weg in den Stadtpark, das knarzende Gebälk unter dem Dach, der knackende Holzboden sowie das Knacken der Lampen am Abend und die Geräusche aus dem Innenhof, in dem Autos parken und sich die Bewohner der benachbarten Gebäude unterhalten. Je nach Wochentag und Witterung heult der Wind um das Dachgeschoss und die Konzertklänge von den Kasematten am Schlossberg wehen in Fetzen herüber. Und jeden Samstag um 12 Uhr der Feueralarmtest in der ganzen Stadt. Ich erarbeite zunächst drei akusmatische Gruppen von Klangsituationen: Erstens Atmosphären, die sich an den Umgebungsgeräuschen des Gebäudes orientieren, aber nicht auf den gemachten Aufnahmen beruhen, sondern synthetisch erzeugt wurden. Zweitens perkussive Burstverkettungen, die zunächst als Raumanreger und später als Raummarkierungen eingesetzt werden können, um Koordinaten im unsichtbaren Raumsystem festzusetzen. Und drittens vom Umgebungsklang unabhängige Drones, die als Raumfüllungen, skulpturale Grundmaterialien für die Raumschwerpunktverschiebungen und zur Raumfärbung dienen. Die erste Gruppe wird häufig am Lautstärkepegel der Außengeräusche angelegt, um eine Art Hülle um den Ort zu legen, die unmerklich in ihrer Dicke variiert werden kann. Verschiedene Hüllen können eine Grundstimmung des Gebäudes erzeugen und zur teilweisen Abfederung der unkontrollierbaren Ereignisse auf der Straße und im Innenhof dienen. Fällt so eine Hülle aus, dringen die Außengeräusche stärker, zum Teil unmittelbar ein. Dann fällt der Ort zusammen und das Ohr stürzt aus dem Gebäude. Wird diese Grundstimmung lauter, wird der Raum enger und so können dichtere Klang- und Aufmerksamkeitskonzentrationen im Gebäude erzeugt werden. Die perkussiven Teilchenketten der zweiten Gruppe können in der Ereignisdichte zu Wolken gesteigert werden und sorgen für Konzentrationsballungen, die wiederum von Drones durchdrungen und geschluckt werden können. Fallen die harmonischen Elemente wieder weg, bleibt ein Skelett, das in Einzelereignisse zerfallen kann. In diesem Zustand – durch die verschiedenen Distanzen der 27 Lautsprecher zum Ohr mit dem natürlichen Raumhall spielend (performatives Hören) – lädt es zu einer Wanderung der Wahrnehmung durch das Gebäude ein.

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Die dritte Gruppe wird als Fremdkörper im Raumgefüge etabliert, bewegt, geschichtet und wieder verjüngt. So ist es möglich, das Gebäude in klar definierte Klangzonen aufzuteilen, die sich dann durchdringen und wieder in den Grundstimmungen des Gebäudes auflösen können.« (Aufzeichnung zu Sauraugasse 4, Graz)

Abbildung 8: Abhörpunkt, Alte Gerberei, Murau

Quelle: © Nico Bergmann

D IE W AHRNEHMUNG : B EWEGUNG , ANEIGNUNG , I NSZENIERUNG »Nicht immer verstehe ich selbst, woran ich arbeite. Hätte ich es verstanden, müßte ich daran nicht mehr arbeiten. Doch ich lasse den Zuschauer [Zuhörer; S.R.] an diesen Erfahrungen und Entdeckungen teilhaben.« (Goebbels 2002c, 139)

In der Gebäudeklangkomposition Sauraugasse 4 zeichnet sich bereits ab, was schließlich in der alten Gerberei in Murau von Anfang an realisiert wurde: eine Aufteilung des Gebäudes in Klangzonen. Zwar war bislang der ›ideale‹ Abhörpunkt als fixierter Ort das Wahrnehmungszentrum der ersten beiden Gebäude, so wurde in der Sauraugasse 4 bereits eine freie Bewegung des Hörers durch das Gebäude ermöglicht: »Gefiltert durch die Eigenschaften des jeweiligen Raums und beeinflusst durch die Position und Winkel der Lautsprecher verändert sich der Klang des Klangereignisses beim Glei-

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ten durch das Gebäude. Für einen kurzen Moment, wenn das Ereignis am Hörer vorbei schwebt, wird die Situation höchst privat. Dann entfernt sich dieses Ereignis, das, in ständiger Wiederholung im Raumgefüge des Gebäudes entschwindend, eine dünner werdende Linie in den Raum zeichnet, zu einer Erinnerung wird, dann aber wieder näher kommt, auftaucht, ankommt und wieder entschwindet. Im Studio wäre so etwas eine durch perkussives Klicken markierte Kreisbewegung, gleichmäßig, einheitlich. In einer Gebäudekomposition wird hieraus ein geisterhafter gleitender Wurm, der sich in Hallfahnen kleidet, verweht und wiederkehrt und dann in einer Atmosphäre seiner eigenen Resonanzen verschwindet.« (Aufzeichnung zu Sauraugasse 4, Graz)

Die Alte Gerberei mit ihrem angrenzenden Wohnhaus ist hingegen ein Ort, der aufgrund der architektonischen und damit auch akustischen Gegebenheiten eine Aufteilung in Klangzonen erforderlich machte. Das Gebäude wird eingeteilt in a) Keller, b) Wohnbereich und c) Werkstatt. Bereits beim Betreten des Gebäudes fällt auf, dass diese drei Bereiche völlig unterschiedliche Raumatmosphären mit sich bringen. Der Keller, feucht, grobe Baustoffe, Steinböden, Materialien wie Sand, Felle, Salz, Gerbstoffe etc. wurden direkt auf dem Boden ausgeschüttet und gelagert. Die Werkstatt im ersten Geschoss dagegen ist strukturierter, übrig gebliebene Maschinen(-teile) erinnern an das Handwerk. Eine Kammer als Wohnung für den Gesellen weist auf den angrenzenden Wohnbereich hin, der sich auf demselben Stockwerk befindet. Hier entsteht der Eindruck, die Bewohner hätten soeben das Haus verlassen: Tapeten an der Wand, Linoleum in der Küche mit Teilen der alten Küchenzeile. Angrenzend daran die mit Holzboden versehenen Wohn- und Schlafräume der Handwerksfamilie. Ein gänzlich anderer Eindruck als noch im Keller und der Werkstatt. Man hat das Gefühl, zwei unterschiedliche Welten zu betreten. In der Anna-Neumann-Straße in Murau, der Sitz der Gerberei, wird eine Klanginstallation geschaffen, die diese sehr spezifischen Atmosphären und akustischen Landschaften der Räume aufnimmt und intensiviert. Als würden die Klänge und Geräusche in den Wänden verschwinden beziehungsweise aus diesen hervortreten, verschmilzt die Installation mit den Räumen. Die Besucher wandern durch das Gebäude, den Klängen hinterher oder vorneweg. Man kann nicht sagen, wer wen bei seiner Bewegung durch die Räume begleitet und mitnimmt, die Zuschauer die Klänge oder umgekehrt. Eine Art Klangchoreografie entsteht, als Resultat aus zeitlich und räumlich strukturierten Prozessen. Der Klang wird durch die Räume bewegt: einerseits vom Komponisten inszeniert und gesetzt, andererseits im Prozess der Wahrnehmung auch akzidentiell beziehungsweise kontingent und an die jeweilige individuelle Klangwahrnehmung der Hörenden geknüpft. Hier zeigt sich besonders eindringlich, dass Klang, bezie-

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hungsweise Klangwahrnehmung immer auch performativ ist. Klangwahrnehmung steht immer in einem »Wechselverhältnis von Klingendem und Hörendem […]. Der Raum im Sinne des Ereignis- und Aufführungsraums […] ist dabei ein Medium für Klang, das den Klang einerseits beeinflusst, und das andererseits von ihm (von Klang) beeinflusst wird.« (Brüstle 2009, 114) Durch die Installation der akustischen Atmosphären entstehen Räume in den Räumen, die in zwei Richtungen wirken: Sie können einerseits die reale Architektur überdecken, um daraus neue, durch Geräusche und Klänge inszenierte Räume zu schaffen. Andererseits aber, und hier liegt die besondere poetische Kraft der Gebäudekomposition in der Alten Gerberei, gelingt es Gerriet K. Sharma in der Klanginstallation die Räume zu verstärken, gleichsam zu intensivieren und ihren Charakter akustisch in die Wände einzuschreiben, als würden sie selbstverständlich dazugehören. Klang und Raum prägen sich gegenseitig im Prozess der Bespielung. Beobachtet man die Besucher in dem Gebäude, dann sind sie fasziniert von den unterschiedlichen Welten, gehen schweigend hin und her, vom Keller in den ersten Stock, hinüber zum Wohnbereich und wieder durch die lange Treppe zum Eingangsbereich zurück. Die Architektur des Gebäudes und zwei Treppen machen es möglich, einen Rundgang durch das Gebäude zu machen. Es sind mehrere Zugänge zu den Gebäudeteilen vorhanden, sogar über den Garten, durch den man von der Werkstatt in den Wohnbereich überwechseln kann. Hinzu kommt, dass die Besucher selbst durch ihr Verhalten Geräusche verursachen, die sie unweigerlich mit dem Gehörten in Beziehung setzen, ihre eigenen Geräusche und die der anderen Besucher. Es entsteht ein »performativer Prozess im Sinne eines Kreislaufs von Klangerzeugung und Wahrnehmung von Klang« (ebd., 123). Dies zeigt auch, dass sich Raumakustik nur zu einem bestimmten Grad kontrollieren lässt und immer auch mit den Umgebungsgeräuschen konfrontiert bleibt.

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Abbildung 9: Lautsprecherporsition, Alte Gerberei, Murau

Quelle: © Nico Bergmann

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D IE D OKUMENTATIONEN Dem ästhetische-künstlerischen Ansatz zu keine Ahnung von Schwerkraft liegt ein Konzept der Aneignung zugrunde. Aneignung dessen, was die architektonischen Gegebenheiten freigeben: Geräusche und Klänge, akustische Charaktereigenschaften, Farben, Gerüche, Materialeindrücke etc. Und in der Aneignung liegt die Möglichkeit der Umformung, der Neuinszenierung, der Schaffung eigener Räume, die aus der subjektiven Wahrnehmung des Vorhandenen hervorgegangen sind. Der künstlerische Ansatz ist aber auch ein forschender: Es findet eine serielle, also wiederholbare Auseinandersetzung mit einer bestimmten Rahmung (einem Gebäude und seinen jeweiligen architektonischen Räumen) statt. Es werden die akustischen Qualitäten der Räume gehört, vermessen, analysiert und mit den Erfahrungen vorhergehender Räume verglichen. Die Ergebnisse fließen in die spezifische Form der Gebäudeklangkomposition ein, die eine ästhetische Umsetzung und Verarbeitung des Gehörten in einer Komposition ist. Der Komponist als Forscher hat hier jedoch nicht zum Ziel, zu zeigen, dass sich die Welt in seinem Experiment verhärtet, sich in ihrem so sein zeigt. In dieser Versuchsanordnung geht es vielmehr um die Frage, ob die Welt so sein muss oder ob sie auch anders sein kann. Lässt sich eine alternative Wirklichkeit konstruieren? Für diese Art von Experiment ist nicht Voraussetzung, dass sich der Forschende in einen objektiven Rückzug zur Experimentanordnung begibt. Vielmehr betont der Philosoph Alfred Nordmann in Bezug auf das künstlerische Experiment, »dass es dabei eigentlich um die Hingabe an das Ereignis geht und um die überraschende Wirkung, die sich aus dieser Hingabe ergibt.« (Nordmann 2009, 18) Der Experimentierende ist Teil der Inszenierung, er hört – und setzt sich augenblicklich in Beziehung mit dem zu erforschenden Gegenstand. Im Mittelpunkt stehen die Analyse von Erfahrungsmustern des Hörens eines architektonischen Raums und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, diese Erkenntnisse ästhetisch in einer Komposition im Raum zu verarbeiten. Der Erkenntnisgewinn der Kunst zeigt sich im Prozess des Machens, im Werk selbst in der künstlerischen Produktion. Wie aber vermittelt sich das durch die Kunst produzierte Wissen, das sich qua ihres Wesens nach einer Vermittlung über das Wort und über eine begrifflich-theoretische Weise verschließt? Nimmt man künstlerische Forschung ernst, hat man sich auf die spezifische Performativität ihrer künstlerischen Praxis einzulassen, anstatt auf die sprachlich-begriffliche Übersetzung des erforschten Wissens zu setzen. Künstlerische Forschung manifestiert sich im Material, in der körperlichen Aktion, den institutionellen Rahmenbedingungen, im Prozess des Machens, in der Produktion.

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»Gerade künstlerische Forschung lässt die diskursive Praxis konsequent als ein Zusammenspiel von begrifflichem Denken, sprachlichen Äußerungen und einem körperlichen Handeln mit Dingen, Materialitäten oder Institutionen sichtbar werden. Sie praktiziert die Theoriebildung durch Performativität oder doing theory und trägt damit – wie die Wissenschaftstheorie und -geschichte – zur Veränderung unseres Verständnisses von Forschung und Erkenntnisgewinn bei.« (Bippus 2011, 105)

Um die künstlerische Arbeit keine Ahnung von Schwerkraft und ihr erkenntnisgewinnendes Potential wahrnehmen zu können, muss man sich als Hörender auf die Installation einlassen, und zwar selbst performativ, als Teil des Ganzen, in der Bewegung. Man kann sich selbst in Beziehung zum Raum und zum Gehörten setzen und aufmerksam wahrnehmen. keine Ahnung von Schwerkraft versteht sich als Ansatz für eine Kompositionsweise, die im Dialog mit ihren Bedingungen entsteht und besteht und zwar sowohl den musikalischen als auch medialen, organisatorischen, technischen und rezeptorischen. Es geht um den Lernprozess und die Verfeinerung der kompositorischen Möglichkeiten im Rahmen der hier selbst gestellten Bedingungen. Mit keine Ahnung von Schwerkraft soll eine flexible und anpassungsfähige künstlerische Praxis auf der Reise erarbeitet werden. Das Sich-Aussetzen und immer wieder Zurechtfinden gehört als Herausforderung des Alltags im und um das jeweilige Gebäude bei der Etablierung dieser künstlerischen Technik dazu. Der Kontakt zum Publikum vor Ort ist wichtig, um das Werk und die verwendeten Begrifflichkeiten an der Außenwahrnehmung zu überprüfen. Die gesamte Produktionsphase einer Gebäudeklangkomposition wird im Anschluss ausführlich dokumentiert. Diese Dokumentationen sind zwar sprachliche und bildliche Teile des Projekts, jedoch nicht als Übersetzung der künstlerischen Arbeit zu verstehen, sondern als ein weiterer integrativer Teil ihrer Performativität. Auch wenn die konkrete Arbeit an der Dokumentation der Komposition zeitlich nachfolgt, beginnt sie inhaltlich bereits mit dem gesamten Produktionsprozess. Sie entsteht in der Auseinandersetzung der Ensemblemitglieder mit unterschiedlichen Themen, die für die Gebäudekomposition wichtig sind: Zugang zum Gebäude, Akustik, klangliche Atmosphären, Raumempfinden und Raumwahrnehmung, Baugeschichte, Architektur, soziale Situation, Visualität und Raumästhetik, Aufnahme- und Dokumentationsmöglichkeiten, technische und organisatorische Gegebenheiten, Kommunikation mit unterschiedlichen Akteuren vor Ort etc. Und die Auseinandersetzung mit diesen Themen geschieht zirkulär, weil sich die vorläufigen Ergebnisse und Wissensstände immer wieder gegenseitig beeinflussen, neue Erkenntnisse schaffen und so zusammenwachsen. Künstlerisches Wissen vermittelt sich nicht über das Wort und eine begrifflich-

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theoretische Darstellung, wie sie aus herkömmlichen Praktiken der Wissenschaft bekannt ist: »Das Verlangen, anders zu denken, macht die Einführung anderer Darstellungsformen erforderlich.« (Busch 2011, 77) Bestandteile der Dokumentation sind unterschiedliche Artefakte, die im Zuge der Produktion entstanden sind: Texte zur historischen Geschichte, zur ästhetischen Umsetzung des Projektes, zur Produktionsweise sowie ausführliche Bilddokumentationen des Arbeitsprozesses, Skizzen der örtlichen Lage und der räumlich-architektonischen Gegebenheiten des Gebäudes und nicht zuletzt Tonmaterial, Fragmente der Forschung und auskomponierte Teile. Die Dokumentation ist damit ein Teil des Gesamtgefüges aus der Arbeit vor Ort (Begehung/Befragung/kompositorische Antwort), der Bilddokumentation, den Publikumspräsentationen (Präsentationen/Installationen), den unterschiedlichen Hintergrundrecherchen und der Auseinandersetzung mit Konzeption und Ästhetik. Die Aufarbeitung der Gebäude setzt das gewonnene Wissen erst frei, statt es durch experimentelle Versuchsanordnungen festzustellen. In diesem Sinne ist der Prozess des Machens (künstlerische Produktion) der eigentliche Ort der künstlerischen Forschung, indem er Erkenntnisprozesse in Gang setzt, prinzipiell ins Offene verweist und so auch Erkenntnisse in der Darstellung miteingeschlossen werden, die im Vorhinein nicht absehbar waren (vgl. ebd.). keine Ahnung von Schwerkraft besitzt dieses Potential der Forschung durch die serielle Herangehensweise und die Arbeit mit dem Vorgefundenen. Der Künstler nähert sich den Gebäuden mit einem standardisierten Frage-AntwortSpiel. Allmählich, von Gebäude zu Gebäude, lassen sich die Fragen genauer und direkter stellen. Auf dieser Basis können Eigenschaften des Materials, sowie Raum und Zusammenspiel mit der Umgebung gelesen werden. Durch die Werkreihe entsteht ein implizites künstlerisches Wissen, ein Vokabular, das zur Basis auch anderer Projekte werden kann. Im Beispiel von keine Ahnung von Schwerkraft aber bleibt die Weiterverarbeitung und Aneignung des Materials im Vordergrund, indem sich die Ergebnisse des Forschungsprozesses – künstlerisch bearbeitet – in einer Choreografie des architektonischen Klangmaterials manifestieren.

L ITERATUR BIPPUS, Elke (2011): »Eine Ästhetisierung von künstlerischer Forschung«, in: Texte zur Kunst, 82, 6, S. 98-107. BRÜSTLE, Christa (2009): »Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten«, in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hrsg.): Kommunikation – Ge-

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dächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spacial Turn«. Bielefeld: transcript, S. 113-129. BUSCH, Kathrin (2011): »Wissensbildung in den Künsten – Eine Philosophische Träumerei«, in: Texte zur Kunst, 82, 6, S. 98-107. GOEBBELS, Heiner (2002a): »Musik entziffern: Das Sample als Zeichen«, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Berlin: Henschel, S. 181-185. GOEBBELS, Heiner (2002b): »Material, Phantasie und Einflußangst«, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.). Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Berlin: Henschel, S. 209-216. GOEBBELS, Heiner (2002c): »Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste«, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.). Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Berlin: Henschel, S. 135-141. NORDMANN, Alfred (2009): »Experiment Zukunft – Die Künste im Zeitalter der Technowissenschaften«, in: Anton Rey/Stefan Schöbi (Hrsg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven (= SubTexte, 03). Zürich. Zürcher Hochschule der Künste, S. 8-22. STOCKHAUSEN, Karlheinz (1987): Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1. Ostfildern: DuMont.

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Bewegung als Material in Antje Pfundtners RES(E)T (2008) M AIKE V OLLMER

E INLEITUNG Im Jahr 2008 produziert die Hamburger Choreografin Antje Pfundtner ein Tanzstück mit dem Titel RES(E)T. Gemeinsam mit zwei Tänzerinnen bringt sie skurrile Bilder auf die Bühne, so auch jenes einer ›gerupften Tänzerin‹: Auf einem Stuhl sitzt Antje Pfundtner selbst. Die Tänzerin Jenny Beyer legt sich über ihre Knie. Sie trägt ein Shirt, unter welches sie zuvor schwarze Federn gestopft hat. Rücken- und Bauchpartie sind prall gefüllt, teils fallen die Federn heraus und verteilen sich auf dem Bühnenboden. Antje Pfundtner beginnt die Federn aus dem Shirt langsam, aber mit einer energischen, entschlossenen Armbewegung unter dem T-Shirt herauszuziehen. Die Tänzerin gleicht einem Huhn, das gerupft wird, bevor es für die kulinarische Zubereitung geeignet ist. Antje Pfundtner rupft stetig, mit gleichmäßigen Bewegungen, sorgfältig. Die Szene endet, als die dritte Tänzerin des Stücks, Dani Brown, in einer Geste von purem Aktionismus einen Laubsauger zur Hand nimmt und unter dem unverwechselbaren tosendem Lärm dieses Geräts die entrissenen Federn von der Bühne saugt. Die ›gerupfte Tänzerin‹ kann als Metapher für die Hingabe und Verausgabung von Tänzern in Produktionsprozessen gelesen werden. In Probenprozessen entwickeln Tänzerinnen und Tänzer mithilfe von Improvisation ihre Ideen und Bewegungssequenzen. Sie produzieren Material, um dieses für die Entwicklung einer Choreografie bereitzustellen und bleiben, so wäre dieses Bild bei Antje Pfundtner dann zu verstehen, verausgabt und nackt zurück wie ein gerupftes Huhn. Wieso kann hier von einer Verausgabung der Tänzerin in der Tanzproduktion gesprochen werden? Die Ursache liegt, so wird hier angenommen, im spezifi-

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schen Material tänzerischer Produktion. Dieses Material ist als solches nie einfach gegeben, sondern muss stets durch den (tänzerischen) Körper hervorgebracht werden. Das spezifische Material tänzerischer Produktion ist Bewegung.1 Nicht jede Bewegung ist Tanz – erst wenn Bewegung zum Material der Produktion wird, ist sie gleichzeitig auch Tanz. Tanz, so ließe sich sagen, ist Bewegung als Material. Abbildung 1: Gerupfte Tänzerin, Antje Pfundtner, RES(E)T, 2008, Hamburg

Quelle: © Simone Scardovelli

Das Material des Tanzes, und damit die Bewegung als Material, wird tanzwissenschaftlich vorwiegend aus rezeptions- und aufführungsästhetischer Perspektive behandelt. Der Fokus liegt hier zumeist auf der, zum Teil als problematisch angesehenen, Immaterialität von Bewegung: Beispielsweise entzieht sich Bewegung in ihrer ephemeren Verfasstheit der Verschriftlichung und Aufzeichnung

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Man muss wohl so allgemein bleiben und den Tanz nicht auf die Bewegung menschlicher Körper reduzieren. Auch Dinge können durch ihre Bewegungen Tanz hervorbringen, wofür der Kurzfilm Der Lauf der Dinge von Fischli/Weiss beispielhaft ist: In einer Installation von alltäglichen Dingen, setzt ein Ding das nächste in Bewegung. Es erfolgt eine Kettenreaktion, die einer Choreografie gleicht. Nicht mehr das einzelne Ding erscheint relevant, sondern die Bewegung, die die Dinge erzeugen. Für die Ausführungen sollen jedoch die Dinge außer Acht gelassen und nur der menschliche Körper in Betracht gezogen werden.

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(vgl. Huschka 2004) oder das »Un(be)greifbare« der Bewegung (Wortelkamp 2006, 39) wirkt nach der Aufführung weiter produktiv. Es handelt sich in diesen Perspektiven um Reflexionen über Bewegung, auch über ihre spezifische Materialität (oder Immaterialität), aber nicht über Material im Moment seiner Produktion. Eng an die Problematik des Ephemeren geknüpft, jedoch mit anderer Schwerpunktsetzung, befragt der aktuelle Tanzdiskurs auf theoretischer und künstlerischer Ebene auch die Möglichkeiten der Archivierung von Choreografie und Bewegung. Mit Blick auf das Älterwerden und das Ableben von Choreografen wie Pina Bausch oder Merce Cunningham, die als Ikonen einer ganzen Generation gelten, werden Fragen der Erhaltung der künstlerischen Arbeiten virulent (vgl. Wagenbach 2014).2 Diesen Perspektiven liegt ein Material-Begriff zugrunde, in dem die Beziehung zwischen Künstler und Material zwar mitgedacht wird (der tänzerische Körper als materieller Ausgangspunkt von Bewegung lässt sich nicht wegdenken), aber diese Beziehung wird im Produktionsprozess dort verortet, wo man gemeinhin von »Post-Produktion« sprechen würde: Aufzeichnung, Vermittlung, Archivierung.3 Die Frage nach dem Umgang mit dem Material wird hier nach der Produktion gewichtig. Sie liegt damit jenseits der tänzerischen Praxis in der Probe oder der Aufführung. In den folgenden Ausführungen möchte ich zunächst einen Materialbegriff für den Tanz entwickeln, der sich diesseits, also innerhalb der tänzerischen Praxis verorten lässt. Dieser Materialbegriff findet seine Entsprechung in einer Vor-

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Der amerikanische Choreograf und Tänzer Merce Cunningham starb im Sommer 2009. In seinem Testament verfügte er, dass seine Kompanie nach seinem Ableben noch zwei weitere Jahre eine Abschiedstournee durchführen könne. Danach sollte die Kompanie aufgelöst werden. Pina Bausch verstarb ebenfalls im Jahre 2009. Nach ihrem Tod wurde die Pina Bausch Stiftung gegründet, die sich mithilfe von Tanzwissenschaftlern um die Archivierung kümmert. Für mehr Informationen zum Pina Bausch Archiv vgl. Wagenbach/Pina Bausch Foundation (2014). Das DFG-Sonderforschungsprojekt ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten in Berlin unter Leitung von Susanne Foellmer widmet sich der Entwicklung eines tanzspezifischen Begriffs des Archivs.

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Den Begriff »Post-Produktion« sehe ich kritisch. Ich ziehe einen erweiterten Produktionsbegriff für den Tanz vor, wie ihn Katharina Kelter entwickelt. Sie beschreibt nicht nur Probe und Aufführung als Tanzproduktion, sondern auch jene Prozesse, die sich daran anschließen: Aufzeichnung, Tanzvideoproduktionen, Archivierung. Vgl. hierzu u.a. den Aufsatz in diesem Band.

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stellung von Produktion als Herstellung von Beziehung und stellt das handelnde Subjekt, also den Tänzer, und sein Material in den Vordergrund. In einem weiteren Schritt möchte ich exemplarisch an Antje Pfundtners Tanzstück RES(E)T den Produktionsbegriff weiten und aufzeigen, wie Bewegung als Material durch den Einsatz spezifischer künstlerischer Strategien hervorgebracht wird. Durch die Betrachtung der Strategien verschiebt sich der Fokus vom tänzerischen Subjekt auf die Interaktion von Material(ien) und verändert hierbei auch die Perspektive auf Produktion. In beiden Schritten werden jeweils spezifische Perspektiven auf das tänzerische Material entwickelt. Es handelt sich um eine heuristische Differenzierung. In der tänzerischen Praxis sind beide Vorstellungen von Material komplex miteinander verwoben. Jede einzelne tänzerische Bewegung ist ein Moment der bewussten, kontrollierten Herstellung durch ein Subjekt und ein Moment der Kontingenz oder auch der Handlungsmacht des Materials.

I. Diesseits der tänzerischen Praxis, also innerhalb der Probe und Aufführung, möchte ich einen Material-Begriff vorschlagen, der nicht so sehr auf die Verknüpfung von Material und Materiellem abzielt, sondern Material als einen Handlungs- und Beziehungskontext betrachtet. Zum Material in künstlerischen Produktionsprozessen schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie: »Material […] ist, womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben.« (Adorno 1973, 222)

Was als künstlerisches Material gilt, hängt also nicht, wie man zunächst vermuten möchte, vom Stofflichen, von einer Materie ab, auch wenn es die materielle Beschaffenheit des Tanzes ist, die die Problematik der Archivierung und die Frage nach dem Material des Tanzes in der Tanzwissenschaft entzündet hat. Der Begriff Material bildet keinen Gegensatz zum Immateriellen (dieser Gegensatz wäre das Materielle). Materielles oder Stoffliches kann ebenso zum Material werden wie Immaterielles, wie zum Beispiel Ideen oder Formen. So ließe sich Adornos Gedanke weiterdenken: Material beschreibt jene Beziehung, welche sich im Handeln des künstlerischen Subjekts mit einem (wie auch immer gearte-

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ten) Gegenüber einstellt. Zugespitzt formuliert: Künstlerische Praxis konstituiert ein Subjekt und ein Gegenüber, also eine Beziehung. Diese Beziehung nennt sich ›Material‹. Folgt man diesem Denken, unterscheidet sich das tänzerische Material von anderem künstlerischen Material nicht etwa aufgrund seines ephemeren Wesens. Der Unterschied des tänzerischen Materials zu anderem künstlerischen Material liegt nicht im Materiellen oder Immateriellen, sondern in der spezifischen Beziehung des Tänzers zu seinem Gegenüber. Dieses Gegenüber ist die Bewegung. Wie kann nun die Bewegung im Tanz dem Tänzer gegenübertreten, wie wird Bewegung zu einem Gegenüber? Worin besteht das Gegenübertreten im Tanz? Für eine Antwort auf diese Fragen muss jener Prozess aufgesucht werden, in dem die Materialentwicklung im Tanz stattfindet: die Improvisation in der Probe. Die Materialentwicklung geht aus einer ›Bewegungsrecherche‹ hervor, dem Erforschen und der Untersuchung von Bewegung. Bewegungsrecherche umschreibt die Suche nach den für das Konzept einer Choreografie passenden Bewegungen. Sie zeichnet sich stets durch einen hohen Grad an Improvisation aus. Materialentwicklung setzt dann dort an, wo Improvisation zu einem (vorläufigen) Ende kommt. Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter, und Annemarie Matzke schreiben über die Improvisation: »Erst im Nachtrag – dann nämlich, wenn nicht mehr improvisiert wird, wenn die Improvisation beendet ist und nur noch als Erinnerung oder in Form einer medialen Aufzeichnung existiert – kann sich der Handelnde das, was er hervorgebracht hat, an-eignen, es zu seinem Eigenen machen – und wird dadurch zum Ursprung des Geschehens, zum Subjekt seiner Handlungen.« (Bormann/Brandstetter/Matzke 2010, 13)

Es ist die Erinnerung von Bewegung, die aus der Bewegung ein Gegenüber macht. Aus der zufälligen, spontanen Bewegung wird eine nachvollziehbare, geplante und wiederholbare Bewegung. Die Erinnerung bringt das Gegenüber hervor und lässt jene Beziehung entstehen, die weiter oben als Material bezeichnet wurde. Bewegungserinnerung ist möglich, weil Tänzer aufgrund ihrer Ausbildung und Virtuosität in der Lage sind, Bewegung zu wiederholen. Durch die Wiederholung erst kann auf die Bewegung zugegriffen werden: Sie wird verarbeitet, manipuliert und weitergegeben. Bewegung wird dann zum Rohmaterial tänzerischer Produktion.4

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Als »Rohmaterial« bezeichnet Karl Marx all jene Arbeitsgegenstände, die »bereits eine durch Arbeit vermittelte Veränderung erfahren ha[ben].« Der Arbeitsgegenstand ist

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Bewegung, dieses Material, ist wie kein anderes Material künstlerischer Produktionen an das Subjekt und seinen individuellen Körper gebunden. Es wird durch diesen Körper erst hervorgebracht. So kommt es nicht von ungefähr, dass der tanzwissenschaftliche Diskurs, wie oben beschrieben, vor allem eine problematisierende Perspektive auf das Material des Tanzes einnimmt, in der sich Material und Materielles beziehungsweise Immaterielles vermengen. Nur in der tänzerischen Produktion, also im bewegten Körper, materialisiert sich das Material des Tanzes. Dies ist das Paradox des tänzerischen Materials: Die tänzerische Bewegung wird durch jenen Körper produziert, von welchem sie sich in der Wiederholung ebendieser Bewegung entfernt. Die Reproduktion der Bewegung evoziert einen produktiven Spalt zwischen der Bewegung, dem Subjekt und seinem Körper, der die Bewegung hervorbringt. Bewegung als Material – also Tanz – ist ein andauernder Prozess zwischen Subjektivierung und Ent-Subjektivierung. Diese Verbindung zwischen Körper, Subjekt und Bewegung kann aufgebrochen werden: Entweder indem diese Bewegung schlicht nicht mehr von ebendiesem Körper getanzt wird; zum Beispiel weil ein anderer Körper in einem Prozess der mimetischen Aneignung das Bewegungsmaterial übernommen hat. Denkbar ist auch, dass dieses Material, also diese spezifische Verbindung von Körper, Subjekt und Bewegung nicht ins choreografische Konzept der Tanzproduktion passt und ausgesondert wird. Der Prozess der Subjektivierung und Ent-Subjektivierung endet dann. Brandstetter, Matzke und Borrmann haben gezeigt, dass in der Improvisation das Hervorgebrachte zum Eigenen wird, genau in dem Moment, in dem die Improvisation endet. Hier, also in der Abspaltung der Bewegung vom Körper, wird das Hervorgebrachte aber zum Fremden. Tänzerische Produktion ist dann Verausgabung des tänzerischen Subjekts. Die Tänzerin bleibt lediglich mit der Erinnerung an die Bewegung in ihrem Körper zurück, nackt – wie ein gerupftes Huhn: Sinnbild einer spezifischen Beziehung der Tänzerin zu ihrem Material. Antje Pfundtners RES(E)T ist ein Stück über die Produktion tänzerischen Materials, über den tänzerischen Produktionsprozess und über die Beziehung des Tänzers zu seinem Material. Das Wortspiel im Titel RES(E)T eröffnet dabei plurale Deutungshorizonte, vor denen sich die hervorgebrachten Bewegungen lesen lassen. So können die einzelnen Bewegungssequenzen als Reste, als Überbleib-

»sozusagen durch frühere Arbeit infiltriert« (Marx 2005, 20). Der von Marx verwendete Materialbegriff bezieht sich auf Material im Sinne des Stofflichen. Für den hiesigen Kontext relevant ist jedoch die unauflösbare Relation von Produktion und Material, die er aufzeigt und die auch für tänzerische Produktionsprozesse zu denken ist.

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sel oder auch als Müll aus vorherigen Tanzproduktionen betrachtet werden. Ebenso kann das Stück als Zufluchtsort, als Ort der Ruhe, Pause und Erholung von tänzerischer Produktion, als ›Zwischenspeicher‹ für tänzerisches Material interpretiert werden. Liest man den Titel als Verb, (to) rest oder (to) reset, spielt das Stück den Widerspruch zwischen einem ›Verweilen‹ oder ›Überdauern‹ des Materials bei gleichzeitigem ›Nullen, Löschen‹ oder ›in Grundstellung bringen‹ aus. Das englische (to) reset beschreibt zudem den Prozess des ›wieder in Betrieb Nehmens‹. In diese Deutungsvariante fügt sich auch Antje Pfundtners Beschreibung des Produktionsprozesses ein. In einem Interview mit der Rheinischen Post erläutert die Choreografin das Konzept und den Entstehungsprozess von RES(E)T wie folgt: »Im Theater gibt es den Satz ›Kill your Darling‹. Plötzlich entwickelt sich ein Stück in eine bestimmte Richtung, und man muss sich dazu entschließen, eine Bewegung, eine Requisite, ein Musikstück wieder zu streichen, obwohl man eigentlich daran hängt. Aber nur in meinem eigenen verworfenen Material zu wühlen, war mir zu wenig. Noch spannender schien es mir, darüber in einen Austausch mit anderen Künstlern zu kommen. […] Jeder Schatz, der uns geschenkt wurde, ist auch im Stück zu sehen. Es sind ja oft keine riesigen Ideen gewesen, sondern eher einzelne Assoziationen, Fotos, etwas Schriftliches, etwas Vorgetanztes oder aufgeschriebene Noten.« (Becker 2008, D7)

Durch die Behauptung, verworfenes Material, Überbleibsel und Reste aus Tanzproduktionen wiederaufzunehmen und ihnen einen Ort in der eigenen Produktion zu geben, wirft sie die Frage nach dem Material des Tanzes und seiner Entstehung zuallererst auf. In der Wiederinbetriebnahme dieses Materials zeigt sich zudem eine Kritik am Betrieb des Tanzes (Tanzkritik, Tanzwissenschaft, Tanzförderung etc.) und seiner Präferenz des fertiggestellten Werkes.

II. Bewegung als Material wird in Antje Pfundtners RES(E)T durch Bilder, wie jenes der ›gerupften Tänzerin‹ oder durch die Diskursivierung seitens der Choreografin zum Thema. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass Bewegung als Material, auch ohne thematisch zu werden, durch spezifische Strategien innerhalb des Stückes hervorgebracht wird. Im Gegensatz zur vorherigen Perspektive auf das Material rückt dabei die Beziehung des tänzerischen Subjekts zu seinem Material in den Hintergrund. Der Fokus liegt auf zwei unterschiedlichen Strategien,

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die innerhalb des Stückes das Material des Tanzes entstehen lassen, es als Material hervorbringen

F OUND F OOTAGE C HOREOGRAFIE Ein weißer Bühnenraum, weißer Boden, weißer Hintergrund und die drei Tänzerinnen Dani Brown, Jenny Beyer und Antje Pfundtner selbst, auf einem Stuhl sitzend. Dem Stuhl fehlt ein Bein. Die Tänzerin Dani Brown sitzt auf einem großen Lautsprecher, das Gesicht verschleiert durch eine Perücke, die nicht aus Haaren, sondern aus künstlichen Rankpflanzen besteht. Sie trägt Gummihandschuhe über ihren Händen. – Jenny Beyer steht in der Mitte des Raumes mit dem Rücken zum Publikum, beginnt sich langsam mit gekrümmtem Oberkörper gehend fortzubewegen. Aus dieser schleichenden Bewegung heraus wirft sie sich frontal zu Boden und beginnt auf dem Bauch zu robben. Sie zieht die Knie in Richtung Oberkörper, zieht ihren Körper zusammen und entfaltet ihn wieder, die Arme bleiben unbeteiligt seitlich am Boden liegen. Diese Bewegung zwischen Falten und Entfalten wiederholt sie wieder und wieder, pendelt sich in dieser Bewegung ein. – Antje Pfundtner steht auf und entfaltet eine mehrere Meter lange schwarze Stoffbahn. Sorgfältig breitet sie diese diagonal durch den Raum über den Bühnenboden aus, um ihren Körper dann an einem Ende des Stoffes darunter zu legen. Sie deckt sich bis auf den Kopf mit dem Stoff zu, gleich einem schlafenden, gleich einem leblosen Körper unter einem Leichentuch. – Die auf dem Lautsprecher sitzende Tänzerin streift mit beiden Händen in Zeitlupe die künstlichen Pflanzen aus ihrem Gesicht, wendet ihren Blick langsam auf die immer noch robbende Tänzerin, zurück zum Publikum. Mit erhobenem Arm, mit der Geste eines Redners, der Aufmerksamkeit einfordert, spricht sie in sehr langsamer Weise mit ausgedehnten Pausen in ein Mikrofon: »It feels finished – it feels… never really explored and never quite finished. My reason of separation? – Because it didn’t say what I wanted to say. I see no other context for it, so for me the idea of giving it to you makes perfect sense. By you asking for… refuge or trash, it gives me a context, suddenly it has a context for which it can be used, whereas apart of that it had no use other than existing within the… my computer. So you have given it a second life.«

Sie rutscht von dem Lautsprecher herunter, geht einige langsame Schritte und stellt erneut die Frage: »The reason of seperation?« Noch einmal singend: »refu-

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ge or trash?« – Die Antwort kommt aus dem Off, unterschiedliche Stimmen äußern sich: »There is much of those things I want to say, so I felt it was really really important to not refuse repitition in that particular way. – When I work I do a lot of improvisation, so I do a lot, a lot, a lot of things. So when I work on something I am in love with the little mountain of trials or right-not-treasures«.

Abbildung 2: Dani Brown, auf dem Lautsprecher sitzend, Antje Pfundtner, RES(E)T, 2008, Hamburg

Quelle: © Simone Scardovelli

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Zeitgleich setzt Musik ein. Das Liebesthema aus dem Spielfilm Nuovo Cinema Paradiso5 ist zu hören. Die Musik wird lauter und übertönt die Stimmen aus dem Off. Diese werden leiser, ordnen sich der Musik unter und versiegen. Mit dem Einsetzen der Stimmen aus dem Off schält sich Jenny Beyer im Hintergrund durch eine Drehung aus ihrer robbenden Pendelbewegung heraus. Mit einigen weiteren Drehungen kommt sie letztlich wieder zu Boden, sitzend posiert sie als wäre sie in einem Mode-Fotoshooting. Sie lässt sich auf die Knie gleiten, schlägt mit der Faust auf den Boden und legt sich auf den Rücken und ruht. – Erst als die Stimmen aus dem Off verstummen tritt sie wieder in Aktion, setzt sich für eine Weile an das andere Ende der schwarzen Stoffbahn, steht wieder auf und beobachtet, wie die darunter liegende Antje Pfundtner sich, verdeckt durch den Stoff, auf das andere Ende der Bahn zubewegt, sich immer hektischer vorwärts schiebt, bis sie schließlich darunter hervorschlüpft. Kniend beginnt die soeben Entschlüpfte, die Stoffbahn zu sich zu ziehen und in ihren Schoß zu wickeln.6 Es ist auffällig, dass zu Beginn des Stückes RES(E)T die Gleichzeitigkeit von Bewegungssequenzen vermieden wird: Drei Tänzerinnen sind Teil der Anfangsszene. Ihre Handlungen und Bewegungsabläufe folgen einander zeitlich, werden hierdurch voneinander getrennt. In einer minimalen zeitlichen Überlagerung, gleich einer Überblendung, löst eine Sequenz die nächste ab. Die einzelnen Sequenzen finden durch großzügige Pausen einen Abschluss, Momente in denen

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In dem italienischen Spielfilm Nuovo Cinema Paradiso (1988) des Regisseurs Giuseppe Tornatore führt die Nachricht vom Tod des alten Filmvorführers Alfredo den Filmregisseur Salvatore zurück in ein kleines sizilianisches Dorf, den Ort seiner Kindheit. In Rückblenden wird die Beziehung des Regisseurs zu dem damals erblindeten Filmvorführer sowie sein Verhältnis zum Film und Kino dargestellt. Alfredo hinterlässt Salavatore eine Filmrolle, auf der ein Zusammenschnitt der Lieblingsszenen des Filmvorführers zu finden ist: allesamt Kussszenen, die der Zensur durch den Dorfpfarrer zum Opfer fielen und somit niemals in dem Kino vorgeführt wurden. In der finalen Szene des Films führt sich Salvatore diesen Film, die Reste nach der Zensur, selbst vor. Er sitzt alleine in dem großen Kinosaal und ist ergriffen von dem Material.

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Es ist nicht dem Unvermögen der Verfasserin dieses Textes geschuldet, die Gleichzeitigkeit von Bewegungsabläufen verschiedener Tänzer in einer Szene nicht sprachlich darstellen zu können. Im Gegenteil, es ist bei der Verschriftlichung mithilfe von Gedankenstrichen versucht worden, die zeitliche Abfolge, sprich den Wechsel von einer Sequenz zur nächsten zu verdeutlichen.

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die Körper ruhen, Stimme oder Musik verstummen. Die Ruhe und Nichtbewegtheit kontrastiert die Bewegung und lässt sie umso stärker hervortreten. Die Bewegungsabläufe der einzelnen Tänzerinnen sind aufeinanderfolgend, aneinandergereiht, wie die einzelnen Szenen eines Films: Jede Tänzerin bewegt sich räumlich in ihrer eigenen kleinen Szene, es kommt – bis auf die kurzen zeitlichen Überblendungen – zu keinerlei Kontakt zwischen ihnen. Durch dieses Verfahren wird eine Eindimensionalität erzeugt, Aneinanderreihung von Bewegungssequenzen, eine einzige zeitliche Linie, auf der die Bewegungen nacheinander ihren Raum einnehmen und ihn an die nächste überlassen. An den Bewegungssequenzen ist ihre Segmentierung auffällig. Anders verhält es sich mit den Musik- und Spracheinspielungen: Diese werden zeitlich parallel zu den Bewegungssequenzen eingesetzt. Sie überlappen sich, entstehen in einem fade in und versiegen in einem fade out. Sie begleiten das Geschehen auf der Bühne und bilden – bleibt man im filmischen Vokabular – Tonspuren. Mit der Aneinanderreihung von Bildern/Sequenzen und ihrer Überlagerung durch die Tonspuren setzt Antje Pfundtner den Tanz in Beziehung zur ästhetischen Form des Mediums Film. Mit Joachim Paech wäre dieses In-Bezug-Setzen der Formen, als eine »intermediale Figuration« zu bezeichnen: »Intermedialität ist […] als ein reflexives Verfahren der Wiederholung der Form eines Mediums auf der Formseite eines anderen Mediums zu bestimmen. Intermedialität ist im Sinne der reflexiven Unterscheidung medialer Formen selbst als eine ›prozesshafte Form des Unterscheidens‹ zu beobachten. Genau das ist mit ›intermedialer Figuration‹ gemeint« (Paech 2002, 280).

Die ästhetische Form des Films wird hier zum Medium der Form des Tanzes. Über den Versuch der Überführung der filmästhetischen Form in den Tanz artikuliert sich das Medium Tanz genau an den Grenzen dieser Überführung. So gibt es ruhende Körper auf der Bühne – doch diese Körper sind präsent. Sie bleiben auch als scheinbar Unbewegte ein Teil der Szene, sichtbar. Auch wenn die Sequenzen durch Bewegungspausen voneinander getrennt scheinen, so gibt es doch keinen sie endgültig trennenden Schnitt. Auch wird über die Kontrastierung von Bewegung und Nichtbewegung auf der Bühne eine Blickrichtung erzeugt. Diese ist jedoch als Blickangebot zu verstehen und muss im Gegensatz zur im Film durch die Kamera erzeugten Blickrichtung nicht angenommen werden. Über diese intermediale Figuration wird die Artikulation des Mediums Tanz möglich. Damit ist aber der Frage nach dem Material im Tanz noch nicht Genüge getan. Eine Gleichsetzung von Medium und Material wäre hier verkürzt. Durch die intermediale Figuration entwirft Antje Pfundtner aber ein Setting, in

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dem die Frage nach Bewegung als Material durch das Material des Films reflektiert werden kann. Richtet man den Blick weg von den Formen und hin auf mögliche inhaltliche oder semiotische Verbindungen zwischen den Sequenzen, ist festzustellen, dass es diese Verbindungen scheinbar nicht gibt. Die Sequenzen wirken zusammenhangslos in Szene gesetzt: eine lose Aneinanderreihung verschiedenartiger Bewegungsabläufe, verschieden sowohl in Bewegungsformen und -qualitäten. Diese werden kombiniert mit skurrilen Requisiten (dreibeiniger Stuhl, meterlange schwarze Stoffbahn, pflanzenartige Perücke), Einspielungen von Musik, Geräuschen und Stimmen. Die Eingangsszene zu RES(E)T ist eine Anordnung verschiedener Materialien in einer einzigen Tanzproduktion. Das Verbindende zwischen ihnen ist der gemeinsame Raum, den sie innerhalb der Inszenierung einnehmen. Gerade vor dem Hintergrund der evozierten filmischen Ästhetik, müsste diese Zusammenstellung als eine choreografische Montage heterogener Elemente beschrieben werden. Abbildung 3: Laubsauger, Antje Pfundtner, RES(E)T, 2008, Hamburg

Quelle: © Simone Scardovelli

Das Sammeln, Sichten und Wiederverwerten von weggeworfenem, aussortiertem, unnützem Material, von Resten der Produktion, von denen Antje Pfundtner in dem Interview spricht, und die filmische Ästhetik, die sie evoziert, erinnern an

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die filmische Strategie des Found Footage. Als Found Footage7 bezeichnen Cecilia Hausheer und Christoph Settele »ein ästhetisches Verfahren, für das die extensive Verwendung, Transformation und Umdeutung von fremdem, gefundenem oder in Archiven speziell ausgesuchtem Filmmaterial charakteristisch ist.« (Hausheer/Settele 1992, 4) Laut Yann Beauvais handele es sich um einen »selbstreflexiven Ansatz, der das Wesen des Mediums mittels Fremdmaterial analysiert.« (Beauvais 1992, 14) In einer Art ›Found Footage Choreografie‹ bedient sich auch Antje Pfundtner an den Resten, den Abfällen, dem Unbrauchbaren und Unnützen aus anderen choreografischen Produktionen und fügt sie zu einer Montage aus Bewegungen, Dingen, Musik und Spracheinspielungen zusammen. Als Fremdmaterial wäre dieses Material nicht ausmachbar. Doch über die filmische Ästhetik im Tanz und die damit verbundene Zeitlichkeit stellt sie auf der einen Seite eine Kohärenz her, sodass auf der anderen Seite die Heterogenität des verwendeten Materials unangetastet bleibt und es als Fremdmaterial erscheint. Das Material tritt als Material hervor – so auch die Bewegung als Material.

C HOREOGRAFIE

DER

D INGE

Auffällig in Antje Pfundtners RES(E)T ist die Vielzahl der Requisiten und Gegenstände – der Dinge –, die nach und nach in das Stück eingeführt und verwendet werden. Die Gegenstände scheinen sich im Verlauf des Stückes zu vermehren. Zu Beginn steht auf der rechten vorderen Seite des Raumes ein schwarzes Klavier. Die Front des Instruments wurde demontiert, sodass der Blick auf den Innenraum des Resonanzkörpers mit seinen Saiten möglich ist. Im hinteren, linken Bereich der Bühne befindet sich ein schwarzer, der Form nach ursprünglich vierbeiniger Stuhl, dem eines dieser vier Beine fehlt. Im Vordergrund ist ein großer Lautsprecher positioniert. Die Tänzerin Dani Brown trägt eine Perücke aus künstlichem Efeu und orangefarbene Gummihandschuhe. In dem ansonsten kahlen weißen Bühnenraum stechen die Dinge in ihrer Eigenständigkeit hervor. Zu diesen Gegenständen gesellen sich im Prozess des Stückes: eine etwa vier Meter lange Stoffbahn, schwarze Federn, ein Laubsauger, eine elektrische Gitar-

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Footage bezeichnet in der Filmproduktion das Filmmaterial, genauer den ungeschnittenen Film, so wie er dann zur Bearbeitung im Schnitt zur Verfügung steht. Der Begriff geht auf das englische Maß für die Filmlänge zurück: das 35-mm-Material wurde in feet und frames gemessen, also Fuß und Einzelbildern. Ein foot enthält genau 16 Einzelbilder und entspricht einer Sekunde Vorführlänge.

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re, ein Luftballon, die Beine einer Schaufensterpuppe, ein Apfel, ein Königinnenkostüm inklusive Krone und ein ferngesteuerter Modellhubschrauber. Die Dinge nehmen während des Stückes unterschiedliche Funktionen ein: einerseits werden sie ausgestellt und strukturieren durch ihre Anwesenheit den Raum; andererseits werden sie von den Tänzerinnen verwendet: Antje Pfundtner sitzt auf dem Stuhl; die Federn werden gerupft; Dani Brown saugt mit dem Laubsauger die Federn auf; Antje Pfundtner bläst den Luftballon auf; der Apfel wird angebissen; Jenny Beyer verkleidet sich mit dem Königinnenkostüm; Antje Pfundtner steuert den Modellhubschrauber und lässt ihn durch die Luft fliegen. Diese Dinge werden, so könnte man sagen, ›auf gewöhnliche Weise‹ oder ›gemäß ihres Zweckes‹ verwendet – oder mit Bruno Latour gesprochen: gemäß ihres »Programms«, das ihnen eingeschrieben ist (vgl. Latour 1996, 47). Abbildung 4: Objekte auf der Bühne, Antje Pfundtner, RES(E)T, 2008, Hamburg

Quelle: © Simone Scardovelli

Bruno Latour arbeitet in der Akteur-Netzwerk-Theorie heraus wie Alltagsgegenstände, Dinge und technische Apparate sinnstiftend sind und soziale Handlungen bestimmen. Den Gegenständen kommt dabei Handlungsmacht zu; sie werden zu Akteuren. Ein einleuchtendes (und häufig zitiertes) Beispiel für einen Akteur ist der sogenannte »Berliner Schlüssel«: Es handelt sich dabei um einen doppelbärtigen Schlüssel, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden wurde. Nach dem Öffnen der Haustür muss der Schlüssel durch das Schlüsselloch geschoben werden und kann erst nach dem Schließen der Tür von Innen wieder abgezogen

B EWEGUNG

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werden. Der Berliner Schlüssel ersetzt damit die Handlungsanweisung, die Türe nach sich zu schließen. Der Schlüssel trägt in sich das »Programm«, er beginnt es »zu tragen, zu transportieren, zu verlagern, zu verkörpern« (ebd.). Abbildung 5: Objekte auf der Bühne, Antje Pfundtner, RES(E)T, 2008, Hamburg

Quelle: © Simone Scardovelli

Dass die Tänzerinnen in RES(E)T die Dinge ›auf gewöhnliche Weise‹ verwenden, heißt auch, dass die dabei entstehenden Bewegungen in den Hintergrund rücken. Bewegung und Gegenstand bilden gewissermaßen eine Sinneinheit. Auf derselben Bühne kommen aber auch kaputte oder unvollständige Gegenstände zum Einsatz: die Beine der Schaufensterpuppe, das geöffnete Klavier und der dreibeinige Stuhl. Hinter dem die Bühne begrenzenden Vorhang zieht Antje Pfundtner die Beine der Schaufensterpuppe hervor. Sie hebt ihren Rock und schiebt die Plastikbeine darunter, hält sie vor ihren Körper. Wie ein drittes und viertes Bein lugt das Plastik unter der Kleidung hervor. In schwankenden Schritten bewegt sich Antje Pfundtner diagonal durch den Raum. Die unflexiblen harten Plastikbeine schränken ihre Bewegung ein, sodass sie von einem Fuß auf den anderen kippt. Sie vergrößert den Schritt, ihr Körper schaukelt. Schließlich hebt sie die Plastikbeine in die Luft und dreht sich mehrmals um die eigene Achse. Aus der Drehung heraus stellt sie die Plastikbeine mit den Füßen nach oben gerichtet auf dem Boden ab. Sie steigt durch die in die Luft ragenden Beine hindurch. Pfund-

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tner wendet sich von den Beinen ab. Diese bleiben im Raum stehen, als ausgestellte Beine. Im Gegensatz zum Laubsauger und Modellhelikopter enthalten die Plastikbeine keine eindeutigen Handlungsanweisungen. In der Beziehung zwischen Tänzerin und Laubsauger werden zu erwartende Bewegungsmuster hervorgebracht; in derjenigen zwischen Tänzerin und Plastikbeinen scheint das »Programm«, das die Schaufensterpuppe in sich trägt durch die materielle Unvollständigkeit – es sind eben nur die Beine vorhanden – gestört: Die Puppe kann nicht aufgestellt werden, sie kann nicht dazu dienen Kleidung zu präsentieren. Stattdessen werden die Plastikbeine durch Antje Pfundtner zu Gehenden. Als diese gehenden Plastikbeine bestimmen sie den Gang der Tänzerin und das tänzerische Material.

S CHLUSS Auch wenn die ›gerupfte Tänzerin‹ in meiner Einführung eine Metaphorik der Trauer und des Verlustes evozierte, wird in Antje Pfundters Tanzproduktion RES(E)T und auch in dem vorliegenden Text nicht das ephemere, nicht archivierbare Wesen des Tanzes betrauert. Vielmehr ging es mir um eine Ausdifferenzierung von Bewegung als Material in produktionsästhetischen Perspektiven. Tänzer produzieren Bewegung und Tänzer produzieren Bewegung als Material, indem sie auf die Bewegung zugreifen, sie intensivieren, sie verändern oder indem sie die Bewegung weitergeben. Diese Produktion von Material wurde als ein Prozess der Subjektivierung und Ent-Subjektivierung beschrieben. Aus einer weniger subjektzentrierten Perspektive habe ich zwei künstlerische Strategien analysiert, die Bewegung als Material in Antje Pfundtners Produktion hervorbringen. Während in der Found Footage Choreografie in komplexer Weise eine intermediale Figuration zwischen Film und Tanz entworfen wird, in der das Material dann als vorgefundenes Fremdmaterial hervorsticht, ist es in der Choreografie der Dinge die spezifische Beziehung zwischen Tänzerin und unvollständigen Dingen (Resten), in der sich Bewegung als Material produziert. Der vorliegende Text gibt keine Antwort auf die Frage ›Was ist Bewegung als Material?‹ und er kann diese Frage ebenso wenig beantworten wie die Frage ›Was ist Tanz?‹ Aber er zeigt, unter welchen Bedingungen und in welchen Konstellationen Bewegung zum Material wird. Er erfasst dieses Material im Moment seiner Produktion.

B EWEGUNG

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Getanzte Erinnerung. Zur Produktivität der Erinnerung bei Pina Bausch K ATHARINA K ELTER

Choreografie ist ein Paradox: Bewegungen werden erarbeitet, ausgewählt und zusammengesetzt, sind im Moment der Bewegungsausführung jedoch sogleich wieder vergangen. »Choreographie ist, so gesehen, ein Schreiben an der Grenze von Anwesenheit und Nicht-mehr-da-Sein: eine Schrift der Erinnerung an jenen bewegten Körper, der nicht präsent zu halten ist.« (Brandstetter 2000, 103f.) Die Erarbeitung einer Choreografie ist insoweit immer schon eine Gedächtnisarbeit, eine Arbeit an und mit den Erinnerungsspuren der Bewegung, die dabei jedoch stets auf die Zukunft, auf zukünftige Bewegungen, gerichtet ist. Oder anders gesagt: Eine Bewegung berührt immer die vorangegangene Bewegung, der Bewegungsfluss ist aber immer schon in der Zukunft (vgl. ebd., 110). Gabriele Brandstetter umschreibt diesen Prozess des Übergangs, der »Bewegungserinnerung in die Zukunft« mit dem Begriff »fantasmata«: »[D]er Begriff fantasmata benennt einerseits […] das Einhalten zwischen zwei Schritten. Fantasmata bezeichnet aber andererseits und darüber hinaus auch noch jenen Moment des Übergangs, in dem der Blick auf die bewegte Figur geworfen wird und diese erstarren läßt – den Blick der Medusa; und er bezeichnet umgekehrt auch wiederum den Übergang der ›eingefrorenen‹ Bewegung der Statue zum Schritt.« (Brandstetter 1997, 201)1

Die Bewegung wird so zu einer Art »Phantom« ihrer selbst, ist »stets im Begriff des Übergangs, immer im Status des Innehaltens, ohne doch in stasis gehalten zu 1

Gabriele Brandstetter bezieht sich hier auf den italienischen Tanztheoretiker Domenico da Piacenza, der bereits in der Renaissance die Verbindung von »memoria« und »fantasma« im choreografischen Prozess betont (vgl. Brandstetter 1997, 110).

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sein« (ebd.). In den Augenblicken des Innehaltens findet eine bildliche Vergegenwärtigung zwischen Vergangenem und Zukünftigem statt, indem sich das fantasmata der Bewegung als (Erinnerungs-)Bild in den Moment des Stillhaltens des Körpers einfügt und dadurch beides zusammenführt (vgl. Brandstetter 2000, 110). Von diesen einleitenden Gedanken Gabriele Brandstetters ausgehend, möchte ich im Folgenden am Beispiel der Arbeit des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch die Produktivität von Erinnerungen für den tänzerischen Produktionsprozess und die Produktion von Bewegungsmaterial aufzeigen. Dabei gehe ich grundlegend davon aus, dass sich der tänzerische Produktionsprozess nicht nur auf Momente der Probe und Aufführung beschränken lässt. Durch die dem Tanz inhärente Prozessualität – die »Bewegungserinnerung in die Zukunft« – ist die Tanzproduktion mit der Aufführung nicht an ihrem Ende angelangt, sondern auch der Prozess der Archivierung ist Teil der Produktion von Tanz.

P RODUKTIVITÄT I – P ROBE Die Grundlage jeder Tanzproduktion bildet der von Geschichten, Erfahrungen, Krankheiten, Gewohnheiten und Bewegungstechniken vorgeprägte Körper. Als ›lebendiges Material‹ ist er »ein hochgradig komplexes und widersprüchliches Phänomen und Konstrukt, da er sowohl Quelle als auch Material von Bewegungen, ausführendes wie initiierendes Organ, Medium und Instrument« (Huschka 2002, 25) zugleich ist. Der Tanz operiert permanent mit diesem »doppelten und paradoxen Grundgefüge des Körpers« (ebd., 26) und erhält daraus seinen viel beschworenen transitorischen Charakter. Tanz materialisiert sich im Moment seiner Aus- beziehungsweise Aufführung, »indem Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit performativ hervorgebracht werden« (Fischer-Lichte 2004, 283). Im Augenblick ihrer Ausführung ist die Bewegung jedoch schon wieder vergangen und hinterlässt lediglich ein Erinnerungsbild. Gleichzeitig ist die tänzerische Bewegung im Augenblick ihrer Anwesenheit immer auch auf etwas Gewesenes – beispielsweise einverleibte Bewegungsmuster, Tanztechniken oder Erinnerungen – bezogen, das zwar abwesend ist, sich quasi in einem virtuellen Zustand befindet, aber so zur Ressource für Neubestimmungen und Aktualisierungen wird und sich im Zuge der tänzerischen Bewegung erneut materialisiert. Die Produktion der tänzerischen Bewegung kann so als Auswahl aus einem Feld von potentiellen Möglichkeiten verstanden werden. Das Wesen von Tanz ist demnach zugleich von Anwesenheit und Abwesenheit geprägt. Das Anwesende impliziert immer auch das Abwesende, kommt vom Nichtsichtbaren her,

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wodurch in der Flüchtigkeit paradoxerweise auch eine gewisse Dauerhaftigkeit liegt (vgl. Siegmund 2006, 53). Die Bedingungen zukünftig möglicher Materialisierungen, ihre Rahmungen mithin, werden im Zuge des Probenprozesses abgesteckt. Durch künstlerische Strukturen und Strategien wird der Raum erarbeitet und vorläufig festgelegt, in dem sich die spätere Aufführung ereignen soll (vgl. Fischer-Lichte 2004, 286). Annemarie Matzke beschreibt die Probenarbeit als Erforschen der Möglichkeiten des Ereignisraums Aufführung – nicht nur in ästhetischer, sondern beispielsweise auch in ökonomischer und institutioneller Hinsicht – und dem Entwurf eines Settings (vgl. Matzke 2011, 121). Entsprechend der offenen Struktur des Ereignisses, ist dieser Entwurf jedoch keinesfalls statisch, sondern lässt Frei- und Spielräume für Ungeplantes, Planloses, Improvisiertes, Unvorhersehbares. Der Probenprozess lässt sich so als Prozess des Inszenierens beschreiben, »in dem ausprobiert, festgelegt – und nach Aufführungen häufig wieder verändert – wird, wie die performative Hervorbringung von Materialität sich vollziehen soll« (Fischer-Lichte 2004, 325).2 Die Aufgabe der Inszenierung besteht in erster Linie darin, Bewegung durch den Einsatz von künstlerischen und technischen Mitteln – etwa durch einen bestimmten zeitlichen Ablauf oder eine spezifische räumliche Konstellation – als Bewegung in Erscheinung treten zu lassen (vgl. ebd., 324). Inszenierung lässt sich so weniger als eine Strategie zur Darstellung, sondern vielmehr als eine »Erzeugungsstrategie« (ebd., 325), als planerischer Umgang mit den vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten, beschreiben. Die Inszenierung plant, erprobt und legt also Strategien fest, durch die in der Aufführung Bewegung für eine bestimmte Zeit und auf eine bestimmte Art und Weise hervorgebracht werden soll. Die Inszenierungsarbeit ist damit vor allem auf die Aufführung gerichtet. Gleichzeitig ist diese jedoch stets auf das der Inszenierung Vorausliegende bezogen, welches durch die Inszenierung und in der Aufführung zur Erscheinung kommt. Wie Wolfgang Iser für die Literatur aufge-

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Der Begriff der Inszenierung wird im Sinne von Erika Fischer-Lichte nicht mit dem der Aufführung gleichgesetzt, sondern es wird zwischen der planenden Vorbereitung bzw. Konzeption der Aufführung und dem Ereignis der Aufführung unterschieden (vgl. Fischer-Lichte 2004, 325f.). Vgl. hierzu auch Annemarie Matzke, die in ihrer »Arbeit am Theater« darüber hinaus das Verhältnis von Inszenierung und Aufführung zur Probe thematisiert (vgl. Matzke 2012). Matzke beschreibt mit dem Begriff der Probe nicht nur den auf die Aufführung fokussierten Inszenierungsprozess, sondern »alle Formen von Interaktion, Techniken wie auch Herangehensweisen des Vorbereitungsprozesses« (Matzke 2012, 102), sprich die Organisation des Vorbereitungsprozesses.

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zeigt hat, zieht dieses Vorausliegende, das bereits Existierende, dabei niemals vollkommen in die Inszenierung beziehungsweise die Aufführung ein, da diese sonst selbst das Vorausliegende wäre (vgl. Iser 1991, 511). Die Inszenierung steht vielmehr im »Dienste eines Abwesenden«, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt, aber nicht selbst zur Gegenwart wird (ebd.). Die Aufführung markiert dabei keinesfalls den Endpunkt der Inszenierung beziehungsweise Produktionsarbeit, sondern lässt sich vielmehr als eine Etappe beschreiben, nach der die vorläufig festgelegten Erzeugungsstrategien verändert und weiterentwickelt werden. Die Inszenierung kann so als work in progress, als »integraler Prozess« beschrieben werden, »der vom ersten Einfall des Regisseurs über die Probenarbeit und die durch die Erfahrung einzelner Aufführungen bewirkten Revisionen bis zur letzten Vorstellung verläuft, die angesichts der Wirkungsgeschichte einer innovativen Inszenierung und der Möglichkeit einer Re-Inszenierung wiederum nur einen vorläufigen Schlusspunkt markiert.« (Früchtl/ Zimmermann 2001, 35)

Das bereits Existierende, das Vorausliegende, war für die Probenarbeit von Pina Bausch vor allem auf der Ebene der individuellen Erinnerung von Bedeutung. Ihrem Leitmotiv – »Ich bin weniger daran interessiert, wie sich die Menschen bewegen als was sie bewegt.« (Bausch zit. n. Schulze-Reuber 2008, 53) – entsprechend, bildete die Verschiedenheit der Tänzer den Ausgangspunkt ihrer Produktionsarbeit. Nicht die Bewegung an sich, sondern der Blick hinter diese Bewegungen, auf die innere Bewegtheit ihrer Tänzer, war für Bausch von maßgeblichem Interesse. Um diese inneren Bewegungen zu erforschen, stellte Pina Bausch Fragen, auf die ihre Tänzer improvisatorisch mit persönlichen Erinnerungen in Form von Bewegungen, Sätzen oder Geschichten antworteten. Dabei handelte es sich nicht um ein vages Improvisieren, sondern erfragt wurde immer ein »Moment der Aufrichtigkeit«, der erst dann zu einem choreografischen Baustein wurde, wenn er wirklich berührte (vgl. Servos 2003, 214). Als angeleitete, kollektive Forschungsarbeit dienten die Fragen der Materialsammlung zu bestimmten Themenkomplexen oder Ideen, die Pina Bausch zu Beginn eines Stückes vor Augen hatte. Ihre Fragen betrafen die Kindheit, das Elternhaus, Jugenderlebnisse, Empfindungen in ganz bestimmten Situationen, Enttäuschungen, Verletzungen oder ›nur‹ den Verwendungszweck von Gegenständen (vgl. Schulze-Reuber 2008, 73). In einem Probentagebuch hielt Raimund Hoghe, ehemaliger dramaturgischer Mitarbeiter des Tanztheater Wuppertal, einige dieser Fragen und Stichworte fest:

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»Rituale, die ein anderer hat und die einen furchtbar nerven/Was glaubt Ihr, was andere an Euch ändern wollen?/Wie öffnet Ihr Euer Frühstücksei?/Tricktisch/Warum macht man es sich so schwer?/Etwas wiegen/Etwas, wozu Ihr einen Trommelwirbel gebrauchen könnt/Ein Lied über einen Baum« (Hoghe 1986, 84).

Erfragt wurde immer das Persönliche, jedoch nie etwas wirklich Privates. Vielmehr ging es Pina Bausch um allgemein gültige Komplexe, um kulturelle Themen und Phänomene, wodurch sie als eine Art »Spiegel der Gesellschaft« (Schulze-Reuber 2008, 3) gesellschaftliche Konventionen hinterfragte und herrschende Zustände beklagte. In einem Interview beschreibt Bausch ihre Arbeit wie folgt: »Ich frage ja nie etwas Privates; ich frage etwas Genaues. Wenn ein Tänzer das beantwortet, ist das etwas, was wir alle haben. Wir wissen darum, aber nicht vom Intellekt her.« (Servos 2003, 224) Der unvermeidbare Erinnerungsbezug wurde somit gezielt als künstlerische Strategie zur Materialfindung eingesetzt, indem Bausch den Fokus auf die Erarbeitung eines Bewegungsmaterials legte, das explizit auf vergangenen Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen ihrer Tänzer basierte. In Form von persönlichen Erinnerungen, wurde die Vergangenheit bewusst miteinbezogen, um sie in angepasster und verfremdeter Form der Produktion eines neuen Stückes ›dienlich‹ zu machen.3

P RODUKTIVITÄT II – W AHRNEHMUNG Die im Rahmen der Probe festgelegte Inszenierung wird erst durch das Aufeinandertreffen von Zuschauer und Darsteller als Ereignis der Aufführung hervorgebracht. Im Moment der Aufführung kommt es »zu einer einmaligen, unwiederholbaren, nur bedingt beeinfluss- und kontrollierbaren Konstellation, aus der

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Mit dieser improvisatorischen Produktionsweise wählte Pina Bausch eine Inszenierungstechnik, die in doppelter Hinsicht Erinnerungen präsent macht beziehungsweise einholt und produktiv nutzt, gleichzeitig aber auch die zu groß gewordene »Last des Vergangenen« (Nietzsche 1988) los wird. Denn neben den Momenten der Auswahl im Zuge der Inszenierung beinhaltet beziehungsweise fokussiert der Prozess des Improvisierens immer auch ein Loslösen von gelernten und gewohnten Formen, um andere Erinnerungsräume und ein intuitives Wissen des Körpers wirksam zu machen (vgl. Odenthal 2005). Neben der Produktivität der Erinnerung spielt auch die Produktivität des Vergessens – im Sinne eines produktiven Verlusts – eine zentrale Rolle; nicht nur im Kontext der Probenarbeit, sondern auch, wie im Folgenden zu sehen sein wird, in Bezug auf Wahrnehmung und Archivierung.

