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German Pages 366 Year 2017
Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.) Performance und Praxis
Sozialtheorie
Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.)
Performance und Praxis Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Performance und Praxis. Ein Dialog
Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel | 7
ROUTINE UND I NSTABILITÄT Die Praxis des Fliegens und ihre Störungen
Larissa Schindler | 45 Tanz weitergeben. Tradierung und Übersetzung der Choreografien von Pina Bausch
Gabriele Klein | 63 Praktiken des Erforschens von Publikumswahrnehmung. Methodische Annäherungen an einen »praxeologischen Sonderfall«
Anna Wieczorek | 89 Die Praxis der Performance zwischen Strategie und Emergenz. Das Beispiel T.E.R.R.Y.
Katharina Kelter | 115
NORMATIVITÄT UND E NTGRENZUNG Praktiken und Praxis. Zur Relationalität von Ordnungs- und Selbst-Bildung in Vollzügen
Thomas Alkemeyer | 141 Passungen herstellen. Zur Affizierungspraxis von Körpern und Prothesen in der Leichtathletik
Hanna Katharina Göbel | 167 Mediale Praktiken des Gendering. Tamara und Irina Press im westlichen Sportdiskurs zu Zeiten des »Kalten Krieges«
Dennis Krämer | 191
TRANSFORMATION UND BESTÄNDIGKEIT Rituelle Magie und Bühne. Die Transformation des »Fetischs« in der choreografischen Arbeit von Faustin Linyekula
Claude Jansen | 213 Choreografie vermitteln. Eine praxeologische Untersuchung zu Tanzkunst und Kultureller Bildung
Gitta Barthel | 229 Reflexion als Praxis. Das Beispiel einer künstlerischen Recherche zu Stadträumen
Heike Lüken | 247 Die Suche des Tanzes nach seiner Geschichte. Zum Umgang mit vergangenem Wissen
Sabine Huschka | 267
P OLITISCHES UND ÄSTHETISCHES Performance Practice: Between Self-Production and Transindividuality
Ana Vujanović | 295 Künstlerische Praktiken des »Radikalen«. Das Beispiel der Performance Schönheitsabend
Elisabeth Leopold | 313 Performing Citizenship. Beobachtungen zur Praxis performativer Forschung
Sibylle Peters | 339 Zu den Autorinnen und Autoren | 361
Performance und Praxis. Ein Dialog G ABRIELE K LEIN UND H ANNA K ATHARINA G ÖBEL
Sie waren in allen Medien und wurden wochenlang kommentiert und diskutiert: die TV-Duelle der Kandidat*innen Hillary Clinton und Donald Trump im USamerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016. Es waren globale Medienereignisse, unwiederholbar, einmalig. Es gab Moderator*innen und Zuschauer*innen vor Ort, die Duelle fanden in Hörsälen verschiedener Universitäten in New York, Missouri und Las Vegas statt. Vor den Fernsehern saßen Millionen von Zuschauer*innen, die die im Anschluss über Umfragen eruierte Beglaubigung der Duellant*innen vornahmen. Das Duell, gemeinhin verstanden als ein nach festgelegten Regeln vorgenommener freiwilliger Zweikampf mit gleichen, potentiell tödlichen Waffen, wurde hier nicht von den Kontrahent*innen entschieden, sondern über die Authentifizierung durch die Zuschauer*innen. Dabei spielten die Wahrheit der Aussagen, die Richtigkeit der Annahmen, die Belegbarkeit der Fakten und die Aufrichtigkeit der Duellant*innen kaum eine Rolle. Vielmehr rückte der performative Effekt in den Mittelpunkt – und dieser bemisst sich nicht an einem aufklärerischen Diskurs über evidenzbasierte Fakten, sondern an der Koppelung an die Gefühlswelt der Zuschauer*innen. Beglaubigt wurde emotional-affektiv: Entscheidend war, was als wahr, richtig und aufrichtig empfunden wurde. Diese TV-Duelle waren nicht nur ein trauriges Indiz für den Einbruch der sogenannten postfaktischen Zeiten in die Politik (Keyes 2004). Hier zeigte sich auch, dass die Durchsetzung des Postfaktischen, in dem genannte Fakten und Daten nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden, insbesondere deshalb funktioniert, weil die Narrative, in die die Präsentation von Fakten schon immer eingebettet waren, nunmehr in Aufführungen verhandelt werden, deren Gelingen sich performativ begründet und weil hier – sowohl während der Debatte wie auch in den nachträglichen Kommentierungen – (mediale, theatrale und rituelle) Praktiken zum Einsatz kamen, die zum einen den Routinen des politi-
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schen Feldes entsprachen, zum anderen diese aber zugleich sprengten. Theatrale Aspekte erscheinen hier also nicht mehr nur als die inszenatorische Seite des politischen Handlungsgeschehens, sondern der Erfolg von Politik bemisst sich allein an performativen Akten einer »gelungenen Performance«. Die TV-Duelle eignen sich in besonderer Weise, um das Verhältnis von Performance und Praxis zu veranschaulichen: Sie sind angekündigt, vorbereitet und zumeist lang geplant. Sie haben einen ritualisierten Ablauf, der aus vielen Praktiken besteht und ein konventionalisiertes Wissen abruft. Sie sind ein Ereignis, unwiederholbar und einmalig, selbst wenn es mehrere Duelle gibt. Sie fordern die (Medien-)Präsenz und Darstellungskompetenz der »Hauptakteur*innen« heraus. Sie brauchen Zuschauer*innen, die die Sieger*in des Duells ermitteln. Am Beispiel des TV-Duells lassen sich die jeweiligen theoretischen Perspektiven der Performance- wie der Praxisforschung ausbuchstabieren: In der Performanceforschung stehen der Aufführungscharakter des Duells, seine Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, die Ko-Präsenz der Akteur*innen, die Authentifizierungsstrategien sowie das Verhältnis von Ritualität, Theatralität und Medialität zueinander sowie zur gesellschaftlichen und politischen Realität im Mittelpunkt des Interesses. Die Performativitätsforschung wiederum konzentriert sich auf den Sprechakt und dessen Beglaubigungsstrategien sowie auf die Verkörperungsformen (wie Gesten, Mimik, Körperhaltung, Gangart, Kleidung) und die soziale Wirksamkeit des Sprechaktes. Die Praxistheorie hingegen betrachtet und beobachtet das Ensemble von Praktiken, das zur Emergenz dessen führt, was wir ein globales, mediales Ereignis im Feld der »Politik« nennen. Untersucht werden die Normativität, Ritualität, Routinisiertheit und Körperlichkeit von Praktiken, der Modus ihres Vollzugs sowie die Wissensordnungen, auf die sich diese Praktiken beziehen. In allen drei Ansätzen wird die Situation des TV-Duells in ein Verhältnis zur Ordnung gesetzt: Die Performanceforschung stellt die Performativität der Aufführung ins Verhältnis zur Repräsentativität der Inszenierungsordnung der »Politik«, die Performativitätsforschung stellt den Sprechakt ins Verhältnis zur Sprachordnung, die Praxisforschung fragt nach dem Verhältnis von Praktiken und Ordnungen, wobei hier unter Ordnung zumeist Wissensordnungen verstanden werden, die, anders als bei Michel Foucault, nicht so sehr im Hinblick auf ihren Machtaspekt reflektiert werden. Performance- und Praxistheorien haben somit in den letzten Jahren aus unterschiedlichen und zum Teil sich überschneidenden Perspektiven einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die Situationalität des Sozialen und Kulturellen stark zu machen, indem sie ihr eine höhere Autorität gegenüber Ordnungsstrukturen und -systemen und eine größere Wirkmächtigkeit für die Herstellung von (sozialer) Wirklichkeit zugeschrieben haben als dies in struktur- oder system-
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theoretischen Ansätzen der Fall ist. Es sind beides junge Forschungsfelder der Sozial- und Kulturwissenschaften, die beide im Kontext von Krisen – der Repräsentation und der (Wissens-)Ordnungen – an Stärke gewonnen haben und zunächst ein großes Versprechen waren. Mittlerweile aber werden die Begriffe Praxis und Performance inflationär genutzt und haben dadurch an begrifflicher Schärfe eingebüßt. Zugleich haben sich die Forschungsfelder der Praxis- und Performanceforschung ausdifferenziert. Entsprechend lassen sich die Theoriepositionen zwar nach wie vor markieren, ihre Grenzen sind aber fließend. Vor allem der Zusammenhang von Performance und Praxis im Sinne einer Reflexion der Relevanz des Performance- und Performativitätskonzepts für die Praxistheorie und umgekehrt des Praxisbegriffs für die Performance- und Performativitätstheorie werden aus unserer Sicht bislang – wenn überhaupt – nur peripher diskutiert. Dazu will dieses Buch erste Ansätze liefern. Es versammelt Texte, die sich – thematisch gebündelt – an Beispielen aus den Feldern Tanz, Theater, Sport und Alltag und aus unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sowie mit verschiedenen performance- oder praxistheoretischen Ansätzen dem Zusammenhang von Performance und Praxis nähern. Diese Einleitung will dazu den Rahmen setzen. Sie zielt darauf ab, die Theoriefelder in Bezug zueinander zu setzen, ihre Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten sowie ihre Differenzen herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist die These, dass das Performative das verbindende Element dieser beiden Theoriefelder darstellt: Das Performative dient der Praxistheorie zur Erklärung des Vollzugs sowie zur Transformation von Praktiken; der Aufführungsaspekt in der Durchführung wird hier wenig beachtet. Die Performancetheorie hingegen versteht Praxis als das Feld der künstlerischen Produktion oder als den Ort, an dem sich Aufführungen ereignen. Performativität wird hier verstanden als der Modus der Erzeugung von Wirklichkeit in und über Aufführungen sowie in und über performative Handlungen und Praktiken. Performativitäts-, Performance- und Praxistheorien fordern damit auch den Handlungsbegriff heraus, indem sie das Tun (doing), das Herstellen und Darstellen (acting) und das Aufführen (performing) in einen neuen Zusammenhang stellen. Um das Spannungsfeld von Performance- und Praxistheorie auszuleuchten, werden im Folgenden die zentralen Aspekte der jeweiligen Theoriekonzepte und methodologischen Ansätze skizziert, um dann die Schnittstellen und Überlappungen gebündelt unter zentralen Aspekten des Performativen zu diskutieren. Hier wird der Frage nachgegangen, ob und wenn ja, wie sich die einzelnen Theorieansätze ergänzen.
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P OSITIONEN DER P ERFORMATIVITÄTS -, P ERFORMANCE UND P RAXISTHEORIEN Praxis und Performance sind heterogene Theoriekonzepte: Für die Praxistheorien lässt sich eine breite Theoriebewegung vor allem in der angelsächsischen und deutschsprachigen Soziologie, in unterschiedlichen Forschungsfeldern (wie etwa Gender Studies, Postcolonial Studies, Science & Technology Studies (STS), Media Studies, Urban Studies) sowie in angrenzenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie und Ethnologie, der Geschichtswissenschaft und Kulturgeographie nachzeichnen, die einige zentrale begriffsgeschichtliche Gemeinsamkeiten aufweisen (Schäfer 2016a: 9ff.). Performancetheorien haben sich zusammen mit performativitätstheoretischen Ansätzen in einem interdisziplinären Feld der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften etabliert und somit verschiedene theoretische und methodologische Ausgangspunkte. Insofern kann man weder eine Definition des Praxisbegriffs noch einen kanonisierten Begriff von Performance oder Performativität formulieren. Die theoretische Produktivität der Theoriekonzepte liegt vielmehr in ihrer »Unverschultheit«: in der Vielfältigkeit der begrifflichen Verortungen, in den unterschiedlichen Strategien der Theoriebildung und in der Breite der methodischen Zugänge. Einen Aufwind erfahren hat die Debatte um Performance, Performativität und Praxis im Zuge von turns, dem performative turn einerseits und dem practice turn andererseits, die sich etwa zeitgleich seit den 1960/70er Jahren in verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften vollzogen. Das Performative: Sprachphilosophische Ansätze Der performative turn findet in den 1950er Jahren seinen Ausgangspunkt in den Sprechakttheorien John L. Austins (1975). In seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen, die er 1955 an der Harvard Universität hielt, führt Austin den Begriff performativ ein, den er von dem Verb to perform (vollziehen) ableitet. Ein performativer Sprechakt bedeutet, dass nicht nur jemand ein sprachliches Statement gibt, sondern eine Handlung vollzieht – wie bei einer Hochzeit der Satz: »Ich erkläre Euch zu Mann und Frau«. Performative Äußerungen vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen; sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun und sie sind wirklichkeitskonstitutiv, insofern sie das herstellen, wovon sie sprechen. Dies hat Konsequenzen für den Erfolg der Handlung, die nicht so sehr nach den Kriterien richtig oder falsch, wahr oder unwahr beurteilt wird, sondern darüber, dass der intendierte Sprechakt beglaubigt wird oder nicht.
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Mit diesem Ansatz hat Austin das Sprechen zum Handeln hin geöffnet und den Boden bereitet für eine Annäherung zwischen Sprachphilosophie und sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien. In genau diese Richtung führt sein Schüler John R. Searle Austins Sprechaktheorie weiter, indem er konsequent den Sprechakt in einen kulturellen und sozialen Kontext stellt und die Intentionalität des Sprechers sowie den Effekt des Sprechaktes berücksichtigt. Mit dem Satz: »A theory of language is part of a theory of action«, demonstriert Searle (1969: 17), dass er Austins Differenz von Tun und Sprechen nicht folgen und jedes Sprechen auch als ein Tun verstehen will. Jacques Derrida dreht dann in einer dekonstruktivistischen Kritik Austins Sprechakttheorie um, indem er vor dem Hintergrund seiner Auffassung, dass Zeichen konventionell und damit unbegrenzt wiederholbar sind, die Iteration als unbegrenzte Rezitierbarkeit und als nicht zu bestimmende Rekontextualisierung stark macht. Jedes Zeichen kann demnach beliebig zitiert und damit dekontextualisiert und immer wieder neu kontextualisiert werden (Derrida 1999). Performative Sprechakte sind folglich nicht nur einmalig, sondern stets auch ein Zitat, was zum Beispiel in standardisierten Sätzen wie »Ich taufe Dich auf den Namen…« zum Ausdruck kommt. Insofern rufen performative Äußerungen immer auch Konventionen auf und mit ihnen den Kontext, in dem sie generiert wurden. Judith Butler treibt Ende der 1980er Jahre die Sprechakttheorie weiter in die Kulturphilosophie, Phänomenologie und Körpersoziologie, indem sie das Performative auf körperliche Handlungen bezieht und einen radikalen Begriff des Performativen einführt (Butler 1990, 1993). Mit dem Fokus auf ein performatives Konzept von Gender-Identität unterstellt sie mit Derrida zunächst eine Wiederholbarkeit performativer körperlicher Akte, bei der – im Sinne Derridas Differance-Begriffs – Abweichungen und Modifikationen eher die Regel als die Ausnahme darstellen und somit verantwortlich für die Dynamik von Transformationsprozessen sind. Nicht die Routinisiertheit der Wiederholung, sondern das permanente Spiel von Stabilität und Instabilität rückt folglich in den Mittelpunkt. Anders als Noam Chomsky, der die Ausführungen performativer Sprechakte an eine grundlegende Sprachkompetenz bindet, geht Butler zudem davon aus, dass der performative Akt Wirklichkeit erzeugt, also nicht auf etwas Vorgegebenes zurückgreift und dieses körperlich ausdrückt. Die Performativität des Körpers steht damit der Vorstellung einer Expressivität gegenüber – ein sowohl für die Theaterforschung und Schauspieltheorie als auch für die Körpersoziologie wichtiger Gedanke. Den performativen körperlichen Akt versteht sie zudem als eine »geteilte Erfahrung« und als eine »kollektive Handlung« und bringt ihn somit in die Nähe der Arbeiten John Deweys und Erving Goffmans.
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Körperlichen Akten spricht Butler prominent eine selbstreferentielle und wirklichkeitskonstituierende Kraft zu. Dabei stellt sie auch eine Brücke zwischen Derrida und Bourdieu her, indem sie einerseits Derridas Modell der Iteration nutzt, um das Performative von den an Bourdieus Habituskonzept kritisierten rigiden Strukturen zu lösen. Andererseits dient ihre Auseinandersetzung mit Bourdieu (Butler 1997) dazu, das Performative sozial- und machttheoretisch zu fundieren und mit Bourdieus Konzept des Habitus, das er bereits in dem für die Praxistheorie grundlegenden Buch Entwurf einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1979) entwickelt hatte, die Verkörperung als grundlegend für den Machtaspekt des Sprechakts zu begründen. Den Habitus versteht Butler als »a tacit form of performativity, a situational claim lived and believed at the level of the body« (Butler 1997: 155). Butlers Konzept der Performativität legt den Grundstein dafür, nicht nur, wie Noam Chomsky und Jürgen Habermas, die performanztheoretische Dimension von Sprache zu fassen oder, wie Austin und Searle, das Performative allein im Sprechakt zu verorten, sondern das Sprechen selbst als eine körperlich fundierte, machtstabilisierende oder unterlaufende Performance zu begreifen. Butlers Öffnung des Performativitätsbegriffs zu Körperlichkeit und Materialität hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Kulturwissenschaften das Konzept der Performativität methodologisch nutzen, um die Prozesse des Schreibens, Lesens, Malens, Zeichnens etc. zu untersuchen, wie weiter unten im Text gezeigt wird. Dabei nehmen sie nicht nur menschliche Akteur*innen, sondern unterschiedliche Materialitäten und Verkörperungsformen in den Blick: Körperliche Gesten und Bewegungen, Artefakte, Dinge und Objekte, räumliche Arrangements und akustisch-visuelle Medien sind an den performativen Akten maßgeblich beteiligt. Die Nähe zu praxistheoretischen Positionen wird über diese körperlich-materiellen Aspekte des Performativen hergestellt. Butlers Performativitätsansatz wurde in der Soziologie und in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen vor allem von den Gender Studies, aber auch in Handlungs- und Praxistheorien rezipiert. Einerseits wird das Performativitätskonzept genutzt, um der seit Max Weber starken Fokussierung auf die Intentionalität der Handlung eine Perspektive auf die Materialität des Handelns, auf die körperliche Durchführung der Handlung zur Seite zu stellen. Dabei verschiebt sich die Perspektive dahingehend, dass der Akt des Handelns im Zusammenspiel von Ausführung und Aufführung als wirklichkeitskonstituierend angesehen wird, währenddessen Intentionalität in den Hintergrund rückt. Mit der Abkehr vom bewusstseinsphilosophisch motivierten Konzept der intentional handelnden Akteur*in zugunsten einer Perspektive auf die Mehrdeutigkeit, Brüchigkeit und Fragilität von körperlichen Handlungen (Klein 2004) nähert sich dieser Handlungsbegriff einer praxistheoretischen Lesart an. Für die Körpersoziologie rele-
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vant ist hier, dass sowohl der Körper wie die Bewegung als Herstellungsmodus des Sozialen oder als Agent*innen der Hervorbringung von Wirklichkeit angesehen werden, deren wirklichkeitskonstituierende Kraft über Beglaubigungsstrategien und nicht über Kategorien wie richtig – falsch, wahr – unwahr laufen. Die Performance: Kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze Die Genese des sprachphilosophisch entwickelten Konzepts der Performativität korrespondiert mit der Entwicklung des Performance-Begriffs in verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. So formieren sich die angloamerikanisch geprägten Performance Studies in den 1970er Jahren in Auseinandersetzung mit anthropologischen und soziologischen Ansätzen, hier vor allem angelehnt an das Konzept des »sozialen Dramas« des Anthropologen Victor Turner (1982) und an Erving Goffmans soziologische Arbeiten zur Theatralität des Alltags (Goffman 1959, 1974), aber auch an das Konzept des »Psychodramas« des Arztes, Psychiaters und Soziologen Jacob L. Moreno (1964). Die anglo-amerikanischen Performance Studies beruhen entsprechend auf einem weiten Verständnis von Performance, das theoretisch wie methodologisch im Wesentlichen geprägt ist von den Sozialwissenschaften und weniger von den Theaterwissenschaften (Drama and Theatre Studies), deren Textorientierung sie sich eher entgegenstellen. Diese Auffassung knüpft an den von dem Ethnologen Milton Singer in den 1950er Jahren geprägten Begriff der Cultural Performance an, der als Bezeichnung für »particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts« (Singer 1959: XIIIf.) dient. Cultural Performances sind, so Singer, »most concrete obvervable units of the cultural structure« (ebd.). Sie sind kultur- und sozialwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als sich in ihnen das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft, Ethnie, Klasse oder Nation dar- und ausstellt und dieses in der Durchführung der Performance für die Anwesenden körperlich erfahrbar, aktualisiert und beglaubigt – und damit konventionalisiert wird. Richard Schechner, einer der Pioniere der US-amerikanischen Performance Studies, weitet diesen, an Rituale gebundenen Performance-Begriff aus und identifiziert acht Felder, in denen Performances in Erscheinung treten: im Alltag (Essen, Kochen etc.), in den Künsten, in Sport und Entertainment, in der Wirtschaft, in der Technologie, im Spiel, im Sex, im säkularisierten und nicht-säkularisierten Ritual (Schechner 2002: 25). Der US-amerikanische Theaterwissenschaftler Marvin Carlson stärkt ebenfalls einen sowohl theater- wie sozialwissenschaftlichen Performancebegriff, der sowohl der Theatralität des Alltags wie der Alltäglichkeit des Theatralen Rechnung trägt, wenn er schreibt: »The recognition that our lives are
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structured according to repeated and socially sanctioned modes of behavior raises the possibility that all human activity could potentially be considered as performance, or at least all activity carried out with a consciousness of itself.« (Carlson 2004: 4) Entsprechend dieser weiten und sozialwissenschaftlichen Auslegung des Performance-Begriffs, den auch die Hamburger Performance Studies verfolgen (Klein/Sting 2005) und der verschiedenen Hamburger Graduiertenkollegs und Forschungsverbünden und -projekten zugrunde liegt, hat sich die anglo-amerikanische Theaterforschung zu dem Begriff der Performance eher distanziert verhalten. Anders als die deutschsprachige Theaterwissenschaft, die sich nach dem performative turn theoretisch wie methodologisch zu den Kultur- und Sozialwissenschaften geöffnet und sich mit Performance und Performativität auseinandergesetzt hat, hat die anglo-amerikanische Theaterforschung den Begriff der Performance dem des Theaters entgegengesetzt. Während sie das Theater durch Repräsentation, Textorientierung, Narrativität, Zeichenhaftigkeit, Psychologisierung der Charaktere und Rollen sowie kodifizierte Strukturen gekennzeichnet sieht, werden Performances als Kritik des Theaters begriffen, denn hier gebe es »nothing to grasp, project, introject, except of flows, networks, and systems. Everything appears and disappears like a galaxy of ›transitional objects‹ representing only failures of representation […] [Performance] attempts not to tell [like theatre], but rather to provoke synaesthetic relationships between subjects«, so schreibt Anfang der 1980er Jahre die in Kanada lehrende Theaterwissenschaftlerin Josette Féral (1982: 179) und positioniert damit das Verhältnis von Theater und Performance nah an Jean-François Lyotards Unterscheidung zwischen abwesenden, repräsentativen Substitutionen von Zeichen und libidinösen Verschiebungen vom psychischem Energie-Flow (Lyotard 1978). Im deutschsprachigen Raum hat vor allem die Theaterwissenschaft in den 1990er Jahren den performative turn initiiert und vollzogen, indem sie zunächst »Theatralität. Theater als Modell in den Kulturwissenschaften« behauptete (Fischer-Lichte 2000ff.) und hiervon ausgehend Performativität als den durch Selbstreferentialität gekennzeichneten, wirklichkeitskonstituierenden Aspekt von Theatralität verstand. Das Performative hat hier einen Beitrag dazu geleistet, Abstand zu einem semiotischen Theaterverständnis und Inszenierungskonzept zu nehmen und den bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert eingeführten Aufführungsbegriff neu zu positionieren und zu charakterisieren. Aufführung dient als grundlegender Begriff zur Beschreibung der Materialität, Medialität und Ästhetik des Theaters. Die Performativität der Aufführung zeigt sich demnach in Aspekten wie der leiblichen Ko-Präsenz der Akteur*innen, wobei unter Akteur*innen sowohl Darsteller*innen wie Publikum gefasst sind, die das Bühnengeschehen und sich selbst gegenseitig in performativen Akten beglaubigen, so-
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wie die Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Klang- und Lautlichkeit, Ereignishaftigkeit, Dauer und der Rhythmus (Fischer-Lichte 2004, 2012: 53ff.; Fischer-Lichte/Roselt 2001). Im Unterschied zum Begriff der Aufführung wurde der Begriff der Performance erst in den 1970er Jahren in die deutschsprachige Theaterwissenschaft eingeführt. Er bezeichnet hier vor allem ein intermediales, szenisches Genre und eine theatrale Gattung, die in den 1960er/70er Jahren vor allem in der Bildenden Kunst aus der Kritik am Werkbegriff entstand, zunächst als Aktionskunst, Happening, Fluxus oder Performance Art firmierte und sich dann zwischen den Bildenden und Darstellenden Künsten etabliert hat. Davon unterschieden nutzt die Theaterwissenschaft seit den 1990er Jahren Singers Konzept der Cultural Performance, insofern eine Theateraufführung als ein besonderes Format verstanden wird, dessen Grenzen und Ähnlichkeiten zu anderen Cultural Performances – wie Ritualen, Festen, Spielen, Sportwettkämpfen – herauszuarbeiten sind, will man die Theateraufführung als eine besondere Form der Cultural Performance positionieren (Fischer-Lichte 2004). Anders als die Theaterwissenschaft hat die noch junge Tanzwissenschaft, die sich im Schnittpunkt von Körper- und Bewegungssoziologie, Kulturphilosophie sowie Sprach- und Literaturtheorie etabliert hat, das Performative zu ihrer Leitkategorie erklärt und einen starken Begriff des Performativen entwickelt, insofern bei ihrem Forschungsgegenstand – der Bewegung als ästhetischer Form, Situation und Ordnung – der performative Vollzug in seiner Materialität und Medialität als Tun, als Handeln und als Performen von Relevanz ist (Brandstetter/Klein 2013). Die Praxis: Sozialwissenschaftliche Ansätze Der practice turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften findet seinen Ausgangspunkt in den 1970er Jahren vor allem in der Soziologie (Schatzki u. a. 2001). In der Geschichte der Gesellschaftstheorie der Moderne geht der Begriff zurück auf Karl Marx, der Praxis als »sinnliche menschliche Tätigkeit« (Marx 1969: 5) fasste. Als Vorläufer*innen der soziologischen Praxistheorien gelten gleichermaßen verschiedene philosophische Positionen, beispielsweise Hannah Arendt, die den marxistischen Praxisbegriff überhöht, indem sie Praxis als kreative, im Unterschied zu einer reproduktiven Tätigkeit versteht (Arendt 1958) oder die dem Pragmatismus zuzuordnende Position von John Dewey, der die sinnlich-materielle Erfahrung als grundlegendes Moment praktisch gewonnener Erkenntnisse in den Vordergrund rückt (Dewey 1958). Grundlegend für die sozialwissenschaftliche Karriere des Praxisbegriffs ist die Abkehr vom mentalistischen Handlungsbegriff in der Nachfolge von Max
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Weber, der Handeln als einen subjektiv »gemeinten Sinn« (Weber 1922: §1), als motivbewusst und intentional verstehen will und ihn vom Begriff des Verhaltens abgrenzt, das er als ein bloßes Tun beschreibt und das – anders als das Handeln – nicht mit einem subjektiv gemeinten Sinn ausgestattet ist (ebd.). »Handeln« ist hier begrifflich der ordnungsgebenden »Struktur« gegenübergestellt und – in Anlehnung an eine bewusstseinsphilosophische Tradition – an intentional agierende Akteur*innen gebunden. Die praxistheoretische Lesart folgt diesem Handlungsbegriff nicht. Handeln ist hier nicht, wie bei Weber, als zweckrationales, wertrationales oder moralisch beziehungsweise affektiv begründetes Handeln, sondern in einem anti-rationalististischen, nicht-intentionalen und nicht-motivgesteuerten Sinne konzipiert und als körperlich-materielle Ko-Aktivität und Erzeugungspraxis eingeführt. Die Interaktion ist deshalb kein Sonderfall des Handelns, sondern dessen Prototyp, anders als bei Weber, der das soziale Handeln alleinig als interaktives Handeln bestimmt (Hirschauer 2016). Handeln ist in praxistheoretischen Ansätzen als Ausschnitt einer Praktik definiert, die vom Körper getragen oder wahrgenommen wird (ebd.). Praktiken vollziehen sich somit immer in materieller und körperlicher Ko-Aktivität mit anderen Subjekten, Dingen, Artefakten, den räumlich-materiellen sowie situationalen Rahmungen. Praxis erscheint nicht nur als eine Alternative zum Handlungsbegriff; sie provoziert selbst ein »Nachfolgekonzept« (Hirschauer 2016: 46), das Handeln als ein »beobachtungsbewusstes Verhalten« versteht. Wenn in Webers Begriff »sozialen Handelns« die Bezogenheit auf den Anderen in der Interaktion betont wird, rückt hier die kollektive Ebene (dramatischer) Handlungen in den Vordergrund. Damit ist auch eine Perspektive auf die Praktiken der nicht-menschlichen Akteur*innen – der Objekte, Dinge und Artefakte sowie der situativen Settings – eröffnet. Über die Praktiken lassen sich demnach die komplexen Verbindungen (Interaktionen, Diskurse, körperliche und physikalische Ereignisse, normative Ordnungen) erkennen. Mit ihnen ist ein Zusammenspiel von Aktionsebenen angesprochen, das bislang in der Performancetheorie und dem dort vorherrschenden Handlungsbegriff nicht oder nur peripher thematisiert ist. Die Materialität und Körperlichkeit von Handlung wie ihr performativer Aspekt werden in den Praxistheorien programmatisch in ein Forschungsprogramm integriert, das die für die Soziologie und angrenzende Disziplinen wichtige Differenz von Handlung/Situation und Struktur und damit einhergehend die Mikro-/ Makro-Unterscheidung innovativ wendet. Der Vollzugsmodus von Praxis lässt sich entsprechend weder rein induktiv aus dem subjektiven Sinnverstehen oder aus einem einzelnen Wirkungszusammenhang, noch rein deduktiv aus einer übergeordneten, statischen Struktur herleiten, sondern Praxis bildet selbst soziale
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Ordnungen aus. Praxistheorien erkennen die »Praxis« beziehungsweise »Bündel« oder »Komplexe« (Shove u. a. 2012), »Ensembles« (Reckwitz 2003) oder ein »Plenum« (Schatzki 1996) von zusammenhängenden »Praktiken« als theoretische Basiseinheiten von Vergesellschaftungen an. Praktiken ordnen demnach die soziale Welt und verhandeln das, was in anderen soziologischen Ansätzen als Struktur oder Ordnung bezeichnet wird, in der körperlich-materiellen Durchführung und in der Aktualisierung von inkorporierten, kollektiv geteilten (Wissens-) Ordnungen (Schmidt 2012). So divers derzeit das Feld allein der soziologischen Praxistheorien sein mag, es lassen sich jedoch mit den (post-)strukturalistischen sowie den mikrosoziologischen Positionen zwei dominante theoretische Stränge identifizieren (Hirschauer 2016): (Post-)strukturalistische Praxistheorien, im deutschsprachigen Raum zunächst von Andreas Reckwitz (2003) formuliert, stehen vor allem in der französischen Tradition von Pierre Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis (1979) sowie von Michel Foucaults Arbeiten zu Wissensordnungen und gouvernementalen Strategien der »Technologien des Selbst« (Foucault 1989, 2009). Praxis ist hier analog zum Modell der Sprache konzipiert, insofern als kulturelle Gewohnheiten nach einer eigenen »Grammatik«, den Wissensordnungen, in Praktiken reguliert werden (Schäfer 2013). (Post-)strukturalistische Praxistheorien betonen den Aspekt der Wiederholung in Praktiken auf Kosten von performativen Verschiebungen. Die Aus- und Aufführung von Praktiken beruhen auf »Routinen« (Giddens 1979). Sie richten ihren Blick damit eher auf die Beständigkeit als auf Transformationen: Die in den Praktiken eingelagerten Ordnungen bilden den Rahmen dafür, dass der verkörperte, praktische Sinn (sens pratique) evoziert wird, der wiederum im Bourdieu’schen Sinne aufgrund seiner habituellen Festigkeit Beständigkeit schafft (Bourdieu 1993). Praktiken werden hier gedacht als ein »fortlaufender Strom« sich »wiederholender Formationen«, als ein »kulturell verfügbares und zirkulierendes Repertoire, an das Subjekte zitierend anschließen können« (Schäfer 2016b: 142) und somit als eine »raum-zeitlich verteilte Menge des Tuns und Sprechens«, die durch »geteilte Verständnisse und Regelhaftigkeit« (Schatzki 2016: 33) organisiert ist. Anders aber als der Poststrukturalismus selbst, verortet die (post-)strukturalistische Praxistheorie die Logik der Praxis nicht nur auf der Ebene des Diskurses, sondern auch in körperlichen Skills, materiellen Aufforderungsangeboten und kollektiv geteilten Schemata. Die subjektivierenden, selbst- und körperbildenden Aspekte kommen zudem ins Spiel, insofern Routinen immer auch ihre Subjektformen schaffen (Reckwitz 2006; Alkemeyer 2014), an denen sich Subjekte ausrichten und in die sie sich über fortlaufende Wiederholungen, wie etwa dem Sehen, immer
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wieder einüben (Prinz 2014). Somit tragen Routinen nicht nur zur Verfestigung und normativen Bindung der Praxis, sondern auch zur Bildung des Habitus bei. Anders als die (post-)strukturalistischen Praxistheorien verfolgen mikrosoziologische Positionen, die im deutschsprachigen Raum vor allem durch Stefan Hirschauers Arbeiten (2004) motiviert wurden, einen radikalen Praxisbegriff, der sich nicht an beständigen (Wissens-)Ordnungen ausrichtet, sondern an einem performativ erzeugten Wissen. Damit ist der Anspruch formuliert, den Dualismus von Situation und Struktur, Mikro- und Makroperspektive zu befragen, neu zu definieren oder gar aufzulösen. Die mikrosoziologischen Ansätze entwickeln weniger eine kulturtheoretische, sondern eher eine körper- oder dingsoziologische Lesart. Sie fassen als Praxis den körperlichen Vollzug sozialer Phänomene (Schindler 2011), etwa im Kontext kreativer Arbeit (Krämer 2014), und bestimmen Praktiken als beobachtbare Formen des Vollzugs, die sich in Typen von Aktivitäten, Weisen des Handelns und Verhaltensmuster oder Interaktionsformen unterscheiden lassen (Hirschauer 2016). Mikrosoziologische Praxistheorien betonen nicht die selbst-bildende, sondern die selbst-darstellende Seite der Praxis. Dies liegt in der Anbindung an die US-amerikanische Tradition von Harold Garfinkel (1967) und der Ethnomethodologie begründet. Garfinkel und der Konversationsanalytiker Harvey Sacks widmen sich in den 1970er Jahren den »formalen Strukturen praktischer Handlungen« (Garfinkel/Sachs 1986). Sie verstehen darunter Alltagsmethoden, die Gesellschaftsmitglieder entwickeln und derer sie sich bedienen, wenn sie Handlungen durchführen. Ihnen geht es nicht um die Aufdeckung der Handlungsmotive, sondern um die Sichtbarmachung von darstellbaren (accountable) Phänomenen (der Konversation), die das Handeln ausmachen. Diese identifizieren sie als diejenigen, die im Sprechen (saying) über indexikalische Ausdrücke anzeigen, was sie in der Durchführung (doing) sind. Um dies zu untersuchen, entwickelt Garfinkel »Krisenexperimente«, in denen er die normativen Ordnungen von Handlungen mittels praktischer Durchbrechungen, Enttäuschungen von Erwartungen oder Nicht-Erfüllungen von Regeln des Alltags sichtbar macht. Mikrosoziologisch orientierte Praxistheorien nehmen diese Erkenntnisse als einen Ausgangspunkt, indem sie soziale Phänomene von einer sprachlichtextuellen und bildlichen Ebene der Konversation lösen. Sie finden Annäherungen an sprach- und kulturphilosophische Performativitätskonzepte, indem sie wie diese die Differenz von Sagen und Tun, die beispielsweise bei Theodore Schatzki (1996) in der Formulierung des »nexus of doings and sayings« zum Ausdruck kommt, als überwunden ansehen (Hirschauer 2016) und entsprechend Zeichen in Körperbewegungen suchen und diese als »Akte« verstehen. In das doing ist von daher das saying eingelagert, insofern das Tun immer auch anzeigt,
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was es ist. Deshalb ist auch Praxis beobachtbar, weil der Sinn menschlichen Handelns nicht in einem Motiv oder einer Intention vermutet und gesucht wird, sondern in der Sichtbarkeit von kommunikativen Formen körperlicher Selbst(Re-)Präsentation angezeigt wird. Handeln meint hier – in der doppelten Bedeutung des Wortes to act, dass man etwas macht, herstellt, aber auch, dass das Hergestellte dargestellt wird. Damit ist eine Verbindung zum Konzept der Performativität sichtbar, das ebenfalls betont, dass in der Durchführung immer auch die Aufführung steckt – und umgekehrt. Neben performativitätstheoretischen Überlegungen haben die Theatralitäts- und Interaktionstheorie von Goffman sowie die Performativitätstheorie von Butler den praxistheoretischen Ansätzen den Weg geebnet: Goffmans Position (1959) kann als ein Wendepunkt des bislang eher durch Weber geprägten soziologischen Handlungsbegriffs angesehen werden. Dies ist schon durch das Wort to act bedingt, das sowohl das Vollziehen wie das Darstellen meint. Von daher lag es schon begrifflich nahe, alltägliche Handlung als Aufführen und damit als theatral zu denken. Seine Arbeiten zur Theatralität des Alltags definieren den Alltag auch als Aufführung und machen genau diese zu einer sozialtheoretischen Beobachtungskategorie. Die Akteur*in ist nicht mehr Autor*in des Handelns, sondern darstellende Teilnehmer*in einer Interaktionssituation (Goffman 1963). Mit Goffman ist Theatralität nicht mehr nur eine Metapher des Sozialen, sondern als Beobachtungskategorie des Alltags in die Soziologie eingeführt. In gesellschaftsdiagnostischer Hinsicht erlaubt das Theatrale zudem eine weitere Differenzierung der bereits von Georg Simmel (1896) für das soziologische Denken stark gemachten Kategorie des Ästhetischen. In den Praxistheorien wird Theatralität vor allem über deren Performativität weitergeführt. Es ist damit – anders als in der Performanceforschung – nicht an einen Aufführungsbegriff gebunden, sondern an den Vollzug geknüpft. Performativität wiederum wird hier als Erzeugungsmodus von Praxis angesprochen. Die (post-)strukturalistischen Praxistheorien arbeiteen das Performative nicht explizit aus, es ließe sich aber in das Spannungsfeld von Praktiken und Ordnungen einbetten, insofern Praktiken des Performativen Ordnungen beglaubigen (Schmidt 2007; Gebauer/Schmidt 2013) oder auch das Performative in der Figur der Wiederholung praxeologisch lesbar wird (Schäfer 2013). Die mikrosoziologischen Praxistheorien stellen Performativität ins Verhältnis zu Repräsentativität und Expressivität der Handlung. Performativität wird hier zum Motor sozialer Transformation – eine These, die vor allem von der Wissenschaftsund Technikforschung, der Human- und Kulturgeographie sowie der Wirtschafts-
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soziologie geteilt und erweitert wird, insofern sie den Blick auf die performativen Eigenaktivitäten des Materiellen im Routinegeschehen ausweiten: Studien in naturwissenschaftlichen Laboren haben Erkenntnisproduktionen in Forschungsprozessen erklärt (Knorr-Cetina 1999), indem sie Praxis in der performativen, unvorhersehbaren »Durchmischung« (Pickering 1995) von körperlich-menschlichen Subjekten mit materiellen Dingen und Objekten verorten. Die Kulturgeographie schließt hieran an, wenn sie das Performative zur Beschreibung der körperlichen Praktiken in urbanen Räumen und für die nicht-repräsentationale Bezugnahme auf die Dinge oder auf räumlich ausladende Artefakte (Gebäude, Infrastrukturen) einführt (Nash 2000; Thrift 2000; Thrift 2008; Göbel 2015). Die Wirtschaftssoziologie (Callon 1998; MacKenzie u. a. 2008) wiederum, untersucht im Anschluss an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), das Performative in der Dynamik von Finanzmärkten und geht davon aus, dass dieses ein soziales Eigenleben am Markt hat und dadurch nicht evidenzbasierte, sondern performativ beglaubigte Wahrheiten und Gewissheiten produziert werden. Körperanthropologische Studien im Bereich der Medizin schließlich untersuchen die performativen Verhandlungsakte von Krankheiten (Mol 2002). In all diesen Untersuchungen scheint eine theoretische Position durch, die das Performative überhöht, indem sie es als Modus der fortlaufenden »ontologischen Transformationen« (Mol 1999) positioniert, die permanente und neue »enactments of the social« (Law/Urry 2004) hervorrufen. Der körperlichmaterielle Kompositions- und Gestaltungscharakter (enactment) von Praxis und einzelnen Praktiken zielen hier – ähnlich wie in (post-)strukturalistischen Praxistheorien – auf makrotheoretische Anschlüsse ab, aber anders als dort mit starker Betonung des Performativen, indem darauf geschaut wird, wie sich die (Re-)Organisation der Welt über performative Prozesse vollzieht.