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heraus etwas geschieht, das sich so nur dieses eine Mal ereignen kann« (FischerLichte 2004, 53). Das Objekt der Wahrnehmung, das Ereignis der Aufführung, konstituiert sich in der Materialität der Körper und befindet sich dadurch jenseits einer dinglichen Gegenständlichkeit (vgl. Hantelmann 2007, 170; Mersch 2002, 225). Produktion und Rezeption laufen gleichzeitig ab, bedingen einander und wirken aufeinander ein (vgl. Fischer-Lichte 2003, 103). Zuschauer und Tänzer stehen in einem Wechselverhältnis zueinander: Die Aufführung ereignet sich zwischen ihnen, wird gemeinsam von ihnen hervorgebracht und ist ein Resultat der Interaktion zwischen Darsteller und Zuschauer (vgl. Fischer-Lichte 2004, 47). Mit Christina Thurner ließe sich hier von einem »Diskurs der doppelten Bewegung«, von der Wechselbeziehung zwischen Tänzerbewegung und bewegtem Zuschauer sprechen (vgl. Thurner 2009, 227). Die Aufführung wird so zum kollektiven Akt, zum Resultat dieser Wechselbeziehung und ist somit keine reine Wissens- oder Sinnvermittlung vom Künstler zum Zuschauer, sondern eine dritte Sache, eine Zwischenexistenz, »die niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält und jede identische Übertragung, jede Identität von Ursache und Wirkung unterbindet« (Rancière 2009, 25). Als aktiver beziehungsweise produktiver Teilnehmer an diesem Wechselspiel nimmt der Rezipient nicht nur passiv auf, was Regisseur, Choreograf oder Tänzer ihn sehen lassen, sondern in seiner Rolle als Zuschauer spielen Selbstund Fremderfahrung ineinander. Er verbindet das, was er sieht, mit seinem eigenen individuellen Erfahrungswissen und erstellt so »sein eigenes Gedicht mit den Elementen des Gedichts, das vor ihm ist« (ebd., 23f.). Die erste Wahrnehmung während einer Aufführung wird so bereits von vorher erzeugten Bedeutungen hervorgebracht (vgl. Fischer-Lichte 2004, 264). Jeder Zuschauer ist demnach immer schon – wenn auch unbewusst – Akteur beziehungsweise Produzent seiner Wahrnehmung. Es gibt keine »Unschuld des ersten Blicks« (Waldenfels 1999, 170), sondern die Wahrnehmung ist stets mit einem spezifischen (Vor-) Wissen verknüpft, das die Blickperspektive des Zuschauers prägt. Das Wahrgenommene wird mit dem bereits vorhandenen Wissen in Verbindung gebracht und ist von diesem nicht mehr zu trennen. Vergangenes wird vergegenwärtigt, aktualisiert und neu kombiniert, wodurch auch Vorstellungen erzeugt werden können, die kein Äquivalent in der Wahrnehmung besitzen. So entsteht ein komplexes Gemisch aus Erinnerung, Wissen, Wahrnehmung und Imagination, das den Inhalt zukünftiger Erinnerungen mitbestimmt und dadurch wiederum zukünftige Wahrnehmungen beeinflusst. Dieser Erinnerungsfilter, durch den wir stets wahrnehmen, sorgt für die dem Zuschauer grundsätzlich eigene Aktivität, die sich etwa mit dem Begriff der Einbildungskraft beschreiben ließe: Durch Vor- und Nachbilder, Erinnerungen,

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Erwartungen, Assoziationen, Fantasien und Abschweifungen wird etwas Abwesendes innerlich mit dem Anwesenden verknüpft (vgl. Wihstutz 2007, 51). Mit dem Begriff der Einbildung wird in der philosophischen Ästhetik klassisch das menschliche Grundvermögen beschrieben, sich etwas Abwesendes vorzustellen. Die Einbildungskraft wird dabei als die speziell für den Vorgang des Ein-Bildens zuständige Energie angesehen (vgl. Mattenklott 2006, 48). Im Vergleich zu den Begriffen Fantasie oder Imagination, die oftmals als Synonyme genannt werden, wird hierbei vor allem das hervorbringende Vermögen der Einbildungskraft betont (vgl. ebd.).4 Benjamin Wihstutz macht diesen Gedanken zur Produktivität der Einbildungskraft für die Beschreibung der Wahrnehmungssituation im Theater fruchtbar. Die Wahrnehmung, der Sinneseindruck, wird in mehrfacher Hinsicht mit Bedeutung durch die Einbildungskraft des Zuschauers aufgeladen beziehungsweise vermischt (vgl. Wihstutz 2010, 323). Einbildung meint laut Wihstutz nicht nur die umgangssprachliche Bezeichnung einer Täuschung der Wahrnehmung, sondern darüber hinaus das Aufnehmen, das Einbilden, von äußeren Bildern sowie das Entstehen und Projizieren von inneren Bildern. Der Zuschauer bildet sich den Tanz ein; das bedeutet dann zunächst einmal nichts anderes, als dass er die Aufführung mit all seinen Sinnen wahrnimmt (vgl. Wihstutz 2011, 29). Durch die Einbildungskraft wird das Wahrgenommene dann zur Basis für die eigene Bildproduktion des Zuschauers, die sich wiederum – im Sinne des zuvor beschriebenen Wechselverhältnisses von Akteur und Zuschauer5 – auf das Bühnenereignis auswirkt. Auch die Einfühlung beschreibt Wihstutz in diesem Sinne als Einbildung: als gefühlt Einbildung (vgl. Wihstutz 2007, 71f.). Ein Beispiel aus dem Stück Nelken6 von Pina Bausch: Ein Tänzer beginnt an einem kleinen Holztisch sitzend in rasanter Geschwindigkeit große Gemüsezwiebeln mit einem großen Küchenmesser in kleine Würfel zu hacken. Nach einiger Zeit betritt ein weiterer Tänzer, Dominique Mercy, die Bühne und nimmt

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Immanuel Kant beschreibt die Einbildungskraft als Vermittlerin zwischen sinnlicher Anschauung und begriffsbildendem Verstand. Kant unterscheidet zwischen einer reproduktiven und einer produktiven Funktion der Einbildungskraft und betont so den schöpferischen Einfluss der Einbildung gegenüber der rein assoziativen Vergegenwärtigung früherer Wahrnehmung (vgl. ebd., 55).

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Erika Fischer-Lichte spricht in diesem Zusammenhang von einer autopoietischen feedback-Schleife (vgl. Fischer-Lichte 2004, 58ff.).

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Meine Beschreibung bezieht sich auf die Wiederaufnahme von Nelken am 03.10.2008 im Schauspielhaus Wuppertal sowie die Videoaufnahme der entsprechenden Aufführung, die ich im Archiv des Tanztheater Wuppertal einsehen konnte.

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an der linken Seite des Tisches Platz. Er schiebt die Zwiebelwürfel zu einem großen Haufen zusammen, drückt plötzlich und unerwartet sein Gesicht für mehrere Sekunden mitten in diesen Zwiebelberg, steht wieder auf und verlässt, ohne eine Miene zu verziehen, die Bühne. Nacheinander kommen weitere Tänzer hinzu, setzen sich ebenfalls für einen kurzen Moment an den Tisch, um ihr Gesicht in den Zwiebeln zu wälzen und räumen dann ebenso unbeeindruckt den Platz für den nächsten Tänzer. Der Zwiebelschneider sorgt währenddessen für permanenten Nachschub. Aus dem Zuschauerraum ist parallel dazu lautes Aufstöhnen zu hören, die Unruhe steigt. Anstelle der Tänzer scheinen die Zuschauer körperlich auf die Zwiebeln zu reagieren und die fehlende Reaktion der Tänzer zu kompensieren. Sie vollziehen die Bühnenhandlung körperlich mit. Ihr Körper erinnert die tränenden und brennenden Augen, die eine geschnittene Zwiebel verursacht und ermöglicht dem Zuschauer den emphatischen Mitvollzug der Handlung der Tänzer. Im Prozess der Einbildung ist so immer auch eine mimetische Qualität mit inbegriffen, im Sinne der Produktion innerer Bilder erschöpft sich die Einbildung jedoch nicht darin. Wie anhand der Szene aus Nelken beschrieben, muss die (gefühlte) Einbildung nicht zwangsläufig deckungsgleich mit dem Bühnengeschehen sein. Bilder der Imagination gehen oftmals dem Aufführungsbild voraus. Jeder Zuschauer bringt eine individuelle Erwartungshaltung mit in die Aufführung, die im Sinne Wihstutz‘ einer Vorstellung der Wahrnehmung gleichkommt und diese von Anfang an prägt (vgl. Wihstutz 2007, 58f.). Diese Erwartung erschöpft sich dabei nicht in einem gedanklichen Vorgreifen, sondern »sie wird imaginiert und mit Bildern und Empfindungen versehen« (ebd.). So wird beispielsweise die erwartete Dunkelheit bei Beginn der Aufführung nicht nur vorgestellt, sondern auch vorgespürt (vgl. ebd., 57).7 Die Basis der Vorstellung ist dabei wiederum die Erinnerung. Keine Imagination kommt aus dem Nichts, sondern durch Assoziationen werden Querverbindungen zu subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen hergestellt, die dem Wahrgenommenen zugrunde gelegt werden. Das Wahrnehmen des Zuschauers lässt sich so nicht auf den Modus des Nachvollzugs reduzieren, sondern sich vielmehr als ein körperlichimaginativer Austausch zwischen Tänzer und Zuschauer beschreiben (vgl. Wihstutz 2011/Rancière 2009/Thurner 2009). Das heißt, auch die Aktivität des Zuschauers kommt einem leiblichen Prozess gleich: Die Wahrnehmung vollzieht

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Erwartungen nehmen zwar Einfluss auf die Wahrnehmung, jedoch werden nicht alle Erwartungen zur Wirklichkeit einer Aufführung. Ein nicht erlöschendes Licht ist ein gutes Beispiel dafür, dass erwartete Gefühle ausbleiben und lediglich in der Vorstellung existieren (vgl. Wihstutz 2007, 57).

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sich nicht nur über den Seh- und Hörsinn, sondern maßgeblich über das Körpergefühl des Rezipienten, über sein »leibliches Involviertsein« (Krämer 2008, 155f.; vgl. Fischer-Lichte 2004, 54). Wahrnehmungseindrücke und imaginative Prozesse lassen sich somit nicht als Gegensätze begreifen, sondern als immer schon ineinander verflochten. Jedes sinnlich wahrnehmbare Detail der Aufführung kann potentieller Auslöser der begleitenden imaginativen Prozesse werden (vgl. Wihstutz 2010, 324). Das inszenierte Aufführungsgeschehen steckt dabei den Rahmen des Imaginativen ab: »Die Inszenierung gibt vor, in welche Richtung und inwieweit sich das Spiel der Einbildung als Austausch innerer und äußerer Bilder zu entfalten vermag.« (Ebd., 323) Dieser Austausch füllt die Leerstellen der Inszenierung, die Frei- und Spielräume für Nicht-Geplantes, Nicht-Inszeniertes, Nicht-Vorhersagbares aus. Die Erinnerung ist in diesem Sinne konstitutiv für jegliche Zuschauerwahrnehmung. Durch die Verbindung von Imagination und Wahrnehmung überlagert sich der Bühnenraum mit Räumen des Imaginativen, die sich aus den Vorstellungen, Fantasien, Abschweifungen, Erwartungen und Assoziationen des Zuschauers speisen (vgl. ebd., 316). So werden im Moment der Wahrnehmung der präsente und der repräsentierte Ort, die Vergangenheit und die Gegenwart, Anwesendes und Abwesendes gleichermaßen wahrgenommen. Die Wahrnehmung lässt sich nicht von der Erinnerung beziehungsweise dem Körpergedächtnis trennen, sondern wird so zum Anlass der Erinnerung beziehungsweise zu einer Gelegenheit, der Erinnerung einen Körper zu geben (vgl. Bergson 1991, 53). Vergangenes wird vergegenwärtigt, aktualisiert und neu kombiniert. Die Aufführung wird zum Aufführungsort dieser »Endosmose« von Wahrnehmung und Erinnerung (vgl. ebd., 55). Durch die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption und die Produktivität des Zuschauers wird das Ereignis der Aufführung hervorgebracht und die bisherige Tanzproduktion entscheidend verändert und weiterentwickelt beziehungsweise weiterproduziert.

P RODUKTIVITÄT III – ARCHIVIERUNG Das Tanzereignis an sich zeichnet sich zunächst in keinen materiellen Träger ein, sondern ist an Ort und Zeit seiner Aufführung gebunden. Das, was der Zuschauer daran wahrnimmt und erinnert ist individuell und doch kommunizierbar beziehungsweise übersetzbar. Hierbei weist jeder Bericht, jede Weiter- oder Nacherzählung bereits eine Reihe bewusster und unbewusster Modifikationen gegenüber der ursprünglichen Ereigniswahrnehmung auf. Ereignis, Ereigniswahrnehmung und retrospektive Erinnerung treten damit in ein Verhältnis, das

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Walter Benjamin als Effekt beziehungsweise Symptom von Übersetzungen beschrieben hat: »Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.« (Benjamin 1977, 60)

Jede Übersetzung zeichnet sich durch Veränderung aus, Benjamin spricht von »Nachreife« (vgl. ebd., 53). Eine Übersetzung wäre nicht möglich, wenn sie eine absolute Ähnlichkeit mit dem Original anstreben würde. Vielmehr erreicht in ihr, der Übersetzung, »das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« (ebd., 52). Benjamin beschreibt diese Entfaltung mit dem Begriff des Fortlebens als einen Vorgang der Wandlung und Erneuerung. Die Übersetzung betrifft somit die Veränderlichkeit des sogenannten Originals und kann als ein Prozess der »Umschreibung« verstanden werden (vgl. Schulze 2005, 129). Anknüpfend an diesen Gedanken lässt sich die nachträgliche Beschreibung oder Auseinandersetzung mit einer Aufführung abermals als ein produktiver Prozess beschreiben, im Zuge dessen das Wahrgenommene übersetzt und damit zugleich neu konfiguriert und aktualisiert wird. Das Ereignis scheint zwar durch die Übersetzungen hindurch, lässt sich erahnen, wird aber nie greifbar (vgl. Schulze 2010, 149). Das, was das Tanzereignis hinterlässt, sind Spuren der zuvor noch tanzenden Körper. Im besten Falle handelt es sich dabei um materielle Spuren in Form von beispielsweise Filmaufnahmen, Fotografien oder Texten. Über diese Stellvertreter wird das eigentliche Tanzereignis erinnert: »Um […] geschichtlich zu werden, bedürfen Akte gerade jener Reproduktionen, die ihrem Wesen widersprechen. Sie rauben ihnen ihre singuläre Präsenz und verpuppen sie erneut ins Werk- und Zeichenhafte. […] Dem Museum einverleibt, in Ausstellungen präsentiert und durch Film-, Video- oder Tonaufnahmen verfügbar gemacht, gewinnen sie jenen Status des Symbolischen und Werkhaften zurück, den sie zu überschreiten trachteten.« (Mersch 2002, 242)

Die Diskurse und Formate, in die der Tanz übersetzt wird, können somit nicht identisch sein mit dem Tanz und der tänzerischen Erfahrung (vgl. Klein 2013, 186). Gabriele Klein markiert das als Grundidee der Übersetzung: »Dass dieser Übersetzungs-Versuch seine Grenzen findet und zwangsläufig an der Unüber-

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setzbarkeit zwischen ästhetischer Praxis und Diskurs, zwischen Bewegung und Bild, zwischen Bewegung und Schrift scheitern muss, ist eine Tatsache, die in der Grundidee der Übersetzung selbst angelegt ist« (Klein 2013, 182). Allerdings liegt genau in diesem vermeintlichen Scheitern oder Verlust die produktive Kraft der Übersetzung: In ihrem übersetzen produziert sie ein Neues, setzt sie ein Anderes (vgl. Klein 2013, 186). Die (mediale) Übersetzung gibt der Wahrnehmung eine andere Form und eine eigene Gestalt. Sie teilt – ob in mittelbarer oder unmittelbarer Art und Weise – dem Ereignis einen Träger zu, wodurch es »such- und auffindbar, sicht- und einsehbar« (Wortelkamp 2006, 72) wird. Das eigentlich Unwiederholbare wird lesbar und nur so wiederholbar, wiederholbar »in einer Lesbarkeit, die jedoch weder die Wahrnehmung des Vergangenen, noch das Vergangene wieder holt« (ebd., 10). Die in einem Trägermedium fixierte Bewegung kann in ihrer medialen Anwesenheit also nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eigentlich ein Ereignis von Abwesendem ist. Die archivierten Spuren haben zum Teil bereits diverse Vermittlungsstufen durchlaufen und unterliegen Interpretationen, Analysen und Kontextualisierungen. Die Träger der Erinnerung, die Speichermedien, sind nie nur passive Instrumente, sondern immer auch an den Inhalten und Abrufweisen beteiligt. Die Materialität und die Beobachtungsebene des Speichermediums wirken entscheidend auf die Archivinhalte ein. Sibylle Krämer betont in diesem Zusammenhang, dass Medien nicht einfach nur eine Botschaft übertragen, sondern eine Wirkkraft entfalten, die die Modalitäten unseres »Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt« (Krämer 1998, 14) und somit unser Wirklichkeitsverständnis entscheidend mitkonstituiert: »Denn wie wir denken, wahrnehmen und kommunizieren, hat immer auch Folgen für die Art und Weise, in der unsere Umwelt für uns zur Welt wird, in der sich die Vorstellung über das, was für uns wirklich ist und was ›Wirklichkeit‹ heißt, ausbildet und verdichtet.« (Ebd.) Im Zuge dieses Wechselverhältnisses beeinflussen die Medien die Konstitution und Wirkung der vermittelten Phänomene und erschaffen dadurch neue Realitäten: »Im Gegebensein von Medien tun sich Möglichkeiten der Erfahrung und des Handelns auf, die anders nicht da sind, anders nicht ergriffen werden können, anders nicht zugänglich sind.« (Seel 1998, 254) Medien bilden einen Artikulationsraum für das vermittelte tänzerische Ereignis, der dieses nicht nur im Sinne eines Speichers in seiner Vergangenheit bewahrt, sondern es vielmehr mit hervorbringt. So lässt sich auch die Arbeit mit Archivinhalten beschreiben. Jede Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen beziehungsweise deren archivierten Stellvertretern ist durch die Perspektive und Auswahl des Archivnutzers geprägt, wodurch ein Austausch zwischen gegenwärtigem Interesse und archivierter Ver-

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gangenheit stattfindet (vgl. Schulze 2005, 122). Die Information, die Antwort, die man gewinnt, ist so maßgeblich von der Abfrage des Nutzers abhängig und wird erst durch die jeweilige Frage produziert beziehungsweise performativ hervorgebracht. Archivinhalte lassen sich in diesem Sinne als virtuelle Informationen beschreiben, als »mögliche Möglichkeiten«, die nur im Zuge der Nutzung real werden beziehungsweise sich materialisieren (vgl. Esposito 1998, 292).8 Jede Archivnutzung, jeder Versuch der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse ist somit immer auch ein Schaffensprozess: Die Ereignisse, Personen etc., über die das Archiv Zeugnis ablegen soll, werden erst in der Reflexion über sie hervorgebracht (vgl. Schulze 2005, 123). Jede neue Auseinandersetzung mit Archivinhalten führt zu deren Neukonstruktion beziehungsweise Aktualisierung. Archive lassen sich so als performative Orte beschreiben, »an denen sich Vergangenes, im Prozess der Auseinandersetzung damit, stets aufs Neue rematerialisiert.« (Schulze 2010, 150) Der Akt der Archivierung stellt damit selbst ein Ereignis dar beziehungsweise die »Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet.« (Derrida 1997, 35) Nicht nur der Tanz und seine Bewegungen sind ein einmaliges und unwiederholbares Ereignis, sondern auch jedes Dokument über ihn wird im Moment seiner Betrachtung zu einem neuen, einmaligen Erlebnis. Das Archiv ist keine reglose Vergangenheit, keine »untätige Materie« (Foucault 1973, 14), die lediglich auf ihre Reaktivierung wartet, sondern im Archiv »generiert sich eine unendliche Praxis, die eher von der Gegenwärtigkeit des Überlieferten her motiviert ist als von dessen Vergangenheit« (Thurner 2010, 14). Ähnliches gilt für das Körper- beziehungsweise Bewegungsarchiv. Die Körper der Tänzer und Choreografen bilden ein Archiv von tänzerischen Bewegungsmöglichkeiten. Im Moment der Bewegungsproduktion werden die im Gedächtnis des Körpers archivierten Körperbilder, Bewegungscodes, -stile und -techniken sowohl zitiert und erneut fixiert, negiert, transformiert als auch vermischt (vgl. Schulze 1997, 223). Ähnlich wie die Inhalte eines Tanzarchivs sind die Inhalte des Körperarchivs durch die jeweilige ›Nutzung‹ permanenten Übersetzungen, Umschreibungen und Aktualisierungen unterworfen. Das Körperarchiv bleibt so im Sinne eines »prozessualen Archivs« ständig in Bewegung (vgl. Hardt 2005, 34). Durch die Tänzerkörper, ihre einverleibten Techniken sowie

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Vgl. hierzu auch Luhmann 1996: »Die gespeicherten Daten, die Bücher in den Bibliotheken, die Dokumente in den Archiven, die Schaltzustände der Computer, sind zunächst ja nur virtuelle Information, die nur Information wird, wenn man sie nachfragt und sich durch Auskunft oder Ausdruck überraschen läßt. Zur Anfrage oder Abfrage bedarf es jedoch einer Entscheidung.«

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das kontinuierliche Tanz- und Körpertraining wird die erinnerte Bewegung (er)neu(t) materialisiert (vgl. ebd.). Im Vollzug der tänzerischen Bewegung werden die Inhalte des Körperarchivs somit sichtbar, dabei jedoch gleichzeitig wieder archiviert. Während die Zugriffsmöglichkeiten des Tanzarchivs durch seine Katalogisierung an einem bestimmten Ort zumeist klar geregelt sind, erfolgt der Zugriff auf das Körperarchiv jedoch nicht bewusst im Sinne einer archivarischen Tätigkeit, sondern die Erinnerung beziehungsweise die Inhalte des Körperarchivs werden erst im Moment des Erinnerns als solche hervorgebracht. Der Tänzer ist nicht ›Herr‹ seines Körperarchivs, kann nicht bewusst auf bestimmte Erinnerungskomplexe zugreifen, sondern ist einem permanenten Unwissen sich selbst gegenüber ausgesetzt, was erinnert wird und woher die jeweiligen Erinnerungen kommen. Er ist Archiv und Archivnutzer zugleich. Der Körper selbst ist Medium seiner Erinnerungen. Seine Materialität, seine ihm eigene Macht und Widerständigkeit wirken sich auf das Erinnerte und auf daraus resultierende Bewegungen aus. So herrscht zwischen Tanzarchiv und Körperarchiv sowohl ein Unterschied in der Distanz – der Körper als Medium im Gegensatz zu Übersetzungen in Speichermedien – als auch in der Potentialität. Gabriele Brandstetter spricht von einem »Spiel mit den unterschiedlichen körperlichen Formen des Wissens, mit seinen Lücken, seinen Grenzen und auch mit den Möglichkeiten und den Unvorhersehbarkeiten, die sich daraus ergeben können« (Brandstetter 2007, 93). Dieses Spiel wird vor allem in der Experimentiersituation des Probenprozesses eröffnet. Pina Bausch hat die Auseinandersetzung mit solchen Momenten des »NichtWissens« (ebd.) bewusst als künstlerische Strategie eingesetzt. Durch die unvorhersehbaren Fragen ihres Improvisationsrituals hat sie eine Suchbewegung eingeleitet, »eine Recherche, die im Erinnerungs- und Wahrnehmungsarsenal der Tänzer tastet und testet, um eine Körper-Antwort zu erhalten« (Brandstetter 2005, 19). Gesucht wurde ein Wissen vom Menschen und seiner Geschichte, das nicht in den Dokumenten der Archive zu finden ist, sondern das in einem »Intervall zwischen Wissen und (Noch-)Nicht-Wissen schwankt und stets aufs Neue erst aufzuspüren ist« (ebd.). Oder anders formuliert: Diese Recherche im Körperarchiv der Tänzer sucht nach einem Bewegungsmaterial, das nur durch die Körpergeschichte der Tänzer transportiert werden kann. Dieser Suchprozess ist dabei nicht durch ein ergebnisorientiertes, strategisches Konzept, im Sinne einer konkreten Zugriffsmöglichkeit steuer- und kontrollierbar, sondern ein offener Prozess, der durch seinen unsicheren Status das Potenzial hat, auf andere Bewegungen zu stoßen als das Tanzarchiv sie bisher bereit hält (vgl. ebd.). Die spon-

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tan hervorgerufenen persönlichen Erinnerungen sind ›lebendiges Bewegungsmaterial‹, das im Probenprozess genutzt und weiterentwickelt wird.

»D ANCE ,

DANCE , OTHERWISE WE ARE LOST « 9

Auch nach dem Tod von Pina Bausch im Jahr 2009 besteht das Tanztheater Wuppertal weiter. Mehr noch: Das Tanztheater Wuppertal erscheint produktiver denn je. Es hat eine neue Produktionsphase begonnen, die unter dem Gesichtspunkt der Produktivität von Erinnerung von besonderem Interesse ist: Zusätzlich zu dem zuvor aufgezeigten Erinnerungsbezug einer jeden Tanzproduktion wird nun die Ebene der Erinnerung an Pina Bausch und ihr künstlerisches Arbeiten sowohl unbewusst mit eingeschlossen als auch reflektierend berücksichtigt. Hierfür möchte ich abschließend drei Beispiele nennen. Bis jetzt konzentriert sich die Kompanie des Tanztheater Wuppertal primär auf die Aufführung von Reproduktionen beziehungsweise Wiederaufnahmen des bestehenden Repertoires.10 Auch hierbei spielt der konkrete Erinnerungsbezug

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Bausch 2007. Das Zitat entstammt einer Anekdote, mit der Pina Bausch ihre Rede zum Kyoto Prize Workshop in Arts and Philosophy, anlässlich der Verleihung des Kyoto Preises 2007 an Pina Bausch, begann. Wim Wenders übernahm und erweiterte diese Aufforderung als Untertitel für seinen Film Pina (2011): »Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren«.

10 Reproduktionen waren auch schon vor dem Tod von Pina Bausch Teil der Arbeit des Tanztheater Wuppertal. Mit dem Beginn der 1980er Jahre produzierte Pina Bausch nur noch ein neues Stück pro Jahr, begleitet von einer Wiederaufnahme. Jahr um Jahr ging sie so einen Schritt zurück in ihre (choreografische) Vergangenheit. Seit dem Tod von Pina Bausch wird die Fokussierung auf das bestehende Repertoire durchaus kontrovers diskutiert; von »lähmende[r] Ehrfurcht« und »museale[m] Verdämmern« ist etwa die Rede (vgl. u.a. Weickmann 2014). Seit der Spielzeit 2015/2016 zeichnet sich nun der vielfach geforderte »Kurswechsel« ab. Das Tanztheater Wuppertal öffnet sich gleich in mehrfacher Hinsicht für neue Wege und Strategien der Produktion: Für Neue Stücke 2015 (Uraufführung 18.09.2015, Opernhaus Wuppertal) hat das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch vier Choreografen (Tim Etchells, Cecilia Bengolea & François Chaignaud und Theo Clinkard) eingeladen, mit den Tänzern des Ensembles zu arbeiten und neue Stücke zu kreieren. Entstanden ist ein dreiteiliger Abend, der die 41. Spielzeit des Tanztheater Wuppertal eröffnete. Eine weitere Neuerung: Das Bayrische Staatsballett übernimmt, in Koproduktion mit der Pina Bausch Foundation und dem Tanztheater Wuppertal, als

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erneut eine entscheidende Rolle. Was zunächst wie eine Nachahmung erscheinen mag, erweist sich als aktualisierende Neukonstruktion beziehungsweise -produktion von Bewegungserinnerungen. So kreuzen sich beispielsweise verschiedene Bewegungsgewohnheiten und -muster, angeeignete Körpertechniken und einverleibte Strukturen, die Einfluss auf die tänzerische Bewegung nehmen, selbst wenn im Zuge einer Reproduktion intentional ein anderes Bewegungsmuster angestrebt wird. Die Reproduktion verweist auf ein komplexes Geflecht, das aus der Geschichte der Tänzer, der Choreografin und der Choreografie besteht, die ihren Ursprung wiederum in einem historischen Bewegungsmaterial hat. Gleichzeitig ist die Reproduktion durch die aktuelle Arbeit nicht nur ein Rückgriff, sondern auch ein Ereignis von Aktualität, das durch heutige Tänzer mit gegenwärtigen Interessen, Körpern, Körpererfahrungen und dem Hier und Jetzt verbunden ist. Es geht in mehrfacher Hinsicht um eine Übersetzung »in einen anderen Zeithorizont, in andere Tänzerkörper, in einen neuen Bezug zum Publikum« (Brandstetter 2005, 15).11 Das Ziel der Reproduktionsarbeit des Tanztheater Wuppertal war und ist immer noch – im Wissen der Unmöglichkeit einer exakten Kopie –, der Versuch einer genauen Übertragung des historischen Bewegungsmaterials. Durch Pina Bauschs spezifische Arbeitsmethode des Fragens steht hinter jeder Tanzszene, hinter jedem Bewegungsablauf eine sehr persönliche Erinnerung der Tänzer, wodurch zum einen jede Produktion bereits als eine Wiederholung beschreibbar wird und zum anderen jedes Stück eng an das ursprüngliche Ensemble gebunden ist: »Jeder Tanz erzählt, Bewegung für Bewegung, eine eigene kleine Geschichte. Wird diese bei der Übergabe einer Rolle an einen neuen Tänzer nicht mit-

erste Kompanie eines der jüngeren Stücke von Pina Bausch: Für die Kinder von gestern, heute und morgen (2002). Bis dato waren nur Le Sacre du Printemps (1975) und Orpheus und Erydike (1975) an eine ›fremde‹ Kompanie, das Ballett der Pariser Oper, übergeben worden. Die Premiere von Für die Kinder von gestern, heute und morgen fand am 03.04.2016 in der Bayrischen Staatsoper in München statt. 11 Auch dieser Aspekt wird kontrovers rezipiert: »Bei heutigen Aufführungen früherer Stücke von Pina Bausch kommt es einem leicht so vor, als schlüpften Kinder in die zu großen Kleider ihrer Eltern und spielten Erwachsene. Nein, es ist im Grunde viel schlimmer. Fremde Tänzer schlüpfen in fremde Häute, nisten sich in fremden Seelen ein und sprechen Texte, die nicht die ihren sind. Bei keinem anderen lebenden Choreografen ergeht es einem wie bei Pina Bausch, dass sich die Erinnerung derart peinigend vor die Gegenwart schiebt. [...] Es ist dies wohl der einzige Fall, wo man die Nachgeborenen beneidet, die sie [die Stücke] jetzt und heute unbelastet das erste Mal sehen.« (Fischer 2007)

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kommuniziert, fehlt der wesentliche Teil der Botschaft.« (Servos 2007, 197) Durch Regiebücher und Videoaufnahmen lassen sich zwar der Ablauf einer Aufführung rekonstruieren, dabei wird jedoch der Weg, wie die Tänzer zu der Qualität ihrer Bewegungen gelangt sind, nicht sichtbar (vgl. ebd., 198). Im Laufe des Produktionsprozesses wird ein Stück durch zahlreiche Korrekturen und Eingrenzungen erarbeitet, wodurch jede Aufführung gleichzeitig ihren Herstellungsprozess und dessen Verlauf thematisiert. Die Tänzer der Uraufführung können, da sie an diesem Prozess der Findung der Bewegungsanlässe und -abläufe beteiligt waren, auf eine Fülle an Detailinformationen in Form persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen zurückgreifen (vgl. ebd.). Übernimmt ein neuer Tänzer die Rolle, muss er vergleichbare Erfahrungen generieren, um die entsprechende, das Stück charakterisierende Motivation und Emotionalität herzustellen (vgl. ebd., 197). Im Zuge einer Reproduktion mit neuen Tänzern übergeben daher in der Regel die Tänzer der ursprünglichen Besetzung ihre Rollen an die nachfolgende Tänzergeneration und erarbeiten mit diesen gemeinsam die Reproduktion. Für manche Stücke bestimmte Pina Bausch darüber hinaus jeweils einen Tänzer, der als eine Art Leiter für die Wiederaufnahme zuständig war. Zu ihrer Lebzeit wurden von Pina Bausch dann stets noch letzte Eingriffe vorgenommen. Norbert Servos beschreibt diesen Arbeitsschritt wie folgt: »Sie [Pina Bausch; KK] besitzt ein phänomenales Gedächtnis für absolut jedes noch so kleine Detail einer Produktion, und sie weiß, wie sie den Gehalt ihrer Stücke vermitteln kann. Nur sie kann den Geist eines Stückes wiederherstellen, das über Jahre nicht gespielt wurde, und es am Ende wieder ganz neu und frisch erscheinen lassen.« (Servos 2007, 199)

Bereits 2010 fand die erste Reproduktion ohne Pina Bausch statt, ohne ihren finalen Feinschliff. Es gilt nun weiter zu untersuchen, wie sich die Reproduktionsarbeit durch den Wegfall dieses Arbeitsschrittes verändert. Auch stehen immer weniger Tänzer der Originalbesetzung zur Verfügung und neue Tänzer, die Pina Bausch und ihre Arbeitsweise nicht kennengelernt haben, ergänzen die Kompanie. Ein weiterer Arbeitsbereich ist das Pina Bausch Archiv, das 2010 von der Pina Bausch Foundation gegründet wurde und sich, unter dem Titel Pina Bausch lädt ein. Ein Archiv als Zukunftswerkstatt, im Entstehen befindet. Neben der Auswahl, Sichtung, Erfassung und Digitalisierung des Werkbestands erscheint dieser Prozess vor allem durch die Erweiterungen des Bestands als Weiterproduktion der künstlerischen Arbeit Pina Bauschs. Interviews mit den Tänzern, wissenschaftliche Diskussionen sowie Symposien, Workshops und KünstlerLabs setzen sich intensiv mit der Arbeit Pina Bauschs auseinander und werden

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so Teil des Produktionsprozesses.12 Ein konkretes Beispiel hierfür ist das Schulprojekt Work in Progress: Das Pina Bausch Archiv entsteht in Wuppertal, in Zusammenarbeit mit der Städtischen Pina-Bausch-Gesamtschule Vohwinkel in Wuppertal, in dem Schüler die Möglichkeiten der Dokumentation von sinnlichem Erleben erforschten. Sie setzten sich intensiv mit dem Werk von Pina Bausch auseinander – etwa in Workshops mit Tänzerinnen des Tanztheater Wuppertal – und erprobten und entwickelten verschiedene Archivierungs- und Ausstellungsstrategien. Die Schüler wurden so nicht nur an ein theoretisches sowie praktisches Nachdenken über die Archivierbarkeit von Tanz beziehungsweise den Prozess der Archivierung herangeführt, sondern das Projekt steht vor allem selbst beispielhaft für die Performativität und Produktivität eines Archivs. Die Auseinandersetzung mit dem Pina Bausch Archiv und dem Tanztheater Wuppertal haben als Akte der Bewegung sowohl archiviertes (Körper-)Wissen übersetzt und übertragen, als auch eigene Ereignisse und Produkte hervorgebracht, worin das produktive Potential der Archivierung zu sehen ist.13 Mein letztes Beispiel ist der 2011 erschienene Dokumentarfilm Pina von Wim Wenders, der die Stücke und Arbeit des Tanztheater Wuppertal gleich in mehrfacher Hinsicht übersetzt, aktualisiert und weiterproduziert. Zunächst einmal (re-)inszeniert und kontextualisiert Wenders bereits archivierte Filmsequenzen neu. Zusätzlich wurden vier Stücke mit einem 3D-Kamerasystem live gefilmt. Darüber hinaus nutzte Wenders bewusst Bauschs Arbeitsmethode des Fragenstellens, um die Tänzer ihre persönlichen Erinnerungen an Pina Bausch formulieren zu lassen. Die Tänzer antworteten ihm sowohl mit kleinen Geschichten als auch in Form von getanzten Szenen, Soli und Duetten. Die getanzten Erinnerungen wurden dann in der Wuppertaler Landschaft oder in besonderen öffentlichen Räumen – beispielsweise der Schwimmoper oder der Schwebebahn – gefilmt. Dabei handelt es sich teilweise um bekannte Bewegungssequenzen aus Stücken des Tanztheater Wuppertal, die für den Film an neuen Orten, in einem neuen Kontext aufgeführt und so verändert und weiterentwickelt wurden. Die gesprochenen Erinnerungen werden von den Tänzern im Film in kurzen Interviewsequenzen in ihrer jeweiligen Landessprache erzählt. Es sind persönliche Kommentare der Tänzer zu beispielsweise Pina Bausch oder der Entstehung einzelner Szenen. Die getanzten und erzählten Erinnerungen sind im Film – ebenso montageartig wie Bauschs Stücke – zwischen die Ausschnitte der vier LiveAufnahmen gesetzt. Die Archivaufnahmen fügen sich dabei beinah nahtlos in die

12 Für aktuelle Projekte der Pina Bausch Foundation siehe: http://www.pinabausch.org Vgl. hierzu auch: Wagenbach/Pina Bausch Foundation 2014. 13 Vgl. hierzu Kelter 2014.

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neuen Filmaufnahmen ein. So kann bei Pina gleich von einem mehrfachen Erinnerungsbezug gesprochen werden. All diese aktuellen Projekte verdeutlichen zum einen die prinzipielle Offenheit und Unabschließbarkeit des tänzerischen Produktionsprozesses und zum anderen die produktive Kraft der Erinnerung. Als eine »Bewegungserinnerung in die Zukunft«, wie zu Beginn dieses Texts beschrieben, wird der von Pina Bausch begonnene Produktionsprozess auf Basis des Vorherigen fortgeführt, übersetzt, aktualisiert. Die Arbeit des Tanztheater Wuppertal verweist exemplarisch auf die Produktivität der verschiedenen Erinnerungsformen und -ebenen: Der bewusste wie unbewusste Bezug auf Erinnerungen ist als produktive Energie maßgeblich an der Generierung tänzerischen Bewegungsmaterials beteiligt. Das bereits Existierende wird zur Ressource für Neubestimmungen und Aktualisierungen und die Erinnerung zu einem Konzept der Transformation, durch das sich Vergangenes produktiv auf Gegenwart und Zukunft auswirkt (vgl. Odenthal 2005). Dieser immanente Erinnerungsbezug führt zu einem Verständnis von Produktion, das Tanz (und Bewegung) als sich immer schon im Werden befindend begreift.

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WORTELKAMP, Isa (2006): Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung. Freiburg im Breisgau/Berlin: Rombach.

Material erproben. Dokumentationen der Probenarbeit des Tanztheaters Wuppertal A NNEMARIE M ATZKE

In seinen Probenbeobachtungen des Tanztheaters Wuppertal, die Raimund Hoghe 1986 unter dem Titel Pina Bausch – Tanztheatergeschichten veröffentlichte, findet sich ein Kapitel zur Inszenierung Walzer (Uraufführung 1982 in Amsterdam) mit der Überschrift »Fragen, Themen, Stichworte aus den Proben« (Hoghe 1986, 84f.). Es folgt eine lange Liste mit Handlungsanweisungen (»Jemand eine Falle stellen/Pyramiden bauen/Einen ganz einfachen Satz überlegen und ohne Worte sagen«), Zitaten von Bildern aus dem kulturellen Gedächtnis (»Mariendarstellungen/Schwebende Jungfrau«), Alltagsfloskeln (»Guck mal, wen ich hier hab/Ich hoffe, wir werden uns wieder sehen«), medialen Formen (»Poesiealbum/Fahnensprache«) oder auch Körperhaltungen (»Fotoposen/Abschiedspose«). Die Begriffe, die über drei Seiten aufgelistet werden, verweigern einen klar erkennbaren Zusammenhang. Die Fragen, Aufgaben und Themen bleiben hinsichtlich der späteren Inszenierung mehr als rätselhaft: Wie wird ein Poesiealbum Teil einer Inszenierung? Was passiert mit einer Abschiedsfloskel, wenn sie in eine Bewegung auf der Bühne übersetzt wird? Wie ist das Verhältnis von Aufgabenstellung in Proben, Bewegungsgenauigkeit und der Bearbeitung des späteren szenischen Materials? Über die Liste vermittelt sich aber auch eine Vorstellung von der Probenarbeit: Es werden Improvisationsaufgaben zu Bewegungsformen formuliert, Handlungsanweisungen gegeben, die mit bestimmten Vorstellungsbildern des Körpers arbeiten oder Kontexte eröffnen, die eine Beziehung zu anderen künstlerischen oder medialen Formen herstellen. In der scheinbaren Beliebigkeit der Liste verweist der Text dabei auf die Heterogenität der Materialien in der Probenarbeit, die Bewegungen und Handlungspraktiken, Musik, Bilder, mediale Formen und biografische Erzählungen umfassen. Die Dokumentation der Proben präsentiert

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diese als wilde Materialsammlung, die sowohl Fragen nach der Genese des Probenmaterials wie auch nach dessen Bearbeitung für die spätere Inszenierung aufwirft. Was ist das Material der Proben, wie wird es hervorgebracht und wie findet es Eingang in die spätere Inszenierung?

W AS

IST DAS

M ATERIAL DER P ROBE ?

Jeder künstlerische Prozess geht von einem Material aus, das bearbeitet wird. Jedoch sind die Qualität und der Status dieses Materials jeweils neu zu bestimmen. Dies zeigt sich im Besonderen in jenen szenischen Kunstformen – Theater, Tanz und Performance –, die auf eine Aufführung zielen und in einem kollektiven Probenprozess hervorgebracht werden. Die Künstler sind in den Proben mit der Flüchtigkeit ihres Materials konfrontiert. Anders als in anderen Kunstformen, die von einem objektivierbaren Material ausgehen und die sich in einem fassbaren Gegenstand materialisieren, ist in den szenischen Künsten die Frage nach dem Material und dessen Eigenschaften um einiges komplexer. Dies zeigt sich in besonderer Weise im Tanz, der anders als die Musik mit der Partitur oder beispielsweise das Literaturtheater mit dem Drama häufig auf kein außerhalb der Körper der Tänzer manifestes Material zurückgreift. Gegenüber anderen Kunstformen verfügt die Bewegung über keine automatische Archivierungsfunktion. Beispielsweise ermöglicht die Schrift verschiedene Bearbeitungsformen eines Textes nebeneinanderzustellen. Das Material kann in seinen verschiedenen Arbeitsstufen verglichen werden. Anders ist es in den szenischen Künsten: Das Material muss immer wieder neu zur Aufführung gebracht werden. Dies zeigt sich beispielhaft an der Bewegung als künstlerischem Material der Proben. Diese materialisiert sich nur im Moment ihres Vollzugs. Damit eröffnet sich ein Materialbegriff, der sich nicht an eine Materie binden lässt, sondern nur an den Akt des Produzierens selbst. Noch auf einer weiteren Ebene stellen Probenprozesse im Tanz in besonderer Weise die Frage nach dem Material. Dieses ist an den Körper der Tänzerin oder des Tänzers gebunden, der Werkzeug zur Hervorbringung wie Bearbeitung ist. Dieser Körper ist aber selbst nicht statisch zu denken, sondern bringt erstens bestimmte Voraussetzungen mit und zweitens verändert das Bearbeiten des Materials am und mit dem Körper diesen permanent. So wie ein trainierter Tänzerkörper für viele Probenprozesse im Tanz Voraussetzung für die Arbeit ist. Jedoch ist die Bestimmung der am Entstehungsprozess beteiligten Elemente noch komplexer: Im Probenprozess treffen sich Tänzer und Choreografin, Dramaturg und Bühnenbildner. Im Prozess initiieren, verantworten oder durchlaufen

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je andere künstlerische Positionen die Materialgenese wie -bearbeitung. Proben als intersubjektive Prozesse, an denen verschiedene Künstler teilhaben, und in denen das Material nicht als Objekt dem Tänzer oder der Choreografin gegenübersteht, stellen somit die Frage nach der Autorschaft des Materials: Wer bringt es hervor und wer entscheidet, was Material ist? Diese Frage ist vor allem dann virulent, wenn Choreografin und Tänzer gemeinsam eine Choreografie erarbeiten und die Position der Autorschaft nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist.1 Wenn Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie das Material als »alles [den Künstlern; A.M.] Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben« (Adorno 1973, 222) definiert, dann stellt sich angesichts der Proben im Tanz die Frage, ob und wie Bewegungen, die an den Körper des Tänzers gebunden sind, zu einem solchen Material werden können. Welche Techniken und Verfahren werden entwickelt, um Material zu generieren. Wie gelingt es Tänzern ihre Bewegung als etwas ihnen Äußerliches zu betrachten? Und wie ist das Verhältnis von den Bewegungen der Tänzer und der beobachtenden, auswählenden und korrigierenden Choreografin, die dieses Bewegungsmaterial im Prozess mit den Tänzern bearbeitet? Diese Fragen stellen sich vor allem dann, wenn Choreografin und Tänzer gemeinsam eine Choreografie erarbeiten und die Position der Autorschaft nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist.2 Die Tanzwissenschaft hat auf diese Problematik der Flüchtigkeit der Bewegung – und damit auch des tänzerischen Materials – hinsichtlich der Aufführung und der Probleme ihrer Analyse vielfach hingewiesen (vgl. u.a. Foster 1986; Lepecki 2006; Wortelkamp 2006; Brandstetter/Klein 2007). Allerdings sind dabei die Prozesse, in denen diese Arbeit vollzogen wird, kaum beachtet worden:

1

Auch wenn Choreografen als Autoren ihrer Choreografie geführt werden, stellt gerade die Kunstform des Tanzes die Frage nach der Autorschaft hinsichtlich des Verhältnisses von Tänzerin und Tänzer als Subjekt und Objekt der Choreografie im Verhältnis zum Künstlersubjekt des Choreografen. Vgl. dazu Ruhsam 2001.

2

So verweist die französische Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe angesichts einer zeitgenössischen Choreografiepraxis darauf, dass »einzig die Materie des Selbst und die Organisation einer bestimmten Beziehung zur Welt das Gerüst bilden«, dann stellt sich die Frage, wie aus dieser Materie und der Beziehung ›etwas‹ wird, ein Material, das benannt, bearbeitet und arrangiert werden kann. »Im Tanz bedeutet die Erfindung einer Sprache somit nicht mehr, ein bereits existierendes Material zu handhaben, sondern genau dieses Material selbst hervorzubringen, und dabei diese Genese künstlerisch und theoretisch zu rechtfertigen.« (Louppe 2009, 94) Jeder Prozess der Materialgenese bedarf einer Form der Vermittlung (gegenüber dem Probenkollektiv sowie einem imaginierten Publikum), um ihn zu legitimieren.

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die Proben. Denn in den Proben wird Material erarbeitet, der Körper des Tänzers trainiert. Bisher sind Probenprozesse kaum erforscht (vgl. Matzke 2012; MacAuley 2012). In Proben wird nicht nur szenisches, tänzerisches Material generiert, sondern auch bearbeitet und transformiert. Materialgenese und -be arbeitung sind in den Proben an die Aufführung der Bewegung gebunden. Als intersubjektive Prozesse, an denen verschiedene Künstler teilhaben, stellen sie die Frage nach der Autorschaft des Materials: Wer bringt es hervor und wer entscheidet, was Material ist? Proben zeichnen sich durch eine besondere Medialität aus, in dem sie Situationen von Zeigen und Schauen in Szene setzen. Nicht nur der Tänzer präsentiert sich und seine Bewegungen, auch die Choreografin betritt im Kommentieren des Gezeigten eine Bühne und wird angeschaut. In diesem Sinne kann der Probenprozess als eine Serie vielfacher Aufführungen beschrieben werden. Die Aufführung des Bewegungsmaterials in der Probe ist nur als wechselseitiger Prozess zu beschreiben und ist an dem Moment des Vollzugs der Bewegung gebunden. Probenprozess unterliegt in diesem Sinne in seiner Analyse und Theoretisierung ähnlichen Problemen wie die Aufführung einer Choreografie vor Publikum. Es zeigt sich aber im Hinblick auf die Aufführung noch eine weitere Problemstellung. So zeichnen sich Probenprozesse durch das Paradox aus, an einer Wiederholbarkeit von Bewegungen zu arbeiten, die sich gerade durch ihre NichtFixierbarkeit auszeichnen. Nach dem Bewegungsmaterial in den Proben zu fragen, heißt, einen Prozess zu untersuchen, dessen mitlaufende Bedingungen nicht fixierbar, sondern flüchtig sind, der sich permanent re-organisiert und verändert, der zugleich an der Konstitution des Tanzkörpers wie auch der Bewegung arbeitet. Die Frage nach dem Material eröffnet damit eine eigene Perspektive auf künstlerische Prozesse: Proben arbeiten damit nicht nur an Prozessen des Entwerfens und Generierens von Material, sondern auch an Praktiken des Trainierens, Übens und Wiederholens. Nach dem Material der Proben zu fragen, zielt darauf jene Prozesse des Hervorbringens in diesem Wechselverhältnis von Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit zu beschreiben. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass das Material im Prozess des Probens nicht einfach etwas ist, das dem Künstler gegenübersteht und sich in seiner Fremdheit und Gegenständlichkeit der Reflexion anbietet, sondern dass sich das Material der Proben in besonderer Weise dem Tänzer und der Choreografin entzieht und permanent aktualisiert werden muss – in den Bewegungen der Tänzer, aber auch in der Kommunikation, der Beschreibung und Bestimmung des Materials. Es geht also nicht allein darum, zu fragen, was alles Material ist, sondern wie etwas zum Material wird. Probenprozesse arbeiten in diesem Sinne permanent an der Transformation eines Materials, das Teil eines intersub-

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jektiven kreativen Prozesses ist und spezifischer Kommunikations- und Verständigungstechniken bedarf. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen soll die Analyse zweier filmischer Dokumentationen von Probenprozessen des Tanztheaters Wuppertal stehen. Beide sollen hinsichtlich der Frage untersucht werden, durch welche Strategien, Techniken oder Verfahren Bewegungen zu einem identifizierbaren künstlerischen Material werden. Wie wird dieses Material wiederum während des Probenprozesses bearbeitet? Wie lässt sich Transformationsprozess des Materials innerhalb verschiedener Probenphasen beschreiben? Die Probenarbeit von Pina Bausch bietet sich für diese Untersuchung auf zweifache Weise an: Erstens ist im Diskurs über die Formen des Produzierens von Pina Bausch immer wieder die Rede vom Material, das in der Probenpraxis in einem kollektiven Prozess von Ensemble und Choreografin hervorgebracht wird und zweitens finden sich verschiedene filmische Dokumentationen dieser Probenprozesse, von denen einige selbst wiederum die Frage des Material thematisieren. Im Folgenden werde ich mich auf zwei Filme beziehen. Dies ist zum einen der Film Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? (1983)3 von Klaus Wildenhahn, der die Probenarbeit zu Bauschs Inszenierung Walzer zeigt – und wie Hoghe verschiedene Aufgabenstellungen zur Materialgenese dokumentiert –, und zum anderen der Film Probe Sacre (1992) unter der Regie von Herbert Rach, der die Choreografin bei der Arbeit mit einer Tänzerin für eine Wiederaufnahme der Inszenierung Le Sacre du Printemps (1975) dokumentiert. Beide Filme präsentieren eine je eigene Beobachterperspektive auf die Probenarbeit – und formulieren dabei bereits eine Theorie des Produzierens von Material.4 Die Analyse von Probendokumentationen eröffnet die Möglichkeit nicht allein Techniken der Herstellung zu beschreiben, als Frage danach, wie es die Choreografin gemacht hat und damit die Materialgenese aus einer autorzentrierten Perspektive zu bestimmen, sondern sie erlaubt das Hervorbringen von Bewegungsmaterial in den Proben, als kollektive Produktions- wie Aufführungspraxis zu fassen. Zu dieser Praxis gehören Momente des Geschehen-Lassens wie der Konzeption. Und sie ist an institutionelle und konkrete materielle Vorgaben – Probenzeiten, Probenraum, ökonomische Bedingungen – gebunden.

3

Im Folgenden abgekürzt mit WtPB.

4

Theaterproben sind von Dokumentarfilmern in jüngerer Zeit exzessiv beobachtet worden. Wie hier Konzepte von künstlerischer Arbeit formuliert werden, untersucht der von Stefanie Diekmann 2014 herausgegebene Band Die andere Szene. Die Filme präsentieren oft einen ethnografischen Blick auf den Probenprozess, der die eigene Form künstlerischer Arbeit mitreflektiert.

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W AS TUN P INA B AUSCH UND IHRE T ÄNZER W UPPERTAL ?

IN

Mit dieser Frage ist der Film Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? überschrieben. Im Fragen nach dem künstlerischen Tun, das in eine Verbindung zum Ort der künstlerischen Produktion gesetzt wird, eröffnet Wildenhahn seine Reflexion über das Verhältnis von Material und dessen Bearbeitung im Tanz wie im Film. Er vergleicht dabei den Prozess des Dokumentierens und Montierens im Film mit den Probenverfahren Pina Bauschs in der Probenarbeit zu ihrer Inszenierung Walzer. In den Fokus rückt – in der präsentierten Probenarbeit wie auch in der Reflexion des eigenen filmischen Tuns – die Frage, wie aus der Beobachtung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit künstlerisches Material wird und wie dieses bearbeitet und gestaltet wird.5

S UCHEN , F INDEN , S AMMELN »Ich mache kein Stück, ich sammle zuerst Material« (Bausch zit. n. Schwarzer 1987), erklärt Pina Bausch in einem Interview. Nicht das Finden von Material, das bereits auf die Idee einer späteren Inszenierung verweist, sondern das Sammeln erklärt die Choreografin zur bestimmenden Praxis der ersten Phase ihrer Probenarbeit. Sammeln heißt, Dinge aus verschieden Kontexten, an einen gemeinsamen Ort zu transportieren, um sie dort zusammenzuführen und sie damit in einen neuen Bezug zueinander zu setzen. Es eröffnet sich damit die Frage nach der Rahmung der Sammlung: Was wird gesammelt und wie wird es gesammelt? Der Verweis der Choreografin auf das Sammeln – im Gegensatz zum Entwerfen – kann auch als Behauptung gelesen werden, verschiedene Materia-

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Wildenhahn präsentiert in seiner Dokumentation neben Probenbeobachtungen beispielweise Aufnahmen von der Stadt Wuppertal, von Imbissen und Werbeplakaten für die Schwebebahn, die, nicht chronologisch angeordnet, das Werden der Choreografie verfolgen. Am Ende des Films spricht er vom eigenen Montageprozess des bisher aufgenommen Materials und konfrontiert diesen mit Probensequenzen, in denen Pina Bausch eine Bewegungsabfolge in immer neuen räumlichen und personellen Konstellationen erprobt. Er setzt damit den Prozess des Beobachtens und Hervorbringens als Materialgenese und die spätere Montage des eigenen Filmes in ein selbstreflexives Verhältnis zu jenen Prozessen in den Proben der Choreografie. Diese Analogie gibt eine bestimmte Perspektive auf die Proben vor: Proben (ebenso wie Filmen) präsentiert sich als Hervorbringen und Montieren von Material. Vgl. dazu Matzke 2014.

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lien nebeneinander zu stellen, ohne diese in einem ersten Schritt zu werten, zu klassifizieren. Zugleich stellt sich aber hinsichtlich der Bewegung die Frage, wann und wie diese zu einem ›sammlungsfähigen‹ Material wird. In den Fokus rücken die Materialien in ihrer Eigenheit, jenseits der Anbindung an eine künstlerische Vision der Choreografin. Die Probenarbeit von Pina Bausch ist vor allem hinsichtlich ihrer Technik, den Tänzern Fragen zu stellen, ausführlich beschrieben worden (vgl. u.a. Schlicher 1987, 139ff.; Schmidt 1999; Lampert 2007; Mulroony 2002, 149-198). Betont wird dabei immer wieder die Offenheit, mit der nach Material gesucht würde. Nicht vorher festgelegte Schrittfolgen wären Ausgangspunkt der Inszenierungen gewesen, sondern ein loser thematischer Rahmen, der in einem kollektiven Suchprozess nach und nach bestimmt würde. Hinsichtlich der Frage nach dem Bewegungsmaterial tritt hier vor allem das Verhältnis von Sprache und Material in den Fokus. Die sprachlich formulierte Aufgabe wird in Bewegung übersetzt, die in den Proben zur Aufführung gebracht wird. Diese Technik des Suchens und Sammelns findet sich auch im Film von Klaus Wildenhahn. Immer wieder stellt Pina Bausch Aufgaben, um Bewegungsmaterial zu finden: »Beschreiben, also uns erzählen, was ihr tut, wenn ihr weint« (WtPB, 0:39) oder »Ihr tanzt miteinander und Du erzählst, wie man lacht, dabei seid ihr ganz ernst; Ihr erzählt, wie ihr gelacht habt« (WtPB, 0:45). Die Tänzer erarbeiten individuell oder zu zweit Szenen und präsentieren ihre Antworten in kurzen Aufführungssequenzen dem Regieteam wie auch den anderen Mitgliedern des Ensembles. Die Choreografin gibt den Rahmen vor, in dem die Tänzer etwas entwerfen, das erst durch die Beobachtung der anderen zum Material wird. Am elften Probentag (WtPB, 0:51) dokumentiert der Film folgende Situation. Es scheint Pause zu sein. Pina Bausch tanzt im Probenraum herum und isst dabei. Barockmusik ist zu hören, Bühnenarbeiter gehen durch das Bild, andere Tänzer kommen dazu, sie tanzen miteinander, deuten Gesten im Takt der Musik an, Tanzfiguren werden ausprobiert: Es beginnt ein Spiel mit Handgesten. Mit zwei Fingern wird ein Pas de deux getanzt. Dagegen wird im Film eine andere Situation gesetzt: In einer Großaufnahme werden die Hände von Pina Bausch gezeigt, die in ihren Notizen blättert. Sie hält eine Zigarette in der Hand und beginnt nun selbst mit den Fingern zu tanzen. Gezeigt wird das Lesen der Aufzeichnungen und die Übersetzung des Notats: ein Ausprobieren des Aufgezeichneten mit den eigenen Händen, ein Durchspielen von Möglichkeiten. Es folgt eine weitere Sequenz. Einige Tänzer präsentieren kurze Szenen, die aus Improvisationen entstanden sind. Zwei Tänzer tanzen mit ihren Händen einen Tango, in dem die Gesten aus der vorherigen Szene wiederzuerkennen sind. Sie brechen

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ab, sprechen miteinander. Dann die nächste Präsentation des individuell erarbeiteten Materials: Ein Tänzer sitzt allein auf einem Stuhl, seine Hände tanzen mit sich selbst. Die kurze Szenenabfolge macht deutlich, dass jede Bewegung potentiell zum Material der Choreografie werden kann. Hier sind es die Bewegungen der Finger beim Herumalbern in der Pause. Der Rahmen der Proben wird selbst in Frage gestellt. Wann genau beginnt Probenarbeit und damit die Genese des Materials? Die Grenzen der Probe sind diffus. So sind es nur bedingt die Eigenschaften des Materials, die es aus einem Außen herauslösen und für die künstlerische Bearbeitung legitimieren, als vielmehr ein Akt der Auswahl durch die Choreografin. Da alles Material sein kann, bekommt das Auswählen eine neue Bedeutung. Erst dadurch, dass Pina Bausch den Fingertanz auswählt, ihn notiert und archiviert und schließlich in eine neue Aufgabenstellung überführt, wird aus der einfachen Bewegung auf der Probebühne Probenmaterial. Erst der definierende Blick der Choreografin, die Aufnahme in das Archiv der Probe in Form ihrer Mitschriften und die daraus folgende Aufgabenstellungen erklären den Fingertanz zum Material, das einer weiteren Bearbeitung wert ist. Mit jener definitorischen Geste beginnt nun eine Transformation des Materials. Aus dem Herumalbern in der Pause wird eine Aufgabenstellung, die das einmal Gefundene in immer neue, andere Rahmungen setzt und in kurzen Aufführungssituationen überprüft. Mit dem Akt des Auswählens verbunden ist dabei zugleich ein Moment der Unterbrechung und Isolierung. Bewegungsabläufe werden in definierbare Einheiten zerlegt. Jene Sequenzierung ist notwendig, um das Material kommunizierbar und teilbar und damit für die Bearbeitung handhabbar zu machen. Dabei werden Choreografin wie Tänzer in einem gemeinsamen Prozess gezeigt. Sie probieren der Möglichkeiten eines Fingertanzes in verschiedenen Konstellationen: zu zweit, gemeinsam mit mehreren, allein. Präsentiert wird ein kollektiver Prozess, in dem das Material – der Tanz mit den Fingern – weitergegeben wird und im Probenprozess verschiedene mediale Zustände durchläuft: von der Choreografin zu den Tänzern, von der Improvisationssituation in das Notizbuch, von der Aufzeichnung zur Aufgabenstellung. Das Material ist dabei weder an eine Person noch ein bestimmtes Medium gebunden. Hier eröffnet sich auch ein jeweils anderes Verhältnis der Probenbeteiligten zum Material. Die Suche nach dem Material wird als kollektiver Prozess in Szene gesetzt, der zwischen verschiedenen Positionen wechselt. Pina Bausch gibt den Tänzern Aufgaben, die ihnen eine Offenheit in der Suche ermöglichen. Was sie präsentieren, steht ihnen frei. Sie finden ihre eigenen Bewegungen und szenischen Lösungen. Das, was sie präsentieren, kann nicht jenseits ihrer Erfahrungen und den körperlichen Bedingungen gedacht werden. Im Gegenteil: Die Proben-

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arbeit zielt gerade darauf, Material hervorzubringen, das sich aus der (Körper-) Biografie der Tänzer ergibt. Was jedoch als Material in die Inszenierung Eingang finden soll, wird in einem zweiten Schritt definiert. Es ist Pina Bausch, die benennt, was zum Material wird, und damit das persönliche und individuelle Material der Tänzer in die Sammlung der Proben aufnimmt und es so wieder von den Tänzern loslöst.

S PIEGELSZENEN – B EOBACHTUNGSKONSTELLATIONEN Am 18. Probentag, wie ein Zwischentitel verrät, stehen Pina Bausch und das Ensemble gemeinsam vor einem Spiegel (WtPB, 0:56). Pina Bausch macht eine, in kurze Abschnitte unterteilte Bewegungsabfolge vor, die für alle im Spiegel sichtbar ist. Minutiös geht sie die einzelnen Bewegungen durch, stoppt immer wieder und erklärt das, was sie tut, mit Worten. Die Tänzer verfolgen die Bewegungen Bauschs und nehmen diese mimetisch ab. Die Bewegungen werden in neuen Variationen wiederholt, der Blick der Tänzer wechselt zwischen dem Körper der Choreografin und dem eigenen Körper im Spiegel. Im prüfenden Blick auf das eigene Tun findet eine ständige Selbstkorrektur statt. An der Seite im Probenraum sitzt eine Assistentin, die alles beobachtet und mitschreibt. Neben den Körpern der Tänzer tritt hier der Körper der Choreografin in die Szene. Bereits vor der Probe ist die Bewegungsabfolge von Pina Bausch festgelegt worden. Wie sie allerdings zu dem Bewegungsmaterial gekommen ist, zeigt der Film nicht. Zu sehen ist ein Aneignungsprozess, in dem sich die Tänzer das fremde Bewegungsmaterial zu eigen machen. Sie beobachten nicht nur die Choreografin, in der Selbstbeobachtung gleichen sie dann die eigenen Bewegungen mit denen von Pina Bausch ab. Aus dem individuellen Material wird ein kollektives. Allerdings definiert Pina Bausch im prüfenden Blick auf die Tänzer, wie dieses Material aussehen soll. Hier wird ein Wertungssystem durch die Choreografin eingeführt. Der Status des Materials verändert sich somit während des Probenprozesses und in verschiedenen Probenformen. Das Corpus an möglichem Bewegungsmaterial ist in dieser Probenphase nicht mehr alles, was der Körper hervorbringen kann, sondern eine festgelegte Form und Abfolge, die es zu erlernen gilt. Damit findet eine Hierarchisierung im Verhältnis zum Material statt: Pina Bausch wird zum Modell und damit Bezugspunkt für die Bewegungen der Tänzer. Eine bestimmte Qualität der Bewegung ist bereits definiert, und diese gilt es in der Aneignung der Bewegung zu reproduzieren. Die Erarbeitung des Materials orien-

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tiert sich hier an einer Norm, die es zu erreichen gilt. Die Bewertung einer ›richtigen‹ und ›falschen‹ Form der Bewegung wird eingeführt. Für die Frage nach dem Material der Probe bekommt hier der Spiegel eine wichtige Funktion. Der Spiegel ermöglicht Bausch, sich selbst beim Vortanzen zu überprüfen und zugleich die sie kopierenden Tänzer zu korrigieren. Der gemeinsame Blick in den Spiegel umgeht die Leerstelle, dass der Tänzer das Material im Akt seiner Bearbeitung nicht selbst sehen kann. Der Aneignungsprozess funktioniert über eine Verschaltung von Fremd- und Selbstbeobachtung. Der Spiegel ermöglicht eine Distanzierung zur Bewegung. Im Spiegel kann das Material den Tänzern wie auch der Choreografin buchstäblich ›gegenübertreten‹. Wobei der Prozess der mimetischen Abnahme – Vormachen und Wiederholung – als problematisch gezeigt wird. Er bedarf vielfacher Wiederholungen und einer Kommentierung durch Sprache: »So wie streicheln« oder »so wie den Arm holen«, erklärt die Choreografin. Die Bewegung wird in einem Kontext von bekannten Bildern verortet. Sie bekommt eine Bedeutung zugewiesen. Dagegen gibt es andere Abschnitte, die noch nicht definiert sind: »Und dann so was, so was Ähnliches, so was, ich weiß nicht so genau.« (WtPB, 1:34) Hier ist das Material gerade nicht bezeichnet, der Prozess der Aneignung dient zugleich einer Überprüfung des Materials selbst, das erst im Vormachen und Abnehmen hervorgebracht wird. Das Material wird im Prozess des Vormachens, Beschreibens und Wiederholens immer mehr ausformuliert, ohne dass es je endgültig definiert wird. Der Spiegel, die Diskursivierung der Bewegung durch Sprache oder ihr Notieren in der Schrift dienen zur Speicherung und Distanzierung des Materials. Das Wissen um das Material muss gemeinsam hergestellt werden und dies gelingt nur in der Übertragung in die verschiedenen Medien der Distanzierung wie Archivierung. Der Bewegung wird hier trotz ihrer Flüchtigkeit in der Übertragung in ein anderes Medium scheinbarer Objektstatus zugewiesen als ein vorübergehender Fixpunkt in einer Reihe von Transformationen – auch wenn das, was festgehalten wird, immer etwas anderes ist als die Bewegung selbst.

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VERSCHIEBEN

»Die Tänzer haben sechs Wochen lang ihre Erfindungen, ihre Bewegungsabläufe, ihre Antworten aufgeschrieben, dann beginnt Pina Bausch einzelnes wieder abzufragen. In den Notizbüchern wird zurückgeblättert. Vieles wird verworfen, einiges wiederholt, stückweise belassen, wiederholt, anders gereiht, wiederholt. Der Montageprozess des Tanzes hat begonnen. Am 22. Probentag gab es ein Stichwort von Pina Bausch ›Verschiedene Mög-

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lichkeiten zu Streicheln‹. Mehrere Improvisationen wurden erst mal entwickelt. Über blieb eine. Diese wurde drei Wochen später wieder abgerufen und noch eine Woche später mit Improvisationen zu anderen Stichworten zusammengebracht.« (WtPB, 1:33)

So heißt es im Off-Kommentar von Klaus Wildenhahn. Der Montageprozess des Filmes wird in Analogie zum Montagprozess der Inszenierung gesetzt. Der Phase des Materialsammelns folgt nun die Bearbeitung und Formung. Es folgt eine Sequenz, in der die Probenarbeit an den »Möglichkeiten des Streichelns« (WtPB, 1:33) gezeigt wird. Der Film zeigt hintereinander Probensituation vom 22., 37., 42. und 45. Probentag. In einer Großaufnahme ist ein Paar, eng miteinander tanzend, zu sehen. Sie fahren sich durch die Haare und über die Wangen und drehen sich im Takt umeinander. Die gleiche Bewegungsphrase wird mehrmals wiederholt. Im Hintergrund sieht man andere Paare das Gleiche tun. Dagegen wird ein Bild von Pina Bausch geschnitten, die mit einer nicht angezündeten Zigarette in der Hand das Geschehen beobachtet. Sie wippt im Takt mit und verfolgt genau, was auf der Bühne passiert. Im Film bleibt die Leerstelle dessen, was sie beobachtet. Jene Bewegungsabfolge des Streichelns wird nun an den verschiedenen Probentagen in immer wieder anderen Versionen probiert. Die Tänzer werden dabei gegenseitig zum Modell, beobachten die Bewegungen der jeweils anderen, korrigieren und übernehmen Bewegungsdetails. Sprachliches Kommentieren und körperliches Nachvollziehen stehen dabei nebeneinander. Hier zeigt sich im Besonderen der prozessuale Charakter des Bewegungsmaterials: Immer wieder wird auf ein bereits Gewesenes, etwas Gezeigtes verwiesen und zugleich an einer Progression, im Sinne einer ständigen Perfektionierung, gearbeitet. »Can you tell exactly what you did with your feet« (WtPB, 1:39). Auf diese Aufforderung von Pina Bausch erklärt die Tänzerin verbal und zeigend, was sie mit ihrem Bein und Fuß macht. Bausch ist aber unzufrieden: »Usually when you did it, you did it almost bent. The foot was not flexed, but a little bit like flexed«. Die Tänzerin weiß nicht mehr genau, was sie getan hat. Bausch kritisiert noch mehr: »I feel too: It was sooner, it wasn’t so short« (WtPB, 1:40). Die anderen Tänzer kommentieren das Gezeigte, machen Vorschläge, wie die Bewegungen ausgesehen haben. Wieder macht das Paar die Abfolge vor und wieder ist Bausch unzufrieden, bricht die Musik mit einer Geste ab: »Aber du hast es immer so reingemacht. It looked like in here. I don’t know what you did, but it looked like the body had to go like that« (WtPB, 1:40). Hier zeigt sich der prekäre Status des bereits Erarbeiteten. »Ich weiss nicht, was Du gemacht hast« (WtPB, 1:41), dieser Kommentar von Pina Bausch zeigt, dass es kein gesichertes Wissen um das Material gibt. Es entzieht sich sowohl

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der Kontrolle der Tänzer wie auch der der Choreografin. Die Arbeit mit dem Material ist immer auch eine Arbeit mit und gegen den Verlust des einmal Gezeigten. Damit wird aus der Probe eine Prüfungssituation. Die Tänzer stehen unter Beobachtung und unter dem Druck, das gleiche Material zu generieren, das sie bereits einmal gezeigt haben. Es verändert sich so auch das Verhältnis der Tänzer zu dem Material: Gearbeitet wird an einem Wieder-Holen des Materials im buchstäblichen Sinne. Zur Wiederholung gehört damit auch der Versuch einer Sicherung von Wissen: Das, was bereits erarbeitet worden ist, soll durch ein Wiederholen geübt, gespeichert und damit abrufbar werden. Doch mit der Sicherung ist zugleich die Gefahr verbunden, genau das, was wiederholt werden soll, zu verlieren. Denn jede Wiederholung eines formal identischen weicht notwendigerweise von der Vorlage ab, ohne allerdings etwas Neues zu konstituieren. Damit ist jener Prozess der Sicherung von Material nicht von der Suche nach Material zu trennen. Im Prozess der Erinnerung an das einmal generierte Material wird nach bestimmten Eigenschaften des Materials gesucht, ohne diese verlässlich kontrollieren zu können. Jede Probenarbeit bewegt sich damit im Paradox, nicht nur das Material zu bearbeiten, sondern immer zugleich auch daran zu arbeiten, den alten Zustand wieder herzustellen. Der Suchprozess ist nicht abgeschlossen, sondern muss immer wieder neu mit vollzogen werden. Denn auch wenn das Material bereits definiert ist, muss es immer neu zur Aufführung gebracht werden. Es muss erst aufgeführt werden, um dann verändert zu werden. Insofern ließe sich der Akt der Bearbeitung als ein Abgleichen und Verschieben von Materialeigenschaften beschreiben, der das bereits gezeigte Material notwendigerweise verfehlen muss. Es ist die Annäherung daran ein Material zu reproduzieren, das ›unwiederholbar‹ ist. Für das Verhältnis der Tänzer zum Material findet dabei noch ein zweiter Prozess statt. Im verfehlenden Wiederholen des bereits früher Gezeigten findet eine Entfremdung statt. Die von den Tänzern präsentierten Bewegungen werden von der Choreografin als Material definiert, über dessen Form und Status sie entscheidet. Für die Tänzer bedeutet dies eine (teilweise) Enteignung der eigenen Bewegung. Die von anderer Seite modellierten und bearbeiteten Bewegungen bedürfen nun einer erneuten Aneignung unter dem prüfenden Blick der Choreografin.