Z UR M ETHODOLOGIE P RAXISTHEORIEN
VON
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Beobachten und dokumentieren, recherchieren, interviewen, notieren, aufzeichnen mit Sprache, Stift, Bewegung, Kamera und Video, transkribieren, modellieren, interpretieren, analysieren, verwerfen und verwerten, gruppieren und arrangieren, schreibend theoretisieren, reflektieren, präsentieren, diskutieren, veröffentlichen, in Produkte übersetzen und in Wissensfelder implementieren – dies sind nur einige Praktiken der Wissensproduktion, die für die Praxis- und Performancetheorie sowie die Praxis künstlerischen Forschens (Caduff u. a. 2010;
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Tröndle/Warmers 2011; Dombois u. a. 2012; Peters 2013; Busch 2015)1 grundlegend sind. Praxis einerseits zu beobachten und zu studieren und andererseits selbst zu vollziehen und (mit) zu entwickeln sind zwei heuristisch zu unterscheidende Modi des (künstlerischen und wissenschaftlichen) Forschens. Sie fallen jedoch in alltäglichen Abläufen und Routinen ebenso zusammen wie in der wissenschaftlichen Theoriebildung und künstlerischen Praxis. Die Prozesse dieser Wissensproduktion sowie ihre wissenschaftlichen Ergebnisse und künstlerischen Erzeugnisse stehen immer in Relation zum Materialeinsatz, den räumlichen Gegebenheiten und zeitlichen Arrangements. Die Produktion von Erkenntnis ist hiervon abhängig, sie entsteht nicht in von Praktiken losgelösten Machtkonstellationen. Damit rücken auch die Forschenden selbst, ihre Leiblichkeit und ihre Körper als »Erkenntnissubjekte« (Gugutzer 2016) in den Blick: Forschende sind selbst Teil der Praktiken; sie sind nicht nur zur Selbstreflexivität angehalten, sondern aufgrund ihrer körperlichen Einbettung in den Forschungsprozess dazu aufgefordert, das Verhältnis ihrer Praktiken zu den zu untersuchenden Praktiken zu thematisieren und zu reflektieren. Performativitäts-, Performance- und Praxistheorien beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf diesen methodologisch zentralen Aspekt des Tuns, der auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im eigenen Tun abzielt. Dies vor allem in Hinblick auf die Positionierung und Authentifizierung der Erkenntnisse in den je performativ geschaffenen Öffentlichkeiten (Butler 2015) und »Ver-Öffentlichungsorten«, im Rahmen derer sie Praxis beobachten, vollziehen, entwickeln, präsentieren und »versammeln« (Burri u. a. 2014). Das Öffentliche – als Handlungs-, Aufführungs-, Beobachtungs- und Beglaubigungssituation – ist somit nicht nur ein Strukturelement der Praxis- und Performancetheorien sondern auch eine methodologische Grundbedingung praxis- und performancetheoretischen Forschens. Entwickeln und Analysieren: Die methodische Praxis der Performanceforschung In den verschiedenen Zugängen der Performanceforschung lassen sich unterschiedliche methodische Zugänge finden: Für die sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Performance Studies fungiert Praxis als eine unhinterfragte Kategorie zur Erfassung des bereits Gegebenen – seien es künstlerische oder Cultural Performances oder Aufführungen des Alltags. Wie die mikrosoziologi-
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Siehe dazu auch den Beitrag von Sibylle Peters in diesem Buch.
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schen Praxistheorien auch, entlehnen sie ihre Methoden der qualitativen Sozialforschung und hier vor allem den ethnografischen Verfahren. Aber anders als jene erheben sie weniger den Anspruch, dass im methodischen Vorgehen die Theoriebildung selbst eingelagert ist. In der theaterwissenschaftlichen Tradition ist Praxis im Feld der Kunst oder des Theaters verortet und den Feldern der Wissenschaft und Theorie gegenübergestellt. Praxis wird hier vornehmlich im hermeneutischen Sinne genutzt, vor allem dann, wenn es um künstlerische Produktionsprozesse und Aufführungen geht. Als empirischer Begriff wird Praxis dann explizit, wenn Produktions- und Probenprozesse künstlerischen Schaffens in den Blick geraten, wie es in der jüngeren Theater-, Performance- und Tanzforschung geschieht (Husemann 2009; Matzke 2014) oder wenn die Gewohnheiten von Theater-Aufführungen thematisiert werden. Während durch die Hinwendung auf künstlerische Produktionsprozesse zunehmend sozialwissenschaftliche und praxistheoretische Methoden zum Tragen kommen, werden Aufführungen in Theater und Tanz vor allem mit Hilfe von Aufführungs- und Inszenierungsanalysen (Hiß 1993) untersucht. Aber auch Methoden der Bild-, Film- und Videoanalyse, der (Para-)Textanalyse, der Bewegungs- und Körperanalyse, der Diskursanalyse sowie Methoden der qualitativen Sozialforschung wie Ethnografie oder Interviewverfahren und Verfahren des historischen Quellenstudiums kommen zur Anwendung (Brandstetter/Klein 2015), abhängig von den Ausgangsdisziplinen der Theater- und Tanzwissenschaftler*innen. Zudem werden anthropologische, phänomenologische, semiotische und poststrukturalistische Konzepte oder sozial-, kultur- und kunsttheoretische Ansätze auf theater- und tanzwissenschaftliche Untersuchungen übertragen (ebd.) und damit die Theaterund Tanzforschung zur Sozialwissenschaft geöffnet. Zudem kann vor allem die Tanzforschung auf eine jahrhundertealte Tradition der Notation und damit auf eine Geschichte der Praktiken des Übersetzens von Bewegung in Schrift, von Körperlichkeit in Zeichen zurückblicken (Jeschke 1983; Wortelkamp 2006). In der Theater- und Tanzforschung sind Aufführungen beobachtbare, zeitlich-räumliche definierte Einheiten mit klarem Anfang und Ende; künstlerische Performances hingegen spielen mit dieser Eindeutigkeit, indem sie beispielsweise die Grenzen zwischen Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit des Theaters flüssig werden lassen, an alltäglichen Orten stattfinden, nicht auf ein Script oder eine Literaturvorlage verweisen und die Darsteller*innen keine Charakterrollen spielen, sondern sich selbst. Performances zeigen, was sie sind; als Realitätsmodell machen sie vor, wie es sein könnte. Im Zuge der mit der performativen Wende einhergehenden Ausweitung des Aufführungsbegriffs hin zur Produktion, die den Entwicklungsprozess und die Rezeption des Stücks mit einschließt, kamen interdisziplinäre Methoden zur Anwendung, so beispielsweise die »pra-
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xeologische Produktionsanalyse« (Klein 2015), die die Praktiken der Durchführung und Aufführung in Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsprozessen gleichermaßen zu fassen versucht und hier theaterwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Verfahren verbindet. Auch mikrosoziologische, insbesondere konversationsanalytische Verfahren wurden mit theaterwissenschaftlichen Verfahren der Aufführungsanalyse verknüpft (Husel 2014). Die künstlerische Forschung in der Performancekunst macht »Praxis« ebenfalls vor allem in hermeneutischer Art und Weise produktiv. Praxis entwickeln ist hier an künstlerisch-ästhetische, körperlich-materielle Praktiken geknüpft, die in der Regel an den dafür vorgesehenen Orten stattfinden (Tanzstudio, Atelier, Proberäume und -bühnen etc.). Die Praxis ist hier zudem ins Verhältnis gestellt zu historischen oder zeitgenössischen Bezügen zu Kunst, Politik, Gesellschaft und Alltag sowie zu den kulturellen, politischen, sozialen oder ästhetischen Konzepten und Erzeugnissen, die für die Produktion künstlerischer Artefakte (wie ein Theaterstück, eine Choreografie, eine performative Installation, eine Ausstellung, ein Festival etc.) notwendig sind.2 Ähnlich den mikrosoziologischen Praxistheorien erhebt die künstlerische Performanceforschung den Anspruch, Theorie und Praxis in den Praktiken des Forschens aber auch des künstlerischen Schaffens selbst zu verbinden. Dem künstlerischen Forschen liegt damit ein weiter Forschungsbegriff zugrunde, bei dem die »Logik der Praxis« (Bourdieu 1980) von künstlerischen und wissenschaftlichen Tun verschwimmt mit dem Problem, dass ihren unterschiedlichen Zeitlichkeiten nicht Rechnung getragen wird. Praxis ist hier weniger als eine empirische Kategorie angelegt, die es zu identifizieren und analytisch zu isolieren gilt, sondern als ein Feld von Praktiken definiert, in dem künstlerischpraktische und wissenschaftlich-theoretische Praktiken kaum voneinander zu trennen sind. Entsprechend werden performative Kollaborationen zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Dramaturg*innen und »Alltagsexpert*innen« (Malzacher 2007) angestrebt, deren Zusammenarbeit zudem als soziales und politisches Experimentierfeld verstanden wird (Cvejic/Vujanović 2012). Die politische Verortung des eigenen Tuns in der künstlerischen Performanceforschung steht im Kontrast zu den Praxistheorien, die mit der politischen Dimension ihrer Arbeit methodisch zurückhaltend umgehen und sich deshalb dem (mitunter selbstkritischen) Vorwurf der Neutralisierung ihrer Gegenstände ausgesetzt sehen (Alkemeyer u. a. 2015). Die Performanceforschung hingegen stellt
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Siehe dazu den Beitrag von Ana Vujanović in diesem Buch.
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das Zusammenspiel von Wissens- und Wahrheitsproduktion öffentlich her und führt es zugleich auf. Auf diese Weise leitet sie auch dazu an, die Aufführung selbst als eine forschende Praxis anzusehen, die das Forschen in die Verantwortung »aller« (Peters 2013) legt und dadurch neue zivilgesellschaftliche Fragen aufwirft und Aktivitäten generiert. Die künstlerische Forschungspraxis ist damit nicht nur eine Auseinandersetzung mit den ästhetischen Mustern der Wahrnehmung, sondern auch mit den normativen Ordnungen des Sozialen, die in ihrem Zusammenspiel das Politische begründen. Beobachten und Verstehen: Die methodische Praxis der Praxisforschung Das Beobachten ist für sozialwissenschaftliche Praxistheorien ein grundlegendes, methodisches Verfahren (Schindler 2016); Beobachtungen durchdringen den kompositorischen Charakter von Praktiken und ihr Zusammenwirken. Zwar ist ein methodisch unterfüttertes Beobachten auch mit anderen Verfahren der qualitativen Sozialforschung wie etwa der Diskursanalyse, dem Expert*inneninterview oder der Gruppendiskussion möglich; in praxistheoretischen Ansätzen bestimmt jedoch ein aus der Ethnologie übertragener und erweiterter Begriff von Beobachtung die Forschungspraxis. Beobachtung wird dabei multiperspektivisch gedacht: Zum einen im Sinne einer Verortung der Beobachter*in in Relation zum Untersuchungsfeld (Schindler/Liegl 2013) und andererseits über die Grundannahme, dass durch die Methodenauswahl und die forschende Beobachter*innenposition der soziologische Untersuchungsgegenstand konstituiert wird (Kalthoff 2011). Die Praktiken des (teilnehmenden) Beobachtens sind in den beiden praxistheoretischen Ansätzen verschiedentlich umgesetzt: In den (post-)strukturalistischen Ansätzen, die durch ein Zusammenspiel von kultur- und körpersoziologischen Positionen geprägt sind, taucht beispielsweise die Aufführung im Sinne einer Cultural Performance als bereits gegebene Beobachtungskategorie auf (Shove u.a. 2012); der Fokus liegt hier unter anderem auf den überindividuellen Schemata, Wissensordnungen und Ritualen des Aufführens in den europäisierten Kontexten und Aufführungskonventionen (Alkemeyer u. a. 2003; Alkemeyer u. a. 2004). In den mikrosoziologischen Positionen hingegen sind die Aufführung als theatrales Ereignis oder das Aufführen als theatrales Handeln keine Beobachtungskategorie; dies nicht nur, weil kulturtheoretische Überlegungen hier eine geringere Rolle spielen, sondern vor allem deshalb, weil hier der Fokus darauf liegt, die Gewohnheiten von Alltagsbeobachtungen und konventionalisiertem Wissen methodisch-systematisch zu befremden (Müller 2016). Die Forscher*in untersucht hier das vermeintlich Selbstverständliche und fraglos Gegebene und übersetzt die »schweigsamen«, das
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heißt die körperlich verfassten Dimensionen von Sozialität in soziologische Sprache (Hirschauer 2001). Anstelle einer theatralen Handlung wird hier das für die Beobachter*in sichtbare Tun beobachtet, das damit von den Forschenden erst einmal als Tun performativ beglaubigt werden muss. Entsprechend der durch (teilnehmende) Beobachtungsverfahren bedingten Einbettung der Forscher*in in das Forschungsfeld, gelten Methoden in praxeologischen Ansätzen nicht als neutral oder universell anwendbar. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass erst die methodischen Annäherungen und die schriftlich fixierten Beobachtungen der Forscher*in die (soziologische) Existenz des Forschungsgegenstandes generieren, dieser also in den Praktiken des Forschens selbst performativ erzeugt wird (Law 2004). Das teilnehmende Beobachten hat in einigen Fällen – je nach Untersuchungsgegenstand – auch zu einem (Mit-)Entwickeln von Praxis geführt und damit zu einem performativen Zusammenspiel von Praxis entwickeln und beobachten, das vor allem in der künstlerischen Performanceforschung unter anderem durch Kollaborationen zwischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen als Prämisse des Forschens angesehen wird. Weitere Ähnlichkeiten zwischen den methodischen Verfahren der Praxisund Performanceforschung finden sich im Einsatz von Instrumenten wie Interview- und Gesprächstechniken oder im ethnografischen Einsatz von Video- und Fotokameras, in der Nutzung und Verwertung von Audio- und Video-Mitschnitten oder anderen medialen Interventionen sowie in systematisierenden Auswertungspraktiken wie Memorieren und Codieren. All diese Verfahren sind zurückzuführen auf ethnografische Forschungspraktiken, welche die medialen Träger und sozialen Wissensformen des Untersuchungsfeldes produktiv nutzen und in die Forschungspraxis übersetzen. Praxistheoretiker*innen folgen vornehmlich einer verstehenden Sozialwissenschaft, insofern sie eine systematische Durchdringung sozialer Phänomene und des eigenen Standpunkts anstreben. Sie haben weniger den Anspruch, allgemeingültige Erklärungen im Sinne von faktenbasierten Evidenzen aus der (wissenschaftlichen) Vogelperspektive zu formulieren. Ihre Arbeit ist aber auch nicht mit einer rein deskriptiven Wissenschaft zu verwechseln, denn sie verfolgen eine eigene Strategie der Sichtbarmachung von sozialen Ordnungen. Der performative Charakter des Zusammenspiels von Methode – Theorie – Empirie verbindet diese Ansätze mit performancetheoretischen Ansätzen. Der Verstehensprozess sozialer Phänomene betrifft nicht nur das Beobachten, sondern gleichermaßen das öffentliche Involviertsein in den hieran angeschlossenen, rekursiven Forschungsprozess: das Transkribieren der aus der Beobachtung gewonnenen Daten in Form von Protokollen, Memos und anderen Aufzeichnungen, das denkende
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Schreiben, Lesen und die Theoriebildung (Schmidt 2016), die in zahlreichen Übersetzungsschlaufen beim Produzieren von Texten (Engert/Krey 2013) für unterschiedliche Öffentlichkeiten entstehen (Schäfer/Schindler 2016) sowie schließlich das Aufführen von Ergebnissen der Forschung sowie das Sprechen über Forschung (Abraham 2016). Praxistheoretische Forscher*innen setzen sich somit systematisch mit ihrem Selbst-Verständnis und dem sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess auseinander. Die anthropologisch/soziologischen Forschungen der STS zu Wissensproduktion und den Praktiken zur Schaffung von Faktizitäten der hard sciences, der Natur- und Technikwissenschaften, aber auch der Ingenieurswissenschaften haben unter anderem den Weg dafür geebnet, in dem sie die praktischen Konfigurationen in der systematischen Herstellung von Erkenntnissen über (Natur-)Wissen sichtbar machten, die Beglaubigungsregime im Erklären von vermeintlichen naturwissenschaftlichen Fakten aufzeigten und die wechselnden »Moden« von Wissensproduktionen in der Wissenschaft durchleuchteten. Praxeologisch orientierte Sozialwissenschaftler*innen haben hieraus unter anderem den Schluss gezogen, die eigene Erkenntnisproduktion in Beziehung zu unterschiedlichen Adressat*innengruppen zu stellen und ihren Forschungsprozess dorthin zu übersetzen, ihn öffentlich – möglicherweise in Live-Situationen (Schmidt/Volbers 2011) – zur Diskussion zu stellen. Damit ist eine performative Wende formuliert, die das Gelingen und Scheitern, beglaubigt durch eine Öffentlichkeit, als Bestandteil der Forschungsproduktion ansieht. Hier liegen Anknüpfungspunkte eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms an die Praxis der künstlerischen Performanceforschung, die zeigt, was ist und das vormacht, wie es sein könnte. Während die Relation zwischen Wissensproduktion und -rezeption in der sozialwissenschaftlichen Perspektive in dieser Systematik neu ist, ist die Reflexion des eigenen Tuns kein systematisches Kriterium der Performanceforschung. Inwieweit sich mit der performativen Öffnung des Forschungsprozesses der Verlauf und die Qualität der Theoriebildung selbst verändern, wird in dieserart gestalteten Praxis- wie Performanceforschungen noch weiter zu diskutieren sein.
D AS P ERFORMATIVE P RAXISTHEORIEN
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Die skizzierten performance-, performativitäts- und praxistheoretischen Positionen und methodologischen Konzepte lassen sich unter der These, dass das Performative die Verbindung zwischen Performance- und Praxistheorien herstellt,
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unter verschiedenen Aspekten des performativen Vollzugs ins Verhältnis setzen. Dies wird hier zunächst tabellarisch dargestellt und anschließend erläutert. Tabelle 1: Das Performative in Performance- und Praxistheorien Performativität
Praxis
Performance
Spannungsverhältnisse
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Erzeugung von Sozialität und Kulturalität im Spannungsfeld von Durchführung und Aufführung
Fokus auf Durchführung: Sozialität durch Bezugnahmen von Praktiken auf Ordnungen des Wissens
Fokus auf Aufführung: Kulturalität durch performative Bezugnahmen auf Ordnungen der Repräsentation
Transformation und Beständigkeit
2
Modus des Vollzugs
In (post-) strukturalistischen Positionen: über Praktiken mit Fokus auf deren Routinisiertheit, Normativität, Stabilität, Dauerhaftigkeit. In mikrosoziologischen Positionen: über performatives Wissen
Über performative Akte mit Fokus auf: Wiederholbarkeit, Differenz, Ko-Präsenz, Ereignishaftigkeit, Instabilität, Einmaligkeit
Routine und Instabilität
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Akteur*innen des Vollzugs
Soziale Akteure; Entwertung der Handlungsmacht
Ästhetische Subjekte; Starke Handlungsmacht
Ästhetisches und Politisches
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Elemente des Vollzugs: – Verkörperung – Materialität – Situationalität/ Kontextualität
Bestandteile von Praktiken
Aspekte von Aufführungen
Normativität und Entgrenzung
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Beglaubigungen des Vollzugs
Beobachter*innen
Zuschauer*innen/ Publikum
Öffentlichkeit
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1. Erzeugung von Sozialität und Kulturalität Die Hervorbringung von Sozialität und Kulturalität findet in Performance- und Praxistheorien unterschiedliche Antworten. Die (post-)strukturalistischen Praxistheorien betonen, dass die wirklichkeitsgenerierende Kraft von Praktiken durch die Bezugnahme der Praktiken auf überindividuelle (Wissens-)Ordnungen gewährleistet wird. Während Praktiken als verkörperte Kulturtechniken verstanden werden, gelten Diskurse als Spezialformen von Praktiken, die in der Praxis zum Einsatz kommen. Der mikrosoziologischen Position zufolge wird Sozialität alleinig in der performativen Durchführung der Praktiken erzeugt. Diskurse gelten nicht als Praktiken, sondern als eigenständige Sinnquellen, die einerseits den Praktiken eine semantische Infrastruktur bieten und das Sagbare und Denkbare legitimieren, andererseits aber von Praktiken abhängig sind (Reckwitz 2008; Hirschauer 2016).3 Entsprechend stehen hier nicht ein Zeichensystem, sondern die materiellen Träger der Kommunikation im Vordergrund. Performative Akte vollziehen sich über Verkörperungen und Beglaubigungsstrategien, über die Situation und die unvorhersehbare Durchmischung des Materiellen mit dem Sozialen. Performancetheoretische Ansätze wiederum fokussieren auf die Hervorbringung von Kulturalität durch und in Performances und finden sie in Strategien der Beglaubigung mit dem expliziten Verweis auf repräsentative, ästhetische und kulturelle Ordnungen sowie in Kontextualisierungen und Rahmungen, in rituellen Ordnungen und in körperlichen Ko-Präsenzen. 2. Modus des Vollzugs Die Routinisiertheit und Regelhaftigkeit von Praxis stehen im Fokus der (post-) strukturalistischen Praxistheorien. Praxis wird hier eher als ahistorisch, statisch und beständig konzipiert, insofern als die Sichtbarmachung der Dauerhaftigkeit und Stabilität von Praktiken und die mit ihnen verbundenen normativen Ordnungen im Vordergrund stehen. Die Modi des Vollzugs werden durch die Bezugnahme auf die in den Routinen eingelagerten Wissensordnungen sichtbar. Damit ist das Performative in das Spannungsfeld von Praktiken und Ordnungen eingebettet und eine Perspektive eröffnet, die die mikrosoziologischen Positionen der Praxistheorien eher vernachlässigen oder ablehnen. Letztere hingegen verorten den Modus des Vollzugs allein in der Praxis. Sie fragen nach dem performativ erzeugten Wissen sowie nach dem Verhältnis von Gelingen und Scheitern des
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Siehe zu medialen Praktiken den Beitrag von Dennis Krämer in diesem Buch.
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Vollzugsgeschehens. In den Blick rückt dabei das Verhältnis von Stabilität und Instabilität und damit eine Perspektive, die das Soziale dynamischer denkt und auf das Verhältnis von Konventionalisierung und Transformation von Praktiken engführt.4 Wie diesen mikrosoziologischen Ansätzen zufolge Praxis nicht nur durch das verkörperte Wissen, sondern auch durch ein im Vollzug gezeigtes Wissen, ein performed knowledge erzeugt wird, beschreiben auch performancetheoretische Ansätze die Modi des Vollzugs über die Aufführung von verkörpertem Wissen (Huschka 2009).5 Ohne den Begriff der Praktik selbst theoretisch zu reflektieren, definieren sie dies – im Gegensatz zur Theorie – als Praxis, insofern als hier ein performativer Akt öffentlich, das heißt in Interaktionsordnungen durchgeführt und beglaubigt werden muss. Die Theaterwissenschaft konzipiert Performativität (der Aufführung) im Unterschied zu Repräsentativität (der Inszenierung) und Expressivität (der Darstellung). In der Aufführung kommt demnach – anders als in einer Inszenierung – nicht das übergeordnete, abgerufene oder das in den Körpern eingelagerte und ausgedrückte Wissen zum Tragen, sondern die Theatralität der Aufführung wird erst über ihre Performativität hervorgebracht. 6 Literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze wiederum beziehen sich explizit auf das Repräsentative, wenn sie das Performative als Vollzugsgeschehen positionieren (Wirth 2002). Im Gegensatz zu den (post-)strukturalistischen Praxistheorien wird in diesen beiden performancetheoretischen Ansätzen das Performative des Vollzugsgeschehens als (radikale) Instabilität gedacht und mit Phänomenen wie Unwiederholbarkeit, Ereignishaftigkeit, Flüchtigkeit, Gegenwärtigkeit und Präsenz konfrontiert.7 3. Akteur*innen des Vollzugs Zentrale Reibungspunkte sowie Widersprüchlichkeiten von Praxis- und Performancetheorien sind im Spannungsfeld von humanistischen Normativitäten und materiellen Entgrenzungen zu finden, denn hier entscheidet sich, mit welchen Teilnehmenden eine Praxis oder Aufführung materiell und körperlich erzeugt wird und wie sie sich vollzieht. Performancetheorien sind eher humanistisch geleitet und anthropozentrisch fundiert. Sie sprechen dem handelnden Subjekt, den
4
Siehe hierzu den Beitrag von Larissa Schindler in diesem Buch.
5
Siehe hierzu den Beitrag von Sabine Huschka in diesem Buch.
6
Siehe hierzu den Beitrag von Katharina Kelter in diesem Buch.
7
Siehe hierzu den Beitrag von Gabriele Klein in diesem Buch.
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Prozessen der Subjektivierung und Kollektivierung (van Eikels 2013) sowie der von den Handelnden kontrollierten Situation eine große Autorität zu – selbst wenn auch hier jüngst nicht nur materielle nicht-menschliche Akteur*innen (Licht, Bühne, Requisiten, Tiere) sondern auch immaterielle (Geister, Dämonen oder Götter und ihre Fetische) eine größere Rolle spielen.8 Praxistheorien beruhen auf einem weniger humanistisch ambitionierten Verständnis vom Tun: Das menschliche Handeln und die individuelle Handlungskompetenz werden nicht überhöht, sondern in den Kontext eines Interaktionsgefüges von Handlungsketten oder eines Ensembles von Praktiken gestellt. In (post-)strukturalistischen Praxistheorien sind – in Anlehnung an Bourdieu – Praktiken durch verkörperte Formen des Habitus motiviert, die über den sens pratique gesteuert werden, ohne dass dieser Vorgang dem Bewusstsein zugänglich sein muss. Hierin liegt insofern ein starker anthropozentrischer Moment, als die Inkorporierung auf das Subjekt und den Subjektivierungsprozess bezogen bleibt. Die mikrosoziologischen Praxistheorien verabschieden sich radikaler von einem an die Akteur*in als Autor*in des Handelns gebundenen Handlungsbegriff und richten ihren Blick auf Handlungsverteilungen der Teilnehmer*innen, den sogenannten »Partizipanden« (Hirschauer 2004) von Praxis. Sie machen zugleich in der körpersoziologischen Perspektive die kommunikative Seite des körperlichen Tuns stark, weil sie auf das abheben, was sozial sichtbar ist. In Anlehnung an die ANT werden hier auch die nicht-menschlichen Teilnehmer*innen einbezogen und damit zu einem kompositorischen Hybrid aus sozialer Akteur*in und materiellem Ding, das über performative »Handlungsketten« der Praxis sogenannte »Aktionsprogramme« (Akrich/Latour 1992; Latour 1994) erwirbt, durch welche diese Aktant*innen »Handlungsmacht« (agency) ausbilden und zugleich den auf Menschen bezogenen Subjektbegriff und Subjektivierungsprozesse dezentrieren.9 4. Elemente des Vollzugs Sowohl Praxis- wie Performancetheorien nutzen einen weiten Akteur*inbegriff, sie nehmen menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen in den Blick. Die Elemente des Geschehens sind in beiden Ansätzen nur über deren relationale Anordnung sowie über ihre Ausführung, Aneignung, Wahrnehmung und Erfah-
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Siehe hierzu den Beitrag von Claude Jansen in diesem Buch.
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Siehe hierzu den Beitrag von Hanna Katharina Göbel in diesem Buch.
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rung greifbar und in ihrer Materialität und Körperlichkeit erfassbar. Konzepte der Verkörperung (Alkemeyer 2015) und des Embodiment sind von daher für beide Theorien zentral: In der Performancetheorie finden sie ihren Niederschlag in dem Ansatz der Ko-Präsenz und der Leiblichkeit, in den Praxistheorien wurden Verkörperungsformen vor allem über das Habituskonzept Bourdieus eingeführt. Die Bezugnahme auf nicht-menschliche, (im-)materielle Akteur*innen fällt unterschiedlich aus: Praxistheorien haben ein ausdifferenziertes Vokabular für die sozialen Dinge (des Konsums), für nicht stofflich greifbare Objekte der (Natur-)Wissenschaft (etwa ein Molekül) oder der Hoch-Technologieforschung (wie ein Computer-Chip) sowie für industriell gefertigte Artefakte und mediale Apparaturen entwickelt (Göbel 2016). Performancetheoretische Ansätze verfolgen eher anthropologische Positionen. Der ästhetische Umgang mit Materialien und deren Eigendynamik in performativen Konstellationen und Situationen wird hier in Bezug auf ästhetische Regime (Rancière 2006) aber auch auf politische und soziale Machtordnungen (zum Beispiel des Geschlechts, des Post-Kolonialen etc.) verhandelt. Das Verhältnis von Situationalität und Kontextualität ist für Performancewie Praxistheorien gleichermaßen zentral: Praxistheorien betrachten die materiell-räumliche Ausdifferenzierung von Situationen, in denen Praktiken sich ereignen, der Kontext ist in der Praxis selbst sichtbar.10 Insbesondere die mikrosoziologischen Praxistheorien lösen die Differenz von Situationalität und Kontextualität auf: Relevant ist nur, was im Vollzugsgeschehen der Situation wie rekrutiert wird. Performancetheoretische Ansätze denken Situationalität als Gegenwärtigkeit und Ereignishaftigkeit und stellen den Bezug zu Kontextualität her, indem sie darauf hinweisen, dass die situationale Konstitution von Sinn über den Verweis auf die entsprechenden Rahmungen erfolgt. Performance- wie Praxistheorien beschreiben die Elemente des Vollzugs als verantwortlich für die Durchführung; über sie werden Wahrnehmungsordnungen konventionalisiert, entgrenzt, (neu) hergestellt und normiert. 11 Performancetheoretische Ansätze hingegen verorten die Elemente des Vollzugs in der Aufführung: Im Vollzugsgeschehen wird performativ wirksames Wissen erzeugt.
10 Siehe hierzu den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Buch. 11 Siehe hierzu die Beiträge von Gitta Barthel und Heike Lüken in diesem Buch.
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5. Beglaubigungen des Vollzugs Aufführung und Durchführung sind durch die Dialektik von Beobachten und Beobachtet-Werden gekennzeichnet. Dies ist ein konstitutives Strukturmerkmal des Vollzugsgeschehens – hinsichtlich der Aktualisierung und Re-Konventionalisierung von Normen, der Bezugnahme auf kulturelle Ordnungen der Repräsentation und des Wissens sowie der Ausformung und Gestaltung des Vollzugs. Öffentlichkeit ist somit für Performance- wie Praxistheorien zentral, denn sie beglaubigt den Vollzug im performativen Sinn.12 In den Performancetheorien erfolgt die Beglaubigung über das Publikum, in den Praxistheorien sind es die Beobachter*innen. Publikum und Beobachter*innen sind Teilnehmende und KoAkteur*innen des Vollzugsgeschehens, das damit konsequent als eine AkteurZuschauer-Relation, als ein Netzwerk der in Beziehung gedachten Akteur*innen konzipiert ist. Hier sind begriffliche Analogien zwischen Praxis- und Performancetheorie zu finden.13
AUFBAU
DES
B UCHES
Die zentralen, hier vorgestellten Bezugspunkte und Spannungsfelder zwischen Praxis- und Performancetheorie nimmt das Buch auf und macht sie an Beispielen aus den Feldern Tanz, Theater, Sport und Alltag anschaulich. Ausgangspunkt ist die körpersoziologische Annahme, dass die Erzeugung von Kulturalität und Sozialität grundsätzlich körperbezogen ist oder anders gesprochen: Das Soziale und Kulturelle ist grundlegend in körperlichen Praxen eingebettet. Deshalb nimmt das Buch Abstand von einer Perspektive, die den »Körperfeldern« Tanz und Sport einen exklusiven Status zuweist und sieht hingegen alle gesellschaftlichen Felder als geeignet sowohl für eine körpertheoretisch fundierte praxis- wie performancetheoretische Analyse an. Die praxeologischen Erkundungen der hier thematisch in vier Kapiteln gebündelten Beiträge sind zentralen Diskussionsfeldern im Spannungsfeld von Praxis- und Performancetheorien zugeordnet. Die Beiträge folgen einer unterschiedlichen, aber je einheitlich gegenderten Schreibweise, je nach dem (politischem) Ermessen der Autor*in und ausgerichtet an den sprachlichen Gewohnheiten des jeweiligen Forschungsfeldes und -gegenstandes.