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ARCHIVE

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Zum Sammeln des Materials gehört auch seine Archivierung. Immer wieder zeigt der Film Situationen, in denen Bausch, Assistenten, aber auch die Tänzer mitschreiben. Dieses Mit-Schreiben verweist auf die Gefahr des Verlusts des einmal Gefundenen. »In den Notizbüchern wird zurückgeblättert« (WtPB, 1:33), ist der Off-Kommentar von Klaus Wildenhahn, der den »Montageprozess« (WtPB, 1:33) der Inszenierung zu beschreiben versucht. Im Proben findet sowohl ein Prozess der Archivierung statt als auch die dramaturgische Gestaltung des Materials, die selektiert, fokussiert, verschiebt und damit verändert. Hervorbringung, Archivierung und Bearbeitung des Materials sind nicht zu trennen. Doch haben die an den Proben Beteiligten unterschiedliche Positionen in diesem Prozess. Das Material, das in vielteiligen Arbeitsschritten erfasst und montiert wird, ist bei der Probenarbeit – anders als im Film – immer an die Tänzerkörper gebunden und verändert sich mit ihnen. Aber auch wenn die Tänzer die Bewegungen und ihre Improvisationen hervorbringen, sich Aufzeichnungen machen und bei der Arbeit ›mitschreiben‹, gelten sie am Ende nicht als Autoren der Choreografie. Die Proben präsentieren sich als eine kollektive Arbeit an und mit dem Körper –, die aber durch einen Blick von außen kontrolliert wird. Letztlich wird Bausch als Archivarin der Proben gezeigt, die über Ein- und Ausschluss des Materials aus den Proben entscheidet.

P ROBE S ACRE – W IDERSTÄNDIGKEIT

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Der Film Probe Sacre. Ein Probendokument von Pina Bausch6 präsentiert eine ganz andere Probensituation. Hier arbeitet Pina Bausch nur mit Kyomi Ichida im Januar 1987 an einem Part der Inszenierung Le Sacre du Printemps in der Lichtburg, dem Probenraum von Pina Bausch in Wuppertal. Aufgrund der Erkrankung einer Tänzerin muss der Part der Jungfrau umbesetzt werden. Pina Bausch studiert mit der Tänzerin den Solopart ihrer Inszenierung ein. Assistentin und Musiker schauen dabei zu.7 Vor dieser Probe liegt bereits eine andere, nicht aufgezeichnete Probe. Kyomi Ichida hat von der erkrankten Tänzerin des Parts, Beatrice Libonati, die Be-

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Im Folgenden abgekürzt mit PB. Anders als bei der Dokumentation von Klaus Wildenhahn, liegt hier der Fokus auf der Arbeit von Choreografin und Tänzerin. Nichts anderes wird gezeigt. Die Bedingungen und Voraussetzungen des Probens werden nicht weiter thematisiert.

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wegungsabfolgen gelernt. Ähnlich wie in der zuvor beschriebenen Szene vor dem Spiegel wird dabei die bisherige Tänzerin zum Modell, das zum Vorbild für die Bewegungen Ischidas wird. Eine erste Aneignung des Materials hat also bereits stattgefunden. Der Film setzt nun mit einer neuen Probensituation ein. Unter dem prüfenden Blick der Choreografin zeigt die Tänzerin scheinbar fehlerfrei eine lange Bewegungssequenz zur Musik Strawinskis. Doch weder Pina Bausch noch die anderen Beobachtenden im Probenraum sind zufrieden. Es beginnt eine minutiöse Arbeit an einzelnen Abschnitten, die mehrmals wiederholt werden. Es lassen sich drei Phasen voneinander abgrenzen: Unter dem Blick der Choreografin zeigt die Tänzerin das Erarbeitete, die Korrektur geschieht durch ein erneutes Vormachen und Abnehmen und schließlich wird alles mit der Musik überprüft. Es treffen dabei zwei Materialien der Aufführung aufeinander, die jeweils einen anderen Status haben: die Bewegungen, die sich einer genauen Fixierung entziehen und die Musik, die scheinbar eine Objektivität durch Zählzeiten und Orientierungspunkte vorgibt. Sie wird zur Korrektur- und Erinnerungsmaschine. Die Szene verdeutlicht den problematischen Status eines Bewegungsmaterials, das bereits vielfach aufgeführt wurde und nun einer anderen Tänzerin weitergegeben wird. In der Konfrontation des bereits erarbeiteten Materials mit einem anderen Körper zeigt sich die Widerständigkeit des Bewegungsmaterials. Es überlagern sich Materialgenese (die Tänzerin muss die Bewegungen imitieren und für ihren Körper adaptieren) und Erinnerungsarbeit, in dem bereits Bearbeitetes wieder verfügbar gemacht werden soll. Dabei wird deutlich, dass auch Bausch kein gesichertes Wissen über die Bewegung besitzt. »Etwas ist komisch« (PB, 0:09), ist der Kommentar von Bausch. Die Formulierung verweist auf eine Vorlage, die allerdings nur in der Erinnerung existiert, deren Parameter aber nicht genau qualifizierbar sind. Das Material ist wiederum nicht einfach verfügbar, nicht von einer Videoaufnahmen oder der Tänzerin der ersten Besetzung zu übernehmen, sondern muss in der Aufführung überprüft werden. Oder anders gesagt: Jedes Proben – wie auch jede Aufführung – ist immer ein Aktualisieren und Angleichen von Material. Erst im Moment seiner Aktualisierung in der (Probe-)Aufführung kann das Material betrachtet und bewertet werden. Hier zeigt sich auch die Vielstimmigkeit in der Erarbeitung des Materials. Jede und jeder der verschiedenen an der Probe Beteiligten – die Tänzerin des Originalparts, die Choreografin, die Assistentin, der Musiker – hat ein Wissen um das Material, das weder fixiert noch statisch ist. Es zeigt sich sowohl als etwas Objektives, dem bestimmte Eigenschaften wie Zählzeiten, Bodenwege etc. zugeordnet sind als auch als subjektives Material, das an den individuellen Körper der jeweiligen Tänzerin gebunden ist.

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In den Fokus rückt dabei die Zeitlichkeit des Materials: im Verhältnis von Wiederholung und Unterbrechung. Die Unterbrechung markiert den Moment der Bearbeitung als Korrektur und Veränderung des Gezeigten. Dies bedeutet auch immer ein Wieder-Anfangen: die Bewegungsabfolge wird unterbrochen, kommentiert und kritisiert, um dann in neuer Form wieder gezeigt zu werden. Auch wenn sich diese neue Form vom bereits Gezeigten unterscheidet, ist sie doch eine Wiederholung: Es wird eine andere Lösung der Darstellungsaufgabe angeboten. Da das Material an seine Aufführung gebunden ist, markiert die Unterbrechung den Akt des Bearbeitens. Dabei wird im Verweis auf das Vergangene zugleich in der Unterbrechung eine Vorstellung des Zukünftigen gezeichnet. Mit dem Kommentar »nicht so, sondern so« ist die Wiederholung damit auch immer ein Abgleich mit den Möglichkeiten einer zukünftigen Darstellung. Durch Unterbrechungen wird die Abfolge der Bewegung in kleine und kleinste Sequenzen geteilt, die kaum noch einen Eindruck des Gesamtzusammenhangs möglich machen. Die Bewegungen kommen ins Stottern. Die klaren Positionen von Tänzerin, die etwas zeigt, und Choreografin, die kommentiert, lösen sich auf. Beide probieren Bewegungsabfolgen aus, kommentieren ihr eigenes als auch das fremde Tun. Es eröffnet sich ein gemeinsames mimetisches Hervorbringen der Bewegung. Es gibt keine Abgrenzung von Vorführung und Kommentierung. Es entsteht ein fortlaufender Prozess von Tun, Imitieren, Kommentieren und Wiederholen, in dem sich diese Praktiken zunehmend überlagern. Das Material wird damit in einem dialogischen Prinzip zwischen den beiden Positionen hin und her gespielt: Jedes Tun erwartet eine Antwort, sei es durch eine Bewegung, einen Kommentar oder ein erneutes Tun. In der Überlagerung von Zeigen und Bewerten, Vorführen und Nachmachen präsentiert sich die Bearbeitung des Materials als kollektives Programm im Dialog. Es wird explizit auf eine Wiederholung und zugleich eine Verschiebung des Bewegungsmaterials hingearbeitet, die jeder Wiederholung eigen ist. In diesem Sinne zielt die Arbeit immer auch auf ein Über-holen: eine Steigerung zum Vorhergehenden. Die Neubesetzungsprobe zielt damit auf zweierlei: Erstens auf die Aneignung und damit Verfügbarmachung des Materials im Sinne einer Automatisierung. Zweitens ist die Situation als dialogischer Prozess aber auch durch ein Moment der Responsivität8 gekennzeichnet: ein Dialog als ›Zwischenreich‹, im

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Bernhard Waldenfels erkennt in der Responsivität des Menschen einen »Grundzug allen Reden und Tuns« (Waldenfels 1994, 237), verbunden ist damit ein Konzept des Antwortens als Eingehen auf den Anspruch einer anderen Person – im sprachlichen wie im nicht-sprachlichen Bereich. Was immer wir tun oder sagen, wir antworten damit auf das Handeln eines anderen. Responsivität kann somit als Sphäre bestimmt

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Sinne Waldenfels‘, in dem zwischen Choreografin und Tänzerin etwas zustande kommt, »was keiner für sich zustande brächte.« (Waldenfels 1971, IX) Ein solcher Dialog, der von der gegenseitigen Aufmerksamkeit als Form des Antwortens geprägt ist, geht nicht in der Ordnung von Vorgeben und Nachmachen auf. In der Überlagerung, in der Lücke, im wechselseitigen Fragen und Antworten entstehen vielmehr Spielräume. Auch die Choreografin präsentiert sich hier als Improvisierende. Noch auf einer anderen Ebene wird hier die Prozessualität des Materials evident: in der Aufforderung an die Tänzerin, die Bewegung nur zu markieren. Markieren bedeutet die Bewegungen nicht in voller Intensität auszuführen, sondern diese nur anzudeuten. Diese Aufforderung zielt auf eine Reduktion der Komplexität des bereits erarbeiteten Materials. Erst in der Reduktion in Form der Konzentration auf Rhythmus oder die räumliche Verortung kann sich das Material zeigen. Dies verweist dabei noch auf eine weitere Dimension der Probe: hier wird eine Probe des Materials gegeben, vergleichbar mit einer Stoffprobe, die zwar eine bestimmte Qualität hervorhebt9 – die Zählzeiten, die Wege durch den Raum –, aber nicht das Material in allen seinen Eigenschaften zeigen kann. Für die Tänzerin ermöglicht das Markieren die Konzentration auf einen Aspekt des Materials. Durch die Ausblendung anderer Ebenen lässt sich das Material nach und nach erschließen. Die Arbeit am Material findet somit schichtweise statt, ohne diese Schichten genau voneinander trennen zu können. Die Problematik wie Potentialität der Probe auf dem Theater liegt in der Notwendigkeit wie Möglichkeit an und mit Verschiebungen des Materials zu arbeiten: in der Konzentration auf den Weg durch den Raum oder die Wendepunkte in der Musik. Dabei ist das Material selbst einer permanenten Transformation unterworfen, die allerdings durch zwei widersprüchliche Prozesse gekennzeichnet ist. Den der Optimierung und Annäherung an ein Ideal der Aufführung und dem gleichzeitigen Verlust der Bewegung durch die Erschöpfung der Tänzerin. Denn in der Wiederholung findet nicht nur eine Annäherung an das Material in seiner Bearbeitung statt. Die Wiederholungen haben auch Effekte auf den Körper der Tänzerin, der immer mehr ermüdet. Immer wieder fordert Bausch diese auf, nur zu markieren, damit sie sich nicht erschöpft. Der Körper der Tänzerin ist für die Aufführung des Materials notwendig, zugleich entzieht er sich aber der vollen Kontrolle, sodass durch seine Erschöpfung in Frage steht, ob das Material über-

werden, »die weder in der subjektiven Intention noch in der transsubjektiven Koordination zu ihrem Recht kommt« (ebd., 332). 9

Auf diesen Aspekt verweist Goodman hinsichtlich seiner Überlegungen zur Probe. Vgl. Goodman 1984, 83ff.

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haupt wahrgenommen werden kann. Diese Dimension des Probematerials kann über ein Konzept der Zeitlichkeit beschrieben werden: Das Material muss permanent aktualisiert werden und jene (zeitlichen) Prozesse des Aktualisierens selbst nehmen wiederum Einfluss auf das Material, das bearbeitet wird. Der Status der Autorschaft wird damit auf einer weiteren Ebene prekär: weder Tänzerin noch Choreografin haben eine vollständige Kontrolle über das Material. »Was liegt am Anfang eines choreografischen Werkes«, fragt die französische Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe in ihrer Poetik des zeitgenössischen Tanzes. »Nichts« ist ihre Antwort (Louppe 2009, 215). Jenes ›Nichts‹ ist kritisch zu hinterfragen, da jedem Probenprozess ein anderer vorangegangen ist, jede Tänzerin und jeder Tänzer hat bereits trainiert und geprobt. Keine Probe – auch nicht zu Beginn des Prozesses – findet in einem leeren Raum statt, sondern jeder Probenprozess greift auf ein Archiv von Bewegungen, Inszenierungen und Techniken zurück. Jede Genese von Material ist damit auch ein Refigurieren, Arrangieren und Zitieren. Der Blick auf die Proben zeigt die Qualität des Bewegungsmaterials nicht in seiner Objekthaftigkeit, sondern in seiner Prozessualität. Es bleibt im Status des Vorläufigen und ist nicht jenseits seiner Aufführung zu denken. Nur um den Preis einer Übertragung in ein anderes Medium – die Sprache, den Spiegel, die Schrift – und in einer beständigen Erinnerungsarbeit ist seine Bearbeitung möglich.

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Gesten der Revolution: Material-Bewegung in Burning Beasts von Claudia Bosse G ERALD S IEGMUND

Der kleine blaue Rover 200 liegt mit der Schnauze nach vorne gekippt auf den Stufen des Frankfurter Doms. Wie ein stützendes Kissen hat ihm jemand einen Autoreifen unter die Karosserie geschoben, gerade so, als ob damit der Absturz abgefedert werden sollte. Das Auto ist zerbeult. Der Kofferraumdeckel schließt nicht mehr richtig und das zerschlagene Fenster auf der Fahrerseite wurde mit einer dicken Plastikfolie notdürftig abgedichtet. Dort, wo früher einmal der Motor war, klafft eine gähnende Lücke, die den Blick auf einen Innenraum aus Blechstreben und hervorstechenden Metallteilen freigibt, die längst keine Funktion mehr haben. Ein kleiner Scheinwerfer am Boden taucht dieses ebenso gespenstisch anmutende wie ungewöhnlich faszinierend wirkende Ding in ein kaltes blaues Licht. Ein Mann erzählt von Ägypten. Aus dem Autowrack tönt seine Stimme, deren Klang an unseren Ohren über den Historischen Garten hinauf zum Plateau der Schirn vorbeizieht. Er berichtet davon, wie er vom Fenster eines Tanzstudios in Alexandria die Vorgänge auf der Straße vor dem Haus beobachten konnte, wo sich Demonstranten gegen die Mubarack-Regierung versammelt hatten und sich Kämpfe mit der Polizei lieferten. In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden. Es nieselt leicht und die Kälte an diesem Februarabend zieht mir in die Knochen. Ich und ein paar weitere Zuschauer von Claudia Bosses Performance Burning Beasts, die mit ihrem Untertitel Intervention, Installation und Performance gleich eine ganze Reihe von Gattungsbezeichnungen aufruft, stehen neben dem Wrack auf dem Areal zwischen Dom und Römer in Frankfurt am Main, im Rücken den Frankfurter Dom aus rotem Sandstein, dessen von innen beleuchtete Fenster orangerot glühen als werde die Kirche gerade von innen von Feuer verschluckt. Mein Blick fällt über die alten Steine und Trümmer vor uns, den sogenannten Archäologischen Garten, der

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1972 beim Bau einer U-Bahn freigelegt wurde und der aus Mauern einer römischen Siedlung und eines merowingischen Königshofes besteht. Eben noch versammelte sich dort unten ein halbes Dutzend Jugendliche, die schwebend und elegant zwischen dem Gemäuer herumturnten wie die Gämsen im Gebirge. Hindernisse werden leichten Fußes überwunden, die Mauern zum Abprallen benutzt, um die Körper mit Schwung hinauf zu katapultieren auf die nächste Ebene, die nur als kurze Zwischenstation für den nächsten Sprung aus der historischen Tiefe hinauf auf die aktuellen Plateaus gegenwärtigen Handelns dient. Einer der Parcourstänzer trägt weite Bundfaltenhosen und einen Hut aus längst vergangenen Zeiten, als Mode noch Widerstand signalisierte. Links von uns steigt das Gebäude der Kunsthalle Schirn auf, das oberhalb des Historischen Gartens eine Art Vorhof, eine tellerartige Platte, aufweist. Auch dort stehen Autowracks herum, belagert und bestaunt von Zuschauern, die einigen Performern zuschauen, wie sie auf den Autos herumspringen. Rechts von uns fällt unser Blick auf den bemalten Bauzaun des Altstadtareals, auf dem bis 2011 das Technische Rathaus der Stadt stand. Mit dem Beschluss des Stadtparlaments, den 1974 eingeweihten Betonbau abzureißen, wurde auch der Beschluss gefasst, eben dort die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Altstadt wieder aufzubauen. Hinter dem Zaun, ein paar Treppenstufen darunter, befindet sich das Gebäude des Frankfurter Kunstvereins. Der Schlund aus Gebäuden, der sich ungefähr mit dem alten Krönungsweg deckt, auf dem im Mittelalter die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu ihrer Krönung in den Dom schritten (vgl. Frankfurter Kunstverein, 271), öffnet sich am anderen Ende auf den Römer, Sitz des Magistrats und der politischen Macht der Stadt Frankfurt heute. Über den schiefen Dächern des Rathauses ragt der Turm der Paulskirche hervor, der Ort, an dem am 3. Juli 1848 die erste deutsche Nationalversammlung ihre Beratungen über die »Grundrechte des deutschen Volkes« begonnen hatte (vgl. Frankfurter Kunstverein, 422). Nur ein Turm überragt auch aus unserer Perspektive vor dem glühenden Dom die Dächer der Stadt, denn die geschichtsträchtige Landschaft wird einzig überragt vom in der Signalfarbe Gelb angestrahlten Turm der Commerzbank. Viele Touristen aus fernöstlichen Ländern halten ihn bei ihrem ersten Besuchen in der Stadt irrtümlich für den Dom. Es ist still hier. Die historischen Sedimentierungen und Verwerfungen der Stadt Frankfurt am Main und Deutschlands liegen augenscheinlich vor uns. Burning Beats, die »Installation, Intervention und Performance zwischen Römer und Dom« von Claudia Bosse, entstand im Rahmen der Ausstellung Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen, die vom 20. Januar bis zum 25. März 2012 im Frankfurter Kunstverein zu sehen war. Bosses Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft

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der Universität Gießen. Für ihren Beitrag zur Ausstellung hat die Regisseurin, die mit ihrer Gruppe theatercombinat seit 1999 in Wien ansässig ist1, zehn Autowracks auf das historische Gelände transportieren lassen, die sie zusammen mit Marco Tölzer mit verschiedenen Lautsprechern versehen hat, aus denen heterogenes Textmatetrial aus Interviews, Selbstgesprächen und literarischen Texten zu hören war. Die Soundinstallation rund um die zehn Autowracks war in der Woche zwischen dem 13. und 18. Februar 2012 tagsüber im öffentlichen Raum zwischen Dom und Römer zugänglich. Während dieser Zeit haben die Performer zusätzliches Material für die Performance erarbeitet. Sie haben sich also auf dem Areal bewegt, wobei für zahlreiche Passanten nicht in jedem Moment klar sein konnte, ob das, was sich vor ihren Augen ereignete, nun tatsächlich geschah oder ob es nur gespielt war. Am 17. und 18. Februar fand in den Abendstunden eine Performance auf dem Areal statt, die die einzelnen Stationen durch eine Bewegungschoreografie verband: Sechs Performer2 in silberfarbenen Schutzanzügen für Feuerwehrleute verlassen das Gebäude des Frankfurter Kunstvereins, erklimmen im Stechschritt die Treppenstufen zum Gelände der Schirn und rennen anschließend in verschiedene Richtungen davon. Sie tragen schwarze Strumpfmasken und Motorradhelme, was ihrer Erscheinung eher den Charakter von Science-Fiction-Figuren verleiht als von gewalttätigen Revolutionären. Die Zuschauer können ihnen zu je einer der sieben Stationen folgen, an denen die zehn Autowracks solo oder in kleinen Gruppen angeordnet sind. Manche tun das, andere bleiben aber auch einfach stehen und warten bis sie sich alle unten im Archäologischen Garten wieder versammelt haben. Kunst und Kapital, Kirche und Kaiserdom, Politik und Macht, der Archäologische Garten und die Altstadtbrache gehen an Frankfurts zentralstem Ort auf engstem Raum eine geradezu paradigmatische Verbindung ein. Die historischen Schichtungen sind hier über Treppenstufen zu ergehen, hinab in die Geschichte, hinauf in die Zukunft, ein Hin- und Hergehen, das die Zeiten und Orte in der Bewegung miteinander verbindet, nur um mit jedem Umdrehen der Zuschauer das Band zwischen ihnen wieder zu lösen. Dazwischen, am Ort, den unsere jeweiligen Körper einnehmen, befindet sich ein merkwürdig poröses Heute, in das Claudia Bosse ihre kleinen Autobomben platziert hat. Sie sind Stolpersteine und

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Vgl. www.theatercombinat.com.

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Neben den beiden Schauspielerinnen Catherine Travelletti und Nele Jahnke performten die Gießener Studierenden Gregor Glogowski, Meret Kiderlen, Elisabeth Lindig und Arne Schirmel. Für die technische Einrichtung vor Ort und die anschließende Videodokumentation war Günther Auer verantwortlich. Fanti Baum hatte die Produktionsleitung inne.

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Mahnzeichen zugleich, Monstranzen im alten Sinne, Monster, die sich zeigen und im Zeigen auf sich selbst zeigen. Die Auto- und Audioskulpturen treten auf der Bühne der Stadt auf wie Schauspieler im Theater, um das Publikum aus ihren Lautsprechern heraus anzusprechen. Wie sie das tun und wie ihre Auftritte zu verstehen sind, ist Thema dieses Textes. Bosses Burning Beasts stellten sich für eine Woche den Touristen, die bis in die Abendstunden auf der Suche nach dem nächsten Fotomotiv auf dem DomRömerareal auf und ab gehen, in den Weg. Sie versperrten Durchgänge und gemahnten ans Innehalten und Zuhören. Zugleich fungierten diese abgebrannten Autos aber auch als Zeichen für Revolution und als Bilder medial vermittelter Umbrüche, die sich in das ikonografische Gedächtnis unserer Kultur eingeschrieben haben. These dieses Textes ist, dass sich die Installation/Performance dieses medial vermittelte Material wieder aneignet, dass sie es wiederverwendet und auf eine subjektive Haltung sowohl der Performer als auch des Publikums hin befragt. Bosse bringt das Material erneut ins Spiel. Sie spielt mit Bildern, Texten, Gesten, Posen und Haltungen und versetzt das Material dabei in eine Bewegung, für die es kein Ende gibt. Die medial aufbereiteten Reste revolutionärer Bewegungen gewinnen in der Performance einen allegorischen Charakter, dem es jedoch, wie zu zeigen sein wird, weniger darum zu tun ist, Bildern neue, andere oder überhaupt wieder Bedeutungen zu verleihen. Vielmehr legt Bosses Arbeit den Fokus auf die Bewegung des Materials, das somit zum Agenten für Aufbrüche wird.

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Am Eingang zum Dom, auf der Innenstadtseite Frankfurts, haben sich die Motorhauben zweier auf der Seite liegender Autos ineinander verkeilt. Zart erhebt sich Judy Garlands Stimme über der Unfallstelle und singt Somewhere over the Rainbow als kleine hoffungsvolle Geste der Utopie nach dem Crash. Dezent steigt Rauch aus den Trümmern. Das Lied wird in regelmäßigen Abständen unterbrochen. Zwischen den Einsätzen eröffnet sich eine Szene der doppelten Wahrnehmung und des doppelten Hörens. Aus einem Megaphon, das an einem der Autos angebracht wurde, ist die Stimme Claudia Bosses zu hören, die Gesetze zur Einhaltung der öffentlichen Ordnung vorliest. Wenn man sich als Zuhörer zwischen die beiden Autos begibt, vernimmt man noch eine andere Stimme, die in einem Interview immer wieder die Frage: »Was ist Revolution für dich?« stellt und sich selbst verschiedene Antworten darauf gibt. Ein Performer erzählt

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von fehlenden Alternativen, vom Rückzug ins Private, von der Gründung einer Kommune, von der Befürchtung, dass sich dadurch auch nichts ändern würde und von der Angst, die diese Vorstellung bei ihm auslöst. Später gehe ich hinauf zur Schirn, auf deren Plateau drei Autos in unterschiedlichen Schräglagen postiert wurden. In eines kann man sich sogar hineinsetzen. Ich nehme auf der Ladefläche hinten Platz. Diesmal werde ich direkt angesprochen. Leise, sodass ich mich konzentrieren muss, um das Gesagte zu verstehen, dringt eine Stimme aus einem kleinen Lautsprecher im Auto an mein Ohr. In der aktuellen gesellschaftlichen Lage, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer größer werde, seien die Deutschen wohl eines der unpolitischsten Völker Europas. Der Satz bleibt mir im Gedächtnis. Schräg hinter der Großbaustelle der Altstadt, mit deren Wiederaufbau die einst freie Reichsstadt Frankfurt die Wunden der Geschichte zu heilen versucht, prallt der Satz gegen die Mauern der Paulskirche, in der einst für die Rechte der Bürger gestritten wurde. Die in der Installation/Performance verwendeten Texte bestehen zum einen aus Interviews, die Claudia Bosse mit Menschen geführt hat, die sich entweder im eigenen Erleben oder in der eigenen Reflexion mit dem Thema Revolution auseinandergesetzt haben. Neben dem ägyptischen Tänzer wurden mehrere Interviews mit Wissenschaftlern und Philosophen aus dem Exzellenzcluster Die Herstellung normativer Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main verwendet, das maßgeblich an der Konzeption der Ausstellung beteiligt war.3 Zum anderen verwendet Bosse Texte, die man als Selbstbefragung der Performer zum Thema Revolution beschreiben kann. Aus den beiden Beispielen wird ersichtlich, dass die für die Installation und die Performance verwendeten Texte zwei Prinzipien folgen. Die Texte sind stets im Raum gezielt adressiert und gerichtet. In ihrer Adressierung entsteht eine doppelte Wahrnehmungssituation: Einerseits sprechen sie mich in einer intimen Situation scheinbar persönlich an, andererseits werden sie zugleich verstärkt und öffentlich gemacht. So wenden sie sich wie in dem geschilderten Selbstinterview an die Performer selbst, an individuelle Zuhörer und an die Öffentlichkeit. Während die Interviews einzig aus den Lautsprechern der Autowracks zu vernehmen sind, teilen sich die Texte des zweiten Typs zwischen zwei Orten der Artikulation auf. Einerseits werden auch sie auf die Lautsprecher verteilt. Ande-

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Aus dem Auto auf den Treppen vor dem Kunstverein war ein Interview mit Prof. Dr. Klaus Günther (Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main) zu hören. Aus einem der drei Autos auf dem Schirn-Teller sprach Dr. Daniel Loik (Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main).

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rerseits werden sie von einzelnen Performern live gesprochen. Dazu verwenden sie Megaphone, was dem Gesagten den Charakter einer öffentlichen Verlautbarung zukommen lässt. Doch wo diese in der Regel Missstände anprangern und Forderungen stellen, haben die Texte von Burning Beasts einen anderen, einen privateren Charakter. »Zürich 2010. Paradeplatz. UBS. Commerzbank. Sprüngli Café. Migros Supermarkt. Tramlinien. An den Cafétischen sitzen junge Menschen, junge Familien, trinken ihre Kaffees. Hier eine Horde 17, 18 Jahre alter Jugendlicher. Da ungefähr 30 Polizisten. Warum ich dieses Video ausgesucht habe?«, fragt eine Performerin. »Weil so wahnsinnig viele unbeteiligte Menschen herumstehen und ihre kleine Form des Glücks feiern.« Ein anderer erzählt von einem jungen Mann im Schneidersitz auf der Motorhaube eines Autos, der dem Betrachter freundlich zunickt. »Was ich an dem Bild interessant finde«, ruft er ins Megaphon, »ist, dass dahinter ein schwarzer Pick-up der Polizei des Mubarack-Regimes heranprescht und in wenigen Sekunden das Auto rammen und Menschen töten wird.« Eine andere Performerin erzählt von einer Autobombenexplosion in Palästina 2009 und einer Reihe erschossener Männer. »Die Frage ist nur«, so die Performerin, »wer das Foto gemacht hat«.4 Aus den Lautsprechern des roten Autos oberhalb des U-Bahn-Aufgangs beschreibt eine männliche Stimme ein Szenario mit brennenden Autos in Wohngebieten und bezieht sich damit offensichtlich auf eine Serie von Autobränden und Brandstiftungen, wie sie die Stadt Berlin etwa im Jahr 2011 mit großem medialen Echo zu verzeichnen hatte. Was charakterisiert diese Texte? Zum einen handeln sie alle von gesellschaftlichen Krisensituationen, denen mit Formen der Gewalt begegnet wird. Dabei ist es egal, wo sich diese Krisenherde geografisch befinden, ob im Nahen Osten oder in Wohlstandsmetropolen wie Zürich oder in bestimmten Vierteln Berlins. Ebenfalls egal scheinen die Ursachen der Gewalt zu sein. Ob es der palästinensisch-israelische Konflikt, der Kampf der Ägypter gegen das MubarakRegime oder Gewalt aufgrund sozialer Spannungen ist, wird in der Performance inhaltlich nicht weiter ausdifferenziert und beleuchtet. Auffallend dagegen ist, dass in fast allen Beschreibungen Autos eine wichtige Rolle spielen. Damit gehen die Texte aber auch eine Verbindung zu den Autowracks auf dem Römerberg ein, belegen sie mit einer möglichen Geschichte, deren zeichenhafter Rest sie geworden sind. Die Autos haben ikonischen Charakter. Sie sind Zitate, Wahrnehmungen aus zweiter Hand. Sie erfüllen eine Wiedererkennungsfunktion

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Einen Hör- und Seheindruck der Installation/Performance vermittelt folgender Link, dem auch die Texte entnommen sind: http://www.youtube.com/watch?v=Pvwwb0d Rqg8. (Stand 13. Januar 2013)

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für diverse Formen des öffentlichen Protests; sie stehen für Widerstand, Barrikaden und politische Kämpfe. Sie sind Bilder der Revolution, mit denen im Hier und Jetzt der Performance etwas geschieht. Dieses Geschehen wird weniger durch das Dargestellte oder Erzählte kenntlich gemacht, als vielmehr durch die Form der Erzählungen selbst. Denn die Texte sind allesamt Bildbeschreibungen von Presse- oder anderen Medienbildern, die den Bildinhalten eine subjektive Färbung verleihen. Nicht in erster Linie das, was auf dem Bild dargestellt wird, ist wichtig, sondern die Haltung desjenigen, der das Bild beschreibt. Formulierungen wie »was ich an dem Bild interessant finde« weisen vielfach darauf hin. So geht es nicht um Erfahrungen aus erster Hand, denn weder die Performer noch die Mehrzahl der anderen Teilnehmer auf dem Domareal dürften mit den beschriebenen Formen der Gewalt persönlich je in Berührung gekommen sein. Die Texte sind subjektive und persönliche Aneignungen der Medienbilder, die durch den Akt der Aneignung ihren objektivierenden Charakter verlieren. Hier wird der Doppelcharakter der Bilder deutlich. Zum einen machen Bilder wahrnehmbar. Sie rücken entferntes Geschehen heran und machen im besten Falle an dem, was sie zeigen, Dinge wahrnehmbar, die man ohne das Medium Bild nicht wahrnehmen könnte, die also streng genommen ohne das Bild gar nicht existieren (vgl. etwa Sibylle Krämer 2008, 261-276). Zum anderen objektivieren sie das, was sie zeigen, durch ihren Rahmen, der abschneidet und, wie Roland Barthes einmal meinte, alles, was innerhalb des Rahmens stattfindet, in ein helles Licht taucht, während das, was außerhalb der Rahmung liegt, im Dunkel der Nichtexistenz verharren muss (vgl. Barthes 1990, 95). Sie sind Zugang zur Welt und Zurichtung der Welt zugleich. Durch die Beschreibung der Bilder in der Performance rückt ihr im Alltag als selbstverständlich hingenommener medialer Charakter als solcher ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Bilder werden re-mediatisiert, ins neue Medium der Sprache übersetzt und dadurch verändert. Die sprachliche Beschreibung rahmt die visuellen Informationen neu, schreibt sie um, macht sie neu und anders begreif- und wahrnehmbar. Damit verlieren die Bilder ihren objektiven Charakter eines vermeintlichen ›So ist es (gewesen)‹. Radikal subjektiviert stellt die Performance verschiedene Perspektiven auf Krisen- und Umbruchsituationen in den öffentlichen Raum, die sich zu jeder Zeit einer Abschattung auf einen geschlossenen Sinnhorizont widersetzen. Denn was hat der Arabische Frühling in Ägypten mit brennenden Autos in städtischen Wohngebieten in Deutschland oder einer Demonstration in Zürich zu tun? Inkongruent, fragmentarisch und ohne kausale Logik machen sie jegliche Form der Totalisierung zunichte, gerade weil sie auf ihrer Perspektivität beharren. Zugleich aber erhalten die Texte in Burning Beasts erneut einen objektivierten Charakter, denn schließlich werden sie durch Megaphone hindurch gespro-

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chen und verstärkt. Vergleichbar mit den brennenden Autos ist das Megaphon ein Zeichen für öffentliche Kundgebungen und für Formen öffentlichen Protests. Es verfremdet die Stimme, nimmt ihr ihren persönlichen Charakter und verstärkt ihre Reichweite. Auf diese Weise wirkt sie in den öffentlichen Raum hinein, ohne dass ihr Schall arretiert und damit kontrolliert werden könnte. Ein derartiges Sprechen hat Appellcharakter. Es fordert auf, Haltung zu beziehen, ohne dass ersichtlich würde, wie diese Haltung auszusehen hätte. Es ist ein Sprechen mit ungewissem Ausgang. Durch ein Sprechen über die Bilder wird deren Gehalt wieder in Bewegung versetzt und öffentlich diskutierbar gemacht. Burning Beasts entwirft subjektive Perspektiven auf ein mögliches Geschehen. Es zeigt nicht in erster Linie Bilder von Revolutionen, sondern zerschneidet medial vermittelte Wahrnehmungszusammenhänge und stellt Möglichkeiten bereit, diese neu herzustellen.

ALLEGORIEN DER R EVOLUTION Aus einem auf die Seite gekippten Auto vor der Schirn Kunsthalle steigen Rauchschwaden auf. Oben, auf einer der Türen, springt eine maskierte Performerin auf und ab, als wolle sie das Autowrack klein treten. Auch an anderen Autos und an Gebäudewänden wiederholen sich diese Gesten des Ansturms und des Anrennens gegen Widerstände, die, immer wieder wiederholt, bei den Performern zu körperlicher Erschöpfung führen. Mal boxt jemand gegen eine Säule, mal rennt jemand mit der Schulter zuerst gegen ein Wrack als gelte es, eine verschlossene Tür mit Gewalt einzurennen. Es sind typische Gesten, die die Performer zeigen, typische Gesten revolutionärer Gewalt, die aus unserem kulturellen Gedächtnis abrufbar sind. Auch auf der visuellen und gestischen Ebene bewegen sich die Aktionen also durchweg auf der Ebene des Zitats, eines »Gestus« im Brecht’schen Sinne, als Medium des Gesellschaftlichen und Sozialen, der das bloß Individuelle übersteigt. Ihre Zitathaftigkeit wird durch das ständige Unterbrechen von linearen Handlungszusammenhängen noch unterstrichen. Für Walter Benjamin ist die Unterbrechung eines Geschehens der sicherste Weg, eine Geste herzustellen und Zustände zu verfremden: »Denn Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.« (Benjamin 1991a, 536) Durch die Unterbrechung wird die Geste zitierbar, sie löst sich ab vom individuellen Gebrauch und vermag, in fremde Kontexte eingeschrieben zu werden, in denen sie ihre verfremdende Wirkung entfalten kann. »›Gesten zitierbar machen‹ ist eine der wesentlichen Leistungen des epischen Theaters.« (Ebd., 536)

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Burning Beasts arbeitet, wie beschrieben, auf allen Ebenen mit Zitaten, die wie kleine isolierte Bilder wirken und die rund um die Autowracks neu montiert werden. Auf diese Weise entstehen Bilder, die ihren zusammengesetzten Charakter nicht verleugnen. Es liegt durchaus Nahe, an dieser Stelle Benjamins Konzept der Allegorie heranzuziehen. Denn die bildhaften Konstellationen aus Stimmen, Körpern, Gesten und technischen Apparaturen entfalten eine maskenhafte Neubelebung5 des zitierten Materials, das, medial entleert und bedeutungslos geworden, in der Performance zumindest temporär mit Bedeutung aufgeladen wird. Die Bilder werden ihrer medialen Entrücktheit beraubt und wiederverwendet, neu gesehen und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten erprobt. Wichtiger jedoch als das Genügen, das Benjamin der allegorischen Wiederbelebung der entleerten Welt zuspricht, ist hier die Unruhe, die durch die Bewegung des Materials erzeugt wird. Die Bilder werden, im Sinne Giorgio Agambens »profaniert« und verlieren damit ihre Entrücktheit, Unberührbarkeit und Heiligkeit (Agamben 2005, 70-91). Mit ihnen kann von nun an im emphatischen Sinn wieder gespielt werden, womit sie zu Mitteln ohne Zweckgebundenheit werden. Wichtiger jedoch als die neuerliche Aufladung mit Bedeutung, die das Material durch seine Wiederverwendung wie auch immer arbiträr und temporär erfahren kann, ist dabei die Bewegung, in die das Material versetzt wird. Durch Re-Mediatisierung und Rahmenverschiebungen gerät etwas an den Bildern in Bewegung, wird ihr Einsatz neu verhandelbar.

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DES MEDIALEN

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Als Geste des Zeigens und der Neubelebung kann man auch die kleine Prozession verstehen, die sich vom Eingang des Kunstvereins, hinter der rekonstruierten Häuserzeile, die den Römerberg von der Schirn Kunsthalle trennt, zum Römerberg vorbei am Gerechtigkeitsbrunnen und wieder zurück zum Kunstverein bewegt. Die Prozession, die auch ein Demonstrationszug sein könnte, hat an dieser Stelle historische Vorläufer. Seit 1562 wurden in Frankfurt zumeist auch die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt, wobei die beiden zentralen Orte des Geschehens, der Dom und der Römerberg, durch Prozessionen verbunden waren. Nach der Krönung schritt die kaiserliche Entourage vom Dom über den ›Krönungsweg‹ zum Römerberg, wo die Zeremonien rund um den Gerechtigkeitsbrunnen stattfanden, bei denen der Kaiser unter anderem den Huldigungseid

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»Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.« (Benjamin 1991b, 318)

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der Frankfurter Bürgerschaft und des Magistrats entgegennahm (vgl. Frankfurter Kunstverein, 271). Das rote Auto, das vor dem Eingang des Kunstvereins platziert ist, setzt sich zunächst mühsam in Bewegung. Einer der Performer klemmt sich hinter das Steuer, vier weitere schieben das Auto an, während die Performerin Catherine Travelletti auf dem Autodach kniet und mit lauter erregter Stimme Von einer Missgeburt, einen Text von de Montaigne, wiedergibt. Darin berichtet de Montaigne von einem monströsen Kind, das, obwohl es nur einen Kopf besitzt, doch zwei Körper aufzuweisen hatte. Gemäß der mittelalterlichen Tradition, das Auftreten von Monstren als göttliches (Mahn-)Zeichen zu verstehen, deutet er das Kind mit dem starken Kopf als gutes Omen für den König, »was die Aufrechterhaltung der Gesetze, und die Beherrschung so verschiedener Staaten anlangt« (de Montaigne 1992, 594). Auch dieser Text, der über das Thema von Macht und Herrschaft mit den Texten über Revolution und Gewalt verbunden ist, ist zitiert. Die Szene, die nun dem Dach des Autos aufgepfropft wurde, stammt ebenso wie das Textmaterial über die Ägyptische Revolution aus Claudia Bosses vorausgegangenem Projekt, dem Stück dominant powers. was also tun?, das am 23. November 2011 in Wien uraufgeführt wurde. Langsam setzt sich die Prozession in Gang. Immer mehr Umstehende schließen sich ihr an und laufen hinter dem roten Auto her, auf dem Travelletti sitzt, als wäre sie selbst ein lebendiger Lautsprecherwagen oder gar das Monster, von dem sie spricht. Ihrem Ereignischarakter geschuldet, wird sowohl die Prozession als auch die gesamte Performance von Pressefotografen begleitet. Egal, wohin man sich als Betrachter und Zuhörer auch bewegt, es ist immer schon mindestens ein Fotograf zur Stelle, um spektakuläre Fotos von der ›Kunstrevolution‹ zu machen. Ohne dass dies zunächst intendiert gewesen wäre, gewinnt die performative Intervention dadurch eine zusätzliche Dimension. Sie benutzt nicht nur Bildmatetrial als Grundlage für die Texte der Performance, sondern sie reflektiert durch die Anwesenheit der Fotografen zugleich auch auf die Entstehung dieses Materials. Die Performance vollzieht in actu das, was sie inhaltlich verhandelt. Die Bilder, die als Vorlage für die Installation und die Performance dienten, produzieren ihrerseits wieder Bilder, die das Geschehen objektivieren und mythologisieren. Mehr noch: Während sich die Ereignisse vollziehen, sind sie bereits medial vermittelt Teil des Dispositivs unserer Medienöffentlichkeit, das keine Trennung mehr zwischen den Ereignissen und ihren Bildern zulässt. Live dabei sein heißt hier immer schon im Medium sein, heißt für die Kamera performen, die das, was sie lediglich abzubilden vorgibt, allererst hervorbringt. Spätestens mit dem Drücken des Kameraauslösers wird auch die Trennung zwischen Aktivisten und Performern auf der einen und Zuschauern auf der ande-

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ren Seite hinfällig. Auch vorher schon konnten je nach Blickpunkt der Betrachter die anderen Zuschauer zu Teilnehmern werden. So legte sich einer der Gießener Performer während des Aufbaus der Installation unter eines der Autowracks, um eine mögliche Position für ein Bild oder für ein Sprechen auszuprobieren, was aber von einer vorbeikommenden Frau als Unfall gedeutet wurde. Sie bat um Hilfe und wollte den Notarzt verständigen. Durch die Fotoapparate rücken wir nun unweigerlich alle ins Bild. Die Zuschauer haben ihren angestammten Platz im Dispositiv des bürgerlichen Theaters verlassen und sind vom virtuellen Parkett auf die Bühne hinauf gewechselt, wo sie von den anderen, wie die Performer angeschaut und in ihrem Verhalten und Tun beobachtet werden können. Damit überschneiden sich in Burning Beasts die Ebene des Dargestellten und die Ebene der Darstellung. Die Regeln und Verabredungen, auf denen die Performance basiert, werden selbst zum Thema und Inhalt der Performance. Das Machen der Bilder – sei es durch die Fotografen, sei es durch die Betrachter – ist Inhalt der Performance. Die Installation/Performance verfährt selbstreferentiell, da die Form ihre Referenz im Inhalt und der Inhalt seine Referenz in der Form erhält. Durch diese Grenzüberschreitung eröffnet sich ein Reflexionsraum, der im Vollzug der Performance deren Möglichkeitsbedingungen offenlegt. Das Material zeigt sich nicht nur, es wird zugleich in seinen medialen Konstitutionsbedingungen, die die Voraussetzung für die Genese des Materials sind, ausgestellt und reflektiert. Diese Überlegung hat Auswirkungen auf das Raumkonzept der Installation/Performance.

P ERFORMATIVE R ÄUME , R EFLEXIONSRÄUME Was in der Schilderung der Situation zu Beginn des Textes kenntlich gemacht wurde, ist dass das Areal zwischen Dom und Römer in der Frankfurter Innenstadt kein homogener Raum ist. Nach dem Abriss des Technischen Rathauses liegen an diesem bereits geografisch unebenen Ort die historischen Verwerfungen in Form verschiedener Baustellen (Altstadt, Archäologischer Garten) offen zutage. Er betont in seinem jetzigen temporären Zustand gerade die Brüche, das Offene, Unabgegoltene der wechselhaften Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Der Ort gewinnt damit seine identitätsstiftende Funktion für die Bürger der Stadt nur ex negativo als Geschichte einer vielfach gebrochenen und, wie im Falle des Technischen Rathauses, auch ungeliebten Identität, die der Ort offenlegt. Hinter dem Beschluss des Stadtparlaments, das Technische Rathaus abzureißen und die im Krieg zerstörte Altstadt wieder aufzubauen, steht der von breiten Teilen der Öffentlichkeit getragene Versuch, die Wunden des Kriegs und

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der Nachkriegszeit zu schließen und über eine wieder aufgebaute Altstadt imaginär an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anzuschließen, um die Illusion einer geschlossenen Identität zu erzeugen. Gerade deshalb stößt der Wiederaufbau, vergleichbar mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, bei anderen Teilen der Öffentlichkeit auf heftigen Widerstand. Michel de Certeau unterscheidet in seinem Buch Kunst des Handelns zwischen Ort und Raum. Ein Ort ist für de Certeau als ein baulich festgefügtes relationales Gebilde definiert, während der Raum erst durch die Aneignung, das Handeln der Menschen transitorisch und variabel hervorgebracht wird (vgl. de Certeau 1988, 217f.). Raum ist der Ort, an und in dem etwas geschieht, um den Ort zu transformieren. Vor dem Hintergrund des Gesagten wäre es nun aber verfehlt, dem Ort eine Homogenität oder gar substantielle Qualität zuzuschreiben. Das Dom-Römerareal ist ein Ort, an dem bereits vielfach gehandelt wurde und der durch dieses Handeln auch und gerade als Ort immer schon im Übergang begriffen ist. Der Ort ist eine notwendige Material gewordene Fiktion des Raumes, die dem Raum eine trügerische Konsistenz verspricht, die es ihm darüber aber im Gegenzug ermöglicht, überhaupt handeln zu können. In diesen materiellen Gedächtnis-Raum als Amalgam von Ort und Raum platziert nun Claudia Bosse ihre zehn Autoskulpturen. Dieser Raum hat keine Rahmung. Obwohl er mit Bildmaterial arbeitet und an den einzelnen Stationen selbst allegorische Bilder produziert, ist er selbst kein Bildraum. Selbst wenn sich die Betrachter an den Rändern des Areals vor dem Dom oder auf der anderen Seite auf der Anhöhe der Schirn platzieren, können sie das gesamte Spielfeld nicht überblicken. Stets verdeckt ein Gebäudeteil Teile der Aktion oder etwas anderes findet hinter ihnen statt, das sich ihrer Wahrnehmung entzieht. Die Ränder dieses Raumes fransen also aus. Sie sind keine Rahmungen, sondern zur Stadt hin durchlässige Schwellen, deren Teil die Installation/Performance ist. So markieren die beiden Autostationen neben dem Dom den Übergang zur Innenstadt- und zur Flussseite der Stadt, während die Prozession auf der gegenüberliegenden Seite auf den Römerberg ausgreift. Bosses Raum ist zunächst ein horizontaler Raum, der sich in der Fläche erstreckt. Er ist ein Raum, der keinen anderen Raum bedeutet, sondern der, um einen Begriff von Hans-Thies Lehman aufzugreifen, metonymisch an den benachbarten Stadtraum anschließt und sich darin hinein fortsetzt (vgl. Lehmann 1999, 287f.). In diesem Sinne ist der Raum nicht abgeschnitten von lebensweltlichen Kontexten und gesellschaftlichen Diskursen, er markiert lediglich eine Zone der Verdichtung, in der bestimmte Dinge, Gesten, Worte, Probleme und Zusammenhänge auffällig werden, ohne dass sie als Teile einer ›anderen‹ Wirklichkeit herausgehoben und auf Distanz gerückt wären. Das, was hier verhandelt wird – der Zustand unserer Demokratie –, geht

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uns alle an, weil wir alle Teil einer demokratischen Gesellschaft sind. Das DomRömerareal wird zum veritablen Spiel-Raum: ein Raum, mit dem und in dem gespielt wird, weil in ihm bestimmte Dinge, wie etwa die Frage nach dem revolutionären Potential in heutigen Gesellschaften, wieder ins Spiel gebracht werden können. Der Raum spielt mit, weil mit ihm gespielt wird. »Der Raum präsentiert sich. […] Er ist nicht verkleidet, sondern sichtbar gemacht« (ebd., 306), wie es Lehman formuliert. Er ist nicht nur Schauplatz, an dem etwas geschieht. Er agiert selbst und wird zum Mitspieler. Und doch, so mein Argument, kann dieses Sich-Zeigen des Raumes nicht gänzlich ohne Maskierung stattfinden. Die Verdichtung ist immer auch eine VerDichtung und damit ist ihr auch ein Moment der Fiktionalisierung von Wirklichkeit eigen, ohne das wir ebenso wenig einen Zugang zu dem hätten, was wir Wirklichkeit nennen, wie wir ohne dieses Moment die Möglichkeit hätten, auf die Wirklichkeit zu reflektieren oder sie gar anders zu imaginieren. Der Ort muss sich maskieren, um sich zeigen zu können. An anderer Stelle habe ich dieses Problem als »Verführung zur Wirklichkeit« durch die Fiktion beschrieben (Siegmund 2007).6 Dieses Moment der Fiktionalisierung oder Bildwerdung wird wiederum, wie das Beispiel der Fotografen deutlich gemacht hat, selbst im Vollzug der Aufführung reflektiert. Dieses Zeigen oder Auffälligwerden des Ortes erfolgt nun visuell durch die Intervention der zehn Autowracks, akustisch durch die Soundinstallation von Günter Auer und performativ durch die Kostüme, das Sprechen und die Gesten und Bewegungen der sechs Performer. Dies eröffnet den Teilnehmern zum einen in der Tat einen Erfahrungsraum, auf den Barbara Gronau in ihrem Buch Theaterinstallation abzielt. Burning Beasts inszeniert einen installativen Parcours, dessen Stationen die Teilnehmer allein oder in Gruppen ablaufen können, ihre Wahrnehmung von Räumen, Atmosphären und Körpern zu intensivieren (vgl. Gronau 2010, 16). Doch ermöglichen die künstlerischen Verfahren, die Bosse und Auer anwenden, noch einen komplexeren Zugang zum Material. Wie aus den Textbeispielen deutlich wurde, erzählt Burning Beasts keine Geschichte; die Installation/Performance konstruiert damit keinen geschlossenen fiktionalen Raum, wiewohl sie mit der Fiktionalisierung des Materials arbeitet. Durch allegorisierende Verfahren wird das, was sichtbar und hörbar ist, immer auch noch anders les- und wahrnehmbar. Der Raum ist nicht nur der Römerberg, sondern auch ein Autofriedhof und Revolutionsraum, die Performer sind nicht nur Studierende der Angewandten Theaterwissenschaft, sondern Feuerwehrmänner, Barrikadenkämpfer oder gar Astronauten, die auf einem fremden Planeten

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Vgl. dazu auch Siegmund 2008, 71-92 sowie Siegmund 2010, 387-405.

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gelandet sind, um ihn zu erkunden. Bosses Strategie zielt sowohl auf der visuellen als auch akustischen Ebene auf die Etablierung einer doppelten Einlassung auf das Material ab. So ist das Soundkonzept sowohl auf die Nähe als auch auf die Ferne ausgerichtet. Die Megaphone an den Autos und in den Händen der Performer verbreiten den Schall über das gesamte Areal, während die kleinen Lautsprecher an den Autos eine fast intime Hörsituation ermöglichen. Die Aktionen der Performer konzentrieren sich auf einzelne Stationen, bevor sie über das Areal rennen, um den Raum zu weiten und zu öffnen. Ich stehe und lausche an einem Ort, höre und sehe aber gleichzeitig die Aktionen an anderen Orten. Dieses Spiel von Nähe und Distanz findet nicht nur abwechselnd je nach subjektiver Entscheidung, auf was man sich einlassen will, statt. Dadurch, dass es stets gleichzeitig geschieht, ist der Betrachter und Hörer in konfligierende Räume eingelassen. Mein eigenes Erfahren ist eingelassen in ein Geschehen, dass sich mir entzieht. Teleskopartig werden Stimmen, Geschichten, Berichte herangezoomt, während gleichzeitig der Raum grenzenlos offen zu sein scheint. Dieses Prinzip lässt sich mit anderen Begriffspaaren re-semantisieren, die jeweils andere Aspekte des gleichen Prinzips fokussieren. Auf vergleichbare Art ergeben sich durch das Teleskopverfahren Inkongruenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Innenraum und Außenraum, zwischen subjektiver Wahrnehmung und geteilter Realität, zwischen Details und dem großen Ganzen, zwischen medialer Vermittlung fremder Beobachtungen und dem eigenen unmittelbaren Erleben, zwischen Geschichte und Gegenwart. Durch die Inkongruenz der Räume werden die Zuschauer und Zuhörer gedanklich ständig in Bewegung gehalten. Das Material kommuniziert nicht nur, es weist uns auch zurück, entzieht sich und gibt seine Geheimnisse nie ganz preis. Zwischen Hingerissen- und Fortgerissensein kann sich der Betrachter und Hörer seiner Position nie sicher sein. Indem die Fiktionalisierung nicht zur geschlossenen Illusion führt, werden die Teilnehmer immer wieder auf den realen Ort des Dom-Römerareals zurückgeworfen. Es tritt gleichsam in den Lücken der Fiktion auf und von dort in einen Dialog mit den inszenierten Elementen. Dieser Dialog ist nun notwendigerweise asymmetrisch, weil er immer mehr und anderes impliziert, als das, was tatsächlich an Möglichkeiten des Verstehens und Wahrnehmens realisiert wird. Worauf es mir hier ankommt ist, dass ein solcher Gedächtnis-Raum, an dem bereits mit Bildern und Texten gehandelt wurde, die bereits gesehen und gesprochen wurden, nicht allein ein Erfahrungsraum, sondern aufgrund seiner ästhetischen Verfasstheit immer auch ein Reflexionsraum ist, der auf Distanz basiert. Eine Distanz, die auf dem Entzug des Ganzen basiert und die den Betrachter nie zur Ruhe kommen lässt. In dieser Hinsicht ist das Dom-Römerareal dann nicht nur ein horizontaler Raum, der metonymisch mit der Stadt verbunden ist. Viel-

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mehr besteht seine Horizontalität aus Schichtungen, Stratifizierungen von materiellen und diskursiv immateriellen Dimensionen, aus Zukünftigem und Vergangenem, die dem Raum eine vertikale Ausrichtung hinzufügen. Denn das, was ich wahrnehme, findet gleichzeitig auf einer anderen Bühne, der Bühne in meinem Kopf statt. Dort nehme ich die Spuren des Sichtbaren und Hörbaren auf und imaginiere Menschen, Körper und Situationen, die es als solche auf dem DomRömerareal nicht gibt.7 Die vertikalen und horizontalen Achsen sitzen jedoch nicht im rechten Winkel aufeinander auf. Zwischen beiden steht der Betrachter und Hörer, der die beiden Achsen und mit ihnen seine eigene Ausrichtung im Raum und im Verhältnis zu dessen Dimensionen ausrichten muss. Er muss Position beziehen und Haltung einnehmen. Der Gedächtnis-Raum ist auch ein Raum des Entzugs, der sich der Repräsentation einer geschlossenen Identität verweigert. Er verfügt nicht über Geschichte, sondern bringt sie ins Spiel. Während er sich zeigt, entzieht er sich als solcher. Er besteht aus Rissen und Brüchen, die durch die ästhetischen Verfahren kenntlich gemacht werden, die den Betrachter seinerseits stets zurückverweisen auf den Parcours zwischen An- und Abwesendem, Fort und Da, Hier und Anderswo.

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In Claudia Bosses Arbeiten ist das Wort adressiert. Es richtet sich auf wechselnde und widersprüchliche Weise sowohl an das Material als auch an die teilnehmenden Zuschauer. Das Material wird in wechselnden Kontexten wirksam und stellt über die Montage neue Zusammenhänge her. Die teilnehmenden Zuschauer, die ihrerseits auf zumindest zweifache Weise adressiert werden, verbinden durch ihre Auswahl und ihre Assoziationen das Gehörte und das Gesehene. Bosse selbst beschreibt ihr Verfahren als »exzessives fragmentieren«, das sie als »formulieren im möglichen« bezeichnet: »das fragmentieren in einer theatralen form wird ein physischer denkraum von möglichkeiten: verhindert illusion, weil die brüche von einem material zum anderen, von einer spielweise zu einer anderen, von einer adressierung zu einer anderen mit dem schock des abbruchs arbeiten, als störung der jeweiligen situation, die jede für sich ein versprechen hat. Somit wird der abbruch zur situation, die die anwesenheit aller wieder aufruft, auftauchen lässt. das sind die bedingungen der theatralen situation: das gemeinsame konstruie-

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Helga Finter hat für diese Bewegung den Begriff der »analytischen Theatralität« geprägt. Vgl. etwa Finter 2000, 43-55.

224 | SIEGMUND ren, verfertigen, imaginieren, vollenden der losen enden, die genau die verfertigung der möglichkeit abgibt und im nicht-gezeigten und verworfenen artikuliert.« (Bosse 2009, 129-146)8

Die von Bosse sogenannten »geschichtsstreifen« (ebd., 141), womit sie auf die Wiederholung von bereits erlebtem und erfahrenem Material in der theatralen Situation verweist, werden fragmentiert und mit anderen Streifen neu konstelliert. Sie werden erneut ins Spiel gebracht und in Bewegung versetzt. Vielmehr als um die Konstruktion einer neuen Bedeutung geht es in diesen Konstellationen von Material, Gehörtem und Gesehenem, die stets nur temporär sein können, um die Bewegung, in die die Teilnehmer physisch und psychisch gebracht werden. Als Site-specific Performance setzt sich Burning Beasts nicht mit den konkreten architektonischen Besonderheiten des Ortes auseinander, denen etwa die Autoskulpturen in ihrer Form angepasst sein könnten. Ihre Verbindung zum Ort ist rein funktional: Sie interagieren mit ihm, erzeugen und inszenieren am historischen Ort kaiserlicher wie demokratischer Machtansprüche spezifische Assoziationsräume in Bezug auf den Zustand unserer Demokratien. Sie würden diese Fragen aber auch an einem anderen Ort, etwa in einer Galerie, genauso aufwerfen. Anders ausgedrückt: Die Soundinstallation bewahrt sich eine gewisse Autonomie. Sie ist nicht allein kontextgebunden, sondern funktioniert in ihrer doppelten Ausrichtung des Hörraums und ihrer Verbindung mit Stimmen und Gesten nach internen Regeln der Kunst, die sie selbstreferentiell offenlegt. Zwischen Heteronomie und Autonomie erzeugt sie genau jene Zone der Unbestimmtheit, in der die Teilnehmer aktiv werden können.9 Die zehn Autowrack-Skulpturen intervenieren im historischen Dom-Römerareal mit seinen sichtbaren Verwerfungen und machen es durch diese Intervention überhaupt erst auffällig. Damit ist der Raum aber nicht nur einer des Unverfügbaren, weil stets nur Möglichem, sondern auch einer des Unverfugten und Unverfügten. Niemand kann über das Material verfügen, weil es sich nicht fügt, nicht nahtlos zu einem Ganzen formt. Etwas in ihm fügt sich nicht, fügt ihm Risse und Löcher zu. Das Material geht auf Abstand zueinander. Voraussetzung dafür ist auch die Fremdheit des gefundenen Materials dem Ort gegenüber, das Wechselspiel von Autonomie und Entzug auf der einen und Heteronomie und Kontextbezogenheit auf der anderen Seite. Die Autowracks richten am Ort Unfug an. Sie bringen seine Ordnung durcheinander. Sie verrücken die Worte und

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Claudia Bosse wählt für all ihre Texte die Kleinschreibung, die deshalb in den Zitaten beibehalten wird.

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Vgl. zu diesem Spannungsfeld etwa Foster 1996 und Rebentisch 2003.

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die Gesten, die in unserem Beisein verrücktspielen. Der Gedanke nach politischer Handlungskraft und vielleicht sogar nach Revolution in der aktuellen gesellschaftlichen Situation zersetzt sich und ver-räumlicht sich an und mit dem Material, das die Idee prothesenhaft und maschinenartig verbildlicht. In diesem Sinne verliert die Idee mit Jacques Derrida jede Form und jeden Anspruch auf Abschließung oder gar Totalität. Im Gegenteil: Ihr wird Gerechtigkeit widerfahren, weil sie ihren Möglichkeitsraum, das, was noch nicht realisiert ist und vielleicht nie realisiert werden kann, wieder erhält. Die Figur, die Derrida für sein Konzept der Gerechtigkeit heranzieht, ist jene des Gespensts. In seinem nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks verfassten Buch Marx’ Gespenster hat er das Gespenst mit der Gerechtigkeit als Fügung zusammengedacht. In Anlehnung an Heideggers Konzept der »Dike«, konzipiert Derrida Gerechtigkeit als »›Fug‹ oder Fuge, Verfugung, Zusammenfügung, Ajustierung, Artikulation des Einklangs oder der Harmonie (Die Fuge ist der Fug).« (Derrida 1996, 46f.) Die Gerechtigkeit verfugt den Einklang und bestimmt das Sein als mit sich selbst verfugte Anwesenheit. Im Gegensatz zu Heidegger betont nun Derrida die Spaltung des Seins im Sein, mit dem wir nie im Sinne einer ungeteilten Präsenz anwesend sein können. Das Gegenteil von einer Anwesenheit im Sein ist das, was »ausgerenkt und außerhalb des Rechts, im Unrecht des Ungerechten, ja in der Dummheit (im Un-Fug)« (ebd., 47) ist. Das Gespenst ist sowohl die Ursache als auch das Resultat des Unverfugten, markiert es doch das »Unverfugte in der Anwesenheit des Anwesenden selbst, diese Art von Ungleichzeitigkeit der gegenwärtigen Zeit mit sich selbst« (ebd., 49). Die Heimsuchung, Hantologie des Gespensts fügt der Zeit einen Riss zu und setzt sie durch die Unterbrechung als lineare überhaupt erst in Gang. Derridas im Sinne des Gespensts revidiertes Konzept der Gerechtigkeit basiert auf diesem Un-Fug. Es basiert auf der Asymmetrie in der Begegnung mit dem Anderen, die auf dessen Vor- und Unzeitigkeit gründet. Die Figur des Gespensts ist dieses Anwesende ohne Anwesenheit, das heißt für Derrida der Ort für die Gerechtigkeit (vgl. ebd., 44). Das Gespenstische ist das Unabgegoltene der Geschichte.10 Vor dem Hintergrund dieses Gedankens erhält das allegorisierende Verfahren des wieder(ge)holten Materials, das Bosse in Burning Beasts anwendet, noch einmal eine andere Wendung. Ungeachtet der mit Licht, Trockeneis und Nebelschwaden erzeugten gespenstischen Atmosphäre, in der die Performer mit ihren silberfarbenen Anzügen herumlaufen wie Aliens, kann man die Auto-Audio-

10 Für eine Übertragung von Derridas Konzept auf den Umgang des Theaters mit (seiner) Geschichte vgl. Siegmund 2011, S. 31-45.

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Skulpturen mit ihren körperlosen Stimmen, die in den Blechteilen der Autos nur einen ungenügenden Resonanzkörper finden, als Gespenster begreifen. Das Gespenst der Revolution muss sich, um sein Recht einfordern zu können, zumindest vorübergehend einen Körper geben. Doch dieser Körper ist kein natürlicher Leib, sondern ein prothesenhafter Körper – die Autowracks –, der das unverfugte, ungefugte und unverfügbare der Idee, soll sie sich nicht in ihrer bloßen Realisierbarkeit erschöpfen und totalitär werden, immer nur allegorisch uneigentlich verkörpern kann. Die Autowracks sind Wiedergänger, die Konstellationen zwischen Mensch, Technik und geschichtlichem Material bilden, das wieder in den Zwischenraum und die Zwischenzeit des Ortes, der aus den Fugen gerät, eingeschrieben wird. Claudia Bosse holt Bilder aus der medialen Distanz zurück und schreibt sie mittels Allegorisierung, Re-Mediatisierung und mehrfacher Adressierung des Wortes in den öffentlichen Raum ein, wo Passanten und Zuschauer ebenso wie die sechs Performer spielerisch wieder damit konfrontiert werden.

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STABILISIEREN

Dramaturgie der Bewegung – Zur Rezeption tänzerischer Körperbewegung C HRISTIANE B ERGER

Dramaturgie ist die Brücke zwischen den Kunstschaffenden und den Zuschauenden. Eine gelungene Dramaturgie lässt für die Zuschauenden zugänglich werden, was die Kunstschaffenden auf die Bühne bringen. Dieser Zugang zum Geschehen bewegt sich in der Regel zwischen zwei Polen: ein rational-betonter Zugang soll das Gezeigte verständlich werden lassen, ein eher emotionaler Zugang soll das Geschehen für das Publikum erlebbar werden lassen – wobei innerhalb einer Aufführung auch beides gleichzeitig oder abwechselnd angestrebt werden kann. Die Pole sind typisch beschrieben in den Theaterkonzepten von Bertolt Brecht, der sich einen distanzierten Beobachter für sein Episches Theater wünscht, der Erkenntnisse gewinnt, und von Antonin Artaud, der einen involvierten Teilnehmer für sein Theater der Grausamkeit anstrebt, der über das intensive Erlebnis eine Wandlung durchläuft. Eine Dramaturgie der Bewegung also würde dem Publikum die Bewegung zugänglich machen. Doch begegnet man nach Tanzaufführungen immer wieder missmutigen oder verzweifelten Zuschauern, die klagen, dass ihnen das eben Gesehene nichts sage, sie verstünden nichts, sie wüssten nichts damit anzufangen. Warum ist die Rezeption von Tanz für viele so schwierig? Wie rezipieren wir Tanz? Oder anders gefragt: Was ist das Besondere an der Rezeption tänzerischer Körperbewegung? Meine These ist, dass die unbestrittene Bedeutung, die Körperwissen und Bewegungsintelligenz für die Bewegungsproduktion besitzen, für ihre Rezeption ebenso gilt. Und dass darin die Andersartigkeit der Rezeption der Körperkunst Tanz begründet liegt. Entsprechend stellt sich die Frage, welche Rolle das Körper- und Bewegungsverständnis des Zuschauers für seine Wahrnehmung spielt.

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Und beeinflusst umgekehrt das Körper- und Bewegungsverständnis, das die Choreografie prägt, die Wahrnehmung des Zuschauers? Ich beginne meine Überlegungen mit einer Analyse der spezifischen körperlichen Kompetenzen, die bei der Bewegungsproduktion von entscheidender Bedeutung sind, um mich anschließend der Bewegungsrezeption zuzuwenden, die hier im Mittelpunkt stehen soll.

B EWEGUNGSPRODUKTION : B EWEGUNGSINTELLIGENZ UND E IGENSINN DES K ÖRPERS Die Idee, dass der Körper Wissen und Vermögen besitzt, die ihm erlauben, eigensinnig zu handeln, findet sich schon 1937 bei der amerikanischen Körpertherapeutin Mabel Todd, die den Körper als »empfindsame[s] Instrument« beschreibt, das »zu Fähigkeiten imstande ist, die weit über das hinausgehen, was Vernunft und bewusste Kontrolle bewerkstelligen können. Die neuromuskulären Teile von Skelett und Organen reagieren auf Grund eines gesammelten gemeinsamen Wissens, das permanent erweitert wird und dabei ständig von Gefühl und Verstand überprüft wird.« (Todd 2001, 17)

Im Tanz findet in den späten 1960er bis 1980er Jahren unter dem Einfluss der asiatischen Körperkonzepte des Zen Buddhismus und entsprechender Bewegungsformen wie Yoga, Aikido und Tai Chi Chu'an eine Umorientierung in der Betrachtung des Körpers statt. Neu entstehende Bewegungspraktiken übernehmen die Vorstellung eines »responsive body«, eines »antwortenden Körper[s], der selbst Verantwortung übernimmt und instinktiv reagiert (responsibility = response-ability)« (Kaltenbrunner 1998, 56). Sie gehen davon aus, dass der »menschliche Körper […] über eine eigene Bewegungsintelligenz [verfügt]: er kann eigenständig reagieren, verfügt über instinktive Reflexe und funktioniert daher am besten mit möglichst wenig Willensanstrengung« (ebd., 55; Herv. i. O.).1 Auf diese Weise wird dem Körper eine eigene Entscheidungsfähigkeit und Verantwortlichkeit zugesprochen. Er besitzt die Fähigkeit zur Aktion und Reaktion auf Einflüsse seiner Umgebung. Der »responsive body« ist jedoch erworben und darf also nicht als letztes Residuum von Ursprünglichkeit und Authentizität verstanden werden. In diesem Sinne spricht Susan Leigh Foster von einer »theory of bodily agency«, um einen Körper beschreiben zu können, der »initiates,

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Die Vorlage für diesen Gedanken liefert Cynthia Novack 1990.

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creates, and probes playfully its own physical and semantic potential. The thinking and creating body engages in action.« (Foster 2003, 8) Der Körper ist mithilfe seiner Bewegungsintelligenz in der Lage, selbsttätig und unabhängig vom Willen des Tänzers Bewegungen zu initiieren beziehungsweise auf Einflüsse seiner Umwelt oder kinästhetische Empfindungen zu reagieren. Diese Fähigkeit des Körpers, »eine sinnhafte Antwort auf eine Situation [zu] finde[n]«, bezeichnet Annette Barkhaus als »Eigensinn des Körpers« (Barkhaus 2001, 44). Sie betont mit diesem Konzept den »vorreflexiven Bezug des Körpers auf eine Situation« (ebd., 46; Herv. weggel.), bei dem es sich nicht um bloße Automatismen, um Reflexe, handelt, sondern – wie sich in der Wahl des Begriffes »Eigensinn« andeutet – um sinnstiftendes Verhalten. So entstehen Situationen, »in denen der Körper – und nicht das bewusst agierende Subjekt – eine sinnhafte Antwort auf eine Situation findet«2 (ebd., 44) und so von einer »Eigendynamik körperlicher oder leiblicher Prozesse« (Barkhaus/Fleig 2002, 19) gesprochen werden kann.

B EWEGUNGSREZEPTION Ausgangspunkt der Rezeption ist unsere sinnliche Wahrnehmung von Tanz, gefolgt durch die Deutung des Wahrgenommenen, wobei beide Prozesse kaum zu trennen sind, denn jede Wahrnehmung ist immer schon gedeutet.3 Was wahrgenommen und wie es gedeutet wird, ist wesentlich beeinflusst durch je individuelles Vorwissen, Erwartungen, Perspektive, Situation und so weiter. Die Erfahrung zeigt, dass die Rezeption des Tanzes bei vielen, insbesondere einem tanzunerfah-

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Bei aller Betonung des Aktivitätspotenzials des Körpers gehe es jedoch, so Barkhaus, nicht darum, »dem Körper eine Art Subjekt- oder Akteursrolle mit einer höheren Rationalität zuzuschreiben. Die Wahl des Begriffs Eigensinn zielt zwar darauf, den Körper als eigene Sphäre im menschlichen Handeln und Erleben anzuerkennen, versucht jedoch zugleich, auf den Anschluss an die traditionellen Attribute der Akteursposition zu verzichten und dem Körper nicht eine höhere Vernunft oder größere Authentizität zuzuschreiben.« (Barkhaus 2001, 41)

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Sowohl Wahrnehmung als auch Interpretation sind aktive Leistungen desjenigen, der wahrnimmt oder interpretiert, und bringen den Wahrnehmungs- beziehungsweise Interpretationsgegenstand allererst hervor. Sie unterscheiden sich dadurch, dass bei der Wahrnehmung der Deutungsprozess vorbewusst abläuft und daher der Reflexion unzugänglich bleibt, während er bei der Interpretation reflektierend nachvollzogen werden kann.

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renen Publikum, mit zunehmender Abwesenheit von Handlung und/oder zunehmender Abstraktheit der Bewegungen schwieriger wird. Der künstlerische Tanz durchläuft in seiner historischen Entwicklung immer wieder wechselnde Phasen zwischen Handlung und Abstraktion. Das Ballett in seiner heutigen Gestalt entsteht durch die Spezialisierung des Darstellers –, der in den barocken Hoffesten noch singt, spricht und tanzt – auf die körperliche Darstellung. Entsprechend nimmt im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts der verbale Anteil der Werke ab und im Gegenzug der pantomimisch-tänzerische zu, bis der Tanz zum Träger der dramatischen Handlung wird. In der Weiterentwicklung dieses Handlungsballetts im 19. und 20. Jahrhundert rückt in klassischen Balletten wie Dornröschen (UA 1890), Nußknacker (UA 1892) und Schwanensee (UA 1895) die Virtuosität der Tänzer zunehmend in den Mittelpunkt. Die Loslösung von einer Handlung setzt sich fort bis zu den sinfonischen, handlungslosen Balletten, durch die besonders George Balanchine berühmt wurde. Während also das Ballett im 20. Jahrhundert auf Sprache und Handlung wieder verzichtet, integriert das Tanztheater in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut Elemente aus dem Musik- und Sprechtheater und zeigt eine, wenn auch häufig revuehaft-collagierte, Handlung: Die Darsteller singen und sprechen – meist monologisch direkt an den Zuschauer gewendet. Ausgangspunkt der Bewegungsfindung ist insbesondere bei Pina Bausch die psychische Motivation einer Bewegung, sodass Bewegung zum Ausdruck von Gefühlen in dargestellten Situationen wird. Im Tanz gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, wie Bedeutungen evoziert werden. Die Ballettpantomime4 besitzt ein Gestenvokabular, in dem es festgelegte Gesten für bestimmte Sachverhalte gibt: Die mit den Handflächen aneinander gelegten und unter die Wange des seitlich geneigten Kopf gehaltenen Hände signalisieren »Schlafen«, die mit zu Fäusten geballten Händen überkreuzten Handgelenke bedeuten »Tod« oder »Sterben« und so fort. Im Tanztheater5 hingegen erhalten die Bewegungen ihre Bedeutungen durch ihre offensichtliche

4

Mithilfe von mimischen Elementen werden erzählerische Teile in Handlungsballetten gestaltet, um auch ohne Wortsprache die Narration der Ballette deutlich machen zu können.

5

Im engeren Sinne hingegen meint der Begriff eine theatrale Bewegungsdarstellung, wie sie gegen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre entstanden ist. Er wird zuerst für die Bezeichnung eines Ensembles (1972 Gerhard Bohners Tanztheater Darmstadt, 1973 Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal) verwendet, bevor er auch die entsprechenden Inszenierungen bezeichnet. Heute bezieht man sich meist auf einen Inszenierungsstil, als dessen herausragende Vertreterin Pina Bausch (1940-2009) gilt.

D RAMATURGIE DER B EWEGUNG | 235

Nähe zu Alltagsbewegungen. Hier referieren die Bewegungen qua Ähnlichkeit auf Alltagshandlungen, die möglicherweise ihrerseits als körpersprachliche Zeichen wieder mit Bedeutung besetzt sind: zum Beispiel das Heben der Hand als Gruß oder das Zurückweichen als Zeichen der Ablehnung oder Angst. Die Bewegungen erhalten also entweder durch Verweise auf das Alltagswissen des Zuschauers oder durch dessen Kenntnis des Gestenvokabulars ihre Bedeutung. Abstrakter oder, wie Kurt Jooss ihn nennt, »absoluter Tanz« ist jedoch »Tanz ohne irgendwelchen pantomimischen Inhalt, eine Folge rein tänzerischer Motive, aufgebaut auf Gesetzen künstlerischer Bewegungskomposition« (Jooss 1990, 292). Trägt er damit keine Bedeutung? Weltbezug und damit Bedeutungskonstitution gelingt in der Regel nur dann, wenn man etwas Bekanntes wiedererkennt, mit dem man das aktuelle Ereignis verknüpfen kann: seien es geometrische Muster im Raum, Bewegungen des Alltags oder klar erkennbare und möglichst einfache Rhythmen. Um uns tänzerische Bewegung zu erschließen, müssen wir – bewusst oder unbewusst – Strukturen erkennen, die Sinn stiften: Wir erkennen eine Konstellation zwischen den Tänzern als ein bekanntes Muster der MannFrau-Beziehung, wir fühlen uns durch Posen und Anordnung der Tänzer im Raum an ein bekanntes Gemälde, eine Skulptur oder ähnliches erinnert, die Dynamik der Bewegungen ruft die Assoziation an einen Sturm hervor und so weiter. In diesem Sinne beschreibt Nelson Goodman (1997) die Bezugnahme abstrakter Kunst so, dass sie sich zwar nicht auf Gegenstände bezieht, durchaus aber Eigenschaften von Gegenständen teilt (Farbe, Gestalt und so weiter), sodass auch hier trotz fehlender expressiver und darstellender Qualitäten ein Bezug zur Welt vorliegt: Das abstrakte Kunstwerk exemplifiziert diese Eigenschaften. Jedoch ist der Weltbezug, den der Zuschauer im Prozess der Wahrnehmung und Deutung herstellt, mehr oder weniger durch die Bewegungen motiviert und entsprechend mehr oder weniger eindeutig, das heißt intersubjektiv gültig. Die Abstufung ist hierbei graduell und abhängig von der Art der Bezugnahme. Eine Wirkung allerdings kann Tanz selbst dann hervorrufen, wenn er beispielsweise durch seine außergewöhnlichen und extremen Bewegungsqualitäten oder kontinuierliche Transformationen die Grenzen der Wahrnehmung herausfordert, ohne dass die Bewegungen lesbar werden. Durch eine solche, die gesamte Aufmerksamkeit fordernde Grenzerfahrung nimmt der Zuschauer wahr, was und wie er zuvor noch nicht wahrgenommen hat. Er macht eine ästhetische Erfahrung, die seinen eigenen Körper, den Körper des Zuschauers, ins Spiel bringt.

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B EWEGUNGSSINN Nicht nur bei der Wahrnehmung eigener Körperbewegungen, sondern auch bei der Wahrnehmung von Bewegungen anderer Menschen spielt der kinästhetische oder Bewegungssinn (auch Muskelsinn genannt) eine Rolle. Eigene körperliche Bewegungen werden im Zusammenspiel von Propriozeptoren und den Gleichgewichtsorganen im Innenohr wahrgenommen. Diese innere, nicht-visuelle Wahrnehmung vermittelt uns Informationen über die räumliche Gestalt, das Ausmaß, den Ablauf und die Geschwindigkeit einer Bewegung sowie über die aufgewendete Kraft und den entstehenden Druck. Menschen, die in ihrer kinästhetischen Wahrnehmung beeinträchtigt sind, haben kein Wissen um die Lage ihrer Körperteile und können entsprechend die Körperhaltung nicht korrigieren. Sie wissen zum Beispiel nicht, ob ihr Arm gestreckt oder gebeugt ist, weshalb sie vermehrt auf optische Kontrolle angewiesen sind. Eine ständige und exakte Rückmeldung über Muskelspannung und Gelenkstellung ist vor allem für unbewusst ausgeführte Bewegungen notwendig. Diese kinästhetische Wahrnehmung rückt bei vielen postmodernen Tanztechniken im Unterschied zum klassischen Ballett ins Zentrum. Der Balletttänzer arbeitet über die äußere visuelle Form, die sein Körper einnimmt und die er über den Blick von außen kontrollieren kann. Er muss im Training über die Korrekturen des Lehrers beziehungsweise Choreografen und die Kontrolle im Spiegel lernen, wie sich die von außen gesehen richtige Position anfühlt, um sie dann ohne diesen äußeren Blick wieder einnehmen zu können. Das Ballett richtet sich, als ehemals höfisch-repräsentative Aufführungspraxis, traditionell am Betrachterblick aus. Zugleich orientiert sich der Tänzer mithilfe seines Blickes nach außen im Raum. Postmoderne Tänzer hingegen verlagern den Fokus nach innen. Denn für sie ist das Kriterium weniger die Erfüllung einer vorgeschriebenen, von außen zu betrachtenden Form, als die anatomisch und physiologisch für ihre individuellen Körper angemessene Ausführung der Bewegungen, was einer Schädigung des Körpers vorbeugen, den Energieaufwand für die Bewegungsausführung minimieren und zugleich das Bewegungsspektrum erweitern soll. Die in diesem Sinne richtige Ausführung der Bewegung nimmt der Tänzer dank seines (geschulten) kinästhetischen Bewegungssinns wahr. Und wenn wir sehen, wie sich ein anderer menschlicher Körper bewegt, nehmen wir diese Bewegung wahr als eine, die auch unser Körper potenziell ausführen könnte, und vollziehen die Bewegung in diesem Sinne körperlich mit,

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ohne sie selbst tatsächlich notwendig auszuführen.6 Das bedeutet zwar nicht, dass wir die Bewegungen auch tatsächlich selbst ausführen können müssen, um in der Lage zu sein, sie mitzuvollziehen; dennoch hat es einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung, ob wir zumindest prinzipiell mit der Ausführung der Bewegungen vertraut sind, das heißt, ob wir die entsprechende körperliche Kompetenz besitzen. Obgleich wir die Bewegung nicht selbst ausführen, empfinden wir sie bis zu einem gewissen Grad mit. Diese Affizierung des Zuschauers durch das Tanzgeschehen wurde von dem amerikanischen Tanztheoretiker John J. Martin (18931985), als »Metakinese« bezeichnet: »There is a kinesthetic response in the body of the spectator which to some extent reproduces in him the experience of the dancer.« (Martin 1972, 48) Martin nahm an, dass der Zuschauer die Bewegungen des Tänzers auf der Bühne in ähnlicher Weise wahrnimmt wie seine eigenen Bewegungen und sie entsprechend »through kinesthetic sympathy« (ebd., 23) mitvollzieht. Um dieses Phänomen der Vermittlung zu erklären, hatte Martin Ergebnisse der physiologischen und psychologischen Forschung zur Kinästhesie (Bewegungsempfindung) aufgenommen und auf die Wahrnehmung von Tanz übertragen. Der Übertragung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse widmet sich Ivar Hagendoorn mit ähnlichem Ergebnis. Er beschreibt das Phänomen des empathischen Mitvollzugs von Fremdbewegungen als »motorische Einbildungskraft«, die auf neuronaler Ebene in den sogenannten Spiegelneuronen begründet liege: Sie verbinden die Wahrnehmung von Bewegungen und Handlungen mit ihrer Bedeutung im Sinne des Effekts dieser Bewegung beziehungsweise Handlung. Das führe dazu, dass bei der Beobachtung einer Bewegung dieselben Neuronen aktiviert werden wie bei der Ausführung der Bewegung. Allerdings werde die motorische Aktivität blockiert, sodass der Wahrnehmende die Bewegung nicht auch tatsächlich ausführe. Auf diese Weise vermittelt sich dem Wahrnehmenden die Empfindung der Bewegung, ohne dass er sich selbst bewegt (vgl. Hagendoorn 2002, 431f.). Daraus leitet Hagendoorn die Hypothese ab, dass »der Zuschauer (im Gehirn) virtuell mittanzt« (ebd., 439).7

6

Gleichwohl können Bewegungen mitvollzogen werden. Das Phänomen, dass die Vorstellung oder Wahrnehmung von Bewegungen in der Muskulatur Tonusveränderungen auslöst, die unwillentlich zum ansatzweisen oder sogar vollständigen Mitvollzug beziehungsweise zur Nachahmung der Bewegung führen können, beschrieb William B. Carpenter bereits 1874 in seinen Principles of Mental Physiology als »ideomotorische Bewegung«.

7

Vgl. zur empathischen Übertragung des Tanzes auf den Zuschauer auch Foster 2011.

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Dass wir auf wahrgenommene Fremdbewegung gleichsam mimetisch reagieren, besagt allerdings noch nichts darüber, wie wir die Fremdbewegung erleben und welchen Sinn wir ihr verleihen; es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt einen Zugang zu ihr gewinnen. Das konkrete Erleben ist individuell verschieden, es hängt vom je individuellen Körpergedächtnis ab. Aufgrund unterschiedlicher Vorerfahrungen verknüpfen sich zum Beispiel unterschiedliche emotionale Assoziationen mit den Bewegungen, entsprechend unterschiedlich ist der Sinn, den die Bewegung für einen Zuschauer trägt. Auf diese Weise verknüpft sich der Sinn für Bewegung mit dem Sinn von Bewegung. Ersterer ist ein Wahrnehmungssinn, der den Zuschauer in die Lage versetzt, Körperbewegung mitzuvollziehen. Zweiterer ist eine spezifische Form von Sinn, die sich dem Zuschauer in der Körperbewegung zeigt. Beides setzt ein spezifisches körperliches Wissen voraus.

K ÖRPERWISSEN Dieses Körperwissen umfasst das Wissen des Körpers8 und das Wissen über den Körper. Das heißt einerseits das bewusste Wissen über den Körper, das wortsprachlich einsetzbar ist, und andererseits das Wissen des Körpers, welches als implizites Wissen in der Regel nicht oder nur unzureichend verbalisiert werden kann.9 Diese beiden Anteile greifen grundsätzlich ineinander und sind demzufolge nicht klar zu differenzieren. Körperwissen ist historisch und kulturell bedingt, es ist kein ›ursprüngliches‹ oder ›authentisches‹ Wissen. Es ist erlernbar und objektivierbar, was gleichwohl, wie gesagt, nicht bedeutet, dass es im Einzelfall immer wortsprachlich vermittelt werden kann. Das Körperwissen bedingt sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Körperbewegung. Das bewusste Wissen über den Körper ist einsetzbar, um diesen als Instrument zu nutzen beziehungsweise das Geschehen nach bestimmten

8

Das Körperwissen umfasst sowohl körperliche Fähigkeiten, das heißt Voraussetzungen zur Bewegungsausführung, als auch Fertigkeiten, das heißt die Ausführung komplexer motorischer Bewegungsabläufe.

9

Der Begriff des »impliziten Wissens« wurde von Michael Polanyi (1985) geprägt. Er bezeichnet damit ein wahrnehmungs-, entscheidungs- und handlungsorientiertes Wissen, Könnerschaft beziehungsweise Können, das angewendet, jedoch – im Gegensatz zum expliziten Wissen – nicht oder nur bedingt expliziert werden kann. Das »tacit knowing« ist zu unterscheiden vom sogenannten expliziten oder propositionalen Wissen (knowledge).

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Parametern einzuordnen. Andererseits ermöglicht es das Wissen des Körpers, sich eigenmächtig situationsangemessen zu bewegen beziehungsweise visuell wahrgenommene Bewegungen so mitzuerleben, als ob man sie selbst ausführt. Produktion und Rezeption von Bewegungen setzen daher Bewegungserfahrungen voraus, die sowohl durch eigene Praxis als auch durch Beobachtung von Bewegungen anderer erworben werden können, und die den Eindruck eines sinnvollen Geschehens begründen. Es ist dieses körperliche Erfahrungswissen, also das inkorporierte Wissen, das entscheidend bestimmt, wie sich der je spezifische Körper in einer konkreten Situation bewegen kann beziehungsweise wie die Beobachterin eine bestimmte Situation wahrnimmt. Es beinhaltet auch und vor allem die Fähigkeit, vorreflexiv auf eine Situation zu reagieren beziehungsweise in der Wahrnehmung körperliche Erfahrungen zu machen, die nicht verbalisierbar, aber dennoch sinnvoll sind.

B EWEGUNGSLOGIK Körperwissen und Bewegungssinn verknüpfen sich im Konzept der Bewegungslogik10, welche sowohl die Bewegungsausführung als auch ihre Wahrnehmung organisiert. Logik meint hier ein in sich stimmiges System von Regeln, das die Verknüpfung der Körperbewegungen organisiert und für ihre Nachvollziehbarkeit sorgt.11 Norbert Servos spricht in diesem Zusammenhang von »Folgerich-

10 Vgl. die in einigen Punkten sehr ähnliche Konzeption einer »musikalischen Logik« bei Becker/Vogel 2007, die seit den 1970er Jahren in der deutschen Musikwissenschaft eine Art Leitfunktion hat. 11 Susan Foster bezeichnet diese Ordnungskriterien, an denen sich die Auswahl und Komposition der Bewegungselemente orientieren, als »syntactic principles« (Foster 1986, 92-97). Als drei Grundprinzipen nennt sie »mimesis«, »pathos« und »parataxis«: Pathos bezeichnet den Gefühlsausdruck, Beispiele sind viele Tänze des Ausdruckstanzes und Moderne Dance; eine mimetische Choreografie bildet nicht-tänzerische, zum Beispiel als sinfonisches Ballett musikalische oder als pantomimisches Handlungsballett narrative Strukturen tänzerisch nach; als parataxis fasst sie verschiedenartige Ordnungen, die alle einen »formulaic approach« (ebd., 94) haben, so zum Beispiel das Zufallsprinzip, Spielstrukturen, mathematische Strukturen und Variation. Diese Prinzipien organisieren die unterschiedlichen Ebenen der Chorografie, »phrase, section or the dance as a whole« (ebd., 93), und können nebeneinander vorkommen. Die von mir hier entworfene Bewegungslogik lässt sich keinem dieser drei Prinzipien zuordnen, sondern bildet ein weiteres Prinzip.

240 | B ERGER

tigkeit, […] eine[r] physische[n] Logik« (Servos 2003, 23). Merce Cunningham spricht von einer »der Bewegung innewohnende[n] Logik« (Cunningham 1986, 78). Der Körper wird zum Agens und Movens der Bewegung, zur wirkenden Ursache und treibenden Kraft. Die Bewegungslogik bestimmt auf der Produzentenseite den Kompositionsprozess und auf der Rezipientenseite den Wahrnehmungsprozess. Indem sie dem Zuschauer einen sowohl erlebenden als auch verstehenden Zugang zum Geschehen ermöglicht, vermittelt die Logik einer Aufführung zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer. In diesem Sinne kann sie als eine weitere Spielart dramaturgischer Strukturen neben zum Beispiel Narration, Expression und Pikturalität verstanden werden, die die Bewegungsausführung leitet und sie so als sinnhaft wahrnehmbar werden lässt. Die Pointe dieser bewegungslogischen Komposition oder kurz Bewegungslogik ist, dass sie – anders als zum Beispiel Narration, Expression und Pikturalität – einem bewegungsspezifischen Prinzip folgt, das den Körper und seine Kompetenzen ins Zentrum sowohl der Bewegungsproduktion als auch der Bewegungsrezeption stellt. Im Unterschied zum Beispiel zur Ausdrucks- oder Handlungsdramaturgie geht es hier nicht mehr um die Um- oder Übersetzung vorgängiger Ideen, Vorstellungen oder Gefühlszustände; vielmehr entwirft sich die Choreografie erst aus der und durch die Bewegung. Diese bewegungsimmanente Logik sowie das Fehlen von Strukturprinzipien, die aus anderen Feldern stammen, macht die Dramaturgie des Geschehens je nach Vertrautheit mit körperspezifischen Ansätzen schwer zugänglich. Zugleich jedoch ermöglicht die durch die Bewegung hervorgerufene Notwendigkeit, den eigenen Körper (beziehungsweise eigene körperliche Fähigkeiten) ins Spiel zu bringen, eine andere Wahrnehmung und ein anderes Erleben – und eine andere Form der Erkenntnis.

AUSBLICK : B EWEGUNG IN

DER

W ISSENSCHAFT

»Denn über Tanz zu sprechen heißt immer auch, ein spezifisches Verhältnis von Logos und Soma zu verhandeln; es heißt, in einer wortgeprägten Kultur die Fähigkeit zu verteidigen, andere, möglicherweise angemessenere Wege der Verständigung zu suchen und zu entwickeln.« (Cramer 2005, 80)

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Wenn spezifische körperliche Kompetenzen nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Rezeption eine entscheidende Rolle spielen, müsste dies auch Folgen für eine wissenschaftliche Betrachtung der (Körper-)Bewegung spielen.12 Es hat sich gezeigt, dass der bewegte Körper nicht nur als Objekt und Instrument des Willens zu verstehen ist, sondern durchaus eigensinnig agiert. Wenn Körperbewegungen eine bewegungsspezifische Logik innewohnt, die senso-motorischem, das heißt körperlichem Erfahrungswissen13 folgt beziehungsweise sich ihm gemäß organisiert, bedarf es zu ihrer Untersuchung einer spezifischen Kompetenz – der körperlichen. Damit kommt das inkorporierte Körperwissen der Wissenschaftlerin ins Spiel. Es reicht also nicht aus, den menschlichen Körper in der Wissenschaft nur als ein Untersuchungsobjekt unter anderen zu behandeln. Vielmehr plädiere ich dafür, ihn als ein Subjekt mit einer eigenen Vernunft beziehungsweise Klugheit zu verstehen, die sowohl verstanden werden will als auch selbst in den Verstehensprozess hineinspielt. Entsprechend bedarf es auch beim wissenschaftlichen Umgang mit Körperbewegungen nicht nur einer rational fundierten Bewegungskompetenz, sondern vielmehr der Kombination von rational-semantischen und senso-motorischen Kompetenzen im Zusammenspiel aus praktischem Bewegungssinn und theoretischer Reflexion. Bewegung als Untersuchungsgegenstand bereitet der traditionellen wissenschaftlichen Vernunft durch zwei Eigenarten besondere Probleme: (a) sie ist zeitlich-dynamisch und steht damit dem Streben nach dauerhaft gültigen Erkenntnissen entgegen; (b) ihre Bedeutungsaspekte weisen über das Feld von Semantik und Hermeneutik und damit über die Sprache als traditionelles Medium der Wissenschaft hinaus. So konstatiert Henri Bergson: »Wir haben instinktiv Angst vor den Schwierigkeiten, die die Vision der Bewegung unserem Denken verursacht« (Bergson 1993, 165), und Inge Baxmann äußert die historische Einschätzung, dass »[d]er Aufstieg der Idee des aufgeklärten Subjekts verbunden [war] mit einem Verlust an Körper- und Sinneswissen« (Baxmann 2005, 16). Als zentraler Denker in diesem Problemfeld gilt Pierre Bourdieu, der in seiner Kritik der theoretischen Vernunft (Bourdieu 1997) die Inkompatibilität von Körperpraxis und theoretischer Reflexion beschreibt. Es handle sich bei diesen beiden Praxisformen um zwei trennscharf geschiedene Systeme, zwischen denen kein Übergang existiert.

12 Vgl. dazu auch Berger/Schmidt 2009. 13 Zur Unterscheidung von begrifflichem, sensorischem und motorischem Wissen vgl. Klatzky 1989. In diesem Sinne kann senso-motorisches Wissen (Erfahrungswissen) von begrifflich-semantischem Wissen abgegrenzt werden.

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Mein Vorschlag für eine Verknüpfung dieser beiden Sphären ist der Begriff der Bewegungslogik. Ziel ist die Ergänzung und Erweiterung einseitig rationalbedeutungsorientierter Logikkonzepte durch das Konzept einer eigen-sinnigen, bewegungsspezifischen Logik. Logik meint dabei ein intellektuell nachvollziehbares, verstehbares Regelsystem zur Verknüpfung von Elementen und deren Bewertung. Sie ermöglicht das Verständnis, ›warum etwas so und nicht anders ist‹. Aufgrund dieser Logik werden »Zusammenhänge« erkennbar, »die man unmittelbar als ›Sinnzusammenhänge‹ bezeichnen kann, ohne je den Sinn des Ganzen oder seiner Glieder angeben zu müssen« (Becker/Vogel 2007, 10). Der Begriff der Logik soll kenntlich machen, dass auch Körperbewegung einen »angemessenen Gegenstand geisteswissenschaftlicher Reflexion« (ebd., 12) darstellt. Denn auch Bewegungslogik ist wie die musikalische Logik »objektiv, sie steht nicht in der Verfügung des einzelnen Hörers [bzw. Zuschauers; CB] oder Komponisten [bzw. Choreografen; CB]; vielmehr liefert sie einen Maßstab, nach dem sich richtiges und falsches Komponieren [bzw. Choreografieren; CB] unterscheiden lassen. Weiterhin können die Regeln und Gesetze einer Logik zwar explizit gemacht werden, aber wiederum zeigt das Beispiel der Sprache, daß dies zum Verstehen nicht notwendig ist.« (Ebd., 11) Explizit gemacht werden können heißt, dies sei hier nochmals betont, nicht zwingend verbalisieren können: Die Bewegungslogik kann auch auf der Grundlage von Bewegungserfahrungen oder Beobachtungen von Bewegungen erfasst werden. Somit gäbe es einen Bereich, der von wortsprachlicher Übereinkunft ausgeschlossen, aber gleichwohl objektiviert und damit intersubjektiv teilbar ist.

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Spontaneity in Dance: Language Matters1 J OÃO DA S ILVA

In this essay I will briefly locate and articulate what in the last 25 years has come to be known by some dancers, dance teachers and choreographers inspired by the work and ideas of Mary O’Donnell (Fulkerson)2 as ‘Open-Form Composition’3

1

This essay is partly based on chapters 1 and 2 of my master thesis (cf. da Silva 2010).

2

Mary O’Donnell (Fulkerson), MFA, University of Illinois, Urbana and fellow of Dartington College of Arts, teaches Release and choreography. She choreographs particularly using open-form strategies and is the author of the concepts Responsible Anarchy and Ethical Reformation, which she has promoted through performance as both concepts and aesthetic positions describing our time. She has been a co-director of the School for New Dance Development in Amsterdam (1987-1989), of the European Development Center (EDDC) in Arnhem and Duesseldorf (1989-2001) and a core lecturer at the Master of Choreography Program of ArtEZ, Arnhem (2002-2008). She now lives and works in Austin, Texas.

3

‘Open-Form Composition' can be understood as a vast field stretching from the 1920s Duchampian Turn through Projectivism (Olson) and »the Culture of Spontaneity« in the United States of America all the way to the reconsideration of collaborative practices that have in the recent past informed what has been called (not without counter argumentation) ‘conceptual choreography’. Daniel Belgrad's book The Culture of Spontaneity (1998) provides an excellent historical perspective on it. Journals such as Maska (Ljubljana), Frakcija (Zagreb) and Performance Research have also covered the contemporary territory in the field of dance. Importantly, composer Earle Brown has used the term in the early 1950s, inspired by Pollock’s Action Paintings of the late 1940s, in which the immediacy and directness of ‘contact’ with the materials was of great importance. Brown’s conducting techniques and experiments with ‘time notation’, improvisation, and ‘Open-Form Composition’ as structure have all become part

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(‘Open-Form Composition’), suggesting it as a notion capable of unsettling, and perhaps transcending, the broadly-accepted dichotomy improvisation versus composition in dance. Following Belgrad4, I will attempt to show that the way this dichotomy is usually legitimized – by means of a particular discourse around the notion of spontaneity5 – does not satisfactorily reflect either the similarities or the differences between dance improvisation and composition. Both in dance improvisation and composition there is ‘un-preparedness’, ‘novelty’, and ‘unconsciousness’, but depending on the particular project and its context, they are present in different degrees.

I. B ACKGROUND

OF IDEAS :

A BRIEF

GLIMPSE BACK

In the early 1960s the Judson Church revolution was born, spurred by Robert Dunn and including, among others, Yvonne Rainer and Steve Paxton. It led to the possibility of performance within dance of so-called de-codified or pedestrian movements. Typical of their work was the repetition of a situational movement or game-like structure that could last either for a specific period of time or for a time determined live during the performance. These artists, well acquainted with the canon of Modern Dance, rejected its confines. Exemplary of this, Robert Dunn encouraged inventive scores, in the belief that laying out chance or oth-

of contemporary compositional usage. In 2002 ‘Open-Form Composition’ became one of the three main educational strands within the ArtEZ Master of Choreography Program in Arnhem, NL (till August 2012 called Dance Unlimited). 4

Belgrad’s (1998) description of the ‘Culture of Spontaneity’ in Post-War America brings forth a view on art and art making that concern is itself with a profound interest in inter-subjectivity, the notion of a mind-body holism, and a strong interest in nature. In this description Belgrad brings spontaneity in conjunction with the notion of culture, which implies that spontaneity is cultivated and that this cultivation or practice takes place within a particular context, not in isolation. This entails that spontaneity’s early definition (17th century) as ‘of one’s own accord’ becomes for Belgrad, and for this essay, ‘of one’s accord in relation to’, instead of a celebration of free selfexpression, which is what improvisers often attach to the practice of improvisation.

5

An action happening or arising without apparent external cause, self-generated, arising from a natural inclination or impulse and not from external incitement or constraint, unconstrained and unstudied in manner or behavior, growing without cultivation or human labor. Retrieved from: http://dictionary.reference.com/browse/spon taneous?qsrc=2446. Accessed on November 3rd 2014.

S PONTANEITY IN D ANCE: L ANGUAGE M ATTERS | 247

er intuitive possibilities and determining materials and spatial considerations in advance were ways of generating improvisation free of old habits and premeditated solutions (Reynolds/McCormick 2003, 397). At that time O’Donnell was a graduate dance student at the University of Illinois, Champaign/Urbana, where she studied improvisation with Willis Ward, whose work on improvisation was focused on ‘process’. This enabled one to focus on the moment as it occurs and, as such, to also better identify what the overall formal concerns of a work may be. In Illinois, she also encountered John Cage’s use of chance scores. O’Donnell however did not use chance operations in her work, as these “seemed confined to less complex choice making in real time” (O’Donnell 2006, 3). Choice making became for her “evaluative decision making tools for dancers in real time performance” (id.). Like many other young dancers in the 60s, O’Donnell had the opportunity to study with Anna Halprin in San Francisco, whose works were “guided by the sense-making of ordinary procedures and were formally coherent through purposeful activity” (id.). O’Donnell’s work, however, was not “logically rooted [that is, purposeful; JdS] in everyday [non-dance, un-codified; JdS] processes” as was Halprin’s, but rather in the “formal consistency of threads of [individual; JdS] energetic response and also based on emotional shifts in audience perception” (id.). She also did not use the “tools of improvisation” out of which she would “arrive at scores for performance based on the ‘real experience’” of her dancers, as Halprin did (Reynolds/McCormick 2003, 396). Instead, beginning from concepts and pre-arranged image-based scores, she allowed for the ‘real experience’ of the dancer to occur real-time within the particular, pre-arranged constraints of a performance. Thus improvisation for O’Donnell was not a method leading to ‘real experience’ in performance, as one could say that for her all experience was real. In 1971 O’Donnell formed a group, The Tropical Fruit Co., with which she began to explore “process-based work within overall defined but not set forms, with [both] openness and closure occurring on four levels” of composition6, namely: “moment-to-moment; moments grouped together forming short units; short units compared; and total unified forms” (2006, 5; Emph. JdS). One could say that O’Donnell’s understanding of Open-Form in the early 1970s was one of a paradoxical oneness, where form and open were considered to be both adjectives and nouns simultaneously. Every moment, be it considered to be closed or open, is itself viewed as process, that is, in a state of flux. In any one moment a

6

These levels of composition were derived and inspired by the ideas of composer Iannis Xenakis.

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dancer has the agency to further close or open a particular form, however minimally. Every form then can be looked at with regard its potential for either further openness or closure. How this potential will be actualized in performance will depend on the personality of the dancer (which was, and continues to be, very relevant to O’Donnell), on the specific logic or dramaturgy of the work, and on the context within which the work takes place. The challenge then for O’Donnell was to create “discreet processes that could be re-invented every time they were performed, but would [nevertheless; JdS] have coherence overall as communication” (id., 6). Processes would be only approximately the same, thus recognizable but always different, even if only slightly. Developing awareness to these minimal shifts has been central to O’Donnell and to experienced improvisers alike. By the time O’Donnell moved to England in 1973, to take up a position at the Dartington College of Arts, an ‘Open-Form Composition’ meant to her “the creation of structures to allow real-time decision making on several compositional levels, through overlapping processes and formal structures within performance” (id.). Well ahead into the development of her ‘Release Technique’7, and inquiring into the firmly grounded distinction between the openness of a process and the closure of a form (product), she arrived at the conclusion that, on an interpretative level, form is always open and process is continually and stubbornly closing itself as it finds roots in ‘history’, as it is repeated (cf. id., 9). In the early 1980s, a time strongly reflecting the failure of master narratives and the modernist myth of progress, micro-narratives continued to strive to dis-

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For a very recent account of the history of Release Technique please refer to Contact Quarterly Chapbook 3, vol. 37 no. 2. Summer/Fall 2012. O’Donnell, European Pioneer of Release Technique, has defined release as a body/mind integrative technique through which engagement with imagery enhances and inspires imaginative responses and bodily movement. Images for consideration in Release are initially anatomical, and/or created from principles of physics as applied to dance, and later may arise from any sources, including personal history, human emotions, dreams, wishes, memories, future projections, social protests, and strong reactions. Any source that inspires the individual to a coherent and identifiable response, and that may be presented as metaphor for consideration may be useful as inspiration within a Release class. Release may be used as a source for correction of alignment in movement. The Release Process inspires movement vocabulary, and indicates constructs of thought that may be used in movement creation and compositional decision-making. More on her views about how Release can be applied can be found on her website http://www.release dance.com. Accessed on November 2nd 2014.

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mantle universal truths. This was also a time to re-think the pedestrian body and how it was presented on stage. At this time O’Donnell met J. F. Lyotard and his writings became a fascination for her. Her understanding of his views on postmodernity in general and his discourse on paganism in particular8 instigated her towards finding a new language to describe what she understood as the “complexity of process within product” (id.). She intuited that the “complexity of life […] could be a model for open form composition” (id.). She then went on to make pieces that intended to expand “consciousness for performers and audience members, often taking great risks with the time scale” (id.) of a piece. The strategies she employed in order to achieve this ‘expanded consciousness’ were: 1.

2. 3. 4.

“real time exploration of imagery”, which for her was not the same as making a choice between one and another known outcome within performance (id., 10). Such journeys “provide frameworks for continual renewal of method and experience, with points of arrival being occasionally fixed, and sometimes […] with points of arrival being cued through logical development of the piece in unspecified time, or in specified time through response to musical cues” (id.) which were “necessary to the flow of information within the auditory world of the piece” (id.) assigning specific, individual parts for performers, “each separately described and ordered in process, though not set formally” (id.) “performance as a series of processes” (id.) and therefore the performance itself can be considered to be a process as well “Open-Form [individual; JdS] emotional journeys, based in arriving at points of understanding within personal history, including the person’s history of rehearsing [the particular; JdS] work” (id.)

By the late 1980s O’Donnell (2003, 279) could no longer subscribe to the prevailing postmodern discourse as it proved to her to be inadequate in the face of burgeoning irresponsibility for environment, health, welfare and global visions. In the early 1990s O’Donnell continued to think of the composition of open forms in terms of the relationship between the simultaneously present openness and closure of forms. Thinking in these terms, according to her, allows for “more complexity” of perception at the same time that it allows “for some level of continuity” (O’Donnell 2006, 12). In this time she brought forth one relevant con-

8

A full account of Lyotard’s ideas on the ‘Pagan’ and the ‘Just’ can be found in Lyotard/Thebaud (1985).

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cept: ‘Responsible Anarchy’. It was meant to further illustrate or more clearly describe her paradoxical definition of ‘Open-Form Composition’. Responsibility, she writes, “came about through the need to create a [recognizable, understandable; JdS] linear structure” (id., 10) that would allow performers to navigate through a piece in such a way that they would be able to transport the aimed-at meaning of a piece of work consistently and reliably. Dancers were responsible for themselves, for the other dancers, and for the piece. Anarchy, on the other hand, came about through the need to endow individual dancers with ‘significance’ and a field of experience that situated and configured the work differently each time it was performed. Responsibility was likened to a riverbed and Anarchy to the river, with both simultaneously carving out the identity of the work. ‘Responsible Anarchy’ proved to be a challenging endeavor. By the late nineties, O’Donnell realized that in order for her to explore ‘Responsible Anarchy’ further it would be necessary to better define within her projects an ethical, shared, basis for choice making. She then began to investigate more systematically what “level of guidance and freedom is necessary for essential, repeatable, zoned meanings of composition to develop in shared, real-time creation” (id., 12). According to her this process will “depend on the ability of individuals to grasp the [choreographer’s; JdS] master plan, to master the [individual; JdS] process of discovery and arrival at fixed points, and to balance the individual ethical choice making process with the demands of the total need of a performer’s society.” (Id., Emph. JdS) It will only succeed if she, the choreographer, finds ways to more precisely communicate the ‘Holding Forms’9 and the “anarchic potential of each dancer’s involvement” (id., 12). That is to say that the modus operandi of improvisation and composition must simultaneously be present. O’Donnell practices it to this day. It is important to mention that here ‘Open-Form Composition’ is above all thought of as a posture, or a lens, through which to approach, to think and to experience a non-reductive, non-essentialist engagement with the incipience and latency of forms in dance. Only secondarily it is understood as a method through which forms can be put together in a dance. Indeed, according to Ric Allsopp (2007), ‘Open-Form Composition’ cannot simply be identified with a set of techniques or methods of composition. It is a political and an aesthetic form, a means of representing contemporary realities extending from and underpinning a ‘post-logical’ and ‘post-humanist’ consciousness, according to which the human

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O’Donnell defined ‘Holding Form’ as “the forward progression of information necessary for the many-faceted meaning of a piece to be transmitted to the audience” (O’Donnell 2003, 254).

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being is not the apex but a creature of the universe. Open form, rather than being an arbitrary or unconstrained exploration, departs from, or moves outward from a position: an ethical point of departure or ‘regard’ towards the open, which has been variously identified as ‘attention’ (Olson); ‘response-ability’ (Duncan); and ‘confidence in lack’ (Fisher).10

II. T HE L ANGUAGE OF S PONTANEITY : ‘U NPREPARED ’ VERSUS ‘P REPARED ’ “Rather than placing improvisation and composition in opposition, Lacey argues for placing both on a continuum defined by the kind and amount of time spent in preparing the exact specifications of the performance.” (Foster 2002, 300) “In 15 seconds the difference between composition and improvisation is that in composition you have all the time you want to decide what you say in 15 seconds, while in improvisation you have 15 seconds.” (Steve Lacey qt. in Foster 2002, 300)

Both quotations above explicitly mention the amount of preparation time prior to a performance as a crucial factor in differentiating improvisation from composition. They posit that the less time one has to prepare for a particular performance the more improvisatory it will be. This indeed seems to conform to the colloquial understanding of improvisation. It follows then that when one stretches time to ponder and ‘think’, or prepare, our performance or understanding of improvisation becomes more compositional, less spontaneous. The first quotation does not present improvisation and composition as oppositional terms. The image of the ‘continuum’ used in it is in line with how O’Donnell has described ‘Open-Form Composition’ as process. It also recognizes that “the performance of any action, regardless of how predetermined it is in the minds of those who perform it and those who witness it, contains an element of improvisation” (Susan L. Foster qt. in Peters 2009, 115). The reverse could as well be understood as possible, that is, that the performance of any action, re-

10 Richard Allsopp in his lecture Open Work-Post Production-Dissemination, presented at the Symposium Movement? Necessity? Subject? organized by the Master Program in Choreography Dance Unlimited at the ArtEZ School of the Arts, Arnhem, NL. The full lecture is available at http://www4.artez.nl/DUASymposium/downloads/DUA_ Symposium_RicAllsopp.pdf.

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gardless of how undetermined it is in the minds of those who perform it and those who witness it, contains an element of composition. The second quotation, however, seems to miss or obliterate an important point. Having all the time to prepare assumes that there are no time constraints involved in a preparation. This seems to be far from how the majority of performances are made nowadays, where production time has steadily become shorter. This shorter production time does not however necessarily entail that the performances emerging from it are to be seen as improvisations, unless one would equal the ‘shorter preparation time’ usually associated with improvisation to a kind of performance whose shorter preparation induces it to be assessed as being less valuable as in composition and if to improvise is connected to a mode of production in which one does not have at hand all the ingredients one needs in order to achieve or produce what one wants; if, in other words, to improvise is directly related to a lack. The quality of a performance, improvised or composed, is not necessarily dependent on how much time has been spent on preparing for it. Artists who make improvised performances may indeed use none or shorter amounts of rehearsal time prior to the performance, and this may be, for example, due to budget constraints, availability of the performers and other logistic reasons. However, it may also well be that this is exactly what the artist wants, that is, to reduce time in order to investigate what happens when such a constraint is implemented. Either way, the artist has decided to share the work with an audience, who will not necessarily know, or need to know, about the process leading to the performance. Therefore, the alleged shorter preparation time of improvisation is no excuse for the possible lack of completion or preparedness of a performance. Good improvisation depends, in fact, on prepared minds. Regardless of how much time one has spent preparing, or how much time one has to perform any action in real-time, one still needs to produce or actualize the action, to ‘make it happen’, and in producing and actualizing it, there is no guarantee that the action will be performed exactly according to how it was planned. A margin for error, surprise, difference, or deviation is necessarily involved. The human body is not a machine that immaculately performs following the ignition of a start button. Its psychophysical predispositions and moods continually change. The body moreover is affected by the context in which it is located and therefore it needs to constantly negotiate the givens it brings with it with what is there at hand at any one time. The givens it brings with it are, for example, the experience and awareness of its instrument, the body, involving all that it remembers, as are, for instance, the “parameters of the work’s structure, the idiom with which it engages, and the idiom’s history” (Peters 2009, 82). This

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takes place both in improvisation and composition. What may indeed differ is the degree of error, surprise, difference, and deviation the work can invite, allow or endure. In the 15, 30 or however many seconds one has to act, to make the possible actual, ‘yes’ and ‘no’ decisions are being engendered, be it in a moment called improvised or composed, and the quality or timing of these decisions together with the intentions of the artist, rather than the amount of time they take, is what defines the moment of their performance as right, playful, powerful, persuasive, convincing or not. Spontaneity thus, if understood solely as a non-planned, unprepared or punctual (isolated) temporal agency, cannot be a sufficient criterion to differentiate improvisation from composition. When engaging with the predetermined, by means of the ‘yes’ and ‘no’ decisions prior to the ‘now’ about to begin, as the argumentative nature of the brain demonstrates11, there is always a moment of reflection, hesitation, or wavering, however short, consciously perceived or not, and in this moment all memory of what is given is concentrated, amalgamated. Not, however, to go beyond the known, as one often hears in milieus of improvisation12, but rather to enter it again and again. There will never be a pure improvisation or a pure composition. These limits are never to be obtained in live performance because “no improviser can avoid the previously learnt material, and no re-creative performer can avoid small variations specific to each occasion” (J. Pressing qt. in de Spain 1997, 69). This is precisely the tension that O’Donnell’s articulation of ‘Open-Form Composition’ and ‘Responsible Anarchy’ bring forth: the dancer, in each particular occasion, negotiates in real-time the given, pre-defined parameters of the work, which not only explicitly include the individual’s history in relation to it, but also ask him, in the moment of negotiation, to open, or carve, a singular, individuated and dynamic space into and within the pre-defined form. The pre-defined form will therefore necessarily always undergo variations.

III. ‘N EW ’, ‘N ON -H ABITUAL ’

VERSUS

‘O LD ’, ‘H ABITUAL ’

“Improvisation, in the celebratory sense, conceives of itself as transcending these outmoded structures and threadbare pathways through acts of spontaneity that

11 This is in reference to how Jonah Lehrer explains how decisions are made from the perspective of the brain. 12 This is in reference to how Peters criticizes the discourse on improvisation by a great number of improvisers.

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inhabit the moment, the instant, the pure futurity of the ‘now’, without history’s ‘spirit of gravity’ (Nietzsche) weighing upon the shoulders of the creative artist.” (Susan L. Foster qt. in Peters 2009, 17; emph. orig.) When asking a number of beginning practitioners of improvisation about their view on what improvisation is and what it can generate one can deduce from their responses that through improvisation one can more easily become or feel ‘free’. Free from a sense of aesthetic responsibility (how it looks) or duty towards the confines of tradition. Not being preoccupied with how a movement form looks entails also that in improvisation one is not bound to correctly execute a particular code or technique. This seems to be congruent with how improvisation has been communicated and legitimized in the 1960s, 70s and 80s. Before a tradition or a habit can be broken it must first be known or recognized as such, and attaining a heightened awareness of one’s habits and the traditions one belongs to takes a considerable amount of time, a time of practice and a time to critically reflect on it. Without these the new will not be really new, for one would not know in relation to what it is felt or thought of as new. Inhabiting the moment ‘spontaneously’ in improvisation must therefore contain within it the knowledge or a memory of what has been, a knowledge the experienced improviser can afford to ‘forget’ or momentarily put aside. This is for example what Steve Paxton (1987) posits. He has not referred to spontaneous action as the sole means to explain the kind of time of an improvisation. He spoke of improvisation as a means to help one understand one’s past, how one’s habits have become habits, and that as being crucial for improvisation. Words like ‘awareness’ or ‘attention’ come often into play as well, as Barbara Dilley (1990) recognizes. For her, “in improvisation forms, we connect very clearly to the constant shifting that exists in our perceptions. This awareness becomes the ground for spontaneous dance improvisations” (Dilley 1990, 40).13 To become an expert in any area is a process that indeed takes time and practice. Once one has developed ‘expertise’ one can perhaps stop ‘thinking’ about all that which has been learnt. One could say that what has been learnt has also become habitual, it has become a ‘second skin’. One does not have to ‘think’ about what one needs to do because the action one has to do has, through practice, become automatized, like the riding of a bicycle. This ‘thoughtlessness’ or momentary ‘forgetfulness’ seems to be crucial to the colloquial notion of spontaneity. Thinking too much about what one already knows certainly will not help

13 Kent de Spain, making reference to Csiszentmihalyi’s view on ‘The Flow of Experience’, offers a revealing account of awareness as that which interprets the contents of information. Cf. de Spain (1997, 101).

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a dancer perform a technically difficult, rehearsed, composed movement sequence, neither will an improviser be able to enter a space where he will be asked to make complex decisions, like in cases of more demanding, risk-taking threatening kinds of improvisation. Habits are thus not necessarily bad. 14 Because the rational, censoring mind can relax habits can actually allow psychophysical space for the new, provided one has a positive and confident relationship with how habits have actually become habits. One could perhaps infer from this that a technically skilled dancer who has had ‘bad’ teachers and suffered the ‘tyranny’ of mindless form will most likely not want to think of habit, or the dance culture he is (has been) a part of, as positive and therefore he will do everything possible to escape it. Improvisation must be more than an escape from. If this is so, why then the insistence on freeing oneself from habits if habits appear to be an essential element in the logic of spontaneity experienced improvisers seem to claim? How can the new claimed for in improvisation arise as new if not by also a good degree of habituation? How to create difference in improvisation if not by also engaging with a good amount of habit and repetition? A tentative answer may be that it is first of all by coming to terms with the past and looking at habit as a reservoir of information, and not primarily as something to reject. Rather something to assertively encounter. Not every rejection leads to something new and not everything new is necessarily better. It is also, following Peters (2009, 5), by sharpening the ability to listen to the ‘calling’ within what is there, that one might discover difference within the same, and this ‘listening’ needs to constantly be called upon, produced, tuned, rehearsed and assessed, over and over again. Indeed, this production takes place every time ‘spontaneously’, in improvisation and in composition, under the proviso that the ‘instantaneity’ of spontaneity include all its relations, not only an isolated slice of time. Consequently, the difference between improvisation and composition is not that the former is spontaneous and the latter is not. They could both be said to be either always spontaneous or never spontaneous because in dances that present the body live on stage both are always produced real-time, and a production, like the language used to communicate it, is not personal or individual, because it itself carries with it the knowledge, meanings and the values of the culture is exists in. Meaning is not ‘ours’ alone to command. The ‘of one’s own accord’ of spontaneity must be brought in relation to where, with whom and when ‘one’s own accord’ takes place. It is there that one may find in a more detailed manner how dance improvisation and composition differ.

14 Lehrer (2009, 39) says that if we can't incorporate the lessons of the past into our future decisions, then we're destined to endlessly repeat our mistakes.

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Improvisation could be less ‘celebrated’ and more fully affirmed. In a more rigorous and affirmative understanding of improvisation, the new is to be found or felt in the ability to recall, inhabit, revise and renew the old, which, when called upon, is always there in the present tense. Following Peters (2009, 72;167) the new of improvisation is not the embodiment of freedom, but rather a search for it in the here-and-now of the work’s becoming. A search that requires a psychophysical effort and discipline paramount to any freedom wishing to be capable of willing the future, a future always past, because of its being dynamically anchored or rooted in it. Indeed, for something to be forgotten, something must be first remembered. This is not exclusive to improvisation. It is an essential part of composition as well. It is, in fact, an important characteristic of any dancer or performer who is able to embody freedom positively, that is a freedom to15. O’Donnell’s articulation of ‘Open-Form Composition’ as a process which includes both discussed and rehearsed guidelines in advance (the past) as well as the invitation to ‘anarchically’ challenge the boundaries of what has been previously discussed and rehearsed in the present tense of a performance recognizes that the outcome (the future), even if it aims to communicate particular meanings, will always be different, precisely because it is irrevocably rooted in its past.

IV. ‘U NCONSCIOUS ’, ‘AUTHENTIC ’ ‘I N - AUTHENTIC ’

VERSUS

‘C ONSCIOUS ’,

“Artistic authenticity asks of the artist something he cannot give. Besides, the ‘conscious’ effort to express oneself spontaneously is a contradiction in itself.” (Wenninger 2009, 34)16

Descartes, Lehrer states (2009, 10), “divided our being into two distinct substances: a holy soul capable of reason, and a fleshy body full of ‘mechanical’ passions.” This dichotomizing of the body and mind, of doing and thinking, has strong, long-standing roots, and it persists to this day, despite the rigorous attempts to abandon or overcome Cartesianism in dance and dance training in the

15 Peters (2009, 141-142) offers a philosophical analysis of the difference between a ‘freedom from’ and a ‘freedom to’, considering the former ‘negative’ and the latter ‘positive’. 16 Translated by the author.

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20th and 21st centuries.17 What could the reason(s) for this be? A possible reason is that some practitioners, seduced by certain ‘catch’ words such as ‘don’t think’, started employing these words in such a way that an original well-meant interest in bridging the gap between mind and body, reason and emotion, became, instead, a reinforcement of it. ‘Don’t think’ may well mean that what is desired by the one saying it is in fact an invitation for the recipient to allow the ‘body’s intelligence’ to take over, to allow sensation to eloquently ‘speak’ its language through the body, to avoid unnecessary ‘rational’ censorship, to be ‘released’ from unwanted or unnecessary constraints. If this is so, why say it in the negative form? Can a healthy person actually not think?18 What one can perhaps do, if appropriate and wanted, is to learn how to think differently. Spontaneity seems to be a word that, in its common, over-determined and uncritical usage tends to more emphasize the mind-body, thinking-doing gap than abridge or diminish it. Wenninger’s quotation in the beginning of this section clearly points to this. Spontaneity is often conflated with an immediacy that seems to exclude, or ban altogether, conscious thought. Consciousness, or how it is loosely associated with rational thinking, seems to, especially in improvisation, corrupt the ‘naturalness’ provided by spontaneous action, making it look inauthentic, fake or mannered. Consequently, dancers, especially improvisers, travel incredible distances in order to try not to think, so that they can look authentic, real or natural. But to whom, one may ask? Wenninger’s quotation suggests that in order for an artist to be authentic he must act spontaneously and that the conscious effort to act spontaneously, according to her, is an impossibility, for spontaneity as a notion seems to demand the absence of conscious thought or reflection on the part of the artist. Wenninger (2009, 59-80) embarks upon a lengthy analysis and critique on how Danto differentiates style from manner. Here is a summary: For Danto, according to Wenninger, an artist’s style expresses the artist’s way of seeing the world spontaneously and immediately, and it is not acquired or learnt. An artist is also, in some sense, blind to his style, and therefore unconscious of it. Manner, by contrast, is separated from the artist; it is acquired by technique and hence presupposes that the artist is aware of it. Style can transform into manner insofar as becoming conscious of one’s style destroys the immediate, spontaneous rela-

17 There is not enough space here to go over this fascinating history. Much of what has happened in the last 50 years had, in a very direct way, to do with a mind-body holism, even though one could certainly note that, at different times, a side of this binarism has been more strongly examined than the other. 18 Lehrer (2009, 15), following Damasio, presents the incapacity to think as a pathology.

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tion to it. The artist stands in a non-reflexive relation to his style. Manner on the other hand, presupposes reflection.19 If we conflate Danto’s style with the colloquial language of dance improvisation and his manner with the one of dance composition we arrive at revealing similarities, namely: 1.

2.

3.

improvisation is often equated with a practice motivated by a drive or need for self, real or authentic expression, and that in order for expression to be of the self, real and authentic, one must be able to ‘inhabit the moment’ without concern or thought for how the self has actually become the self, that is, to its history, preparation, including the acquisition of technique. One acts of ‘one’s own accord’. The self is in this way essentially free, or phrased differently, this particular kind of freedom is essential for the spontaneous, unhindered, unconscious, immediate and unmediated expression of the self composition, on the other hand, is often equated with a practice not primarily motivated by a drive towards self-expression, as the artist, if concerned with expressing something, rather expresses a pre-determined set of goals or intentions, usually someone else’s, the choreographer’s, and in this way the dancer is more a medium who, through his technical and cognitive abilities, learnt and remembered, expresses the particular identity of the work, not himself in improvisation the artist is also often seen as creative and active, whereas in composition he is seen as re-creative and passive, and because of being re-creative and passive, less capable of spontaneous acts of thought or imagination

Experienced improvisers consistently attest to the contrary. For an improviser to be good (qualified as such by the recognition he is granted by the community he is a member of) he needs reflection and practice, not only prior to the act, but the act itself does not exclude reflection or thinking. One could also say that the notion of consciousness, by means of language, is itself the product of the meanings we learn and reproduce. What happens in improvisation, following de Spain (1997, 75) is fast and articulate thinking. The improviser needs to have an understanding of what matters at any given moment in time in the frame of the improvisation, and commit to his decisions, even if to “decide not to decide” (Burrows 2008) and this will change from improvisation to improvisation. This

19 Translated by the author.

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commitment is moreover not a commitment to himself, but rather to the improvisation, to the project at hand. The complexity in composition of doing particularly this at a particular time in a particular pre-determined or pre-conditioned relation also asks the dancer to think and make fast and articulate decisions, as they conjure up the ‘known’. This however gives no guarantee that the known, predetermined or preconditioned, will happen exactly as planned. Dancers of composed pieces are aware that no movement will ever be fully the same. A large part of the work of such a dancer is to find ways to get, through rehearsal, as close as possible to what the movement was or should be. One ‘goes after’ exactitude with the knowledge that the ‘exact’ is never to be achieved. What one does is calibrate one’s psychophysical actions on a scale of approximation. The difference, therefore, is not that in improvisation one does not think and that in composition one does. In both one always thinks, but one might be invited or required to think differently. The difference is intrinsically bound to the particular constraints of the work and the kind of opening, or freedom, the work asks for, allows or facilitates. This is paramount when attempting to identify the difference between dance improvisation and composition and to locate the differences between one improvisation and another, and one composition and another. Wenninger posits that Danto’s distinction between Style and Manner (and here improvisation and composition) does not hold, because it bases itself on a static, reductive, either-or cognitive relation. She proposes a more dynamic, inclusive relation, in which Style and Manner (improvisation and composition) are profoundly enmeshed. In order for spontaneity to become more than a worn out trope and a notion capable of more fully and meaningfully affirming the ‘spur’ of moment, either in improvisation or in composition, one needs to expand one’s understanding of spontaneity to include in it the moment of spontaneity’s temporal-spatialideological-attitudinal-intentional relations. This is how Belgrad (1998) has, paradoxically, understood spontaneity as cultivation. This is an understanding O’Donnell’s articulation of ‘Open-Form Composition’ enables.

V. A MOVEMENT

OF THOUGHT

Lehrer (2009, 238) posits that how one decides should depend on what one is deciding. Simple problems, the ones with well-defined options, the mundane problems of daily life, are best suited to the conscious brain. Complex problems on the other hand require the processing of the emotional brain, which does not

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mean that one can just ‘blink’ and know what to do. Even the unconscious takes some time to process information. Is dancing a simple or a complex problem? Is dance improvisation more complex than composition? As demonstrated so far, dance improvisation and composition involve both consciousness and unconsciousness, thinking and feeling, knowing and not knowing. The simplicity or complexity of the one and the other becomes more clearly manifest when what is desired or aimed at by the artist in relation to his project, and what the project requires, is accordingly taken into account. In Whitehead’s philosophy “every real-life object may be understood as a series of events and processes and the subject emerges from the world and not the other way around.”(Sherburne 1995) For Belgrad Whitehead’s “ideas were congenial to the avant-garde of the 1940s and 1950s because “they entertained alternatives to conventional forms of communication” (Belgrad 1998, 124) and his insistence that empiricism [knowledge derived from sense-experience; JdS], not arbitrariness [based on random choice or personal whim; JdS], was the means to discover such alternatives” (id.). Importantly, the body in Whitehead’s philosophy takes center stage. According to Belgrad, Whitehead “believed that the “primary act of identity consists not in a Cartesian self-consciousness” (id. 126), but in a “vaguer sense of environing realities pressing on us, mediated kinesthetically by the body, including the nervous system and the sense organs. Individual experience is not a hopelesssly self-referential monologue, as the organization of the body testifies” (Whitehead qtd. in Belgrad 1998, 126).

O’Donnell’s most recent description of ‘Open-Form Composition’ posits that ‘Open-Form Composition’ “is arrived at through the creation of a series of processes, some set [closed or pre-determined; JdS] and some improvised [open or undetermined; JdS] in ‘form’ for each dancer. These lead dancers to experience live decision making on stage while [also; JdS] giving them definitions and outlines that act as ‘Holding Forms’.” (O’Donnell 2010, 143) O’Donnell’s bringing together of the ‘known’ and the ‘yet-to-be-known’, both of which have to be continually negotiated real-time in a series of processes (therefore never fully closed, always in flux), and her emphasizing of the experience of the dancers as central to how decisions are made in real-time, experiences of both thought and feeling, are congruent to how Lehrer and Whitehead – by means of Belgrad – present the complex and non-dichotomous nature of human agency. Therefore, for the notion of spontaneity not to be a ‘dead end’, exhausted and over-

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determined, nor a mere reproduction of ‘silent’ and invisible systems of thought learned, it must itself be brought into a process or flux of continual negotiation as well. Scholars Susan Foster and Gary Peters, like O’Donnell, understand the dynamic space between the closed and the open, the composed and the improvised, the ‘known’ and the ‘unknown’. Foster positing that through the ‘openness’ of improvisation, that is, a “composition done extemporaneously, on the ‘spur of the moment’, one goes beyond what one knows, because in improvisation one makes use of all one knows plus what one could not know before, and in this one is ‘taken by surprise’” (Foster 2003, 3-4) and Peters, not fully agreeing with her, positing that, instead, through improvisation one is asked to engender, over and over again, in an ‘eternal return’, a return to the open, originating, emerging space of art, a return that does not necessarily create the ‘new’ implicit in the ‘beyond’ of Foster (cf. Peters 2009, 114). Rather a renovation of what has been there already. Peter asks us, by liberating the concept of freedom from discourses of emancipation, to rethink freedom in a way that, once remembered, it is preserved in the artwork. Given spontaneity’s strong bond to discourses on improvisation we need to get to know it every time anew, over and over again. This is what O’Donnell’s ‘Open-Form Composition’ encourages and facilitates. Her articulation brings Foster’s and Peters’ understanding of improvisation as composition together without, in practice, privileging either. Its language brings the dancer into a position in which he needs to more fully commit to both himself and the work at hand, where freedom is always already constrained, and constraint always already necessarily a condition for freedom and an opening wherein difference occurs.

VI. C ONCLUSION Improvisation and composition in dance are known through one another and are therefore inseparable. Improvisation “presupposes composition in an asymmetric way, as the general space of its possibility” (Landgraf 2011, 142). Spontaneity, if transmitted without reflective and contextual rigor, without being understood as a situated practice and as cultivation as Belgrad suggests, will not do justice to the complexity and potential of dance, be it improvised or composed. Moreover, if the spontaneity and the openness commonly attached to the practice of dance improvisation is to be understood as being intrinsically connected to (more) freedom, the spontaneous act in dance needs to be considerably more than a ‘slip

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of the tongue’, supposedly unprepared, unconscious or un-reflected. It needs to be practiced, cultivated and consciously affirmed.

B IBLIOGRAPHIC R EFERENCES BELGRAD, Daniel (1998): The ‘Culture of Spontaneity’: Improvisation and the Arts in Postwar America. Chicago/London: The University of Chicago Press. BURROWS, Jonathan (2008): What is Choreography? Retrieved from http://www.corpusweb.net/answers-2935.html. Accessed on 18 Feb. 2016. DA SILVA, João (2010): O'Donnell's Open-Form Composition (OFC): A Possible Stance to Abridge the Divide Improvisation-Composition in Dance? Unpublished Master Thesis, Utrecht. DE SPAIN, Kent (1997): Solo Movement Improvisation: Constructing Understanding Through Lived Somatic Experience. Ann Arbor: UMI. DILLEY, Barbara (1990): “Creative Process and Meditation: Two streams”, in: Contact Quarterly, 15, 3, p. 40-44. FOSTER, Susan Leigh (2002): Dances That Describe Themselves: The Improvised Choreography of Richard Bull. Middletown, Conn.: Wesleyan University Press. FOSTER, Susan Leigh (2003): “Taken by Surprise: Improvisation in Dance and Mind”, in: Ann Cooper Albright/David Gere (Eds.): Taken by Surprise. A dance Improvisation Reader. Middletown, Conn.: Wesleyan University Press, p.3-10. LANDGRAF, Edgar (2011): Improvisation as Art: Conceptual Changes, Historical Perspectives. London: Continuum Books. LEHRER, Jonah (2009): How We Decide. Boston/New York: Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company. LYOTARD, J. F./THEBAUD, J. L. (1985): Just Gaming. Translated by Wlad Godzich. Minneapolis: University of Minnesota Press. O’DONNELL, Mary (2003): Release. From Body to Spirit, Seven Zones of Comprehension from the Practice of Dance. [CD-ROM] O’DONNELL, Mary (2006): Open Form to ‘Responsible Anarchy’: Autobiographical Thoughts. Unpublished Unpublished but retrieved from http://appleaday.nl/releasedance/ReleaseDance/pdf/MODhistory%20of%20i deas.pdf. Accessed on 18 Feb. 2016. O’DONNELL, Mary (2010): World of Proximity. Dance is to Be Found Everywhere. Unpublished but retrieved from http://appleaday.nl/releasedance/Re leaseDance/pdf/chap2.pdf. Accessed on 18 Feb. 2016.

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Einer bewegt alle. Zur performativen Produktion von Kollektiven und Singularitäten P AMELA G ELDMACHER

E IN GEMEINSAMER ABEND 1 Einen gemeinsamen Abend möchte der Performer Andreas Liebmann an diesem Juniabend 2012 im FFT Juta2 in Düsseldorf mit den Besuchern begehen. Dazu zählen die vermeintlich gemeinsame Aktion auf der Bühne, das Miteinander im Kollektiv sowie die Konfrontation verschiedener unbekannter Einzelpersonen mit dem gebürtigen Schweizer Künstler. Wir – ein Solo lautet der Titel der Performance und wenige Minuten später folgen Details zu dem vermeintlichen Oxymoron. Denn ehe Liebmann die Anwesenden auffordert, auf die Bühne zu kommen, verkündet er das für den weiteren Verlauf des Abends zentrale Detail: Die Zuschauer sollen ihm und seinen Worten fortan gedanklich, also gewissermaßen virtuell, folgen. Der expliziten Aufforderung, »jetzt« den Nachbarn auf der rechten Seite anzuschauen, lassen noch zahlreiche Anwesende ein Drehen ihres Kopfes folgen. Dies aber bleibt fast das letzte ›Versehen‹, denn danach ist allen klar, dass die Teilhabe ohne physischen Einsatz vonstattengehen soll. Man begibt sich also im Geiste auf die Bühne und wird von Liebmann eingeteilt, einen Chor zu bilden, der für ihn das Gemeinschaftsbeispiel schlechthin darstellt. Die einen haben dabei zu jubeln, die 1

Der Aufsatz basiert auf meinen Ausführungen zum Kollektiv in meiner Dissertation Re-Writing Avantgarde: Fortschritt. Utopie. Kollektiv. Partizipation. Zum Verhältnis von zeitgenössischen und (neo-)avantgarden Performancepraktiken (Geldmacher 2015).

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Die Performance fand am 5. Juni 2012 im Forum Freies Theater in Düsseldorf in der Spielstätte Juta statt.