12 Siehe hierzu den Beitrag von Elisabeth Leopold in diesem Buch. 13 Siehe hierzu den Beitrag von Anna Wieczorek in diesem Buch.
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Im ersten Kapitel wird das Begriffspaar Routine und Instabilität zum Ausgangspunkt genommen, um das routinegeleitete und auf Wiederholung basierende Soziale der Praxistheorien in einen Dialog mit der theoretischen Figur der Instabilität und Iteration der Performance- und Performativitätsforschungen zu bringen. Larissa Schindlers Beitrag zur Praxis des Fliegens eröffnet diesen Buchteil mit einer praxistheoretischen Reflexion der affizierenden Störungen des sozialen Flows in den von ihr untersuchten Mobilitätspraktiken, die das Fliegen herstellen. Gabriele Klein wählt den Ausgangspunkt der Instabilität, indem sie zeigt, wie das routinebasierte Körperwissen des Ensembles des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nach dem Tod der Choreografin Pina Bausch in den Praktiken der Weitergabe verschiedenen instabilen Übersetzungsprozessen ausgesetzt ist. Anna Wieczorek zeigt in ihrem methodologischen Beitrag zur Publikumsforschung, ebenfalls am Beispiel des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, wie Wahrnehmungsroutinen und Iterationen der Zuschauer*innen zusammenwirken und in Praktiken des Erforschens von Wahrnehmung instabilisiert werden. Katharina Kelter fragt, wie Unvorhersehbarkeit als eine künstlerische Strategie im Produktions- und Aufführungsprozess genutzt und als emergentes Phänomen in Szene gesetzt wird. Das Kapitel Normativität und Entgrenzung wird mit einem Beitrag von Thomas Alkemeyer eröffnet, der die zentrale praxistheoretische Debatte der Soziologie zum Verhältnis von Praktiken und Praxis, von den normativen Wissensordnungen und einem (entgrenzenden) Vollzugsgeschehen der Praxis theoretisch und methodologisch durchleuchtet. Hanna Katharina Göbel diskutiert das Spannungsverhältnis von Normativitäten der Körper und materieller Entgrenzung durch Objekte, Dinge oder Artefakte anhand der täglichen Affizierungen von Sportler*innen mit Beinprothesen am Beispiel der Leichtathletik. Dennis Krämer schließt hieran mit einem geschlechtersoziologischen Beitrag zur diskursiven Verhandlung von Intersexualität im Sport an, in dem er die Entgrenzung sportmedizinischer Klassifikationen bei gleichzeitigem Abruf normativer Ordnungen in den Blick nimmt. Transformation und Beständigkeit ist der Buchteil, der das Spannungsfeld von Wandel und Beharrlichkeit sowohl aus praxis- wie performancetheoretischer Perspektive fokussiert. Claude Jansen gibt Einblick in den Facettenreichtum, der zwischen diesen beiden Polen liegt, indem sie am Beispiel der Arbeit des Choreografen Faustin Linyekula zeigt, wie diese zwischen den nord-atlantischen Konventionen des bürgerlichen Theaters und afrikanischen, animistischen Ritualen changiert und somit sowohl europäische wie afrikanische Vorstellungen von
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Theater und Ritual befremdet. Die Beiträge von Gitta Barthel und Heike Lüken greifen das teils widersprüchliche Ineinandergreifen von beständigen Ordnungen und deren Weiterentwicklung in spezifischen künstlerischen Praktiken auf: Barthel zeigt, wie choreografische Praxis in eine vermittelnde Praxis im Kontext von Kultureller Bildung übertragen und diese dadurch transformiert wird; Lüken diskutiert, wie choreografische Stadtforschungen konventionalisierte Ordnungen von Stadtplanungspraktiken befremden und sich zugleich an ihnen ausrichten. Sabine Huschka diskutiert schließlich die in künstlerischen Arbeiten entwickelten Praktiken, die sich mit dem Re-Enactment von Tanzgeschichte befassen und zeigt auf, wie einerseits historische Beständigkeit durch fortlaufende Neuinterpretationen erzeugt wird und dies andererseits über eine transformatorische Praxis erfolgt. Im vierten Kapitel Politisches und Ästhetisches entwirft der Beitrag von Ana Vujanović eine theoretische Perspektive auf Praxis sowohl aus Sicht der Performancetheorie wie der Performancekunst. Sie stellt die Verbindung zwischen Politischem und Ästhetischem her, indem sie Subjektivierungsprozesse im Kontext künstlerischer Produktionspraktiken in den Blick nimmt. Elisabeth Leopold sucht das Verhältnis von Politischem und Ästhetischem im Begriff des »Radikal« und diskutiert aus einer der Praxistheorie entliehenen Perspektive das Potential des Radikalen in der Performancekunst. Der Beitrag von Sibylle Peters schließlich dokumentiert die Verwobenheit der Ästhetik der künstlerischen Performance mit dem forschenden Generieren von gesellschaftspolitischem Wissen und der Politik der Selbstpositionierung als verantwortungsbewusste Akteur*innen der Zivilgesellschaft.
D ANK Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Dies nicht nur deshalb, weil es ein Sammelband mit mehreren Autor*innen ist. Das Buch ist vielmehr das Ergebnis eines performativen Prozesses wie einer wissenschaftlichen Praxis. Es entstand im Rahmen eines Kolloquiums, das seit Jahren im Arbeitsbereich »Kultur, Medien, Gesellschaft« am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg etabliert ist. In mehreren Kolloquiumsterminen wurden seit 2013 im Rahmen einer Workshop-Serie und entlang gemeinsamer Lektüren Themenschwerpunkte herausgearbeitet und diskutiert, mitunter verworfen und neu arrangiert. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen des Arbeitsbereichs haben sich für Beitragsthemen entschieden, die entweder an den drittmittelgeförderten Forschungsver-
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bünden und -projekten oder an ihren Dissertationen und Habilitationen orientiert sind. Zudem haben Kolleg*innen einen Beitrag zu dem Buch geleistet, die – mit Ausnahme von Thomas Alkemeyer – als Gast- und Vertretungsprofessor*innen oder Dozent*innen am Arbeitsbereich »Kultur, Medien, Gesellschaft« und hier vor allem an dem dazugehörenden internationalen und interdisziplinären Masterstudiengang Performance Studies tätig waren. Das Buch dokumentiert damit auch den Versuch, das Verhältnis von Performance und Praxis nicht nur theoretisch zu erkunden und methodisch zu explorieren, sondern das Forschen selbst als eine kollektive und performative Praxis zu verstehen, die sowohl einem routinisierten wie instabilen als auch einem normativen und zugleich entgrenzenden Prozess folgt, der durch Beständigkeit sowie Transformation gekennzeichnet ist. Wir danken allen Autor*innen für die gute, produktive und kollegiale Zusammenarbeit. Den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Gitta Barthel, Katharina Kelter, Dennis Krämer, Elisabeth Leopold, Heike Lüken und Anna Wieczorek sind wir zudem für ihre redaktionelle Mitarbeit zu Dank verpflichtet. Besonders danken wir Katharina Kelter für die Fertigung der Druckvorlage. Ein weiterer Dank richtet sich an den transcript Verlag für die professionelle Begleitung im Prozess der Buchherstellung.
L ITERATUR Abraham, Anke (2016): »Sprechen«, in: Gugutzer, Robert/ Klein, Gabriele/ Meuser, Michael (Hrsg.): Handbuch Körpersoziologie. Band 2: Forschungsfelder und methodische Zugänge, Wiesbaden: Springer VS, S. 457–470. Akrich, Madeleine/ Latour, Bruno (1992): »A Summary of Convenient Vocabulary for the Semiotics of Human and Non-Human Assemblies«, in: Bijker, Wiebe E./ Law, John (Hrsg.): Shaping Technology/Building Society. Studies in Sociotechnical Change, Cambridge/Massachusetts: MIT Press, S. 259– 264. Alkemeyer, Thomas/ Boschert, Bernhard/ Gebauer, Gunter/ Schmidt, Robert (Hrsg.) (2003): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz: UVK. Alkemeyer, Thomas/ Boschert, Bernhard/ Gebauer, Gunter/ Flick, Uwe/ Schmidt, Robert (Hrsg.) (2004): Treue zum Stil: die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld: transcript.
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ROUTINE UND INSTABILITÄT
Die Praxis des Fliegens und ihre Störungen L ARISSA S CHINDLER
Störungen bilden ein wichtiges Thema vieler Alltagsgespräche. Wir unterhalten uns zum Beispiel darüber, was schief gegangen ist, wie wir mit jemandem gestritten haben oder wie die moderne Infrastruktur versagt hat. In Deutschland etwa ist das Klagen über die angeblich ständigen Verspätungen der Deutschen Bahn eine beliebte Tätigkeit. Während Störungen im Alltag ein häufiger Topos sind, sind sie im Rahmen soziologischer und kulturwissenschaftlicher Überlegungen nicht immer genauso präsent. Gerade auch die Praxistheorien stehen im Ruf, die (gelingende) Reproduktion sozialer Verhältnisse analytisch zu stark zu gewichten.1 Das erscheint zunächst durchaus plausibel. Wichtige Theoretiker, die heute zu den Praxistheorien gezählt werden, haben sich schließlich mit der Reproduktion sozialer Verhältnisse beschäftigt: Pierre Bourdieu etwa zeigte in verschiedenen Studien, dass die ökonomischen Verhältnisse durch eine kulturelle Ordnung abgesichert werden, die den Wechsel zwischen sozialen Schichten erschwert (Bourdieu 1987, 2004). Harold Garfinkel interessierte sich dafür, wie die soziale Ordnung im situativen Vollzug lokaler Praktiken ständig hervorgebracht wird (Garfinkel 1967, 1986). Erving Goffman beschrieb die Interaktionsordnung als einen Ort, an dem soziale Verhältnisse verhandelt und reproduziert werden (Goffman 1986, 1994). Gleichzeitig aber würde niemand bestreiten, dass Praktiken sich verändern und dass es sozialen Wandel gibt. Mehr oder weniger deutlich finden sich in den verschiedenen praxistheoretischen Ansätzen deshalb auch
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Davide Nicolini vertritt diese Haltung explizit: »Therefore, the question for organizational scholars should not be ›do practices change?‹ Instead, the question is the opposite – ›through which mechanisms does practice achieve durability in time?‹« (Nicolini 2013: 226).
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Hinweise auf die Instabilität der Praxis (Schäfer 2013). So erwähnt etwa Pierre Bourdieu in einer Nebenbemerkung: »Gegenstand der Geschichte ist die Geschichte dieser Transformationen der Struktur, die sich allein von der Kenntnis der früheren Verfassung der Struktur aus verstehen lassen (was bedeutet, daß der Gegensatz von Struktur und Wandel, Statik und Dynamik vollkommen fiktiv ist und daß der Wandel sich anders als von der Kenntnis der Struktur her nicht begreifen läßt).« (Bourdieu 1992: 196)
Während das Verhältnis von Stabilität und Instabilität in diesem Zitat im Grunde zum sozialwissenschaftlichen Artefakt erklärt wird, hat sich in den letzten Jahren in den Praxistheorien eine Diskussion darüber etabliert, wie man sie aufnehmen und programmatisch konzipieren könnte. Wie treten also sowohl Dynamik als auch Statik in sozialen Praktiken auf und wie verschränken sie sich? Diese Frage stellt theoretisch eine Herausforderung dar, weil sie zunächst einmal gegensätzliche Phänomene in den Blick zu nehmen sucht. Sie tangiert ein theoretisches Problem, besser eine theorieimmanente Ambivalenz, die die Sozialwissenschaften seit langem prägt (Latour 2006: 508ff.).2 Hilmar Schäfer (2013) hat dieses theoretische Problem für die Perspektive der Praxistheorien in einer ausführlichen Studie verschiedener Theoretiker_innen dargestellt. Er macht deutlich, dass es als Verhältnis von »Stabilität« und »Instabilität« in allen praxistheoretischen Ansätzen auftaucht, die Tendenz (Richtung Stabilität oder Instabilität) jedoch unterschiedlich ausfallen kann (Schäfer 2013: 42ff.). Schäfer postuliert: »Die Praxistheorie muss in der Lage sein, sowohl die allgemeine Beharrungskraft und Stabilität als auch die spontane Transformationsfähigkeit sozialer Praxis analytisch erfassen zu können« (Schäfer 2013: 42) und schlägt vor, das zentrale Konzept der »Routine« durch »Wiederholung« im Sinne Derridas zu ersetzen, um beide Momente besser konzipierbar zu machen. Auch Andreas Reckwitz (2008: 201ff.) spricht sich für eine Perspektive aus, die »instabile Praxis/Diskursforma-
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Die Soziologie entsteht im Umbruch zur Moderne und fragt ganz grundlegend, wie soziale Ordnung entstehen kann, wenn es keine göttliche Ordnung mehr gibt. Während wichtige Denker wie Rousseau oder Hobbes hier die Frage nach dem »Urzustand« (Chaos oder Ordnung) stellen, ist diese aus soziologischer Sicht redundant. Es wäre die Frage nach einer Gesellschaft vor der Gesellschaft. In diesem Sinne motiviert die Soziologie also eigentlich ein grundlegendes Staunen darüber, dass (atomistische) Individuen überhaupt Ordnung hervorbringen, seien es auch brüchige oder krisenhafte »Ordnungen«.
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tionen« denkt, die also nicht nur die Spannung zwischen den Konzeptionen von Praktiken und Diskursen auflösen will, sondern vor allem auch ein instabiles Moment im Sozialen ernst nimmt. Stärker empirisch orientiert schlagen Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Matthias Michaeler (2015) vor, zwei Perspektiven auf Praktiken zu unterscheiden: Aus einer Vogelperspektive auf die Praxis werden routinierte, oft gleichförmige Praktiken beobachtbar, aus der Perspektive der beteiligten Subjekte auf die Praktik hingegen erscheinen sie eher als störungsanfällige, manchmal konflikthafte und deshalb kontingente Praktiken. Störungen wären in dieser Perspektive also primär der Sicht der Subjekte zuzuschreiben, die mikrosoziologisch zu untersuchen ist. Stefan Hirschauer (2016) versteht Praxis als Verhaltensstrom, in den sich Praktiken, Tätigkeiten und Handlungen einfügen. Er betont, dass das Tun der Situationsteilnehmer – anders als es handlungstheoretische Ansätze konzipieren – unterschiedliche Aktivitätsniveaus hat: sie können aktiv versuchen etwas zu erreichen, es kann ihnen aber auch etwas unterlaufen (etwa Essen anbrennen oder einen Schlüssel verlieren) oder sie versuchen, etwas zu unterbinden oder aktiv zu konterkarieren (Hirschauer 2016: 48). Damit sind in dieser Perspektive Störungen Teil des alltäglichen Geschehens, in das sich Handelnde einfädeln, dem sie aber nicht einfach ausgesetzt sind. Der folgende Beitrag greift ein ähnlich konturiertes Phänomen auf. Er behandelt Unregelmäßigkeiten im Verlauf von Praktiken, die im Alltag immer wieder auftreten: Störungen wie Verzögerungen, Pannen, Missverständnisse, Unwohlsein und dergleichen. Es geht also nicht um langfristige, historische Veränderungen von Praktiken wie sie im oben angeführten Zitat Bourdieus erwähnt werden oder wie sie Norbert Elias (1976) als Zivilisationsprozess beschrieben hat,3 sondern um die Frage, wie und inwiefern alltägliche Praktiken für Störungen anfällig sind. Dabei soll die Störanfälligkeit von Praktiken jedoch nicht zum Programm gemacht werden, sondern eine Beobachtung von Störungen und ihren Reparaturen, vom Laufen, irritiert Werden und Weiterlaufen von Praktiken. Der Beitrag verfolgt deshalb nicht die Frage, ob Praktiken quasi »von Natur aus« stabil oder instabil sind, sondern geht davon aus, dass immer beides der Fall ist.
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Solche alltäglichen Störungen können natürlich Teil von langfristigen, historischen Veränderungen sein, sie unter Umständen sogar auslösen, wie man in Elias’ sozialhistorischen Abhandlungen nachlesen kann (Elias 1976). Ob sie aber Teil oder gar Auslöser solcher langfristiger Veränderungen sind, ist für meine Darstellung im Weiteren nicht relevant. Wichtig ist nur, dass sie von den Situationsteilnehmer_innen als Störung sozial relevant gemacht werden.
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In und durch Praktiken werden sowohl Ordnung und (Infra-)Strukturen hervorgebracht als auch Störungen, Unregelmäßigkeiten und sozialer Wandel. Der Vorzug der praxistheoretischen Ansätze ist, dass das Hervorbringen von Ordnung wie von Wandel weder Individuen noch Strukturen zugeschrieben wird, sondern einem kontingenten sozialen Geschehen, an dem Einzelne teilhaben, das sie aber trotzdem nicht determinieren können. Die Frage nach Praktiken und ihren Störungen soll an einem spezifischen, empirischen Fall aufgerollt werden: Flugreisen. Sie sind freilich nur ein Fall von vielen, an dem sich das Phänomen untersuchen lässt, aber zugleich ein besonders erkenntnisversprechender Gegenstand, weil im Flugverkehr gleichermaßen eine sehr starke Standardisierung der alltäglichen Tätigkeiten als auch schnelle technische Veränderungen vorzufinden sind. Flughäfen sorgen etwa durch Zugangshürden, mehrfache Kontrollen und einem ausgefeilten Leitsystem dafür, dass sowohl Passagiere als auch ihr Tun möglichst gleichförmig gestaltet wird. Gleichzeitig werden so viele Menschen »durchgeschleust«, dass schon auf dieser Ebene eine gewisse Anfälligkeit für Störungen entsteht, die durch die häufigen technischen Erneuerungen zusätzlich gesteigert wird. Wir finden in diesem Bereich also sowohl stabilisierende Momente als auch Störungen und Missverständnisse sowie ihre situativen Korrekturen in besonders ausgeprägter Form. Diese Gleichzeitigkeit von Stabilität und Instabilität im sozialen Geschehen macht Flugreisen zu einem interessanten Fall für die Frage nach Störungen im Verlauf sozialer Praktiken.
M ETHODE Die im folgenden Beitrag diskutierten Beispiele stammen aus dem empirischen Korpus der laufenden Studie »Die Flugreise: Zum körperlichen Vollzug technisch beschleunigter Mobilität«. 4 Sie folgt den Spielregeln ethnographischen Forschens (Breidenstein u.a. 2013; Kalthoff 2003, 2010). Der Korpus umfasst bislang primär Protokolle aus teilnehmenden Beobachtungen auf Kurz-, Mittelund Langstreckenflügen. Zusätzlich wurden Interviews, Fotos und kurze Videoaufnahmen gemacht.
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Die Konzeption der Studie über die Praxis des Fliegens wurde von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz finanziell unterstützt, ihre Durchführung wird seit März 2016 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.
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Im Folgenden wird aber vor allem ein eher ungewöhnlicher Materialtyp relevant: Logbücher. Hier wurden Reisende gebeten, während oder kurz nach einer Flugreise ihre Eindrücke schriftlich festzuhalten. Auf diese Weise wurden (bislang) achtzehn Kurz- und Langstreckenflüge beschrieben. Diese Flugbeschreibungen sind aufgrund der räumlichen und zeitlichen Verortung deutlich näher am Geschehen als Interviews. Sie sind gleichzeitig eine interessante Ergänzung der Protokolle aus teilnehmenden Beobachtungen, weil sie eine Beobachtertriangulation herbeiführen und so verschiedene Aspekte einer Flugreise aus unterschiedlichen Perspektiven erfahrbar machen. Das ist vor allem an jenen Passagen der Flugreise interessant, die – wie etwa Sicherheitskontrollen – empirischer Forschung nur sehr eingeschränkt zugänglich sind (Pütz 2012: 159ff.). Die Logbücher entstanden parallel zu teilnehmenden Beobachtungen, wodurch der Fokus der Protokolle auf fruchtbare Weise modifiziert wurde: In den Logbüchern wurden immer wieder neue, mir bislang unbekannte Fluggewohnheiten und -strategien beschrieben. Diese Inputs wurden bei den folgenden teilnehmenden Beobachtungen auf Flugreisen zum Ausgangspunkt genommen, neue Wege zu probieren und Erfahrungen anders zu rahmen. Sie inspirierten also dazu, mit den eigenen Fluggewohnheiten zu experimentieren und auf diese Weise den Möglichkeitsrahmen auszuweiten und zu erkunden. Logbücher bilden zudem, ähnlich wie Interviews, einen Zugriff auf das explizite Wissen von Flugpassagieren. Sie geben Hinweise darauf, was einer Beschreibung »wert« ist und was beim Verschriftlichen untergeht.5 Auch so modifizieren sie den immer auch theoretisch inspirierten Blick der teilnehmenden Beobachtung und lenken ihn auf Teilnehmerrelevanzen.
AUF
DEM
B ODEN
Flugreisende stehen oft unter einem spezifischen Druck: Man muss rechtzeitig am Gate sein. Dafür muss man den Weg zum Flughafen zurücklegen, der nicht immer vollständig berechenbar ist (Vobruba 2015), am Flughafen das Flugge-
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Eine ähnliche Strategie verfolgt Jens Roselt (2004) bei seiner phänomenologisch orientierten Analyse von Publikumserfahrungen in Theateraufführungen. Dabei scheinen gerade auch Irritationen in der Wahrnehmung den Zuschauer_innen besonders häufig hängen zu bleiben. Vielleicht bilden also gerade auch Logbücher oder andere, ähnliche Selbstreporte einen besonders störungsorientierten empirischen Zugang. Siehe dazu auch den Beitrag von Anna Wieczorek in diesem Buch.
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päck einchecken, Gepäck- und Sicherheitskontrolle durchlaufen und schließlich das richtige Gate finden. Noch bevor ein Flugzeug abhebt (fliegt und wieder landet), sind Flugreisende deshalb in eine ganze Kette von Interaktionen und Mobilitätspraktiken eingebunden, in denen Personen, Körper und Dinge koordiniert werden müssen. Dabei entstehen an vielen Stellen Gelegenheiten für Störungen. Charakteristisch für Flugreisen ist eine one way-Orientierung, das heißt es gibt einen klaren Anfang und ein klares Ziel. Diese Orientierung wird an den Flughäfen durch sorgfältig geplante und ständig verbesserte Leitsysteme gesteigert. So verhindern an den meisten Flughäfen nicht nur die schleusenartig organisierten mehrfachen Kontrollen den Rückweg. Auch die regelmäßig am Weg liegenden Toiletten, Aussichts- und Wartepunkte sowie Konsumgelegenheiten lassen den Wunsch nach rückwärts gerichteter Bewegung kaum aufkommen. Flughäfen vermitteln so den Eindruck, das Tun der Passagiere stark zu standardisieren: Man folgt einem vorgegebenen Weg durch das Gebäude. Trotz der one way-Orientierung stellt gerade auf Weitstreckenflügen der Transport von Gepäck eine Herausforderung dar. Während auch sperriges Gepäck auf dem Weg zum Flughafen mit den anderen Mobilitäts- und Kommunikationserfordernissen in Einklang gebracht werden muss und damit zu einer komplexen Tätigkeit werden kann, trennen sich die Reisenden in der Regel beim Einchecken von einem Teil des Gepäcks, dem Fluggepäck. Dieses geht bis zur Ankunft am Zielflughafen seinen eigenen Weg, wodurch nicht nur eine Standardisierung seines Weges hergestellt wird, sondern die Passagiere auch vom weiteren Manövrieren mit diesem Gepäck entlastet werden. Auf dem Weg des Gepäcks entstehen allerdings auch Möglichkeiten für Pannen (Potthast 2007), obwohl die Passung zwischen Passagier und Fluggepäck über elektronische Systeme hergestellt wird. Eine solche Panne schildert der folgende Auszug aus einem Protokoll einer teilnehmenden Beobachtung: »Ich bin zwar in LaGuardia (New York) angekommen, leider mein Koffer nicht. Deshalb muss ich auf das nächste Flugzeug warten und hoffen, dass es meinen Koffer mitbringt. Ich bin etwas nervös. Zwar habe ich einige Stunden Zeit zwischen meinen Flügen, aber ich habe die beiden Flüge unabhängig voneinander bei zwei unterschiedlichen Fluglinien gebucht. Die Fluglinie für den Flug nach New York ist deshalb für die Weiterreise meines Koffers nicht verantwortlich. Kommt er also nicht mit dem nächsten Flugzeug an, so muss ich entscheiden, ob ich ohne Koffer weiterreise und abwarte, ob und wenn wie er zu mir findet, oder ob ich den nächsten Flug verfallen lasse, auf den Koffer warte und dann einen neuen Flug bezahle. Während der Wartezeit verlasse ich die ›Luftseite‹ und versuche, herauszufinden, wo und wie mein Flug weitergeht, falls der Koffer planmäßig mit dem nächsten Flugzeug ankommt.« (eigenes Protokoll)
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Der Auszug beschreibt einen fast störungsfreien Ablauf. Bis zur Ankunft am Flughafen LaGuardia in New York hat alles wie vorgesehen geklappt. Die Panne auf dieser Flugreise entsteht, weil der Koffer aus irgendeinem Grund nicht mit demselben Flugzeug transportiert wurde, die Trennung zwischen Passagier und Fluggepäck also nicht rechtzeitig aufgehoben wurde. In vielen Fällen würde das vielleicht gar nicht auffallen, weil das Gepäck bis zum Zielort »durchgecheckt« und bei Verzögerungen nachgeliefert wird. In diesem Fall entsteht ein Problem für die Reisende, weil der Weiterflug bei einer anderen Fluggesellschaft gebucht wurde und deshalb der fehlende Koffer potentiell ein schwerwiegendes Folgeproblem auslösen kann. Der Auszug deutet an, dass in dieser Situation ein »Plan B« zur Anwendung kommt. Auch ohne die ursprüngliche Formation aus Person, Körper und Gepäck zusammenzufügen, werden die Bedingungen vor Ort ausgekundschaftet, um einen zweiten Anlauf vorzubereiten. Das deutet darauf hin, dass Praktiken nicht unbedingt geradlinig ablaufen, sondern schleifenförmige Momente aufweisen können. Die im Rahmen von Flugreisen besonders ausgeprägte one way-Orientierung kann unterbrochen werden, wodurch jedoch in diesem Fall eine spezifische Irritation ausgelöst wurde. Außerdem zeigt sich auch in diesem Ausschnitt, dass die Handelnden dem Geschehen nicht schutzlos ausgeliefert sind, sondern immer wieder einen kreativen Umgang mit aufkommenden Störungen entwickeln. Auch in dieser Hinsicht sind Praktiken aus der Sicht der Beteiligten kontingent. Sie erfordern nicht nur, sondern ermöglichen auch Adaptionen und steigern so (zumindest momentan) das Aktivitätsniveau der jeweiligen Beteiligten. Der im internationalen Luftverkehr verhältnismäßig hohe Grad an Standardisierung erleichtert die Orientierung an unbekannten Flughäfen. So findet die Protokollantin im oben zitierten Protokollausschnitt den Weg durch den bis dahin unbekannten Flughafen ohne fremde Hilfe. »Probleme« tauchen oft erst beim Verlassen eines Flughafens in einer unbekannten Stadt auf. Hier muss man den lokalen öffentlichen Verkehr erst erkunden: Wo finde ich ein Taxi? Fahren Busse oder Bahnen? Von wo und wohin genau? Trotz der hohen Standardisierung finden sich aber immer wieder Differenzen im lokalen Vollzug. Weiqiang Lin (2015) weist zurecht darauf hin, dass auch die Aero-Mobilities-Studies einen kulturellen Bias haben, dem durch systematische Studien über die kulturellen Variationen der Flugpraktiken in verschiedenen Ländern begegnet werden sollte. Der folgende Auszug aus dem Logbuch eines europäischen Journalisten beschreibt eine solche lokale Variation: »Nach dem Frühstück geht es auch schon in den Landeanflug auf Addis Abeba. Ich war noch nie in Äthiopien und blicke gespannt aus dem Fenster […]. Wir sind schon sehr tief
52 | L ARISSA SCHINDLER und ich sehe immer noch keine Infrastruktur, geschweige denn einen Flughafen. Wo wir da wohl landen sollen? Erst im letzten Moment erscheint die Landebahn. Was dann folgt habe ich in meinen Reisen noch nie erlebt. Die Maschine hält mitten auf dem Rollfeld. Andere Ethiopian-Maschinen stehen wahllos auf dem Rollfeld verteilt. Es scheint nicht sehr organisiert. Wir verlassen das Flugzeug über eine Treppe. Wer die Tür aufgemacht hat, weiß ich nicht, denn die Flugbegleiter scheinen recht desinteressiert an dem Geschehen zu sein. Wir laufen auf das Flughafengebäude zu und betreten es im Untergeschoss. Ein langer Gang liegt vor uns. Auf dem Gang verteilt stehen mehrere Gruppen. Keine Anzeigetafeln. Keine Schilder. Nichts. Nur sehr viele Stimmen. Sie rufen die Namen der nächsten Ziele, in Kenia, Ghana, Namibia, Mozambik, Südafrika. Ich finde mehr zufällig meine Gruppe nach Johannesburg. Denn Johannesburg ruft keiner. Nur: ›Joburg, Joburg, Joburg‹. […] Eigenartigerweise beunruhigt mich das nicht weiter. Ich bin eher amüsiert über das bunte Treiben – und sehr gespannt, ob ich wohl am richtigen Ort ankommen werde.« (Logbuch H)
Hier sind Ähnlichkeiten mit dem europäischen und US-amerikanischen Flugbetrieb zu erkennen, aber es finden sich auch Unterschiede. Besonders auffällig ist das auditive statt des – auf europäischen und US-amerikanischen Flughäfen gängigen – visuellen Orientierungssystems, in dem Reisende mittels Gate-Nummern und Piktogrammen durch die Flughäfen zu Anschlussflügen gelotst werden. Diese Differenz verweist auf Ungleichzeitigkeiten in der Implementierung technischer Systeme. Gleichzeitig wird so die uns als »standardisiert« bekannte Flughafen-Infrastruktur als spezifische Infrastruktur der Industriestaaten (mit einer kulturellen Präferenz für visuelle Orientierungssysteme) erkennbar. Trotz dieser Unterschiede funktioniert die Adaption des Reisenden an das unbekannte, ein wenig irritierende Orientierungssystem. Das liegt zum Teil daran, dass er in vielerlei Hinsicht auf Bekanntes zurückgreifen kann. Vor dem Hintergrund des Gewohnten fällt das Neue nicht nur auf, es entstehen auch Ressourcen für die Adaption an das Unbekannte. Über diese, auf Individuen und ihre Fähigkeiten konzentrierte Deutung hinaus betonen praxistheoretische Ansätze, dass durch die Teilnahme an Praktiken ein spezifisches Wissen entsteht, dass Praktiken also gewissermaßen ein Teilnehmerwissen erzeugen (Alkemeyer/ Michaeler 2013; Schindler 2011; Schmidt 2008). Alkemeyer und Michaeler (2013: 224) rekurrieren in diesem Zusammenhang auf Bourdieu, demzufolge Störungen »eine Form von Nachdenken hervorrufen, die nichts mit dem eines scholastischen Denkens zu tun hat und die über angedeutete Körperbewegungen […] der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt« (Bourdieu 2004: 208). Die oben beschriebene Szene lässt sich als eine solche Störung interpretieren, die ein der Praxis zugewandtes Nachdenken hervorruft. Aller-
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dings wird die Störung mit Amüsement verarbeitet und es geht nicht im strengen Sinne um ein Nachdenken, auch nicht ein leibliches Nachdenken. Eher folgt der Reisende jenen Hinweisen, die sich in der Praxis des Umsteigens seinem (körperlichen) Verstehen anbieten, er folgt (buchstäblich) dem Geschehen und erkundet so das regional spezifische Orientierungs- und Umsteigesystem, das sich ihm anbietet, oder eigentlich fast aufdrängt. 6 Auch wenn ein kognitives, im Nachhinein reflektierbares Wissen entsteht, scheint doch der Aneignungsprozess von der Praxis geleitet zu sein. Ein praktisches Lernen findet statt. Während Pannen zwar ärgerlich sein können, aber in der Regel nicht einzelnen Personen zugeschrieben werden, finden sich im Verlauf sozialer Prozesse auch immer wieder Störungen, die Personen oder ihren Charakterzügen zugeschrieben werden. Sie lassen Konflikte oder Ansätze von Konflikten entstehen. Im folgenden Auszug aus dem Logbuch einer in Südafrika lebenden Vielfliegerin finden sich beide Elemente: »1.5 Stunden später Landung in Johannesburg. Wir steigen aus und beeilen uns zur Passkontrolle. Gehen noch einmal durch einen Security Check und dann wird der Pass vorgezeigt. Wir bekommen einen Ausreisestempel. Christian geht auf die Toilette und ich gehe in einen Laden. Er holt mich ab und auf dem Weg zum Gate stellen wir fest, dass wir unseren Handgepäckkoffer irgendwo vergessen haben. Und zwar am Security Check. Wir bekommen ihn wieder und laufen zum Gate. Dort hat das Boarding bereits angefangen. Das ist das erste Mal, dass ich nicht auf das Boarding warten muss. Zum ersten Mal werden wir aufgefordert die Kreditkarte zu zeigen, mit der wir gebucht haben. Total nervig. Als wir das anmerken, heißt es, dass sie es immer machen. Wie bitte? Noch nie wurde die Kreditkarte überprüft mit der wir gebucht haben. Genervt steigen wir als vorletzte ins Flugzeug.« (Logbuch A)
Innerhalb kurzer Zeit fallen hier zwei Störungen auf. Zunächst vergisst das reisende Paar einen Koffer bei der Sicherheitskontrolle. Zwar ist das (bislang) der einzige Fall im empirischen Material meiner Studie, in einem anderen Logbuch erwähnt die Reisende jedoch, dass in der Sicherheitskontrolle statt ihres Koffers ein Schild am Ende des Bandes ankommt, das sie darüber informiert, dass ihr
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Auch hier lässt sich mit Alkemeyer einwenden, dass nicht jeder Teilnehmer so reagiert, sondern die Praxis hier an einen Körper und an eine Person anschließt, deren Disposition kongruiert. Andere Menschen hätten unter Umständen gleich einen »sichereren« Flug gewählt oder vor Ort ängstlich reagiert. Vermutlich hätten aber sehr viele Reisende den Weg früher oder später gefunden.
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Koffer einer weiteren Kontrolle unterzogen wird. Dieses Schild könnte ein Hinweis darauf sein, dass Reisende manchmal ein zur weiteren Kontrolle aussortiertes Gepäckstück vergessen. Der gesamte Verlauf der Sicherheitskontrolle, im Zuge derer das Handgepäck auf verschiedene Boxen verteilt für kurze Zeit einen eigenen Weg geht, scheint für solche Pannen prädestiniert zu sein. Besonders interessant ist in diesem Auszug jedoch das Ärgernis der Protokollantin, als sie beim Boarding nach der Kreditkarte gefragt wird. Obwohl das Logbuch hier einen potentiellen Konflikt suggeriert, findet er in der beschriebenen Szene nicht statt. Der Zeitdruck und vielleicht auch die nachfolgenden Passagiere drängen die verärgerte Reisende weiter. Trotz der Konfliktanfälligkeit der Situation zeigt sich hier ein konfliktvermeidendes Moment sozialer Praktiken, das nicht allein den Situationsteilnehmer_innen zuzurechnen ist.