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anderen zu singen, wieder andere sollen bestimmte Laute von sich geben. Der Akustik beraubt, symbolisiert Liebmann seine Rolle als Chorleiter durch energetische Bewegungen: Er scheint den Taktstock zu schwingen und zeigt durch seine Gestik, dass er vom ein oder anderen Einsatz nicht allzu angetan ist. Doch hör- und sichtbar wird von den Urhebern der Einsätze nichts. Liebmann skizziert, die Zuschauer malen schweigend aus. Im besten Fall, so wird der Performer später im Publikumsgespräch berichten, stehen die Zuschauer selbst auf der Bühne und imaginieren das Gespräch nicht lediglich von ihren Sitzen aus. Liebmann ist gewillt, die ihn beobachtende Gruppe über eine Stunde an sich zu binden. Er möchte, dass man ihm auf Schritt und Tritt folgt, doch immer wieder geschieht das, was in seinem Experiment per se angelegt ist: Die Individuen der Gruppe, die sich zwar als kollektives Wir angesprochen fühlen, jedoch schlussendlich als Ich agieren und handeln müssen, können sich ob der fehlenden physischen Kontrolle dem ganzen Spiel entziehen. So gesehen funktioniert das Wir in dieser Performance primär auf der psychischen und nicht wie sonst so oft auf der physischen Ebene, die wiederum das Gruppengefühl aufgrund der Sichtbarkeit, die häufig durch ein gemeinsames Auf-der-›Bühne‹-Agieren entsteht, verstärken könnte. Im Zuge dieser Sichtbarkeit nämlich wird die Gemeinschaft, die sich innerhalb kurzer Zeit im Rahmen performativer Aktionen gründet, referentiell. Damit ist gemeint, dass man sich beispielsweise insoweit auf sie beziehen kann, als dass sie einem jenen Mut überträgt, den man alleine in einer ungewohnten Situation nicht hätte, andererseits aber auch ein Verantwortungsgefühl auferlegt, das ein Zuwiderlaufen der Gruppendynamik erschwert. Mehr noch: Sich gegen die Gruppe zu stellen erfordert Courage und bleibt, ob der zumeist unbekannten Gruppenzusammensetzung, vielfach aus. Man unterlässt es, weil man nicht aus der Reihe tanzen oder ›auffällig‹ werden und die Blicke auf sich ziehen will. Innerhalb der Performance lässt Liebmann plötzlich von den Zuschauern, von seinem Chor ab. Er hisst eine überdimensionale Fahne, bringt sie mithilfe eines Ventilators lautstark zum Wehen und beginnt auf seinem Cello zu spielen. Auf die Fahne werden Wörter projiziert, die sich zu einer Geschichte über eine dreiköpfige Gruppe entwickeln. Mal schneller, mal langsamer werden die Projektionen sichtbar und Liebmann unterstützt die Geschwindigkeit mit dramatischen Streichbewegungen. Das Fragmentarische der aufflackernden Wörter erinnert an die surrealistischen Wortkaskaden der écriture automatique. Einmal mehr entstehen Bilder im Kopf, doch dieses Mal ist man kein Teil der vorgestellten Gruppe, sondern bleibt ohne Zweifel in der Rolle des unbeteiligten Beobachters. Wir, das sind in diesem Falle die und kein Kollektiv, in das man inkludiert ist. Liebmann stellt in der etwa siebzigminütigen Performance vielfältige Modelle singulärer und kollektiver Aggregatzustände vor. Er setzt sich zwischen die

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Zuschauer, distanziert sich von ihnen, wälzt sich über den Boden oder fordert das Publikum auf, gemeinsam Bewegungen auszuprobieren, die keiner der anderen macht. Es sollen Varianten erdacht werden, die eine Differenz zu den anderen sichtbar machen. Dabei deformiert er seinen Körper auf krude Art und Weise. Im Publikumsgespräch erklärt er, dass er auf diesen Teil der Performance im Zuge einer Improvisationsübung mit Jugendlichen gekommen sei. Als er diese gebeten habe, in der Gruppe Bewegungen zu entwickeln, die sich von jenen der anderen unterscheiden sollten, sei dies schier unmöglich gewesen, irgendwann sei man immer wieder bei ähnlichen Bewegungen angelangt. Im Rahmen seiner Performance führte ihn das zu Überlegungen zu den Schwarmbewegungen. Dies ist einer der markantesten Teile seiner Performance, wenn er versucht zu simulieren, wie er und die imaginierte Zuschauergruppe gemeinsam einen Bewegungsrhythmus entwickeln, den keiner vorgibt, sondern der im Miteinander entsteht. An diesem Punkt, in diesem Moment, entsteht etwas, was als Kollektivkörper bezeichnet werden könnte. Es gibt keinen Kopf, keinen Leiter, keine Hierarchie – das Wir entscheidet und somit jeder Einzelne im großen Ganzen und gleichwohl als großes Ganzes. Dieser Körper fungiert als Imaginäres, NichtSichtbares. Er entsteht über eine mimetische Kollektivierung, die jeden Einzelnen mit einbezieht, führt und gleichzeitig von jedem geführt wird. Die Immaterialität von Gemeinschaft und die Materialität der Performance gehen dabei eine spannende Relation ein. Beides lässt den Kollektivkörper eben nicht nur zur Fragestellung, sondern zum Zentrum des Abends werden, zu dem, um das es geht. »Was macht uns bewegt?«, diese Frage schwirrt die gesamte Performance über mit den Besuchern durch das FFT und lässt diese nicht mehr los. Als kollektiviertes Bewegungsmaterial der Performance können sie sich nicht entziehen, sind sie Teil des Prozesses von dem Moment an, in dem sie den Raum betreten haben. Liebmann selbst changiert inmitten der dadurch entstehenden Verhältnisse und deren Strukturen. Einerseits drängt er uns, dem anwesenden und doch virtuellen Publikum, seine Wünsche und Anforderungen auf, ruft uns an, ihn zu lobpreisen, giert nach Selbstbestätigung. Anderseits konterkariert er dieses machtstrategisch fragwürdige Spiel mit alternativen Kollektivformen, die eine Enthierarchisierung vorantreiben könnten. Ob dies gelingt bleibt für ihn selbst fraglich. Das Ich-Du-Wir-Verhältnis vermag keinen Ausgleich vorgeben zu können. Welche Irritationen Künstler und Kollektiv in ihrem Zusammenspiel, aber auch in ihrer Abgrenzung widerfahren bleibt unbestimmt und nicht vorhersehbar. Liebmann spielt eben damit: Mit dem komplexen und stets existenten Versuch, bei sich zu bleiben und doch in das Kollektiv einzutauchen. Das Ich im Wir ist jene

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Chance und gleichwohl jenes Dilemma, das in allen (künstlerischen) Kollektiven zur Sprache kommt. Denn durch dieses Ich werden Gemeinschaft, Produktivität und kreatives Potential forciert, besteht jedoch immer auch die Gefahr, dass all dies in Konflikte übergehen, zu Reibungen mit und Abgrenzungen von den anderen Mitwirkenden des Kollektivs führen kann. Dieser Ambivalenz, die in Liebmanns Performance so offensichtlich wird, soll in diesem Aufsatz nachgespürt werden. Dafür ist ein Blick auf den Begriff des Kollektiven unerlässlich. Wie verhält sich dieser in künstlerischer und rezeptionstheoretischer Hinsicht und worin ist er fundiert? Welche Rolle spielen dabei die Gemeinschaft und das Individuum? Wenn das Ich und das Wir also in einem komplexen Verhältnis stehen, so ist zu fragen, welche Möglichkeiten dann Performances haben, die einen Kollektivkörper hervorbringen, der sich zwischen einem immateriellen und materiellen Zustand bewegt und somit eine Flüchtigkeit entwickelt, die dem Aspekt des ›Bewegungsmaterials‹ eine neue Bedeutung verleihen kann.

Z UM K OLLEKTIVEN Über das kollektive Arbeiten von Performern nachzudenken bedeutet zuvorderst, über Gemeinschaft nachzudenken. Spannend erscheint mir dies auf der Ebene der Infragestellung des Begriffs; so geschehen bei Jean-Luc Nancy in dessen Werken La communauté désœvrée (1983) und Singulär plural sein (2004). Da beispielsweise bei politisch motivierten Gemeinschaften wie dem Kommunismus der gemeinschaftliche Grundgedanke nicht per se gesetzt sei, sondern sich erst über ein gemeinsames Ziel konstituiere, berge eine solche Zusammenkunft laut Nancy immer auch die Gefahr, dass ihr Entstehen mithilfe gewaltsamer Methoden zustande komme (vgl. Nancy 1988, 11f.; Ruhsam 2011, 22). Die Entstehung einer Gemeinschaft ist somit bereits zu hinterfragen: Kann es Gemeinschaften geben, die auf neutrale und non-hierarchische Weise etabliert werden oder ist der Grundgedanke eines gemeinschaftlichen Gedankens und dessen Übertragung auf ein Kollektiv gar nicht ohne Disziplinierung möglich? Und inwieweit ist Gemeinschaft als ›Einzig-Artiges‹ überhaupt möglich? Für eine Annäherung an diese Frage kommt Nancy auf den Tod3 der Individuen zurück, welcher die Basis für die Gemeinschaft bilde, da sich »gerade

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In Michel Foucault findet sich ein bekannter Vorreiter dieser Denkfigur. Für ihn ist »[d]er Tod des Menschen […] ein Thema, das es möglich macht, das Funktionieren des Begriffs ›Mensch‹ im Bereich des Wissens aufzuzeigen.« (Foucault 2001, 1037)

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durch den Tod […] die Gemeinschaft [offenbart] – und um[ge]kehrt« (Nancy 1988, 35). Nancy meint damit die »Unmöglichkeit ihrer Einswerdung« (Nancy 1988, 38) und bilanziert: »Die Gemeinschaft garantiert und markiert in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft – dies ist ihre ureigene Geste und die Spur ihres Tuns.« (Nancy 1988, 38) Im Zuge dessen könne sie weder Werk noch Projekt sein und solle dies auch nicht werden. Nancy stellt fest, dass »die Gemeinschaft […] weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raumes der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein« (ebd., 45) sei. »Der Verlust, die Unabschließbarkeit der Gemeinschaft«, so führt Thomas Bedorf die Gedanken Nancys zusammen, »ist gerade das, was diese kennzeichnet« (Bedorf 2010, 149). Sie entgehe in diesem Zusammenhang jeglicher Identität, da sie in ihrer Unabschließbarkeit der Absolut-Setzung der Identität zuwiderlaufe. Mehr noch: Die Relationalität, die durch den »Sinn einer Kommunikation, [der] Zugehörigkeit zu einer Welt« entstehe, ist mit der Identität nicht in Einklang zu bringen (vgl. Bedorf 2010, 149; Nancy 1988, 35ff.). Für die »Entwerkung« (Nancy 1988, 69) aber ist eine permanente Kommunikation4 oder Mit-Teilung notwendig, da sie das Werk5 substituiere und stattdessen auf ein Zusammen-, Gemeinsam- und Mit-Sein hinwirke. Das Mit-Sein wiederum beinhalte laut Nancy nicht jene belastende Vorbestimmungen beispielsweise des Religiösen und entziehe sich deshalb gängigen Vorurteilen. Gerade weil »die gemeinschaftliche Existenz […] im Grunde die Unausweichlichkeit [ist], das Soziale als das Zwischen zu betrachten«, so verdeutlicht Bedorf in seinen Ausführungen, sei »das Soziale wesentlich als Relationalität zu verstehen, hinter der keine Hinterwelt der ›Akteure‹, der ›Subjekte‹ oder ›Personen‹ zu finden ist« (Bedorf 2010, 150f.). Das Mit stellt für Nancy demgemäß den elementaren Bestandteil für die Aufrechterhaltung des Seins dar. Ohne das Mit sei das Sein nicht zu haben. »Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert.« (Nancy 2004, 21) Das bedeutet für Nancy: »Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins.« (Ebd., 59) Für die Singularitäten besteht

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Zur Kommunikation vgl. Nancy 1988, 63-69, sowie Fußnote 11 auf 46, ausformuliert 172f.

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Gemeinschaft als Nicht-Werk bedeutet nach Nancy »das, was sich aus dem Werk zurückzieht, was nichts mehr mit Herstellung oder Vollendung zu tun hat, sondern auf die Unterbrechung, die Fragmentarisierung, das In-der-Schwebe-Sein trifft« (Nancy 1988, 70).

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somit keine Option, sich »von seinem Sein-mit-mehreren […] zu trennen« (ebd., 61). Wichtig ist an dieser Stelle zu verdeutlichen, dass Nancy im Ursprung erstmal nicht von einem Mit-Sein ausgeht, das unterschiedliche Singularitäten miteinander vereint, sondern dass das Mit-Sein zuvorderst dem Sein einer Singularität zugehörig und deshalb kein Anderes ist (vgl. ebd., 100). Nancy spricht stets von Singularitäten und nicht von Individuen. Für ihn sind Singularität und Individualität nicht vergleichbar: »Die Singularität ereignet sich nicht in der Ordnung der Atome, diesen identifizierbaren, wenn nicht sogar identischen Identitäten, sondern auf der Ebene des clinamen, das selbst nicht identifiziert werden kann.« (Nancy 1988, 22)

Bedorf formuliert hierzu, dass »[v]on der Singularität des Sinnentwurfs zu sprechen, […] bereits die Pluralität der sozialen Gemeinsamkeit [impliziert]« (Bedorf 2010, 152). Martina Ruhsam, die in ihrem Text Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung (2011) das Mit-Sein Nancys auf den künstlerischen Kontext überträgt, verdeutlicht, dass Nancy von dem Gedanken einer Entität Abschied nimmt, die in sich geschlossen ist und für sich selbst steht. Die Autonomie des Individuums, welches in gewisser Weise isoliert seinen Platz in der Gemeinschaft einnehme, werde ersetzt durch eine relationale Singularität, »die selbst einen Knotenpunkt des Mit darstellt, eine Singularität, die permanent im Werden und damit offen ist.« Aufgrund dieser »konstitutive[n] Offenheit« sei »Sein überhaupt nur als Mit-Sein möglich« (Ruhsam 2011, 30). Die damit einhergehende Kommunikation finde deshalb im Sinne Nancys »infra- bzw. intraindividuell und transindividuell« (zit. n. Bedorf 2010, 152) statt. Nancy meint mit dem Infraindividuellen gewissermaßen ein ›zwischen den Zeilen‹, also eine spezifische »›Form‹ […] oder eine[…] Stimmung« (Nancy 2004, 29), in der man auf jemand anderen trifft. Das führt Nancy zu dem Schluss, dass Präsenz immer auch als Ko-Präsenz denkbar ist. Demgemäß können die unterschiedlichen Präsenzweisen »nur stattfinden, wenn vor allem KoPräsenz stattfindet. Ein einzelnes Subjekt könnte sich nicht einmal bezeichnen und sich auf sich als Subjekt beziehen« (ebd., 71). Das Mit fungiere deshalb als unerlässlicher Teil der Präsenz, die somit gleichzeitig Ko-Präsenz sei (vgl. ebd., 71;101). Für das Individuum bedeutet das, dass ein Denken über sich ohne andere plurale Singularitäten nicht möglich ist. Übertragen wir diesen Gedanken auf die Performance von Liebmann, so lassen sich das Mit-Sein und die pluralen Singularitäten in aller Abstraktion dort

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wiederfinden. Nicht nur, dass Liebmann einfordert, dass es unserer Vorstellungskraft bedarf, um die Performance überhaupt in Bewegung zu bringen. Vielmehr werden wir auch unaufgefordert als singuläre Subjekte angesprochen, um das Mit-Sein unserer Singularitäten mit denen der anderen zu einem doppelt ko-präsenten Mit-Sein zu verbinden. Es geht um das gemeinsame Herstellen einer Situation, das gemeinsame Erleben und Durchführen. Ob diese Handlung nun eine aktive oder passive, eine physische oder psychische ist, bleibt erst einmal unerheblich. Vielmehr dreht sich alles um die ad-hoc-Gemeinschaft, die die Anwesenden in einem Raum an einem bestimmten Ort – Nancy spricht hierbei von »Raum-zeit« (ebd., 99) – vereint und performative Bilder hervorbringt, die zugleich aber immer auch wieder zu einer »Des-Identifizierung« (Bedorf 2010, 155) führen. Dass diese Bilder sicht- oder unsichtbar sind, sich haptisch oder mental überprüfen lassen können – oder eben auch nicht –, gerät dabei in den Hintergrund. Denn, und dieser Aspekt ist meines Erachtens gerade für performative Kunstformen von Belang: »Der Sinn besteht weniger im Kommunizierten als in der Kommunikation selbst.« (Ruhsam 2011, 32) Es geht also darum, sich zu einem, im Sinne Bedorfs ›Als-Ob-Kollektiv‹ zusammenzufinden, dass sich in einem steten Akt der performativen »Des-Identifizierung« befindet und sich gleichwohl dabei seiner selbst gewahr werden kann (vgl. Bedorf 2010, 155). Dieser Gedanke lässt sich auf die Performance übertragen, in der es weniger um die Bedeutung des Performten, als um den Akt des Performens selbst geht. Nicht das Was, sondern das Wie wird zum richtungsweisenden Moment. Auch hier zeigt der Blick auf Liebmanns Performance: Ob es zum gemeinsamen Handeln kommt, ist absolut nicht vorhersehbar oder gar sichtbar. Schließlich ist nicht von einem Kollektiv an Zuschauern auszugehen, welches lediglich teilhaben soll und bestenfalls den Aufforderungen folgt. Vielmehr geht es um den permanenten Austausch von Liebmann und den rezipierenden Besuchern, die im Versuch, mit ihm zu kommunizieren, durchaus scheitern werden, sich beispielsweise immer wieder den Ansagen Liebmanns entziehen oder andererseits nicht verstehen, was Liebmann meint. Es geht um eine Kontingenz der (Denk-)Handlungen von Liebmann und den Rezipienten, die nicht gesetzt sein kann und darf. Dabei treten die Bausteine des Kollektiven bei Wir – ein Solo auf drei Ebenen auf: Auf einer inhaltlichen, auf einer Setting spezifischen und, eben changierend, auf einer diese beiden involvierenden Mischebene. Mit dem Inhaltlichen meine ich, dass Liebmann das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv explizit zum Thema macht, mit Setting, dass die anwesenden Subjekte auf eine gewisse Weise anund einander zugeordnet werden (hier der Künstler, da das Publikum). Dass Liebmann mit der Aufforderung eines gemeinsamen Tuns ein Wir produzieren möchte, welches dennoch unter seiner Führung in einem hierarchischen Zustand

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verbleibt, ist jener Teil, der beide Ebenen vermengt, da er nicht nur etwas mit der Anordnung des Stücks, sondern auch mit dem Aktionsradius der Besucher zu tun hat. Festzuhalten bleibt, dass »derjenige, der spricht, […] auf singuläre Weise [spricht] und sein Sprechen […] nicht notwendigerweise mit den Artikulationen derer, die dieses Wir noch umfasst, koinzidieren [muss]« (Ruhsam 2011, 38). Diese Voraussetzung ist für das gemeinsame Erleben performativer Äußerungen spannend, als es der Vielheit Rechnung trägt, die bereits in der Sinnmannigfaltigkeit der Performance an sich angelegt ist. Gerade im Publikumsgespräch nach Liebmanns Performance wird deutlich, dass es das eine Sprechen über das Erlebte nicht geben kann. Offenbar wird dabei aber auch, und hier schließe ich mich einem Kritikpunkt Ruhsams an den Überlegungen Nancys an, dass dem »MitSein ohne Gestalt und Identifikation« (ebd., 39) durchaus etwas fehlt, respektive sich darin die Gefahr der Anarchie, denken wir das Mit-Sein wieder gesamtgesellschaftlich, oder der fehlenden Sinnlichkeit und Identifikation verbirgt (vgl. ebd.). Auf künstlerisch-rezeptiver Ebene ist damit vor allem das Unverständnis, das Unwohlsein gemeint, das sich aufgrund der Vielheiten beim Rezipienten einstellt. Denn was stets bleibt ist die menschliche Suche nach Ausgewogenheit und Klarheit. Diese aber bleibt im Konzept des Mit-Seins gewissermaßen aus, da die permanente Kommunikation keinen Endpunkt fixieren kann und will. »Die Idee vom Mit-Sein«, so bilanziert Krassimira Kruschkova, »setzt kein Gemeinsames einer Gruppe, keinen gleichbleibenden Plural voraus, sie setzt sich dessen Mangel aus. Erst über dieses Aussetzen der Zusammengehörigkeit ist das Zusammenhalten des Geteilten und Differenten denkbar.« Dieser Mangel bilde ihrer Meinung nach jedoch die Grundlage der kollaborativen Praxis und sei dafür verantwortlich, dass die »Unmöglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation« (Kruschkova 2011, 9) zum wesentlichen Moment des kollektiven Arbeitens werde. Ohne eine Ambivalenz zwischen Destruktion und Produktivität ist, dies kann hier festgehalten werden, das Mit-Sein nicht denkbar (vgl. ebd.). Das Mit-Sein impliziert also unterschiedlich denkende plurale Singularitäten und bringt Körper zu einem Kollektiv zusammen, das sich nicht als statisch begreift. Diese Überlegung gilt es konzentrierter zu fassen und anhand des ursprünglichen Begriffs des Kollektivkörpers aufzufächern. Der Kollektivkörper, so lässt sich mit Ruhsam sagen, hängt ganz grundsätzlich immer schon mit »dem Körperbild der jeweiligen Epoche« (Ruhsam 2011, 158) zusammen. Bezugnehmend auf Thomas Hobbes‘ Leviathan von 1651 erklärt Ruhsam, dass »eine Gemeinschaft durch einen Souverän bzw. durch eine Versammlung verkörpert werden musste« (ebd., 159). Die Idee einer solchen Verkörperung wurde von der christlichen Auffassung vorangetrieben, dass Gott

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und die Gläubigen eins werden können. Im Katholizismus geschieht dies beispielsweise in der Eucharistie, in welcher der göttliche Körper sprichwörtlich einverleibt wird. Auch Nancy nimmt sich dieses Beispiels an, um den Ursprung der Gemeinschaft in der Moderne zu erklären. Neben der Einswerdung stelle sich die »Teilhabe des Menschen am göttlichen Leben« (Nancy 1988, 28) als wichtiges Moment der Kommunion heraus. Die Tatsache, dass man über Gemeinschaft nachdenke, so Nancy, könne sehr wohl damit zusammenhängen, dass die Menschen in der Moderne die Erfahrung machten, »da[ss] die Gottheit sich unaufhörlich aus der Immanenz zurückzog […] und da[ss] das göttliche Wesen der Gemeinschaft – oder die Gemeinschaft als Existenz des göttlichen Wesens – das eigentlich Unmögliche darstellte« (ebd., 29). Nancy nun wendet sich gegen die Form des Gemeinschaftskörpers, da für die Entstehung von Gemeinschaft der Verlust der »Immanenz und die Vertrautheit einer Einswerdung« (ebd., 32) maßgeblich sei (vgl. ebd., 28ff.). An dieser Stelle scheint mir ein Einwurf notwendig: Wenn Nancy davon spricht, dass »[d]ie Ontologie des Mit-Seins […] eine Ontologie des Körpers, aller Körper – unbelebter, belebter, fühlender, sprechender, denkender, wiegender Körper« sei und Körper vor allem bedeute, »was außerhalb ist, als außerhalb, abseits, gegen, bei, mit einem (anderen) Körper, mit dem Körper am Körper, was zur Dis-Position steht« (Nancy 2004, 131), dann stehen diese Körper meines Erachtens eben auch in einem Verhältnis zu anderen Körpern. Dieses Verhältnis aber kann nicht nur im Sinne einer beispielsweise politisch motivierten Gemeinschaft gedacht werden, in der der Gemeinschaftskörper tatsächlich fragwürdig wird. Nehmen wir dahingegen die Besuchergruppe im FFT, so bildet diese Gemeinschaft keine homogene, in sich geschlossene oder konforme. Sie verweist lediglich auf eine Verhältnisnahme untereinander (wir sehen uns eine Performance an). Ihr nun eine gemeinsame Zielsetzung oder Ideologisierung zu unterstellen, führt zu weit und sähe über die differente Wahrnehmung und finale plurale Bedeutungszuschreibung hinweg. Auf diese Differenz in der Gemeinschaft aber kommt es an. Georg Christoph Tholen, dessen Beitrag zur Vortragsreihe Mit-Sein. Zur Aporie der Gemeinschaft in Tanz und Performance Ruhsam rezitiert, macht darauf aufmerksam. Er gibt zu bedenken, dass der Wunsch einer Gemeinschaft nach Wesensgleichheit obsolet sei, da »[d]as Commune, also Gemeine, […] das gemeinsam Geteilte Zur-WeltKommen [ist]. Dieser Prozess oder dieses Werden ist […] das Fehlen und Verfehlen jeglicher Wesenheit und Substanz« (Tholen 2008, 2f.). Um Gemeinschaft wahrhaftig denken zu können, müsse, so Ruhsam in Bezug auf Rancière und Tholen, das Differente, die Unterscheidung und das Unheinheitliche in den Blick genommen werden. Dem verweigert sich Nancy natürlich nicht – im Gegenteil.

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Jedoch negiert er in gewisser Weise die Gemeinschaft selbst und denkt die Differenz weniger in ihr, sondern im Rahmen von Neuschöpfungen.

K ÜNSTLER

UND

K OLLEKTIVE

IM

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Auf künstlerischer Ebene löste seit den 1990er Jahren ein »Spielraum an Differenzen« die Berufung auf ein striktes Identitätskonstrukt nach und nach ab. Stattdessen entstanden »heterogene Teams mit mobilen Hierarchien« (Ruhsam 2011, 163), die den Künstlern das Handeln in einem Kollektiv erleichterten. Der Begriff »des Gemeinschaftskörpers trägt seither wahrlich nicht mehr. Dennoch ist die generelle Verneinung Nancys genauer zu betrachten. Natürlich vollzieht sich Nancys Gemeinschaft-Kritik auf einer anderen Ebene. Nancy argumentiert, dass das Gemeinsam-Sein nur dann nicht einer »Gesellschaft des Spektakels« anheimfalle, wenn es den »Sinn des Gemeinsam-seins so [ausgibt], wie er ist, das heißt als gemein-sam oder als Mit, und nicht einem Sein oder einem Wesen des Gemeinen entsprechend« (Nancy 2004, 91f.). Als »Gegensatz eines Sinns« (ebd., 92) führt Nancy die Gemeinschaft auf und untermauert damit seine kritische Haltung dieser gegenüber. Neben der Suche nach Begriffsalternativen ist eine Auseinandersetzung mit dem Bestehendem dennoch nicht generell auszuschließen. Vielleicht scheint eine Hinwendung zum Begriff der kollektiven Körper, also einer Pluralisierung des Kollektivkörpers, möglich. Dass diese immer auch angeordnet werden (Familie, Schule, Politik, Sport), ist jedoch offensichtlich. Diese Anordnung aber kann und muss von Künstlern stetig performativ unterlaufen oder hinterfragt werden.6 Für heutige Künstlerkollektive ist der Blick auf die bereits Ende der 1960er Jahre aufgekommene Infragestellung des Künstler- und Choreografensubjekts unerlässlich. Wie Verena Krieger mit Anspielung auf die ›Autor‹-kritische Debatte seit den 1960er Jahren zusammenfasst, bestehe das Ich aus einer »unauflösliche[n] Verknüpfung imaginärer, symbolischer und realer Anteile« und sei zudem nicht aus einer rein »männliche[n], weiße[n], abendländische[n]« (Krieger 2007, 162) Sicht zu betrachten. Auf diese Sicht weist auch Susan Leigh Foster hin, wenn sie von der zeitgenössischen Tanzperformance spricht. Dabei wechselt sie die Perspektive und bezieht sich ganz explizit auf die Choregrafin Shobana Jeyasing, die an der Politik von Tanzproduktionen kritisiert, dass sie als britisch-

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Meine Kritik fußt hierbei auch auf dem Butler’schen Gedanken, die Kritik am Bestehenden nicht zwingend in einer anderen Kategorie, sondern in der zu kritisierenden selbst zu vollziehen.

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asiatische Künstlerin allzu sehr festgelegt sei, eine gewisse Form des exotischen Welttanzes zu produzieren und somit nicht in jene Spielstätten vordringen könne, die für »white British contemporary artists« (Foster 2011, 65) vorgesehen seien. Foster verdeutlicht daran, dass gerade auch aus diesen Gründen eine Gegenbewegung zum gängigen Choreografenprinzip stattgefunden habe. Mit der Kollaboration von John Cage und Merce Cunningham habe diese in den 1960er Jahren ihren Ursprung genommen: »[T]heir use of chance procedures for sequencing events and the seeming disjunction between dance and music challenged the prevailing conception of the artist as expressing an inner subjectivity.« (Ebd., 61) Die einzelnen Tänzer und ihre ganz eigene Motorik, ihre Ein- und Ausdrücke, Gefühle und Gedanken sollten in die Probenprozesse einfließen und ließen das Konzept eines einzelnen genieartigen Künstlers brüchig werden. Vielmehr ging es um das Fragmentarische und die daran anknüpfende Potenzierung der (performten) Fragmente während der gemeinsamen Arbeit. Diese setzte sich insoweit mehr und mehr durch, als dass Performer verstärkt in Projekten anstatt in Kompanien oder Ensembles arbeiteten. »Rather than focus on elaborating the singular artistic vision of an individual, or on a rigorous methodology for inventing and sequencing movement, these artists embarked on collaborations that were project driven.« (Ebd., 66) Tanzchoreografen mussten sich nunmehr von subjektiven und technischen Vorgaben an die Tänzer lösen und zu Befragungen der Tänzer selbst übergehen. Aber auch die Hinwendung zu interdisziplinären Projekten, zur genreübergreifenden Arbeit, wie Cunningham, Cage und Rauschenberg sie forcierten, setzte sich spätestens seit den 1970er Jahren durch (vgl. ebd., 66ff.). Für den Status des vormals autarken Choreografen bedeutet dieser Prozess eine diversifizierende Vorgehensweise, in der einer Offenheit und auch Freiheit der Mitwirkenden Rechnung getragen wird und umgekehrt interkulturelle Einblicke nicht mehr ausgeschlossen werden können. Eine Aneignung der Welt durch das Künstlersubjekt war und ist kaum mehr möglich (vgl. Krieger 2007, 162). Wo aber lässt sich der Künstler nach seiner poststrukturalistischen Infragestellung im 21. Jahrhundert nun ansiedeln und welchen Stellenwert besitzt er? Krieger hält fest, dass der Künstler »als […] herausragende[s], schöpferische[s] Individuum nicht aus der Welt zu schaffen« sei. Dennoch stehe der Künstler heute nicht mehr nur für den Schöpfer, sondern auch für den »Philosoph[en], […] Lehrer, Handwerker und Ingenieur, Impresario des Zufalls, Regisseur und Organisator« (ebd., 171). Es gebe nicht die eine Zuschreibung für einen Künstler, vielmehr schwebe »die Künstlerrolle zwischen Auflösung und Verfestigung« (ebd., 174). Dabei bleibe diese Rolle jedoch stabil und weiterhin für den

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Kunstmarkt unerlässlich. Dazu zählt auch, dass viele Künstler Aufgaben des Marktes selbst übernehmen. Ob kuratorische, kunstkritische oder wissenschaftliche Tätigkeiten – der Künstler ist ebenso wenig nur noch auf eine Rolle zu reduzieren wie die Genres, die er bedient. Von Videoinstallationen über Filmkunst, bildender und darstellender Kunst, musischen Happenings oder Performances vermengen zahlreiche Künstler all diese Sparten und lassen sich nicht mehr einer Kunstform zuschreiben. Gleichwohl sei der Künstler »nicht totzukriegen« (ebd., 178). Mir scheint dies eine wichtige Erkenntnis zu sein, um von hier aus auf das künstlerische Kollektiv zu blicken (vgl. ebd., 171ff.). Die Bedingungen für die Künstler haben sich gerade in wirtschaftlicher und gesellschaftsstruktureller, hier vor allem globaler und medialer Hinsicht stark verändert. Hinzu kommt, dass für die oben genannte Genreüberschneidung oftmals Ko-Operationen entwickelt werden, die Künstler zusammenführen. Auch das Prinzip der Laborarbeit vereint Künstler nicht nur im Zuge von Workshops, sondern darüber hinaus auch in gemeinsamen Projekten. In diesen Projekten werden wiederum Ressourcen von Netzwerken genutzt, über die sich Künstler miteinander verständigen können, die sie vielmehr selbst bilden. Hinsichtlich vielfach webzentrierter Kommunikation ist als Beispiel der Performer-Stammtisch7 zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Homepage von und für Künstler, Wissenschaftler oder interessierte Zuschauer, die sich mit der Performance- und Live-Art-Szene auseinandersetzen. Die Seite gilt dem Austausch über künstlerische Positionen, aber auch allgemeinen Fragestellungen. Diese können in regelmäßigen Treffen, in einem Blog oder per Mail diskutiert werden. Es geht um eine aktive Kommunikation und die gleichzeitige Vernetzung, um aktuelle Informationen über Performances, Tagungen, neue Strategien oder Treffen miteinander teilen zu können. Der Performer-Stammtisch weist all das auf, was Ruhsam als »Kombination von Kompetenzen, Wissen und Ressourcen« beschreibt. Beim Stammtisch zeigt sich auch eine »multizentrale, rhizomatische« (Ruhsam 2011, 175) Struktur, die qua virtueller Vernetzung zudem multiple Möglichkeiten der Erweiterung und Entgrenzung besitzt. Eine weitere Veränderung kollaborativen Tuns offenbart sich in der verstärkten Zusammenarbeit unterschiedlicher Performancekollektive an diversen Institutionen. Die Koproduktionen haben seit den 1980er Jahren eklatant zugenommen (vgl. ebd., 176) und stehen somit immer stärker dem Gedanken entgegen, wie bei Foster bereits angesprochen, an einem Haus ein ständiges Ensemble zu installieren. Stattdessen entstehen vielfältige Kombinationen aus Kollektiven und Institutionen, die zu einer Vervielfachung von Produktionsweisen führen

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Der Link lautet www.performerstammtisch.de. (Stand 27.12.2012)

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und für die Zuschauer den Vorteil haben, in ihrem lokalen Umraum ein vielfältigeres Angebot an performativer Kunst erleben zu können. Für die Kollektive resultiert daraus neben dem changierenden Input und der Arbeit fernab konservativer Strukturen und Grenzen gleichwohl eine finanziell prekäre Situation (vgl. ebd., 178), da sie keine kontinuierlichen Zuschüsse erhalten, sondern sich um individuelle Förderungen oder Honorare bewerben müssen. Die künstlerische Unabhängigkeit geht somit auch mit einer existenziellen Instabilität einher, die immer wieder neu abgewogen werden muss. Deutlich aber wird, dass diese Modelle des gemeinschaftlichen Arbeitens für einen freiheitlicheren und unbegrenzteren Prozess stehen. In diesem Zusammenhang kommt Ruhsam auf die Begriffe »Multitude«, »Komplizenschaft« und »Kollaboration« zu sprechen. Die Multitude sei »auf Selbstorganisation und Selbstbestimmung angewiesen, während sie zugleich unaufhörlich der Erfahrung einer gewissen Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit der Ereignisse ausgesetzt« (ebd., 164) ist. Hierbei sei das Prekariat ein Begleiter, der Angst auslösen könne, weil Sicherheiten verloren gingen und »staatliche Absicherungen« im postfordistischen Zeitalter fehlten. Die darin entstehenden Arbeitsverhältnisse seien flexibler und »immaterieller« geworden und »der Intellekt als das Gemeinsame und Sichtbare werde zum Hauptinstrument der Multitude, die nicht mehr an Souveränität glaubt« (ebd., 165). Was sich also im Übergang zwischen fordistischer und postfordistischer Arbeitsweise ändert, sei die Relevanz von Intellekt, Kommunikation, Sprache und Kognition (vgl. ebd.). Gerade weil durch die Betonung von Kommunikation in einem globaleren Rahmen Arbeitsweisen öffentlicher würden, sei die Kollaboration, das Miteinander, wichtig. Für die Kunst bedeute dies, dass »der Fokus vom Werk auf den kollaborativen Prozess und die zunehmende Bedeutung von sprachlich-kognitiven Fähigkeiten bzw. konzeptuellen Kompetenzen« gerichtet werde. Dabei komme es zu deren »Demokratisierung« (ebd., 167), die beispielsweise bei jenen Kollektiven beobachtet werden kann, die Laien in ihren Performances einsetzen. Die Komplizenschaft, so Ruhsam in Anlehnung an Gesa Ziemer, meint »Verbündete, die gemeinsam und eng miteinander verflochten agieren«, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dabei erwirken sie den Eindruck eines »Einzelgänger[s], […] handeln […] [jedoch] nie allein«. Vielmehr wechselten sie in ihren Rollenzuschreibungen und agierten äußerst flexibel und non-hierarchisch. Durch die »kriminalistische[] Konnotation« besitze der Begriff einen negativen Impetus, der Gedanken an eine verbrecherische Tat aufkommen lasse. Die »positive Kreativität« (ebd., 169), so Ruhsam nach Ziemer, werde allerdings außer Acht gelassen. Gerade die Ergänzung der »komplementären Kompetenzen« (ebd., 172) führe zu einer Effizienz für das Erreichen des gemeinsamen Ziels.

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Für eine dauerhafte und nachhaltige Zusammenarbeit sei die Komplizenschaft jedoch nicht sinnvoll, da ihre Zielsetzung eine kurzfristige, zielorientierte sei und der Prozess weniger eine Rolle spiele. Dieser wiederum ist für den Kollaborationsbegriff nach Florian Schneider der zentrale Aspekt. Im Gegensatz zur Komplizenschaft liege die Konzentration bei der Kollaboration, laut Schneider, auf dem »künstlerischen Prozess« und nicht auf dem »Produkt«, das »Nebensache« sei. Vergleicht man die Kollaboration mit der Kooperation, so bestehe letztere auf »eindeutig identifizierbare […] Subjekte«, während die Kollaboration aus »schwer kategorisierbaren und identifizierbaren Involvierten entwickelt [wird]« (ebd., 177). Der hohe Komplexitätsgrad und eine fehlende Klarheit machen für Schneider jedoch den Reiz der Kollaboration aus. Ruhsam geht in diesem Zusammenhang übrigens nicht auf den meines Erachtens ebenso relevanten Aspekt der negativen Konnotation von Kollaboration ein. Gerade im parteipolitischen Bereich trägt die Kollaboration ein wenig positives Erbe. Im Vergleich zur Komplizenschaft scheint mir auch hier das Zusammenspiel zwischen Produktivität und Illegalität möglich. Gleichwohl hat sich der Begriff der Kollaboration weitestgehend durchgesetzt, wenn von gemeinschaftlichem Arbeiten in der Kunst die Rede ist. Eine kritische Stimme sei dennoch an dieser Stelle benannt. So stellt beispielsweise Peter Weibel die Kollaboration in einem seiner Aufsätze in Frage. Seine Kritik betrifft die Werklosigkeit und den Übergang zur Akzentuierung des kollaborativen Produzierens, durch die das Produkt in den Hintergrund gerate. Weibel plädiert dahingegen für in der Gemeinschaft entstandene Werke (und spricht somit gegen einen Aspekt Nancys)8, damit es weiterhin zu einer menschlichen und nicht maschinellen Kommunikation kommen könne. Dass diese Werke in einer netzbasierten Gesellschaft von »vernetzten Egoisten« (Weibel 2006, 60) aufrechterhalten würden, nimmt er insoweit in Kauf, als dass das Zuwiderlaufen von Vereinzelung durch das Netz und eigentlich gemeinschaftlichem Handeln in einer Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten sei (vgl. ebd., 60f.). Ich stimme Weibel darin zu, dass das Beibehalten des Produktes relevant ist, auch, um Diskussionsgrundlagen für die nachfolgenden Generationen bereitzuhalten. Ein Ende der Kommunikation erkenne ich jedoch im Zuge der Fokussierung auf den Prozess nicht. Im Gegenteil. Wird dieser Prozess in bildlichem,

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Wichtig ist bei einem Vergleich zwischen Weibel und Nancy, dass Nancy insbesondere die Gemeinschaft als Werk im Blick hat, Weibel aber das durch Singularitäten innerhalb einer Gemeinschaft Erstellte fokussiert.

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mündlichem oder Schriftmaterial festgehalten, scheint mir das Werk9 lediglich eine hinsichtlich Raum und Zeit veränderte Form anzunehmen. Es entzieht sich der Statik und vollzieht sich in einem fluiden Zustand, der eine Festschreibung nicht zulässt, jedoch eben darum die Kommunikation darüber am Leben erhalten kann.

W IR ? Für die Künstler bedeutet all das nun, dass die eigene Arbeit nicht mehr durch einen »große[n] gesellschaftspolitische[n] Entwurf« geprägt ist, sondern durch »gemeinsame, selbst entworfene Praxis« (Ruhsam 2011, 194). Der Zusammenhalt funktioniert deshalb immer stärker über Netzwerke10 und erfordert zudem eine ursprüngliche Ziellosigkeit. Im Prozess sollen sich Richtungen entwickeln und Pfade aufgenommen werden, die zu Beginn der Zusammenarbeit möglicherweise noch gar keine Rolle spielten. Wichtig dabei bleibe, laut Ruhsam, dass die Künstler als Singularitäten, die in Erscheinung treten, »durch Methoden der Desidentifikation« (ebd., 196) zu einem Miteinander gelangen, in dem sie sich keinem grundsätzlichen Konsens unterwerfen müssen, sondern die heterogene Zusammensetzung der Gemeinschaft produktiv werden lassen können. Die Heterogenität und die Unterscheidung betrachtet auch Weibel als zentrale Parameter der heutigen Informationsgesellschaft. In dieser nun wird die kollektive Arbeit geprägt durch ambige Subjekte, die zu einer Multiplizierung des Inputs beitragen können. Kommen wir zum Ende noch einmal auf Andreas Liebmann zurück, so lässt sich festhalten, dass er Bilder des Kollektiven und Singulären produziert, die zuallererst im Kopf entstehen. Dabei scheint ihm dennoch die Aktivierung des Wir an vorderster Stelle zu stehen. Aktiv wird dieses Wir auf mentale Weise, was be-

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Ebenso wie das Werk verliert auch der einzelne Autor seine Einheitlichkeit. Als Basis für diesen Gedanken kann einmal mehr Foucaults Infragestellung von Werk und Autor herangezogen werden (vgl. Foucault 2001, 1010). Bedeutsam für den Umgang mit dieser Infragestellung scheint mir der folgende Ansatz Foucaults: »Was man tun müsste, wäre, das Augenmerk auf den durch das Verschwinden des Autors leer gelassenen Raum zu richten, der Verteilung der Lücken und Bruchstellen nachzugehen und die durch dieses Verschwinden freigewordenen Stellen und Funktionen auszuloten.« (Ebd., 1012)

10 Vgl. dazu beispielsweise Bairlein/Balme/Brincken/Ernst/Wagner 2011.

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deutet, dass das Mit-Sein im Sein eine innere und äußere Produktivität entwickelt. »Um ›wir‹ zu sagen, muß man das ›hier und jetzt‹ dieses ›wir‹ präsentieren«, formuliert Nancy. Das führe dazu, dass das »›Wir‹ […] immer eine Pluralität aus[drückt], eine Teilung [partition] und ein Wirrwarr von ›wir‹« (Nancy 2004, 105). Im besten Sinne geschieht also bei Liebmann das, was Nancy als »bühnenhaft im Sinne des Ausschnitts und der Eröffnung einer Raum-Zeit der Verteilung von Singularitäten [beschreibt; PG], deren jede singulär die einmalige und plurale Rolle des ›Selbst‹ oder des ›Selbst-seins‹ spielt« (ebd., 106). Die Bühne wird bei Liebmann greifbar und bildet jenen Rahmen, der Verbindungen, Disparitäten und Konformitäten in Bewegung und reale oder innere Bilder vor die Augen der Partizipierenden bringt. Es ist nicht nur die Denkbewegung, die Liebmann uns aufdrängt, es ist eben auch die Bewegung seines Selbst, die er uns zur Verfügung stellt und die in eine Verbindung tritt mit dem inneren Selbst des Rezipienten. Immer wieder, so lässt uns Nancy wissen, aktualisiere sich das »›Denken von ›uns‹«, weil es nicht als Repräsentation daherkomme, »sondern [als; PG] Praxis und Ethos« (ebd., 112). Ein prozessuales Praktizieren ist immer auch tragende Säule jeder Performance. Was also bleibt ist die Frage, warum Liebmann sich einem KünstlerKollektiv für genau diese Performance entzogen hat? Der Künstler erklärt dahingehend, dass er zwar stets in unterschiedlichen Kollektiven gearbeitet habe, in dieser Performance aber bewusst alleine agieren wollte. Relativ schnell habe sich dann herausgestellt, dass ein einsames und unabhängiges Arbeiten nicht möglich sein würde. Obschon er alleine auf der Bühne stehe und das Konzept entwickelt habe, sei das Projekt ohne die künstlerische Mitarbeit von Martin Clausen und Beatrice Fleischlin nicht zu dem geworden, was es nun sei. Dem künstlerischen Kollektiv entschwindet er demnach genauso wenig in Gänze wie dem Künstler-Zuschauer-Kollektiv. Denn auch wenn er sich den Besuchern im körperlichen Sinne immer wieder entzieht, so ist dies im Sinne der Performance konsequent. Um die Beziehung zum Publikum einerseits aufzubauen, durch herrische Aufforderungen andererseits aber auch zu torpedieren, ist seine Einsamkeit, die wiederholte Reduktion auf Sich-Selbst, unerlässlich. Was dadurch entsteht ist eine Vermengung von Sicht- und Unsichtbarkeiten, die durch den nie wirklich aufzulösenden Kollektivkörper bestehen bleibt. Hierzu formuliert Tholen: »Die Inkommensurabilität des Erhabenen innerhalb der performativen Künste vollzieht sich als experimentelle Reflexion darüber, dass das Sichtbare, Hörbare, Zeigbare als solches sich einer prinzipiellen Unsichtbarkeit und Abwesenheit verdankt.« (Tholen 2008, 8) Es lässt sich festhalten, dass »[w]o sich etwas zeigt, […] eine abwesende Lücke oder Differenz der Wahrnehmung erst ih-

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re vorläufige Identität verliehen« (ebd., 12) bekäme. Materialität und Immaterialität verschränken sich somit und weisen den Kollektivkörper als immaterielles Bewegungsmaterial aus, dessen ephemeres Dasein zur spannenden Hinterfragung der Ich-Du-Wir-Relation wird. Das Herstellen von Bedeutung über das Nicht-Vorhandene, das Statuieren von Wir durch dessen Verunsicherung – bei Liebmanns Performance gerät eben das in den Blick.

L ITERATUR BAIRLEIN, Josef/BALME, Christopher /ERNST, Wolf-Dieter/BRINCKEN, Jörg von/WAGNER, Meike (2011) (Hrsg.): Netzkulturen. kollektiv. kreativ. Performativ (= Intervisionen – Texte zu Theater und anderen Künsten, Bd. 8). München: epodium. BEDORF, Thomas (2010): »Jean-Luc Nancy: Das Politische zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft«, in: Ulrich Bröckling/Robert Feustel (Hrsg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld: transcript, S. 145157. FOUCAULT, Michel (2001): Was ist ein Autor? (Vortrag), hrsg. von Daniel Defert/François Ewald (= Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits, Bd. 1, 19541969). Frankfurt am Main: Suhrkamp. FOSTER, Susan Leigh (2011): Choreographing Empathy. Kinesthesia in Performance. London/New York: Routledge. GELDMACHER, Pamela (2015): Re-Writing Avantgarde: Fortschritt. Utopie. Kollektiv. Partizipation. Zum Verhältnis von zeitgenössischen und (neo-) avantgarden Performancepraktiken. Bielefeld: transcript. KRIEGER, Verena (2007): Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen. Köln: Deubner Verlag für Kunst, Theorie und Praxis. KRUSCHKOVA, Krassimira (2011): »Vorwort. Mit-Sein, Kollaboration, Respons. Zur Ethik der Performance«, in: Martina Ruhsam (Hrsg.): Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 9-13. NANCY, Jean-Luc (1988): Die herausgeforderte Gesellschaft. Stuttgart: Edition Patricia Schwarz. NANCY, Jean-Luc (2004): singulär plural sein. Berlin: diaphanes. RUHSAM, Martina (2011): Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien/Berlin: Turia + Kant.

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THOLEN, Georg Christoph (2008): »Unterbrechungen und Verschiebungen – Zäsuren der Mitteilbarkeit«, in: Vortragsreihe: MITSEIN. Zur Aporie der Gemeinschaft im Kontext von Tanz und Perfomance, 18.01.2008, Tanzquartier Wien. Auszug entnommen aus: http://mewi.unibas.ch/fileadmin/mewi/user _upload/redaktion/4_Ordinariat_THOLEN/Publikationen_Tholen/Tholen_M itsein_Manu_VS_4.pdf. (Stand 22.08.2012) WEIBEL, Peter (2006): »Individuum und Gemeinschaft. Das Unteilbare und das Gemeinsame«, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.): Vernetztes Leben. Soziale und digitale Strukturen (= Problemkreise der Angewandten Kulturwissenschaft, 12). Karlsruhe: Universitätsverlag Karlsruhe, S. 55-63.

»What else, besides the body, might physical thinking look like?«1 Überlegungen zur ästhetischen Bedeutung der Choreografie im zeitgenössischen Tanz E VA P RÖBSTEL

»Wie keine andere kulturelle Praxis und wie kaum ein anderer Diskurs trägt er [der Tanz; EP] zur Dynamisierung überkommener Wissensordnungen und disziplinärer Grenzen bei« (Siegmund 2010, 171).

Es ist genau dieses Vorwärtsgehende und Kritische, das das Selbstverständnis und die Bedeutung des zeitgenössischen Tanzes als Kunst ausmacht. Der Körper ist dabei nicht nur ein Beispiel eines solchen Wissensdiskurses, vielmehr scheint darin zunehmend der zentrale Verhandlungsgegenstand zu liegen.2 Die Bedeutung von zeitgenössischem Tanz und die Theoriebildung der letzten drei Jahrzehnte ist nicht ohne den Körper denkbar, sei es in seiner ästhetischen Bedeutung, in den Möglichkeiten, ihn jenseits semiotischer Bedeutung wahrzunehmen oder in der Bestimmung und Problematisierung zentraler Konzepte wie der Choreografie oder der Improvisation. Selbst in der Aufweichung der Bindung des Tanzes an den Körper, wie er sich durch den verstärkten Einsatz bestimmter

1 2

Forsythe o.J. Der Diskurs um den Körper geht auf den in den 80er Jahren verorteten Performative Turn in den Kulturwissenschaften zurück, mit dem eine Wiederkehr des Körpers einhergeht (vgl. Kamper/Wulf 1982). Ich beziehe mich in diesem Artikel auf eine performative Betrachtungen von Tanz, die in diesem Diskurs verortet werden kann.

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Medientechnologien in den letzten Jahren zeigt, scheint die Betonung des Körpers präsent, da er gerade in seiner Revision zur Debatte steht.3 Aus dieser paradigmatischen Bedeutung ergibt sich allerdings eine zunehmende Engführung in der Theoriebildung. Auch wenn der Körper nicht explizit Gegenstand der Betrachtung ist, wird sie oftmals auf ihn rückbezogen. Mag dies insofern wichtig sein, als der Tanz nicht ohne den Körper gedacht werden kann, werden weitere Möglichkeiten einer Bedeutung im zeitgenössischen Tanz damit kaum in ihrer ästhetischen Eigenheit betrachtet. Mit dieser Fokussierung geht auch ein Differenzdenken einher, das bestimmte Erkenntnismöglichkeiten und Wissensordnungen fortschreibt. So verweist die Arbeit Accords4 von Thomas Hauert darauf, dass eine Bedeutung von Performativität genauso in einer politischen Mikro-Utopie einer anderen Gesellschaft (ebd.) liegen kann, die nicht allein die des einzelnen Körpers ist und William Forsythe bemerkt kritisch: »Choreography and dancing are two distinct and very different practices. In the case that choreography and dance coincide, choreography often serves as a channel for the desire to dance. One could easily assume that the substance of choreographic thought resided exclusively in the body.« (Forsythe o. J.)

Ich möchte mit diesem Artikel daher zur Debatte stellen, inwiefern es an der Zeit ist, sich verstärkt den Möglichkeiten von Materialität und Performativität zuzuwenden, die nicht allein die des Körpers sind, und der Bedeutung der Differenzen damit ein Denken in Möglichkeiten entgegensetzen. In einem ersten Schritt wird die paradigmatische Bedeutung des Körpers anhand einiger Theorietexte der letzten Jahre aufgezeigt und die geäußerte Krux dieser Fokussierung konkretisiert.5 Davon ausgehend werde ich exemplarisch die Choreografie in ihren ästhetischen Möglichkeiten diskutieren. Dies wird sich ne-

3

Schriften, die den Technologieeinsatz im Tanz beleuchten, weichen diese Bindung der Bewegung an den Körper zwar auf – so etwa bemerkt Gabriele Klein, dass eine Körpertheorie des Tanzes einer techniktheoretischen Fundierung bedarf (Klein 2005) – doch wird in dieser Formulierung zugleich auch die paradigmatische Bedeutung des Körpers per Negation bestätigt. Auch bei Leeker (2001) und Evert (2002) wird diese Umkehrung deutlich.

4

Accords, ZOO\Thomas Hauert (CH/BE), Uraufführung am 02.05.2009, PACT Zollverein, Essen (DE).

5

Die geübte Kritik bezieht sich nicht auf eine Kritik an den dargelegten Theorien, sondern es geht lediglich darum, die Folgen einer solchen paradigmatischen Bedeutung des Körpers aufzuzeigen.

Ü BERLEGUNGEN ZUR

ÄSTHETISCHEN

B EDEUTUNG

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ben den genannten Beispielen auf die Theorie von Schwarmintelligenz beziehungsweise allgemeiner Theorien komplexer Systeme stützen.6 Mit dem Denken in Möglichkeiten geht auch eine bestimmte Methode einher, an der sich die Diskussion ausrichtet. Sie liegt in den vier Schritten: explore – Bedeutungsmöglichkeiten der Choreografie entdecken – make – diese Entdeckung durchspielen – interpret – die Ergebnisse des Erkenntnisprozesses bewerten – transform – das Ergebnis für die weitere (praktische oder wissenschaftliche) Auseinandersetzung nutzen.7

Z UR B EDEUTUNG

DES

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IN DER

T ANZTHEORIE

Die paradigmatische Bedeutung des Körpers ergibt sich vor allem aus der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes. Der Tanz erhält nach Sabine Huschka seinen Status als eigenständige Kunst erst über die Differenz zwischen Körper und Schrift. In der Tanzpraxis emanzipiert sich der Körper so aus einer ihm vormals konstatierten Andersheit in Bezug zur Schrift und wird in seinen eigenen, spezifischen Qualitäten von Bedeutung.8 In der Hervorhebung des Körpers als medienspezifischer Ort liegt das zentrale, ästhetische Kriterium. Es folgt in der Theorie eine Setzung des Körpers als Ursprung und Verhandlungsgegenstand. Der Körper steht damit in einer quasi tautologischen Argumentation am Anfang und Ende der Betrachtung: »Tänzerische Bewegungen körperlich auf die unterschiedlichsten Weisen gestalten zu können, bildet das Paradigma. Das moderne Interesse des Tanzes richtet sich direkt auf den Körper als bewegungserzeugendes und –darstellendes, Raum und Zeit strukturierendes Medium. […] In ihren Wirkungen, Effekten und Gestaltungsmomenten auf und durch den Körper befragt, wird das Interdependenzfeld von Körper und Bewegung von eminenter Wichtigkeit.« (Ebd., 37)

6

Die Überlegungen zur Bedeutung der Schwarmintelligenz für die Theorie und Praxis des zeitgenössischen Tanzes beruhen auf meiner Masterarbeit (Schwerdt (Pröbstel) 2011).

7

Mit diesen vier Schritten hat Maria Palazzi die Methode in William Forsythes Projekt Synchronous Objects Project beschrieben (Palazzi 2009), das in diesem Artikel noch vorgestellt werden wird.

8

Sabine Huschka (2002) gibt einen differenzierten Überblick zum Verhältnis von Körper und Bewegung zur Schrift.

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Eine ähnlich umfassende Rolle kommt ihm in Theorien des Performativen zu, bei denen die Möglichkeit des Wahrnehmens des zeitgenössischen Tanzes im Körper selbst liegt. So entwickelt Christiane Berger in ihrer Monografie Körper denken in Bewegung (2006) eine tanzspezifische Lesart der in besonderem Umfang von Fischer-Lichte ausgearbeiteten Ästhetik des Performativen (FischerLichte 2004). Unter anderem anhand der Analyse der Bewegungssprache bei William Forsythe und Saburo Teshigawara öffnet die Tanzwissenschaftlerin den Blick für die Bedeutung der körperlichen Wahrnehmung des Zuschauers für das Verstehen von Tanz.9 Im Unterschied zu einer hermeneutischen Interpretation, die nicht möglich sei, liegt die Bedeutung laut Berger in der affektiven Wahrnehmung, in der eigenen, im und durch den Moment hergestellten Wirklichkeit im Körper des Zuschauers und seinem körperlichen Bewegungswissens beziehungsweise seiner Bewegungsintelligenz (Berger 2006, 11).10 In der zweifachen Bedeutung der Choreografie als Praxis und Komposition einerseits sowie der Repräsentation von Tanz andererseits geht die Differenzierung zwischen Körper und Schrift der Verhandlung bereits qua definitionem voraus.11 Das Denken über Choreografie oder auch der praktische und wissenschaftliche Umgang mit ihr scheint vor allem in diesem Interdependenzfeld zwischen Körper und Schrift situiert zu sein. Sie wird dann in der Fragwürdigkeit der Repräsentation von Tanz in Bezug auf die Notation sowie die Anerkennung der Eigenheit des Körpers als eine problematische Beziehung zwischen Körper

9

Während Fischer-Lichte ihre Theorie primär über eine Performativität von sozialen Dynamiken beschreibt, in denen die (sozialen) Rollen von Zuschauer und Akteur in ein oszillierendes Verhältnis überführt werden, sieht Berger die performative Bedeutung im Tanz über eine Oszillation zwischen Bewegungsausführung und Bewegungswahrnehmung gegeben.

10 Mit dem Begriff der Bewegungsintelligenz wird Bewegung als eine Fähigkeit verstanden, mit dem Körper ausschließlich in Bewegung zu antworten (Kaltenbrunner vgl. Berger 2006, 99) und Intelligenz wird damit als eine Frage angemessener, körperlicher Bewegungsantworten verstanden. 11 Ich beschränke mich hierbei auf die wörtliche Bedeutung der Choreografie als Aufführungskomposition und deren Vor- oder Nachschrift (vgl. unter anderem Brandstetter 2000). In der Bedeutung als Tanznotationen dient sie als Vorschrift für den Tanz und als dokumentierende Nachschrift und ist als ein kulturelles Wissensarchiv des Tanzes von Bedeutung (Brandstetter 2000; vgl. Schulze 2010). Zugleich ist die Choreografie das praktische Wissen der Tänzer über die Komposition, ihr technisches Können und ihr Memorieren der Choreografie.

Ü BERLEGUNGEN ZUR

ÄSTHETISCHEN

B EDEUTUNG

DER

CHOREOGRAFIE | 287

und Schrift ausgehandelt.12 Janine Schulze etwa fragt ironisch, ob 100 Objekte genug seien, um den Tanz zu repräsentieren (vgl. Schulze 2010, 16). Ironisch, da sie »ihre Verneinung schon mit sich führt« (ebd.). Von der Flüchtigkeit der Bewegung ausgehend diskutiert Brandstetter Notationen (2000). Sie verweist darauf, dass Tanzen ein Raum-Schreiben sei, wohingegen die Notation eine »BeSchreibung jenes Raums [ist], der die Bewegung des Körpers stets schon aus sich entlassen hat« (ebd., 102). Die Notation, so folgert sie, sei ein »Setzen und Löschen von Erinnerungsspuren« (ebd., 103) und auch das Lesen und Schreiben von Notationen werde gleichermaßen zu einem Epitaph (ebd., 108). Umgekehrt wird es denkbar, den Körper in seinem eigenen Repräsentationspotential und als Archiv zu verstehen. Siegmund beleuchtet den Körper als ein besonderes Wissensarchiv: »Der Körper ist eine aktualisierte historische Formation, in die man sich tanzend hinein begibt, um sich auf die Spuren seiner Geschichte, seiner Geschichten und der damit verbundenen Emotionen zu begeben.« (Siegmund 2010, 172) Durch die Einübung und Weitergabe der Tanztechniken, so Siegmund, werden Erinnerungsspuren im Körper angelegt und bilden so ein implizites Bewegungsgedächtnis (ebd., 171). Als Wissensarchiv sei der Körper auch ein kulturelles Archiv, er stehe jedoch der traditionellen Archivierbarkeit entgegen (ebd., 178). Deshalb bezeichnet Siegmund ihn als ein Archiv der Erfahrung und Archiv des Fremden. Ein ähnlicher Rückschluss auf die umfassende ästhetische Bedeutung des Körpers liegt auch in der Bestimmung von improvisierter Bewegung. Verstanden als ein formales Kompositionsmittel, um Neues durch den methodischen Umgang mit dem Zufall zu schaffen,13 kommt die neue Bewegung nicht nur mit dem Körper zum Ausdruck, sondern liegt auch die Methode der Erneuerung im Körper selbst begründet. Lampert etwa beruft sich in der von ihr ausgearbeiteten Improvisationsmethodologie auf das komplexe System Mensch, ein von Kenneth de Spain aus der Chaostheorie abgeleitetes Konzept für den Tanz, das die Zufallslogik eines komplexen Systems auf den Körper überträgt (vgl. Lampert 2010). Der Zufall, der für die neue Bewegung entscheidend ist, liegt dabei in ei-

12 Insgesamt scheinen dabei die Grenzen dieser zwei Bedeutungen zu verwischen, doch wird damit auch genau die Differenzierung von Körper und Schrift (oder anderen Repräsentationsformen) als zentrale Bedeutung der Choreografie fortgeschrieben. 13 Dieses Verständnis stützt sich auf die Entwicklungen der Tanzpraxis der letzten drei Jahrzehnte, in der die Improvisation als formale Erarbeitungsmethode im Produktionsprozess sowie als Aufführungspraxis zum systematischen Bestandteil geworden ist (Lampert 2007, 9).

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nem Zwischenzustand von Bewegungsordnung und Bewegungschaos,14 der durch bestimmte Improvisationsprinzipien erzeugt werden kann. Der quantitative Zufall eines komplexen Systems15 wird zu einem körperlichen ›Zu-Fall‹ des komplexen Systems Mensch. Wichtige Prinzipien, um den Zwischenzustand von Bewegungsordnung und Bewegungschaos über ein ›Zu-Fallen‹ in die letztendliche Bewegung aufzulösen, sind dabei (körperliche) Entscheidungsprozesse und eine Schnelligkeit im Denken und Handeln. Lampert zeigt allerdings auch auf, dass zahlreiche improvisatorische Verfahren nicht nur intendieren, neue Körperbewegungen zu erzeugen, sondern manche Techniken zur Erzeugung neuer Gesamtkompositionen dienen. Dabei spielen auch tatsächlich raumgreifende Verfahren eine Rolle wie etwa das Moment der Interaktion in der Contact-Improvisation oder das Neue auf der Ebene der Gesamtkomposition (vgl. Lampert 2010, 138). Genau deshalb stellt sich die Frage, inwiefern auch in der Komplexität eines gesamten Systems selbst, wie es in der ursprünglichen Bedeutung der Chaostheorie angelegt ist, ein Zufallsmoment liegt, das nicht allein das des Körpers als ›Zu-Fall‹ ist, und die Ästhetik der Improvisation nicht allein die des Körpers in Bewegung ist.16 Gerade in der Betonung des Körpers und seiner Performativität liegt auch immer das Moment, sich an der Problematik vormaliger Theorien und ästhetischer Strömungen abzuarbeiten. Die Theoriebildung wird mit der Thematisierung der Emanzipation des Körpers auch von einem historisierenden Blick auf die Bewegungsästhetik geleitet – wird der Blick durch die Betonung des eman-

14 Als Ordnung erweisen sich hierbei die Bewegungsgewohnheiten. Lampert arbeitet sie anhand von Bourdieus Habituskonzept heraus, wonach die Bewegungsgewohnheiten als ein »erworbenes System für Erzeugungsschemata« (Bourdieu zit. n. Lampert 2007, 122) verstanden werden können. Als Chaos erweisen sich jene Momente, in denen diese tanztechnische Ordnung durch ›Zu-Falls‹-Vorgaben außer Kraft gesetzt werden, sodass für den Körper ein Moment zwischen Bewegungsordnung und Bewegungschaos entsteht. 15 Der Begriff quantitativer Zufall verweist auf die Pseudozufälligkeit eines komplexen Systems, in dem der Zufall nicht über eine Form von Entscheidung der Einzelnen entsteht, sondern sich bereits aus der Vielzahl der am System Beteiligten ergibt: »The real source of quantum ›randomness‹ is now believed to be the interactions or ›entanglements‹ of particles, whose behavior is in fact deterministic« (Kennedy/Eberhart/Shi 2001, 11). 16 Frederike Lampert verweist zwar darauf, dass sich Improvisation auch auf die gesamte Ordnung beziehen kann, doch für die Entstehung des Zufalls betrachtet sie allein den einzelnen Körper im Austausch mit seiner Umwelt.

Ü BERLEGUNGEN ZUR

ÄSTHETISCHEN

B EDEUTUNG

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zipatorischen Potentials doch vor allem auf die Differenz zum Überwundenen gelenkt. Die performative Ästhetik (im Tanz) eröffnet sich quasi mit der Auflösung der klassischen Ordnung. Die Performativität der Bewegung leitet Berger aus einem Fehlen von eindeutigen und mit Bedeutung besetzten Körperhaltungen ab (2006, 27) und lässt sich über eine Dekonstruktion der klassischen Bewegungsordnung beziehungsweise des Bewegungskanons beschreiben.17 So wichtig die Bezüge auf die eigene Geschichte sind, lassen sich diese als allgemeine Tendenz hingegen kritisch betrachten, wie etwa der Choreograf Thomas Hauert in Bezug auf die Deutung seiner Arbeiten bemerkt: »Unless dance history is a specific artistic reference point in the content of a choreography those patterns are irrelevant.« (Hauert o.J.) Es scheint vor allem auch deshalb wichtig, dass die Tanzwissenschaft sich von einem allzu sehr auf die Verhandlung des Körpers und seine ästhetische Emanzipation Bezug nehmenden Blicks löst, denn in einem solchen Rückbezug verbleibt die Argumentation oft innerhalb eines rational-aufklärerischen Verständnisses von Wissen und Diskursen des Körpers: Bewegungsordnung steht der improvisatorischen Unordnung gegenüber, wenn improvisierte Bewegung auf einer Skala von eher ordnend oder eher chaotisch verortet wird und das Neue auf Seiten des Chaos’ liegt. Die performative Bewegung bedarf scheinbar eines Fallens aus der Ordnung oder einer Auflösung der Ordnung.

EXPLORE: Z UR M ATERIALITÄT VON C HOREOGRAFIE

UND

P ERFORMATIVITÄT

Neben seiner Arbeit als Choreograf entwirft William Forsythe auch Installationen und Performances.18 Hierbei spielt der Begriff der Choreografie eine wichtige Rolle. So fragt er in seinem Essay Choreographic Objects (Forsythe o.J.), wie

17 In Bezug auf die Interpretation von Forsythes Bewegungsästhetik besteht durchaus Konsens. Sie findet sich unter anderem bei Siegmund (2004). Eine genaue Analyse des Bewegungs- und Körperverständnisses, das dem klassischen Ballett zugrunde liegt, liefert Dorion Weickmann (2002). Dynamische Bewegungen stehen der Beschreibung von Formen (also Posen) entgegen. Der klassischen Bewegungssystematik, die den Körper hierarchisch, ausgehend vom Rumpf als Bewegungszentrum, unterteilt, wird durch Bewegungen, die sich als Enthierarchisierung oder Dezentrierung charakterisieren lassen oder eine Dynamisierung aufweisen (Berger 2006, 72ff.), eine Komplexität entgegen gestellt. 18 Diese stellt er zum Beispiel auf seiner Website http://www.williamforsythe.de/ vor.

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körperliches Denken jenseits des Tänzerkörpers aussehen könnte, und zwar verstanden als körperliches Denken der Choreografie selbst, die weder auf Tanz noch auf bestimmte Praktiken oder Wissensgebiete beschränkt, sondern ein allgemeines Wissensmodell ist, das sowohl für die Mathematik als auch für den Tanz oder etwa die Architektur bedeutsam sein kann. Von diesem Gedanken ausgehend möchte ich im Folgenden mögliche weitere Bedeutungsebenen und die damit einhergehende (wissenschaftliche) Haltung im Tanz diskutieren. Wird Choreografie im Tanz als ein solches allgemeines körperliches Denken verstanden, liegt darin auch eine Grundlegung einer Bewegungsästhetik, die nicht (mehr) allein die des Körpers in Bewegung ist. Die zentrale Verschiebung folgt daraus, dass Forsythe mit der Idee eines allgemeinen Verständnisses anstelle des Körpers nicht lediglich ein anderes Medium zur ästhetischen Referenz macht. Das allgemeine Denken setzt bereits bei einem anderen Verständnis von Materialität an, in dem Choreografie als »InFormation« selbst bestimmt wird (ebd.). »In-Formationen« sind, ganz ihrer Definition folgend, auf einer Art Metaebene der Information verortet. Choreografie wird also gerade nicht anhand ihres Mediums im Sinne eines Träger- oder Speichermediums zum Informationsaustausch bestimmt, und verweist mit der Frage nach ihrer ästhetischen Bedeutung somit nicht direkt auf die Materialität ihres Repräsentationsmediums – Körper, Schrift, Video – zurück. In der Verschiebung des Blicks auf die Information liegt eine fast schon als kybernetisch zu bezeichnende Betrachtung von Tanz.19 Die (ästhetische) Bedeutung der Choreografie liegt dann in den Ideen von Ordnungsstrukturen und wie diese sich in Formation bringen oder aus Information entstehen (Forsythe o.J.; vgl. Groves/deLahunta/Zuniga Shaw 2007). Inwiefern eine solche Betrachtung auch tatsächlich bedeutsam ist, obwohl sie doch in einer körperlosen Struktur situiert wird, möchte ich im Folgenden kursorisch anhand einiger wichtiger Aspekte durchspielen. In seinem Stück One Flat Thing Reproduced, dessen Ordnung der Gesamtkomposition Forsythe in seinem Synchronous Objects Project20 erforscht, liegt die Struktur in einer komplexen Ordnung. Es scheint so, dass genau in einer solchen komplexen Ordnung beziehungsweise in ihren Formen der Selbstorganisa-

19 Denn die Kybernetik mit ihrem Fokus auf der »Informationsübertragung, -verarbeitung und -speicherung in natürlichen und künstlichen Systemen« (Hörl/Hagner 2008, 7) hat solche Modelle zum Gegenstand. 20 Synchronous Objects Project, The Ohio State University (US) and The Forsythe Company 2009, http://synchronousobjects.osu.edu. (Stand: 29.10.2012)

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tion wie beispielsweise der Schwarmintelligenz21 die Möglichkeit liegt, eine eigene Materialität der choreografischen Information zu denken. Denn insofern eine solche komplexe Ordnung auf Bewegung basiert, wie es bei der Schwarmintelligenz der Fall ist, fallen in ihr Medium und Information zusammen.22 Auch in Bezug auf die Frage nach der Performativität eröffnet das Modell der Schwarmintelligenz interessante perspektivische Verschiebungen.23 Es dient daher als eine Art theoretische Matrize der folgenden Überlegungen zu einer eigenen Materialität und Performativität der Choreografie.24 Die zentrale Bedeutung der Schwarmintelligenz liegt in ihrer Emergenz: Es ist die Möglichkeit eines Schwarms »to optimize some global objective through collaborative search of a space.« (Kennedy/Eberhart/Shi 2001, xxvii) Damit wird zum einen eine eigene Bedeutung des Kollektivs und seiner kollektiven Bewegung hervorgehoben (collaborative search) und zum anderen wird dieses Kollektiv gerade in seiner Wirksamkeit als Kollektiv bedeutsam (to optimize some global objective). Die choreografische Ordnung wäre damit eine kollektiv hergestellte, emergente Ordnung. Der Begriff der Emergenz, der auch in Theorien des Performativen zentral ist, um die Wirkung zwischen Zuschauer und Akteur als konstitutives Moment für die ästhetische Bedeutung zu charakterisieren (vgl. Fischer-Lichte 2004, 243ff), wird damit auf das Gesamtgeschehen auf der Bühne angewandt. Die Performativität der Ordnung ist dabei nicht dasselbe wie die Performativität der einzelnen Bewegungen. Im Sinne der emergenten Eigenschaft einer Gruppe lässt sich das Kollektiv nicht aus vorab Bekanntem ableiten – es ist mehr

21 Bei selbstorganisierenden Systemen handelt es sich um eine besondere Form der Organisation oder Ordnung mit der Fähigkeit »to maintain something like equilibrium, stability, or regularity without any visible hand or central control« (Kennedy/Eberhart/Shi. 2001, 29; vgl. Camazine et. al. 2001, 8). Die im Folgenden getroffenen Annahmen und Interpretationen beruhen auf solchen Theorien. 22 Die besondere Medialität beruht auf den allgemeinen Eigenschaften von komplexen, dynamischen Systemen. Vgl. dazu Kennedy/Eberhart/Shi 2001, XV;24ff. Vgl. dazu auch die Unterscheidung von Schwärmen und Netzwerken bei unter anderem Thacker 2009. 23 Einen Überblick zu weiteren Bedeutungen des Modells für den Tanz habe ich in meiner unveröffentlichten Masterarbeit gegeben (Schwerdt (Pröbstel) 2009). 24 Alle im Folgenden gezogenen Interpretationen basieren auf Theorien solcher Ordnungen. Dazu gehören das Konzept der Synergie, die Chaostheorie, das Konzept der Emergenz, Komplexität und die Schwarmintelligenz. Einen einführenden Überblick bieten Grapp/Wysick/Dursun/Hülsmann 2005.

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als die Summe seiner Teile – und lässt sich so gerade nicht auf die einzelnen Individuen des Kollektivs und damit auch nicht auf die (performativen) Bewegungen der Einzelnen reduzieren. Das Kollektiv selbst ist hier performativ und es ist selbst eine Performance-Strategie. Andererseits sind die Bewegungen der Einzelnen von Bedeutung, basiert eine solche emergente Ordnung doch gerade auf den einzelnen Individuen und ihren Bewegungen: Sie sind die Kraft, die eine solche Ordnung überhaupt erst hervorbringen kann (vgl. Thacker 2009, 53). Die Bewegung wird für die choreografische Ordnung damit zum performativen Prinzip, das die Performativität der Choreografie erst hervorbringt. Diese systematische Bedeutung der Bewegung im Schwarm haben Brandstetter et al. bereits auf den Punkt gebracht: Es ist eine Wirksamkeit von Bewegung im Sinne eines organisatorischen Effekts, welcher genau deshalb wirksam wird, weil er »in ein System von Beziehungen zwischen Sichbewegenden eingelassen ist (oder diese Beziehung erst stiftet?)« (Brandstetter/Brandl-Risi/van Eikels/Zellmann 2007, 8) Damit ist Choreografie eine Ordnung durch Bewegung, die ohne Bewegung nicht existiert. Genau in dieser organisatorischen Wirkung ist Bewegung eher in ihrer Medialität als Medium des Informationsaustauschs bedeutsam beziehungsweise, da diese Ordnung nur in Bewegung existiert, ist die Interaktion die Information und die Bewegung.25 Es wäre dann nicht nur die Fähigkeit, mit dem Körper zu antworten, wie es bei Berger und anderen durch das Konzept der Bewegungsintelligenz begründet wird, sondern es ist die gelungene Interaktionspraxis und die daraus resultierende Ordnung in und durch Bewegung selbst, die für eine performative Theorie des Tanzes bedeutsam ist. Der Begriff der Interaktion scheint die Bewegung der Choreografie besser zu beschreiben. Zusammengenommen verschiebt das Denken der Choreografie als Information die Perspektive auf den Tanz in mehrfacher Hinsicht. Choreografie als Information zu denken heißt, den Körper im Tanz als einen paradoxen Körper zu denken, in dem die einzelnen Tänzer und der Körper als Ganzes bedeutsam sind (oder sein können). Der Körper als Ganzes lässt sich als Körper ohne Oberfläche (Vehlken 2009) charakterisieren, der allein in der Bewegung liegt, die ihn hervorbringt. Damit heißt choreografisches Denken auch, die Bewegung selbst als Information und als Medium zu verstehen. Umgekehrt heißt es, die Choreografie als Bewegung zu verstehen.

25 Dies stützt sich auf die Bestimmung der Medialität von Schwarmintelligenz: Sie ist ein Wissen in Bewegung, dessen Informationen in den Interaktionen liegen (vgl. Kennedy/Eberhart/Shi 2001, xivff und Varela 1990).

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Genau mit dieser eigenen Materialität und Performativität werden Ordnung (und Choreografie) zu einem relationalen Konzept.26 In der Choreografie sind nicht Spuren der Bewegung enthalten (sei es als Komposition oder Notation), sondern Ordnung lässt sich nur in Bewegung denken. Resultierend aus möglichen (zufälligen) Interaktionen, die sie erst als ein Effekt in Erscheinung bringen, unterläuft ein solches Verständnis von Choreografie auch die Unterscheidung zwischen Ordnung und Unordnung, die, wie gezeigt, für die Bestimmung von Choreografie und Improvisation nachwievor bedeutsam sind. In der Ordnung in Bewegung liegt eine Art Zwischenordnung, die – zumindest theoretisch – zwischen improvisierter und choreografierter Bewegung liegt. Durch die Vielzahl möglicher Interaktionen ist sie in ihrer gesamten Struktur unvorhersehbar beziehungsweise emergent und lässt sich als Improvisation charakterisieren. Zugleich müssen die Bewegungen selbst nicht improvisiert sein, steht hierbei doch die Bewegung der Einzelnen gar nicht zur Disposition. In Anknüpfung an Lamperts Bezug zur Chaostheorie lässt sich diese Zwischenordnung weiter veranschaulichen. Die Bedeutung der Komplexität eines Kollektivs liegt nicht in einem Moment der Erneuerung, das eher ordnend oder eher chaotisch ist, wie es in der Übertragung der Chaostheorie auf den einzelnen Körper (Kenneth de Spain) angelegt ist, sondern die Möglichkeit der Erneuerung liegt immer genau in einem Zwischenzustand von Ordnung und Chaos (vgl. Kennedy/Eberhart/Shi 2001, 24). Der Zufall ist kein plötzlicher Moment des ›Zu-Falls‹ des Körpers aus der Ordnung, sondern ein Zufall des gesamten Ordnungssystems. Der Jazzmusiker Christopher Dell hat eine Improvisationstheorie für den Jazz entworfen, die mit dem Begriff der Improvisation zweiter Ordnung oder Improvisationstechnologie eine solche zufällige Bewegungsordnung beschreibt. Sie »[…] denkt Ordnung als verhandelbar und bezieht die Tatsache mit ein, dass die Improvisatoren als Beteiligte des Prozesses selbst Transformationen unterliegen. Ihr Können besteht dann auch darin, sich prozessual zum Prozess zu verhalten. Improvisation 2. Ordnung ist keine Sache, die rein praktisch liefe. Im Gegenteil, sie bedarf ein erhöhtes Maß [sic!] an Abstraktion, um – auf der Metaebene – die Ordnung handhabbar als Verlauf zu machen. Improvisationstechnologie arbeitet diagrammatisch: sie konzentriert sich auf die

26 Damit einher geht vor allem ein anderes Verständnis von Zeit wie es etwa Henri Bergson mit der durée gibt. Sie stellt dem gewohnten externen, quantitativen und diskreten Verständnis ein qualitatives Verständnis von interner, qualitativer und kontinuierlicher Zeit an die Seite. Eben diese interne Zeit ermöglicht es, eine Ordnung in Bewegung zu denken (vgl. Thacker 2009, 42). Auf diese Bedeutung von Zeit für die choreografische Ordnung wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen.

294 | PRÖBSTEL Ordnung von Ordnung, also die Organisation von Unordnung und macht das, in dem [sic!] sie unterschiedliche Matrizen gegeneinander schaltet und zum Funktionieren bringt.« (Dell 2010, 220)

MAKE: I NTERAKTIONEN UND E FFEKTE Beschreibbar wird die Choreografie mit den tatsächlich realisierten Interaktionen27 und ihren daraus möglicherweise resultierenden Effekten. Diese zwei Ebenen des choreografischen Denkens möchte ich anhand zweier unterschiedlicher Arbeiten beleuchten. Das 2009 veröffentlichte Forschungsprojekt Synchronous Objects Project macht die Interaktionen zwischen den Tänzern, die sich in One Flat Thing Reproduced für die Choreografie verantwortlich zeigen, sichtbar. Entwickelt von William Forsythe, Maria Palazzi und Norah Zuniga Shaw, zusammen mit einem Team aus Tänzern der Forsythe Company, Designern des ACCAD (Advanced Computing Center for the Arts and Design an der Ohio State University) sowie Wissenschaftlern der Ohio State University intendiert das Projekt eine Offenlegung der tanztechnischen Verfahren von One Flat Thing Reproduced. In dem Stück wurde der unter Denkmalschutz stehende, ehemalige Betriebshof der Städtischen Straßenbahnen in Frankfurt (das Bockenheimer Depot) zu einer Bühne, die allein durch die 20 Tische, die die Tänzer zu Anfang des Stücks in den Raum ziehen, gerahmt wird. Auf diese Weise entsteht ein 4 x 5 Tische

27 Dies leite ich aus den von Thacker (2009) definierten Beschreibungskonzepten der Kollektivität und Konnektivität ab, die die Schwarmbewegung beschreibbar machen. Kollektivität bezeichnet die Voraussetzung, auf der ein solches System basiert (ebd., 67) und ist definiert als eine »Aggregation von individuierten Einheiten in Verbindung zueinander« (ebd., 33). Als in Verbindung definiert (Aggregation) ist es gerade nicht etwa die räumliche Ballung, die eine Kollektivität bestimmt, sondern es sind bestimmte Relationen. Sie ergeben sich aus einem bestimmten »Set von Gemeinsamkeiten« (ebd.), wie es sich aus einem gemeinsamen Kommunikationskontext ergibt. Das Konzept der Konnektivität bezeichnet den Modus oder die Initiative der Kollektivität, die Interaktion in Aktion beziehunsgweise gibt eine Beschreibungsmöglichkeit der Interaktionsbewegung und tatsächlichen Bedeutung im Kollektiv. Konnektivität lässt sich definieren als »Form der Verbindung zwischen individuierten Einheiten innerhalb eines weitrechenden Feldes möglicher topologischer Konfigurationen« (ebd., 33) und beschreibt die tatsächlich realisierten Relationen innerhalb des Schwarms als eine bestimmte raumzeitliche Praxis (ebd.).

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großes Feld, das als dreidimensionale Bühne unter, zwischen, auf und um die Tische herum bespielt wird. Für den Verlauf des Stückes sind zwei Prinzipien bedeutsam: Die Choreografie ist über die Alignments organisiert, eine Art Improvisationstechnik, bei der die Tänzer ihre Bewegungen in bestimmten, aber nicht notwendigerweise allen Merkmalen synchronisieren.28 Abbildung 1: Visualisierung der Alignments, Synchronous Objects Project, AlignmentAnnotation

Quelle: © Synchronous Objects Project, The Ohio State University and The Forsythe Company.

Die selbstorganisierende Logik des Counterpoint ergänzt diese Verfahren zudem um ein bedeutsames Moment des Zufalls, das die Choreografie im Ganzen im zeitlichen Verlauf selbst organisiert. Es ist »a field of action in which the intermittent and irregular coincidence of attributes between organizational elements produces an ordered interplay.« (Forsythe/Zuniga Shaw 2009) Als Prinzip zeigt sich das CueSystem dafür verantwortlich. Cues sind auditive oder visuelle Signale, die ein Ereignis auslösen und den zeitlichen Verlauf steuern. Die Cues werden am besten in der Draufsicht sichtbar.

28 Vgl. http://synchronousobjects.osu.edu.

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Abbildung 2: Gegebene und empfangene Cues, Synchronous Objects Project, CueAnnotation

Quelle: © Synchronous Objects Project, The Ohio State University and The Forsythe Company.

In den Arbeiten des in Brüssel arbeitenden schweizer Choreografen Thomas Hauert und seiner Company ZOO zeigen sich im gemeinsamen, kollektiven Improvisieren interessante Effekte. Die Bewegungsprinzipien, auf denen die Stücke von Hauert basieren, beruhen auf dem Anspruch »not to repeat and install existing patterns for re-creation, but to train for creative processes that extend the art form beyond its current achievements and limits« (Hauert o.J.). Das was dem Choreografen nach die aktuelle Tanzpraxis übersteigt, sind Formen gemeinsamen, kollektiven Improvisierens, tatsächlich verstanden als gemeinsame Improvisation. In Accords, einer ihrer Gruppenarbeiten, die im Mai 2008 auf PACT Zollverein in Essen uraufgeführt wurde, loten die Tänzer diese Vorstellungen von kollektiver Bewegung im improvisierten Duett, Trio oder in der gesamten Gruppe, bestehend aus sieben Tänzern, in zahlreichen Spielarten aus. Je nach Szene wird dieser kollektive Rahmen über unterschiedliche Relationen erzeugt und in dieser Artikulation der Relationen wirksam. Welche Interaktionen tatsächlich stattfinden und welche Bedeutung ihnen zukommt, lässt sich nicht beantworten. Doch was sich davon wahrnehmen lässt, sind bestimmte, emergente Ordnungen.29 Es sind zum Beispiel rhythmische Muster ohne identische Bewegungen und ohne musikalische (als Musik hörbare) Vorgabe. Im Unterschied zu einem klassischen Corps, das zur Musik tanzt, stellt die Musik hier einen ge-

29 Varela beschreibt emergente Muster auf eine Weise, die vergleichbar den beobachtbaren Effekten bei Accords sind (vgl. Varela 1990, 67).

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meinsamen internen Polyrhythmus bereit, an dem die Tänzer sich erinnernd ihre Improvisation zugleich individuell strukturieren und in der Gruppe synchronisieren (vgl. Laurent o.J.). In einer anderen Szene werden die einzelnen Körper über Berührung zu einem gemeinsamen Körper verbunden. Erinnert man sich daran, dass die einzelnen Tänzer in ihrer Bewegung bestimmten organisatorischen Prinzipien folgen, lässt sich vermuten, dass dieser kollektive Körper über jede Bewegung zugleich auch neue Bedingungen und Notwendigkeiten der Bewegung erzeugt. Entweder als Korrektur, um einen Bruch zu bestimmten Prinzipien auszugleichen, und/oder als Initiative, um gewisse Möglichkeiten zu nutzen, entsteht hier die Dynamik der Gruppe. Abbildung 3: Über Berührung initiierte Gruppenimprovisation, ZOO/Thomas Hauert, Filmstill aus Accords

Quelle: © ZOO/Thomas Hauert

Neben der Schaffung dieser entweder rhythmisch synchronen Kollektivitäten oder der Erzeugung eines dynamischen Körpers ohne Oberfläche, gibt es auch Szenen, in denen eine Art Corps-de-Ballet-Effekt entsteht – also ein raumzeitlicher Gleichklang der Bewegungen, der sich an der Musik und dem Bühnenraum orientiert. Statt eines Kollektivs im Sinne einer Gruppe mit einheltichen Bewegungen ist jedoch auch hier eher eine Form der Vernetzung gegeben. Denn der Tanz wird über einen permanenten Wechsel des Anführers erzeugt: »The movements, initiatives, impulses of each one are instantly picked up and transformed by the others. […] No one controls the movement, but at the same time everyone is involved in creating it.« (Ebd.) Beobachtet man dieses Geschehen mit

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dem Wissen über diesen Wechsel, lässt sich die entstandene Form der Improvisation durch die verteilte Steuerung und die Synchronität der Gruppe trotzdem nicht als ein Corps verstehen, sondern eher als eine emergente Ordnung oder die von Laurent konstatierte Bedeutung des Stückes als Modell einer Mikro-Utopie (vgl. ebd.). Abbildung 4: Synchronität in der Gruppenimprovisation, ZOO\ Thomas Hauert, Filmstill aus Accords

Quelle: © ZOO/Thomas Hauert

INTERPRET: P ROTOCOL IS

AS PROTOCOL DOES

Liegt die ästhetische Bedeutung der Choreografie darin, choreografische Ordnungen zu erzeugen, zieht eine solche Betrachtung negativ formuliert ein Erkenntnisproblem nach sich. Die Emergenz der Ordnung muss nicht eindeutig erkennbar sein30 und weder lässt sie sich aus der organisatorischen Wirkung der Interaktionen direkt ableiten, noch sind diese wiederum eindeutig in ihrer Bedeutung für die Ordnung. 31 Auch ist diese Ordnung nicht unmittelbar wahrnehmbar

30 Die Emergenz kann sich als eine ästhetisch wahrnehmbare Ordnung wie etwa in einem Muster zeigen, sie kann aber genauso gut in einer nicht als solche wahrnehmbaren Problemlösungsstrategie liegen. Einen ausführlichen Überblick über Emergenzphänomene gibt unter anderem Johnson 2001. 31 Diese Schlussfolgerung basiert auf den Merkmalen der Emergenz, die weder ursprünglich neu, noch bekannt ist, sondern ›nur‹ unvorhersehbar (oder unerklärlich)

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wie in einer performativen Ästhetik der Körperbewegung, bei der die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung mit dem körperlich anwesenden Zuschauer und seinem Körper begründbar wird, in dem die Bewegungen eines Tänzers entsprechend auf ein körperliches Pendant treffen (vgl. Berger 2006, 11). Kritisch formuliert ist das Deutungsproblem allerdings nur eines, das sich aus der ästhetischen Bedeutung des zeitgenössischen Tanzes für den Körper und eine spezifische Materialität ergibt, die hierfür keine etablierten Konzepte bereithält. Wie dargelegt, kommt vor allem der Differenz zum Überwundenen oder der medialen Differenz eine zentrale Rolle zu. Die Ästhetik des Choreografischen kann, so die These, den Blick auf den Tanz bereits im Modus des Erkennens selbst verschieben. Der Erkenntnismodus, der vollzogen werden müsste, wenn man der »In-Formation« folgt, liegt in einer Änderung der Blickrichtung hin zum Zukünftigen, zum Möglichen. Nach Derridas Theorie der Dekonstruktion liegt die Erkenntnismöglichkeit in der zeitlichen Différance als »Struktur des Versprechens« (Derrida 1992, 57). Darin wäre es eine induktive Haltung, die davon geleitet ist, Möglichkeiten zu erörtern und Hypothesen über Möglichkeiten aufzustellen, in der die Differenz zum Vergangenen oder die Differenz zwischen Formen der Repräsentation zum Körper in Bewegung etwa irrelevant ist. In Accords etwa geht es laut Beschreibung des Stückes auf der Website der Company um Modelle möglicher politischer Alternativen: »Even if the dance performance does not illustrate anything, it proposes a model that can be very meaningful. The artistic project seems like a microutopia, an alternative vision of man, power and society.« (Laurent o.J.) Die Gruppenimprovisation stellt Hypothesen darüber auf, wie ein solches Modell aussehen könnte, indem sie genau dieses erzeugt und verhandelt. Zugleich erschafft der Zuschauer in der Wahrnehmung erst sein eigenes Bild des Modells, er stellt Hypothesen über ein solches Modell auf. Dass die beschriebene Haltung aus der »In-Formation« folgt, lässt sich aus der Methodologie der Wissenschaften ableiten, die sich mit ermergenten Ordnungen wie dem Schwarm beschäftigen. Da der Schwarm nicht auf einer bestimmen Materialität, sondern auf der Praxis der Ordnungen beruht, wird ein theoretisches Modell allein in einer Modellierung oder Simulation möglich. Für die Modellierung als auch die Simulation ist das Aufstellen von Hypothesen über den Untersuchungsgegenstand das einzig mögliche Instrument. Damit wird entsprechend ein Wissen erzeugt, das nur alle messbaren Effekte der zuvor aufge-

sowie irreduzibel (vgl. Bedau/Humphreys 2008, 9ff.; Johnson 2001; Kennedy/Eberhart/Shi 2001).

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stellten Hypothesen abbildet und entsprechend nur an dessen Möglichkeiten gemessen werden kann.32 Bei Forsythe wird das induktive Vorgehen mit den sogenannten choreografischen Objekten greifbar. Die choreografischen Objekte sind eine Praxis des Übersetzens von »In-Formation« in andere Formen durch unterschiedliche Hypothesen. Ihre Wissenslogik leitet Forsythe aus einer alten Idee ab, die er bei dem blinden Mathematiker Jean-Baptiste Morin findet: »Morin saw an event in the space of his mind that he then translated with haptic skills into sculptures and subsequently into the universal yet somewhat hermetic language of mathematics. Their quite substantial bodies, put into action by the force of their ideas left very discernable traces of those ideas in the real world, from nowhere to somewhere, not everywhere, and no longer exclusively within their bodies.« (Forsythe o.J.)

Bei Forsythes Projekt, das die Ordnungslogik von One Flat Thing Reproduced zeigt, ist es ein solch abstraktes Denken statt einer möglichst ›signalrealen‹ Wahrnehmung von Spuren, das die Haltung zur Videoaufzeichnung bestimmt. Es macht das Video tatsächlich zum Ausgangspunkt, um eine nicht sichtbare, noch als solche völlig rekonstruierbare choreografische Struktur in den sogenannten Scores herzustellen. Für die Scores wurden räumliche Daten aus der Beobachtung der im Video wahrgenommenen Alignments ermittelt. Über digitales Mapping der zwei Videoansichten wurden außerdem dreidimensionale Karten zu den räumlichen Bewegungen der Tänzer erstellt, basierend auf einem ein-

32 Ein theoretisches Modell wird mit (Computer-)Simulationen möglich, da sich durch die Definition von Algorithmen und ihrer Realisierung im Programmablauf eine komplexe Ordnung mit einer Praxis der Interaktion herstellen lässt. Damit ist aber zugleich auch ein Schwarm technologisch erzeugt worden (vgl. Balzer 1997, 89f.;123). Für die Biologie zum Beispiel bietet entsprechende Software die Möglichkeit, Fischschwärme nicht mehr nur anhand bildtechnischer Aufzeichnungsverfahren zu analysieren, sondern über die anschließende Hinzunahme sogenannter Data Tablets, die die Wege der Schwarmindividuen digitalisieren und damit weiterverarbeitbar machen, effektiver zu analysieren (vgl. Vehlken 2009). Mit der Intention hingegen »to capture that process in silicon« (Johnson 2001, 59) entwickelte John Holland seinen sogenannten »genetic algorithm« (ebd., 58), mit dem eine Ameisenevolution nach emergenten Prinzipien simuliert werden kann. Vgl. dazu auch allgemein Theorien zur Logik von digitalen Bildern und Simulationen bei unter anderem Heßler/Mersch 2009.

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zigen Punkt des Körpers.33 Zudem wurde die Erinnerung der Tänzer, wann sie Cues gegeben haben oder auch wann sie sich welcher Alignments bewusst waren, integriert. Insgesamt ist aus diesen qualitativ sehr unterschiedlichen und sehr hypothetischen Daten ein Protokoll entstanden, das One Flat Thing, Reproduced in einen Datensatz übersetzt hat, der eine Komplexitätstheorie zwischen Körperwissen, digitalem Wissen und Wahrnehmungswissen protokolliert. Abbildung 5: Protokoll des komplexen, choreografischen Systems, Synchronous Objects Project, Scores

Quelle: © Synchronous Objects Project, The Ohio State University and The Forsythe Company

Drei Aspekte dieses Erkenntnisprozesses möchte ich als bedeutsam hervorheben: In dieser Form des Erkennens fällt erstens die Logik des Geschehens auf der Bühne mit dem Prinzip der Betrachtung oder Repräsentation derselben zusammen. Beides sind emergente Ordnungen in Bewegung, beides sind »InFormationen«, in beiden liegt choreografisches Denken. So hebt die Haltung des Möglichen, eine Unterscheidung zwischen Praxis und Repräsentation von Tanz quasi auf. Zweitens liegt neben dem medialen Wechsel hin zur Information auch

33 Das digitale Tracking hat den Bewegungsverlauf jedes einzelnen Tänzers mithilfe der zwei Videoansichten in einem dreidimensionalen Raum nachgezeichnet (vgl. Zuniga Shaw 2009).

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im Perspektivenwechsel von den Differenzen, wie sie in der Figur der Spur des Körpers anschaulich wurden, zu den Möglichkeiten, wie sie mit dem Begriff der Hypothese der Ordnung greifbar werden, eine Revision des choreografischen Wissens. Geht es in der Frage nach dem Wissen über Choreografie um ein abstraktes Denken in Hypothesen, die Formung dieser Hypothesen und damit um die Performativität des Erkennens, dann geht es immer um eine Form der künstlerischen Forschung –, sei es auf der Bühne oder in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Drittens lässt sich in einer solchen umfassenden Bedeutung des Performativen das Wissen über den Tanz lediglich an seiner Performance messen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Wissen, das in Bewegung gebracht werden muss –, sei es die Tanzbewegung oder eine Bewegung im Erkennen. Dieses integrale Verständnis von Bedeutung und Wissen im Tanz lässt sich zusammenfassen mit dem Leitsatz der Schwarmforschung: »Protocol is as protocol does« (Thacker zit. n. Giessman 2009, 179). Als Antwort auf Schulzes ironische Frage, ob 100 Objekte genug seien, um Tanz zu repräsentieren (Schulze 2010, 16), ließe sich damit zurückfragen, was uns hundert choreografische Objekte zeigen können, was wir noch nicht wussten, oder welches Wissen wir mit ihnen entdecken können. Diese Performance des Wissens zeigt sich zum Beispiel in einem weiteren Übersetzungsprozess, in dem aus den hypothetischen Daten der Scores wieder andere Objekte enstehen. Sie kommentieren die Choreografie auf eine Weise, wie sie sonst eher nicht wahrgenommen wird oder sogar nicht wahrgenommen werden kann. So lassen sich beispielsweise statistische Trends aufzeigen, welche Tänzer wie intensiv und in welcher räumlichen Verteilung in das CueSystem involviert waren. Sie zeigen gerade das, was durch die Cues und Alignments nicht sichtbar wird. In dem zugehörigen Objekt MovementDensity, einem unter vielen Objekte, die das Synchronous Objects Project vorstellt, wurde über Visualisierungssoftware, wie sie unter anderem in den Geowissenschaften angewandt wird, eine Heatmap der gesamten Bewegungsdichte in räumlicher Verteilung visualisiert und anschließend in unterschiedlichen Weisen dargestellt: Zum Beispiel als dreidimensionale Struktur aller Bewegungen (so wie hier abgebildet) oder in einzelnen Schichtungen jedes einzelnen Tänzers.

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Abbildung 6: Visualisierung der Bewegungsdichte des gesamten Ensembles, Synchronous Objects Project, MovementDensity

Quelle: © Synchronous Objects Project, The Ohio State University and The Forsythe Company

Mit dem FurnitureSystem wurden auch materielle Skulpturen geschaffen. Die einzelnen Bewegungsbausteine (MovementMaterial) wurden dafür in IdeenBausteine übersetzt, indem den Bewegungssequenzen bestimmte Diagramme zugeordnet und diese wiederum in eine architektonische Form transformiert wurden, aus denen Blöcke geformt werden, die in ihrer Form die Idee der Choreografie enthalten. Als Sitzbänke verstanden wird jeder Block – aus Bewegung geformt – zum Ausgangspunkt weiterer Bewegungen derer, die ihn benutzen.

TRANSFORM: R EENTRY Wenn sich das Wissen über den Tanz als Performance vollziehen würde, und sich die Hypothesen quasi durch ihr Gelingen selbst legitimieren, wie liegt darin eine (theoretische) Erkenntnismöglichkeit? In Morins Beschreibung der Objekte und Skulpturen, die er aus Ideen formt, ist das Erkenntnismoment in sehr poetischer Weise angedeutet: Diese Erkenntnisse haben zwar keinen materiellen Ursprung, doch sind sie damit noch lange nicht überall, alles oder gar willkürlich, sondern sie sind konkret: »From nowhere to somewhere not everywhere« (Forsythe o.J.). Das, was sie zu einem konkreten Erkenntnisgegenstand macht, ist das in dem beschriebenen Prozess vollzogene Reentry, also dem explizit gemachten Eintreten des Beobachters in das Beobachtete selbst (vgl. Luhmann 2009, 167). Das Reentry führt auf diese Weise die

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Unterscheidung, wie sie durch die Betrachtung eines Objekts entsteht, eben in das Objekt wieder hinein. Das Reentry, so Luhmann, bringt das Phänomen qua Unterscheidung auf den Boden des Phänomens zurück, da die Unterscheidungen erkennen lassen, »was man mit ihnen machen kann und was nicht« (ebd.). Liegt die (theoretische) Bedeutung in der Rückführung dieser Unterscheidung an den Anfang, lässt sich das Denken in Möglichkeiten als ein unendlicher Erkenntnisprozess der Veränderung und Vervielfältigung im Tanz und der Wissenschaft zusammenfassen: to explore, make, interpret, transform, to explore, make, interpret, transform.34 So könnte die Theorie der Choreografie und ihre Methodologie neben den aufgezeigten theoretischen Verschiebungen durchaus praktische Auswirkungen auf den Tanz selbst haben, ja ein Reentry in den Tanz bedeuten. Mit der Choreografie könnte nicht nur sprichwörtlich die Unterscheidungen auf den Boden des Phänomens gebracht werden, sondern auch tatsächlich auf den Boden – den Tanzboden –, um dann wiederum nach den veränderten Denkprozessen und dem veränderten Wissen künstlerisch zu forschen.

L ITERATUR BALZER, Wolfgang (1997): Die Wissenschaft und ihre Methoden. Grundsätze der Wissenschaftstheorie. Ein Lehrbuch. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber. BEDAU, Mark A./HUMPHREYS, Paul (2008): Emergence. Contemporary Readings in Philosophy and Science. Cambridge, Mass.: MIT Press. BERGER, Christiane (2006): Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara. Bielefeld: transcript. BRANDSTETTER, Gabriele (2000): »Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung«, in: Dies. (Hrsg.): ReMembering the Body. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 102-134. BRANDSTETTER, Gabriele/BRANDL-RISI, Bettina/VAN EIKELS, Kai/ZELLMANN, Ulrike (2007): SchwarmEMotion. Freiburg im Breisgau/Berlin: Rombach. CAMAZINE, Scott/DENEUBOURG, Jean-Louis/FRANKS, Nigel R./THERAULAZ, Guy/BONABEAU, Eric (2001): Self-Organization in Biological Systems. Princeton/Oxford: Princeton University Press.

34 Maria Palazzi (2009) beschreibt den Erkenntnisprozess des choreografischen Objekts von Forsythe anhand dieser Verben.

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STILLSTELLEN

Medieneinsatz auf der Tanzbühne – Formen und Funktionsweisen C LAUDIA R OSINY

Merce Cunningham tanzt zwischen Monitoren, die in Nahaufnahme sein Gesicht wiedergeben. Dieses Motiv, das 1981 ein Plakat der Cunningham Dance Foundation zierte (Abb. 1), steht als Metapher für eine auffällige Facette im zeitgenössischen Tanz – den Medieneinsatz auf der Tanzbühne. Seit der einfachen Handhabung und Verfügbarkeit der Videotechnik in den 1980er Jahren entstehen bis heute gehäuft Tanzstücke, die Kameras, Projektionen oder Monitore auf der Bühne einsetzen. Cunningham war in den Vereinigten Staaten einer der ersten, der die Videotechnik nicht nur zur Aufzeichnung und Archivierung nutzte, sondern konzeptionell für Bühnenwerke einsetzte und früh Choreografien für die Kamera entwickelte (vgl. Meyer 2001, 231ff.). Beide Formen der Verschränkung von Kunstformen – im ersten Fall verbinden sich Tanz und Medientechnik in der Repräsentationsform der Dreidimensionalität der Bühne, im zweiten Fall in der Repräsentationsform des zweidimensionalen filmischen Mediums1 – sind auf Einflüsse der Mediengeschichte auf die Bühnenkünste, auf intermediale Entwicklungen und Prozesse der Hybridisierung zurückzuführen: »Das Zeitalter medialer Vernetzungen produziert unzählige inter-mediale Hybriden.« (Müller 1996, 15)2

1

Diese intermediale Kunstform des Videotanzes habe ich bereits eingehend untersucht (vgl. Rosiny 1999).

2

Müllers Publikation ist eine der ersten, die im Zuge dieser Entwicklungen »als eine ›Theorie der Praxis‹ Intermedialität in das Zentrum medienwissenschaftlicher Analysen« rückte (Müller 1996, 17). Zur Hybridkultur siehe auch Schneider/Thomsen 1997.

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Abbildung 1: Merce Cunningham auf einem Plakat der Cunningham Dance Foundation, 1981

Quelle: © Cunningham Dance Foundation

In meinem Beitrag möchte ich verschiedene Formen und Funktionsweisen des Medieneinsatzes auf der zeitgenössischen Tanzbühne analysieren, die ich in drei Kategorien unterteile: Projektion, Extension und Interaktion.3 Als theoretischen Bezugsrahmen der Intermedialitätsforschung lässt sich der Begriff der »Medienkombination«, wie ihn Irina Rajewsky formuliert, anwenden: Tanz und Film beziehungsweise Video werden auf der Bühne kombiniert, beide Elemente tragen als distinkt wahrnehmbare Elemente, die in ihrer Materialität präsent sind, auf 3

Vortrag und Aufsatz basieren auf einem 2007 publizierten Artikel (vgl. Rosiny 2007). Das Thema habe ich in einer Monografie zu Tanz und Film nochmals mit Arbeiten von Alwin Nikolais unter dem Kapiteltitel »Videoeinsatz im jüngeren Bühnentanz« bearbeitet und erweitert (vgl. Rosiny 2013).

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ihre jeweils eigene Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts bei (vgl. Rajewsky 2002, 15).4 »Die Spannbreite dieser Kategorie verläuft von einer bloßen Kontiguität, einem Nebeneinander, bis hin zu einem weitestgehend ›genuinen‹ Zusammenspiel der Medien, bei dem – idealerweise – keines von beiden privilegiert wird.« (Ebd., 15) Basismaterial meines Beitrags5 und meiner Analyse bilden Werke von Wim Vandekeybus, Frédéric Flamand und Montalvo/Hervieu, deren Produktionen an den Berner Tanztagen gezeigt wurden.6 Die Besprechung der Werke, Live von Hans van Manen und Dance von Lucinda Childs, beide von 1979, stehen stellvertretend für frühe Werke, ein Beispiel von Philippe Decouflé bildet das Ende meines Beitrags.

H ISTORISCHER R ÜCKBLICK – C HILDS ‘ D ANCE M ANENS ‘ L IVE

UND VAN

Lucinda Childs zählt zur Gründerin des Judson Dance Theaters. 1973 startete sie ihre eigene Lucinda Childs Dance Company. 1976 war sie mit Robert Wilson und Philip Glass an der viel beachteten Oper Einstein on the Beach als Choreografin und Solistin beteiligt.7 Danach entstand die Idee mit dem Komponisten Steve Reich, eine Choreografie zu realisieren. Reich vermittelte den Konzeptkünstler Sol LeWitt und Childs entwickelte mit ihm ein Bühnenkonzept mit Filmprojektion. Der Film wurde damals im 35mm-Format gedreht. Dance wurde 2009, dreißig Jahre nach seiner Uraufführung, wieder aufgenommen und tourte

4

Auf die Diskussion des Medienbegriffs möchte ich hier nicht näher eingehen, allerdings festhalten, dass dieser in der Forschung sehr unterschiedlich definiert und gebraucht wird. In der Bestimmung der Medienkombination von Rajewsky bedeutet dies, dass der Tanz und Film oder Video auf der Tanzbühne als Einzelmedien im Sinne von eigenen Kommunikationsdispositiven angesehen werden. Vgl. Rajewsky 2002,7.

5

Mein Beitrag basiert auf einem Vortrag, den ich am 13.01.2012 im Rahmen der Tagung »Frequenzdialoge. Zum Medieneinsatz in Tanz und Medienkunst« im tanzhaus nrw gehalten habe. Das Thema habe ich außerdem in meiner Publikation »Tanz Film« behandelt. Vgl. Rosiny 2013, 95-141.

6

Von 1991 bis 2007 war ich mitverantwortlich für das Programm dieses Festivals für zeitgenössischen Tanz.

7

Einstein on the Beach wurde 2012 wiederaufgenommen.

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als ›Klassiker der Avantgarde‹ erfolgreich durch die USA und Europa.8 Glass’ Kompositionsstil mit kurzen, repetitiven, rhythmisch präzisen Phrasen spiegelt sich in Childs Tanzstil wider, der auch als Minimal Dance bezeichnet wird. Abbildung 2: Lucinda Childs, Dance, 1979/2009

Quelle: Filmstill

Die Tänzer der Schwarz-Weiß-Bilder wirken wie geisterhafte Doubles (Abb. 2). Anstelle einer reinen Projektion als Kulisse werden die Filmsequenzen in die fünf 20-minütigen Teile (der Choreografie und Musikkomposition) wiederholt eingespielt und die Formate der Projektionen auf dem Gazevorhang am Bühnenrand wechseln – mal scheinen die filmischen Figuren oberhalb der Bühne zu schweben, mal rechts, mal links und in einigen Sequenzen verschmelzen sie ob des durchsichtigen Vorhangs mit den realen Bühnentänzern. So erlebt die Choreografie, die schon als Phrasenverschiebung zur Musik gestaltet wurde, eine weitere Verschiebung und Verdoppelung, eine weitere Ebene der Synchronisation, die mehr ist als eine bewegte projizierte Bühnenkulisse – repräsentierte Körper im Film und präsentierte Körper auf der Bühne treten in einen Dialog, in ein Spiel von Verschiebungen. Ebenfalls eine Großprojektion bildet den zentralen Teil der Choreografie Live von Hans van Manen. Van Manen schuf dieses intime Werk, das den Untertitel Ein Videoballett trägt, im Rahmen des Holland-Festivals für den riesigen 8

2009 produzierte der deutsch-französische Kultursender arte eine Dokumentation von Patrick Bensard über Lucinda Childs, in der auch der Probenprozess einer Wiederaufnahme von Dance vorkommt.

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Raum des Amsterdamer Winterzirkus Carré.9 Den Titel Live wählte er bewusst als Fernsehterminus, um die Gleichzeitigkeit von Aufzeichnung und Aussendung auszudrücken – die Aufnahmen des Kameramanns Henk van Dijk, der sich im Dialog mit der Tänzerin Coleen Davis bewegt, sind als Verdoppelung des LiveTanzes sichtbar. Auffallend ist die Gesamtstruktur des 26-minütigen Werks, das in verschiedene Teile und Formen des Medieneinsatzes gegliedert werden kann: Live beginnt mit dem Auftritt des Kameramanns, der mit seiner Handkamera Personen aus dem Publikum filmt. Erst nach dem Auftritt der Tänzerin nimmt Henk van Dijk diese ins Bild, folgt ihrem Solotanz und ermöglicht dem Publikum eine Doppelung: In der Totale des Bühnenraumes kann das Wechselspiel zwischen Kameramann und Tänzerin verfolgt und gleichzeitig die Visualisierung im Video angeschaut werden. Abbildung 3: Coleen Davis in Hans van Manen, Live, 1979

Quelle: Filmstill

9

Zur genaueren Analyse des Werks, auch unter Einbezug der 1986 vom niederländischen Fernsehen aufgezeichneten Fernsehfassung vgl. Rosiny 1988, 31f. und Rosiny 2013, 127ff. Vergleichbar mit Cunningham nutzte van Manen frühzeitig audiovisuelle Medien. Ab 1958 wurden seine Ballette vom Fernsehen aufgenommen und es entstanden schon in den 1960er Jahren Fernsehadaptionen, zum Beispiel Kain und Abel von 1961, welche die Eigenheiten des Mediums, insbesondere des kleinen Bildschirms berücksichtitgen. Zu Hans van Manen siehe Schmidt 1987, zu Live ebd., 90ff.

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Der Dialog zwischen Kameramann und Tänzerin schafft Intimität, das Publikum nimmt daran in fast voyeuristischer Perspektive teil. Coleen Davis wirkt vollkommen auf die Kamera bezogen, die Spiegel, konfrontatives Gegenüber und Tanzpartner zugleich ist. In weiteren Teilen der Choreografie werden Filmeinspielungen im Sinne einer zweiten Kategorie der Extension als Erweiterungen des Raumes eingesetzt: Ein Pas de deux der Tänzerin mit einem Partner findet im Foyer statt und wird ›live‹ ins Theater übertragen. Ebenso am Ende des Stücks, wenn die Tänzerin das Theater verlässt, sieht das Theaterpublikum nur noch Aufnahmen von ihr, wie sie ihren Mantel im Foyer anlegt und auf der Gracht entlang der Amstel entschwindet. Eine weitere Sequenz findet ebenfalls nur auf der Leinwand statt, ist aber wie in Dance vorproduziert – in der Form eines Flashbacks wird die Probe zum Pas de deux im Tanzstudio gezeigt. Live und Dance verdeutlichen verschiedene Formen und Funktionsweisen des Medieneinsatzes auf der Tanzbühne, auf die ich anhand von weiteren Beispielen eingehen möchte.

1. P ROJEKTION

BEI W IM V ANDEKEYBUS ‘ I MMER DASSELBE GELOGEN (1991)

Die erste Kategorie der Medienkombination auf der Tanzbühne sehe ich gleichsam als Grundkategorie der Verbindung: Projektionen – ob auf Monitoren oder auf Leinwänden oder anderen Materialien – bilden einen Gegenpart zum Tanz auf der Bühne. Aus den Relationen – den Funktionsweisen im Zusammenspiel, in Ergänzung, Kontrast oder Verschränkung – entstehen »(ästhetische) Brechungen« und eröffnen sich »neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens« (Müller 2002, 31f.). Einfache Formen der Projektion können als bewegtes Bühnenbild, als räumliche Erweiterung des Bühnenraumes fungieren. Nebst dem Bühnenraum öffnet sich durch den filmischen Raum ein ›Fenster zur Welt‹, ein Raum im Raum, eine Ergänzung zum Bühnengeschehen. Die Möglichkeiten andere Orte, Landschaften, Personen, Geschichten in den vorproduzierten audiovisuellen Dokumenten abzubilden, sind unendlich. Die Projektionen können dokumentarisch, fiktional oder experimentell sein. In Wim Vandekeybus Choreografie Immer dasselbe gelogen (1991) wird der für die belgische Compagnie Ultima Vez typische dynamische Bewegungsstil, der in sich schon fragmentarisch und durch abrupte Bewegungen des Springens und Fallens gekennzeichnet ist, durch Videoprojektionen unterbrochen. Die Filmausschnitte zeigen Carlo Verano, einen 89-jährigen Mann, den Vandekeybus 1990 zufällig am Hamburger Hafen traf, als er mit seiner Super-8-Kamera

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unterwegs war. Es sind dokumentarische Aufnahmen des Mannes zu Hause oder im Hafen, singend, tanzend, redend. Er spricht zum Kameramann Vandekeybus, der wie zufällig Bilder von Verano vergleichbar mit einem Homevideo einfängt. Die Bühnenchoreografie, deren Ausgangspunkt diese Begegnung und die Person Carlo Veranos war, erfährt durch die filmischen Dokumente eine Ergänzung und Erklärung. Obwohl mit den erzählenden Elementen, den Monologen von Verano, auch narrative Aspekte in die Choreografie hineinspielen, bleibt das gesamte Werk in seiner offenen Struktur eine Montage aus Bewegungen, Textund Bildfragmenten sowie kurzen Handlungen wie das Kochen oder Braten eines Eies oder das Absägen eines Stuhlbeins. Abbildung 4: Wim Vandekeybus und Carlo Verano in Wim Vandekeybus, Immer dasselbe gelogen, 1991 (Pressefoto)

Quelle: © Ultima Vez

Die Filmprojektionen haben keine dramaturgische Funktion im Sinne einer Erweiterung des Bühnengeschehens. Ein Jahr nach der Premiere produzierte Vandekeybus zusammen mit Walter Verdin den auf Immer dasselbe gelogen basierenden 50-minütigen Tanzfilm La Mentira. In diesem verdichten sich die Aufnahmen von Verano mit den tänzerischen Elementen. Vandekeybus hat einige weitere Choreografien geschaffen, in denen der Medieneinsatz eine Rolle spielt: Her Body Doesn’t Fit Her Soul (1992), Mountains Made of Barking (1994), Bereft of a Blissful Union (1996), In Spite of Wishing and Wanting (1999), »Inasmuch as Life is borrowed…« (2000), Blush (2002), Puur (2005), Spiegel (2006). In den Arbeiten nach Immer dasselbe gelogen wird der Medieneinsatz differen-

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zierter und komplexer. Die zweite Kategorie impliziert vor allem räumliche und zeitliche Erweiterungen in einer dramaturgischen Funktion zum Bühnengeschehen. Die Grenzziehung zwischen Projektion und Extension ist meines Erachtens allerdings eine graduelle.

2. E XTENSION IN

DREI

W ERKEN VON F RÉDÉRIC F LAMAND

Frédéric Flamand setzt in Moving Target (1996) wiederholt eine Projektion ein: eine Leinwand senkt sich von der Decke räumlich vor die Bühnensituation, die wie in Immer dasselbe gelogen in dieser Zeit dunkel ist. Der Fokus des Publikums kann sich also ausschließlich auf die Projektion konzentrieren. Eingespielt werden fünf ein- bis zweiminütige Werbeclips, in denen für Pille, Pflaster, Tropfen, Nasenspray oder Spritze geworben wird. Die Clips werden wie ›Unterbrecherwerbungen‹ im Fernsehen eingesetzt. Mit Namen wie GenderAll, ConfiDerm oder LibidoPhren der fiktiven Firma Normal wirken sie als Teil des Konzepts der Kontraste und Konfusionen wie eine kommentierende und ironisierende Ebene. Ausgehend von Nijinskys unzensierten Tagebüchern thematisiert Flamand Gegensätzlichkeiten zwischen Verwirrtheit und Visionen, spürt Widersprüche und Möglichkeiten unserer Gesellschaft auf. Angesichts des Themas scheint der Einsatz eines riesigen Spiegels, der im 45°-Winkel über der Bühne hängt, schlüssig (Abb. 5). Dieser unterbricht den Bühnenraum in einer anderen Weise als die Leinwand, da er durch die Neigung eine zweite Abbildungsebene und einen anderen räumlichen Blickwinkel auf die tanzenden Körper ermöglicht. Bildprojektionen implizieren die kulturellen Bedingungen veränderter Wahrnehmung, markieren den Wandel im Bild-Denken und -Erleben durch den Einfluss der Medien, so Christoph Tholen in Die Zäsur der Medien (Tholen 2002, 15). Das Spiel mit dem Blick, dem Körper und dessen Spiegel- und Abbild drückt in allen Arbeiten Flamands auch seine Auseinandersetzung mit postmodernen Denkweisen aus: »Moving Target nutzt die Möglichkeiten der Rekonfiguration des Raumes und des Körpers der Postmoderne, des Privaten und des Öffentlichen, des Erlaubten und Verbotenen, des Normalen und des Pathologischen, der Vernunft und des Wahnsinns« (Baudet 1996, 47), so Flamand selbst zu seinem Werk. Er verwendet in vielen seiner Choreografien Medien, die er in Beziehung zu Tanz, Raum und Musik setzt. Wie Vandekeybus kein ausgebildeter Tänzer oder Choreograf gründete Flamand 1973 in Brüssel die multidisziplinäre Gruppe Plan K, erneuerte ab 1991 das Ballet Royal de Wallonie unter dem Namen Charleroi/Danses – Plan K und setzt seit 2004 seine multidisziplinäre Arbeitsweise als Direktor des Ballet National Marseille fort.

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Abbildung 5: Frédéric Flamand, Moving Target, aufgeführt im Rahmen der Berner Tanztage, 1996

Quelle: Filmstill

Merkmal der zweiten Kategorie ist die Vervielfachung von Blickrichtungen und Perspektiven, die bei Flamand durch den Einsatz von Spiegeln eine weitere Dimension einer Aufsplitterung, Reizung und Irritation der räumlichen Wahrnehmung bewirken. In Ex Machina (1994) setzte Flamand zusammen mit dem italienischen Videokünstler und früheren Professor an der Kunsthochschule für Medien in Köln, Fabrizio Plessi, mittels Videoprojektionen und Computeranimationen ein durch Medien erweitertes räumliches Konzept um. Zu Beginn der Aufführung ersteht im Sinne eines Establishing Shots die Raumsituation eines Schwimmbads auf einer riesigen, im Hintergrund der Bühne angebrachten Leinwand mittels einer Computeranimation (Abb. 6) – die Uraufführung fand in Charleroi in einem leer stehenden Schwimmbad statt. Für die Tournee der Aufführung wurde ein diesem Raum nachempfundener aufwendiger realer Bühnenraum entwickelt, der durch die an der Kunsthochschule für Medien in Köln konzipierten elektronischen Szenografien virtuell erweitert wurde. Im Verlauf der 16 mit Titeln versehenen Szenen des Stücks werden Raumausdehnungen sichtbar: ein Flugzeug startet in Großaufnahme auf einer oberen Leinwand, während auf einer unteren Ebene die Abflugzeiten wie in einer Flughafenwartehalle auf einer Anzeigentafel gezeigt werden. Nebst diesen großflächigen Projektionen drehen sich in einer Szene die Tänzer mit kleinen, vor den Körpern wie Prothesen montierten Monitoren. In einer anderen zeigen Fernsehmonitore in der typischen wie schon bei Cunningham oder van Manen erwähnten Live-Verdoppelung Nahaufnahmen von Füßen, die einem Tänzer, der

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auf der unteren Ebene des Schwimmbads agiert, zugeordnet werden können, während gleichzeitig eine Reihe von Tänzern auf einer erhöhten Raumebene in Umkleidekabinen, in denen sich jeweils ein Monitor befindet, ebenfalls in roten Schuhen sitzend ihre Beine bewegen. Abbildung 6: Frédéric Flamand, Ex Machina, aufgeführt im Rahmen der Berner Tanztage, 1994

Quelle: Filmstill

Die Verdoppelung fungiert wie ein weiteres visuelles Angebot und eine Irritation für den Blick des Zuschauers. Flamand setzt die Flut der Bilder bewusst dem tanzenden Körper entgegen. Mensch und Maschine werden durch die Inszenierung von Brüchen zueinander in Beziehung gesetzt – durch eine »ReDramatisierung der Schnittstelle« wird ein »Zeit-Raum« (Zielinski 1994) des Dazwischen erfahrbar, so Siegfried Zielinski im Programmheft. Ein drittes Werk von Flamand, La cité radieuse (2005), spielt mit mobilen ›Leinwänden‹, eigentlich metallenen Wänden, auf die projiziert wird, mit denen aber auch multiple Raumsituationen des Erscheinens und Verschwindens geschaffen werden. Nach der Trilogie zum Thema Körper und Maschine, zu denen Ex machina zählte, war La cité radieuse wiederum ein dritter Teil zum Thema Körper und Stadt. Die Möglichkeiten medialer Erweiterungen auf der Tanzbühne sind vielfältig und erheben mit den angeführten Beispielen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine in einer zeitlichen Extension analysierbare Funktionsweise möchte ich dennoch in dieser Kategorie anfügen und mich dabei auf die bereits beschriebene Choreografie Live beziehen: Filmeinspielungen können als Bestandteile der

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Choreografie als Prolog, Intermezzo, Rückblende oder Epilog eingesetzt werden. Der Rückblick auf die Probensituation oder die Szenen im Foyer und auf der Gracht in Live funktioniert als zeitlicher Einschub und räumliche Erweiterung der Bühnensituation. Wenn Projektionen als dramaturgische Erweiterungen gleichwertig zwischen getanzten Szenen gesetzt werden, entsteht eine intermediale Montage aus der Kombination von Tanz und Film, die zusammen das narrative Angebot produziert.

3. I NTERAKTION IN M ONTALVO /H ERVIEUS P ARADIS (1997) Die dritte Kategorie sehe ich als intensive Verwebung von Tanz und Medieneinsatz in einer zeitgleichen, wiederum dramaturgischen Intention der Interaktion, vergleichbar zum Konzept in Childs‘ Dance. Exemplarisch für diesen Medieneinsatz auf der zeitgenössischen Tanzbühne stehen die Choreografien von José Montalvo und Dominique Hervieu. Montalvo-Hervieu arbeiteten 1993 erstmals mit dem Videokünstler Michel Coste für Double Trouble zusammen, in dem Videobilder mit den physisch präsenten Körpern konfrontiert wurden. Weitere Arbeiten mit vergleichbarer Interaktion wie in Paradis waren Le jardin io io ito ito (1999) und Barbelle hereuse (2002). In Paradis (1997) mischen die beiden nicht nur verschiedene Tanzstile und Kulturen wie afrikanischen, klassischen Tanz und Breakdance mit Opernmusik von Vivaldi, sondern spielen noch einmal anders als van Manen in Live oder der bei Childs in Dance vorproduzierten Interaktion mit anwesenden und abgebildeten Personen. Der Dialog zwischen Bühne und Leinwand, auf der die Tänzerinnen und Tänzer, aber auch Großmütter, Kinder und Tiere abgebildet werden, das Wechsel- und Zusammenspiel auf und zwischen zwei Großprojektionen als Bühnenprospekt, eröffnet visuelle Überraschungen (Abb. 7). Die spielerische Kreuzung aus Realem und Fiktivem, aus klein und groß, rechts und links, Mensch und filmischem Double wirkt irritierend, unterhaltsam und komisch. Neu ist diese Variante des Medieneinsatzes nicht – das Entspringen aus der Leinwand charakterisierte eine Variante des Expanded Cinema, bei der eine Filmvorführung mit einer Bühnenaktion verbunden wurde, beispielsweise schon im Ballett Relâche von 1924, als am Ende des eingespielten Films Entr'acte von René Clair der Dirigent sozusagen aus der Leinwand springt, um auf der Bühne zu dirigieren (vgl. Scheugl/Schmidt 1974, 257).

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Abbildung 7: Montalvo-Hervieu, Paradis, aufgeführt im Rahmen der Berner Tanztage, 1997

Quelle: Filmstill

Dieses Prinzip des Verschwindens und Auftauchens aus der Leinwand beziehungsweise von hinter der mit Schlitzen versehenen Leinwand sowohl auf der Ebene einer realen als auch einer abgefilmten Leinwand ist das Grundprinzip der Interaktion in Paradis. Montalvo drückt diese Verschmelzung von Tanz und Medien mit dem Terminus »spectacle audiovisuel dansé« (Montalvo, o.J.) aus.10 Die Überraschungsmomente resultieren aus der Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Abbild, aus multiplen Bildmanipulationen wie Verdoppelungen und Vervielfachungen der Bilder und Abbilder, sie werden sichtbar an den Übergängen, den Schnittstellen des Intermedialen: Durch die Kreuzung der Mittel eröffnen sich neue Sehweisen, die unsere Wahrnehmung, Imagination und Reflexion stimulieren. Im Sinne der Verschränkung und Gleichberechtigung der Mittel entsteht in der Interaktion das von Müller geforderte »konzeptionelle Miteinander […], dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen« (Müller 1996, 83) oder das von Rajewsky formulierte »›genuine‹ Zusammenspiel der Medien« (Rajewsky 2002, 15). In Paradis geschieht dies aufgrund einer räumlich und zeitlich präzise choreografierten Interaktion zwischen Bühne und Leinwand. Zum Ende der temporeichen Szenenreihung, die immer wieder mit neuen Varianten wie beispielsweise dem Einsatz eines Zeitraffers auf der Projektion überrascht, werden nicht nur große 10 http://www.montalvo-hervieu.com/creations/paradis.html (Stand 17.07.2012). Die Website exisitiert nicht mehr, da die Compagnie aufgelöst wurde.

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Schatten auf die Leinwände projiziert, sondern plötzlich sind auch riesige Schatten von im Vordergrund sich bewegenden Tänzern auf den weißen Leinwänden sichtbar. Interaktion bedeutet nicht per se ein komplexes Gebilde. Sie kann wie in Paradis auf einfachsten Effekten von Licht und Schatten, Körper und Abbild beruhen.

P HILIPPE D ECOUFLÉ : S OLO (2003) Zum Abschluss meiner kategoriellen Einteilung der Formen und Funktionsweisen des Medieneinsatzes im zeitgenössischen Tanz möchte ich das Beispiel Solo von Philippe Decouflé anfügen, das teilweise wie in Paradis mit den Grundelementen des Films, Licht und Schatten, dem Dialog zwischen Person und Bild spielt, aber auch wie Live oder die Beispiele von Frédéric Flamand LiveKameras und Projektionen einsetzt. Solo beginnt mit dem Auftritt von Decouflé, der sein Solo an einem Ständermikrofon ankündigt – ein Solo sei ein Stück, in dem nur eine Person auf der Bühne agiere. Allerdings wird das Mikrofon von einem Assistenten gehalten und Decouflé fordert diesen auf, die Bühne zu verlassen. Ohne Assistenz wäre das weitere Stück aber gar nicht realisierbar – schon die Einführung spielt mit Widersprüchen, mit der physischen Präsenz des Entertainers, der weiß, wie Komik funktioniert, und technischen Spielereien, die verblüffen. Die erste Szene beginnt im Dunkeln mit einer Projektion auf eine kleine Leinwand, welche die Silhouette von zwei Händen zeigt. Diese wachsen zu Monsterköpfen, die einander anzugreifen scheinen. Erst durch eine langsame Beleuchtung hinter der Leinwand wird deutlich, dass die Projektion keine vorproduzierte Videoaufnahme ist, sondern eine Live-Wiedergabe einer kleinen Kamera, die vom Assistenten und Videomacher Olivier Simola justiert wurde. Solo spielt in Variationen mit den Elementen Schatten, vorproduzierten Aufnahmen, Live-Bildern, multiplen Bildmanipulationen, Doppel- und Mehrfachprojektionen. In einer Szene tanzt Decouflé in verbal geäußerter Reminiszenz an die Filme von Busby Berkeley der 1930er Jahre mit Klonen seiner selbst. Solo, das den Untertitel Le doute m'habite trägt, entstand zum 20-jährigen Jubiläum von Decouflés Compagnie DCA und wurde noch 2010 zum Beispiel im Rahmen von Temps d’images in Düsseldorf aufgeführt. Solo zeigt mittels Zitaten aus früheren Stücken oder mit dem eingespielten Videotanz Le P'tit bal von 1995 eine gängige Reflexivität des zeitgenössischen Tanzes. Auffallend ist Decouflés multimedialer Erfahrungsschatz: Er switcht zwischen bewusster Körperpräsenz, Schattenbildern und Videoprojektionen und erzeugt so eine choreo-

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grafische kaleidoskopartige Komplexität (Abb. 8), die Raum für individuelle Wahrnehmungsweisen eröffnet. Abbildung 8: Philippe Decouflé in Philippe Decouflé, Solo, 2003

Quelle: Filmstill

Medien auf der zeitgenössischen Tanzbühne, so könnte eine zusammenfassende These lauten, erlauben reflexive Formen und eine weitere Ebene der Fragmentarisierung. Neben medial inspirierten Bewegungskonzepten, die bereits durch Prinzipien der Unterbrechung und Montage gekennzeichnet sind, werden audiovisuelle Medien in ein Gesamtkonzept einer aus Einzelteilen zusammengesetzten Choreografie platziert. Die Möglichkeiten sind durch die verschiedenen Medien und Projektionsarten, Film-, Video- oder digitaler Technik, auf Monitoren, Leinwänden, Gazevorhängen, Körpern oder Bühnenelementen und Requisiten vielfältig, vielleicht auch noch differenzierter als in die vorgeschlagenen Kategorien der Projektion, Extension und Interaktion einteilbar. Die Funktionsweisen resultieren aus dem jeweiligen konzeptionellen Verhältnis beziehungsweise Dialog zwischen körperlicher Präsentation und medialer Repräsentation. Die zusätzliche Dimension dieses Spiels zwischen Realität und Virtualität spiegelt die gesellschaftliche Bedingtheit unserer von Medien und (Schein-)Bildern geprägten Kultur wider. Insofern ist an solchen Phänomenen des Medieneinsatzes auf der Tanzbühne eine starke kulturelle Bedingtheit von aktueller, von der Medienentwicklung geprägten Kunstproduktion im zeitgenössischen Tanz ablesbar.

M EDIENEINSATZ

AUF DER

T ANZBÜHNE | 325

L ITERATUR BAUDET, Marie (1996): »Die letzte Zielscheibe von Frédéric Flamand«, in: Ballett international/Tanz aktuell, 4, S. 44-47. MEYER, Petra Maria (2001): Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung. Düsseldorf: Parerga. MÜLLER, Jürgen E. (1996): Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster: Nodus. MÜLLER, Jürgen E. (2002): »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31-40. RAJEWSKY, Irina O. (2002): Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke. ROSINY, Claudia (1988): »Tanz und Video. Die schwierige Kooperation zweier Medien«, in: Tanzdrama Magazin, 5, S. 29-32. ROSINY, Claudia (1999): Videotanz. Panorama einer intermedialen Kunstform. Zürich: Chronos. ROSINY, Claudia (2007): »Projektion, Extension, Interaktion. Formen und Funktionsweisen des Medieneinsatzes«, in: Reto Clavadetscher/Claudia Rosiny (Hrsg.): Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld: transcript, S. 74-91. ROSINY, Claudia (2013): Tanz Film. Intermediale Beziehungen zwischen Mediengeschichte und moderner Tanzästhetik. Bielefeld: transcript. SCHEUGL, Hans/SCHMIDT, Ernst jr. (1974): Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Bd. 1 + 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp. SCHMIDT, Jochen (1987): Der Zeitgenosse als Klassiker. Über den holländischen Choreographen Hans van Manen. Köln/Seelze: Ballett-BühnenVerlag/Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung. SCHNEIDER, Irmela/THOMSEN, Christian W. (Hrsg.) (1997): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand. THOLEN, Georg Christoph (2002): Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt: Suhrkamp.

Bewegungen des Bleibens. Bildlichkeiten des Momenthaften im Tanz S USANNE F OELLMER

Ein Tänzer steht allein in einem scharf begrenzten Lichtspot auf der ansonsten dunklen Bühne. Während sein Körper ruhig am Platz verharrt, schleudert sein Kopf in schnellen, wiederholten Bewegungen von rechts nach links und zurück. Die Rasanz der Motionen lassen die Gesichtszüge des Darstellers allmählich verschwimmen und außer Form geraten: Das Auge scheint sich ins Ohr zu schieben, die Wangen verwackeln, der Mund verzerrt sich, die beständig wechselnden Perspektiven zwischen en face, Halbprofil und Profil zerspalten das Gesicht in einer temporären, janusköpfigen (De-)Formation. Zugleich entsteht mit fortdauernder Betrachtung des Tänzers der Eindruck, als verdichte sich das Gesicht in der Bewegung zu einem gleichsam konturlosen Tableau.1 Die Aktionen der Hände unterstützen diese Beobachtung. Kontrapunktisch zu den Bewegungen des Kopfes zeichnen sie Haltepunkte in den Körper-Umraum, tasten mit abgespreizten Fingern und in ruckartigen Wechseln den Bereich vor der Brust und um den Kopf herum ab, als suchten sie die Position des Körpers in seiner Kinesphäre zu markieren, sich nicht von der Stelle bewegend und doch an Ort und Stelle oszillierend. Das Solo des Tänzers Benoît Lachambre in Meg Stuarts Stück No Longer Readymade (1993) ist – und so klingt es in der kurzen Beschreibung bereits an – unter anderem von den Portraits des Künstlers Francis Bacon inspiriert, die die menschliche Physis in fluktuierenden Schlieren und Verwischungen tendenziell 1

Am Beispiel von Meg Stuarts Stück Visitors Only (2003) entwickelt Annamira Jochim die Bildlichkeit solcher Bewegungsphrasen mit dem Begriff der »ikonische[n] Simultaneität« (Jochim 2008, 190). Zur Unabgeschlossenheit jener Körperentwürfe im zeitgenössischen Tanz vgl. auch Foellmer 2009, 335ff.

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auflösen (Stuart n. Ploebst 1999, 21). Neben diesem direkten Bezug choreografischen Arbeitens mit Bildrepertoires der Kunstgeschichte zu operieren – und mithin auch dem möglichen Kunst-Gedächtnis des Publikums –, sind in diesem Beispiel außerdem besonders die Effekte der Verdichtung von Bewegung in temporäre Bilder ›am Platz‹ bemerkenswert. Körper im zeitgenössischen Tanz, so die These, gestalten und verwerfen sich in prozessualen Bildern zwischen Erscheinen und Verschwinden auf der Bühne ebenso wie im kulturellen Gedächtnis der darstellenden Künste.

1. B ILDER IM T ANZ Die Perspektive des Bildlichen im Tanz reibt sich zunächst mit der konventionellen Auffassung des Flüchtigen dieser Kunstform. Dabei ist das Primat des Vergänglichen, das sich als beständiger Bewegungsfluss zeigt, ein Charakteristikum, welches sich besonders mit den Wandlungen des Tanzes in der Moderne herausgehoben hat. Zeigt sich dieser in seinem Da-Sein über einen konstanten motilen Fluss,2 schreiben sich in den Bühnentanz der Postmoderne Zäsuren ein, wie Gabriele Brandstetter hervorhebt. Der »Topos des ›Stills‹« ist die Gegenfigur zur Permanenz des Bewegten, die diesen jedoch als konstituierende Bedingung benötigt (Brandstetter 2005, 66). Wie kann vor diesem Hintergrund nun das Verhältnis von Bewegen und Verharren im zeitgenössischen Tanz bestimmt werden? Viele Tanzproduktionen der letzten zwei Jahrzehnte weisen eine kritische Einstellung gegenüber dem Dynamismus der Moderne auf. Extreme Verlangsamungen der Bewegung werden zur gängigen Praxis und sind zum Beispiel in den Arbeiten Xavier Le Roys (Self unfinished, 1998) oder Myriam Gourfinks (Überengelheit, 1999) zu beobachten (Foellmer 2009, 119). André Lepecki spricht dem zeitgenössischen Tanz den Zug einer »slower ontology« (Lepecki 2006, 45) zu, eine »deflation of movement«, die sich dem Topos des Dynamischen als raumgreifender Entwurf kritisch entgegensetze. Kinetik verlagere sich nun etwa ins Innere des Körpers als Intensitäten und Mikrobewegungen, wie etwa im Stück Jérôme Bel (1995)

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So betont André Lepecki mit Peter Sloterdijk: »As the kinetic project of modernity becomes modernity’s ontology […] so the project of Western dance becomes more and more aligned with the production and display of a body and a subjectivity fit to perform this unstoppable motility.« (Lepecki 2006, 3) Noch in der Renaissance sei Bewegung als Element im Tanz eher sekundär behandelt worden, wie auch Mark Franko ausführe (ebd., 2f.).

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des gleichnamigen Choreografen zu beobachten sei (ebd., 57). Für die Arbeiten Meg Stuarts wiederum betont Annamira Jochim die »ikonische Dimension der Bewegung«, die sie etwa in der Arbeit Splayed Mind Out (1997) – eine Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Gary Hill – auffindet, in der sich Bildlichkeit unter anderem als Verlangsamung von Körperbewegung generiert (Jochim 2008, 70;213). Beweggrund für jene Praktiken des Retardierens ist oftmals eine Repräsentationskritik, die sich dem Spektakulären und Illustrativen in der darstellenden Kunst verweigert – ein Projekt, wie es bereits Yvonne Rainer in den 1960er Jahren in ihrem »NO«-Manifest formuliert hat (Rainer 1974, 51). Allerdings können sich gerade im Modus der Langsamkeit Körperbewegungen in temporäre Bilder verdichten, die bestimmte Tanzformierungen letztlich wieder (einem Autor) zuschreibbar werden lassen und Wiedererkennungseffekte erzeugen, so meine These. Es entstehen wiederholbare Patterns im zeitgenössischen Tanz, aus denen ›Stile‹ abgeleitet werden können, die gewissermaßen repräsentativ für zeitgenössische Tanzästhetiken werden (Foellmer 2009, 119). Bei jenen Bildern handelt es sich jedoch nicht um illustrative, figürliche Darstellungen – das zeigen besonders die metamorphen Körperformationen in Le Roys Self unfinished: Der Körper entwirft sich hier in unabgeschlossenen Faltungen, die kein Ende, keine Form finden, sondern sich nach kurzen Haltemomenten je wieder in neuen (De-)Figurationen entwerfen. Es entstehen Körperbilder des Metamorphen, die für den zeitgenössischen Tanz seit Ende der 1990er Jahre nahezu paradigmatische Effekte hervorbringen (Foellmer 2009, 138).3 Bildlichkeit ist hierbei als ein dynamisches Konzept zu verstehen, für das ich den Begriff des Situationsbildes vorschlagen möchte. In ihm verschränken sich die Aspekte von (fluktuierenden) Körperbildern und Bewegungsbildern (Deleuze‘scher Provenienz). Der prozessuale Begriff des Situationsbildes bezieht sich dabei zunächst auf ein Anhalten in der Zeit, als Momentaufnahme spezifischer Bewegungsmuster, die im zeitgenössischen Tanz wiederholt auftreten, sich rasch verflüchtigen oder aber auch tendenziell sedimentieren können. Im Situativen spannt sich zudem eine von der Phänomenologie inspirierte Sichtweise auf, die das Bild, in Anklang an die Rede von der »Situationsräumlichkeit« (Waldenfels

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Dies zeigen unter anderem mittlerweile zitathafte Verwendungen besonders markanter Szenen aus Le Roys Stück wie etwa in der Produktion New des Tanzkollektivs Lupita Pulpo (2011/13, Uferstudios Berlin).

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2000, 125f.),4 als dynamischen Entwurf deutet, der sich zwischen (körperlicher) Bildproduktion und Wahrnehmung abspielt. Situativität umsäumt darüber hinaus die historische Bedingtheit von Bewegungs- und Körperpatterns, die in einem je spezifischen Zeitraum der Rezeption unter Umständen noch als unlesbar (da beispielsweise metamorph) gelten, kurze Zeit später aber bereits in ein Symbolsystem zeitgenössischer Tanzpraktiken und -rezeptionen eingefügt werden können (Foellmer 2009, 121). Nachfolgend sollen unterschiedliche Bildentwürfe im zeitgenössischen Tanz untersucht und mit entsprechenden Theorien verbunden werden. Hierbei zeigen sich temporäre Bilder als kurze Momente eines Nachlebens, das sich zweifach entwirft: Als vergänglicher Haltepunkt im flüchtigen Bühnengeschehen – im Sinne metamorpher Konfigurationen beziehungsweise Verdichtungen von Bewegung ins Bild – sowie als Formierung des Bildes zwischen Realem und Imaginärem und dem verflechtenden Spiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit.

2. F LÜSSIGE B ILDER Als Xavier Le Roy im Jahr 1998 sein Stück Self unfinished präsentiert, sieht sich das Publikum mit einer bis dato ungewohnten Bewegungsästhetik konfrontiert. Besonders im Mittelteil der Aufführung faltet und verformt Le Roy seinen Körper in allmählichen Sukzessionen solcherart, dass er für Momente keinem humanoiden Wesen mehr zu gleichen scheint. Besonders durch das verborgene Gesicht, wodurch die Ansicht auf seinen auf den Schultern kopfunter aufsitzenden Rücken fokussiert ist, entstehen Assoziationen an das Tierreich, etwa an ein Huhn oder einen Frosch (Abb. 1). Mangels Anknüpfungspunkte an ein gewohntes Tanzrepertoire werden die durchlaufenen Metamorphosen als grotesk wahrgenommen, als unlesbare Formierungen, die zunächst keinem Referenzrahmen zugeordnet werden können und mithin als fremd erscheinen (Foellmer 2009, 78). Jedoch sind solche animalischen Zuschreibungen keineswegs zufällig gewählt. Gerade die Verknüpfung ungewohnter, nicht der menschlichen Anatomie ähnelnder Konfigurationen mit Metaphern aus dem Tierreich entsprechen einer kognitiven Reaktion, die das Unbekannte mit Bildern aus anderen Formenkreisen zu bannen und zu begreifen sucht. Das Froschartige, Amphibische generiert sich als temporäres Bild, das als

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Waldenfels artikuliert mit diesem von Maurice Merleau-Ponty im Rahmen seines Körperschemas entlehnten Begriff ein Bewegungsprinzip, das den Leib als »Ort« umfasst, von dem aus etwas getan wird (Waldenfels 2000, 115).