I N DER L UFT Durch das empirische Material zieht sich wie ein roter Faden eine Art emotionale Aufladung der Flugreise. Anders als viele andere Mobilitätspraktiken scheint sie verschiedene, oft auch ambivalente Gefühle auszulösen. Den Passagieren ist langweilig, Erwartungen an das Serviceteam und die technische Infrastruktur der Fluglinie werden enttäuscht oder zu voller oder gar überraschender Zufriedenheit erfüllt, Ängste machen sich breit. Diese emotionale Aufladung scheint in der Flugphase besonders prägend zu sein. Obwohl ich meine Informant_innen ausdrücklich um eine Beschreibung der Flugreise gebeten hatte, tauchen in den Logbüchern kaum Beschreibungen des Fliegens selbst auf. Die ausführlichsten Passagen der Logbücher beziehen sich auf die Vorbereitung und den Weg zum Flughafen beziehungsweise den Weg am Flughafen zum Gate. Die Zeit im Flugzeug hingegen wird kaum kommentiert. Wie sind Gefühle im Rahmen praxistheoretischer Ansätze zu denken? 7 Im Zuge des emotional oder affective turn finden sich vor allem in der Kulturgeographie zahlreiche Studien zur Herstellung von affektiven Atmosphären im Zuge
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Reckwitz plädiert dafür, den Ausdruck »Affekte« zu verwenden, da dieser mit der verbalen Form »affizieren« den relationalen Charakter affektiver Zustände besser zum Ausdruck bringe (Reckwitz 2015: 38). Ich halte mich im Folgenden an die Begrifflichkeit der referierten Autor_innen beziehungsweise Informant_innen, das heißt, ich unterscheide begrifflich nicht systematisch zwischen Gefühlen, Emotionen und Affekten.
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von Mobilität (Adey 2008; Bissell u.a. 2012). Die Soziologin Arlie Hochschildt ([1979] 2012) hatte bereits Ende der 1970er-Jahre in ihrer Studie The Managed Heart darauf hingewiesen, dass Gefühle nicht einfach entstehen, sondern Teil von Praktiken sind und den Individuen deshalb weder innerlich noch äußerlich sind. In einer dezidiert praxistheoretischen Konzeption plädiert Andreas Reckwitz dafür, Affekte stärker in praxistheoretische Überlegungen zu integrieren. Er sieht dafür drei Grundsätze: »1) Affekte sind nicht subjektiv, sondern sozial. 2) Sie sind keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität. 3) Sie bezeichnen körperliche Lust-Unlust-Erregungen, die auf bestimmte Phänomene (Subjekte, Objekte, Vorstellungen etc.) gerichtet werden.« (Reckwitz 2015: 35)
Demnach werden Affekte nicht der irrationalen (und damit vormodernen) Seite der Subjekte zugeschrieben, sondern entstehen im Verlauf von Praktiken und können die beteiligten Subjekte erfassen. Affekte stehen analytisch in loser Relation zu den erwähnten Aktivitätsniveaus (Hirschauer 2016), denn Affekte können das Aktivitätsniveau in bestimmten Situationen erhöhen oder reduzieren: Flugangst kann etwa zum Verweigern der Teilnahme an Flugreisen führen, zu gereiztem oder umgekehrt zu einem besonders zurückhaltenden, ruhigen Verhalten beim Fliegen. Der folgende Auszug aus einem Logbuch einer Urlaubsreisenden über einen Interkontinentalflug beschreibt, wie körperliche Müdigkeit zum einen Affekte auslöst (Gereiztheit), zum anderen wie sich affektive Tätigkeiten in die Praxis des Fliegens einschreiben: »Von unserem Sitzplatz aus können wir ein wenig später sehen, wie das Gepäck vom Wagen in den Bauch der Maschine geladen wird. Ich bin unendlich müde und genervt, dass ich den Sitz noch nicht zurückklappen darf, solange wir noch nicht in der Luft sind. Ich hole schon mal meine Schlafausrüstung raus, blase das Nackenkissen auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit heben wir ab, und sobald wir oben sind klappe ich den Sitz zurück, ziehe die Schlafbrille auf und falle in einen komatösen Schlaf, aus dem ich erst nach drei Stunden wieder erwache. Alles tut mir weh und es ist schrecklich unbequem. Noch halb schlaftrunken quetsche ich mich an Nils und einem Film schauenden Mann vorbei in den Gang und gehe nach hinten zur Toilette, wo ich mich etwas dehne und mir ein Wasser hole. Laut Flugbegleiterin sind es jetzt noch ungefähr 80 Minuten. Viel zu lang. Mein Gehirn ist so leer, ich kann gar nichts mehr und starre aus dem Fenster auf die Wolkendecke, die nicht aufhört. Wunderschöne Wolkenlandschaften erstrecken sich über den Himmel, die Sonne geht langsam unter.« (Logbuch N)
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Müdigkeit entsteht im Zuge von Flugreisen aus verschiedenen Gründen. Einer davon ist, wie auf dem beschriebenen Interkontinentalflug, der Jetlag. Er entsteht primär im Zuge von Weitstreckenflügen, die den Körper so schnell um die Erde bewegen, dass der Schlafrhythmus aus dem Gleichgewicht gerät. Jetlags sind deshalb ein elementares Moment von Weitstreckenflügen, dem Fluglinien zu begegnen versuchen, etwa durch das Servieren von Mahlzeiten oder das Abdunkeln während der Schlafphase. Dennoch können hier Ungleichzeitigkeiten entstehen, im beschriebenen Fall, weil man während des Startens und des Landens den Sitz nicht zurückstellen darf. Die Störung entsteht hier also aus widersprüchlichen Anforderungen der Praktik an den Körper. Neben Freude am Fliegen und Gereiztheit thematisieren die Logbücher Ängste und Unwohlsein. Der oben bereits erwähnte Journalist vermerkt in einem anderen Teil seines Logbuchs: »Trotz zahlreicher Langstreckenflügen jedes Jahr werde ich dieses eigenartige Gefühl nicht los: Immer wenn ich versuche einzuschlafen, lausche ich dem Geräusch der Turbinen – immer in der Angst, dass es gleich ganz still werden könnte. Eine völlig unbegründete Angst, beruhige ich mich, denn der Prozentsatz aller Flug-Zwischenfälle bei Reiseflughöhe liegt unter 5%. Der Rest passiert bei Start und Landung. Also schlafe ich doch ein. Die Turbinen surren zuversichtlich weiter.« (Logbuch H)
Auch in dem Logbuch einer jungen Wissenschaftlerin, die grundsätzlich gerne fliegt, findet sich eine ähnliche Beschreibung momentaner Angst: »Das Sinken ist spürbar. Auch das Gefühl mag ich sehr gerne. Was ich nicht gerne mag, ist der Moment, in dem das Flugzeug auf der Landebahn aufkommt. Immer gehen mir dabei Bilder von brennenden Flugzeugen neben der Landebahn durch den Kopf und ich bin jedes Mal heil froh, wenn das starke Bremsen nach dem Aufkommen einsetzt.« (Logbuch K)
Diese beiden Reisenden sind in keiner Form von ernsthaften Flugängsten geplagt. Beide fliegen gerne und viel. Dennoch beschreiben beide spezifische Momente des Fluges, die eine Art körperliches Unwohlsein auslösen. In ähnlicher Form berichten Fliegende in Logbüchern und Interviews, dass sie aufgrund der vielen Warnungen an Flughäfen bereits ein Unwohlsein verspüren, wenn sie abgestellte Gepäckstücke sehen. Dieses Unwohlsein produziert keine ernstzunehmenden Störungen, kein Vermeiden des Fliegens, es lässt nur in einzelnen Phasen des Fluges eine spezifische Achtsamkeit für die eigene Gefühlslage entstehen. Im obigen Zitat Bourdieus, demzufolge Störungen »eine Form von Nach-
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denken hervorrufen«, wurde Achtsamkeit als Effekt von Störungen verstanden. Der Zusammenhang zwischen Störung und Achtsamkeit verkehrt sich hier: Nicht die Störung im Verlauf einer Praktik ruft eine spezifische Achtsamkeit hervor, sondern im Vollzug einzelner Praktiken entsteht eine spezifische Achtsamkeit für mögliche Störungen. Woher aber kommt sie? Wie bereits erwähnt, finden sich in den Logbüchern nur kurze Passagen über das Fliegen selbst. Es liegt nahe, davon auszugehen, dass die Kürze der Erzählungen mit dem geringen Aktivitätsniveau während des Fliegens zu tun hat. Anders als in vielen anderen Situationen, sitzt man für die Dauer des Fluges fast beschäftigungslos in engen Sitzreihen. Noch sind zumindest auf den meisten europäischen Flügen Internet- und Funkverbindungen untersagt. Zwar werden Körper und Sinne mit Filmen und Essen versorgt, es gibt aber verhältnismäßig wenig Bewegungsraum. Diesen Umstand brachte einer der Informanten, ein Weltreisender Anfang 30, in einer Email rund um eine mögliche Teilnahme an der Studie folgendermaßen auf den Punkt: »Aber mal ehrlich, ich finde Fliegen total unspektakulär und verstehe net wie man das so glamourisieren kann. Es ist ne gottverdammte Sardinenbüchse und Du sitzt da gefangen drin für n paar Stunden.« (Email, 29.8.2015)
Für die Zeit im Flugzeug sind – anders als in modernen Gesellschaften sonst üblich – nicht mobile Körper (Imrie 2000), sondern immobile erwünscht. Diese Immobilität der Körper wird nicht zuletzt durch die materielle Infrastruktur von Flugzeugen hergestellt. Die Passagiere sind der Situation und den anderen Anwesenden vollständig ausgesetzt, können sich nur temporär mittels Medienangeboten oder Schlaf entziehen, ansonsten aber weder Sitznachbar_innen noch Bewegungsraum wählen. Für die Zeit des Fluges entsteht so ein unaufhebbares Zusammensein, das man als »totale Situation« (Schindler 2015) bezeichnen kann.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Wie lassen sich Störungen als Teil von Praktiken verstehen? Selbst wenn Praxistheorien die Reproduktion sozialer Prozesse implizit überbetont haben mögen, so gibt es doch keinen Grund anzunehmen, dass sie von einem störungsfreien sozialen Geschehen ausgehen. In den letzten Jahren wird vielmehr die Gleichzeitigkeit von Stabilität und Instabilität, von Vollzugswirklichkeit und Störungen vermehrt diskutiert.
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Diese Diskussion hat der Text anhand eines empirischen Falles, den Flugreisen, aufgegriffen. Sie stehen geradezu idealtypisch für moderne Mobilität, weil Flugzeuge menschlichen Körpern nicht nur das Fliegen ermöglichen, sondern sie gleichzeitig in kurzer Zeit über besonders weite Distanzen transportieren. Flugreisen weisen einerseits einen sehr hohen Grad an Standardisierung auf und sind andererseits relativ anfällig für Störungen im alltäglichen Ablauf, wenn Details der Anforderungen durch technische Neuerungen noch nicht in den Routinen der Passagiere verankert sind. Darüber hinaus ruft das Fliegen eine spezifische Affektivität hervor: Man ist häufig begeistert, ängstlich oder über irgendetwas verärgert. Wie wirken sich Störungen nun auf den Verlauf von Praktiken aus? Die Logbücher der Reisenden zeigen oft affektive Reaktionen, die allerdings auf sehr unterschiedliche Weise in den weiteren Ablauf einfließen: Der Auszug aus dem Protokoll am Flughafen LaGuardia in New York zeigt eine Art Schleife, ein Auskundschaften der Weiterreise-Bedingungen vor Ort, bevor die weiteren Schritte in einem zweiten Anlauf durchgeführt werden können. Auch in anderen angeführten Ausschnitten wurde erkennbar, dass die Reisenden nicht nur einem vorgegebenen Ablauf folgen, sondern zusätzliche Tätigkeiten in den Verlauf des Reisens einfügen: Ein Protokollierender praktiziert beim Einschlafen in Flugzeugen eine Selbstberuhigung, die an vermeintlich objektiven Fakten orientiert ist, eine andere fokussiert mental das Bremsen nach der Landung, weil es das Ende der Unfallgefahr markiert. Man könnte vor diesem Hintergrund auch Beiträge durch die Fluggesellschaften wie das Servieren von Essen oder das Verdunkeln des Innenraumes zum Schlafen auf Weitstreckenflügen als eine zusätzliche, für den Ablauf des Fliegens nicht unbedingt erforderliche Tätigkeit verstehen, die auf die weitgehende Beschäftigungslosigkeit der zu befördernden Menschen verweist. In gewisser Weise kennzeichnet die Flugreise eine Art immanente Störung: Das hypermobile Befördern von Körpern erfordert, sie in einer Weise still zu stellen, die nicht mit modernen Vorstellungen über den Transport von »Menschen« im humanistischen Sinn korreliert. Diese Vorstellungen beinhalten, dass die Körper der Reisenden unversehrt bleiben, ihre Gefühle geachtet werden und an Board eine weitgehend friedliche Stimmung herrscht; Kriterien, die so noch vor wenigen Jahrhunderten etwa für den Transport von Sklaven in Schiffen nicht galten oder heute für den Transport von Dingen nur auf Schadenersatzforderungen beschränkt werden. Diese immanente Störung im Verlauf von Flugreisen ist zum einen Gegenstand vieler Diskurse über das Fliegen geworden und wird zum anderen durch alle Beteiligten immer wieder ausgeglichen und damit als Störung markiert.
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Tanz weitergeben. Tradierung und Übersetzung der Choreografien von Pina Bausch G ABRIELE K LEIN
Tanz weitergeben – dieser Akt ist ein zentraler Diskursgegenstand des zeitgenössischen Tanzes. Denn mit dem modernen künstlerischen Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über den sogenannten postmodernen Tanz der 1960er Jahre bis hin zum zeitgenössischen Tanz seit den 1990er Jahren, ist die Frage virulent, wie die an die Subjektivität, die Lebenserfahrung und den individuellen Stil einzelner Choreograf*innen gebundenen Werke erhalten und weitergegeben werden können. Denn anders als in der Bildenden Kunst ist im Tanz das »Werk« an die einzelne Autor*in, die Choreograf*in oder Tänzer*in gebunden und an die tanzenden Körper, die es erst sichtbar und wahrnehmbar machen. Und im Unterschied zum Literatur- und Regietheater, das wie der Tanz eine Zeit- und Raumkunst ist und nur in der Aufführung existiert, liegt den modernen und zeitgenössischen Tanzkunstwerken keine Textvorlage zugrunde, die es in eine Theatersprache und einen Theaterrahmen zu übersetzen gilt. Die Schwierigkeit bei der Tradierung von Choreografie und Tanz besteht zudem darin, dass sie, anders als die klassische Balletttechnik, oft nicht auf einer fixierten Bewegungstechnik beruhen. Im Unterschied zum klassischen Ballett existieren von den Stücken in der Regel keine Notationen, mit deren Hilfe eine Rekonstruktion möglich wäre. Zwar entwickelt sich die filmische Aufzeichnungstechnik nahezu parallel zur Tanzkunst. So gibt es bereits von dem frühen modernen Tanz Filmaufzeichnungen, fast zeitgleich mit dem postmodernen Tanz entwickeln sich seit Anfang der 1970er Jahre VHS-Videoaufzeichnungen und seit Mitte der 1990er Jahre digitale Videoaufzeichnungen, aber das Filmmaterial ist von sehr unterschiedlicher Qualität, es liegt zudem weder systematisch vor, noch ist es zum Zwecke der Tradierung der Tänze erstellt und entsprechend archiviert worden.
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Dieses Manko wurde erneut seit Beginn des 21. Jahrhunderts – auch bedingt durch den Tod großer und wichtiger Choreograf*innen der westlichen Tanzgeschichte wie Maurice Béjart, Merce Cunningham und Pina Bausch, die über Jahrzehnte mit ihren Kompanien zusammenarbeiteten – offensichtlich. Damit tauchte die Frage auf, ob und wenn ja wie ihre, nicht nur für die Tanzkunstgeschichte paradigmatischen und wegweisenden Arbeiten weitergegeben und damit erhalten bleiben können. Manche Choreograf*innen verneinen diese Frage und stellen den transitorischen Charakter des Tanzes und die historische und kulturelle Kontextualisierung der Choreografien in den Vordergrund, die keine Musealisierung des Tanzes erlaube. In diesem Sinne hatte auch Merce Cunningham, der 2009 verstarb, verfügt, dass die von ihm 1953 gegründete Merce-Cunningham-Dance-Company nach seinem Tod eine zweijährige Abschiedstournee unternehmen und danach aufgelöst werden solle.1 Das Vermögen der Cunningham Dance Foundation und die Urheberrechte an seinen Werken gingen auf den Merce Cunningham Trust über, der die Aufführungsrechte an den Werken Cunninghams an führende Tanzkompanien vergibt und damit die »Weitergabe« von Cunninghams Choreografien ermöglicht. Anders verhält es sich beim Erbe von Pina Bausch. Denn »Weitergabe« ist in ihrer Arbeit nicht erst eine herausfordernde, große Aufgabe des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nach ihrem Tod, die, wie Cunningham, 2009 starb. Das Weitergeben prägte bereits seit Jahren die Arbeit der Choreografin, ihrer Assistent*innen und der Kompanie. Das Weitergeben von Rollen, von Szenen, von Solotänzen an neue, häufig jüngere Tänzer*innen, von ganzen Stücken an andere Kompanien wie an die Pariser Oper und an Laientänzer*innen, wie beim Stück Kontakthof (1978) an Jugendliche und Senior*innen, oder auch die Übertragung der künstlerischen Arbeit in andere Medien wie Spiel- und Dokumentarfilme, war ein zentraler Bestandteil der künstlerischen Arbeit von Pina Bausch und des Tanztheater Wuppertal. Wie erfolgt die Weitergabe und was passiert in diesem Prozess? Diese Fragen treiben vor allem jene Künstler*innen um, die für die jeweiligen Weitergaben verantwortlich zeichnen. Sie sind aber auch ein wichtiger Diskussionsgegenstand der Tanzwissenschaft geworden im Kontext der Fragen, welche ästhetischen Grenzen der Tradierung eines choreografischen Werkes aufgezeigt werden, wie Weitergaben möglich sind und welche Mittel und Wege es dazu braucht. Während sich hier vornehmlich die Debatte auf Archivierung, Erinnerungskulturen
1
Diese Welttournee endete am 31. Dezember 2011 in New York.
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und Gedächtnisformen konzentriert (Brinkmann 2013; Cramer 2009, 2013, 2014; Thurner 2010, 2013; Wehren 2016), will dieser Text den Praktiken der Weitergabe am Beispiel des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nachgehen und Weitergabe als eine Praxis der Übersetzung vorstellen. Es werden die Möglichkeiten und Grenzen der Tradierung von zeitgenössischer Choreografie sowie die Potentiale diskutiert, die in den Formen der Tradierung liegen, wie sie das Tanztheater Wuppertal und die Pina Bausch Foundation praktizieren. Diese Skizze der Praktiken der Weitergabe schlägt damit eine auf empirischer Forschung basierende, systematische Aufarbeitung eines künstlerischen Arbeitsprozesses – und damit eine kunstsoziologische Perspektive – vor, die auf der Methodologie einer »praxeologischen Produktionsanalyse« beruht (Klein 2014a, 2015a). Der Produktionsbegriff umschließt hierbei, ähnlich wie ein erweiterter Aufführungsbegriff, Text und Paratext, Text und Kontext, das Stück und seine Rahmungen. Zudem thematisiert er das Verhältnis von Prozess und Produkt, von Arbeitsweisen und dem »Stück«. Er berücksichtigt also den Arbeitsprozess, der aus dieser Sicht zugleich mehr ist als der einem fertigen Produkt vorgelagerte Vorgang der Stückentwicklung – und genau dies macht den Produktionsbegriff für einen praxeologischen Ansatz tragfähig. Das Forschungsinteresse liegt hier auf den Praktiken des künstlerischen Arbeitens und damit auch auf der Sozialität des Arbeitsprozesses. Die Fragen, wie, wann, wo, was zusammen gearbeitet wird, sind aus produktionsanalytischer Sicht zentral für die Produktion des Ästhetischen. Mithilfe dieser Methodologie habe ich in den letzten zwei Jahren über Interviews mit Tänzer*innen und Mitarbeiter*innen des Tanztheater Wuppertal sowie in Probenbegleitungen empirisches Material generiert, dessen Auswertung diesem Text zugrunde liegt.
W AS
HEISST
»W EITERGABE «?
»Weitergabe« praktiziert ein beliebtes Kinderspiel: Stille Post, ein Spiel, bei dem man von Mund zu Ohr Informationen weitergibt. Der Letzte in der Reihe sagt laut, was ihm ins Ohr geflüstert wurde beziehungsweise was er davon verstanden hat. Es ist ein lustiges Spiel, da es meistens so ausgeht, dass sich die Nachricht im Verlauf der Weitergabe sehr verändert. Aber es ist zugleich auch ein ernstes Spiel, weil es zeigt, wie die auf subjektiver Wahrnehmung beruhende Information im Laufe der Weitergabe auch verfälscht wird, nämlich dann, wenn etwas anders verstanden oder mitunter auch bewusst verändert weitergegeben wurde.
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Stille Post stellt auf spielerischem Wege die Frage nach dem Verhältnis von Original und Fälschung, von Authentizität und Fake, von Anfang und Ende. Stille Post belegt die These, dass mündliche Weitergabe niemals eins zu eins sein kann. Vielmehr lässt sich der Prozess der Weitergabe als eine Übersetzung beschreiben, die zwangsläufig Brüche in Form von anderen Deutungen, Sinngebungen oder Verstehensakten einschließt. Das Spiel zeigt auch, dass die Frage, was das Original oder die Fälschung ist, nicht so einfach zu beantworten ist, ähnlich wie die Setzung eines Anfangs oder eines Endes nicht eindeutig bestimmbar ist und auf Verabredungen beruht. Beginnt zum Beispiel die Stille Post mit dem Satz »Es war einmal...«, dann ist dieser Satz bereits eine Übersetzung, nämlich die einer langen Tradition des Geschichtenerzählens. Handelt es sich bei Stille Post um die Weitergabe im Sinne einer Art Mundpropaganda, so folgt die Weitergabe von Know-how, von Lebenserfahrung oder von erworbenem Wissen, von künstlerischen Entscheidungen oder ästhetischen Stilen, einer anderen Intention, will man doch hier möglichst alles korrekt weitergeben und zudem erreichen, dass dies von den Nehmer*innen auch so verstanden, angenommen und angeeignet wird. Diese Weitergabe – zum Beispiel von Generation zu Generation – kann mündlich (durch Erzählungen), schriftlich (durch aufgezeichnete Berichte, Autobiografien, Dokumentationen, wissenschaftliche Werke) oder bildlich (über Foto-, Film-, Videomaterialien) erfolgen. Bild- und Schriftmaterialien, die das Wissen dokumentieren und speichern, sind dabei von besonderer Relevanz, wenn es um die Praktiken der Weitergabe über Generationen und Kulturen hinweg und damit um einen Transfer, wie es Aleida Assmann (Assmann, A. 1999, 2013) und Jan Assmann (Assmann, J. 2013) beschrieben haben, von einem kommunikativen Gedächtnis einer mündlichen Erzählkultur in das kulturelle Gedächtnis geht, das langfristig Bestand haben soll. Im Prozess der Weitergabe verändern auch immaterielle Güter – wie das choreografische oder tänzerische Wissen – ihren Wert. Dies vor allem deshalb, weil jeder Einzelne dem Empfangenen eine andere Wichtigkeit beimisst und dafür unterschiedlich Verantwortung übernimmt, aber auch, weil das immaterielle Gut bei jeder Weitergabe in einen neuen persönlichen, lebensweltlichen, historischen und kulturellen Kontext gestellt wird und durch neue Rahmungen immer wieder neue Sinnhaftigkeiten, Bedeutungen und Wertigkeiten hervorbringt. Das Verhältnis von Übersetzen und Rahmen2, das heißt wie, was, wann, wodurch und
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Vgl. dazu die Arbeiten des Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen: www.bw.uni-hamburg.de/uebersetzen-und-rahmen.html (Zugriff 25.07.2016).
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wohin übersetzt und wie dabei Sinn generiert wird, ist dabei von großer Bedeutung. Anders als materielle Güter werden immaterielle Güter nie als das Gleiche weitergegeben. Aber ähnlich wie materielle Güter, die bei Weitergaben mitunter aufgearbeitet, renoviert oder restauriert werden, wird bei immateriellen Gütern im Prozess der Weitergabe Verlorenes wieder rekonstruiert, so zum Beispiel durch neue Quellen, oral history und/oder historiografische Forschung. Weitergabe ist also nicht nur der Transfer desselben Gegenstandes oder Inhaltes. Weitergabe ist vielmehr ein Übersetzungsvorgang, der dem paradoxen Verhältnis von Identität und Differenz ausgesetzt ist: die Weitergabe soll Identisches transportieren, kann dies aber nur über die gleichzeitige Produktion von Differenz – und genau dieses Spannungsfeld von Identität und Differenz macht die Weitergabe kulturell und künstlerisch relevant. Weitergabe basiert auf einem Prozess des Gebens und Nehmens. Das Geben und Nehmen muss zwar nicht zwangsläufig ein bewusst gestalteter Vorgang sein, wie es beispielsweise bei Erbanlagen der Fall ist, aber oft entscheidet die Geber*in, was sie wie, an wen und wann weitergeben möchte. Auch diese Entscheidung ist gemeinhin kein rein kognitiver Akt, sondern hier spielt Unbewusstes, Emotional-Affektives und Irrationales zumeist eine nicht unwichtige Rolle. Schließlich wären all diese Entscheidungen der Geber*in sinnlos ohne eine Nehmer*in, ohne jemanden, der bereit ist, etwas zu übernehmen, ein Erbe anzutreten, sich dies zu eigen zu machen und dafür Verantwortung zu tragen. Es braucht also Menschen, die bereit sind, etwas anzunehmen, ihm einen Sinn zu geben, ihm Bedeutung beizumessen, es als wichtig einzustufen, es zu pflegen und es in die Zukunft zu führen. Weitergabe hat also etwas mit Transfer, Überlieferung, Übersetzung, Verbreitung und Verteilung zu tun und diese Prozesse sind verbunden mit ethisch-moralischen Fragen und mitunter auch mit Fragen gesellschafts- und kulturpolitischer Verantwortung. Diese Aspekte der Weitergabe fließen in die Arbeit des Tanztheater Wuppertal ein. So war das Weitergeben von Rollen, von Szenen, von Solotänzen an neue, häufig jüngere Tänzer*innen in einem Ensemble, das nun mehr als vierzig Jahre zusammenarbeitet, eine alltägliche Praxis. Es war eine Praxis, die selbst ambivalent war, insofern als dass sie einerseits in Bezug auf den Probenablauf routinisiert war, andererseits – für die einzelnen Tänzer*innen, die ihre Tänze weitergaben oder sie von den Anderen erlernten – immer eine neue, instabile und unsichere Situation darstellte (Klein 2015b). Zudem hatte Pina Bausch, seitdem sie das Tanztheater Wuppertal leitete, keine Choreografie mit einem anderen Ensemble einstudiert, aber bereits Stücke an – nur eine – andere Kompanie weitergegeben: Le Sacre du Printemps (Uraufführung 1975) und Orpheus und Eurydike (Uraufführung 1975) an die Pariser Oper. Erst nach ihrem Tod hat sich die
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Pina Bausch Foundation unter der Leitung ihres Sohnes Salomon Bausch entschieden, ein weiteres Stück, Für die Kinder von gestern, heute und morgen (Uraufführung 2002) in der Spielzeit 2016/17 an das Bayerische Staatsballett weiterzugeben. Aber auch die Weitergabe von Choreografien an Laientänzer*innen wie das Stück Kontakthof an Senior*innen und Jugendliche und schließlich die Übertragung der künstlerischen Arbeit in andere Medien wie Spiel- und Dokumentarfilme – Dokumentarfilme wie Was machen Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal (1978), One day Pina asked... (1983), Coffee with Pina (2006), Tanzträume. Jugendliche tanzen Kontakthof von Pina Bausch (2010) oder Pina Bauschs eigener Spielfilm Die Klage der Kaiserin (1987) – waren bereits zu Lebzeiten von Pina Bausch ein zentraler Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit. Wie ist also Weitergabe möglich, wenn es um Kunst geht, also um etwas, das nicht eindeutig, kategorial und objektivierbar ist, sondern den Anspruch erhebt, offen, mehrdeutig, polysem, sinnlich, emotional, affektiv zu sein? Und: Wie ist eine Weitergabe möglich, wenn es zudem um szenische, darstellende Kunst geht, die auf das Augenblickliche, Ereignishafte, Situationale abhebt? Und wie vollzieht sich die Weitergabe, wenn es um Tänze geht, denen man ja nachsagt, sie seien flüchtig, vergänglich, das Nicht-Sagbare und das Andere der Sprache?
W EITERGABE ALS P RAXIS DER Ü BERSETZUNG : M ETHODOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN Weitergabe, so die leitende Überlegung dieses Textes, ist als eine Übersetzung beschreibbar, die hier als theoretisches Konzept dient, um das Wie der Praktiken des Übertragens von Choreografie und Tanz zu bestimmen (Klein 2014b, 2015c). In der Übersetzung von Choreografie und Tanz geht es nicht darum, das Motiv oder die Bedeutung des Gemeinten zu entschlüsseln, sondern darum, »flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinns das Original [zu berühren, GK], um […] ihre eigenste Bahn zu verfolgen« (Benjamin 1972: 20). In diesem Sinne vermitteln die Tänzer*innen des Tanztheater Wuppertal bei den Weitergaben ihrer Rollen, so zum Beispiel bei den Proben zu dem Stück Für die Kinder von gestern, heute und morgen an das Bayrische Staatsballett, das Was und das Wie und auch das Warum, dies aber nicht als kausale Begründung einer Umsetzung von Emotion in Motion oder eines psychologisch motivierten Sinns. Vielmehr sollten die Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts lernen, das Hinterfragen an dem Punkt loszulassen, »wo man es nicht mehr braucht« (Interview).
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(Tanz-)Kulturelle Übersetzung erhält eine besondere Brisanz aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, Bewegung zu übersetzen, weil Bewegung ephemer ist, nur im Augenblick existiert und zugleich als »Spur« von Dauer ist. Insofern ist jede Weitergabe mit der Möglichkeit des Misslingens und Scheiterns konfrontiert. Dieses wird sichtbar in dem Vollzug, in der Bewegungspraxis, nämlich indem die übersetzte Bewegung, wie Walter Benjamin es formuliert, die »eigenste Bahn« (ebd.) verfolgt. (Bewegungs-)Kulturelle Übersetzung ist von daher – mit Alexander Garcia Düttmann (1994) – beschreibbar als eine Praxis der Übersetzung des UnÜbersetzbaren. Gerade in der Un-Möglichkeit, die auch durch ein Changieren zwischen routinisierten Praktiken und dem ständig Neuen bedingt ist, liegt die Produktivität der Übersetzung, ihr poetisches, soziales und kulturelles Potential. Will man den Vorgang des Übersetzens beschreiben, geraten die Praktiken des Übersetzens in den Blick und damit die Frage nach dem Modus des Übersetzens. Wie vollzieht sich die Übersetzung und wie lassen sich die Praktiken des Übersetzens und ihre performativen Effekte untersuchen, also in einer Denkrichtung, die Bewegung nicht nur auf den einzelnen Körper bezieht (zum Beispiel in dem Sinne: der Körper macht Bewegungen und tritt dadurch in Kontakt zur Welt), sondern auch als Praktik des Aushandelns versteht (in dem Sinne: Bewegungen machen Körper, sie sind das konstitutive Bindeglied zwischen Mensch, Ding und Welt)? Der Forschungsansatz, dem mit dieser Lesart ein Weg bereitet wird, ist eine Praxeologie des sozialen und kulturellen Übersetzens von Bewegung. Diese fragt danach, wie sich diese komplexen Austausch- und Aushandlungsprozesse in und als Bewegungs-Praktiken vollziehen. Er konzentriert sich also auf die den Übersetzungen zugrunde liegenden körperlich gebundenen Praktiken. Praktiken zeigen sich in ihrer Situiertheit, also in ihrer Materialität und Körperlichkeit. Damit ist auch für die Untersuchung von tänzerischen Übersetzungen ein anderer Fokus gelegt als bei einem semiotischen Ansatz, der sich auf die Zeichen- und Symbolsysteme von Tanz-Kulturen richtet. In diesen Situationen des Übersetzens zeigt sich praktisches Können und implizites Wissen von Körpern. Dies lässt sich an einem Beispiel des Tanztheater Wuppertal verdeutlichen: So hat beispielsweise der über das tägliche Balletttraining und über die spezifische Rechercheweise geschulte Körper der Tänzer*innen des Tanztheater Wuppertal ein spezifisches praktisches Können entwickelt. Dieses beruht auf einem über Erfahrung gewonnenen Wissen, das ein implizites Wissen insofern ist, als dass das Können in der Situation nicht reflektiert wird. Mit einer praxeologischen Perspektive auf künstlerische Produktion geraten die Aktivitäten, das Tun, die Materialität der Arbeitsprozesse des Tanztheater
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Wuppertal in den Blick: Praktiken des Aufwärmens, des Trainierens, des Improvisierens, des Recherchierens, des Notierens und Aufzeichnens, des Komponierens und Choreografierens, des Reflektierens, Archivierens, Erinnerns und des Kritisierens etc. Dieses Ensemble von Praktiken ist entlang kollektiv geteilter, praktischer Wissensformen des Tanztheaters organisiert, die als körperliches und implizites Wissen immer auch Differenz erzeugen: So ist nicht nur die Arbeitsweise des Tanztheater Wuppertal und damit das praktische Know-how von anderen Tanzgruppen verschieden. Vielmehr bringt die Durchführung der Praktiken selbst andere Körper, habituelle Dispositionen und Subjektivitäten hervor. Praktiken des Übersetzens von Bewegung sind demnach als ein Bündel körperlicher und geistiger Aktivitäten zu verstehen.
P RAKTIKEN DES Ü BERSETZENS : F ORSCHUNGSPRAKTISCHE B EFUNDE Weitergabe als eine Praxis des Übersetzens lässt sich entlang der fünf Aspekte skizzieren, die im ersten Abschnitt bereits allgemein formuliert wurden und anhand derer nun die Thesen des Textes herausgearbeitet werden: • Weitergabe beruht auf Praktiken des medialen Übersetzens, die dem Paradox
von Identität und Differenz ausgesetzt sind • Weitergabe ist immer brüchig, fragil, uneindeutig • Weitergabe setzt Sender*in und Empfänger*in, Geber*in und Nehmer*in vo-
raus • Weitergabe ist mit ethnisch-moralischer und kultur- und gesellschaftspolitischer Verantwortung verbunden • Weitergabe hat keinen eindeutigen Anfang und kein eindeutiges Ende Weitergabe beruht auf Praktiken des Übersetzens, die dem Paradox von Identität und Differenz ausgesetzt sind Wenn Choreografien von Pina Bausch weitergegeben werden, ist dies ein komplexer, langfristiger, vielschichtiger, aufwändiger und teurer Vorgang. Bei der Weitergabe des Stücks Für die Kinder von gestern, heute und morgen hat dieser Vorgang insgesamt neun Jahre gedauert, hatte doch Bettina Wagner-Bergelt, zu dem Zeitpunkt stellvertretende Direktorin des Bayerischen Staatsballetts, wie sie im Interview beschreibt (Bayrisches Staatsballett 2016: 7), über die Übernahme erstmals nach der Premiere der Wiederaufnahme des Stücks 2007 nachgedacht.
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Die Probenphase dauerte dann, mit Unterbrechungen, eineinhalb Jahre, von Herbst 2014 bis April 2016. Es war ein Prozess, in den sehr viele Personen involviert waren, allein fünfzehn Tänzer*innen des Tanztheater Wuppertal und – am Ende, nachdem zunächst alle Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts verschiedene Rollen gelernt hatten – mehr als dreißig Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballettes, also zwei Besetzungen für das Stück; insgesamt mit den anderen künstlerischen und technischen Mitarbeiter*innen vermutlich mehr als hundert Personen. Von Choreografien des klassischen Ballettrepertoires liegen Notationen vor, die die Kompanien anwenden können. Auch neoklassische und manche modernen Kompanien arbeiten mit Notator*innen oder Choreolog*innen, die die Stücke schriftlich fixieren. Dieses Verhältnis von Bewegung und Schrift, das in dem Begriff der Choreo-Grafie (choros: der Reigen; graphein: schreiben) selbst angelegt ist und Choreografie immer im Verhältnis von Aufführung und Schrift verortet (Klein 2015d: 20), findet man bei den Choreografien Pina Bauschs nicht. Es gibt, wie bei vielen modernen und zeitgenössischen Choreograf*innen, hier keine Notationen und damit auch keine »Vor-Schrift« des Bewegungsereignisses – und analog dazu auch mitunter eine große Skepsis gegenüber der »NachSchrift«, also den Tanzkritiken und auch den wissenschaftlichen Arbeiten. Das Auratische der Tanzkunst wird hier in der Ereignishaftigkeit und Unwiederholbarkeit jeder einzelnen Aufführung gesehen, die den auf Dauer gestellten Texten entgegengehalten wird. Im Unterschied zu dieser Position ist aber, so die erste These dieses Textes, die Weitergabe von Stücken als ein paradoxer Prozess des Übersetzens beschreibbar: Einerseits ist er intermedial, intersubjektiv und immer different, andererseits erzeugt er gerade über diese Differenz Identisches. Insbesondere an dem Verhältnis zwischen Tanz sowie Bild- und Schriftmedien, dem Videomaterial und den schriftlichen Aufzeichnungen, wird das Paradox von Identität und Differenz des Übersetzungsprozesses anschaulich, zumal in der spezifischen Medialität der bildlichen und schriftlichen Aufzeichnungsmedien selbst das Übersetzungsparadox angelegt ist. Videomaterial Dem Pina-Bausch-Archiv, das der Pina Bausch Foundation untersteht, liegen über 7.500 Videos vor. Es handelt sich dabei um Mitschnitte von Proben und Aufführungen und zeigt bereits, dass das Video-Material der Stücke Pina Bauschs reichhaltig und umfassend ist.