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Platzhalter das Ungewohnte in einen Verständnisrahmen einsäumen soll, im Raum zwischen unnennbarem Außen und symbolischen Ordnungen (Foellmer 2009, 120;375f.). Abbildung 1: Xavier Le Roy, Self unfinished, 1998

Quelle: © Armin Linke

Ist Le Roy nun an einer möglichst repräsentationsfreien Form der Darstellung gelegen, kann er offenbar jene rezeptiven Reaktionen, die sogleich Bilder aus kollektiv memorierten Vergleichssystemen heranziehen, kaum vermeiden. Es scheint sich um einen nahezu perzeptiven Automatismus zu handeln, wie auch Hans Belting konstatiert. Seiner Auffassung nach ist das Herstellen von Bildern eine anthropologische Grundbedingung: Der Mensch ist »ein lebendes Organ für Bilder« (Belting 2001, 57). Dabei stelle der Körper sowohl einen Produktionsals auch Speicherort für visuelle Formierungen dar. Neue, ungewohnte Bilder würden mit vorhandenen abgeglichen und ergänzt, sodass Erinnerung gleichsam ein aktives Museum von nachlebenden und aktualisierten Bildern darstelle (ebd., 58f.): »Unsere Körper besitzen die […] Kompetenz, Orte und Dinge, die ihnen in der Zeit entgleiten, in Bilder zu verwandeln und in Bildern festzuhalten, die wir im Gedächtnis speichern und durch Erinnerung aktivieren. Mit Bildern wehren wir uns gegen die Flucht der Zeit und den Verlust des Raumes, den wir in unseren Körpern erleiden. Die verlorenen Orte besetzen als Bilder unser körperliches Gedächtnis […], als einen Ort im übertragenen Sinne. Hier gewinnen sie eine Präsenz, die sich von ihrer einstigen Präsenz in der Welt unterscheidet und keiner neuen Erfahrung bedarf. In dieser Übersetzung repräsentieren sie die Welt durch die Verkörperung, die sie als Bilder in unserem Gedächtnis besitzen. Der Tausch zwischen Erfahrung und Erinnerung ist ein Tausch zwischen Welt und Bild.« (ebd., 65f.)

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Findet hier also ein Übergang von einer phänomenologischen in eine symbolische anthropologische Perspektive statt, so ist der Körper (immer noch) zentraler Ort der Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung von Welt. Als Bild-Organ nimmt er Körperbilder5 folglich nicht nur als passiven Abdruck entgegen, sondern gestaltet diese intentional als Bilder-Körper mit. Dabei zeigt allerdings das Beispiel von Le Roy, dass assoziative Erinnerung nicht nur durch räumliche Verortung geschieht, wie Belting mit Pierre Nora betont (ebd., 66), sondern sich gerade im Moment der Körperbewegung und ihrer Veränderung entwirft. Bewegung ist hierbei dreifach zu verstehen: Zunächst als körperliche Motion, als (präsentes) Geschehen in Raum und Zeit, so auf der Bühne. Sodann als sinnliches Nachschwingen in Form von Bildern, welche die Wahrnehmung produziert und die mit dem körpereigenen Bildgedächtnis abgeglichen werden und schließlich: die dritte Bewegung, die Bilder aus dem persönlichen wie kollektiven Erinnerungsspeichern herauslöst und aktualisiert. Es entstehen solcherart Bewegunsgmaterialien, die sich in den Zwischenräumen von (tanzender) Körperbewegung, ihrer Wahrnehmung und dem damit konnektierten Bildgedächtnis ereignen. Jene Materialien generieren sich oftmals bereits im Entstehungsprozess von Tanzstücken selbst, in denen beispielsweise Bildquellen im Probenprozess benutzt werden. Für Le Roys Self unfinished war die visuelle Recherche ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit: Der bildende Künstler Laurent Goldring (Paris) fotografierte unterschiedliche, während der Proben entstandene Bewegungsphrasen – Aufnahmen, mit denen Le Roy anschließend sein Stück weiterentwickelte. Ausgelöst durch solche Verfahren ereignen sich offenbar markante Augenblicke im Zuge der Aufführung, flüchtig pointierte Bildlichkeiten, die gleichsam ins Auge springen und das wahrnehmende ›Fest-Halten‹ des Geschehens in Bildern befördern. Dabei sind diese Bild-Momente auf der Bühne selbst transitorische Ereignisse: Wie in Self unfinished verschwinden sie rasch, wenn Le Roys Körper sich schon im nächsten Zustand der ›Mutation‹ befindet. Trotz ihres metamorphen Gehalts verdichten sich diese temporären Bilder gleichwohl in Repertoires des zeitgenössischen Tanzes, sie bleiben im Gedächtnis haften und finden ihren Niederschlag in bebilderten Rezensionen oder in nachfolgenden Projekten ande-

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Den Begriff des Körperbildes verstehe ich hier als einen doppelten, der sich zwischen Image und Imagination entfaltet: Er folgt der psychoanalytischen Auffassung von Idealbild und zerstückeltem Körper Jacques Lacans (Lacan 1975) sowie der Idee der Pathosformeln als kollektiver Bildspeicher ästhetischer Erfahrungen, wie sie Aby Warburg entwickelt (Warburg 2000). Vgl. Foellmer 2009, 122ff.

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rer Künstler.6 Diese Wieder-Holungen unabgeschlossener Körpertransformationen materialisieren sich folglich in einem Inventar aus oszillierenden Mustern, das zur Identifizierung bestimmter Strategien im zeitgenössischen Tanz beiträgt (Foellmer 2009, 119): Es sind Bewegungen des Bleibens, die Stilbildungen des ›Nichtrepräsentativen‹ lancieren. Eine Frage bleibt dabei allerdings noch offen, nämlich jene, wie Bildlichkeit im Tanz, in der Bewegung genauer zu bestimmen ist. Folgt man der Auffassung Beltings, so sind Bilder immer an wiedererkennbare visuelle Strukturen, an Merkmale bekannter Formierungen gebunden. Was geschieht aber, wenn das Dargestellte auf der Bühne – etwa den metamorphen Praktiken Le Roy‘scher Provenienz folgend – keine erkennbaren Musterungen mehr erzeugt? Ist das Wahrgenommene dann noch als Bild zu behaupten? Eine Gestalt in einem übergroßen Hemd und einer ebensolchen Hose erscheint auf der Szenerie: weißer Boden, weiße Wandbegrenzung, die nach rechts hin offen ist und die rohe Seitenbühne der Berliner Sophiensaele erkennen lässt. In der folgenden Stunde der Aufführung Unturtled (2009) durchwandert der Körper der Berliner Choreografin Isabelle Schad verschiedenste Metamorphosen, die, ähnlich wie in Le Roys Self unfinished, vom aufrechten Stand hin zum Boden verlaufen. Dabei scheint die Kleidung eine Art Eigenleben zu entwickeln. Die Bluse plustert, bläht und wölbt sich, als befänden sich darunter mindestens zwei Akteure, die den Stoff in Wallung bringen. Zuweilen erscheint das Gesicht Schads im offenen Ausschnitt des Hemdes, während die Gliedmaßen Bewegungen vollziehen, die sich einer anatomischen Ausrichtung der Gelenke und ihren Bewegungsmöglichkeiten nicht mehr recht zuordnen lassen. Zunehmend wirkt es, als entfalte das Hemd eine Art motiles Eigenleben, besonders da die Arme der Darstellerin nicht in den Ärmeln stecken, sondern darunter in undeutbaren Bewegungen verborgen bleiben. Sind dem stofflichen Ensemble durch die Markierung des Gesichts der Protagonistin noch Reste einer anthropomorphen Struktur zuzuordnen, so verwischen solche Zuschreibungen im letzten Drittel der Aufführung.7 Sich des Hemdes entledigend, verschwindet Isabelle Schad plötzlich in den Weiten der großen schwarzen, dehnbaren Hose. Nur noch die Beine sind erkennbar sowie ab und zu Teile des nackten Rumpfes. In langsamen mäandernden Bewegungen lösen sich auch in dieser Konstellation anatomische Zuschreibungen schnell auf, Anthropozentrisches geht verloren, ist doch der Kopf der

6 7

Vgl. Anmerkung 3. Zu den temporären Entkopplungen von Subjekt und objekthafter Bewegung sowie zur kritischen Bildlichkeit in Unturtled vgl. außerdem Foellmer 2012, 618-624.

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Darstellerin nun komplett verborgen. Gleich einer in den Raum hinein dynamisierten Skulptur durchläuft Schads Körper Transformationen, die der Rezeption kaum noch erkennbare Strukturen anbieten. Zweibeiner, Dreibeiner mit einem Arm, der wie ein zu dünn geratenes Bein aussieht, Figur ohne Torso, schwarze, kugelige Form, aus der ein nacktes Bein wie unzugehörig herausragt (Abb. 2) – am naheliegendsten sind noch Bildrepertoire aus teratologischen Katalogen, die zum Beispiel David Williams in seinen Untersuchungen über das Monströse im Mittelalter untersucht hat: Gliederwesen ohne Kopf zum Beispiel, die erstmals in der Naturalis historia (79 n. Chr.) von Plinius dem Älteren erwähnt werden (Williams 1996, 135;347) und damit für das Andere, sich am Rande der Welt befindende stehen, das in seinem außer-ordentlichen Status wiederum das Denken symbolischer Strukturen als Gegenfolie ermöglicht (Foellmer 2009, 143). Abbildung 2: Isabelle Schad in Laurent Goldring, Untitled, 2009

Quelle: © Laurent Goldring, Videostill

Anders als in Self unfinished lassen sich die beständigen Wandlungen der Darstellerin in Unturtled jedoch nicht einmal mehr mit tierhaften Erscheinungen besetzen: Zu sehr entgleitet das Geschehen symbolisierbaren Figurationen, besonders wenn Schad an einer Stelle nur noch einem schwarzen Klumpen gleich am Boden kauert. Und doch, so die These, handelt es sich hier um Körperbilder des zeitgenössischen Tanzes. In welcher Weise sind sie charakterisiert und wie las-

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sen sie sich im Feld der aktuellen Diskurse in den darstellenden Künsten und deren Weiterentwicklungen denken? Isabelle Schads künstlerische Arbeit ist wie die einiger anderer zeitgenössischer Choreografen unter anderem von der kritischen Theorie Guy Debords inspiriert.8 Seine Absage an eine »Gesellschaft des Spektakels«, die mit illusionären Bildern aus Vorstellungswelten – gespeist aus Popkultur und Massenkonsum – operiert (Debord 1996, 13ff.;49), sind Anlass, den Modus der Repräsentation auf der Bühne zu reflektieren. Dies ist nun nicht unbedingt eine der Errungenschaften des zeitgenössischen Tanzes. In ›Nachbarschaft‹ zu den Zielsetzungen der Minimal Art waren bereits die Aktionen der Protagonisten der New Yorker Judson Church in den 1960er Jahren eingebettet in die Ästhetik der Konzeptkunst, in deren Projekten der Fokus auf die Wahrnehmung von Zeit, Raum und Material das Primat inszenierter Repräsentation ablöste, wie die Aufführungen Yvonne Rainers zeigen (Goldberg 2001, 152f.). Zeitgenössische Choreografen docken an diese Auffassungen an, in dem sie wie Jérôme Bel die Bühne als Produktionsstätte theatraler Zeichen radikal befragen oder wie Xavier Le Roy den Körper als Material und damit das Wie der Bewegung unter das Mikroskop aktueller Tanzexperimente legen. Wird dabei zunächst das Produzieren von Bildern strikt vermieden, so haben jedoch die zuvor erwähnten Produktionsbedingungen bereits gezeigt, dass dies nicht ohne nachträgliche visuelle Reflexion auf das körperliche Tun in der Probe geschieht. Isabelle Schad entwirft ihre Arbeit in einer paradoxen Wende, indem sie zunächst den retrospektiven Abgleich des sich bewegenden Körpers etwa über Video in der Probe konsequent verwirft und sich der Praxis des Body-Mind Centerings (BMC) zuwendet, die auf eine äußere Betrachtung des Körpers gänzlich verzichtet. Dabei handelt es sich um eine somatisches Praxis, die gewöhnlich nicht als darstellende (Vor-)Arbeit für die Bühne in Erscheinung tritt, sondern Bewegungen aus dem Körperinneren heraus generiert und sich an imaginären Bildern orientiert, die beispielsweise dem Fluss der Lymphe im Körper oder dem Verlauf der Knochen folgen und entsprechende Spezifika in der Bewegung verursachen.9 BMC ist mithin dem visuellen Primat wie zum Beispiel jenem des

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Ich beziehe diese Information aus meiner Arbeit als Dramaturgin mit Isabelle Schad (2002-2003).

9

Entwickelt durch Bonnie Bainbridge Cohen ist mit dem Body-Mind Centering die Vorstellung eines ganzheitlichen Konzeptes verbunden, das den Körper nicht nur als mechanisches Bewegungsinstrument (besonders über Arme und Beine) versteht, sondern gesellschaftliche Bedingungen, persönliche Biografie und Verhaltens- sowie

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Balletts und dessen Bewegungsgenerierung über äußere Bilder entgegengesetzt, ebenso seinen räumlichen Anordnungen und der Formung der Körpersilhouette, die beständig im Spiegel überprüft und korrigiert wird. Nicht zuletzt deshalb erscheint BMC seit einigen Jahren als Gegenentwurf zum repräsentativen Charakter solcher Tanzformen auf zeitgenössischen Tanzbühnen in Europa, so etwa in den Projekten des in Berlin lebenden Choreografen Frédéric Gies.10 Wie sich oben bereits andeutet, ist BMC aber keine gänzlich bildlose Praxis. Sie fungiert über sogenannte innere Bilder – die Imagination etwa der knöchernen Struktur des Skeletts oder des Fluss’ des Blutkreislaufs –, die je nach Organsystem unterschiedliche Bewegungsqualitäten erzeugen. Tragen diese Imaginationen bereits zu einer Bildhaftigkeit des Körpers bei, in der das Innere nach außen gewendet wird und buchstäbliche Körperbilder des Fluiden generiert werden, so säumt Schad ihr Tun aber noch auf eine zweite, gegenläufige Weise ein, indem sie mit dem Künstler Laurent Goldring kooperiert. Anders als in Le Roys Projekten ist Goldring nicht bloßer Vorbereiter einer durch Proben-Fotografien festgehaltenen Bildästhetik des Metamorphen, die dann tänzerisch weiterentwickelt wird – wiewohl seine Ansätze einer transfigürlichen Körperlichkeit auch in Schads Projekt wiedererkennbar sind –, der Fotograf gerät hier gleichsam zum Bildcontainer über die Jahre hinweg. Schad und Goldring arbeiten jedoch dauerhafter, bis zur und noch während der Aufführung zusammen. Richtet die Choreografin und Tänzerin den Blick nun ausschließlich nach innen, so verbleibt Goldring buchstäblich auf der entgegengesetzten Seite. Sein Blick ist ein medialer: Lediglich durch den Ausschnitt des Monitors einer Videokamera beobachtet Goldring das probende Tun Schads. Was folgt, ist ein verbaler Austausch nach (und zuweilen in) den jeweiligen Proben, wobei das Imaginierte und das daraus folgende Bewegungsangebot der Tänzerin mit dem von außen Gesehenen des Kameraoperateurs verhandelt und weiterentwickelt wird.11 Tänzerische und bildkünstlerische Geste fusionieren hier und dies wird auch in der Wahl des Settings deutlich: Gleicht doch die weiß getünchte Anordnung mit der seitlich offen gelassenen Wand einem Zwitter aus Galerie und Bühne. Es entstehen mithin (De-)Figurationen eines metamorphen Körpers, die das Bild als Basismedium der Repräsentation nicht verneinen, sondern gezielt in die choreografische, theat-

Bewegungsmuster mit einbezieht, um eine insgesamt bessere Ausrichtung (alignment) des Körpers zu erreichen (vgl. Sieben 2004, 37). 10 So beispielsweise in seinem Projekt Dance (Praticable) (2006-2008). 11 Publikumsgespräch mit Isabelle Schad und Laurent Goldring, 5. Juni 2009, Sophiensaele Berlin. Vgl. hierzu auch Foellmer 2012, 616ff.

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rale Praxis einbeziehen.12 Womit aber sind sich diese Bilder ähnlich und wie lassen sie sich in ihrer temporären Unerkennbarkeit als bildhaft bestimmen? Laut Walter Benjamin ist das »Jetzt der Erkennbarkeit« im Gewahrwerden eines Bildes – zu ergänzen wäre: oder eines bildhaften Augenblicks –, als strikt historisch situiert zu verstehen: »Der historische Index der Bilder sagt […] nicht nur, dass sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. […] [J]edes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen.« (Benjamin 1982, 577f.) Dabei geht es im Moment des Erkennens nicht um eine lineare Konstellation, in der sich das Vergangene im gegenwärtigen Moment der Bildwahrnehmung aktualisiert, wie Benjamin betont. Vielmehr wird das »Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft« konfrontiert, ein Ereignis, das Benjamin als »Dialektik des Stillstands« (ebd., 578) bezeichnet. Das Bild bildet folglich ein zeitliches Kondensat und regt einen Augenblick, einen kurzen Halte-Punkt des Erkennens an, der Momente des Wiedergängertums erzeugt, die sich nicht mehr ausschließlich über erkennbare visuelle Muster bestimmen, sondern auch kognitive und emotionale Erfahrungskomplexe in einem kurzen zeitlichen Rahmen verdichten.13 Benjamins Gedanken zum Bild aufgreifend, kann hier nun mit dem Postulat der Historizität des Erkennens gesagt werden, dass sich Schads und Goldrings Arbeit in einem dialektischen Spannungsverhältnis entwirft, das zwischen Bild und Nicht-Bild schwankt. Als dialektisch im Sinne der Benjamin‘schen Geschichtlichkeit werden Schads Körpermetamorphosen zu Bildern, die mit Patterns des zeitgenössischen Tanzes zusammenfallen, wie Le Roy sie geprägt hat.14 Zur Deckungsgleichheit kommen die Bilder allerdings nicht, bietet doch Schad, anders als Le Roy, einen Körper an, der sich in (noch) unlesbaren Konfigurationen formiert und wandelt und das Dargestellte in ein temporäres Außerhalb theatraler oder tanz-bildlich konventioneller (visueller) Ordnungen verschiebt. So schwankt Unturtled zwischen Ähnlichem und Unbestimmbarem. Es sind Bilder, die mit bestimmten Verfahren des zeitgenössischen Tanzes zusammentreffen und das Stück in die entsprechenden Diskurse und künstlerischen Zeiträume

12 Auch die Kleidung wird diesen Metamorphosen unterzogen, indem das Bühnenkostüm vom bloßen Beiwerk zum aktiven ›Bewegungspartner‹ hin emanzipiert wird. 13 Jean-Luc Nancy formuliert das Bild als eine Ähnlichkeitsbeziehung, das aber zum Abgebildeten distinkt ist: Es ist das »von sich selbst unterschiedene[…] Selbe« (Nancy 2006, 21). 14 Die Tanztheoretikerin Krassimira Kruschkova spricht unter anderem in Bezug auf Le Roy von »bereits ›klassisch‹ gewordenen Beispiele[n]« (Kruschkova 2011).

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verorten lassen. Gleichzeitig entziehen sich diese Bilder einem interpretatorischen Zugriff, der über das Abgleichen von Ähnlichkeiten ermöglicht würde. Im Stück fusioniert und verflicht erkanntes Vergangenes mit (künftig) noch zu Verortendem. Mit Georges Didi-Hubermans Lektüre Benjamins allerdings erledigt sich im Grunde die Problematik von Bild oder Nicht-Bild, da das dialektische Bild auch immer eines ist, das bereits schon wieder auf dem Weg, im Werden befindlich ist und in dem folglich nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft einbegriffen ist: »In den dialektischen Bildern ist zwar eine Struktur am Werk, doch erzeugt diese keine stabilen oder regelmäßig wohlgeformten Formen: sie bringt sich formierende Formen, Transformationen, also Effekte ständiger Deformation hervor. Auf der Ebene des Sinns erzeugt sie Zweideutigkeit – ›Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik‹ [so] Benjamin« (Didi-Huberman 1999, 163).

Hierbei zeigt sich noch einmal die historische und auch diskursive Situiertheit des Benjamin‘schen »Jetzt« im Erkennen: eine dialektische, da kritische Bildlichkeit, wie Didi-Huberman sie artikuliert, die in Schads beständigen (De-) Formationen aufscheint und diese scheinbar unlesbaren Erscheinungen mit Benjamin als »echte[…]« Bilder ausweist: »Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.« (Benjamin 1982, 578) Gefährlichkeit des Lesens, da ihm die Möglichkeit des Scheiterns innewohnt, wie Schads und Goldrings Stück exemplarisch zeigt. Gefahr aber auch, da das Lesen verorten und festschreiben kann, Diskurse bildet, einordnet, wie Le Roys mittlerweile paradigmatisch gewordenes Stück des Metamorphen zeigt: Im Grunde ein Widerspruch in sich. Das Lesen gerät hierbei zur Grundbedingung des Erkennens: Aisthetische Erfahrung, so ließe sich folgern, ist dann immer schon mit einer rezeptiven Haltung verwoben. Führt man die Idee eines kritischen Bildbegriffs weiter, so müsste man allerdings konstatieren, dass die eingangs artikulierten Situationsbilder die Zeiten nicht überdauern, ihren Bildstatus gar verlieren: Eingeordnet und eingeschrieben in zeitgenössische Diskurse mangelt Le Roys Arbeiten nun die Dialektik der Bewegung, die die Bilder der Aufführung in einer figurativen Schwebe hält. Als dialektisches Bild im zeitgenössischen Tanz wäre dann nur zu behaupten, was sich im Zwischenraum von Figur und Defiguration aufhält und noch nicht gelesen werden kann – oder das Lesen immer wieder neu herausfordert und in Grenzbereiche zwischen Aisthesis und Semiosis führt. Es sind flüchtige Bilder,

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nur am Rand von Ordnungen aufzufinden – und sie werden schließlich, sind sie einmal eingebettet in die Rede über Tanz und Kunst, zur Erkennbarkeitsfolie für nachfolgende (Tanz-)›Generationen‹.

3. O BSKURE B ILDER Ein Abend in den Berliner Uferstudios 2012. Die Absolventen der Amsterdamer School for New Dance Development (SNDO) präsentieren ihre Arbeiten, darunter das Stück It’s Just a Second der iranischen Choreografin Setareh Fatehi Irani. Zwei Performerinnen betreten die Bühne an der rechten vorderen Ecke, um gleich darauf im Dunkeln zu verschwinden. Nichts ist zu sehen. Nach einer kurzen Weile hört man nackte Füße auf dem Boden tappen, in mehr oder weniger regelmäßigem Rhythmus, dazu leichte Atemgeräusche. Das einzige visuell erkennbare Element ist zu diesem Zeitpunkt ein Fernsehmonitor, der am vorderen Bühnenrand mittig platziert ist und in dem in unregelmäßigen Abständen ein weißes Bild-Rauschen aufflackert. Nach circa zehn Minuten erhellt sich die Bühne ein wenig und mit etwas Mühe erkennt man die beiden Performerinnen, die sich, die Hände über Kreuz aneinander festhaltend, in schnellem Kreisen gegenseitig umeinander schleudern. Eine der beiden trägt eine Kappe auf dem Kopf, an der eine Kamera befestigt ist, die ab und zu Bilder auf den Monitor projiziert, die den Übertragungen eines Nachtsichtgerätes ähneln. Im Intervall von einigen Minuten wird die Kappe an die Partnerin weitergereicht und zeigt jeweils das geisterhaft wirkende Gesicht des Gegenübers in Echtzeit. Geräusche kommen hinzu, die klingen, als überflöge ein Hubschrauber die Szenerie. Versucht nun die eigene Wahrnehmung zu Beginn anhand der spärlichen Indizien (Bewegungsgeräusche der Füße, Atem) Konfigurationen möglicher Bewegungen zu imaginieren, die sich auf der Bühne ereignen könnten, so wechselt die Perspektive im Moment der übertragenen Nachtsichtbilder und der Motorengeräusche, die das fortdauernde, einfache Bewegungspattern des sich umeinander Drehens in ein imaginiertes Szenario von Beklemmung, Krieg oder Flucht transformieren. Drei Bildebenen entfalten sich zunächst in diesem Stück. Jene der nur schemenhaft erkennbaren, die die Kognition des Publikums benötigt, um fehlende Bewegungsanteile zu ergänzen und zu einem motilen Bühnen-Bild zusammenzusetzen. Zudem die Ebene der medialen (Closed Circuit-)Verschaltung, die das Geschehen mittels Kamera auf den TV-Monitor überträgt, sowie schließlich der Bereich des Imaginären, der zu Beginn der Aufführung Bilder möglicher Bewe-

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gungskonstellationen generiert, die sich im Verlauf des Stücks in Gefühle von Beklemmung wandeln. Doch handelt es sich bei dem Beobachteten um Bilder und wie wären diese konstelliert? Geht es in der Wahrnehmung der Zuschauenden tatsächlich um die Anregung des sogenannten Kopfkinos, das Bilder des Unheimlichen generiert und mit (meist TV-medialen Erfahrungen) verknüpft? Vordergründig mag dies der Fall sein. Jedoch spielt Irani überdies recht buchstäblich auf den Topos des Abwesenden an, der, wie Gerald Siegmund ausführt, die Tanzbewegungen auf der Bühne im »Entzug der Wahrnehmung« (Siegmund 2006, 101ff.) als solche allererst ermöglicht. Diese Entrückung ist in seinem Modell eine Grundbedingung des Theaters: Der Körper auf der Szene stellt mithin immer schon »ein imaginäres Modell des Körpers« (ebd., 44) dar. Damit kommt dem zeitgenössischen Bühnengeschehen im Tanz der Status einer kritischen Präsenz zu, die Krassimira Kruschkova wiederum ins Zentrum ihrer Untersuchungen zur zeitgenössischen darstellenden Kunst rückt und welche die Opposition zu einem nur noch bildmedial repräsentierten Körper als Basis formuliert: »Durch den Entzug des Sichtbaren intensiviert die Szene heute paradoxerweise eine präsente Absenz, die gerade als erinnerte Spur, als markierte Abwesenheit statt als spektakuläre Gegenwart umso mehr da ist. Das Abwesende wird gerade über seine Lücke figuriert, indem es Anwesenheit ver-spricht. Das Präsente, so könnte man sagen, versäumt sich. […] [D]as Aussetzen der Sichtbarkeit [ist] als die wesentliche Voraussetzung des Szenischen signifikant.« (Kruschkova 2005, 11f.)

Diesen Entzug wiederum betont Jean-Luc Nancy gerade als Voraussetzung für Bildlichkeit, besonders an jenen Stellen, an denen sich Sinn entzieht oder noch nicht einstellt. Anders als die Sprache setze das Bild den Sinn zunächst aus, »gleichwohl bekräftigt es umso mehr einen Sinn […] daselbst, wo es (selbst) wahrnehmen läßt [sic!].« (Nancy 2006, 24; Herv. i. O.) Das Bild schiebe sich an die Stelle der Dinge – auch der Körper –, die sich entzögen. Abwesenheit ist folglich die notwendige Grundbedingung von Bildern. Damit wird die Benjamin‘sche Idee vom Lesen der Bilder (dem gleichwohl die Möglichkeit des VerLesens innewohnt) in eine Medialisierung der Wahrnehmung verschoben: Bilder ermöglichen, so könnte man hypostasieren, über einen medialen Zugriff zu den Dingen in dem Moment zu kommen, wo diese sich – folgt man einer phäno-

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menologischen Perspektive – immer schon entziehen.15 Dabei ereignet sich dieser Zugang gerade über den Modus des Distinkten: »Das Bild ist […] eine Evidenz. Es ist die Evidenz des Distinkten, seine Unterscheidung selbst. Bild gibt es nur, insofern es diese Evidenz gibt: ansonsten liegt eine Verzierung, eine Illustration vor, d.h. eine unterstützende Bedeutung. Das Bild hingegen muss an die unsichtbare Präsenz des Distinkten rühren, an die Unterscheidung ihrer Präsenz.« (Ebd., 26)

Dabei seien die Bilder selbst Materie. Nancy bezieht sich hierbei zwar unter anderem auf Gemälde, jedoch kann auch die Bühnenbewegung, wie zuvor schon ausgeführt, als Bewegungsmaterial Bildlichkeiten generieren. Nancy schiebt nun eine Differenzierung zwischen dem live und dem medial präsentierten Körper im Theater beziehungsweise im Kino ein, die er an die Verkörperung von Text bindet. Im Theater, so Nancy, treffen Text und Körper als Sinn vermittelnde Instanzen ungetrennt aufeinander, während das Kino der Stummfilmzeit den Text noch auf zusätzlichen, intervenierenden Tafeln hinzufügen musste: ein Text-Bild, das die körperliche Darstellung unterbricht (ebd., 112). Zudem zeige sich der Körper im Kino als ein gerahmter (ebd.) – hier wäre allerdings einzuwenden, dass auch die Guckkastenbühne gewisse visuelle Rahmungen vorgibt. Bedeutsamer scheint in diesem Zusammenhang die Funktion des Bildes als Platzhalter für ein Abwesendes, »es [zieht] den Sinn aus der Absenz, indem es aus dem Absens ein Präsens macht« (ebd., 115; Herv. i. O.). Mit Siegmund ist zu ergänzen, dass sich jene Abwesenheiten nicht nur auf bildende Kunst oder Film beziehen, sondern gerade im (Tanz-)Theater eine Möglichkeitsbedingung für Bewegung sind. Das Moment der »imago« (Herv. i. O.) befindet sich dabei im Mittelpunkt der Widerspiele von Absenz und Präsenz und präzisiert die Idee der Rahmung des Körpers: »Die Abwesenden sind nicht da, sind nicht ›im Bilde‹. Aber sie sind gebildet: ihre Absenz ist in unsere Präsenz eingeflochten. Der leere Platz des Abwesenden ist wie ein Platz, der nicht leer ist: das ist das Bild. […] So gesehen sind der leibliche Körper des Theaters und der gerahmte Körper des Kinos verschiedene Arten, diesen Platz zu besetzen.« (Nancy 2006, 116)

15 Darin wäre mithin eine Um-Wendung der phänomenologischen Methode zu verstehen, die über Reduktion zu den »Sachen selbst« zu kommen sucht (vgl. Husserl 1913, 35;108ff.). Die Dinge als solche und ihre Attribute wären in Nancys Perspektive folglich gerade über ihre mediale Verfasstheit auffindbar.

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Diese – hier auch in den jeweiligen Dispositiven situierten – Rahmen erhalten im zeitgenössischen Tanz wiederum bildliche Bedeutung, besonders durch das Umschreiben und Aufdehnen körperlicher Grenzen, die sich wiederum, wie ausgeführt, in Bildpatterns des Amorphen konstellieren sowie durch das Einhalten und Umspielen physischer Bewegungsumräume, wie das Eingangsbeispiel Benoît Lachambres zeigt.16 Setareh Fatehi Irani durchspielt nun in ihrem Stück die Schnitt-Stellen, an denen sich Bewegung und Bild treffen, zwischen Präsenz und Repräsentation – die Körpern wie Bildern gleichermaßen zu eigen sind – und fokussiert explizit auf den Herstellungsmodus medial vermittelter Bilder, welche die live bewegten Körperbilder übertragen. In dem sie die Bewegungen im Schemenhaften belässt, präsentiert sich das zu Sehende im Wesentlichen über den kleinen Monitor im Vordergrund, der jedoch freilich auch keine Auskunft über ein ›Gesamtbild‹ zu liefern vermag. Gleichermaßen obskur im Nachtsichtmodus, sind immer nur die Gesichter und hier besonders die Augen der Darstellerinnen zu erkennen. Das wahrnehmende Auge des Publikums sucht Haltepunkte im Versuch, die Körperbewegungen zu umreißen und wandert beständig zwischen Bildschirm und Bühnenbewegung hin und her. So verwischen die Ebenen von aktuellem und virtuellem (medialen) Bild, wird das eigentliche Bewegungsgeschehen doch vom Zwielicht der Szenerie verwischt, das sich nur in den unvollständigen Bildern des TV-Monitors erblicken lässt und die Imagination des Publikums anregt, je eigene Vorstellungs-Bilder zu gestalten. Es wäre jedoch ein Trugschluss, It’s Just a Second lediglich auf die Ebene der rezeptiv animierten Fantasie zu reduzieren. Vielmehr wird die enge Verquickung wie auch Trennung von imaginären und ›realen‹ Bildern aufgedeckt, die kein Konstrukt einer lediglich imaginären Verfasstheit ist: Auch in Nancys Lesart ist die Imago die (paradoxe) Repräsentation einer Abwesenheit, die eine Leerstelle zunächst als solche offen hält (Nancy 2006, 115f.).17 Irani deckt die

16 Rahmungen werden zudem relevant im Überschreiten sozialer Konventionen des Theaters oder auch im Oszillieren zwischen körperlicher Live-Bewegung und deren medialen Umsäumungen (Foellmer 2009, 88ff.). 17 Mit Gilles Deleuze ließe sich weiter ausführen, dass sich die Ebenen des Realen und des Imaginären in der dialektischen Figur des »Kristallbild[es]« bedingen: Das Virtuelle kann nicht ohne »Bezug auf das Aktuelle« erfahrbar sein und umgekehrt, wie Deleuze anhand des Spiegelbildes erläutert: »Die Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Aktuellem und Virtuellen entsteht folglich keineswegs im Kopf oder im Geist, sondern ist das objektive Merk-

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Verflochtenheit dieser Bildverhältnisse auf, indem sie dem Bühnengeschehen weitestgehend seine aktuellen, ›realen‹ Bestandteile entzieht – will man diese hier mit dem Topos des sichtbaren Körpers bestimmen. In den Unschärferelationen von Bühne, Kamera, Geräuschen und Bildschirm treffen sich virtuelle und imaginäre Bilder und weisen auf die engen Verknüpfungen rezeptiver Vorgänge im Theater hin, in denen das Bühnengeschehen im Moment des Wahrnehmens schließlich immer schon mit erfahrenen und erinnerten sowie erwarteten medialen Bildern verschränkt wird.18 Insofern lockern sich auch die Modalitäten von »Liveness«,19 indem die Bühnenkörper als je schon mediale Apparaturen fungieren20 — und das projizierte Livebild der Nachtsichtkamera wiederum erst eine Nähe zum sonst unübersichtlichen Geschehen zu erlauben scheint. Christopher Balme betont den Aspekt der Bildlichkeit im Theater und stellt fest: »Die Bilderfrage scheint besonders dann virulent zu werden, wenn visuelle Elemente als Fremdkörper wahrgenommen und als nicht medienzugehörig aufgefasst werden.« (Balme 2002, 363) In einer paradoxen Bewegung betont Irani gerade über den Entzug des Lichts und damit die teilweise Rücknahme der visuell wahrnehmbaren Körper den Medien-Moment im Theater und zeigt die sich bewegenden Körper als Trug-Bilder, die über die beständige Rückkopplung in das Mediale des Bildschirms schließlich auch die Imagination stören und dieser entgleiten.

4. S TEHENDE B ILDER,

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Zeigen die Beispiele von Isabelle Schad/Laurent Goldring und Setareh Fatehi Irani Aspekte der Bildlichkeit im Tanz als prozessuale Sedimente amorpher Bewegungspatterns des Zeitgenössischen sowie als Nahtstellen zwischen Präsenz

mal gewisser existierender Bilder, die von Natur aus doppelt sind.« (Deleuze 1997a, 97) 18 Benjamin Wihstutz konstatiert eine temporale sowie imaginativ verwobene Bildlichkeit im Theater als grundlegenden Modus von Wahrnehmung im Theater, wobei die Rezeption der Zuschauenden im Moment der Aufführung unter anderem mit zuvor Erinnertem und Erfahrenem verwoben sei (Wihstutz 2007, 40f.). 19 Vgl. zur medialen Verfasstheit von Live-Performances Auslander 1999, 61ff. 20 Sabine Huschka betont die Medienperspektive des tanzenden Körpers, der immer zugleich »Subjekt und Objekt« der Darstellung sei (Huschka 2002, 26) und Balme konstatiert für das Sprechtheater: »Der Schauspieler ist Bild-Körper-Medium in einem« (Balme 2002, 351).

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und Absenz in medial verflochtenen Bühnensituationen, so bleibt danach zu fragen, inwieweit die Bewegung selbst Bildeffekte gestalten kann. Mithin ist die Zeitlichkeit von Bildern angesprochen, ihre Dynamisierung als Figur zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem. Gottfried Boehm betont die Prozessualität von Bildern (vgl. Boehm 1995, 33), in ihnen akkumulierten die verschiedenen Modi der Zeit, als eine »Paradoxie eines werdenden Gewesenseins« (Boehm 2007, 50). In diesem Sinne sind Bilder Zeitfiguren, die temporäre Kondensate in sich tragen und auf das Abwesende verweisen, das der Repräsentation immer schon innewohnt: »[I]n der Repräsentation selbst ist das Abwesende nicht nur gegenwärtig, sondern es ist wirksam. Es begleitet, rhythmisiert und strukturiert die Darstellung wie der Schatten das Licht.« (Boehm 2001, 7f.) Der französische Dramatiker und Philosoph Valère Novarina wiederum betont das Theater als Zeitmaschine21: »Die Zeit ist die Materie des Theaters, der zu bearbeitende Stoff: von den Schauspielern gewoben, durch ihre Worte, ihre Pausen, ihre Ausfälle, ihre Wiederkehr und ihre Sprünge, ihre Eklipsen, ihre Zeitlupe […]. Die Zeit ist der Stoff, den man bearbeiten muss, nähen und auftrennen: man muss tief hineingehen mit den Händen, ihn durchlüften, ihn wenden und öffnen; neue Abkürzungen stechen, neue Wandelwege bahnen, neue ungesehene Passagen« (Novarina 2011, 7).

Zeit ist folglich Theatermaterial, das haptisch bearbeitet werden kann, das gedehnt, verkürzt und verlängert wird im darstellenden Tun. Zeitgenössischer Tanz wiederum – von dem Novarina nicht spricht – entfaltet mit seinen Bewegungskonzepten kritische Momente der Zeitlichkeit, wie es mit dem Aspekt der Verlangsamung, die Verdichtungen ins Bild ermöglicht, bereits angesprochen wurde. Wie verhält es sich aber bei Aufführungen, die Bewegung als fortdauernden dynamischen, beschleunigten Entwurf zeigen? Kann auch hier von (momenthaften) Modi der Bildlichkeit gesprochen werden? In Sideways Rain (2010), ein Stück des in der Schweiz ansässigen Choreografen Guilherme Botelho, ergeben sich die Tänzer in einem fortwährend strömenden Fluss von Bewegungen, die einem simplen kompositorischen Prinzip folgen: Die sechzehn Darstellenden betreten die Bühne jeweils von der linken Seite, überqueren sie in einer geraden Linie und gehen rechts wieder ab, um kurze Zeit später erneut von links zu erscheinen. Zeitlich in einer Art Kanonstruktur

21 In diesem Falle als durch Zeit bestimmtes und zugleich Zeit generierendes Genre, weniger im Sinne von Theater als geschichtsbildende Instanz. Vgl. zu Letzterem Roselt/Otto 2012.

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versetzt sind dabei immer mindestens sechs bis acht Personen auf der Bühne anwesend, die deren Breite rhythmisch durchwandern. Zunächst am Boden hockend, bewegen sie sich mit schleifenden Motionen vorwärts, die Beine von hinten nach vorne ziehend, einem immer gleichen Rhythmus folgend: ein Bein nach vorne schwingen, das andere nachholen, kurze Pause, um dann die Hände weiter vor dem Körper zu platzieren und erneut ein Bein vorwärts zu bewegen. Allmählich begeben sich die Tänzer aus den Hockpositionen in einen etwas hochgereckteren Vierfüßlergang, der nach einer Weile im aufrechten Gehen mündet. Dabei verschieben sich nun die Geschwindigkeiten. Zunächst rennend, verlangsamen einige der Darstellenden das Tempo, setzen rhythmische Kontrapunkte in die Beschleunigung. Ist die Choreografie generell vom Prinzip des Voranschreitens geprägt, unterbricht jedoch plötzlich eine der Tänzerinnen den konstanten Fluss: sie läuft rückwärts, bleibt gar stehen und setzt kurze Haltepunkte in den Bewegungsstrom, der jedoch sogleich wieder unablässig weiter fließt. Nach einer Weile verschiebt sich die Wahrnehmung: Versucht das zuschauende Auge zu Beginn noch, einzelnen Tänzern zu folgen, so verschwimmen diese Selektionsmomente zunehmend durch die beständige Rhythmisierung und die zeitweise starke Beschleunigung der Bewegungen. Nicht mehr einzelne Personen scheinen zu agieren, vielmehr verdichtet sich die fortströmende Motion zu einem dynamisierten Bild, in dem die Körper der Darstellenden in bloße Vektoren der Bewegung transformiert scheinen. Lediglich die kurzen Haltemomente erzeugen Merkpunkte für die Wahrnehmung, die sich jedoch schnell wieder im Bewegungsfluss auflösen. Oberflächlich betrachtet scheint Sideways Rain dem Prinzip der Bewegung als beständige, beschleunigte Vorwärtsbewegung verpflichtet und sich damit den kritischen Motionen, wie Lepecki sie formuliert, zu widersetzen. Mit zunehmender Dauer der Aufführung jedoch geraten die Bewegungen zu einer Art absurdem Fließband-Tanz, der niemals stoppt und einen immer gleichen Rhythmus vorzugeben scheint. Die Bewegungen führen ins Nirgendwo; sind sie am rechten Rand beendet, beginnen sie sogleich wieder von vorne: in einem ewigen Kreislauf Effekte eines zirkulierenden Bleibens in der Bewegung erzeugend. Rebecca Schneider erachtet solche Bleibemomente als konstitutiv für die Aufführung und verschiebt damit den Topos des Flüchtigen der Performance, die sich nur im Jetzt ereigne, wie es Peggy Phelan postuliert hat (Phelan 1993, 146). Schneider fasst die temporären Verhältnisse im Theater mit Gertrude Steins Rede von der »syncopated time«, die diese anhand einer Hamlet-Aufführung erfährt und in der sich die Ereignisse zwischen Bühne und Zuschauenden überlagern: »This is that the thing seen and the thing felt about the thing seen is not going on at the same tempo.« (Stein zit. n. Schneider 2011, 88) Zwischen Aufge-

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führtem und Wahrgenommenem entsteht folglich ein Spalt, der das Gesehene in eine Zone des Retardierten verlagert.22 Ähnlich zum Bild-Modell Boehms verschränken sich in dieser Lesart verschiedene Zeitlichkeiten in der Aufführung, die allerdings nur gebrochen wahrgenommen werden können und nicht in einem Benjamin‘schen, je situativen »Jetzt« blitzartig kulminieren. Diese temporalen Phänomene erscheinen als »double, triple, or multiple time« und erzeugen »sedimentierende Akte«, so Schneider (ebd., 92). In Guilherme Botelhos Stück werden solche temporären Überlagerung und Spaltungen unter anderem durch die repetitiven, bisweilen fast meditativ anmutenden Bewegungsrhythmen erzeugt, die nach einer gewissen Zeit der Aufführung die permanenten links-rechts-Bewegungen der Tänzer in ein bewegliches, fast zweidimensional wirkenden Bild zu überführen scheinen. In seiner Theorie zum Film unterstellt Gilles Deleuze dem filmischen Bild sowohl einen außerästhetischen (spiegelbildlich weltlichen) als auch innerästhetischen Konnex (vgl. Deleuze 1997a, 95): Im Modell des Kristalls verschränken sich die Zeitlichkeiten, wobei sich im Gegenwärtigen immer auch ›Vergangenheits-Spuren‹ aufhalten. Die solcherart formulierten »Erinnerungs-Bild[er]« aktualisieren sich im jeweiligen Moment des Erblickens (vgl. Deleuze 1997a, 132). Deleuze folgend überlagern sich allmählich vergangene Bewegungen mit noch folgenden, die sich in der gegenwärtigen Motion bereits als kommende ankündigen, als beständiges Kreisen des dynamisch immer Gleichen. Die beiden Attribute des von ihm vorgeschlagenen Zeit-Bildes verschränken sich hier: die »Aspekte«, in denen sich Vergangenes schichtet und Gegenwart als ein sukzessives immer »Schonda« ausgewiesen ist (Deleuze 1997a, 136;132; Herv. i. O.), und die »Akzente«, in der sich »Gegenwartsspitzen« gleichzeitig ereignen (ebd., 136) und das Geschehen (auf der Bühne) als ein synkopiertes, bewegtes Gewebe erscheinen lassen. In ihrer Analyse von Meg Stuarts Alibi (2001) betont Annamira Jochim mit Bezug auf Deleuzes Konzeption des Zeit-Bildes das »Ikonische der andauernden Bewegung«. Es benötige Momente des Anhaltens, die allerdings nicht mit dem Bild selbst zu verwechseln seien, sondern sich im »Zwischenraum […] von imaginativer Stasis und darüber hinausdrängender Bewegung« ereignen (Jochim 2008, 202). Der Eindruck der im Wortsinne ›an-haltenden‹ Bewegung wird folg-

22 Schneider geht hierbei noch weiter und misst der Performance den Modus des Aufgezeichneten zu. Im literarischen Theater etwa sei die Aktualisierung eines dramatischen Textes in einer Aufführung als nachträgliches Geschehen zu betrachten: »In the dramatic theatre, the live is a troubling trace of the precedent text and so […] comes afterward, even arguably remains afterward, as a record of the text set in play.« (Schneider 2011, 90; Herv. i. O.)

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lich im Vorstellungsraum der Wahrnehmenden konzipiert, in dem sich signifikante, verdichtete Momente des Gesehenen entwickeln – allerdings entstehen solche Bewegungen in Meg Stuarts Stücken am Platz, wie mit Lachambre gezeigt worden ist. In Botelhos Aufführung jedoch geschieht eine Dimensionierung der Bewegung ins Bildliche gerade im Gegenteil durch Motionen, die (fast) nie an Ort und Stelle verharren, sondern räumlich regelrecht ausufern, indem sie die Grenzen des Bühnenrahmens buchstäblich überschreiten. Bildlichkeit zeigt sich dabei in den Überlagerungen und Verdichtungen vergangener und künftiger Bewegungen, die im Gegenwärtigen der Bühnensituation kollidieren und hierbei multiple, gebrochene ›Spitzen‹ von Präsenz erzeugen. Erscheint die Wendung ins Ikonische laut Jochim als ein imaginärer Prozess, der in das je schon Geflüchtete der Bewegung Zäsuren einzieht, so zeitigt Sideways Rain noch einen weiteren Effekt: jenen der Nachbildwirkung. In seinem Essay zu Aby Warburgs »Pathosformeln« setzt Giorgio Agamben beim Phänomen der Pause im Tanz an. Zwischen Stillstand und plötzlicher Weiterbewegung entfalte sich der Tanz in aufeinanderfolgenden, dynamisch verdichteten und stillgestellten Bildern. Folglich sei die Ontologie des Tanzes nicht in der Bewegung, sondern vielmehr in der Zeitlichkeit zu suchen, in angehaltenen, dynamischen, jederzeit wieder mobilisierbaren Bildern (vgl. Agamben 2005, 10ff.). Im Zusammenhang mit der in der tanzenden Pose kondensierten Bewegung liest Agamben nun Warburgs Modell der Pathosformel als Zeit-Figur, die er historisch der Erfindung des Kinos zur Seite stellt (Agamben 2005, 21).23 Das Phänomen des Nachlebens der Bilder ergibt sich mithin als ein doppeltes, das zwischen Imagination und Image oszilliert: ein historischer, im Bildgedächtnis verorteter Speicher von Gebärden ebenso wie eine wahrnehmungstechnische Erscheinung, die sich als »Nachbildwirkung auf der Netzhaut« zeige (ebd., 21f.).24 Wird der Fokus in Agambens Betrachtungen nun auf die aus der Bewegung herausgeschnittene, stillgestellte Pose gelegt, in der sich die Zeitlichkeit des Tanzes als Bild konstelliert, so wählt Botelhos Aufführung den umgekehrten Weg. Gerade der weitgehende Verzicht auf Halte-Stellen in der Motion und der andauernde flow der Bewegungen erzeugen Nachbildeffekte im Auge der Betrachten-

23 Warburg habe den Begriff erstmals 1905 verwendet (Agamben 2005, 13). 24 Mit dieser kinematografischen Volte, welche in Bildern Bewegungspotentiale ausweist, nähert Agamben die Positionen Warburgs und Deleuzes einander an: dynamisierte Intervalle, die sich, als bewegliche Schnitte aus der Zeit, in vibrierenden Wartepositionen befinden. Vgl. hier auch die Ausführungen zum Bewegungs-Bild (Deleuze 1997, 22ff.).

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den: Sie wandeln das Geschehen in einen bildlich zirkulierenden Bewegungsstrom, der weder Anfang noch Ende der Bewegung kennt. Die hier beispielhaft dargestellten Situationsbilder entfalten mithin mediale Dimensionen, Tanzsituationen, die sich in temporären Bildern verdichten – als (imaginäre) Bildspeicher metamorpher Erscheinungen, im Gewebe zwischen Präsenz und Absenz oder als in den Moment verdichtete Dauer, die Nachbilder erzeugt: vibrierende, löchrige Images, die das Movens der tänzerischen Bewegung in Augenblicken eines flüchtigen Bleibens materialisieren. Die Verschränkungen der temporalen Ebenen von gewesener, geschehender und noch zu entwerfender Bewegung, die, um noch einmal auf Deleuze zurückzukommen, sich hier in ein zeitliches Bild verdichtet, zeigen dabei besonders auf die Materialität der Zeit im Theater, wie Novarina sie postuliert. Gerade das Kondensieren in vibrierende Bilder – seien sie in Verlangsamungen zeitgenössischer Tanzexperimente erwirkt oder im konstanten flow der Motionen, wie das letzte Beispiel es zeigt – verweist auf die Bewegung als Zeitmaterial des Tanzes. Kontrastierungen wie Stopps oder abrupte Unterbrechungen, die in Botelhos Stück den Strom der Tanzenden unregelmäßig konturieren und akzentuieren, bewirken paradoxerweise gerade das Aufmerken, das Deutlichwerden des sich Bewegens, das nach einer Weile im sonst nahezu homogenen Strom gleichsam unterzugehen scheint. So verweisen die flüchtigen Bildlichkeiten auf Zeit als genuines Material des Tanzes: Er arbeitet mit ihr und bringt diese zugleich mit hervor. Neben dem Körper als Träger und Erzeuger von Bewegung zeigt sich schließlich besonders in jenem momenthaften Bild-Werden des Tanzes die Zeit als sein Bewegungsmaterial.

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Bewegte Bildräume. Zu den Fotografien der Site-Specific Performances von Trisha Brown I SA W ORTELKAMP

Fotografien des Tanzes implizieren über die Sistierung und Fixierung eines Momentes hinaus eine Transformation vom dreidimensionalen Raum der Bewegung in die zweidimensionale Ebene des fotografischen Objektes. Im visuellen Nachvollzug der Fotografie kommt es zu einem Oszillieren zwischen Fläche und Tiefe, Ansicht und Einsicht des Raumes, der sich sowohl im als auch als Bild zeigt. Der Raum der Bewegung gerät auf diese Weise selbst in Bewegung und prägt die Wahrnehmung des Betrachters als unentwegten Übergang zwischen fotografiertem Raum und dem Raum der Fotografie. Besonders deutlich wird dies in den Fotografien der site-specific performances von Trisha Brown, in denen die Gestaltung des Raumes durch den bewegten Körper choreografisch und fotografisch in Szene gesetzt ist. Der vorliegende Beitrag unternimmt eine Bild- und Bewegungsbetrachtung der Fotografien von Caroline Goodden zu Browns Performances Man Walking Down the Side of a Building (1970) und Walking on the Wall (1971) und von Babette Mangolte zu ihrer Performance Roof Piece (1973). Damit bewegt er sich in einem kulturellen Kontext, in dem die Performance Art als temporäre und ephemere Kunstform eine große Herausforderung für den Kunstmarkt darstellt, der auf besondere Weise auf das fotografische und filmische Dokument angewiesen ist: »One of the interesting facets of art practice since that time has been the relationship between the two interrelated fields of the non-art object and the commercial art market. In the immediate aftermath of its genesis, the notion of what constituted an art object began to change radically, and often it was the ephemera, document, or record that became the object to be exploited commercially.« (Foster 2007, 5)

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Die Aufzeichnung der Performance wird auf diese Weise selbst zum Objekt der Betrachtung, in dem sie das Ereignis konstituiert. Zeitlich und räumlich isoliert vom Kontext der Präsentation – die spezifische Situation, in der die Performance ästhetisch erfahrbar wird – fungiert die Fotografie in Publikationen oder Ausstellungen als ihre mediale Vermittlung. Entgegen einer Auffassung, nach der die Fotografie gegenüber der ihr vorausgehenden Performance als defizitär zu betrachten wäre, zielen die hier angestellten Überlegungen darauf, den durch sie freigesetzten prozessualen Vollzug der Wahrnehmung als eigenständige ästhetische Erfahrung anzuerkennen (vgl. Bormann/Brandstetter/Malkiewicz/Reher 2000, 54). Über den Status von Fotografie als historisches Material hinaus wird damit auch ihre spezifische Materialität, die sie als räumliches Artefakt auszeichnet, in den Blick genommen. Zur Disposition steht damit die Bedeutung von Fotografie in ihrer Funktion als Material von Bewegung, wie sie in der wissenschaftlichen und künstlerischen Tanzforschung zum Tragen kommt. Als solches dienen Fotografien in der Tanzwissenschaft oftmals als einziger Bezugspunkt zur ästhetischen und theoretischen Reflexion und werden zu ihrer Illustration oder Dokumentation herangeführt. In der Geschichtsschreibung liegt ihr Stellenwert wesentlich in der Rekonstruktion des Tanzes, in dem anhand ikonografischer Quellen Aussagen über ästhetische Prinzipien der Bewegung getroffen werden. Auch in künstlerischen Auseinandersetzungen im zeitgenössischen Tanz werden fotografische Aufzeichnungen zum Material von Bewegung. Befördert durch das verstärkte Interesse an der Geschichte und Geschichtlichkeit des Tanzes werden in Projekten wie Sacharoff von Claudia Jeschke und Rainer Krenstetter (2014) oder The Source Code (2013) von Jochen Roller, die im Kontext von Tanzfonds Erbe entstanden sind, aber auch in Choreografien wie GEIST (2015) von Colette Sadler und 50 ans de danse (2009) von Boris Charmatz Übertragungsprozesse im Umgang mit dem fotografischen Material reflektiert und inszeniert. Fotografie kann damit sowohl im Sinne einer historischen Quelle zur Reflexion und Rekonstruktion als auch im Sinne der Grundlegung eines zukünftigen Bewegungsereignisses als Bewegungsmaterial verstanden werden. Findet Fotografie dabei meist bezüglich ihrer abbildenden und wiedergebenden Funktion Verwendung, folgt die hier anvisierte Betrachtung ihrer Qualität als fotografisches Bild hinsichtlich der Gestaltung des Bewegungsraumes. Das Verhältnis von Tanz und Fotografie wird dabei weniger als Gegensatz denn als Potential für eine spannungsreiche Wechselwirkung verstanden, die im Kontext der Bewegung des Postmodern Dance der 1960er und Entwicklungen in der Bildenden Kunst in den 1940er und 1950er Jahren zu betrachten sein. Sie kann hier exemplarisch für eine Bildbetrachtung des Tanzes gelten, nach der gerade die

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Stillstellung von Bewegung in der Fotografie die Wahrnehmung des Betrachters in Bewegung versetzt. Mit diesem zwischen Bild und Bewegung changierenden und oszillierenden Blick relativiert sich auch die Vorstellung eines materiellen Artefakts, das in sich verharrend und unverändert einer wiederholten und nachträglichen Wahrnehmung zu Verfügung steht, die dem einmaligen und vergänglichen Tanz verwehrt ist.1 Die Materialität des Bildes tritt selbst in Relation zu der Materialität des Tanzes, wird im Prozess der Bild- und Bewegungsbetrachtung dynamisiert und mobilisiert. Damit geht die Fotografie über die dokumentarische Funktion der wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe eines Augenblicks hinaus und wird als Bild im Sinne einer eigenständigen und sinnstiftenden Gestaltung sichtbar. Weniger die Stillstellung von Bewegung als vielmehr ihre Wirkung im Augenblick der Betrachtung prägt hier das Bildkonzept. Der Akzent verschiebt sich damit – um einer Differenzierung zur Zeitlichkeit des Bildes des Kunstwissenschaftlers Gottfried Boehm zu folgen – von einer im Bild dargestellten Bewegung auf die Bewegung der Darstellung selbst (vgl. Boehm 1987, 4). In dieser Verschiebung liegt es nahe, die Fotografie des Tanzes – jenseits ihrer Funktion eines statischen und konservierenden Dokuments – in den prozessualen und dynamischen Eigenschaften ihres Mediums zu reflektieren. Dem bildtheoretischen Ansatz Boehms folgend, hieße das, Fotografie weniger hinsichtlich ihrer Indexikalität, als in der Logik ihrer genuin bildnerischen Mittel zu betrachten (vgl. Boehm 2004, 28f). Die medienspezifischen Bedingungen der Fotografie erweisen sich dann nicht als Verlust, sondern als Potential für die Darstellung des Tanzes. Während Fotografie – auf die Wiedergabe von Wirklichkeit reduziert – gleichsam im Abbild verschwindet, geht es darum, sie als Bild zu sehen: Sie bietet weniger ein Abbild von Bewegung als ein Bild der Wahrnehmung. Gegenstand der Erfahrung ist nicht die im Bild dargestellte Bewegung, sondern jene Bewegung, welche die Fotografie im Augenblick der Betrachtung freisetzt. Die Materialität der Fotografie wird zum Grund sich auf die Bewegung einzulassen, sie (neu) zu er- und zu begründen. Die folgenden Bild-

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Die Entgegensetzung von ›bleibenden‹ Werken der bildenden Kunst und der Literatur auf der einen und der Aufführungskunst auf der anderen Seite hat in der Theaterwissenschaft die aufführungsanalytischen Verfahren dahingehend geprägt, dass die Analyse das ›Fehlen‹ eines materiellen Artefakts ersetzen soll. Diesem Vergleich liegt eine Reduktion der verschiedenen Künste auf ihre materielle Vorhandenheit zugrunde, welche die spezifische Wirkung- und Wahrnehmungsweise des jeweiligen Gegenstandes ausblendet. Vgl. hierzu eine ausführliche Auseinandersetzung der Verfasserin mit theaterwissenschaftlichen Verfahren der Aufführungsanalyse in Wortelkamp 2006.

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und Bewegungsbetrachtungen der Fotografien erheben sich vor dem Hintergrund der hier vorangestellten bildtheoretischen Überlegungen. Abbildung 1: Carol Goodden, Man Walking Down the Side of a Building, 1970

Quelle: © Carol Goodden

Am oberen Rand der Fotografie sehen wir einen Körper, dessen Kontur sich dunkel vom hellen Horizont abgrenzt. Es scheint, als stehe er aufrecht an der Kante einer Hausfassade, die die übrige Fläche des Bildes füllt. Der aufrechte Stand erweckt den Eindruck eines Gehenden, der sich wie auf dem Weg aus der Ferne auf uns zu bewegt. Das Haus wird zur Ebene. Die offen stehenden Fensterläden und die empor führenden Treppen halten jedoch das Bild der Fassade wach und verweisen uns auf den in der Höhe hängenden Körper. Dieser ist ver-

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bunden mit einem Seil, das zugleich einen Weg vorzugeben scheint, der an der Fassade entlang in die Tiefe auf den Betrachter am Fuße des Gebäudes zuführt. Der Standpunkt des Betrachters – die Perspektive des Fotografen – ist zugleich mein Blickpunkt, mit dem die Ansicht während der Betrachtung des Bildes langsam in Bewegung gerät. In der gleichzeitigen Ansicht des aufrecht am Horizont erscheinenden Körpers, die durch die Perspektive der Kamera und den Ausschnitt des Bildes verstärkt wird, und der Fassade mit Fenstern und Treppen, welche die Vertikalität des Hauses präsent hält, kommt es zu einem Wechsel in der Wahrnehmung. Mein Blick beginnt zwischen Weg und Wand, zwischen Ferne und Höhe zu springen. Das Seil fungiert dabei sowohl als Markierung der Horizontalen wie der Vertikalen und unterstreicht so den Wechsel der Ebenen. In der Fotografie des im Bild still gestellten Körpers setzt sich eine Bewegung der Wahrnehmung fort, wie sie auch in der Choreografie der Performance angelegt ist. Es kommt zu einer Sensibilisierung und Mobilisierung der Sinne, wie sie meines Erachtens generell für Choreografien im öffentlichen Raum – wie sie neben beziehungsweise nach Trisha Brown auch zeitgenössische Choreografinnen wie Anna Huber, Angie Hiesl und Sasha Waltz verfolgen – prägend ist (vgl. u.a. Wortelkamp 2010a, 14-17; 2010b, 53-67). Das Publikum der Performance fungiert dabei nicht nur als Zuschauer, sondern wird zum Bestandteil der Choreografie im Sinne einer bewegten Raumgestaltung. Im direkten Dialog des Tanzes mit der Architektur verändert sich durch die Umkehrung und Umwendung gängiger Wege und Muster, durch die Neu- und Umfunktionalisierung von Alltagsräumen, auch die Wahrnehmung der eigenen Bewegung im und durch den Raum. Architektur vermag in ihren unterschiedlichen Formen der Be- und Entgrenzung, der Über- und Durchgänge, der Steigungen und Neigungen, die unseren Körper veranlassen, sich immer wieder anders zu halten und zu verhalten, zu verweilen oder fortzuschreiten, erfahrbar zu werden. In einer Umkehrung der gewohnten Verhältnisse von oben und unten, von auf- und abwärts, gerät mit den Blicken auch der Boden des Betrachters ins Wanken.2 Im Einsatz von Seilen, Bergsteigerausrüstungen, Industrieschienen, Kontaktrollen und Leitern bewegen sich die Tänzer – wie hier zu sehen – an der Fassade eines Hauses, an den Wänden eines Museums oder auf den Dächern von Manhattan. Offenbar erfordert die Reflexion der Bedingungen des Raumes, die in der Arbeit Browns zum Tragen kommt, einen besonderen – nicht alltäglichen – Um-

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Von dieser Erfahrung zeugen neben fotografischen Dokumenten verschiedene Berichte, filmische Aufzeichnungen sowie einige Rekonstruktionen in den Jahren 2006 (Tate, London), 2008 (Walker of Art Center, Minneapolis) und 2010 (The Whitney Museum, New York) der sogenannten Equipment Pieces Trisha Browns.

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gang mit der Schwerkraft des Körpers. In der Auseinandersetzung mit Wänden und Decken entstehen Bewegungen, die, im wahrsten Sinne des Wortes, gegen die Erdanziehung angehen, sich ihr entgegen stellen. Nicht die Überwindung der Schwerkraft als Hindernis oder das Nachgeben der Erdanziehungskraft im Fall oder Sturz bewirken jene Verkehrung der Verhältnisse, sondern ein Kräftespiel, das Trisha Brown selbst als Paradoxon beschreibt: »paradox of one action working against another […] gravity working one way on the body […] a naturally walking person in another way« (Brown, zit. n. Livet 1978, 51). Browns analytisches Konzept von Schwerkraft steht im Kontext der Bewegung des Postmodern Dance der 1960er Jahre. Die Konzentration auf einfache Aufgaben und alltägliche Handlungen, die Reduktion von Bewegungsabläufen, die Akzeptanz und Reflexion der physischen Grenzen sowie der Ausschluss von Narration und theatraler Illusion prägen die Arbeit des Judson Dance Theatre und der Grand Union, zu deren Mitgliedern Trisha Brown zählt. In diesem Umfeld vollzieht sich auch die choreografische Auseinandersetzung mit dem öffentlichen und privaten Raum, mit der Kunstgalerien, Museen, Kirchen und Wohnungen zu Tanzstätten werden. Die für diesen raumspezifischen Ansatz maßgebliche Rolle der Schwerkraft wird insbesondere von jenen Künstlern thematisiert, die mit der Verkehrung von vertikaler und horizontaler Achse arbeiten. Diese Bewegung steht auch in enger Beziehung zu den damaligen Entwicklungen innerhalb der Bildenden Kunst. So wird in den Drip Paintings Jackson Pollocks die Leinwand zum Bodentuch, auf das die Farbe in Verbindung von körperlicher Aktion und natürlicher Anziehung der Erde fällt und spritzt. Der Neuorientierung des Kunstobjekts folgen Arbeiten wie die von Robert Rauschenberg, der die horizontale Liegefläche eines Bettes zum Bild macht und die Malerei Andy Warhols und Roy Lichtensteins, in denen die horizontalen Koordinaten von Zeitschriften und Comicheften in die vertikale Bildebene überführt werden. Zeitgleich mit den Equipment Pieces von Trisha Brown unterlaufen Künstler wie Robert Morris, Robert Smithson oder Bruce Nauman mit minimalistischen Skulpturen, Land Art, Installationen und Videokunst die traditionelle Beziehung von einem fixierten und statischen Objekt und einem fixierten und statischen Betrachter (vgl. Berger 2002, 18). Der Umschlag der Bilder von der Vertikalen in die Horizontale verändert mit dem Anblick auch den Blick auf die Fläche. Im Wechsel der Blickpunkte wird zugleich der Standpunkt des Kunstbetrachters, wird das Kunstbetrachten selbst verändert. Die Wahrnehmung wird zum Thema und in der Wechselwirkung zu ihrem Gegenstand bewusst gemacht.

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Die Reflexion des Blick- und Standpunktes des Betrachters ist meines Erachtens auch in den Fotografien der Equipment Pieces Browns enthalten – sie trägt sich in ihnen ein und fort. Und dies nicht im Sinne einer Wiederholung und Wiederherstellung eines Ereignisses, sondern als Ermöglichung einer Wahrnehmung, die in ihm begründet ist. Die in der Choreografie angelegte und enthaltene Bewegung der Wahrnehmung im Raum und zur Zeit des Ereignisses vermag in den Fotografien erfahrbar zu werden. Sie halten einen Raum offen, in dem die Wahrnehmung im Wechsel der Blicke selbst als Bewegung erfahrbar werden kann. Abbildung 2: Trisha Brown, Walking on the Wall, 1971

Quelle: © Carol Goodden

Diese Erfahrung vermittelt sich auch in der Fotografie einer weiteren Performance der Equipment Pieces, die ich hier zur weiteren Verdeutlichung heranziehe. In Walking on the Wall von 1971 begeht Brown mit ihren Tänzern die Wände im Inneren eines Gebäudes: dem Whitney Museum of American Art in New York. Die Tänzer bewegen sich in speziellen Ausrüstungen, von Seilen gehalten, die an der Decke mit Kontaktrollen über Schienen geführt werden, parallel zum Boden. Wieder bleibt der Gang aufrecht. Wieder wird mit der Schwerkraft auch der eigene Blick gekippt, wird die Wand zur Straße. So schreibt eine Augenzeugin: »For dizzying moments at a time, you seem to be in a tower looking down in the foreshortened bodies of people promenading endlessly on two intersecting white streets […].

360 | W ORTELKAMP After a while, wall-walking seems like something that you may once have been able to do. A long time ago.« (Jowitt 1971, 37)

Die Umkehrung des gewohnten Blicks konfrontiert den Betrachter sowohl mit dem Anderen als auch mit dem Eigenen, lässt das Mögliche im Unmöglichen aufscheinen. Während der Standpunkt gleich bleibt, verändert sich durch die ungewohnte Position des Gegenübers auch der Blick auf den Lauf der Dinge. Die gehenden Körper vermitteln die Illusion der Draufsicht, die dem eigenen ebenerdigen Stand widerspricht und die gewohnten Verhältnisse unterläuft. Diese Erfahrung erlauben auch die Fotografien: Im Nachvollzug des Geschehens vermittelt sich in der Ansicht des Bildes eine Einsicht in einen Raum, in dem die weißen Museumswände zum Boden der Tänzer werden. Die Einsicht in den Raum wird zur Aufsicht auf einen Boden, der im nächsten Augenblick wieder als Wand in Erscheinung tritt. Es kommt auch hier zu einer Verkehrung der Verhältnisse, die sich in der fotografischen Darstellung fortsetzt. Man ist gewillt, den Kopf zu neigen – oder wie ich es selbst als Impuls verspürte –, das Bild zu drehen. Dieses im Bild angelegte Drehmoment wird auch in der medialen Erscheinungsform der Performancefotografie zu Anfang der 1970er Jahre selbst nachvollziehbar. Abgedruckt in Zeitschriften ist die fotografische Reproduktion handhabbar und drehbar. Die haptische Erfahrung prägt den Umgang mit der Fotografie und rückt sie, anders als im distanzierten Akt der Betrachtung im Museum, in die unmittelbare Gegenwart des Betrachters (vgl. O’Dell 2007, 32). In seinen Händen vermag die Verkehrung des Raumes im und als Bild in eine Bewegung des Betrachters umzuschlagen. In meinem letzten Bildbeispiel eröffnet sich in der Ansicht der Fotografie die Übersicht über eine Stadt. 1971 choreografiert Brown in Roof Piece3 die Bewegungen von zwölf Tänzern in roter Kleidung auf den Dächern von zehn Gebäudeblöcken Manhattans. Die Aktionen sind improvisiert, die Tänzer bewegen sich dabei wenig raumgreifend am Platz und werden, auf einem Hausdach beginnend, vom nächsten Tänzer übernommen, über die Dächer hinweg an die anderen Tänzer übermittelt. Von einem der Flachdächer aus sieht das Publikum die Bewegungen vor der Kulisse der New Yorker Skyline. In einer Landschaft von Schornsteinen und Wassertürmen, Leitern und Rohren vollzieht sich die Weitergabe und Fortführung von Bewegung über die Distanzen hinweg, von Dach zu Dach. Willentlich und wissentlich wird hier kommuniziert, was inmitten des städtischen Treibens sonst wohl eher der Aufmerksamkeit entgeht und unbe-

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Dieses Stück zählt nicht zu den Equipment Pieces, da keine technischen Hilfsmittel hinzugenommen werden.