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Das Material ist von unterschiedlicher filmtechnischer und filmästhetischer Qualität: Frühes Videomaterial der 1970er Jahre beispielsweise ist von schlechterer Bildqualität als jüngeres Material. Zudem verdeckt die Kamera bei manchen Mitschnitten (vor allem von Aufführungen, die zudem meistens aus der Halbtotalen aufgenommen wurden) mehr als sie offenlegt. Dies ist vor allem bei den Stücken zwangsläufig der Fall, bei denen vieles gleichzeitig an verschiedenen Stellen auf der Bühne passiert – also bei den meisten Stücken Pina Bauschs, die ja bekanntlich nach den in den 1970er Jahren für das Theater und den Tanz revolutionären Kompositionsverfahren der Montage und Collage gebaut sind. Manche Videos von Aufführungsmitschnitten sind zudem – am Anfang oder am Ende – »abgeschnitten«. Da die Stücke mit wechselnden Besetzungen gespielt wurden, sind darüber hinaus nicht nur die Besetzungslisten aus nahezu 40 Jahren Tanzgeschichte heranzuziehen, sondern die Stücke selbst variieren auch mit den unterschiedlichen Besetzungen, anders gesprochen: Praktiken der Weitergabe orientieren sich nicht allein an der Inszenierung, sondern vor allem an jeder einzelnen Aufführung. Damit werden für die Übergabe die Mitschnitte jeder einzelnen Aufführung relevant. Bei dem Stück Für die Kinder von gestern, heute und morgen beispielsweise, das mit dem Wuppertaler Ensemble von 2003–2015 neun Tourneen nach Paris, Tokio (beides 2003), Barcelona, New York (beides 2004), Venedig (2005), Sao Paulo (2006), Lissabon (2007), Genf (2011) und Paris (2015) erlebt hat, waren an der Uraufführung und der Entwicklung des Stücks vierzehn Tänzer*innen beteiligt. Dreizehn Jahre später tanzten davon in Paris noch elf Tänzer*innen. Fünf neue Tänzer*innen aber waren hinzugekommen, weil zwei Rollen aufgeteilt wurden und das Ensemble damit von vierzehn auf sechzehn Tänzer*innen angewachsen war. Das Video als Medium der Weitergabe birgt weitere Übersetzungsprobleme: Das Stück wird aus der Zuschauerperspektive aufgenommen und dies ist eine Perspektive, die die meisten Tänzer*innen zum einen gar nicht kennen, weil sie immer in dem Stück getanzt und, wenn überhaupt, mitunter lediglich das Stück von der Bühnenseite geschaut haben. Zum anderen muss das durch Video aus der Zuschauerperspektive Aufgenommene in den Proben wieder spiegelbildlich von den Tänzer*innen rückübersetzt werden. Schließlich ist Video ein zweidimensionales Medium, das eine dreidimensionale Kunst – zum einen eine Bühnen- und Raumkunst und zum anderen eine Choreografie –, eine Bewegungsund Zeit-Kunst abbilden will. Die Räumlichkeit, die für die Tänzer*in elementar ist, ist im Video selbst bei bester Bildqualität nicht eindeutig zu erkennen. Ebenso stellt die Zeitlichkeit ein Problem dar, weil die Kamera eine eigene Zeitlichkeit hat, das heißt die Bewegung grundsätzlich schneller oder langsamer erscheint und diese andere Zeitlichkeit des Mediums Film zudem durch den Wech-
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sel von Nah- und Ferneinstellungen und vielleicht auch durch Schnitte nochmals verstärkt wird. Hinzu kommen die Lichtverhältnisse, die durch die Kamera und das Filmmaterial anders als das Bühnenlicht sind (und auch in den Fotos des Bühnenbildes nochmals anders herausgearbeitet sind), sowie die Kameraführung, die Einstellungswechsel und gegebenenfalls Filmschnitte, die die Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Bewegung verändern, sie langsamer oder schneller, kleiner oder größer erscheinen lassen. Video, so zeigt sich an diesen Beispielen, bildet nicht ab. Vielmehr ist bereits durch die spezifische Medialität, das heißt die Darstellbarkeit des Videos, eine Differenz eingeschrieben zu dem, was abgebildet werden soll. Video verspricht also eine identische Wiedergabe, eine Abbildung des Realen, sie produziert aber ein Simulacrum. Aufgrund dieser medialen Übersetzungsbrüche kann Video auch bei den Weitergaben von Stücken nur ein Einstieg sein, der einen ersten Eindruck des Stücks oder einer Szene vermittelt und einen Überblick über das Stück gibt. Schriftmaterialien Es gibt keine Notationen der Stücke Pina Bauschs. Dafür aber eine große Anzahl an schriftlichen und bildlichen Notizen. Und dies von verschiedenen Personen. Die für die einzelnen Stücke vorliegenden Schriftmaterialien sind von daher ebenfalls äußerst different. Es existieren zum einen Unmengen von Notizzetteln von Pina Bausch selbst, die in ihrem, bislang nicht zugänglichen, Privatarchiv liegen. Wie diese Notizen aussehen, erschließt sich mir deshalb vor allem über die verschiedenen Interviews, die ich geführt habe und die wenigen Fotos, die ich sehen durfte und die fragmentarisch in dem Band Tanz erben (Wagenbach/ Pina Bausch Foundation 2014) abgebildet sind, sowie über Einblicke, die man durch die Ausstellung Pina Bausch und das Tanztheater gewinnen konnte, die vom 04.03.-24.07.2016 in der Bundeskunsthalle in Bonn und im Anschluss vom 16.09.2016-09.01.2017 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen war. Diese Ausstellungen thematisierten auch die Arbeitsweise von Pina Bausch und damit etwas, das nahezu zum Allgemeinwissen über das Tanztheater Wuppertal gehört: Pina Bausch stellte bei den Proben ihren Tänzer*innen Fragen. Wie aber die Interviews und Notizen der Tänzer*innen zeigen, waren dies in der Regel eigentlich Stichworte, manchmal Sprichworte, manchmal Assoziationen und manchmal tatsächlich Fragen. Bei dem Stück Für die Kinder von gestern, heute und morgen etwa: »jemanden wachrütteln«, »etwas, was einem auf dem Herzen liegt«, »sich klein machen«, »etwas mit Lust zerstören« oder »Kinder, die Erwachsene spielen«. Bei den Proben saß Bausch an einem großen Tisch,
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vor ihr nicht nur Kaffee und Zigaretten, sondern auch ein großer Stapel Papier und Bleistifte: Sie schrieb alles handschriftlich auf. Für jede »Antwort« einer Tänzer*in nutzte sie einen eigenen Zettel. Wenn man bedenkt, dass sie in den Proben für ein Stück ca. hundert Fragen stellte und ca. zwanzig Tänzer*innen an dem Stück beteiligt waren, sie also möglicherweise 2.000 Antworten bekam, kann man sich vorstellen, welchen Seitenumfang diese Notizen bei einem Stück und in der Summe bei nahezu fünfzig Choreografien haben. Obwohl sie ihre Fragen in deutscher oder englischer Sprache stellte, machte sie ihre Notizen in Deutsch, stichwortartig, mit Kürzeln und mitunter gab sie dem in der Probe Gesehenen Namen etc. Mit anderen Worten: Es waren ihre persönlichen Notizen und so waren sie auch verfasst. Sie gab sie niemandem zu lesen, sondern hütete sie wie einen Schatz während des Produktionsprozesses in ihrer Tasche. Danach verschwanden sie in ihrem Privatarchiv. Und selbst wenn irgendwann die Pina Bausch Foundation Zugang zu diesem Material gestatten würde, bestünde die erste schwierige Arbeit darin, diese subjektiven Schreibweisen, die niemals intersubjektiv auf ihre Verständlichkeit überprüft wurden, sondern vermutlich ganz im Gegenteil, eher verschlüsselt sein sollten, zu entschlüsseln und zu verstehen. Dies kann über einen Abgleich mit den Probenmitschnitten geschehen, wobei aber nicht alles in den Proben auf Video aufgenommen wurde. Oder aber durch die Aufzeichnungen der an den Proben beteiligten Tänzer*innen. Auch die Tänzer*innen – die Kompanie bestand beispielsweise 2013 aus 32 Tänzer*innen, davon achtzehn Frauen und vierzehn Männern aus achtzehn verschiedenen Nationen – machten sich während des Probenprozesses Notizen. Alle hatten Probenhefte. Manche schrieben darin alle Fragen und Antworten auf, manche nur die, die sie interessant fanden und die sie überhaupt beobachtet hatten, und manche nur jene, zu denen sie selbst mit ihrem Körper, mit ihrer Stimme, mit Materialien und Requisiten eine »Antwort« gegeben hatten. Sie schrieben manchmal in Deutsch oder in Englisch, mitunter auch in ihrer Herkunftssprache, das heißt in Spanisch, Französisch, Italienisch, Japanisch oder Koreanisch. Wenn man sich die Probenbücher von einigen Tänzer*innen anschaut, offenbart sich auch hier die Problematik der Weitergabe einer Choreografie durch einzelne Tänzer*innen anhand des Paradox von Identität und Differenz zwischen Stück und Schrift: Offensichtlich ging niemand von den Tänzer*innen systematisch vor, weil dies – anders als für einen wissenschaftlichen Forschungsprozess – für den künstlerischen Recherche- und Probenprozess und für die Stückentwicklung irrelevant war und ist. Deshalb ist das Notierte nicht nur unterschiedlich vollständig und sprachlich different, sondern es dokumentiert auch, dass die Tänzer*innen die »Fragen« unterschiedlich verstanden und gedeutet, ihnen einen
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für sie subjektiv wichtigen und richtigen Sinn beigemessen und dies dann gegebenenfalls in für sie passende Worte ihrer Sprache oder auch in Zeichnungen, Verse oder Gedichte übersetzt haben. Hinzu kommt, dass zum einen manche Tänzer*innen ihre Probenbücher nicht aufgehoben haben, diese also verschollen sind. Zum anderen sind andere Tänzer*innen, die bei der Entwicklung der Stücke mitgewirkt haben, seit Jahrzehnten nicht mehr Mitglied in der Kompanie, ihr Material ist also schwieriger zugänglich, wenn es überhaupt noch vorhanden ist. Weiteres Schriftmaterial, das für die Weitergabe wichtig sein kann, sind Inspizientenlisten und Ablaufpläne sowie die Listen der ausgewählten Musikstücke. Letztere beispielsweise müssen allerdings noch vervollständigt und abgeglichen werden und sind zudem – vor allem in den späten Stücken – mitunter von Andreas Eisenschneider, der neben Matthias Burkert für die Musik vor allem der letzten Stücke verantwortlich war, zu Musikcollagen verbunden worden, in denen die Übergänge fließend sind und damit die einzelnen Musikstücke nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzbar. Fotomaterialien Fotos von Stücken, von denen Zigtausende existieren, könnten eine weitere unterstützende Quelle sein, um Stücke weiterzugeben, so zum Beispiel in Bezug auf die Kostüme oder auch die Requisiten. Die meisten Fotos für die Stücke wurden von wenigen professionellen Fotograf*innen, die viele Jahre mit der Kompanie zusammengearbeitet haben, wie Ulli Weiss oder Gert Weigelt, gemacht. Auch der Tänzer Jan Minarik hat von Anfang an viel fotografiert, später auch der Bühnenbildner Peter Pabst. Hinzu kommen unzählige Fotos der Tänzer*innen und auch von Pina Bausch, die diese – ebenso wie Videoaufnahmen – auf den Recherchereisen gemacht haben und die vereinzelt in Programmhefte Eingang gefunden haben. Aber auch diese Fotos können nur Hinweise geben, denn sie sind Standbilder von Bewegung, Situation und Szene oder Momentaufnahmen des Research3, die einen Hinweis darauf geben können, was die Kompanie auf den Researchreisen gesehen hat und Einzelne möglicherweise in der jeweiligen Koproduktion verarbeitet haben. Aber auch hier sind die Wege der Übersetzung verschlungen und gebrochen: Denn niemals haben die Tänzer*innen das Erlebte eins zu eins übersetzt und auch nicht darüber reflektiert, in
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Das englische Wort Research wird von den Mitgliedern des Tanztheater Wuppertal zur Bezeichnung der Ensemble-Reisen in die koproduzierenden Länder benutzt. Es wird deshalb auch in diesem Text übernommen.
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welcher Beziehung das, was ihnen bei den Proben eingefallen ist, zu dem Gesehenen, Erlebten und Erfahrenen steht. Das Warum, das die Rezeption – das Publikum, die Kritik und die Wissenschaft – so beschäftigt, ist für den künstlerischen Prozess nicht nur wenig relevant, sondern auch zu einschränkend, zu bestimmend, zu definierend. Insgesamt zeigt dieser Einblick in das vorliegende Schrift- und Bildmaterial die grundlegende Problematik der Weitergabe von Choreografie mit Hilfe von Medien auf: Es gibt sehr viel Material, Unmengen von Bild-, Film- und Schriftmaterial, das nicht nur zusammengesucht, digitalisiert und archiviert und zudem noch neu generiert werden muss. Es muss dann vor allem auch ausgewertet werden, damit es überhaupt für die nachhaltige Rekonstruktion von Tanzstücken relevant wird. Dazu bedarf es einerseits eines wissenschaftlichen Know-hows, andererseits aber auch einer intensiven Mitarbeit derjenigen – den Tänzer*innen und den Verantwortlichen für Kostüme, Bühnenbild, Bühnentechnik und Requisiten –, die die Materialien erstellt haben sowie jenen, die die Produktion jeden Abend begleitet haben (Abendregie etc.). Insofern steht der Prozess der Aufarbeitung und Vervollständigung der Materialien für eine Weitergabe auch unter einem strengen Zeitfaktor, nämlich der, wenn man es so sagen darf, »Generation Pina«, also jener Personen, die einst die künstlerische Arbeit der Choreografin begleitet haben. Weitergabe ist immer brüchig, fragil, uneindeutig Selbst wenn das Übersetzungsparadox von Identität und Differenz sich an den Schrift-, Bild- und Filmmaterialien selbst zeigt, haben diese im Prozess der Weitergabe von Choreografien doch lediglich eine Einstiegs-, Erinnerungs- und Kontrollfunktion. Gerade beim Tanztheater Wuppertal, wo viele Szenen und alle Soli von den Tänzer*innen entwickelt wurden, ist der Prozess der mündlichen, sprachlichen und körperlichen Weitergabe von Person zu Person der entscheidende Vorgang. Gerade hier zeigt sich, so die zweite These dieses Textes, insbesondere die mit dem Paradox von Identität und Differenz einhergehende Brüchigkeit, Fragilität und Uneindeutigkeit des Übersetzens im Prozess der Weitergabe – und deren Produktivität. Denn wenn bislang Stücke von Pina Bausch weitergegeben wurden, dann war und ist dies ein vielschrittiger Vorgang. Auch schon zu Lebzeiten von Pina Bausch haben bei Weitergaben ehemalige Tänzer*innen die Probenleitungen übernommen, wie Bénédicte Billiet und Jo Ann Endicott bei Kontakthof an Jugendliche oder Dominique Mercy bei Le Sacre du Printemps an der Pariser Oper. Selbstverständlich hatte Pina Bausch, als Choreografin des Stücks und
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auch als uneingeschränkte Autorität, das letzte Wort in den Proben, die sie besuchte. Dies zeigt anschaulich der Dokumentarfilm Tanzträume (2010), der die Proben zu Kontakthof mit Teenagern ab 14 (2008) nachzeichnet und veranschaulicht, dass nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Probenleitungen mit Respekt und Nervosität dem Blick der Choreografin entgegensahen. Manchmal hat Pina Bausch auch die Proben der Weitergabe selbst übernommen, wie in einer Notsituation, als die Tänzerin, die das »Opfer« bei Le Sacre du Printemps tanzen sollte, ausfiel und Kyomi Ichida kurzfristig die Rolle lernen musste. Anhand verschiedener körperlicher und sprachlicher Praktiken der Weitergabe wird deutlich, dass der Prozess des Weitergebens von Tanz ein Vorgang ist, bei dem sich das Tanzen und das Sprechen ineinander vermischen, die Weitergabe von Tanz also in einem Hybrid aus Sprechen und Tanzen geschieht. Beides wird jeweils nur angedeutet, fügt sich aber dennoch in der Weitergabe zu einem verständlichen Ganzen, das für die Nehmer*in nachvollziehbar wird. Hinzu kommt, dass die Weitergabe allein sprachlich sehr unterschiedlich erfolgt. Während Jo Ann Endicott bei der Weitergabe ihres Solos aus Kontakthof an die jugendliche Tänzerin Joy Imperative verwendet – »Joy, Du musst...« (Tanzträume 2010, 02:54-05:19) – und ihr auf diese Weise instruktiv die Bewegungsqualität vermitteln will, konzentriert sich Pina Bausch bei der Weitergabe des »Opfertanzes« auf die Bewegungen, die sie – in Gummistiefeln, einer Zigarette in der Hand und einer alten Fliegermütze auf dem Kopf – in der Form perfekt andeutet, ohne dies thematisch, emotional oder bildlich aufzuladen. Vielmehr untermalt sie ihre Bewegungen mit Satzfragmenten und Wortfetzen: »Pina Bausch Beim zweiten Mal … und dann hinstellen, dazu runder werden und rauf … und zu weit … unter sich … denken, du mußt nicht so weit gehen … Ja … ja, so … und dann … zwei… Kyomi Ichida Mhm, ist gut. Pina Bausch Dada dada da da, ne. Aber du brauchst nicht … Du mußt gar nicht denken. Nicht extra die Arme … Das hast du nicht richtig gemacht eben mit der Musik, ne. Das ist richtig zwei, tief betont, ne? Ja? Dada da da. Ja. Vielleicht schonst du dich da mal eben hier, vielleicht machst du es noch mal hier von irgendwo … Kyomi Ichida Ja. Pina Bausch … und dann machen wir diesen weiter. Kyomi Ichida Zu spät. Pina Bausch Ja, du warst jetzt überhaupt insgesamt ein bißchen später, ne, als eben, hast’n anderen …
78 | G ABRIELE KLEIN Kyomi Ichida In diese? Pina Bausch Ja, warst du was spät. Aber du mußt auch … sein, hier so diesen Unterschied machen, also … Spiel, spiel doch noch mal eben, denn da ist eine – das ist die Trompete, ne?« (Bausch/Kyomi 2013: 32)
Die Unterschiede, die sich hier manifestieren, differenzieren sich umso mehr aus, als mehrere »Übersetzer*innen« ins Spiel kommen. So zum Beispiel, wenn Soli weitergegeben werden. Diese Weitergabe erfolgt jeweils einzeln von Tänzer*in zu Tänzer*in und dies in den Paarkonstellationen sehr unterschiedlich: Die einen vermitteln ihre Rolle über die Form, die nächsten über die Technik, die anderen über eine metaphernreiche Bildsprache und manche eher analytisch. Die einen sprechen viel darüber, was es für sie bedeutet, was sie dabei empfinden, die anderen nicht. Und sie vermitteln es an Tänzer*innen, die möglicherweise eine andere Technik gelernt und habitualisiert haben, beispielsweise dann, wenn sie als Kompaniemitglieder nicht in der Folkwang-Hochschule ausgebildet wurden und dadurch mit der Jooss-Leeder-Methode wenig vertraut sind oder, wie die Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts, klassisch ausgebildet sind. Zudem gibt es aufgrund der verschiedenen Herkunftsländer und der unterschiedlichen Kenntnisse der deutschen und englischen Sprache zusätzlich sprachliche Barrieren, die dazu führen, dass das Gesagte mitunter auch anders verstanden wird. Überindividuelle Routinen und Schemata, die gemeinhin Praktiken unterstellt werden, sind hier in Bezug auf den Modus der Weitergabe nicht erkennbar. Diese sind eher dort zu finden, wo die individuelle, persönliche und intime, unmittelbar körperliche Weitergabe zum Prinzip für eine originalgetreue und qualitativ hochwertige Weitergabe angesehen wird. Neben den kulturellen und tanztechnischen Unterschieden spielt schließlich auch der Generationenunterschied eine entscheidende Rolle: die jüngere Tänzergeneration ist – auch im Tanztheater Wuppertal – nicht nur athletischer (auch als die erste Tänzergeneration der 1970er Jahre in demselben Alter war). Ihre Athletik und Sportivität, die insgesamt in den zeitgenössischen Tanz Eingang gefunden hat und die sie, wie die gelernten Techniken, als habituelle Disposition verleiblicht haben, prägt ihre Auslegung der Rolle im Sinne eines körperlichen Begreifens. Zudem haben die Tänzer*innen, die die Rolle übernehmen, wie beispielsweise in dem Stück Für die Kinder von gestern, heute und morgen die Rolle der Nazareth Panadero durch Marta Navarrete und Mia Rudic, andere Körperfiguren: Sie sind nicht nur größer, kleiner, dünner oder dicker, sondern haben auch unterschiedliche Körper zum Beispiel bezogen auf Proportionen, Länge der Gliedmaßen oder die Stärke des Knochenbaus. Bewegungsfiguren werden
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dadurch anders. Auch jene Szenen, in denen das Verhältnis von Körper und Stimme eine entscheidende Rolle spielt, wie bei vielen Szenen von Mechthild Grossmann, Lutz Förster oder Nazareth Panadero, verändern sich, ist es doch die Stimme, die das Subjekt kreiert und benennt, indem sie Subjektivität hörbar macht. Wie würde man Marta und Mia auf der Bühne wahrnehmen, wenn sie ohne Stimme wären? Wie verändert sich der Charakter, den Lutz Förster entwickelt hatte und darstellte, wenn jemand seinen Text spricht, mit einer weicheren Stimme und mit einem deutlichen Akzent? Schließlich ist bei manchen Stücken mittlerweile die Person, die das Solo weitergibt, nicht mehr diejenige, die es auch entwickelt hat, sondern bereits die zweite Besetzung oder auch schon die dritte Generation. Das heißt hier hat bereits ein mitunter mehrschrittiger Übersetzungsvorgang stattgefunden. Umgekehrt ist es bei der Weitergabe des Stücks Für die Kinder von gestern, heute und morgen an das Bayerische Staatsballett: Hier hat die Besetzung der Uraufführung die Tänze weitergegeben, es sollte authentisch und original sein. Mitgewirkt haben an dieser Weitergabe also auch Tänzer*innen, die selbst schon lange nicht mehr tanzen und sich nunmehr wieder in die Situation einer Tänzer*in einfinden mussten. Aber auch die Tänzer*innen, die noch in der Kompanie sind und tanzen, müssen 2014, also zwölf Jahre nach der Premiere, das Authentische rekonstruieren oder besser reenacten, das heißt über den Körper wieder aneignen. Insofern ist zum einen das Authentische nicht als etwas Essentielles anzusehen, sondern eine Herstellungspraxis, die unterschiedlich gerahmt ist. Zum anderen zeigt sich selbst hier, dass die Weitergabe immer auf Setzungen beruht, die erst im Nachhinein als das Original und das Authentische gedeutet werden, eine Annahme, die schon Walter Benjamin in seinem berühmten Text Die Aufgabe des Übersetzers (Benjamin 1972) formuliert hatte. Insofern stellt sich auch hier Weitergabe als ein permanenter Übersetzungsvorgang dar, der jeweils mit neuen Setzungen verbunden ist. An diesen Übersetzungsschritten wird offensichtlich, dass die Frage nach der Ursprünglichkeit, Authentizität und Originalität im Prozess der Weitergabe obsolet wird, dies obwohl sie, vor allem nach dem Tod von Pina Bausch, akribisch verfolgt wird. Vielmehr wird dem Paradox von Identität und Differenz Rechnung getragen, insofern Differenzen in der Auslegung der Rolle akzeptiert werden, aber die choreografischen Parameter wie Ausdrucksstärke, Intensität, Akzente oder Timing identisch sein sollen. Damit wird auch die Kritik derjenigen obsolet, die behaupten, eine Weitergabe der an die einzelnen Tänzer*innen gebundenen Rollen sei nicht möglich. Denn viele Weitergaben von Rollen in wieder aufgenommenen Stücken haben anschaulich werden lassen, dass es nicht um
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die Subjektivität oder den spezifischen Charakter der einzelnen Tänzer*innen geht, wie es mehrfach auch in der wissenschaftlichen Rezeption angenommen wurde, mit dem Argument, gerade die Tänzer*innen von Pina Bausch hätten ja alle ihre eigenen Namen und ihre Rollen aus ihren situativen, persönlichen Gefühls- und Erfahrungswelten entwickelt. Vielmehr ist das, was weitergegeben wird, die Form und vor allem die spezifische Bewegungsqualität, die einer Form beigegeben werden muss, um sie zum Tanz zu machen. Persönlichkeit und Charakter sind bereits in diese Form eingelagert, sie lebendig zu machen bedeutet, das Vermögen zu haben, die mit der Form verbundene spezifische Bewegungsqualität zu erzeugen. Würde man die Choreografie oder den einzelnen Solotanz als eine rein subjektive Angelegenheit verstehen, dann wäre dies nicht mehr als ein Privatvergnügen derjenigen, die getanzt haben. Dadurch aber, dass es sich in eine Form übersetzt, die über spezifische Bewegungsqualitäten verschiedene »Farben«, wie Pina Bausch die Bewegungsqualität ihrer Tänzer*innen nannte, bekommt und das Stück zudem als »Kunst« einer Öffentlichkeit preisgegeben wird, ist es jenseits des subjektiven Erlebens. Es besteht kein Zweifel, dass Weitergaben einzelne Soli und Szenen verändern. Diese einzelnen Parts in das Stück so zu übersetzen, dass die Choreografie ihre Qualität und Identität behält, dafür hat sich Pina Bausch selbst immer die Freiheit genommen und das Stück variiert, umgestellt und mitunter auch Passagen herausgelassen. Nach ihrem Tod aber fehlt diese eine, alles entscheidende Stimme. Es gibt (bislang) niemanden, der die Autorität für sich beanspruchen würde, die eine, die richtige Lesart ihrer Choreografie zu haben, war doch niemand, weder Tänzer*innen noch enge Mitarbeiter*innen, an der Choreografie-Entwicklung beteiligt und haben vor allem wenige Tänzer*innen überhaupt die Stücke von außen und in voller Länge gesehen. Wie eine künstlerische Produktion häufig nicht ohne klare Hierarchien und klare Machtordnungen auskommt, benötigt auch der Prozess der Weitergabe eindeutige Machtordnungen, auch wenn diese kollektiv organisiert sind. Insofern ist seit Pina Bauschs Tod ein erster Orientierungspunkt festgelegt: Die letzte Version, die letzte gespielte Aufführung vor ihrem Tod ist gemeinhin der Referenzrahmen. Damit aber wird etwas fixiert, was Pina Bausch selbst wohl geöffnet hätte und auch bei nötigen Umsetzungen oder anderen Bühnenanforderungen praktiziert hat. Eine Werktreue in dem Sinne einer Fixierung entspräche also gar nicht ihrem eigenen künstlerischen Vorgehen. Da es bislang aber niemanden gibt, der dies allein meistern kann und will, werden Probenleitungsteams gebildet, die gemeinsam den Prozess der Weitergabe gestalten, wie bei
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Kinder von gestern, heute und morgen die Tänzer*innen Ruth Amarante, Daphnis Kokkinos und Azusa Seyama. Daphnis Kokkinos hatte schon 2002 bei der Stückentwicklung und bei den Wiederaufnahmen mitgearbeitet, Azusa Seyama hatte selbst in dem Stück getanzt.4 Es ist eine Art oral history, die hier in den künstlerischen Praktiken der Weitergabe praktiziert wird. Insofern ist die in der Weitergabe angelegte Brüchigkeit und Fragilität auch bedingt durch die verschiedenen Zeitebenen, die sich in der Weitergabe miteinander verknüpfen: Da ist erstens die Jetzt-Zeit, in der zum einen die Weitergabe passiert, zum anderen ein Stück aufgeführt wird, das für sich mit diesen Tänzer*innen als Kunst bestehen muss. Die zweite Zeitlichkeit ist die der Choreografie: Eine Erinnerung und ein Reenactment der choreografischen Kunst Pina Bauschs und des damaligen Erfindungsreichtums ihrer Tänzer*innen. Die dritte Zeitebene ist schließlich die der Tänzer*innen des Tanztheater Wuppertal selbst, die letztmalig 2015, also dreizehn Jahre nach der Premiere, dieselben Rollen tanzten – nahezu zeitgleich mit den Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts. Dreizehn Jahre sind gemeinhin nahezu ein halbes Tänzer*innen-Leben und das »Stück«, das einst vor allem mit jungen, männlichen Tänzern entwickelt wurde, ist heute, dreizehn Jahre später, energetisch und physisch völlig anders als mit den jungen Tänzern des Bayerischen Staatsballetts.
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Hinzu kommen im Verlauf des Probenprozesses noch weitere Akteur*innen: die künstlerische Leiter*in der Kompanie, der Bühnenbildner Peter Pabst und die Kostümbildnerin Marion Cito, Matthias Burkert, der immer die Abendregie machte – und damit sind vor allem die letzten Drei diejenigen, die die Stücke am häufigsten von außen gesehen haben. Aber auch sie haben ihre klaren Arbeitsfelder: Die Kleider müssen für die neuen Tänzer*innen neu geschneidert werden, was mitunter schwierig ist, da die Stoffe nicht mehr existieren. Das Bühnenbild muss auf die neue Bühne übertragen und mit dem Bühnenbild die Lichtchoreografie abgestimmt werden. Da die Bühnenbilder von Peter Pabst zudem oft mobile Elemente oder aufwendige Materialien haben, ist dies zu prüfen. Der Ablauf der Abendregie muss weitergegeben werden, ist doch die Abendregie mit ihrem Komplex aus Licht, Bühne, Musik und der als »Collagetechnik« bezeichneten choreografischen Struktur ein sehr musikalisches und rhythmisches Unterfangen, bei dem die Zeitlichkeit eine zentrale Rolle spielt.
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Weitergabe setzt Sender*in und Empfänger*in, Geber*in und Nehmer*in voraus Im Programmheft des Bayerischen Staatsballetts zu Kinder von gestern heute und morgen steht, dass die Übergabe eins zu eins erfolgte. Vierzehn Tänzer*innen des Tanztheater Wuppertal haben ihre Rollen an 28 Tänzer*innen des Staatsballetts übergeben. Eins zu eins heißt allein zahlenmäßig also eins zu zwei. Die Formulierung meint aber eigentlich die direkte Weitergabe in der zwischenmenschlichen Begegnung. Das Ziel war es, die fertige Rolle, die mit einer Person verknüpft ist, genauso zu übernehmen und gleichzeitig man selbst zu sein. Das Paradox von Identität und Differenz wurde hierbei praktisch erfahrbar. Um die Tänzer*innen als Subjekte auf der Bühne erscheinen zu lassen, wurde zudem die Entscheidung getroffen, dass sie zwar die Rollen der Anderen tanzen, aber ihre eigenen Namen übernehmen. Das Paradox von Identität und Differenz zeigt sich also auch als ein Verhältnis zwischen Geber*in und Nehmer*in, zwischen dem Fremden und dem Eigenen. In allen Gesprächen betonten die Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts, dass genau diese persönliche Weitergabe so wichtig und ungewöhnlich bei dem Erlernen der Choreografie gewesen ist, auch im Unterschied zu anderen prominenten Choreografien von zum Beispiel Gerhard Bohner, Mary Wigman, Richard Siegal, John Cranko oder Jerôme Robbins, die das Bayerische Staatsballett zuvor einstudiert hatte. Die Tänzer*innen beider Kompanien kennzeichnen in den Interviews und Gesprächen den Arbeitsprozess als unwiederbringlich, einzigartig, offen, intensiv, spannend und überraschend. Die Tänzer*innen des Bayerischen Staatsballetts meinen, neue Möglichkeiten in sich entdeckt zu haben, durch die Probenzeit inspiriert und beeinflusst worden zu sein – gerade auch weil sie so unmittelbar mit einzelnen Tänzer*innen arbeiten konnten und ihnen die Ästhetik des Tanztheater Wuppertal auf diese Weise vertraut gemacht wurde. Weitergabe zeigt sich hier als ein privilegierter, in Zeiten von Digitalisierung und anonymer Kommunikation nahezu anachronistischer Vorgang: Dies nicht nur, weil dieses Vorgehen immens teuer ist, sondern auch, weil man unmittelbar von denjenigen lernt, die berühmte Vorbilder sind und als junge Tänzer*in mit ihnen persönlich eins zu eins arbeiten darf, selbst wenn es im künstlerischen Tanz eine gängige Praxis ist, in face-to-face Situationen zu lernen.