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wusst passiert: die Fortbewegung durch die Stadt. Brown entführt den Passanten aus den Zwischenräumen der himmelhohen Steilwände, in denen der Blick gefangen bleibt, und bringt ihn dorthin, wo das Auge schweifen kann, gewährt ihm Aus- und Übersicht. Das Dach wird zum eigenen Boden unter den Füßen derer, die sonst zwischen den Häuserwänden ihrer Wege gehen. Abbildung 3: Babette Mangolte Roof Piece, 1973

Quelle: © Babette Mangolte

Noch in der Ansicht der Dächer vermittelt sich jene Übersicht, die dem Gehenden in der Stadt verwehrt ist. Dieser bewegt sich, den Betrachtungen Michel de Certeaus folgend, dort, »wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper einem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne lesen zu können« (de Certeau, 1988, 182). Indem Brown das Dach zum Boden der Bewegung macht, ermöglicht sie es dem Zuschauer, den Text der Stadt, dem dieser oftmals blindlings folgt, zu überschauen. De Certeau beschreibt den Blick aus der 110. Etage des World Trade Centers auf Manhattan als einen Blick auf das Textgewebe einer Stadt, das nur aus dieser Übersicht les- und einsehbar wird. »Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet, dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu werden. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball und wird nicht mehr von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und

362 | W ORTELKAMP von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt« (ebd., 180).

Die Fotografie ermöglicht uns einen solchen Aufstieg und eine Aussicht über Manhattan, die ebenso wie die Performance der Vergangenheit angehört. Die Körper im Bild vergegenwärtigen weniger die Bewegung der Tänzer als die Wahrnehmung der Zuschauer, die sich mit der Performance auf die Dächer Manhattans bewegt haben. Erfahrbar wird der Stand- und Blickpunkt des Fotografen, der eine Aussicht genießt, die sich ihm durch die Performance von Trisha Brown eröffnet. Diese ist durch die Körper im Raum strukturiert und rhythmisiert und sensibilisiert die Sinne für die Architektur der Stadt, die wir so anders begehen und erfahren können. Nicht die Bewegung, aber das, was sie möglich macht, bleibt im Bild als wiederkehrende Wahrnehmung enthalten. Es sind jene veränderten und anderen Ansichten einer Architektur, wie sie mit Wolkenkratzern und Hochhäusern das Stadtbild New Yorks prägt, die Brown mit ihren Aktionen in, auf und an den Gebäuden ermöglicht. Dabei konfrontiert sie den Betrachter mit einem Gegenüber, das sich in ungewohnter Stellung an ungewohnter Stelle präsentiert. Angesichts der in der Architektur positionierten und agierenden Körper wird der Betrachter auf seine eigene Haltung und Bewegung in und durch den Raum verwiesen. Diese verkehrten und verrückten Ansichten des architektonischen Raumes bleiben in den fotografischen Dokumenten der Performances präsent. Nicht als Wiedergabe und Wiederholung des Wirklichen selbst, sondern als eine Wirklichkeit von Wahrnehmung, die sich in den site-specific performances von Trisha Brown realisiert. Dabei mobilisiert und motiviert die Fotografie des Tanzes – so meine These – eine Sensibilisierung der Sinne, die unmittelbar auf die Bewegung im Raum zur Zeit der Performance verweisen. Was sich in der Performance in der körperlichen Anwesenheit des Zuschauers in Raum und Zeit ereignet, wird in der Fotografie visuell nachvollziehbar. Und zwar als eine Bewegung der Wahrnehmung, die sich hier vis à vis mit der Fotografie ereignet. In der Ansicht des Bildes kommt es zu einer Einsicht in den Raum der Bewegung, die auch den Betrachter der Fotografie auf den eigenen Stand- und Blickpunkt verweist. Von dort aus vermag sich unvorhersehbar eine Bewegung zwischen Zeit und Raum zu vollziehen – als eine nicht enden wollende bewegte (Bild-) Störung. Gegenstand der site-specific performances von Trisha Brown ebenso wie der Fotografien ist das Gehen sowie reduzierte Formen von Bewegungen, die – anders als dynamischere und komplexere Tanzbewegungen – auch das Stehen und

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den Stillstand einbeziehen. So geht es in den Fotografien weniger um eine im Bild dar- und stillgestellte Bewegung des Tanzes, als um jene Bewegung, die im und durch das Bild freigesetzt wird. Diese Bewegung ließe sich im erneuten Rekurs auf den bildtheoretischen Ansatz Boehms als eine Aktivität des Sehens beschreiben, die durch die spezifische Produktivität des Bildes bedingt ist. Dabei vollzieht sich der zeitliche und bewegte Prozess der Wahrnehmung innerhalb des sogenannten ikonischen Kontrastes, durch den sich ein Bild von seiner Umgebung als Rahmung und Ausschnitt abhebt und durch den das in die Materie einoder aufgetragene Bild »darin einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich alles Faktische überbietet« (Boehm 1987, 7;30). Auf diesem Bildsinn gründet sich das Verhältnis zwischen Fläche und Tiefe, innerhalb dessen es zu einem produktiven Oszillieren im Bildsehen kommt, das sich in den Fotografien der site-specific performances von Trisha Brown in einem Wechsel, einem Sprung in der Wahrnehmung realisiert. Auf der ›flachen Tiefe‹ der Fotografien setzt sich die durch die Choreografie gestaltete Bewegung in Zeit und Raum fort. Und zwar in einem unumgänglichen zeitlichen und räumlichen Abstand, in dem das fotografierte Moment der Bewegung das Moment der Wahrnehmung touchiert – choreografiert. Diese Choreografie der Wahrnehmung vollzieht sich vor dem Hintergrund und auf dem Grund der Fotografie, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort. Schwarz auf weiß ist hier ein Bild von Bewegung gebannt und still gestellt – sie ist, um mit Roland Barthes zu sprechen, zur Unbeweglichkeit verurteilt (vgl. Barthes 1989, 13). Es scheint, als läge gerade in der Verschiedenheit von Bild und Bewegung, in der unumgänglichen Stillstellung des Tanzes ein wesentliches Moment der Fotografie als bewegtes und bewegendes Material. Gleichsam durch das gekörnte Papier und auf der vom Licht gestalteten Oberfläche tritt die Bewegung in meine Gegenwart. »[E]s ist nicht das Photo, das man sieht«, so Barthes (ebd., 14). Und doch trägt das Foto das Fotografierte mit, richtet den Blick auf das, was im Bild und als Bild sichtbar wird. Dabei tritt gerade im Blick auf die Tanzfotografie auch das ins Bild, was sie nicht zu sehen gibt: Bewegung. Entfernt von ihrem Abbild tritt sie an den Rändern und von den Rändern ins Bild – immer wieder und immer noch.

L ITERATUR BARTHES, Roland (1989): Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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»Vom Fleisch zum Stein«.1 Strategien der Rahmung in der zeitgenössischen Tanzfotografie I SABELLE D REXLER I remembered black skies, the lightning all around me I remembered each flash as time began to blur Like a startling sign that fate had finally found me And your voice was all I heard that I get what I deserve So give me reason to prove me wrong, to wash this memory clean Let the floods cross the distance in your eyes Give me reason to fill this hole, connect the space between Let it be enough to reach the truth that lies across this new divide LINKIN PARK, NEW DIVIDE

Die Strategien der Rahmung in der Fotografie sind extrem und radikal diskontinuierlich. Dies liegt vor allem an den zeitlichen Vorgaben des Mediums, die ei-

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Der folgende Aufsatz ist die Ausarbeitung eines Skripts zu einer Lecture Performance, die ich im Rahmen des Festivals Temps d’image 2010 im tanzhaus nrw in Düsseldorf auf Einladung von Henrike Kollmar gehalten habe. Der Titel meines Aufsatzes bezieht sich auf ein Zitat aus dem Buch von Philippe Dubois: Der fotografische Akt (1998, 164), dem ich wesentliche Inspiration zu meinem Ansatz verdanke.

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nen gewissen Druck auf den Prozess ausüben. Es gibt nur eine Chance, um sich des vergänglichen Objektes zu bemächtigen, einen Moment, in dem ein Zeitund Raumfragment endgültig aus seinem Kontext herausgerissen wird: den Moment des Auslösens. Wie anders sieht es da scheinbar im Tanz aus. Der Tanz braucht den Fluss. Ohne Kontinuität in Raum und Zeit kann er sich nicht entfalten. Er ist tendenziell randlos. Die Fotografie aber muss dem Uferlosen Grenzen setzen. Nichts weniger als der Griff nach dem Unfassbaren steht auf dem Spiel. In der Konfrontation mit dem Fleisch des Tanzes wirkt die Fotografie in der »Geste des Auslösens« (Haß 2008, 54)2 brutal: Sie versteinert mit eiserner Hand und sperrt das Randlose, Ephemere in einen strikten, bewegungslosen Rahmen der scheinbar zeitlosen Bildlichkeit. So brutal diese Geste der Fotografie auf den ersten Blick auch wirken mag, sie ist dem Versuch des Begreifens, im übertragenen und tatsächlichen Sinne, geschuldet. Dieser Griff nach dem Unbegreiflichen ist, wie ich anhand einiger Ideen des Kunsthistorikers Aby Warburg erläutern möchte, etwas zutiefst Menschliches, sowohl in seiner Intention als auch in seiner Vergeblichkeit, und wird aus dieser Perspektive trotz der Radikalität des Schnitts nachvollziehbar. Ich greife nach dem, was mir Rätsel aufgibt, weil ich so hoffe, hinter das Verborgene oder das Geheimnis des mir Unverständlichen zu kommen. Damit löse ich es, gewollt oder ungewollt, aus seiner angestammten Kontinuität und setze es in einen neuen Rahmen, der mir das Gegebene zumindest überschaubar erscheinen lässt. Aby Warburg hat sich im letzten Jahrhundert vor allem damit beschäftigt, wie dies in einer bildlichen Geste möglich wird. Ich möchte im Folgenden, orientiert am Topos der »Geste des Auslösens« als begreifender Geste gegenüber dem Tanz, einige Strategien der Rahmung im Bereich der Tanzfotografie näher betrachten. Das bildliche (Be-)Greifen des Tanzes bezieht sich dabei auf ein ästhetisches, interartifizielles. Ich nutze dazu als Basis den metaphorischen Raum der Geste in Annäherung an Aby Warburgs Ideen zur Grundkonstitution der menschlichen Psyche. Ich möchte als weitere, metaphorische Klammer noch auf einen Aufsatz von Henry Fox Talbot aus dem Jahr 1844 verweisen. Als Fox Talbot in seinem Beitrag zur Fotografie den bezugsreichen Titel Stift der Natur (pencil of nature) wählt, kann er noch nicht ahnen, welche Revolution diese Technik gerade im Begriff ist zu initiieren. Der Aufsatz soll dem eher skeptisch gestimmten Publi-

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Ulrike Haß hat auf das kreative Potential des Vorbewussten speziell in Bezug auf die Fotografie verwiesen, das zu einer Übersprungsgeste, der »Geste des Auslösens« (Haß 2008, 54) führt. Ich baue diesen Ansatz in Bezug auf die Tanzfotografie aus.

S TRATEGIEN

DER

R AHMUNG IN

DER ZEITGENÖSSISCHEN

T ANZFOTOGRAFIE

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kum die Vorzüge und praktischen Anwendungsweisen des neuen Mediums darstellen, um ihm zur Akzeptanz zu verhelfen. Allerdings kommt Fox Talbots Schreibweise alles andere als marktschreierisch daher. Er schildert die Möglichkeiten der Fotografie in direkter und einfach verständlicher Sprache. Und so beschreibt er auch, schlicht und ohne Umschweife, was Betrachter auf den damals noch als Kalotypien entstandenen Bildern sehen: Ein Pariser Boulevard im Hochsommer zum Beispiel. Dennoch wählt er als Überschrift einen bildlichen, fast poetischen Titel. Was sein Motiv gewesen sein mag, bleibt an dieser Stelle natürlich Spekulation, aber dieser Gegensatz zwischen prosaischer Beschreibungssprache und assoziativer Überschrift ist dennoch interessant. Vielleicht hängt er gerade mit einem auffälligen Mittel der Fotografie zusammen, das im Mittelpunkt meiner Betrachtung steht: der Begrenzung. Erst die Rahmung des Unendlichen gibt zu sehen. So schreiben Wolfgang Kemp und Hubertus von Ameluxen in ihrem fundamentalen Sammelband zur Theorie der Fotografie (2006) über Talbots Aufsatz: »Es ist aufschlussreich, wie Talbot in seiner kleinen modellhaften Beschreibung der Ansicht der Boulevards von Paris den Betrachter nach Zeit und Ort einordnet, ihm also die Beschränktheit seiner Perspektive klarmacht, um dann die Reichtümer der begrenzten Sicht aufzufächern.« (Kemp/Ameluxen 2006, 60)

Innerhalb der »begrenzten Sicht« ist die Fotografie in der Lage, völlig neue Räume und Perspektiven zu öffnen, in einer Weite, die nur durch den relativ engen Rahmen des fotografischen Bildes überhaupt möglich wird. Fox Talbot zieht mit seinem Titel nicht umsonst eine Parallele zur Kunst der Zeichnung, die mit Linie und Strich begrenzt, um sichtbar zu machen. Diese Verwandtschaft hat sich ja nicht zuletzt im Begriff Fotografie erhalten. Aber nicht nur die Begrenzung hat die Fotografie mit der Zeichnung gemein. Walter Koschatzky schreibt in seinem Standardwerk über die Kunst der Zeichnung (19876): »Zeichnen hat viel mit Schreiben zu tun, vom Instrument her und vom freien Zug der Hand über die Papierfläche, im Verdichten von wiederum wahrnehmbar werdenden Gedanken und im Charakter des individuellen Duktus. Auch beim Schreiben geht die Phantasie, die intellektuelle Vision unmittelbar in den Zug der Hand über. […] Der Duktus ist eben ein sichtbar werdender Teil des Unbewussten.« (Koschatzky 19876, 20)

Gleiches trifft, wie ich finde, auch auf die Fotografie zu. Gerade weil die Fotografie nicht nur über die Bewegung der Hand funktioniert, sondern auch weil sich durch den oben beschriebenen Zeitdruck ein besonderer Zug, ein Duktus

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von Spontanität ergibt, der durch fast gezwungener Maßen impulsive Verwendung des Apparates eine besondere Beziehung zu den unbewussten Vorgängen des Prozesses herzustellen scheint. Der ›individuelle Duktus‹, der sich in der Spur der Bewegung der Hand auf dem Blatt Papier bei der Zeichnung ausdrückt, wiederholt sich in Abwandlung in der fotografischen Geste, die den Finger über dem Auslöser betätigt. Dabei stellt Koschatzky für die Zeichnung wiederum einen Bezug zu einer anthropologischen Konstante der Daseinsbewältigung her, die auch Warburg beschäftigt, wie ich weiter unten zeigen werde. Das Zeichnen, so Koschatzky, gehört nämlich »zu den Urfähigkeiten des Menschen […]. Es setzte offenbar in jenem Augenblick ein, als sich der Urmensch seiner selbst bewusst wurde; was heißt – zum ersten Mal, als er sein Ich in einem Gegensatz zu seiner Außenwelt, als ein Gegenüber erkannte und als er einer vorhandene Fähigkeit zur Bewältigung solcher Erfahrung zu verwenden vermochte.« (Ebd., 11)

Dem Vorgang des Zeichnens ist also auch ein selbstreflexiver Zug zu eigen. In dem ich eine Linie auf einem Blatt zeichne, ziehe ich zugleich bewusst eine Begrenzung zur Außenwelt ein, die ich doch in einer ambivalenten Inversion dieser Geste mit der Bewegung meiner Hand zu begreifen suche, zu der ich mit der linearen Abgrenzung gleichzeitig eine Verbindung aufbauen will. Die Geste wird paradox, weil ich durch sie versuche, Kontiguität durch Abgrenzung herzustellen. Ich möchte an dieser Stelle in Bezug auf die Selbstreflexivität der zeichnerischen Geste einen Gedanken Jacques Derridas aufgreifen, der diese paradoxe Ambivalenz in Aufzeichnungen eines Blinden (1997) darstellt. Die Zeichner, so erklärt Derrida, entwickeln ihr Vermögen »stets am Rande der Blindheit.« (Derrida 1997, 10) Sie zeichnen den Gegenstand entweder mit Blick auf diesen blind auf das Blatt, oder sie blicken auf das Blatt und werden so blind für den Gegenstand. Blindheit in einer Zeichnung zu thematisieren ist daher selbstreflexiv, »eine gewisse nachdenkliche Pose, ein Eingedenken des Strichs oder Zugs [mémoire du trait], der träumend über seine eigene Möglichkeit spekuliert.« (Ebd.) Die Zeichner sind sich bewusst, dass sie durch ihre Zeichnung dem tatsächlichen Begreifen des Gegenstands vorauseilen, ein gefährliches Spiel, weil es die Transformation des Gegenstandes in etwas Anderes inkludiert. Ich kann mitunter also daneben greifen, plötzlich durch den selbstreflexiven Griff die Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit vor Augen haben. Die Hand in der Zeichnung kann diesen Griff ›daneben‹ reflektieren. Die Antizipation des Zeichnens ist

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»eine Sache der Hand. Das Thema der Zeichnung von Blinden ist in erster Linie die Hand. Diese wagt sich vor, prescht vor und überstürzt sich [se précipite], gewiß aber an Stelle des Kopfes, gleichsam um ihm vorauszugehen, ihn zu warnen und zu beschützen. Als ein Geländer oder Halt [garde-fou]. Die Antizipation bewahrt vor der Präzipitation, sie unternimmt einen Vorstoß in den Raum, um beim Nehmen die erste zu sein, um vorwärtszurücken in einer Bewegung der ›Nahme‹, des Berührens oder des furchtsamen Begreifens [appréhension]: Ein stehender Blinder erkundet den Raum, den er wiedererkennen muss, ohne ihn je kennengelernt zu haben – und was er dabei in Wahrheit begreift, was er befürchtet [appréhende], ist der Sturz oder Fall, ist der Umstand, dass er vielleicht bereits eine schicksalhafte Linie überschritten hat, mit bloßer oder gewappneter Hand« (ebd., 12).

Die Paradoxie des »[W]iedererkennen […], ohne ihn je kennengelernt zu haben« umschreibt recht gut die anthropologische Verfasstheit von Erkenntnisprozessen im Allgemeinen, die oftmals im Dunkeln einer Vorahnung beginnen, bevor etwas Neues konstruiert werden und ans Licht treten kann. Diese Konstruktivität machte den Einzug einer selbstreflexiven Ebene zur Notwendigkeit. Dieses Element der Selbstreflexivität, das »Eingedenken des Strichs«, wie Derrida sagt, findet sich aus meiner Sicht auch in den hier ausgesuchten Fotografien wieder, die ihre Mittel durch die je gewählte Anwendung zu einem Nachdenken über die Zeichnung mit Licht machen. Es gibt aber auch noch eine andere Seite des Prozesses, die sich mit der Inversion der Selbstreflexivität, dem Anteil des Unbewussten und der Kontingenz beschäftigt, die zum Sturz oder Fall führt. Koschatzkys erstes Zitat hat den Duktus der Hand ja bereits als unbewussten beschrieben. Ich gehe später noch genauer darauf ein. Vorerst führt uns der Hinweis auf die Integration eines unbewussten Anteils, der die fotografische Geste zum Selbstausdruck machen kann, zu den Warburg’schen Überlegungen zur menschlichen Grundkonstitution der Psyche zurück.

G REIFEN

UND B EGREIFEN – ABY W ARBURGS I DEEN ZUR SCHIZOPHRENEN V ERFASSTHEIT DER MENSCHLICHEN P SYCHE ALS ANTHROPOLOGISCHER K ONSTANTE Tanz stellt durch seine oben beschriebene Flüchtigkeit eine Herausforderung sowohl für Fotografie als auch jede andere Form der Übertragung und Aufzeichnung im Allgemeinen dar. Das wir nicht ›begreifen‹ können, welche Wahrnehmungsherausforderung der Tanz an uns stellt, führt im Falle der Fotografie zu einem erinnernden Wiederholen als Differenzform. Denn gerade die Fotografie als scheinbar realitätsnahes Medium entfremdet ihren Gegenstand in der Über-

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tragung ins Bild und bringt ihn zum Verschwinden, obwohl wir ihn im Bild (mehr oder weniger) sehen. Diese Erkenntnis hat sich seit Talbots Zeiten durchgesetzt, der noch glaubte, dass die Natur bei der Fotografie selbst den Stift führen würde. Die Fotografie stellt nicht nur unser eigenes Erinnerungsvermögen, sondern den Status des betrachtenden, wahrnehmenden Subjekts an sich in Frage. Denn sie spielt mit »dem Paradox einer realen Irrealität« (Kolesch 1997, 106). Wir blicken im Foto auf eine Präsenz, die fort und da gleichzeitig ist.3 Die Fotografie kommt damit der menschlichen Wahrnehmung entgegen, nämlich in ihrer Konstruktivität. Sie schafft ihren Gegenstand neu. Sie greift in die Wirklichkeit ein und zieht in rasender Schnelle einen Fetzen aus dem Fleisch der Gegenwart, in deren Gewebe eine Wunde zurückbleibt. Sie lässt den Gegenstand als anderen wieder auferstehen, aber damit wird er zur Imagination des Objektes. Die Imagination heilt die Läsion des Realen durch den Balsam der Potentialität und der Begrenzung der Unendlichkeit. Sie bleibt so in der Fotografie aber immer nur eine »mémoire du trait«, eine Erinnerung an eine nicht mehr einzuholende Geste. Aby Warburg ist einer der ersten Kunsthistoriker, der sich diesem imaginativen Anteil der Betrachtung an der Bildwahrnehmung widmet. Er öffnet die Kunsthistorie psychoanalytischen Einflüssen durch das Mitdenken unbewusster Anteile der Bildrezeption. Dabei eröffnet die Warburg’sche Metaphorik des Greifens und Begreifens mit ihrer direkten Verbindung zur Hand als begreifendem Organ des Menschen ein weites Feld der Assoziationen, in das ich den Begriff der Geste des Auslösens einschließen möchte. Das Begreifen-Wollen setzt Warburg als Grundkonstitution der menschlichen Psyche voraus. Bilder sind für ihn ein Ausdruck dieses Willens zum Verständnis der gegebenen Welt. Die Verbindung zwischen physischer und psychischer Bildwirkung stellt für Warburg die notwendige Voraussetzung seines breit angelegten, anthropologischen Lebensprojekts dar, des »Versuch[s] eine[…] Psychologie der menschlichen Orientierung auf universeller bildgeschichtlicher Grundlage« (Warburg 2010a, 644) zu erstellen. Er arbeitet zeitlebens an einer »illustrierte[n] psychologische[n] Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung« (Warburg 2010b, 630), zwischen deren Polen der Mensch in einem beständigen Spannungsfeld steht. Daher integriert er psychologisches, wenn nicht sogar psychoanalytisches Vokabular in seine Ideenfindung.4 Ulrich Raulff hat eine »tiefe

3

Auf das prominente Beispiel von Freuds »Fort-Da!-Spiel« in Bezug auf Tanz geht Gerald Siegmund ein. Er deutet es als »Ur-Modell von Tanz« (vgl. Siegmund 2006, 173).

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Didi-Huberman hat die theoretischen Konvergenzen zwischen Warburg und Freud ausführlich geschildert, mit dem Verweis, dass es unzureichend sei, ausschließlich

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[…] anthropologische […] Bildbedürftigkeit« (Raulff 2003, 10) des Menschen identifiziert, die man an dieser Stelle auch im Sinne Warburgs zugrunde legen kann. Diese nötigt dem Menschen, wie Warburg betont, die Notwendigkeit ab, »durch handmäßiges Erfassen« zu begreifen, »was sich in Wirklichkeit seinen Hantierungskünsten entzieht.« (Warburg 2010c, 574) Unwillkürlich fühlt man sich an Derridas oben beschriebene Paradoxie des »Wiedererkennen […], ohne ihn je kennengelernt zu haben« erinnert. Es ist also ein gleichermaßen notwendiges wie vergebliches Unterfangen, dem sich der Mensch in seinem Verstehenswillen widmet, das der schizophrenen Grundhaltung entspricht. Warburg nimmt dabei den Topos des Begreifens zunächst ganz wörtlich, im Sinne der tätigen Verarbeitung der latenten Wahrnehmungsüberforderung, der der Mensch allein durch sein In-der-Welt-Sein ausgesetzt ist und die er letztlich nur durch das Einziehen von Filtern der kontinuierlichen Verdrängung bewältigen kann. Diese Überforderung treibt ihn ständig hin und her zwischen manischer Phobie und relativierender Vernunft. Der Mensch ist für Warburg »ewig und zu allen Zeiten schizophren« (ebd., 582), gefangen im »Versuch der Selbstbesinnung zur Abwehr der Tragik der Gespaltenheit zwischen triebhafter Magie und auseinandersetzender Logik« (ebd., 568). Ein Ventil der handgreiflichen Bewältigung dieser ›Schizophrenie des Unbegreiflichen‹ ist gerade das Bild, das diese Ambivalenz und Gespaltenheit oftmals nur latent, aber doch beständig widerspiegelt. Es verkörpert damit das, was sich einer sachlichen Begrifflichkeit entzieht. Dabei ist gerade die Bestimmung des Bildes als zeitloser Energiekonserve, die erst im Prozess der Betrachtung zu der einen oder anderen Seite des Pendels (Magie oder Logik) ausschlägt, Ausdruck des produktiven Stellenwerts, den Warburg den Betrachtern, sich selbst eingeschlossen, einräumt. In der bildlichen Evidenz schlägt sich nieder was an emotionalem, verdrängtem Überschuss eine visuelle Verarbeitungsmöglichkeit sucht. Dieser Niederschlag erhält, wie Georges Didi-

nach einem direkten Beleg der Rezeption des Freud’schen Werks durch Warburg zu suchen. Vielmehr gehe es um die »fundamentale Ebene der Konstruktion einer Perspektive« (Didi-Huberman 2010, 306ff.). Der Vorarbeit Didi-Hubermans folgend hat Cornelia Zumbusch (2004) die inhaltlichen Überschneidungen des Begriffs der »Pathosformel« mit dem Vokabular der Psychoanalyse deutlich herausgearbeitet. Zumbusch weist nach, dass diese Überschneidungen, obwohl sie im Werk Warburgs textlich erst im Spätwerk manifest werden, inhaltlich schon im Frühstadium belegbar sind, vor allem auch über den Begriff der ›Psychohistorik‹. Zumbusch vermutet, ähnlich wie Didi-Huberman, dass Warburg sich außerdem während seines klinischen Aufenthalts bei Binswanger intensiv mit dem psychoanalytischen Vokabular auseinandersetzte.

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Huberman zusammenfasst, die Gestalt einer Formel »insofern sie einem ›Pathos‹ Existenz verleiht, also einer physischen und affektiven Reaktion des menschlichen Körpers« (Didi-Huberman 2010, 281). Hier ist die »Pathosformel« angesprochen, die für Warburg wie ein Symptom einer Wahrnehmungsüberforderung unterschwellig weiterwirkt.5 Warburg nennt den Vorgang von Anziehung und Abstoßung durch bildliche »Pathosformeln« auch »Abwehrphantasie« (Warburg 2010c, 578) und weist mit dieser Diktion auf den imaginären Anteil des Prozesses hin. In Konsequenz meint diese mögliche Wiederbelebung im Akt des Sehens ein latentes, aber beständiges, energetisches Potential, das zwar nicht ahistorisch, aber überzeitlich aktiviert und reaktiviert werden kann. Bilder sprechen in Warburgs Modell in erster Linie einen inneren Bildspeicher des Gedächtnisses des Individuums an, das von überindividuellen Latenzen durchzogen ist. Erst durch die Rückkopplung mit diesem energetischen Potential des Unterbewusstseins kann Sedimentiertes im Bild in der Wahrnehmung seinen Aggregatzustand ändern.6 Auch die Fotografie ist letztlich der Versuch, den Gegenstand der Darstellung zu begreifen, ihn zu berühren, um seiner durch eine Geste der Inbesitznahme habhaft zu werden. Wenn ich an dieser Stelle den ›pathetischen‹ Duktus aufnehmen darf, so könnte man sagen, das Besondere der Fotografie, wenn nicht sogar das ›Tragische‹, liegt darin, dass sich der Gegenstand des (Bild-) Begehrens durch die fotografische Berührung im gleichen Moment auflöst, in dem ihm die Fotografie am nächsten kommt: im Moment des Auslösens. Indem ich ihn ergreife, habe ich ihn auch schon wieder verloren. Ein Umstand mit einer nahezu mythischen Dimension, wenn man so will, die an Geschichten des Orpheus erinnert: sehen und verlieren im gleichen Augenblick.

5

Den Themenkomplex ›visuelle Symptome‹ in tanzfotografischen Phänomenen führe ich eingehender in meinem laufenden Dissertationsprojekt Der Moment des Aus/Auflösens – Tanz und Fotografie aus.

6  Diese überindividuellen Latenzen sind nicht zu verwechseln mit einer häufig missverständlich angewendeten Gleichsetzung zwischen der »Pathosformel« und den Jung’schen Archetypen (vgl. Didi-Huberman 2010, 70; 107; 305). Ein weiterer Anlass zu Missverständnissen ist der mit der »Pathosformel« verknüpfte Begriff des kollektiven Gedächtnisses und damit der Erinnerung, der »den konzeptionellen Fluchtpunkt des Mnemosyne-Atlas« (Zumbusch 2004, 98) darstellt. Zumbusch setzt das kulturelle Gedächtnis für Warburg nicht als einfach gegeben voraus, sondern weist ihm einen konkreten Platz in seinem Theoriegebäude an: Als primär ästhetischem, nicht allgemein kulturhistorischem Konzept. Warburg selbst hat, wie Zumbusch nachweisen kann, nie die »Konstruktion einer vermeintlich geschlossenen Theorie des sozialen Gedächtnisses« (ebd., 100) geleistet, weil dies gar nicht in seiner Intention lag.

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Aber nicht nur das Begreifen-Wollen steckt hinter dem Streben nach bildlicher Transformation des Objekts. Es ist auch der Versuch, den Gegenstand dem Verfall zu entreißen. Dass zwingend eine Wunde, ein Bruch, eine Diskontinuität durch das Foto entsteht, liegt nicht nur an der Technik. Es liegt auch an der im tiefsten Innersten der Technik versteckten Kontingenz, die die Fotografie konstitutiv einschließt, und die uns gleichermaßen fasziniert und erschüttert. Gemeint ist in diesem Fall, dass die Fotografie, trotz aller Bemühungen der Einfriedung des Zufalls und aller Vorbereitung auf das Unfassbare, nie eine vollumfängliche Kontrolle über das Bildergebnis erzielen kann, schon allein deshalb, weil sie ihr Motiv nie vollständig beherrschen kann. Die Fotografie muss also diese Kontingenz als substantiellen Bestandteil ihrer Seinsbedingung akzeptieren. Vielfach machen daher Fotografen aus der Not eine Tugend und geben dem Zufall einen bewussten Freiraum in der Bildentstehung, wohl wissend, dass sie mit dem Mittel des Ausschnitts noch ein Ass im Ärmel haben, das ihnen die Möglichkeit gibt, Zufälligkeiten zu begrenzen, ihnen einen Rahmen zu geben, wenn auch dieser Rahmen nie ein vollständiger Ausschluss des Zufalls sein kann. Auf diese Weise ist Fotografie ein beständiges Abarbeiten am Zusammenspiel zwischen Kontingenz und Intention. Gerade im Zufallselement findet sich aber eine starke Homologie zur Tanzkunst. Denn die Notwendigkeit der Akzeptanz der Kontingenz verbindet die Fotografie als Kunstform der Dauer mit dem Tanz als Kunstform der Flüchtigkeit. Auch im Tanz ist, selbst bei größter Meisterschaft, eine völlige (Körper-)Beherrschung nicht zu erreichen. Der Körper bleibt in der Gleichung des Perfektionismus des Tanzes immer die Unbekannte, die letztlich unkontrollierbar bleibt. Daher bleibt seine Beherrschung auf immer das Ideal, auf das man zustrebt, das aber nie erreicht wird. Insofern gehört auch zur Kunst des Tanzes die Anerkennung der Kontingenz, die unüberwindliches Hindernis und Ansporn zugleich wird. Letztlich ist es, wie in der Fotografie, ein schon immer verlorener Kampf gegen Verfall, Flüchtigkeit und Endlichkeit. Auch Körper setzen Rahmen und werden in strenge Rahmen, beispielsweise einer Choreografie, gesetzt. Sie werden in eine bestimmte Form gebracht, sollen durch Technik eine scharfe Kontur erhalten, einer vorherbestimmten Figuration folgen. Dies schließt immer eine mehr oder minder latente Opposition gegen die gewollte Limitierung ein. Fotografie und Tanz sind also nicht nur in ihrem bedingten Ausgeliefertsein an willkürliche Eigengesetzlichkeit ihres Materials miteinander verwandt. Sie verbindet auch ihre vergebliche Widersetzlichkeit gegen den Schwund, die Vergänglichkeit, die den Gegenstand festhalten will, um sich gegen dessen Auflö-

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sung aufzulehnen. Auch der Tanz will Bild werden, um der Flüchtigkeit zu entgehen.7 Vordergründig gelingt diese Bildwerdung der Fotografie besser als dem Tanz. Sieht man aber genauer hin, blickt man gerade in der analogischen Fülle der Fotografie in eine erschreckende Leere der Vergänglichkeit, einen Abgrund zum Vergangenen, die unüberwindlich und die für die latente Melancholie der fotografischen Betrachtung verantwortlich sind. Denn der Gegenstand im Bild, egal in welcher Verfassung er gezeigt wird, ist vergangen und wird so, wie er im Bild zu sehen ist, nicht mehr existieren. Wir spüren hinter dem Synchronismus und der analogen Fülle des Fotos eine radikale Abwesenheit, einen Abgrund, eine unüberwindliche Kluft, die die Zeitlichkeit der Vergangenheit von der Gegenwart der Fotografie für immer trennt und sie trotzdem in der Fotografie paradoxal miteinander verbindet. Das Foto hat durch diese Paradoxie also auch einiges mit der Zeichnung gemein. Durch die Betrachtung einer Fotografie werden wir selbst Teil dieses komplexen Raum-Zeit-(Dis-)Kontinuums. Dadurch wird die Betrachtung einer Fotografie immer von einer Bewegung des Zweifels seitens der Rezipienten begleitet. Diese Bewegung führt zu einer Aufladung mit imaginativer Energie. Dabei spielt gerade die fotografische Technik eine besondere Rolle, wie Karl Sierek betont. Fotografie baut über den Filter des Fotografenkörpers und der fotografischen Technik ein besonderes Verhältnis zum Betrachterkörper auf. Denn die »technisch verbürgte Fähigkeit der Verdichtung und Speicherung von Bewegungsabläufen im Bild affiziert ihn. In einem nachgerade physischen Vorgang der Reaktivierung vergangener Ereignisse tragen Fotografien zu einer dynamischen Repräsentanz des Gewesenen im Betrachterkörper bei.« (Sierek 2007, 35)

Dies trifft allzumal für die Betrachtung von Körpern zu, die selber Gegenstand imaginärer Einschreibung sind, wie es für Tänzerkörper in besonderem Maße zutrifft. Die Bewegung mag also vordergründig aus dem Foto verbannt sein, spätestens in der Betrachtung setzt sie sich als interkorporeller Übersprung fort und wird durch den imaginären Status der Tänzerkörper noch verstärkt. Die Differenz, die durch den Abgleich und die Konkurrenz der eigenen Erinnerung mit der im Bild manifest gewordenen Bildlichkeit entsteht, ist potentiell in jeder Fotografie vorhanden. Es hängt aber von der Geste des Auslösens ab, ob diese Differenz offensiv ausgespielt und damit ästhetisch auffällig wird oder diskret bleibt. Die Besonderheit der Geste des Auslösens, die ich den von mir aus-

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Ich erläutere das am Beispiel der vor allem im klassischen Tanz vielfach eingesetzten Technik der Pose an anderer Stelle ausführlicher (vgl. Drexler 2012).

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gesuchten Fotografien zuschreibe, besteht darin, dass sie sich nicht auf die Intentionalität des den Auslöser betätigenden Subjekts beschränkt, sondern wie die Fotografie und der Tanz, einen unbewussten Anteil bereithält, der einen ästhetischen Überschuss produziert, etwas unterschwellig Unbeherrschbares. Gleichzeitig ist sie in einer inversiven Rückwendung in der Lage, das Vorhandensein dieser unbewussten Elemente zu spiegeln. Die Identifikation dieser Elemente überlässt sie dabei oft den Betrachtern. Sie besteht auf ihrem ästhetischen Eigensinn.8 Wo dieses Unbeherrschbare sich in einer bildlichen Evidenz bemerkbar macht, wird es zum Symptom eines (Bild-)Begehrens, zu einer »visuellen Angel«, wie Georges Didi-Huberman schreibt: »Um diese visuellen Angeln herum tanzen gewissermaßen sämtliche Widersprüche und Konflikte, die im Bild am Werk sind: Harmonien und Brüche, Schönheit und Schrecken, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gegenwarten und Vergangenheiten, Leben und Tod« (Didi-Huberman 2010, 33; Herv. ID).

Prägend ist die Gewalttätigkeit des Schnitts, der Unterbrechung, die plötzliche Entnahme, die den im Foto schlagartig entstehenden Bildraum in ein besonderes Verhältnis zu seinem Off, zum Ausgeblendeten des Bildes, setzt. Denn instinktiv weiß man, dass die Fotografie, anders als die Malerei, eine Entnahme aus einer potentiellen Unendlichkeit bedeutet, dass sie ihren Raum nicht vorfindet, wie die zu bemalende Leinwand, sondern dass sie ihn der Unbegrenztheit entwenden muss wie ein Taschendieb in einem plötzlichen, überraschenden Zugriff, der möglichst unbemerkt bleiben soll, um die mögliche Selbstvergessenheit des Objekts nicht zu stören. Das Bewusstsein einer Anwesenheit, die zwanghaft (hinter der Kamera) präsent war, auch wenn ich sie auf dem Bild nicht sehe, prägt die gesamte Wahrnehmungsweise von Fotografie. Diese besondere Spannung zwischen Drinnen und Draußen macht sich auch die Tanzfotografie zunutze, in dem sie mit Bewegungsindizes auf das Off hinweist, es zur Fragmentierung von Körpern oder zur Illusionierung von Schwerelosigkeit nutzt oder im Bild selbst thematisiert. Was sich außerhalb des Rahmens befindet wirkt auch deshalb als Beunruhigung, weil seine vergangene Präsenz immer noch Auswirkungen auf den Bildraum hat. Durch die Wirkung des Off wird uns bewusst, dass das Foto uns immer etwas vorenthält. Nicht zuletzt ist es das Off, das uns auf den Ursprung des Bildes im Apparat und in der subjektiven Perspektive des Fotografen verweist und damit auf einen Standpunkt, den wir nur scheinbar einnehmen können,

8

Daher sind die künstlerischen Tanzfotografien meiner Auswahl auch nur bedingt von dokumentarischem Nutzwert.

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wenn wir eine Fotografie betrachten. Machen Fotografien diese Tatsache durch selbstreflexive Elemente sichtbar, so verweisen sie uns auf den eigenen, blinden Fleck unserer (Selbst-)Wahrnehmung. In der Tanzfotografie, die durch die Geste des Auslösens als Geste des willentlichen und/oder unbewussten (Be-)Greifens entsteht, werden die Spielräume der Kontingenz beider Kunstformen, Tanz und Fotografie, auf unterschiedliche Weise ausgelotet und bilden damit einen interartifiziellen Zwischenraum der Differenz.

ANTIGRAVE Z EITLOSIGKEIT Sich am Rahmen regelrecht abarbeitende Tänzerkörper zeigt die amerikanische Fotografin Lois Greenfield in vielen ihrer Fotografien. Sie wurde in den späten 1980er und 1990er Jahren durch einen individuellen, fotografischen Stil bekannt, der sich einerseits technisch der fortgeschrittenen, extremen Kurzzeitbelichtung bedient, andererseits inhaltlich durch eine Melange aus innovativen und traditionellen Bildelementen auffällt. Greenfields Modelle sind in der Anfangsphase ihres Schaffens weit überwiegend dem Bereich des zeitgenössischen Tanzes zuzuordnen. Sie haben eine offenere, weniger kodierte Körpersprache als klassisch sozialisierte Tänzer. Die Besonderheit von Greenfields Arbeitsweise liegt darin, dass sie sich explizit vom dokumentarischen Ansatz befreit und im Studio in Kooperation mit den Tänzern eigenen (Foto-)Choreografien entwirft. Damit wird sie für eine ganze Generation von Tanzfotografen vorbildlich, wie beispielsweise auch für die bekannte deutsche Tanzfotografin Bettina Stöß, die zeitweise mit Greenfield zusammen arbeitete. Gleichzeitig greift Greenfield aber auf einen Topos zurück, der als Klischee des klassischen Tanzes gilt: den der Elevation, den Traum der Schwerelosigkeit, des Fliegens. In Kombination mit dem quadratischen Format einer Hasselblad-Kamera entstehen dabei Bildwelten, die die räumliche Orientierung der Betrachter in Frage stellen. Die Bilder sind potentiell drehbar, weil sie nicht immer eine räumliche Orientierung durch die Integration von topografischen Indizes wie Boden oder Wänden gewährleisten. Damit wird die Raumorientierung der Betrachter erschwert. Die Körper, die sich jeglicher Schwerkraft enthoben zeigen, unterstreichen diesen Effekt. In ungezählten Sprüngen vor der Kamera variieren die Tänzer dieses Motiv der Schwerelosigkeit, die ihnen nur durch den Ewigkeitsmoment der Fotografie geschenkt wird. Die Wiederholung lenkt die Wahrnehmung auf die Differenz, die Variation der formalen Umsetzung und damit auf die Autonomie der Bildlichkeit. Der Sprung, der im Studio nur den Bruchteil einer Sekunde dauert, wird durch die Fotografie jeglicher Erdenschwere enthoben und perpetuiert die Möglichkeit der Leibver-

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gessenheit im Kontrast zur anthropologischen Konstante der Gravitation. Damit sehen sich die Betrachter schon auf den ersten Blick einem Bruch mit der außerbildlichen, körperlichen Eigenwahrnehmung ausgesetzt. Der Rahmen ist bei Greenfield in unterschiedlicher Hinsicht vor allem ein selbstreflexives Element der Fotografie, die damit – teils vehement – ihren Eigensinn gegenüber dem Modell einfordert, beispielsweise durch das Stehenlassen des Randes des fotografischen Films beim Abziehen des Negativs, der das desorientierende, quadratische Format betont, aber auch durch eine explizite Thematisierung von Rahmen-imRahmen-Strategien, die die Tänzerkörper sozusagen ein zweites Mal innerhalb der Binnenstruktur des Bildes einschränken und mit einer den Bewegungsradius begrenzenden Entität konfrontieren. Abbildung 1: Lois Greenfield, David Parsons, 1990

Quelle: © Lois Greenfield

In der hier ausgewählten Fotografie von 1990, die den Tänzer David Parsons zeigt, wirkt der schwarze Rahmen fast wie ein Gefängnis, das den vor Bewegungsdrang strotzenden Körper einzwängt. Erst durch genaue Aufmerksamkeit auf die Details wird man gewahr, dass der Tänzer eher durch den Rahmen hindurch springt, wenn am oberen Rand des Hindernisses der Ansatz eines Ellbogens oder eine Fingerspitze hinter dem Rahmen sichtbar werden. Ein kleiner Teil des Gesäßes wird dagegen vor dem Rahmen erkennbar. In einem ansonsten abstrakt belassenen Bildraum, der keinen Anhaltspunkt der Verortung bietet, wirkt

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der schwarze Rahmen vor weißem Grund wie ein Störelement für den Körper, der hängend, springend, abstoßend versucht, sich gegen das Gerahmt-Werden und die Einschränkung zu behaupten. Dabei birgt der Kontrast zwischen der nackten Körperlichkeit des Tänzers und der toten Materie des Rahmens einen zusätzlichen, visuellen Reiz.

G ERAHMTE Z EITLICHKEIT Bernd Uhlig nutzt im Gegensatz zu Lois Greenfield vor allem Unschärfe als fotografische Strategie. Faszinierend an dieser Bildkonzeption ist, dass es Uhlig trotz Verschwommenheit gelingt, das kollektive Tanzgedächtnis der Betrachter zu aktivieren und mit seinen Bildern ein Analogon zum Gedächtnisbild des Tanzes zu schaffen, das lebhaft Zeugnis von seiner Einmaligkeit im Verschwinden und im Versinken im Gedächtnis ablegt. Erst durch die Art, in der Uhlig seinen Ausschnitt wählt, wird dieses Gedächtnismoment des Tanzes auffällig. Der Tanz als gerahmte, verlorene Zeitlichkeit thematisiert sich beispielsweise in den Fotografien von William Forsythes In the Middle, Somewhat Elevated. Die aufgefächerten Lichtspuren der Gliedmaßen entsprechen dabei genau der Zeit der Belichtung. Die minimale Dauer der Bewegung verdichtet sich im Radius des Ausschlags der Arme und Beine, die sich im Fotomaterial der Auflösung in abstrakte Formen und fast flächigen Mustern nähern. Einen Beitrag zu diesem Effekt leistet außerdem ein aufwendiges Verfahren der Postproduktion, das das haptische Moment der Geste des Auslösens auf die Bildbearbeitung hin perpetuiert. Hier zeigt sich im Nachgang eine weitere Möglichkeit, bei der im Prozess der Fotografie rahmend eingegriffen werden kann. Der Fotograf beeinflusst im Entwicklungsprozess durch spezielle, chemische Bäder und das Abwedeln bestimmter Bildpartien mit der Hand den Umraum des Motivs. So greift er sowohl rahmend durch den gewählten Ausschnitt aus dem Off in die Bildgebung ein, als auch direkt in der Binnenstruktur der Licht-Zeichnung. Die tänzerischen Körper werden also nicht nur durch das Auslösen des Fingers am technischen Apparat begriffen, sondern ein zweites Mal mit der Hand ›bearbeitet‹, in einer besonderen »Bewegung der Nahme«, wie Derrida sagt, die mit ihrer fächernden Qualität den Lichtspuren der Gliedmaßen auf der fotografisch-chemischen Schicht des Fotopapiers ähnelt. Die dadurch entstehende, subtile Farbigkeit in gedämpften SepiaTönen ist eigentlich nur am Originalabzug zu studieren und muss durch jede Reproduktion in einem Druckwerk wie dem vorliegenden durch die Reibungsverluste des Druckprozesses verfehlt werden. Sie umgibt die Tänzerkörper wie ein poetisch-auratischer Rahmen aus Nebel und wolkiger Unbestimmtheit, der den

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ehemals profan-schwarzen Bühnenraum der Aufführung in eine Dimension überführt, die mit der lapidaren Bezeichnung ›Schwarz-Weiß-Fotografie‹ nur sehr unzureichend beschrieben ist. Abbildung 2: Bernd Uhlig, Tanzbild 235, Choreografie: William Forsythe, In the Middle, Somewhat Elevated, 1996

Quelle: © Bernd Uhlig

Bernd Uhlig erprobt die Möglichkeiten der sich vor der Kamera auflösenden Körper bis an die Grenze des Darstellbaren. In manchen seiner Fotos bleibt fast ausschließlich die Lichtspur von etwas übrig, von dem wir annehmen, dass es einmal einem tanzenden Körper zugehörig war, wie es im Tanzbild 18 der Fall ist. Die auf dem Bühnenboden zurückbleibenden Steine als Symbole eines stets Unveränderlichen kontrastieren dabei die Flüchtigkeit der verwischten Körperspur, die über die Fläche schwingt wie der Überrest der Berührung eines breit über ein Blatt geführten Kohlestifts. Die Steine wirken dabei wie ein Echo auf den Transformationsprozess der Fotografie: ›vom Fleisch zum Stein‹. Gewissheit über die Herkunft der transparenten Zeichnung werden wir als Betrachter allerdings nie erlangen können, wissen wir doch nur zu gut um die Abwesenheit

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des Tanzes im Moment seines Entstehens. Bernd Uhlig scheint in vielen seiner Fotografien diese Leerräume des Abwesenden zu suchen und sich mit einer Strategie des Entzugs von Figürlichkeit gegen die referentielle Fülle der Fotografie zu wenden. Abbildung 3: Bernd Uhlig, Tanzbild 18, 2000, Choreografie: Toshiko Takeuchi, Personal Phase, 1994, IVes Rencontres Chorégraphiques International De Bagnolet

Quelle: © Bernd Uhlig

D ER KLARE S CHNITT

DURCH

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Die Technik des Ausschnitts hat Gert Weigelt auf die Spitze der Perfektion getrieben. Bei Kennern und Tanzliebhabern sind seine eigenständigen Tanzinszenierungen im Fotostudio hoch anerkannt, wenn er dem breiteren Publikum auch vornehmlich als Chronist des Bühnenwerks von Pina Bausch bekannt ist. Gerade in diesem scheinbar rein dokumentarisch ausgerichteten Werken schafft Weigelt aber eine eigene Interpretation der von ihm fotografisch festgehaltenen Choreografien, denen er in seinen Bildern durch die Technik des Ausschnitts und der neuen Zusammenstellung eine fotografische Kommentarebene zufügt. Dieses Prinzip wendet Weigelt auch interpiktoral an. Durch überraschende, synchrone Gegenüberstellung scheinbar entlegener Bildwelten, beispielsweise aus verschiedenen Stücken von Pina Bausch, gewinnt er selbst dem scheinbar dokumentarischen Bühnenfoto eine poetische Dimension ab, die auf die ästhetische Ei-

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gengesetzlichkeit der Fotografie verweist. Dabei sind noch zwei Besonderheiten zu betonen: Zum einen die leise (Selbst-)Ironie, die Weigelt dem Gegenstand seiner Passion, dem Tanz, gegenüber einnimmt. Schließlich ist Weigelt selbst Tänzer gewesen und hat durch diese Insiderperspektive einen besonderen Blick auf die tänzerischen Dinge. Zum anderen eine besondere Strategie der Rahmung, die für die Tanzfotografie eher ungewöhnlich ist: Weigelt fügt Text- oder Titelebenen ein, die im Zusammenspiel mit der bildlichen Evidenz eine ironische Metaebene ermöglichen. Mit Bildern wie Pistole (zusammengestellt aus zwei Fotos der Keuschheitslegende) oder Croco (links ein Bild aus Danzón, rechts aus Palermo, Palermo) wird deutlich, dass erst die Rahmung und die Rahmung der Rahmung in der Zusammenfassung die strikte Begrenzung die Fantasie der Betrachter anregt und einen ›Reichtum der beschränkten Sicht‹ als ein weites Feld der Assoziationen fast narrativer Qualität ermöglicht. Abbildung 4: Gert Weigelt, Pistole, Teil derAusstellung Absolut Pina, 2008

Quelle: © Gert Weigelt

Abbildung 5: Gert Weigelt, Croco, Teil der Ausstellung Absolut Pina, 2008

Quelle: © Gert Weigelt

In seinen eigenen Bildinszenierungen entledigt sich Weigelt überwiegend der scheinbar essentiellen bildnerischen Problemstellung der Tanzfotografie: der Bewegung. Im Kunstgriff einer doppelten Stillstellung friert er seine Objekte zu-

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nächst vor der Kamera in der Pose ein, bevor sie ein zweites Mal durch die Fotografie endgültig stillgestellt werden. Viele seiner Bildkonzepte funktionieren durch den Anschnitt und die damit entstehende Fragmentierung der Körper, die Verselbstständigung von Gliedmaßen, die ohne Kopf entpersonalisiert ein Eigenleben im zweidimensionalen Bildraum zu führen scheinen. Damit betont Weigelt die perfektionierte Körperbeherrschung besonders des klassischen Tanzes, bei der jeder Muskel gesondert steuerbar und – im Bild von Weigelt in gestochener Schärfe – sichtbar wird. Dennoch ist klar: Auch diese Beherrschung ist endlich und kann nur durch das Foto ins Endlose perpetuiert werden. In Weigelts Bildern führt der Wunsch, hinter das Geheimnis des Tanzes zu kommen, oftmals zu einem bildlich-fotografischen Sezieren der Körper, die zerlegt und neu kombiniert werden und so andere Sinnzusammenhänge eröffnen, als der ursprüngliche Kontext suggeriert, dem sie entnommen wurden. Die Fotografie T ist in dem von mir hier umrissenen, metaphorischen Feld besonders interessant, denn sie greift den Zusammenhang zwischen Ausschnitt und Totalität gekonnt auf. Indem sich der tänzerische Körper durch den Ausschnitt in einen Buchstaben verwandelt, schließt sich an dieser Stelle der Kreis zum anfangs eröffneten Assoziationsfeld des Vergleichs von zeichnerischer Linie, dem handschriftlichen Schreiben und der fotografischen Licht-Zeichnung. Der leichte Aufwärtsschwung der athletischen Rückenlinie wirkt wie ein temperamentvoll auf ein weißes Blatt geworfener Duktus einer persönlichen Unterschrift, der den Unterzeichner unverwechselbar macht, wie das »t« in der Unterschrift des Namens »Gert«. Es ist sicher kein Zufall, dass Gert Weigelt im Laufe des Prozesses der fotografischen Inszenierung selbst häufig zum Skizzenbuch greift, um eine Bildidee zuerst einmal zeichnerisch zu konkretisieren, bevor sie in Fotografie umgesetzt wird. Weigelt begreift den Gegenstand seiner Fotografie also auch hier mit einer verdoppelten Taktik; einmal grafisch-zeichnerisch, dann foto-grafisch. Greenfield, Uhlig und Weigelt zeigen mit ihren Arbeiten und den darin angewendeten, selbstreflexiven Strategien der Rahmung, dass die Fotografie dem Tanz nicht nur etwas nimmt – seine Bewegung –, sondern ihm auch etwas zurückgibt: Ein Geheimnis, dass nur das Kameraauge offenbaren kann.

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Abbildung 6: Gert Weigelt, T, 1995

Quelle: © Gert Weigelt

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L ITERATUR DERRIDA, Jacques (1997): Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. Michael Wetzel (Hrsg.): Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel. München: Wilhelm Fink. DIDI-HUBERMAN, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Berlin: Suhrkamp. DREXLER, Isabelle (2012): »Von Phantomen, Schwanenfrauen und anderen Mischwesen. Das ›Nachleben‹ der Klassik in der zeitgenössischen Tanzfotografie.«, in: Bettina Brandl-Risi/Gabriele Brandstetter/Stefanie Diekmann (Hrsg.): Hold It! Zur Pose zwischen Bild und Performance. Berlin: Theater der Zeit, S. 112-131. DUBOIS, Philippe (1998): Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, hrsg. v. Herta Wolf. Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst. HAß, Ulrike (2008): »Vom Körper zum Bild. Ein Streifzug durch die Theatergeschichte als Mediengeschichte in sieben kurzen Kapiteln«, in: Henri Schoenmakers/Stefan Bläske/Kay Kirchmann/Jens Ruchatz (Hrsg.): Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld: transcript, S. 43-56. KEMP, Walter/AMELUXEN, Hubertus von (2006) (Hrsg.): Theorie der Fotografie 1839-1912: Eine Anthologie. München: Schirmer/Mosel. KOLESCH, Doris (1997): Roland Barthes. Frankfurt am Main/New York: Campus. KOSCHATZKY, Walter (19876): Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke. München: dtv. RAULFF, Ulrich (2003): Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg. Göttingen: Wallstein. SIEGMUND, Gerald (2006): Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript. SIEREK, Karl (2007): Foto, Kino und Computer. Aby Warburg als Medientheoretiker. Hamburg: Philo. TALBOT, Henry Fox (2006 [1844]); »Der Stift der Natur«, in: Hubertus von Ameluxen/Walter Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie 1839-1912: Eine Anthologie. München: Schirmer/Mosel, S. 60-63. TREML, Martin/WEIGEL, Sigrid/LADWIG, Perdita (Hrsg.) (2010): Aby Warburg – Werke in einem Band. Berlin: Suhrkamp.

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WARBURG, Aby (2010a [1927-1929]): »Mnemosyne I. Aufzeichnungen (19271929)«, in: Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig (Hrsg): Aby Warburg – Werke in einem Band. Berlin: Suhrkamp, S. 640-646. WARBURG, Aby (2010b [1929]): »Mnemosyne Einleitung (1929)«, in: Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig (Hrsg). Aby Warburg – Werke in einem Band. Berlin: Suhrkamp, S. 629-639. WARBURG, Aby (2010c [1923]): »Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika (1923)«, in: Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig (Hrsg).: Aby Warburg – Werke in einem Band. Berlin: Suhrkamp, S. 567-600. ZUMBUSCH, Cornelia (2004): Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins PassagenWerk. Berlin: Akademie Verlag.

Autorinnen und Autoren

BERGER, CHRISTIANE, Dr. phil., Tanzwissenschaftlerin, Dozentin für Tanzgeschichte, Ästhetik und Dramaturgie im Masterstudiengang Choreografie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) Berlin. Dort beschäftigt sie sich insbesondere mit dem Verhältnis von Bühnenakteuren und Zuschauern sowie der Frage nach der Bedeutung sprachlicher und reflexiver Mittel für choreografische Prozesse. Ihre Dissertation zur Wahrnehmung tänzerischer Körperbewegung erschien 2006 unter dem Titel Körper denken in Bewegung bei transcript. BREUSS, ROSE, Prof., Institutsdirektorin am IDA (Institute of Dance Arts) der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, Forschungsinteressen und schwerpunkte: Movement Research, Somatische Techniken. Weitere Publikationen: zus. m. Claudia Jeschke: »Embodiment : Choreografie : Komposition. Sphäroide von Rose Breuss und Franz Hautzinger«, in: Marianne Betz (Hrsg.): Querstand 5. Beiträge zu Kunst und Kultur. Linz 2011: Trauner, S. 79-88; (2014): »Schnittstellen, Überschreitungen und A-Logiken in Movement Research Prozessen« (deutsch/englisch), in: Claudia Jeschke/Rose Breuss (Hrsg.): de-archiving movement #1. München 2014: epodium digital, http//: www.epodium. de/epodium-digital/e-zine. DREXLER, ISABELLE, M.A., Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, zurzeit tätig in der freien Wirtschaft, Forschungsschwerpunkt: Tanz und Fotografie. Weitere Publikationen: »Von Phantomen, Schwanenfrauen und anderen Mischwesen. Das ›Nachleben‹ der Klassik in der zeitgenössischen Tanzfotografie«, in: Bettina Brandl-Risi/Gabriele Brandstetter/Stefanie Diekmann (Hrsg.): Hold It! Zur Pose zwischen Bild und Performance. Berlin 2012: Theater der Zeit, S. 112-131; »Spezielle Orte des Tanzes im Bild – am Beispiel der Tanzphotographie«, in: Lampert, Friederike (Hrsg.): Choreographieren reflektieren. Münster/Berlin 2010: LIT, S. 195-220.

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EVERT, KERSTIN, Dr. phil., Tanz-/Theaterwissenschaftlerin, leitet das Choreographische Zentrum K3 | Tanzplan Hamburg. Publikationen: zus. m. Burri, Regula Valérie/Peters, Sibylle/Pilkington, Esther/Ziemer, Gesa (Hrsg.): Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Bielefeld 2014: transcript; Dancelab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien. Würzburg 2003: Königshausen & Neumann. FOELLMER, SUSANNE, Jun.-Prof. Dr. phil., für Tanz- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit Frühjahr 2014 leitet sie das DFGForschungsprojekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«. Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern von ästhetischer Theorie, Gender- und Körperkonzepten im zeitgenössischen Tanz, in der Performance sowie im Tanz in der Weimarer Zeit, im Verhältnis von Tanz und ›anderen‹ Medien und in den Konzeptionen von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit in der Darstellung. Publikationen unter anderem: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld 2009: transcript; »Re-Cyclings. Shifting Time, Changing Genre in the Moving Museum«, in: Dance Research Journal, Special Issue Dance and the Museum, 46, 3, Dezember 2014, S. 101-117. GELDMACHER, PAMELA, Dr. phil., Medien- und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie, Geschichte und Praxis performativer Kunstformen, kollektive und partizipative Strategien in Kunst und Gesellschaft, Utopie und Gegenwärtigkeit sowie ästhetische Theorien zur Erschöpfung. Ausgewählte Publikationen: Re-Writing Avantgarde: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der PerformanceKunst. Bielefeld2015: transcript; »Aktionistische Stille oder stillgestellte Aktion? Der Ruhende Verkehr von Wolf Vostell«, in: Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.): Materie – Material – Materialität. Disziplinäre Annäherungen (= materialisierungen, 3). Düsseldorf Frühjahr 2016: Düsseldorf University Press; »Gelebter Ou-Topos. Leiblichkeit, Macht und Utopie in der Performance«, in: Marie-Luise Angerer/Yvonne Hardt/Anna-Carolin Weber (Hrsg.): Choreographie Medien - Gender. Zürich 2013: diaphanes, S. 203-214. HARDT, YVONNE, Prof. Dr. phil., Tanzwissenschaft und Choreografie, Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, derzeitige Forschungsinteressen: kritische Tanzgeschichte und historiografische Methoden an der Grenze von Theorie und Praktik, Tanz und Politik, praxeologische Erfor-

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schung von Tanztechniken und Bildungspraktiken im Tanz. Ausgewählte Publikationen: Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster 2004: LIT; zus. m. Marie-Luise Angerer/Anna Weber (Hrsg.): Choreographie – Medien – Gender. Berlin/Zürich 2013: diaphanes; zus. m. Martin Stern (Hrsg.): Choreographie und Institution: Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung. Bielefeld 2011: transcript. JESCHKE, CLAUDIA, Prof. i.R. Dr., Tanzwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkte und -interessen: Bewegungsanalyse, Tanz-Notation, Re-Konstruktion, Tanz- und Notations-Historiografie. Publikationen: »Lecture Performance«, in: Irene Brandenburg/Sandra Chatterjee/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke: Tanz&Archiv: ForschungsReisen, Heft 6: Doing Memory: Zwischen Don Juan und Bharatanatyam. München 2015: epodium, S. 58-61; zus. m. Rose Breuss: »Embodiment : Choreographie : Komposition. Sphäroide von Rose Breuss und Franz Hautzinger«, in: Marianne Betz (Hrsg.): Querstand 5. Beiträge zu Kunst und Kultur. Linz 2011: Trauner, S. 79-88. KELTER, KATHARINA, M.A., Medien- und Kulturwissenschaftlerin, arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich »Kultur, Medien und Gesellschaft« des Instituts für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Zuvor war sie Promotionsstipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Materialität und Produktion« (GRK 1678) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Derzeitige Forschungsinteressen unter anderem: Tanz und Produktion, Materialität und Produktion, Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, Archivierung/Archivierbarkeit von Tanz. Weitere Publikationen: »›Work in progress‹. Ein Schulprojekt der Pina Bausch Foundation«, in: Marc Wagenbach/Pina Bausch Foundation (Hrsg.): Tanz erben. Pina lädt ein. Bielefeld 2014: transcript, S. 127-137. MATZKE, ANNEMARIE, Prof. Dr. phil., Theaterwissenschaftlerin und Performance-Künstlerin, Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim und Mitglied des Performancekollektivs She She Pop. Forschungsthemen sind Theorie und Geschichte der Probe, Schauspielformen, Performance Art, Gendertheorie und theatrale Raumkonzepte. Veröffentlichungen unter anderem: Arbeit am Theater - Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2013: transcript; zus. m. Gabriele Brandstetter/Hans-Friedrich Bormann (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Bielefeld 2013: transcript.

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PRÖBSTEL, EVA, M.A., studierte Medien- und Kulturwissenschaft und Medienkulturanalyse in Düsseldorf. Sie absolvierte eine Ausbildung in klassischem Tanz in Stuttgart und Monte Carlo. Weitere Publikationen: Schwerdt, Eva: »Tanz als spontane Interaktion. Zur Entstehung der Bewegung in Gruppenimprovisationen von ZOO\Thomas Hauert«, in: Reinhold Görling/Timo Skrandies/Stephan Trinkaus (Hrsg.): Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz. Bielefeld 2009: transcript, S. 187-198. REITHER, SASKIA/SHARMA, GERRIET K./BERGMANN, NICO, Kanzlei für Raumbefragungen, gegründet 2010 durch Gerriet K. Sharma, Thematisierung von Raumkonzepten, Gebäudekompositionen für leerstehende Architekturen wurden zwischen 2010 und 2015 in Graz, Würzburg, Murau, für den französischen Pavillon auf der Musikbiennale Zagreb 2015 und einen vierstöckigen Büroleerstand im Zentrum der Kölner Innenstadt realisiert. Alle Arbeiten sind im Netz unter dem Link www.kavs.cc dokumentiert. ROSINY, CLAUDIA, Dr. phil., Tanz- und Medienwissenschaftlerin, verantwortlich für Tanz und Theater im Bundesamt für Kultur der Schweiz. Daneben Lehrtätigkeiten und Publikationen. Forschungsinteressen: Zeitgenössischer Tanz, Intermedialität, Performance, digitale Kultur. Publikationen unter anderem: Tanz Film. Intermediale Beziehungen zwischen Mediengeschichte und moderner Tanzästhetik. Bielefeld 2013: transcript; zus. m. Reto Clavadetscher (Hrsg.): Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2007: transcript. SIEGMUND, GERALD, Prof. Dr. phil., Theaterwissenschaftler, Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theater als Dispositiv, Theater seit den 1960er Jahren, Theatertheorie, Ästhetik, Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater. Zuletzt herausgegeben: zus. m. Hölscher Stefan (Hrsg.): Dance, Politics, and CoImmunity. Zürich/Berlin 2013: diaphenes; sowie m. Gerald Siegmund/Lorenz Aggermann et. al. (Hrsg.): »Lernen, mit den Gespenstern zu leben«. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv. Berlin 2015: Neofelis Verlag. DA SILVA, JOÃO,

M.A., Tänzer und Associate Professor an der ArtEZ University of the Arts, Faculty Theatre and Dance (Arnhem, Niederlande). Er beendet derzeit sein Promotionsstudium an der Universität Utrecht mit einer Arbeit zur Risikobereitschaft in Großgruppentänzen, ihren improvisatorischen Elementen und

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der Verbindung zum »Wissen«. Publikationen: »Improvise or Else«, in: Danswetenschap in Nederland, 8, 2015, S. 89-98; »How do I know that I don't know«, in Richard Allsopp/Kirsi Monni/Helsinki: Kinesis (Eds.): Practicing Composition. Making Practice. 2015; »Inventing Futures: Doing and Thinking Artistic Research with(in) the Master of Choreography Programme of ArtEZ«, Arnhem 2013: ArtEZ Press. SKRANDIES, TIMO, Prof. Dr. phil., ist Professor für Bildwissenschaft und Medienästhetik am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, moderne und zeitgenössische Kunst, Kunst im Anthropozän, Tanz, Materialität und Produktion, Walter Benjamin. Publikation: zus. m. Reinhold Görling/Stephan Trinkaus (Hrsg.): Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz. Bielefeld 2009: transcript; Ebenda: »Das Intervall der Geste oder Wann beginnt Tanz«, S. 117-145; »Labor und Zeitgenössischer Tanz. Ein Selbstversuch zwischen ästhetischer Theorie und performativer Praxis« (zus. m. Gudrun Lange), in: Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.): Produktion von Kultur, Düsseldorf 2011: Düsseldorf University Press, S. 25-39. VOLLMER, MAIKE, M.A., Studium der Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2012 Stipendiatin im DFGGraduiertenkolleg (GRK 1678) »Materialität und Produktion« an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Forschungsinteressen: Künstlerische Forschung, Zeitgenössischer Tanz, Proben und künstlerische/tänzerische/choreografische Verfahren/Praktiken. Weitere Publikationen: »Einleitung: Artistic Research, Künstlerische Forschung, Forschung in der oder durch die Kunst. Eine Standortbestimmung für das Projekt ›Unter Uns!‹«, in: Silke, Z. (Hrsg.): Unter Uns! Künstlerische Forschung – Biografie – Performance. Bielefeld 2014: transcript, S. 53-64; »Noch nicht Bild – Zur Funktion der Performativität im zeitgenössischen Tanz«, in: Bernhard Dieckmann/Hans Malmede/Katrin Ullmann (Hrsg.): Identität Bewegung Inszenierung. Düsseldorfer Schriften zu Kultur und Medien. Frankfurt am Main 2010: Peter Lang, S. 225-237. WORTELKAMP, ISA, Dr. phil., Tanz- und Theaterwissenschaftlerin, leitet das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt »Writing Movement. Inbetween Practice and Theory Concerning Art and Science of Dance« am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: zus. m. Tessa Jahn/Eike Wittrock (Hrsg.): Tanzfotografie – Historiografische Reflexionen der Moderne. Bielefeld 2015: transcript; (Hrsg.) Bewegung Lesen.

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Bewegung Schreiben. Berlin 2012: Revolver Publishing; zus. m. Annemarie Matzke/Christel Weiler (Hrsg.): Das Buch der Angewandten Theaterwissenschaft. Berlin 2012: Alexander Verlag; Sehen mit dem Stift in der Hand – die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung. Freiburg im Breisgau 2006: Rombach.

TanzScripte Kirsten Maar Entwürfe und Gefüge William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen September 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2377-2

Gerko Egert Berührungen Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz April 2016, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3329-0

Bayerisches Staatsballett (Hg.) Aus Leidenschaft! 25 Jahre Bayerisches Staatsballett (mit Texten von Dorion Weickmann und Katja Schneider) 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3311-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

TanzScripte Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3186-9

Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps/Das Frühlingsopfer« 2015, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2651-3

Claudia Rosiny Tanz Film Intermediale Beziehungen zwischen Mediengeschichte und moderner Tanzästhetik 2013, 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2329-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

TanzScripte Frank Reza Links Zwischen Flamenco und Charleston Der Tanz in Literatur, Stummfilm und Malerei im Spanien der Moderne

Malda Denana Ästhetik des Tanzes Zur Anthropologie des tanzenden Körpers

August 2016, ca. 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3107-4

2014, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2719-0

Eike Wittrock Arabesken – Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert August 2016, ca. 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2935-4

Tessa Jahn, Eike Wittrock, Isa Wortelkamp (Hg.) Tanzfotografie Historiografische Reflexionen der Moderne April 2016, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2994-1

Julia Wehren Körper als Archiv in Bewegung Choreografie als historiografische Praxis März 2016, 274 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3000-8

Stefan Apostolou-Hölscher Vermögende Körper Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik 2015, 398 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3051-0

Jens Richard Giersdorf Volkseigene Körper Ostdeutscher Tanz seit 1945 (übersetzt aus dem Englischen von Frank Weigand)

Gabriele Brandstetter, Reinhild Hoffmann, Patricia Stöckemann (Hg.) CALLAS Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983/2012 2014, 174 Seiten, kart., zahlr. Abb., mit DVD, 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2509-7

Melanie Haller Abstimmung in Bewegung Intersubjektivität im Tango Argentino 2013, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2523-3

Stephan Brinkmann Bewegung erinnern Gedächtnisformen im Tanz 2012, 328 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2214-0

Franco Barrionuevo Anzaldi Politischer Tango Intellektuelle Kämpfe um Tanzkultur im Zeichen des Peronismus 2011, 168 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1794-8

Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.) Choreographie und Institution Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung 2011, 316 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1923-2

2014, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2892-0

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