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Weitergabe ist mit ethnisch-moralischer und gesellschafts- und kulturpolitischer Verantwortung verbunden In dem Buch Marx’ Gespenster schrieb der französische Philosoph Jacques Derrida: »Wir sind Erben – das soll nicht sagen, dass wir dies oder das haben oder bekommen, dass irgendeine Erbschaft uns eines Tages um dies oder das bereichern wird, sondern dass das Sein dessen, was wir sind, in erster Linie Erbschaft ist, ob wir es wollen oder nicht.« (Derrida 2004: 81) Das Erbe entzieht sich demnach unserer Verfügung: Man kann es nicht wählen, man ist nicht Erbe, oder das Weitergegebene gehört einem nicht. Damit entlässt Derrida die Erben aber nicht aus der Verantwortung. Im Gegenteil: Verantwortung ist überhaupt nicht denkbar jenseits des Erbes. Ver-antworten meint auch immer: Antwort geben. Demnach verpflichtet uns das Erbe in der Gegenwart beständig zur Beantwortung der Frage, was es uns hier und heute bedeutet und wie wir damit Zukunft gestalten können. Diese Verantwortung ist in besonderer Weise gegeben bei der Weitergabe von Tanzkunst, einer Körper-Kunst. Dies gilt vor allem für die Stücke von Pina Bausch, der Anthropologin des Tanzes, die die Gesten des Alltags gesammelt und ästhetisch verarbeitet hat. Es ist nicht das zwanghafte »Lebendighalten« von Stücken, kein Stillstand, wie dieser Text zeigen wollte, sondern eher eine Bewegung, eine fragile und brüchige Transformation im Spannungsfeld von Identität und Differenz. Und diese Transformation vollzieht sich vor dem Hintergrund der Frage, was kultur- und gesellschaftspolitisch relevant und (auch ökonomisch) vertretbar ist, um eine zeitgenössische Kunst zu befördern. Woraus wird Morgen gemacht sein? lautet der vielversprechende Titel einer Sammlung von Gesprächen, die Derrida mit der Psychoanalytikerin und Historikerin Élisabeth Roudinesco geführt hat (Derrida/Roudinesco 2006). Vor allem in dem Abschnitt »Sein Erbe wählen« (Derrida/Roudinesco 2006: 11–40) stellt er das Erben in das Spannungsfeld von Tradition und Konservatismuskritik. Erbe, das ist für ihn immer ein ambivalenter Vorgang, der sich zwischen der aktiven Annäherung an ein immer schon Vorgängiges und dessen passiver Übernahme bewegt. Es ist die Endlichkeit des Lebens, die einerseits sowohl zur Gabe als auch zum Empfang eines Erbes nötigt. Andererseits aber ist es gerade auch das Ungleichgewicht zwischen der Kürze des Lebens und der Beständigkeit des künstlerischen Werkes, das zur wohlüberlegten Auswahl und auch zum kritischen Ausschluss bei der Weitergabe bestimmter Erbschaften auffordert. Mit dieser Verknüpfung von empfangener Gabe und eigenständiger Fortführung, von fremder Beauftragung und selbstbestimmter Verantwortung, eröffnet Derrida mit
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Rekurs auf Emmanuel Lévinas einen Denkraum, in welchem sich Erbe, Tradition und Verantwortung im Spannungsfeld zwischen der Würde der Einen und der Haltung der Anderen bewegen oder anders gesprochen: in welchem sich die Einstellung zum Erbe als Ambivalenz von Traditionsbewahrung und Veränderungswillen bewegt. Das Geheimnis ist es, in welchem sich für Derrida Erbe und Verantwortung verschränkt. »Man erbt immer ein Geheimnis – ›Lies mich!‹, sagt es. ›Wirst du jemals dazu imstande sein?‹« (Derrida 2004: 32) Ein Erbe bedeutet demnach immer zweierlei: einerseits eine Verantwortung, das Erbe zwischen Tradierung und Neuerung zu bewegen, und andererseits einen Zweifel, diesen Auftrag, den das Erbe mitgibt, zufriedenstellend erfüllen zu können. Der Zweifel liegt in dem unabschließbaren Charakter der Erbschaft, vor allem, wenn es um ein immaterielles Erbe wie die Kunst geht: Man muss filtern, sortieren, aussuchen, kritisieren. Der einzige Weg, dieser Verantwortung gerecht zu werden und dem Erbe treu zu sein, bedeutet daher unter Umständen, mit der Erbschaft gegen die Erbschaft zu denken. Es bedeutet, das Erbe immer wieder neu und anders aufzugreifen, damit es lebendig bleibt oder besser: immer wieder zum Leben erweckt wirkt. Weitergabe hat keinen eindeutigen Anfang und kein eindeutiges Ende Der performative Aspekt im Umgang mit Erbe gilt insbesondere für ein immaterielles Kulturerbe wie den Tanz, von dem ja selbst behauptet wird, er sei flüchtig und entziehe sich: Der Sinn des Tanzerbes ist kontingent. Personen, Aufführungen, Proben, Kompanie-Konstellationen oder Publikumsrezeptionen unterliegen den Gesetzen der Wahrnehmung und der Deutung, die konstitutiv offen und unabgeschlossen sind. Der Sinn des Erbes von Pina Bausch steht nicht fest, er muss immer neu an den verschiedenen Orten in den unterschiedlichen Zeiten zwischen den Tänzer*innen sowie zwischen den Tänzer*innen und dem Publikum neu ausgehandelt und von der Forschung neu gedeutet werden. Hierbei spielen unterschiedliche individuelle Interessen, kulturpolitische Machtkonstellationen und Forschungspolitiken eine nicht unwichtige Rolle. Welch schwieriger und brüchiger Annäherungsprozess dies allein aufgrund der Materiallage und den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen der Weitergabe ist, wollte dieser Text deutlich machen. Es ist ein Übersetzungsprozess, dessen Produktivität im Scheitern liegt, im Verfehlen, in der Un-Möglichkeit des Übersetzens oder gar des Deutens. Dieses Scheitern zu erkennen, dessen Produktivität zu erarbeiten und sie konstruktiv zu nutzen, ist auch ein wichtiger Aspekt für die Forschung, nicht nur für die tanzwissenschaftliche Forschung, zumal es, wie der Text ebenfalls zeigen wollte,
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bei der Weitergabe von Choreografie und Tanz vor allem auch um soziologische Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen geht, bei deren wissenschaftlicher Erschließung Verfahren der qualitativen Sozialforschung wie Ethnographien, Interviews etc. zur Anwendung kommen. Aber auch in der Forschung war es schon immer schwieriger, das NichtVerstehen und Nicht-Verstandene zu erklären. Pina Bauschs Arbeit und die Weitergabe ihres künstlerischen Werkes zwingt auch Forscher*innen dazu, einen anderen Weg zu gehen als die ausgetrampelten Pfade der Aufführungs- und Inszenierungsanalysen, der semiotischen Deutungen und narrativen Interpretationen und vielmehr Verfahren anzuwenden, die das »Werk« als Produktion verstehen, das heißt, als einen sich wechselseitig bedingenden und hervorbringenden Zusammenhang von Arbeitsprozess, Stück und Rezeption, wie er hier am Beispiel der Weitergabe von Stücken des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch anschaulich werden sollte.
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Praktiken des Erforschens von Publikumswahrnehmung. Methodische Annäherungen an einen »praxeologischen Sonderfall«1 A NNA W IECZOREK
»Der Zuschauer ist praktisch, mehr aber noch ästhetisch die zentrale Frage des Theaters, seiner Praxis und seiner Theorie geworden«, resümiert Hans-Thies Lehmann am Ende seines Aufsatzes »Vom Zuschauer«, der 2008 als Teil eines Sammelbandes zu den Paradoxien des Zuschauens im zeitgenössischen Theater erschien (Lehmann 2008: 26). Man könnte hinzufügen, dass die Frage nach der Erforschung des Publikums auch zu einem empirischen Problem der Tanz- und Theaterwissenschaft und der Performance-Forschung geworden ist. Denn, obwohl die theoretische Figur der Zuschauer*in mittlerweile auch hier im Mittelpunkt des Interesses steht, ist die Frage nach einer methodologischen Reflexion wenig diskutiert. Ein Blick auf den Forschungsstand in der Theaterwissenschaft zeigt, dass hier zunehmend ein interdisziplinärer Zugang gewählt wird, die theaterwissenschaftliche Forschung lässt sich durch Methodendiskussionen und dem Methodenfundus aus den Sozial- und Kulturwissenschaften inspirieren. Dabei fällt ein Interesse für die hier seit einiger Zeit geführte Praxis-Diskussion auf (Husel 2014; Husemann 2009; Klein 2015a, 2015b). Im Folgenden werden zunächst die Schnittstellen beider Forschungsdisziplinen erörtert, die sich für die methodische Frage nach den Praktiken der Erforschung von Publikumswahrnehmung als zielführend erweisen. In einem zweiten Schritt wird mit einen pra-
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Diesen Ausdruck benutzt auch Stefanie Husel in ihrer praxeologischen Analyse der Aufführungspraxis von Forced Entertainment (Husel 2014: 30).
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xeologischen Blick die Aufführungssituation betrachtet, um schließlich der Frage nach den Praktiken der Erforschung von Publikumswahrnehmung nachzugehen. Diese sollen mithilfe von Publikumsbefragungen, die im Rahmen des DFGForschungsprojektes »Gesten des Tanzes – Tanz als Geste. Kulturelle und ästhetische Übersetzungen am Beispiel der internationalen Koproduktionen des Tanztheater Wuppertals«2 durchgeführt wurden, herausgearbeitet werden. Dafür wird das empirische Material fortwährend mit dem Konzept der praxeologischen Analyse abgeglichen und praktisch überprüft.
D IE AUFFÜHRUNG ALS » PRAXEOLOGISCHER S ONDERFALL « – THEATERTHEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Wie Andreas Reckwitz in seinem Aufsatz »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« (2003) festhält, erweisen sich in der Diskussion um eine Praxistheorie oder eine Theorie sozialer Praktiken drei Grundannahmen von besonderer Bedeutung: »[…] eine ›implizite‹, ›informelle‹ Logik der Praxis und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und ›Können‹; eine ›Materialität‹ sozialer Praktiken in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten; schließlich ein Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken.« (Reckwitz 2003: 282)
Praxistheorien erklären also, wie Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Matthias Michaeler (2015) zusammenfassen, das Entstehen sozialer Ordnungen weder allein aus intentionalen Handlungen autonomer Subjekte noch aus Strukturen oder Diskursen, sondern über die verkörperten Vollzüge von Praktiken, die somit soziale Ordnung vergegenwärtigen und herstellen: »Verkörperte Praktiken geraten so selbst als Medium von Bedeutung, Wissen und Intentionalität in den Blick, in deren Vollzug Subjekte als Träger bestimmter Kompetenzen und Fähigkeiten überhaupt erst in Erscheinung treten.« (Alkemeyer u.a. 2015b: 25f.)
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Projektleitung: Prof. Dr. Gabriele Klein. Universität Hamburg, Laufzeit: 2013-2017. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Elisabeth Leopold und Anna Wieczorek. Finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Der Text basiert auf gemeinsamen Auswertungen im Rahmen des Forschungsprojektes.
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Überträgt man diese praxistheoretischen Überlegungen auf künstlerische Praktiken einer Tanz- oder Theateraufführung, ist zunächst einleuchtend, dass auch bei der Entwicklung eines Stücks verschiedene Praktiken dem Arbeitsprozess zugrunde liegen, also zum Beispiel die des Choreografierens oder der Schauspielführung. Wobei, und das ist interessant, die Praktiken nicht nur in dem Davor, also im Arbeitsprozess, zu finden sind, sondern sich auch während der Aufführung selbst zeigen; sich die Choreografie also zum Beispiel nicht nur im Akt des Choreografierens von Künstler*innen 3 während des Probenprozesses zeigt, sondern auch als Übersetzung innerhalb der Anordnung der verschiedenen Tänzer*innenkörper während der Aufführung. Diesem impliziten (Praxis-) Wissen wiederum begegnen die Zuschauer*innen über Praktiken des Zuschauens. Der implizite Wissensschatz der Zuschauer*innen (zum Beispiel Erwartungshaltungen/Vorwissen) interagiert also mit den künstlerischen Praktiken, die auf der Bühne sichtbar werden. In dieser Interaktion entsteht eine Wahrnehmung dessen, was auf der Bühne passiert, eine Wahrnehmung, die daher zugleich subjektiv und intersubjektiv ist – denn es gibt soziale, kulturelle und individuelle Sehkonventionen, die ein bestimmtes Publikum hat und damit eine bestimmte »Sicht« auf die Dinge, die sich mit in die Wahrnehmungspraxis einschreibt. 4 Zugleich kann man davon ausgehen, dass weder alle Zuschauer*innen das Gleiche von einer Theater/Tanzaufführung erwarten noch, dass sie alle den gleichen Wissenshorizont besitzen, auf den sie während der Aufführung zurückgreifen können. Diese Differenzen machen es so schwierig der Aufführung theoretisch wie methodisch zu begegnen. Man könnte in Anlehnung an die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte (2004) diese Besonderheit auch als »besondere Zeitlichkeit« der Wahrnehmungspraxis begreifen, die mit ihrem Konzept der Feedback-Schleife zwischen Zuschauer*innen und Künstler*innen das Konzept der Aufführung maßgeblich beeinflusste. Demnach ist der Prozess der Wahrnehmung, obgleich er »immer gegenwärtig vollzogen wird«, stets auch von einer Vergangenheits- und Zukunftsdimension gekennzeichnet: »Denn es sind vergangene Erfahrungen und zukunftsbezogene Erwartungen, die das wahrnehmende Subjekt gemacht hat bzw. hegt, welche es das Gegenwärtige in einer bestimmten
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Mit der Bezeichnung Künstler*in sollen spartenübergreifend Choreograf*innen, Tänzer*innen, Performer*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen eingeschlossen werden.
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Mit Gadamer (1986) könnte man auch sagen: Die »Vorurteile«, die jedem Verstehensprozess inhärent sind, prägen das Aufführungserlebnis der Zuschauer*innen und sind somit grundlegend für die theaterwissenschaftliche Analyse.
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Konstellation wahrnehmen lassen.« (Fischer-Lichte 2014: 25) Im Sinne dieser »Feedback-Schleife« bringen die Zuschauer*innen im Beisammen-Sein mit den Künstler*innen die Aufführung selbst erst hervor. Diese entspricht somit nicht dem Inszenierungskonzept, sondern konstituiert sich erst durch die Ko-Präsenz der Zuschauer*innen. Die bislang in theaterwissenschaftlichen Forschungen (oftmals) aufrecht erhaltene Trennung zwischen den Inszenierungs- und Künstler*innenpraktiken auf der einen Seite und den Publikums- und Wahrnehmungspraktiken auf der anderen Seite soll deshalb in diesem Aufsatz mithilfe praxistheoretischer Überlegungen begegnet werden, um das komplexe Wechselspiel, dem die Praktiken zur Erforschung von Publikumswahrnehmung unterliegen, methodisch besser fassen zu können. Stefanie Husel, die in ihrem Buch Grenzwerte im Spiel (2014) die Aufführungspraxis von der englischen Performance-Gruppe Forced Entertainment 5 untersucht, skizziert, dass sich bisherige Aufführungsanalysen aus zwei Richtungen der Aufführungssituation annähern: »›Von außen‹, indem textartige, ggf. vorausgeplante Sinnstrukturen beschrieben werden, und ›von innen‹, indem auf das Erleben von Situationsteilnehmern rekurriert wird.« (Husel 2014:21) Das »Außen« der Aufführung bezieht sich also auf die Intention der Künstler*innen, auf den »Inszenierungstext«, den man mithilfe der Analyse von Produktionsprozessen zu entschlüsseln versucht oder durch die Interpretation des Dramas als Grundlage dessen, wie mit diesem Text umgegangen wurde. Seit der Entwicklung hin zum »postdramatischen Theater« (Lehmann 1999) steht die Aufführung allerdings nicht mehr (nur) in Abhängigkeit zur Intention der Künstler*innen, sondern wird als etwas Eigenständiges, mit Jacques Rancière als etwas »Drittes«, verstanden, das erst im Zusammenspiel mit den Zuschauer*innen performativ (im Sinne von verwirklichend) wirkt: »[…] [die] Aufführung [...] ist nicht die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist eine dritte Sache, die niemand besitzt, und deren Sinn niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält.« (Rancière 2010: 25)
5
Forced Entertainment ist eine Performance-Gruppe aus Sheffield (UK), bestehend aus sechs Personen, die seit 30 Jahren kollaborativ zusammenarbeiten: »We started working together in 1984 and in the many projects we’ve created we’ve tried to explore what theatre and performance can mean in contemporary life. [...] As well as performance works, we’ve made gallery installations, site-specific pieces, books, photographic collaborations, videos and even a mischievous guided bus tour.« (Forced Entertainment 2016)
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In jüngeren Ansätzen zur Aufführungsanalysen wird entsprechend der Versuch unternommen, dies methodisch umzusetzen. Neben der von Fischer Lichte schon erwähnten Ästhetik des Performativen, die ein Nachdenken über die eigenständige Qualität der Aufführung (in der Theorie) angestoßen hat, versucht beispielsweise Jens Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters die Aufführung (»von innen«) zu erfassen. Er schlägt vor, sie von ihrer Ereignishaftigkeit her zu denken, um so die gleichzeitige Anwesenheit von Publikum und Künstler*innen nicht nur als »mediale Bedingung von Rezeption« zu erkennen, sondern im »Vollzug des Ereignisses« etwas Eigenständiges entstehen zu lassen (Roselt 2008: 48): »[D]ie Untersuchung von Aufführungen soll beim Staunen nicht halt machen, sondern von hier aus ihren Anfang nehmen. Die These ist, dass Aufführungen von den Augenblicken dieser Erfahrungen her analytisch sinnvoll erschlossen werden können.« (Ebd.: 20f.) Beide Forschungsrichtungen, die von »innen« wie die von »außen«, gehen bewusst über diese Zweiteilung hinaus – so schließt beispielsweise der phänomenologische Blick von Jens Roselt ebenso äußere, vorgefasste Inszenierungsmittel mit ein (Husel 2014: 21). Dennoch spiegelt, wie auch Husel bemerkt, das Vokabular der Theaterwissenschaft bis heute »die in der Praxis etablierte Unterscheidung in Inszenierung und Aufführung, Produktion und Rezeption, auch wenn eine Überwindung dieser epistemischen Kluft schon lange angestrebt und auf je spezifische Weise (poststrukturalistisch oder phänomenologisch) angegangen wird« (ebd.). Ein praxeologischer Blick auf die Verbindung zwischen Inszenierung – Zuschauer*innen – Aufführung kann insofern zielführend sein, als er auf theoretisch-methodologischer Ebene die Verwobenheit dieser Dreiecksverbindung hervorheben und in den Blick rücken kann.
D IE AUFFÜHRUNG ALS » PRAXEOLOGISCHER S ONDERFALL « – PRAXISTHEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN Um der Komplexität der Aufführung aus praxeologischer Sicht gerecht zu werden, folgt dieser Text zunächst Alkemeyers, Buschmanns und Michalers Vorschlag zwischen Praktiken und Praxis zu unterscheiden (Alkemeyer u.a. 2015b). Praktiken werden demnach als »kulturell geformte, von wiederkehrenden Mustern geprägte und damit identifizierbare Einheiten«, also »typisierte und sozial intelligible Bündel nicht-sprachlicher und sprachlicher Aktivitäten« bezeichnet6
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Siehe dazu den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Buch.
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(ebd.: 27). Dem gegenüber (beziehungsweise damit verbunden) wird die Praxis als »gegenwärtiges Vollzugsgeschehen« begriffen, in deren Vollzügen sich »fortlaufend eine je besondere Gegenwart entfaltet, die sich vollständiger Berechenbarkeit entzieht« (ebd.). Um beide Systeme (und ihre wechselseitige Beziehung) zu verdeutlichen, wird von den Autoren in diesem Zusammenhang eine Spielmetapher herangezogen. Demnach sind die Praktiken wie Spielregeln, die sich von den ausführenden Spieler*innen im Vollzug des Spielens (also in der Spielpraxis) bestätigen, modifizieren oder verändern lassen: »Im Licht der Spielheuristik bilden soziale Ordnungen kein starres System, sondern werden als ein dynamischer Verflechtungszusammenhang aufeinander bezogener Spielzüge begriffen. Die in einem solchen Spiel entstehenden Verflechtungszusammenhänge können von keinem einzelnen Spieler vollständig beherrscht werden.« (Ebd.: 32)
Die Spieler*innen müssen sich also, um »kompetent« an einem Spiel teilnehmen zu können, »in ihrem Denken und Handeln fortlaufend auf sich verändernde Spielkonstellationen einstellen – und zwar auf Spielkonstellationen, die sie selber durch ihr Tun erzeugen« (ebd.). Der mit der Spielmetapher verdeutlichte Zusammenhang zwischen Praktiken und Praxis soll im Folgenden auf die Aufführungssituation im Theater angewendet werden. Diese ist schon durch ihre Voraussetzungen ein »praxeologischer Sonderfall«, da die Praktiken der Theateraufführung im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Zusammentreffen über eine lange Zeit hinweg (relativ gleichbleibend) wiederholt werden, aber nur ein kleiner Teil der Situationsteilnehmer*innen dabei jedes Mal anwesend ist, während sich der weitaus größere Teil bei jeder Aufführung anders zusammensetzt (Husel 2014: 30). Außerdem zeigen sich aus praxeologischer Perspektive die Praktiken im Theater auf verschiedenen Ebenen. Zum einen gibt es direkte Verhaltensweisen, die durch die örtlichen Voraussetzungen und Perspektiven des Theaterraums bestimmt werden. Die Zuschauer*innen befolgen bestimmte Regeln, wenn sie den Raum betreten, sie setzen sich auf den Platz, der ihnen von ihrer Eintrittskarte zugewiesen wird, richten ihren Blick auf die Bühne und unterlassen während der Aufführung weitgehend Störungen (wie etwa Handy auspacken, Rascheln mit Bonbonpapier oder Husten). Störungen in diesem Ablauf zeigen oft erst diese zur Regel gewordenen Konventionen auf.7 Hinzu kommt die zweite Ebene, die einsetzt, wenn die
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Die angesprochenen Regeln beziehen sich auf die Aufführungspraxis des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und sind nicht auf andere (zeitgenössischen) Theater-, Tanz-
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Aufführung und damit die Wahrnehmungspraxis des Zuschauens beginnt. Mit dem eigenen Zuschauen »konfrontiert«, werden die Zuschauenden zu individuell Wahrnehmenden und sind zugleich, wie oben schon kurz beschrieben, Teil eines kollektiven Wahrnehmungsprozesses. 8 Dieser Pool aus Vorwissen und Erwartungshaltungen, das »Dritte der Aufführung«9 (Eiermann 2009), kann wiederum selbst als eine Art »diskursive Praktik«10 angesehen werden, die durch eigene, subjektive Assoziationen und persönlich-ästhetische Erfahrungen in der Zuschauer*innenpraxis unterlaufen oder bestätigt wird. Die Zuschauer*innen bringen also sich (und ihre individuellen Vorstellungen, Assoziationen) in die gemeinsame Zuschauer*innenpraxis ein, nehmen daran teil und werden gleichzeitig durch diese Praxis fortwährend als Subjekte und handelnde Individuen hervorgebracht. Hier lässt sich wiederum an die Debatte der Praxis-Diskussion anknüpfen. Wie die Herausgeber des Bandes Praxis denken (2015) in ihrer Einleitung pro-
oder Performanceaufführungen übertragbar, in denen diese »klassische« Aufteilung zwischen Publikums- und Bühnenraum oftmals aufgehoben wird. Die Konventionen eines Theaterbesuchs hängen also von den jeweiligen (kulturellen) Prägungen des Theaterpublikums sowie von den normativen Strukturen des Tanztheaters selbst ab. 8
Nicht nur das »Vorwissen«, auch das gemeinsame Erleben macht die Zuschauer*innen zu einer kollektiven »Zuschauerschaft«. Ähnlich wie bei der abschließenden Geste des Applauses (siehe dazu Brandl-Risi 2015), kann auch während einer Aufführung das Publikum in und durch die Gemeinsamkeit des Theatererlebnisses ähnliche Reaktionen produzieren und re-produzieren, wenn beispielsweise ein Lacher im Publikum den Rest der Zuschauer*innen »ansteckt«.
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Sowohl Jacques Rancière als auch André Eiermann benutzen den Begriff des »Dritten«. Stefanie Husel bringt beide Ansätze daher miteinander in Verbindung und »rahmt« diese Verbindung praxeologisch: »Diesen Gedanken weiterführend, kann ›das Dritte‹ als Gesamtheit dessen begriffen werden, was Erving Goffman als Rahmen umschrieb, bzw. als das, was durch Theodore Schatzki als teleoaffective structures erfasst wurde.« (Husel 2014: 200)
10 Der Begriff der »diskursiven Praxis« wird mit Reckwitz wie folgt verstanden: »Für die Praxistheorie kann ein Diskurs nichts anderes denn eine spezifische soziale Praktik sein, d.h. der Diskurs wirkt aus praxeologischer Sicht allein in einem bestimmten sozialen Gebrauch, als ein Aussagesystem, das in bestimmten Kontexten rezipiert und produziert wird. Erst die Rekonstruktion des kontextuellen Gebrauchs von diskursiven Aussagesystemen kann für die Praxistheorie klären, welche Bedeutung dem Diskurs im Wissen der Teilnehmer zukommt.« (Reckwitz 2003: 298)
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klamieren, wird die Stellung des Subjekts in der praxeologischen Theorie durch die verstärkte Abwendung vom klassischen Subjekt-Begriff (oft) zu sehr vernachlässigt: »Statt Subjektivität zu eliminieren, wäre sie in kritischer Perspektive neu zu denken. Denn zum einen kann sich in Praktiken Subjektivität nur bilden, wenn etwas (zum Beispiel ein Organismus) bereits in irgendeinem Sinne gegeben ist (oder man schreibt der Praxis göttliche Kräfte der creatio ex nihilo zu). Zum anderen ist die Rede von einer Subjektbildung in Praktiken nur dann sinnvoll, wenn damit auch ernst genommen wird, dass sich diese Subjekte von bloßen Vollzugsorganen unterscheiden.« (Alkemeyer u.a. 2015a: 12)
Alkemeyer, Buschmann und Michaeler schlagen vor, durch ein produktives Neuverständnis von Subjektivität eine Analytik zu entwerfen, die die mit dem Subjektbegriff verknüpften Fähigkeiten wie Reflexion und Kritik in den Blick bringt, ohne damit »hinter die Einsicht in die gesellschaftliche und geschichtliche Formbestimmtheit von Subjektivität zurückzufallen« (Alkemeyer u.a. 2015b: 26). Die Wahrnehmungsprozesse, die sich während einer Theateraufführung abspielen, können diese Subjektivierungsstrategien und Reflexionsmomente innerhalb der Praxis veranschaulichen. Denn anhand der Zuschauer*innenposition lassen sich die allgemein zugeschriebenen Teilnehmer*inneneigenschaften innerhalb der Praktiken gut nachvollziehen: »Sie werden unterschiedlich berührt, bringen verschiedene Erfahrungen und Erwartungen ein, entwickeln aufgrund ihrer jeweiligen körperlichen, mental-sprachlichen und personalen Situiertheit disparate Sichtweisen, Interessen und Wünsche, lassen sich verschieden adressieren und rufen auf disparate Kontexte verweisende ›kognitive Artefakte‹ (Norman 1993) wie Regeln, Bewertungsmaßstäbe, Wissens- und Rechtfertigungsordnungen als Partizipanden auf, um ihren Sichtweisen Nachdruck, Plausibilität und Legitimität zu verleihen.« (Ebd.: 41)
Der kurze Einblick in die praxistheoretische Diskussion konnte zeigen, inwiefern der praxeologische Blick auf die Aufführungssituation für die theoretische Verknüpfung von Inszenierungs- und Wahrnehmungspraktiken sinnvoll sein kann. Doch welche methodischen Konsequenzen kann man daraus ziehen? Welche Werkzeuge stehen der Forscher*in zur Verfügung, um die Praktiken des Zuschauens »zur Sprache« zu bringen?
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Im Gegensatz zu Roselts überwiegend konzeptuell-analytischem Entwurf einer Aufführungsanalyse11 bietet Husel in ihrer Untersuchung auch einen methodischen Vorschlag: Mithilfe ethnographischer Konzepte, vor allem dem going native and coming home, will Husel der komplexen Dreierbeziehung begegnen: »Die Aufführungssituationen […] sollen in einem dichten ›Hin und Her‹ aus Beschreibung und theoretischer Reflexion reformiert und reflektiert werden. Erfahrungen subjektiver nativeness werden dabei einem disziplinären coming home zugeführt.« (Husel 2014: 34) Als methodische Konsequenz bezieht Husel in ihrer Untersuchung nicht nur die Appell-/Spielstrukturen12 innerhalb der Inszenierung mit in ihre Forschung ein (also der Versuch die Aufführungspraktiken zu analysieren), sondern beschließt ihren »privilegierten«, phänomenologischsubjektiven Blick aufzugeben, um in einer empirischen Untersuchung der Zuschauer*innenpraxis selbst näher zu kommen. Dafür untersucht sie beispielhaft Audioaufnahmen, die sie während einer Aufführung von Forced Entertainment mitgeschnitten hat. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Art »implizites Publikum« existiert, dass »mitspielt«, die Regeln von Forced Entertainment kennt, und daher als »funktionierendes« Publikum die Aufführung mitbestimmt/
11 Eine Ausnahme bildet Roselts Aufsatz »Kreatives Zuschauen«, in dem er vorschlägt, Aufführungsprotokolle von Student*innen oder Schüler*innengruppen anfertigen zu lassen: »Die Zuschauer erhalten die Aufgabe zu protokollieren, woran sie sich nach einer Aufführung noch erinnern können. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, eine Geschichte nachzuerzählen, Regieanfälle zu destillieren oder die Dramaturgie nachzuerzählen, sondern um die Thematisierung der augenblickshaften Erinnerung. […] Das Abfassen des Protokolls ist eine Art Experiment, keine Prüfung, sondern ein Selbstversuch, dessen Ausgang ungewiss ist und bei dem die Protokollierenden unabhängig von vorgefertigten Interpretationen in Erfahrung bringen, wie eine Aufführung auf sie gewirkt hat.« (Roselt 2004: 49f.) 12 Husel operiert nicht nur mit dem ethnographischen Konzept des going native and coming home, als weitere Ebene der Selbstbefremdung nutzt sie den Spielbegriff für ihre Analyse: »Um also einem Übergewicht auf der Seite der nativeness entgegenzuwirken, soll in Folge mit einem begrifflichen Hilfsmittel operiert werden, dass es mir selbst und meinen Lesern immer wieder aufs Neue erlaubt, die Aufführungs-Praxis der beiden Stücke Bloody Mess und The World in Pictures zu ›befremden‹: Aufführungssituationen sollen als ›Spiele‹ beschrieben werden. Auch soll auf diese Weise ein gemeinsamer Bezugspunkt für beide Heimatdisziplinen mit ihrem doch jeweils unterschiedlich gewachsenen Vokabular und Erkenntnisinteressen erarbeitet werden.« (Husel 2014: 30)
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hervorbringt. Die Auswertung der Audioaufnahme zeigt also, dass sich das beforschte Publikum »benimmt«, dass es der Aufführung an den »richtigen« Momenten folgt und in den »richtigen Momenten« lacht, also dem Gefühl für Timing, das von den Schauspieler*innen auf der Bühne vermittelt wird mit einem eigenen Publikums-Timing begegnet. Der von Husel vorgeschlagene stetige Wechsel der Perspektive sowie die Perspektivierung und Befremdung des empirischen Materials als methodische Herangehensweise, ist gut geeignet, um den multiperspektivischen Untersuchungsgegenstand der Aufführung zu erfassen.13 Das ständige Changieren zwischen einem Abgleichen mit und dem Hinzuziehen von verschiedenen Aspekten erweist sich in dieser Hinsicht als zielführend. Somit kann das eigene Forschen selbst als ein Wechselspiel aus Praktiken und Praxis betrachtet werden: Die theoretischen Vorüberlegungen und die erwarteten Ergebnisse, die man sich im Vorhinein von der Analyse verspricht, werden so durch die empirische Praxis durchbrochen.14 Nach diesen theoretischen und methodologischen Überlegungen setzt nun ein Dialog mit dem empirischen Material ein, indem anhand von Publikumsbefragungen den zuvor aufgeworfenen Fragen in der empirischen Praxis begegnet werden soll. Dabei geht es nicht darum, eine umfassende Methode zur Erforschung von Publikumswahrnehmung zu liefern, sondern vielmehr darum, mit Hilfe der »fiktiven Anwesenheit« des Publikums Anstöße zu geben, Denkrichtungen zu öffnen und neue Fragen anzuregen.
13 Auch Alkemeyer, Buschmann und Michaeler schlagen als Methode einen stetigen Wechsel der Perspektive zwischen einer »Teilnehmerperspektive« und einer »Theaterperspektive« vor: »Im methodischen Wechselspiel aus der Draufsicht einer Theaterperspektive und der Rekonstruktion disparater Teilnehmerperspektiven verspricht dieser Ansatz eben jene ambivalente Gleichzeitigkeit von Passivität und Aktivität, Geformtwerden und Selbstformung, Einpassung und eigensinnigem Heraustreten, von Bevollmächtigung und Selbstkonstitution empirisch greifbar zu machen, die wir mit den Begriffen der Subjektivierung und der Selbst-Bildung bezeichnen.« (Alkemeyer u.a. 2015: 29) Siehe dazu auch den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Buch. 14 Siehe dazu auch Schmidt 2012.
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D AS T ANZTHEATER W UPPERTAL
KOMMT
» ZUR S PRACHE «
Vor und nach den Aufführungen des (1998 uraufgeführten und 2015 wiederaufgeführten) Tanztheaterstückes Masurca Fogo wurden insgesamt 417 Zuschauer*innen befragt.15 An verschiedenen Positionen des Opernhauses (im Foyer/ an den Garderoben/ vor der Bar) platzierten sich 4-5 Interviewer*innen, um möglichst vielen Zuschauer*innen in (maximal) fünf minütigen Interviews zu begegnen, die mithilfe von Audiogeräten aufgenommen wurden. Vor den Aufführungen wurden die Teilnehmer*innen zunächst nach ihrer Zuschauererfahrung befragt: »Sehen Sie heute Abend zum ersten Mal ein Stück von Pina Bausch?« Wenn die Befragten verneinten, wurde diese Frage konkretisiert (»Sehen Sie Masurca Fogo zum ersten Mal?«), um schließlich auf das Interesse der Befragten und den Besuchsgrund einzugehen: »Was interessiert Sie besonders an den Stücken von Pina Bausch?« und «Was ist für Sie das Besondere an der Kunst dieses Tanztheater Ensembles?« Die Zuschauer*innen, die noch kein Stück von Pina Bausch gesehen hatten, wurden stattdessen gefragt: (a) »Was ist Ihr Beweggrund, sich ein Stück von Pina Bausch anzuschauen?«, (b) »Was erwarten Sie von der Vorstellung heute Abend?« und (c) »Was wissen Sie über die künstlerische Arbeit von Pina Bausch?« Nach den Aufführungen lauteten die Fragen: (a) »Was sind Ihre Eindrücke von dem Stück? Können Sie mir bitte drei Stichworte nennen?«, (b) »Was glauben Sie, woran Sie sich später noch erinnern werden?« und (c) »Das Stück ist eine Ko-Produktion mit Lissabon, Portugal. Was glauben Sie, haben Sie über die Kultur der Portugiesen oder die Stadt Lissabon erfahren?« Im Gegensatz zu der von Husel vorgeschlagenen Empirie einer auditiven Publikumsbeforschung besteht das Material, das die Grundlage dieses Artikels bildet, also aus transkribierten, mit Audiogeräten durchgeführten Kurzinterviews.16 Damit sind die empirischen Daten selbst eine Übersetzung, eine Ver-
15 Die Befragungen wurden am 26.03.2015 und am 27.03.2015 im Opernhaus Wuppertal von fünf Interviewer*innen auf Deutsch und Englisch durchgeführt. Am 26.03.2015 wurden 139 Zuschauer*innen (92 weiblich/46 männlich) vor und 59 (27 weiblich/22 männlich) nach der Aufführung befragt. Am 27.03.2015 waren es vor der Aufführung 158 Zuschauer*innen (112 weiblich/46 männlich), nachher 61 (37 weiblich/22 männlich). 16 Husel bemerkt in einer Fußnote, dass von Seiten Forced Entertainment große Ressentiments gegenüber Publikumsbefragungen bestünden: »Offenbar war hier die Reflexivität meiner Forschung zu nahe an die Reflexivität der ästhetischen Forschung Forced
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sprachlichung (und Konstruktion) der Wahrnehmungspraxis einzelner Zuschauer*innen. Das Konzept der »Übersetzung«17 bildet dabei – in diesem Text wie auch in unserem Forschungsprojekt – die zentrale theoretische wie methodologische Grundlage, um das praxeologische wie des Transfers von ästhetischer Erfahrung in ihre (nachträgliche) Versprachlichung und Diskursivierung zu erfassen. Das wie der Übersetzung wird so zu einem Aushandlungsprozess zwischen dem (nicht vorhandenen) »Original« und dessen Übersetzung in die Rezeption beziehungsweise in die Versprachlichung dieser Rezeption, die durch die Aussagen der Zuschauer*innen regelrecht »zur Sprache« kommt. Es sei hinzugefügt, dass bei dieser Übersetzung immer ein (ästhetischer) Rest erhalten bleibt, der sich mit Gabriele Klein als »Übersetzung des Unübersetzbaren« (2014: 28) bezeichnen ließe: »Die Diskurse, in die ästhetische Prozesse übersetzt werden müssen, stehen dabei unter Vorbehalt: Der Übersetzung des Unübersetzbaren. Sie verfehlen, sie setzen ein Anderes, sie können nicht mit ästhetischen Prozessen identisch sein. Diese unaufhebbare Alterität zwischen den ästhetischen und den diskursiven Praktiken bedeutet eine Grenze zu wahren, d.h. einerseits, den Eigensinn, die Eigenlogik des Ästhetischen zu verteidigen, wie anderseits an den Praktiken diskursiver Setzungen zu arbeiten. Übersetzungen sind auch hier eine Praxis des Aushandelns.« (Klein 2014: 33)
Als methodische Konsequenz dieser theoretischen Überlegungen kann der Übersetzungscharakter der Aussagen (und damit »des Werkes« selbst) zum kontinuierlichen Begleiter der eigenen Methode avancieren, indem das wie der Übersetzung während der Analyse und Interpretation fortwährend reflektiert wird. Die Forscher*innen werden somit selbst zu Übersetzer*innen, die sich in einer stetigen »Praxis des Aushandelns« befinden. Hierin liegen sowohl Herausforderungen als auch Chancen einer empirischen Publikumsbeforschung mithilfe von Befragungen. Mehr noch als bei der Analyse auditiver Aufführungserlebnisse kann einer Suche nach »dem Werk« oder »dem Publikum« entgegen gewirkt werden,
Entertainments geraten: Das künstlerische Selbstverständnis der Kompanie besteht gerade im Gestus der Forschung und des Experiments. Eine zweite forschende Stimme, die explizit auf Zuschauer zuträte, würde in dieses künstlerische Selbstverständnis intervenieren, würde das ästhetische Erlebnis, das die Gruppe ihrem Publikum ermöglichen möchte, eventuell sogar (zer-)stören.« (Husel 2014: 249) 17 Zum Konzept der »Übersetzung« siehe Klein 2014 sowie den Beitrag von Gabriele Klein in diesem Buch.
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indem diese Sicht beständig unterlaufen und in Frage gestellt wird. Im Falle von Masurca Fogo unterliegt schon der Gegenstand der Befragungen, die »ReKonstruktion«18 eines Repertoirestückes, das erst nach dem Tod der Choreografin Pina Bausch im Jahr 2009 erneut einstudiert wurde, mannigfaltigen Übersetzungsprozessen. In der tanz- und theaterwissenschaftlichen Forschung werden diese Prozesse bisher vor allem vor dem theoretischen Hintergrund von Archivierungsstrategien, der Übermittlung von körperlich-implizitem Wissen und der damit verbundenen Frage linearer beziehungsweise nicht-linearer Geschichtsschreibung thematisiert (Backoefer u.a. 2009; Brinkmann 2013; Haitzinger/ Jeschke 2011; Schulze 2010; Thurner/Wehren 2010; 2016). Die Erforschung des Publikums fällt aus diesem Blick meist heraus, da oftmals ein historiographischer oder philosophisch-theoretischer Zugang gewählt und durch eine phänomenologische Perspektive ergänzt wird.19 Die nachfolgenden Überlegungen sollen im Anschluss an dieses Desiderat erste Impulse für eine praxeologische Publikumsforschung liefern.
W IE DAS P UBLIKUM VOR DER AUFFÜHRUNG T ANZTHEATER W UPPERTAL SPRICHT
ÜBER DAS
Wenn die Zuschauer*innen als konstituierender Teil der Aufführung und als »emanzipierter Zuschauer« (Rancière 2009) ernst genommen werden, dann wird durch sie nicht nur die Aufführung erschaffen, sie können diese auch verändern und werden von ihr verändert. Beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, das in seinem mehr als 40-jährigen Bestehen eine Vielzahl von Zuschauer*innen »gebildet« hat, zeigt sich die Veränderung des Publikums (und in der ko-existenten Verbindung zwischen Publikum und Aufführung auch die Veränderung der Aufführungspraxis) besonders deutlich. Die Publikumsbefragungen spiegeln somit
18 Zum Begriff der »Re-Konstruktion«: Die Schreibweise, die durch den Bindestrich explizit die Wortsilbe »Konstruktion« hervorhebt, betont den (immer) subjektiven, konstruktivistischen Umgang mit der Vergangenheit. Ich beziehe mich hierbei auf verschiedene Aufsätze zu diesem Thema von Nicole Haitzinger und Claudia Jeschke: siehe u.a. Haitzinger 2010 oder Jeschke 2009. 19 Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Bettina Brandl-Risi, der die Affekte des Publikums aus historiographischer Perspektive beforscht und sich dabei auf die Aktion des Applauses als »Möglichkeit, diese emotionale, verkörperte Dimension des PublikumSeins zu sehen, auch von außen zu beobachten« konzentriert (Brandl-Risi 2015: 234).
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eine »Pina-Bausch-Bildung« wobei Bildung in zwei Richtungen verstanden werden kann: im Sinne eines gebildet sein/werden und zugleich als eine Festschreibung bestimmter Erwartungshaltungen: Rund 70% der Befragten haben bereits ein Bausch Stück gesehen.20 Auf die Frage, was sie besonders am Tanztheater Wuppertal interessiere, fallen vermehrt Stichworte, die den Diskurs über das Tanztheater Wuppertal (und dessen Re-Aktualisierung durch Kritiker*innen) seit Jahren bestimmen: Es gehe um »Liebe«, »zwischenmenschliche Beziehungen«, »die Menschlichkeit« oder einfach »das Mensch-Sein«. Auch die (wenigen) Leute, die selbst noch kein Stück gesehen haben, reproduzieren diesen Diskurs in ihrer Wortwahl: »((em)) Gar nich’ viel. Ich weiß nur, dass es im Stück über die Beziehung zwischen Mann und Frau oder das Zwischenmenschliche zwischen Mann und Frau geht.« (Auszug Publikumsbefragung) Zugleich entziehen sich viele der Befragten einer konkreten Erwartungshaltung: Die Mehrzahl der Zuschauer*innen geben auf die Frage nach ihrer Erwartungshaltung an, dass sie sich »nichts« vorstellen sondern sich stattdessen »open minded« in die Aufführung begeben möchten: »((em)) Ich gehe, glaub’ ich, ohne Erwartung in das Stück, aber ich hoffe mal, dass mich das ’n bisschen flashen wird.« »Ich lass mich einfach überraschen. Also ja, ich erwart’ mir nicht viel. Oder wie so- Ja. Kann ich jetzt gar nicht sagen.« (Ebd.) Daran lässt sich ablesen, dass die Konventionen der Zuschauer*innenerwartung in der Praxis immer wieder unterlaufen werden, durch Strategien wie beispielsweise sich bewusst »ohne Vorwissen« in die Aufführung zu begeben. Dabei ist festzuhalten, dass Bausch selbst in ihren Interviews immer wieder auf die Eigenleistung des Publikums hingewiesen hat und das Tanztheater Wuppertal eine Offenheit in der Wahrnehmung fördert, wenn das Programmheft beispielsweise nur aus Bildern und Fotos statt aus »erklärenden« oder assoziativen (und damit trotzdem richtungsweisenden) Texten besteht.21 Somit wird die Vermeidung einer Erwartungshaltung, das »sich-freimachen« von Vorstellungen – die das Vorgestellte mit einer Sicht verstellen –, selbst zu einem Teil des Diskurses und damit zu einer Zuschauer*innenpraktik, die diesen reproduziert.
20 Am 26.03. gaben 99 von insgesamt 139 Befragten (71%) an bereits ein Pina Bausch Stück gesehen zu haben, davon 29 Befragte (21%) auch Masurca Fogo nicht zum ersten Mal. Am 27.02. waren es 121 von insgesamt 158 Befragten (77%), die bereits ein Pina Bausch Stück gesehen hatten und 33 (21%) die auch Masurca Fogo schon gesehen hatten. 21 Außer in den frühen Programmheften, in denen noch Raimund Hoghe als Dramaturg mitgewirkt hat (zum Beispiel Viktor von 1986).
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Ein zweiter Blick auf die empirischen Daten verdeutlicht, dass die Zuschauer*innenhaltung auch auf anderer Ebene »erwartbar« wird: Viele der Befragten gaben an, dass sie sich wünschen von den Stücken des Tanztheater Wuppertals »immer wieder überrascht zu werden«; prägnante Wortfelder22, die sich in den Fragen nach Erwartungen an den Abend »durch-setzten« (Mersch 2013), sind die der »Überraschungen«, der »Spannung« und der »Vielfalt/Vielfältigkeit«. Selbst das »Überraschende« wird also erwartet und somit zu einem gesetzten Rahmen/einer Erwartungshaltung: die Instabilität der Praxis wird so zu einem Wahrnehmungsmuster. Hier zeigt sich deutlich die zuvor erwähnte Verwobenheit von Praktiken und Praxis, von dem Wechselspiel aus Aufführung, Vorwissen und ästhetischer Erfahrung in den Wahrnehmungspraktiken des Publikums. Die Zuschauer*innen haben eine Vorstellung davon, was »typisch Pina Bausch« ist – sie entwerfen eine ästhetische Identität des Tanztheater Wuppertals und gleichen diese stetig mit dem Gesehenen ab. Zugleich wirkt die Praxis nicht nur stabilisierend, sondern kann durch negative (»Das Stück war nicht so überraschend wie erwartet«) wie positive (»Das Stück hat mich durch Unerwartetes überrascht – obwohl ich darauf eingestellt war überrascht zu werden«) Enttäuschungen genauso unterlaufen werden.
W IE DAS P UBLIKUM NACH DER AUFFÜHRUNG ÜBER DAS T ANZTHEATER W UPPERTAL SPRICHT Das beschriebene Wechselspiel aus Vorwissen und ästhetischer Erfahrung soll nun von der anderen Seite geprüft werden, als Blick in die Reaktionen der Zuschauer*innen nach der Aufführung. Dafür werden zunächst die Antworten auf die erste Frage der Publikumsbefragung, also die Frage nach den »Eindrücken in drei Stichworten« betrachtet. Darin häufen sich emphatische Äußerungen die das Gesehene als »(wunder)schön«, »begeisternd«, »faszinierend«, »eindrucksvoll«, »phänomenal«, »toll«, »wunderbar«, »fantastisch« fassen. Die Emotionalität der Äußerungen kann als Hinweis auf die affizierende Wirkung des Tanztheater Wuppertals gesehen werden. Dabei ist es wichtig, die spezifische Situation zu beachten, in der sich das Publikum im Moment der Befragung unmittelbar nach der Aufführung befand: die Zuschauer*innen wurden regelrecht »abgefangen« und in ihrer wortwörtlichen »Befangenheit« abgepasst. In den Audioaufnahmen
22 Um die Vielzahl der Antworten zu ordnen, wurden sie für die Analyse in thematische »Wortfelder« nach verschiedenen Oberkategorien sortiert.
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hört man noch den anhaltenden Schlussapplaus der im Saal verbliebenden Zuschauer*innen. Die Befragten befinden sich somit auf der »Schwelle« der Theatersituation, mit Victor Turner im »liminalen Zwischenraum« (Turner 1998) zwischen ihrem kollektiven Bei-Sein als Teil des Publikums und ihrer individuellen Verarbeitung des Gesehenen auf dem Weg zur Garderobe. Die Aussagen der Befragten spiegeln diesen Zustand. Nicht nur die Vielzahl der emotionalen Adjektive, auch die Relativierungen der eigenen Aussagen lassen darauf schließen, dass die Zuschauer*innen sich noch nicht im Prozess der Verarbeitung befanden. Mitunter sehen sie sich nicht in der Lage, eine Aussage machen zu können oder bitten beistehende Begleiter*innen für sie »einzuspringen«: »Jm: Ja, sag’ doch mal. Mf: Nee, du wolltest antworten. Jm: Wieso? Also ((lachen)) – Sehr ästhetisch, stimmungsvoll und ja einfach schön. Das sind drei Wörter.« (Auszug Publikumsbefragung)
Die Art und Weise, mit der einige Zuschauer*innen versuchen sich einer Antwort zu entziehen oder ihre Antworten zu relativieren, deutet auf die (Übersetzungs-)Schwierigkeiten hin, die, wie schon erwähnt, als Reflexion kontinuierlich in die Forschungspraxis einfließen muss. Die Zuschauer*innen sind »sprachlos« und in ihrer Sprachlosigkeit zeigt sich die Schwierigkeit der Übersetzung ästhetischer Erlebnisse. Davon zeugen ebenso viele »Ähms«, Pausen, Stolpern, »Aufstöhnen«, im Satz abgebrochene Antworten, Verweigerungen oder das Zurückgreifen auf Adjektive, die die »überwältigende« Wirkung des gerade Gesehenen versuchen einzufangen: »((em)) Mein Eindruck is’, ich bin überwältigt, tolle Leistung von den Tänzern und ((em)) wie gesagt, wunder-, wunderschön.« (Ebd.) Es zeigt sich, dass viele der Zuschauer*innen versuchen ihren ersten Eindruck mit »großen Worten« zu fassen; sie benutzen Begriffe, die versuchen etwas auszudrücken, dass »un-ausdrückbar« bleibt, wie »unbeschreiblich«, »unglaublich«, »überwältigend«, »überragend« oder »großartig« und die in einer Umschreibung oder Beschreibung die Affektfülle der eigenen Ergriffenheit umkreisen.23
23 Elisabeth Leopold hat in ihrer Masterarbeit, die im Rahmen des Forschungsprojektes »Gesten des Tanzes. Tanz als Geste« verfasst wurde, anhand der Auswertung von Befragungen nach der Aufführung Rough Cut (2005) die Komplexität der verschiedenen Übersetzungsprozesse innerhalb der Publikumswahrnehmung untersucht: »Wie kann man nun auf Begriffe zu sprechen kommen, die etwas inszenieren ohne sich unterwer-
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Gleichzeitig spiegelt das »Affiziert-sein« des Publikums einen Diskurs um das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, das laut Gabriele Brandstetter als »Chronik der Gefühle« (2015: 258) in die Tanzgeschichtsschreibung eingegangen ist. Die Ergriffenheit des Publikums, die sich in den Antworten der Publikumsbefragungen zeigt, ist also Teil eines Diskurses, der seit langem die Rezeptionsgeschichte des Tanztheater Wuppertals bestimmt und (er)schreibt.24
fen zu wollen, die eine metaphorische Öffnung über sich selbst heraus aufmachen, die versuchen sich über das Sprachliche selbst hinauszuheben? Vielleicht mit dem Begriff des Werdens im Schreiben bei Gilles Deleuze, um es danach in Verbindung des Sprechens zu sehen.[…] Um sich hier mutig den Begriff zu nutzen zu machen, zuallererst für eine Vorstellung des Unwahrnehmbar-Werdens, sind Zuschreibungen wie unbeschreiblich (4.2./3/20/w), unglaublich, (3.2./3/22/w) fantastisch, (vgl. 3.2./2/16/w) unbelievable, überwältigend (vgl. 3.2./4/26/w & 3.2./3/23/w), kolossal (4.2./2/11/w), fulminant (4.2./1/3/w) und grandios (4.2./10/33/w) als Beispiele vorgesehen. Sie enthalten Spuren von Unübersetzbarkeiten und können trotzdem als im Entstehen begriffen werden.[…] Im Werden findet sich demnach auch die Potentialität der Unabgeschlossenheit der Übersetzung.« (Leopold 2014: 66) 24 Der Begriff des »Erschreibens« ist hier gewählt, um die aktive Rolle der Berichterstattung über das Tanztheater Wuppertal für die Wahrnehmungspraxis der Zuschauer*innen zu betonen. Das Wissen, dass die Kritiker*innenstimmen mittlerweile seit vielen Jahren über das Tanztheater Wuppertal produzieren, beeinflusst das Vorwissen des Publikums und »erschreibt« Erwartungshaltungen, die sich in den Publikumsbefragungen vor und nach den Aufführungen wiederfinden lassen. Zugleich unterliegen auch die Kritiker*innen selbst in ihrer Schreibpraxis einer selektiven, von Diskurstraditionen bestimmten Wahrnehmungspraxis – insbesondere wenn sich ihr Schreiben auf den Gegenstand »Bewegung« als per se übersetztes Phänomen bezieht. Siehe dazu auch Christina Thurner: »Wahrnehmung, sowie die Art und Weise der Vermittlung sind jedoch wesentlich geprägt von der Diskurstradition, also von der spezifischen BeSchreibung von Bewegung beziehungsweise von der Er-Schreibung der Wirkung von künstlerischer Wirkung im Tanz. Es ist meines Erachtens ein Mythos zu glauben, dass Bewegung auf der Bühne direkt, ganz unmittelbar zu rezipieren, aufzuschreiben und zu vermitteln ist. Wir nehmen vielmehr wahr, wofür wir das Instrumentarium zum Wahrnehmen haben. Und dieses Instrumentarium liefert uns – wohlbemerkt nicht nur aber zu einem entscheidenden Teil – der Diskurs. Tanz be-schreiben (im Feuilleton oder auch in der Wissenschaft) ist also nicht, wie oft angenommen, eine rein parasitäre Angelegenheit, sondern ein Akt, der aus dem gesamten Prozess der Wahrnehmung nicht (mehr) herauszulösen ist und der zurück- und weiterwirkt.« (Thurner 2015: 61).
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Das Publikum rückt somit in eine Position zwischen der individuellen ästhetischen Erfahrung und einer kollektiven Haltung des »Betroffen-Seins«, oder besser – mit Blick auf die Publikumsbefragungen – in einen Zustand des »Betroffen-Sprechens«, denn die Betroffenheit zeigt sich erst in der sprachlichen Übersetzung, die in ihrer Nachträglichkeit nur eine Übersetzung der ästhetischen Erfahrung bleiben kann.25 Die Zuschauer*innen werden »von etwas« getroffen und übersetzen dieses »Getroffen-Werden« in einen Betroffenheits-Diskurs, der wiewohl individuell als authentisch erfahren, immer auch kulturell modelliert ist (Brandstetter 2015: 259). Zugleich weist die Verweigerung, das Nicht-Sprechen können oder Nicht-Sprechen wollen, beziehungsweise der Rückgriff auf das vom Diskurs bereitgestellte Vokabular, auf potenzielle Bruchstellen im Übersetzungsprozess hin. Dort wo sich die »überwältigende« Wirkung in eine Überforderung übersetzt, quasi an den Rändern der eigenen Sprachfähigkeit, zeigt sich der ästhetische Rest der Übersetzung, das »Unübersetzbare« der ästhetischen Erfahrung, dass nur individuell und subjektiv bleiben kann und hinter den kulturellen Prägungen und kollektiven Erfahrungswissen zurück bleibt. Oder, wie sich aus praxistheoretischer Perspektive formulieren ließe: die individuellen Erfahrungen der einzelnen Zuschauer*innen spiegeln sich in der Emotionalität ihrer Aussagen, wiewohl diese Aussagen zugleich von einer gemeinsamen Haltung des »Betroffen-Seins« zeugen, die die jeweiligen Subjektpositionen in ihrer Wahrnehmungspraxis beeinflusst. Die »Sprachlosigkeit« der Zuschauer*innen zeigt sich dabei nicht nur in den formulierten ersten Eindrücken. Auch bei der zweiten Frage, die nach den Erinnerungen an das konkrete Stück Masurca Fogo fragt (»Was glauben Sie, woran Sie sich später noch erinnern werden?«) fällt ein Großteil der Antworten allgemein aus: Die Größe des Werkes, der Umfang der emotionalen Ergriffenheit schlägt sich hier ebenfalls auf die Antworten nieder und führt dazu, dass viele der Befragten der konkreten Aussage ausweichen:
25 Der Zusammenhang zwischen »ästhetischer Erfahrung« (Waldenfels 2002) und deren Übersetzung in die Zuschauerwahrnehmung wurde im Forschungsprojekt im Kontext der Analyse der Publikumsbefragung ausgearbeitet und gemeinsam mit Elisabeth Leopold im Vortrag »›Betroffenheit Sprechen‹. Wie das Publikum über die Stücke von Pina Bausch spricht« bei dem Symposium »›Das hat nicht aufgehört, mein Tanzen.‹ Zu Aspekten von Rezeption und Tradierung in der Arbeit von Pina Bausch«, am 09.04.2016 in München präsentiert.
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»((em)) Eigentlich an alles. An das Gesamte.« »((em)) Schwer zu sagen, (--)Viel an die Musik, weil die fand ich ganz toll dieses Mal. Ja, eher so diesen Gesamteindruck, den das hinterlassen hat.« »((em)) You mean like an image from the performance. I mean everything will stay in my memory, I think. I don’t know if anyth- anything special. I don’t know.« (Auszug Publikumsbefragung)
Daneben gibt es einige Szenen, die wie Blitzlichter in der Erinnerung auftauchen, Bilder, in denen sich »etwas« vom gesamten Abend zeigt, das erinnerungswürdig erscheint und sich in die Erinnerung übersetzt. Anhand der folgenden Szenenbeschreibung 26 durch Kritiker*innen wird der Übersetzungsprozess eines szenischen Ablaufes beispielhaft nachvollzogen: »Sieben Männer liegen rücklings auf dem Boden und reichen mit gestreckten Armen eine aufstöhnende Dame im Abendkleid durch das Horizontalspalier, während der achte mit dem Mikrophon die deutliche Übertragung des Originaltons sichert.«27 (Stoll 1998) Diese Szene zeigt sich nicht nur in den Kritiken über Masurca Fogo als beliebter Aufhänger der Artikel, sie ist auch in den Publikumsbefragungen dominant. Betrachtet man nun die anderen Szenen, die von den Zuschauer*innen erinnert werden, zeigt sich, dass sich der dramaturgische Ablauf und Aufbau des Stücks in die Publikumswahrnehmungen »einschreibt«: Die »Mikrophon-Szene« ist die Eröffnungsszene von Masurca Fogo. Zusätzlich wird vor allem die »Wasserrutsche«28 – eine Szene direkt vor der Pause – und die »Blumenprojektion«29
26 Im Folgenden werden keine eigenen Szenenbeschreibungen dargelegt, da eine solche Beschreibung ebenso eine Interpretation des Gesehenen wäre. Stattdessen werden die angeführten Szenenbeispiele mit Kritiker*innenstimmen illustriert, um so den Konstruktionscharakter der Beschreibungen zu betonen. 27 Als alternative Beschreibung dieser Szene wird hier noch eine zweite Kritikerstimme angefügt: »Ruth Amarante im Abendkleid stöhnt in ein Mikrophon und läßt sich dann von auf den Rücken liegenden Tänzern über die Bühne heben.« (Scurla 1999) 28 Szenenbeschreibungen der »Wasserrutschen-Szene«: (a) »In einer mit Wasser gefüllten Plastikfolie schliddern die Tänzer einher und evozieren Momente kindlicher Unschuld vor der Erkenntnis.« (Fischer 1998), (b) »Wenn sich etwa zwei Paare in Wasserpfützen tummeln, die sie zuvor selbst mit Eimern in eine Plastikplane gegossen haben, sind Spaß, Ulk und Absurdität eine köstliche Mischung eingegangen.« (Hennecke 1998) 29 Szenenbeschreibungen der »Blumenprojektion«: (a) »Aber noch kommt das ›Stück‹ nicht zum Schluß. Ein weiteres Mal walzen die zwanzig Solisten in einer Schlangenli-
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ganz am Ende des Stücks vom Publikum im Gedächtnis behalten. Daneben werden von den Zuschauer*innen vermehrt Szenen erinnert, die gerade nicht die erwartbaren – weil dramaturgisch als wichtig »markierte« – Momente der Aufführung hervorheben. An einer Stelle im Stück betritt ein (lebendes) Huhn die Bühne, ein »klassisch« performativer Augenblick also – mit Martin Seel (2003) gesprochen ein »Ereignis«, das den Zuschauer*innen als unerwarteter (weil unberechenbarer) Ausgang einer Situation »widerfährt«: Fliegt das Huhn ins Publikum? Kann es rechtzeitig von der Tänzerin wieder eingefangen und hinter die Bühne gebracht werden? Das Aufführungserlebnis wird durch diesen »Realitätseinbruch«, durch die Überschreitung der Grenze zwischen Publikumsraum und Bühne, unterbrochen. Das Publikum wird durch dieses »Widerfahrnis« (Waldenfels 2002: 9) auf sich zurückgeworfen und erinnert diesen Moment daher möglicherweise präzisier als andere Momente, die in der Aufeinanderfolge der szenisch verschachtelten Abläufe untergehen. An diesem Befund lässt sich der praxeologische Ansatz erneut verdeutlichen, denn hier zeigt sich eine Inszenierungspraxis mit »Überraschungs-Effekt«, die das immer wieder andere Aufführungserlebnis aller Zuschauer*innen par Excellence vorführt: Eine Person in der ersten Reihe, die dem aufgeschreckten Huhn sehr nahe gekommen ist, hat die Aufführung anders erlebt als eine Zuschauer*in aus dem ersten Rang, die diese Situation »von oben« und mit Distanz zum Geschehen beurteilen konnte. Eine erfahrene, durch Bauschs Stücke gebildete Zuschauer*in denkt in diesem Moment vielleicht an ein anderes Stück, in dem eine ähnliche Inszenierungspraxis eingesetzt wurde und gleicht beide Stücke in ihrer Wahrnehmungspraxis miteinander ab. Diese Zuschauer*in hat den Überraschungsmoment vielleicht schon erwartet, weil sie weiß, dass in Bausch-Stücken die Grenze zwischen Bühnenund Publikumsraum oftmals überschritten wird. Vielleicht hat sie die Aufführung am Abend vorher ebenfalls besucht und ist überrascht, dass sie dieses Mal nicht überrascht wird. Vielleicht lacht jemand neben ihr laut auf, wenn das Huhn die Bühne betritt und dieses Lachen führt dazu, dass sie ebenfalls lachen muss. Vielleicht hat sie sich zuvor gelangweilt und wird in diesem Moment wieder auf
nie über die Szene, bevor sie sich, auf den Boden niederlassend, in aller Stille paaren. Und während sich das Theater langsam eindunkelt, keimt auf der Bühne neues Leben. Es knospt die Blume. Und im Zeitraffer eines Films öffnet sich, von vereinzelten Gitarrentönen untermalt, Blüte um Blüte.« (Regitz 1998), (b) »Wie die Wellen, die Sonne und die Blüten, die sich in Großaufnahme im Zeitraffer explodierend öffnen, eine nach der anderen, über den vereinten Tänzerpaaren am Fuße des Felsens – am Ende des neuen Stücks von Pina Bausch.« (Blankemeyer 1998)
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das Bühnengeschehen aufmerksam, nachdem sie zuvor in ihre eigenen Gedanken versunken war. Das kleine Gedankenexperiment veranschaulicht inwiefern die Wahrnehmungspraxis von vielen verschiedenen Faktoren abhängt, die sich innerhalb der kollektiven Publikumspraxis als subjektiv beeinflussbar und dadurch veränderbar konstituiert.30
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Wie der Dialog mit dem empirischen Material aufzeigen konnte, werden die Zuschauenden nicht nur zur Bedingung, sondern zu einer einflussreichen Komponente der Aufführungssituation, die durch einen praxeologischen Blick auf die Wahrnehmungspraxis und Praktiken der Zuschauer*innen als veränderbar erhalten und denkbar bleibt. Die Analyse der Zuschauer*innenbefragungen vor und nach der Aufführung von Masurca Fogo sowie das Hinzuziehen des Stückablaufes und die Kontextualisierung durch den Diskurs um das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, konnte dahingehend einige Anregungen liefern. Im Vergleich mit dem dramaturgischen Ablauf des Stückes zeigte sich, dass das Publikum sich sowohl erwartbare wie unerwartete Aufführungsmomente einprägt. Dieser Befund lässt an die zuvor aufgestellte These anknüpfen, dass die Zuschauer*innen in ihrer Erwartungshaltung durch die Praxis des Inszenierens von Unerwartbarem beeinflusst werden und ihre Wahrnehmungspraxis sich in einer iterativen Wahrnehmungsschleife kontinuierlich fortschreibt und verändert. Gleichzeitig wird dieses Unerwartbare selbst zu einem Wahrnehmungsmuster, wie die Zuschauerbefragungen vor der Aufführung veranschaulichen konnten.
30 Roselt spricht in diesem Zusammenhang von »Zwischenereignissen«: »Das Geschehen, das sich zwischen Bühne und Publikum vollzieht, ist weder ausschließlich subjektiv noch ausschließlich objektiv. Erfahrungen sind insofern subjektiv, als es jemanden geben muss, der sie macht. Sie fliegen nicht ungebunden durch den Raum, sondern sind an denjenigen gebunden, der etwas erfährt. Doch mit diesem Etwas ist auch eine objektive Seite angesprochen. Denn Erfahrungen sind nicht ausschließlich subjektiv, das sie stets auf das bezogen sind, was den Erfahrenden angeht. Erfahrungen sind also Zwischenereignisse, die sich weder als Vorgänge im solipistischen Kraftwerk eines Zuschauers noch als objektive Begebenheit auf der Bühne hinreichend beschreiben lassen.« (Roselt 2004: 48)
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Die Subjektpositionen der Zuschauer*innen beeinflussen ihre individuelle Praxis des Zuschauens und zugleich werden diese durch die gemeinsame Praxis des Zuschauens als Subjekte hervorgebracht. Methodisch konnte herausgestellt werden, dass die Praxis des Übersetzens – also der stetige Aushandlungsprozess, die Forscher*innen selbst zu Übersetzer*innen werden lässt und der das Fragen nach dem Wie der Übersetzung einbezieht, für die Komplexität des Gegenstands »Publikumsforschung« zielführend eingesetzt werden kann. Somit kann der Einblick in und der Umgang mit den Publikumsbefragungen als ein praxeologischer Beitrag im wachsenden Diskurs um die Zuschauer*innenschaft sowie dessen Erforschung mithilfe empirischer Untersuchungen gesehen werden. Die »Arbeit des Zuschauers« (Brandl-Risi 2015: 244) wird somit erweitert zu einer Arbeit mit den Zuschauenden. In diesem Sinne lässt sie sich fortsetzen, um diese noch mehr zu »emanzipieren« (Rancière 2010), als es der Diskurs bisher zulässt.
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Die Praxis der Performance zwischen Strategie und Emergenz. Das Beispiel T.E.R.R.Y. K ATHARINA K ELTER
In einem Halbkreis stehen 15 Stative im Bühnenraum verteilt. An einer Querstrebe am oberen Ende der Stative sind je zwei Lichtröhren parallel zueinander befestigt, die vertikal zur Decke ragen. Die Lichtröhren sind die einzige Lichtquelle im Raum und leuchten in einem lila-bläulichen Licht. Die Lampen sind nicht immer gleichzeitig an, sondern wechseln sich ab, gehen mal schnell nacheinander an, so dass eine Art Lichtwelle beziehungsweise ein Lichtkreis entsteht. Mal leuchten alle Lampen gleichzeitig mit voller Kraft, mal sind nur wenige Lichter eingeschaltet, leicht gedimmt. In der Mitte des Halbkreises sind sechs kleine Holzwagen zu sehen, die sich langsam auf drei Rädern durch den Innenraum bewegen. Auf dem Fahrgestell der Wagen sind Glasvitrinen montiert, in denen sich Pflanzen befinden: kleine Gewächshäuser auf Rädern. Die Wagen drehen sich um die eigene Achse, wenden sich dem Licht zu, ändern die Fahrtrichtung in Abhängigkeit von den Bewegungen der Lichter. Bei ihrer Fahrt zum Licht stoßen die Wagen gegeneinander, stellen sich einander in den Weg, konkurrieren um den besten Platz am Licht. Ein kleiner Junge betritt mit einer Taschenlampe in der Hand den Raum und geht langsam zu einem Plattenspieler, der vorne am Bühnenrand platziert ist. Der Junge setzt sich neben das Musikgerät auf den Boden, beginnt die Schallplatte zu untersuchen, bis er sie schließlich umdreht und die Nadel auf die Platte senkt. Musik ertönt. Der Junge geht mit seiner Taschenlampe hinein in die inzwischen dunkle Lichtinstallation und beginnt diese ebenfalls zu untersuchen. Nach einer Weile fängt er an, die Lichtstative zu bewegen: Er verschiebt die Streben, nimmt Leuchtröhren von den Stativen und setzt sie wieder neu zusammen. Er beginnt die kleinen Wagen mit den Glasvitrinen zu verrücken, schiebt sie aus dem Weg, von der einen zur anderen
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Seite. Die Lichter gehen wieder an, setzen ihre Bewegungen von zuvor fort. Zwei weitere Kinder betreten den Bühnenraum. Auch sie beginnen den Raum, die Lichter und die Wagen mit Taschenlampen zu untersuchen. Schließlich fangen die Kinder, an die Wagen zu bewegen, sie gegeneinander zu schieben, wie im Spiel. Sie beginnen, die Lichtstative zu verstellen, sie neu zu gruppieren, sich kleine Hütten oder Höhlen zu bauen, in die sie sich setzen können. Einer der Jungen »klaut« einem anderen Kind eine Lichtröhre. Es beginnt ein Wettstreit um Licht, bei dem jedes Kind versucht, so viele Lichtröhren wie möglich von den anderen zu stehlen. Nach einer Weile beginnen sie Fangen zu spielen: Sie laufen durch die ungeordneten Stative und Wagen hindurch, verstecken sich vor den anderen in ihren Lichthöhlen. Am Ende der Performance ist der kleine Junge wieder alleine im Raum und untersucht mit seiner Taschenlampe erneut die Leuchtröhren und Wagen. In einem der Wagen blinkt ein Licht auf. Der Junge antwortet mit seiner Taschenlampe auf diesen Impuls, leuchtet das Licht an, wartet auf eine Lichtantwort, reagiert erneut. Die beiden Lichter scheinen miteinander zu kommunizieren. Als das Licht des kleinen Wagens nicht mehr auf das Lichtsignal seiner Taschenlampe reagiert, verlässt der Junge den Raum. Es ist dunkel, die Lichter und auch die Wagen bewegen sich nicht mehr, die Musik ist verstummt, nur noch das leise Knistern der Schallplatte ist zu hören. Die Performance T.E.R.R.Y. (2013) ist die Konklusion eines dreiteiligen Projekts der italienischen Performancegruppe Pathosformel. 1 In unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Experimenten untersucht das Projekt verschiedene Formen von Konkurrenz und Wettkampf. T.E.R.R.Y.#1 kreiert ein konkurrierendes Lichtsystem in Form einer Lichtinstallation vor dem Hintergrund der Entwicklung und Verteilung von Elektrizität. T.E.R.R.Y.#2 untersucht miteinander konkurrierende Pflanzen. In einem kleinen botanischen Garten – »a hyper competitive garden – or maybe simply a new capitalistic garden« (Pathosformel 2013) – werden Pflanzen angepflanzt, die mit- beziehungsweise gegeneinander um Nährstoffe und Licht kämpfen. Ihre uneingeschränkten Bewegungen werden über mehrere Monate hinweg beobachtet. T.E.R.R.Y.#3 widmet sich schließlich der Konkurrenz in sozialen Situationen. In mehreren Workshops mit Kindern werden ausgehend von konkurrenzbasierten Kinderspielen wie The Chair Game
1
Die Beschreibung von T.E.R.R.Y. und der Arbeit der Performancegruppe Pathosformel sind im Rahmen einer Projektbegleitung und meiner Forschungsarbeit im DFGGraduiertenkolleg Materialität und Produktion (GRK 1678) von Januar bis August 2013 entstanden. Meine Begleitung hat sich dabei vor allem auf die Arbeitsphasen zur Entwicklung der Performance konzentriert.
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gemeinsam neue Spiele mit neuen Regeln imaginiert. So wird spielerisch der Frage nachgegangen, was wir bereit sind zu tun, um zu gewinnen und wie eine Alternative zu herrschenden Konkurrenzsystemen aussehen könnte. Diese drei Experimente bilden die Grundlage der Performance T.E.R.R.Y., in der ausgehend von unbelebten und pflanzlichen Objekten die vielfältigen Praktiken zwischen Konkurrenz und funktionierender Kooperation nachgezeichnet werden. Am Beispiel von T.E.R.R.Y. thematisiert dieser Beitrag das produktive Zusammenspiel von Strategie und Emergenz im künstlerischen Produktionsprozess. Pathosformel arbeitet in mehrfacher Hinsicht strategisch mit Momenten der Emergenz. Nicht nur muss grundsätzlich im Zuge einer Performanceproduktion aufgrund der Ereignishaftigkeit und spezifischen Materialität der beteiligten Körper und Objekte mit Momenten der Emergenz, mit Ungeplantem und Unvorhersehbarem, gerechnet werden, sondern in T.E.R.R.Y. wird Emergenz bewusst zur Strategie für die Produktion der Performance. Die »Kontrolle« über den Ablauf der Performance wird minimiert und dem situativen Zusammenspiel der verschiedenen Akteure (Körper, Pflanzen, Licht, Wagen) überlassen. So wird die Wahrnehmung darauf gelenkt, was die Dinge tun – die Impulse, die etwa von den Lichtröhren ausgehen, werden zum Auslöser für das Tun der anderen Akteure. Damit wird hier nicht nur eine »Agentialität« (Barad 2012) menschlicher Akteure angenommen, sondern auch die der Dinge, womit an die interdisziplinär geführte Debatte um die Materialität und Agentialität der Dinge angeknüpft wird.2 Die folgenden Überlegungen richten ihr Augenmerk dabei auf die produktiven Wechselbeziehungen menschlicher wie nicht-menschlicher Akteure. Karen Barad gibt in diesem Zusammenhang mit ihrer Theorie des »Agentiellen Realismus« wichtige Impulse für eine medien- und kulturwissenschaftliche Analyse, indem sie nicht nur die Bedeutung von Materie und materiellen Körpern und die Aktivität und »Agentialität der Materie« betont, sondern darüber hinaus die Pro-
2
Die materielle Dimension von Kunst und Gesellschaft ist in den letzten Jahren vermehrt ins Zentrum sowohl kultur- und geisteswissenschaftlicher als auch sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt, wodurch unter anderem Fragen nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, Geist und Materie sowie Passivität und Aktivität neu verhandelt werden. Je nach theoretischem Ansatz wird dabei entweder die Macht der Dinge, die Herrschaft des Individuums beziehungsweise das Handeln sozialer Akteure oder deren Relationalität betont beziehungsweise als Ausgangspunkt der jeweiligen Betrachtungen gewählt (Kalthoff u.a. 2016: 15).
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zesse der Materialisierung und Wechselwirkung von menschlichen wie nichtmenschlichen Akteuren (Schmitz 2014: 283).3 Hierin wird ein Verständnis von Agentialität ersichtlich, das davon ausgeht, dass menschliche wie nichtmenschliche Akteure grundsätzlich Handlungsmacht haben, die sich in beziehungsweise als Praxis verwirklicht. Agentialität wird in diesem Sinne nicht als eine Eigenschaft verstanden, die »menschliche oder auch nicht-menschliche Entitäten besitzen [Hervorh. d. Verf.] können, sondern als ein Tun (doing), also als eine Tätigkeit, oder anders gesagt als eine wirkungsmächtige Praxis« (ebd.: 284). Mit Blick auf praxistheoretische Überlegungen wird hier also von einem Akteurverständnis ausgegangen, demzufolge auch Artefakte als Akteure 4 einer Praktik zu verstehen sind und Praxis somit immer mit Körpern und Artefakten verbunden ist. Wie sich deren jeweilige Agentialität zeigt, wie sie sich verteilt und welchen Spiel- beziehungsweise Handlungsraum sie erwirbt, entscheidet (und verändert) sich dabei über die Beziehungen, die Akteure je zueinander haben oder eingehen. Das, was die jeweiligen Akteure tun, wird so grundsätzlich als Reaktion auf und Resultat von Relationen verstanden. Damit wird hier die performative Dimension von Praxis in ihrer Materialität, Ereignishaftigkeit und Präsenz in den Vordergrund gerückt (Wieser 2004: 101). In T.E.R.R.Y. wird der Agentialität der Dinge ein großer Spielraum zugestanden. Es handelt sich hier somit nicht um eine Strategie im Sinne einer linearen Herstellung und Fokussierung auf ein klares Ziel oder auf den festgelegten Ablauf der Performance. Die Intention der (künstlerischen) Strategie richtet sich vielmehr auf ihr Gegenteil, auf das Nichtintentionale, auf das Unvorhersehbare,
3
Barads Forschungsarbeit ist an der Schnittstelle von Physik, Philosophie und Wissenschaftsforschung zu verorten und liefert einen wichtigen Beitrag für den feministischen Science- and Technology-Diskurs, aber auch für eine kritische Auseinandersetzung mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen und wird vermehrt in den Medien- und Kulturwissenschaften diskutiert (Schmitz 2014: 279).
4
Nicht alle praxeologischen Theorien sprechen den Dingen zwangsläufig eine agency zu und positionieren sich damit je unterschiedlich zu einer Bezeichnung von Dingen/Artefakten als Partizipanden, Akteure oder Aktanten. Bruno Latour spricht etwa von verschiedenen Akteurstypen und beschreibt im Rahmen seiner Akteur-NetzwerkTheorie Dinge als »vollgültige« Akteure (Latour 2010: 122ff.). Stefan Hirschauer nimmt im Gegensatz dazu eine partizipatorische Perspektive ein und versteht Artefakte nicht als Akteure, sondern als Partizipanden sozialer Prozesse und meint damit »alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind« (Hirschauer 2004: 75). Vgl. zu diesem Thema u.a. auch: Elias u.a. 2014.
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auf Momente der Emergenz. Oder anders gesagt: Die Strategie als Planungsinstrument richtet sich bei T.E.R.R.Y. weniger auf das Planbare als auf das Einplanbare – sprich: Im Planbaren wird mit Planungsentzug gerechnet – und erhält dadurch eine nicht-intentionale Qualität. Damit zielt die Strategie nicht auf ein Ziel außerhalb ihrer selbst, sondern auf den Vollzug, auf die Instabilität einer performativen Praxis. Diesem Gedanken möchte der Beitrag nachgehen und das Wechselverhältnis beziehungsweise Ineinandergreifen von Strategie und Emergenz im künstlerischen Produktionsprozess als eine andauernde Bewegung von Potentialität und Aktualität beschreiben, die sich erst im Moment des Vollzugs zeigt und beschreibbar wird. Es soll gezeigt werden, dass sich die Praxis der Performance aus einer Potentialität heraus und auf performative Weise realisiert und aktualisiert, was wiederum Gegenstand der (künstlerischen) Strategie ist beziehungsweise womit jede (künstlerische) Strategie umgehen muss. Durch die Fokussierung auf den Vollzug, auf die Praxis, soll das Zusammenspiel von Strategie und Emergenz als konstitutiver Teil performativer Prozesse beschrieben werden, mit dem Ziel, den Strategiebegriff für praxeologische Perspektiven fruchtbar zu machen. Damit wird ein Verständnis von Strategie in Anschlag gebracht, das diese nicht als abstrakten Plan begreift, sondern als Resultat eines Wechselspiels und damit als Praxis. In diesem Sinne nähert sich der Text dem Praxisbegriff aus einer Perspektive an, die vor allem die Vollzugsorientiertheit und Performativität der Praxis in den Mittelpunkt stellt. In einem ersten Teil stehen der Strategie-Begriff sowie emergente Momente der Strategie im Fokus, während anschließend die Perspektive umgedreht wird und der Begriff der Emergenz und seine strategischen Komponenten ins Zentrum rücken. Beide Begriffe finden in vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Verwendung und werden hier pointiert in Bezug auf den künstlerischen Produktionsprozess und die Aufführungssituation hin entwickelt. Im zweiten Teil werden Strategie und Emergenz über die Beschreibung sogenannter emergenter Strategien zusammengeführt und abschließend in Bezug auf die Performance T.E.R.R.Y. diskutiert.
S TRATEGIE
UND
E MERGENZ : B EGRIFFSBESTIMMUNGEN
Als zukunftsorientierter Handlungsplan dient die Strategie als eine Art Entwurf, als planerische Form, als Rahmung für das, was zukünftig realisiert werden soll beziehungsweise potentiell realisierbar ist (Skrandies 2008: 138, 140). Die Strategie setzt dabei möglichst alle relevanten Bedingungen einer möglichen Vorgehensweise und deren Variationsmöglichkeiten so zueinander in Beziehung, dass
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in einer bestimmten Folge von Handlungsschritten ein bestimmtes Ziel erreicht wird (Wohlrapp 1998: 262). In diesem Sinne kann eine Strategie zunächst als eine »genau geplante, rationale Vorgehensweise mit formulierten Absichten und Zwecken und dem definierten Ziel einer berechenbaren und schließlich vorteilhafteren (heißt: gewinnträchtigen oder machtvolleren) Situation« (Skrandies 2008: 137) verstanden werden. Strategien dienen damit der Rationalisierbarkeit und zielorientierten Perspektivierung unseres Denkens und Handelns (ebd.: 138f.). Strategisches Handeln spielt daher etwa im militärischen, politischen und unternehmerischen Bereich eine essentielle Rolle, wo das Kalkulieren und Einplanen von sowie das Vorbereiten auf mögliche zukünftige Ereignisse mitunter überlebenswichtig sein kann. 5 Die Strategie ist dabei ein zukunftsorientierter Entwurf dessen, was praktisch noch nicht realisiert ist: »Was Strategie ist, ist noch nicht Welt, was Welt als Wirklichkeit geworden ist, kann Strategie gewesen sein – oder gerade nicht, was die Unzulänglichkeit der Strategie bedeutete.« (ebd.: 140) Aufgabe der Strategie ist es, mit diesen »Unzulänglichkeiten« zu rechnen und zu planen beziehungsweise sie einzuplanen. Damit wird ersichtlich, dass Strategie weniger als ein starres, fixiertes Konzept zu verstehen ist, sondern durch das »Spiel« mit der Potentialität durch ein hohes Maß an Flexibilität gekennzeichnet ist (ebd.: 140). Der Strategie wohnt so immer auch ein Moment der Emergenz, des Unvorhersehbaren und des Unplanbaren, inne. Theoretisch könnte sich ein Handlungsplan zwar als solcher vollständig in die Tat umsetzen lassen, praktisch birgt jedoch jeder Plan immer die Möglichkeit des Scheiterns, des Nicht-Aufgehens und damit die Möglichkeit von Emergenz. Demnach wird der Strategie stets die Sicherheit des Zwecks und der Erreichung des Ziels »entwendet« (ebd.: 145). Vor allem der Ablauf einer Theater- und Tanzaufführung kann trotz detailliertem und umfassendem Ablaufplan nicht vollständig gesteuert, kontrolliert und vorhergesagt werden. Die Aufführung, so eine theaterwissenschaftliche Grundannahme, wird in ihrer Ereignishaftigkeit erst durch die leibliche KoPräsenz von (menschlichen und nicht-menschlichen) Akteuren und Zuschauern6 hervorgebracht. Ihr Verlauf ist also grundsätzlich nicht vollständig vorhersagbar, der Begriff der Aufführung impliziert folglich stets die Möglichkeit von Emer-
5
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der biopolitischen Debatte um die Bedingungen und Folgen der Steuerungen von Lebensprozessen spielt der Strategie-Begriff aktuell in allen Lebensbereichen eine wichtige Rolle.
6
Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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genz (Fischer-Lichte 2005: 87). Mit dieser Möglichkeit der Emergenz, dieser Potentialität, wird in der künstlerischen Produktion wiederum strategisch je unterschiedlich umgegangen: Man kann versuchen den Raum für Unvorhergesehenes so klein wie möglich zu halten, indem man sich so gut wie möglich auf alle Eventualitäten vorbereitet oder sich beispielsweise gegen die Verwendung von bestimmten Materialien entscheidet. Oder aber man bezieht die Möglichkeit der Emergenz bewusst in den strategischen Prozess mit ein und kann – wie im Falle von T.E.R.R.Y. – Momente der Emergenz forcieren. Im Anschluss an die philosophischen Evolutionstheorien von Conwy Lloyd Morgan und Samuel Alexander bezeichnet Emergenz die Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen. Das lateinische emergere meint »auftauchen«, »zum Vorschein kommen«, »sich zeigen« und beschreibt Erscheinungen, die vorher nicht gegeben waren und deren Auftauchen beziehungsweise die Art ihrer Erscheinung nicht vorhergesagt werden konnte. Eine neue Erscheinung wird in diesem Sinne nicht nur als eine Addition bestehender Elemente verstanden (Resultat), sondern (auch) als etwas qualitativ Neues, Aufsteigendes.7 Ursprünglich evolutionäre Phänomene bezeichnend hat der Begriff der Emergenz längst Einzug in die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung gehalten (Greve/Schnabel 2004: 7). So lässt sich in den Sozialwissenschaften mit Emergenz etwa das Auftreten von Unvorhergesehenem im menschlichen Handeln und Verhalten beschreiben, wodurch die Relevanz des Emergenz-Begriffs für praxistheoretische Überlegungen ersichtlich wird. 8 In kulturwissenschaftlichen Arbeiten tritt der Begriff seit den 1990er Jahren vermehrt im Kontext von PerformativitätsTheorien auf: Performative Prozesse beziehungsweise Ereignisse und Handlungen lassen sich nur zum Teil kontrollieren, da das Gestaltungspotential von Handlungen durch Unvorhergesehenes beeinflusst wird und diesem mit planendem Handeln nicht vollständig »Herr« zu werden ist (Fischer-Lichte 2005: 87). Damit können performative Prozesse ebensolche Merkmale und Qualitäten aufweisen, die auch bei der Beschreibung und Bestimmung von Emergenz im Vordergrund stehen (Fischer-Lichte 2012: 76). In diesem Sinne lässt sich Emergenz als Teil performativer Prozesse verstehen und damit als zentraler Aspekt der Performance-Analyse. Erika Fischer-Lichte betont, dass sich Emergenz vielleicht ohne einen Bezug auf Performativität erörtern ließe, das Konzept der Performativität
7
Zum Begriff der Emergenz vgl. ergänzend u.a.: Greve/Schnabel 2011. Vgl. darüber
8
Vgl. zur Auseinandersetzung mit Emergenz in den Sozialwissenschaften u.a. die Bei-
hinaus zum Innovationsgedanken auch Göttlich/Kurt 2012. träge des Kapitels »Emergenz und die Sozialwissenschaften« in Greve/Schnabel 2004.
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aber nicht ohne die Berücksichtigung von Emergenz gedacht werden könne (ebd.: 77).9 Im tanz- und theaterwissenschaftlichen Diskurs wird Emergenz vor allem für die Beschreibung und Analyse der Aufführungssituation, aber auch in Bezug auf verschiedene Arbeits- und Inszenierungsmethoden thematisiert. Fischer-Lichte beschreibt etwa für das postdramatische Theater den Einsatz verschiedener Varianten der Zuschauerpartizipation, die die Möglichkeit von Emergenz erhöhen und die es für den Zuschauer – und auch für die Akteure auf der Bühne – unmöglich machen, die jeweils auftauchenden Elemente vorherzusagen (FischerLichte 2005: 86). Die zeitgenössische choreografische Praxis lässt sich darüber hinaus noch grundsätzlicher als ein permanentes Aushandeln von beziehungsweise Umgehen mit unvorhersehbaren Phänomenen, als ein dynamischer Prozess zwischen Offenheit und Geschlossenheit, verstehen. Die Spannbreite ist dabei groß: So kann der Choreograf entweder alles »genau« vorherbestimmen, im Sinne eines instrumentellen Zugriffs, und damit die Wahrscheinlichkeit von Emergenz weitestgehend ausschließen. Oder aber choreografische Scores werden so eingesetzt, dass die Choreografie weitestgehend ungeplant bleibt. Es wird mit der Möglichkeit von Emergenz gespielt, wodurch Performer wie Zuschauer in die Situation des Improvisatorischen kommen. Dadurch wird der Fokus der Wahrnehmung auf die Präsenz der Akteure und Dinge gelegt und ein anderer Modus der Wahrnehmung von Aufführungen eingefordert (ebd.: 87): »Die Wahrnehmung einer kausalen Kette, einer psychologischen Entwicklung oder eines Handlungszusammenhangs wird [durch das Auftauchen eines emergierenden Elements, K.K.] jäh unterbrochen. Es entsteht eine Diskontinuität, ein Bruch.« (Ebd.: 86) Dieser Gedanke lässt sich an die interdisziplinär geführte Debatte zur Materialität und Agentialität der Dinge sowie deren Einfluss auf künstlerische Pro-
9
Mit diesen Überlegungen legt Fischer-Lichte einen wichtigen Grundstein für eine tanz- und theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Emergenz. Mit Blick auf die choreografische Praxis ist für den Tanz darüber hinaus festzuhalten, dass performative Prozesse zwar Merkmale von Emergenz aufweisen können, es aber nicht müssen. Die Materialisierung von Potentialität in Aktualität kann auch auf andere Weise geschehen. Die Möglichkeit von Emergenz ist abhängig davon, inwiefern choreografische Zugriffe, wie wir später am Beispiel von T.E.R.R.Y. noch genauer sehen werden, emergente Phänomene zulassen oder versuchen, sie zu reduzieren.
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duktion anknüpfen.10 Die Materialität von Kunst wird kunst- und kulturwissenschaftlich etwa in Bezug auf die »Eigenarten« des verwendeten Materials hin untersucht (u.a. Wagner 2001) sowie – und darauf kommt es hier an – hinsichtlich ihrer Funktion, Bedeutung und Dynamik für den künstlerischen Prozess und damit der »dem Material eigene[n] Produktivität« (Skrandies 2016: 15). In diesem Sinne ist hier nicht nur der Aspekt der »Widerständigkeit der Objektwelt« (Rübel 2009: 133) von Interesse, wie der Kunsthistoriker Dietmar Rübel betont, sondern vor allem die daraus resultierenden Handlungen, die Praxis der Akteure, sprich: das »Handeln« der Materie. Die materielle Verfasstheit von Dingen bildet eine Praxis »konkrete[r] Umgangsformen« aus, die zu »kreative[n] Widerlager[n]« (ebd.) werden. Hierdurch entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht von Dingen, Orten 11 und Personen und Dinge werden zum aktiven Teil des Handlungsprozesses (ebd.: 147). Die Agentialität der Dinge wird dabei nicht nur über eigensinnige, sondern darüber hinaus über eigenständige Artefakte als Akteure beziehungsweise Aktanten 12 bei der Generierung von Kunst diskutiert
10 Einen Überblick über interdisziplinäre »Materialforschungen« geben etwa Köhler u.a. 2013, Heibach/Rohde 2015 oder Skrandies 2016. Siehe darüber hinaus zum Verhältnis von Materialität und Produktion auch die Arbeiten des DFG-Graduiertenkollegs Materialität und Produktion (GRK 1678). Ziel des Graduiertenkollegs, in dessen Kontext sich der vorliegende Text positioniert, ist es, über die Gegenüberstellung von konstruktivistischen und materialistischen Untersuchungsansätzen hinaus zu gehen und die Relation und die Interaktion von Materialität und Produktion und die damit verbundene Prozesshaftigkeit in den Blick zu nehmen: www.grk1678.hhu.de (Zugriff 25.07.2016). 11 Praxeologische Raumanalysen gehen von einem Raumverständnis aus, »dem zufolge der Raum über ein spezifisches soziales Arrangement von menschlichen Körpern und Artefakten […] produziert wird« (Reckwitz 2014: 19). Raum ist damit nie nur ein starrer Hintergrund für Handlungen, sondern verändert sich durch Handlungen (Kotte 2005: 67). Ein Raum ist in diesem Sinne Resultat performativer Vorgänge. Dabei ist grundlegend zwischen Raum und Ort zu unterscheiden. Michel de Certeau beschreibt den Raum als »Geflecht von beweglichen Elementen«, als einen »Akt von Präsenz« und damit als »ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen« (de Certeau 2006: 345). So ist der »Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (ebd.). Vgl. zu Raumtheorien auch Dünne/Günzel 2006, Löw 2012. 12 Vgl. hierzu auch Fußnote 4. Mit Aktant beschreibt Latour den Vernetzungszusammenhang von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren (Latour 2006: 488).
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(ebd.: 138). Damit wird die Hierarchisierung und Trennung von Subjekt und Objekt aufgelöst und menschliche sowie nicht-menschliche Akteure werden in eine Handlungsbeziehung, in eine praxeologische Relation gemeinsamer Handlungen gesetzt. Praktiken lassen sich so nicht mehr nur auf ein Subjekt als Akteur – im Sinne eines Autors der Handlung, der über seine Praxis verfügt – zurückführen, sondern es handelt sich vielmehr um Ereignisse mit je unterschiedlichen »Arrangements« und »Zusammen-Stellungen«, »durch die allererst etwas hervortritt, das anders sich nicht zeigen lässt« (Mersch 2015: 12). Aus Sicht eines performativen Ansatzes zählen damit nicht mehr die Repräsentationsmöglichkeiten beziehungsweise Repräsentationsformen der Dinge, sondern »die Handlungsketten, die sie im Verbund mit anderen Akteuren auslösen oder in die sie involviert sein können« (Mohs 2014). Gefragt ist damit nach dem Moment des Handlungsvollzugs und dem Wie des Zusammenspiels der verschiedenen Akteure und deren Unvorhersehbarkeit. In diesem Zusammenhang kann insofern von einer »Performativität der Dinge« gesprochen werden, als dass sie in ihrem Gebrauch von dem handelnden Subjekt bestimmt werden und paradoxerweise zugleich das Subjekt in seinem Handeln bestimmen (Fischer-Lichte 2012: 168). Andreas Reckwitz sieht hierin das Potential des Begriffs der Praktik, den Handlungsbegriff sowohl zu kulturalisieren wie zu materialisieren: »Eine Praktik bezeichnet dann eine Verhaltensroutine, die von einem impliziten Wissen abhängt, die aber zugleich material in Körpern wie in Artefakten und in deren spezifischen Arrangement verankert ist.« (Reckwitz 2014: 23) Mit dieser Qualität wird etwa in einer tänzerischen Improvisation gespielt. Improvisation wird hierbei nicht nur als kreatives Mittel zum Choreografieren (in der Probe), sondern auch als Aufführungspraxis oder als analytisches Erforschen und Erweitern des Bewegungsmaterials verstanden (Lampert 2007: 9). »Improvisation steht für Offenheit eines Prozesses, für Unvorhersehbarkeit und für Kontingenz.« (Brandstetter 2010: 186) Ein Ziel von Improvisation kann es sein, ob nun im Rahmen des Probenprozesses oder während der Aufführung selbst, durch Destabilisierung auf »neue« und unvorhergesehene Bewegungen zu
Eine Praktik lässt sich in diesem Sinne als zusammengesetzt und auf mehrere Akteure verteilt verstehen. Als Beispiel hierfür nennt Latour etwa den Gebrauch von Schusswaffen (ebd.: 485ff.), was Matthias Wieser pointiert zusammenfasst: »Es ist nicht die Waffe, die den Menschen zum Mörder und auch nicht allein der Mensch, der die Waffe zum Tötungsinstrument macht. Handeln tut der […] Aktant ›Waffen-Bürger‹ oder ›Bürger-Waffe‹.« (Wieser 2004: 96)
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stoßen. Udo Göttlich und Ronald Kurt beschreiben Improvisation als »situatives Reagieren auf Nichtvorhergesehenes« (Göttlich/Kurt 2012: 9), worin sich Improvisation als ein Phänomen beziehungsweise als eine Praxis des Umgangs mit Emergenz zeigt. Der Handelnde lässt sich im Rahmen der Improvisation bewusst auf das Unvorhersehbare eines Ereignisses ein. Mit solch einer »Risikobereitschaft ist ein Konzept des Handelns verknüpft, das seine Kompetenz nicht auf das planerische Verfertigen eines (künstlerischen) Produkts richtet, sondern auf die ›extempore‹-Performance eines unwiederholbaren Prozesses« (Bormann u.a. 2010: 7). Improvisation als nicht vorhergesehen und unvermutet steht so in einem scheinbaren »Gegensatz zur Planung eines Verlaufs, seiner Kalkulation und der damit einhergehenden Kontrolle« (ebd.). Doch ebenso wie Momente der Emergenz der Strategie inhärent sind, so wohnt auch der Improvisation – als Phänomen/Praxis von Emergenz – ein strategisches Moment inne.13 Und, wie noch zu zeigen sein wird, Emergenz kann Strategie sein oder die Strategie kann darin bestehen, mit Emergenz zu rechnen – und zwar nicht verstanden als etwas »Störendes«, sondern als etwas Produktives. So agiert beispielsweise der Tänzer in der Improvisation nicht völlig planlos und unvorbereitet, sondern Improvisation arbeitet unter anderem mit verschiedenen (vorgegebenen) Strukturen und (Improvisations-)Techniken. Auch der Einsatz von Mitteln – wie die Zuschauerpartizipation – während der Aufführung ist nicht gänzlich ungeplant, sondern folgt einer künstlerischen Strategie. Im Vorfeld werden meist Regeln und Strukturen, sprich eine Strategie, ein Score, festgelegt, an denen sich die Improvisierenden orientieren, beispielsweise an Themen, Techniken oder zeitlichen Vorgaben.14 Ein offener Umgang mit instabilen Situationen ist dabei ein entscheidendes Element der Tanzimprovisation (Lampert 2007: 142). Durch Zufälle und »Fehler« stößt der Improvisierende immer wieder auf Unvorhergesehenes. Der Zufall15 wird provoziert und durch unterschiedliche Verfahren gelenkt. Die »Re-
13 Vgl. hierzu auch Bormann u.a., die es sich in ihrem 2010 erschienenen Sammelband unter anderem zum Ziel gemacht haben aufzuzeigen, »dass Improvisationen weder vollständig durch Regeln determiniert werden, noch gänzlich ohne Bezug auf Regeln oder Regelhaftigkeit denkbar sind« (Bormann u.a. 2010: 9). 14 Vgl. hierzu den Choreografischen Baukasten (Klein 2015), der ein breites Spektrum zeitgenössischer choreografischer Arbeitsweisen präsentiert. 15 Die Deutung des (ästhetischen) Zufalls in der Kunstproduktion unterscheidet sich deutlich von einer beispielsweise naturwissenschaftlichen, technischen oder sozialen Lesart. Der Zufall wird hier als schöpferisches Verfahren verstanden und in diesem
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geln oder Rahmungen« dienen so weniger der Stabilisierung als dazu, Zufälle und Emergenzen »willkommen« (Mersch 2008: 27) zu heißen. Friederike Lampert spricht in diesem Zusammenhang von einem Pseudo-Zufall, einem »Zufall, der aus künstlerischen Zwecken gewollt ist« (Lampert 2007: 130), und die Funktion hat, Bewegungsgewohnheiten zu destabilisieren. Im Moment des Zufalls verliert der Improvisierende einen Augenblick die Kontrolle über seine gestalterischen Entscheidungen und muss improvisieren, um zurück zu einer »geordneten Stabilität« (ebd.: 131) zu gelangen. In diesem Moment werden »neue« Strukturen, »neue« Bewegungen ausgelöst, die aus bekannten Bausteinen bestehen, aber in ihrer Zusammensetzung nicht erahnbar gewesen wären (ebd.: 138). Lampert spricht in diesem Zusammenhang von einem »Feedback Loop zwischen Stabilität und Labilität, Ordnung und Chaos« (ebd.: 131). Jede »neue« Bewegung, jedes »neu« auftauchende Phänomen führt zu Veränderungen, die als solche nicht geplant und vorhersehbar waren und die das »erfolgreiche Umsetzen« der künstlerischen Strategie verhindern. Auf die Veränderungen muss mit einer je angepassten Strategie reagiert werden, um die »Ordnung« (im Sinne der Strategie) wiederherzustellen, bis diese von einem weiteren emergenten Moment erneut irritiert und instabilisiert wird. Oder anders formuliert: Es findet ein andauerndes Changieren, eine andauernde Bewegung zwischen Stabilität und Instabilität, Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit statt, deren gegenseitige Inhärenz immer nur eine leichte Verlagerung zum einen oder anderen zulässt, bevor es wieder kippt. Performative Prozesse vollziehen sich in diesem Sinne in einem Wechselspiel von intentionaler Planung (Strategie) und nicht-intendierter, unvorhersehbarer Emergenz, womit die Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Dynamik performativer beziehungsweise kultureller und sozialer Prozesse betont ist. Damit ist gleichzeitig ein weiterer Aspekt von Emergenz angesprochen: Während die Evolutionsforschung, in der die Ursprünge einer Emergenztheorie zu verorten sind, Emergenz vor allem rückblickend zur Erklärung unerwarteter Veränderungen nutzt, wird durch die Betonung der Prozessualität der Blick auf Zukünftiges statt auf Vergangenes gerichtet. Durch den grundsätzlich unvorhersehbaren Verlauf performativer Prozesse verweisen diese auf die Zukunft, die durch ihren Vollzug hervorgebracht wird (Fischer-Lichte 2012: 84f.). Dahingehend ist auch die Strategie auf die Zukunft bezogen und materialisiert sich erst
Sinne als gewollt. Im Rahmen von Kunstproduktion wird daher vor allem der Umgang mit dem Zufall thematisiert (Lampert 2007: 127).
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im Moment des Vollzugs, dem strategischen Handeln, als performativer Prozess zwischen Stabilität und Instabilität.16
E MERGENTE S TRATEGIEN Bisher wurde aufgezeigt, dass Strategie und Emergenz Konzepte sind, die jeweils Merkmale des Anderen aufweisen. Im Folgenden wird ein Modell in Anschlag gebracht, das beides grundsätzlich zusammendenkt und einen Strategiebegriff vorschlägt, der stets mit der Potentialität von Emergenz rechnet. Timo Skrandies beschreibt, unter Bezug auf Henry Mintzberg, Entwicklungen im Strategieprozess, die nicht geplant, nicht ausdrücklich vorgesehen sind, sondern plötzlich und unerwartet auftauchen, aber dennoch realisiert werden, als emergente Strategien (Skrandies 2008: 141). Skrandies betont, dass emergente Strategien in Mintzbergs Sinne ein besonderes Augenmerk auf die Prozessualität der Strategie und die Aktivitäten der Beteiligten legen, »man könnte sagen: auf die performative Praxis« (ebd.: 142). So wird eine Strategie zwar als Plan, als »vorvereinbarte Absicht« (ebd.) formuliert, diese lässt jedoch zugleich zu, dass sich die Details der Strategie erst im Vollzug der Handlung und in Abstimmung der verschiedenen Akteure untereinander ergeben. Die Strategie ist aus der Hand eines einzelnen Akteurs genommen und »verliert« in diesem Moment ihren vermeintlich intentionalen Charakter. Damit fungiert die Strategie als »abstraktes Konzept einer Vorgehensweise mit beabsichtigter Zweck- und Zielvorgabe« (ebd.: 145) nur als eine formale Angabe:
16 Das Verhältnis von Stabilität und Instabilität spielt in Bezug auf Praxistheorien eine zentrale Rolle. Hilmar Schäfer kritisiert etwa die (noch) zentrale Stellung des Routinebegriffs in den Praxistheorien, im Zuge dessen die Stabilität des Sozialen betont und dynamische Tendenzen, Veränderungen und Wandel des Sozialen sowie die Entstehung von Neuem vernachlässigt werden (Schäfer 2013: 11). Schäfer schlägt stattdessen vor, soziale Praxis nicht als routinisierte Reproduktion, sondern als Wiederholung zu begreifen, »in der Wiederkehr und Veränderung miteinander paradox verschränkt sind« (ebd.: 12) und wodurch sich sowohl die Statik als auch die Dynamik des Sozialen erfassen lässt. Ausgehend von diesem »paradoxen Wiederholungskonzept« fragt Schäfer nach der Konzeption der Stabilität und Instabilität des Sozialen. Zum Verhältnis von Stabilität und Instabilität vgl. auch den Buchteil Routine und Instabilität.
128 | K ATHARINA K ELTER »Die dem Strategischen innewohnenden Qualitäten der Potentialität, Emergenz und Komplexität verweisen die Strategen – gewollt oder nicht – aufs Offene und Unbestimmte. So ist Strategie vor allem Handlung, Praxis – eine Praxis der Formung, Formierung, Formalisierung, des Entwickelns von Regelsystemen, aber auch der List, des Kunstgriffs, die Umsetzung einer überraschenden Idee in Form taktischer Maßnahmen, das spontane Agieren mit Unvorhersehbarem.« (Ebd.)
Durch diese Betonung der Strategie als Praxis erscheint ein Dualismus von Strategie und Emergenz obsolet: Die Strategie als Handlungsplan richtet sich auf die Handlung, auf den Moment des Vollzugs, der durch seine Prozess- und Ereignishaftigkeit die Strategie stets mit Unvorhergesehenem konfrontiert. So wohnen der Strategie beziehungsweise dem strategischen Handeln stets Qualitäten der Emergenz (als Potentialität) inne. Der Moment des Handlungsvollzugs und seine Performativität bringt es mit sich, dass aus diesem Feld der Möglichkeiten Realität wird, sich potentielle Möglichkeiten als aktualisierte Möglichkeiten konkretisieren. So können zwar beliebig viele Anfangszustände feststehen, die aber doch »nur« den Anfang oder Ausgangspunkt eines Geschehens bilden, das seine eigene Dynamik entfaltet und nicht (nur) auf beteiligte Intentionen zurückzuführen ist (Seel 2003: 40). Mit Martin Seel lassen sich Ereignisse als Vorgänge beschreiben, mit denen man (so) nicht rechnen konnte (ebd.: 39). Oder anders formuliert: Im Moment des Ereignisses meldet sich in seiner Aktualität die »Potentialität des Gegenwärtigen« (ebd.: 42). Seel spricht vom »Aufstand der Gegenwart« (ebd.).17 Mit Blick auf den künstlerischen Produktionsprozess ist dieser so zwar (strategisch) planbar, aber durch die Potentialität (von Emergenz) und Prozessualität des Ereignisses nicht komplett vorherbestimmbar und unterliegt damit grundsätzlich nicht vollständig der Kontrolle des Künstlers (ebd.: 45). So wird im Moment der Aufführung Gegenwart als Aktualität – Seel spricht in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht von Präsenz – nicht nur präsentiert, sondern vor allem produziert (ebd.: 46). Diese produktive und andauernde Bewegung von Potentialität und Aktualität erscheint in diesem Zusammenhang als besonders zentral für eine Beschreibung des Verhältnisses von Strategie und Emergenz. Durch diese stetige Bewegung
17 Martin Seel beschreibt ästhetische Ereignisse als Prozesse, »die in ihrer komplexen sinnlichen Präsenz das Potential einer komplexen Gegenwart auffällig machen. Ästhetische Ereignisse erzeugen nicht allein eine veränderte, für den Moment aus den Fugen geratene Gegenwart, sie bezeugen sie zugleich, indem sie diese öffentlich zur Anschauung bringen.« (Seel 2003: 43)
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lässt sich das Strategische stets in der Emergenz beziehungsweise die Emergenz stets im Strategischen verorten. Im Sinne eines »Schwellenraums«18 bedingen und durchdringen Strategie und Emergenz einander, wirken aufeinander ein, gehen ineinander über. Es scheint daher nicht sinnvoll, das Verhältnis von Strategie und Emergenz in der Konstruktion einer dualistischen Unterscheidung zu denken. Vielmehr ist das performativ Verwirklichte das je spezifische Resultat aus der je spezifischen Relation von Strategie und Emergenz. Die Praxis, der Moment des Handlungsvollzugs, ist der Punkt dieser Konstellation, wo ich, mit mehr oder weniger Handlungsmacht, in diese Relation eingreife. Anders formuliert: Das performativ Verwirklichte geschieht nicht einfach so, sondern der Verlauf ist gestaltet. Die Praxis als Gestaltungsmoment ruft das Verhältnis von Strategie und Emergenz überhaupt erst hervor. Jeder performative Prozess – im Sinne einer Verwirklichung von Welt als Relation von Potentialität und Aktualität – wird im Rahmen dieses Vorgangs, dieses produktiven Wechselspiels, gestaltet.
S TRATEGIE UND E MERGENZ IM P RODUKTIONSPROZESS
KÜNSTLERISCHEN
Mit diesem Wechselspiel von Strategie und Emergenz kann im künstlerischen Prozess (strategisch) je unterschiedlich umgegangen werden, wie nun abschließend am Beispiel der Performance T.E.R.R.Y. veranschaulicht werden soll. Ausgangspunkt für das Projekt T.E.R.R.Y. bildet die Idee der Konkurrenz. Dabei steht nicht die moralische Beurteilung, sondern das Überdenken und Erforschen unterschiedlicher Perspektiven von Konkurrenz in unterschiedlichen Handlungsfeldern und -bereichen im Zentrum. T.E.R.R.Y. befragt die Grenzen von Konkurrenz sowohl mit Blick auf die belebte (Mensch, Natur) als auch unbelebte (Technik, Elektrizität) Welt anhand von drei Teilprojekten – eine Lichtinstallation, ein Garten mit miteinander konkurrierenden Pflanzen sowie
18 Zum Begriff des Schwellenraums vgl. u.a. Bernhard Waldenfels: »Die Schwelle ist schwer zu verorten, im strengen Sinne ist sie gar nicht zu verorten. Sie bildet einen Ort des Übergangs, einen Niemandsort, an dem man zögert, verweilt, sich vorwagt, den man hinter sich läßt, aber nie ganz. […] Im Überschreiten der Schwelle befindet man sich nicht mehr hier und noch nicht dort. Ort und Zeit berühren sich. […] Sie [die Schwelle; KK] erweist sich zugleich als ein Ort der Schwebe. […] Schwellenerfahrungen tauchen überall dort auf, wo wir von einem Erfahrungsraum oder Lebensbereich in den anderen überwechseln.« (Waldenfels 1999: 9)
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Workshops mit Kindern –, die zunächst unabhängig voneinander und der späteren Performance sind. Elemente der drei Projekte können jedoch Gegenstand ebendieser werden. Alle drei Teile des Projekts sowie die Performance wurden im Rahmen eines zehntägigen Festivals präsentiert. Die Recherche für das Projekt startete im Januar 2013 mit einer Residenz bei PACT Zollverein in Essen und der Entwicklung der Lichtinstallation: »Different light on stage compete for the same amount of energy, as in an old electrical circuit, where one source illuminates the environment with decision, but two bulbs begin to tremble in the effort required to each one to survive the other: they now oscillate between decision and decay, and the intensity of the first is the counterpart for the disappearance of the other. It’s a tenuous struggle for survival, a fight to don’t turn off. An autonomous system, in which all external elements influence at any time a new configuration of competition.« (Pathosformel 2013)
Am Ende der Residenz fand ein fünftägiges Experiment im Experiment statt: eintägige Kollaborationen mit verschiedenen Künstlern und Gruppen (ein Bildender Künstler, ein Musiker, ein Chor, eine Gruppe Jugendlicher und eine Tänzerin), um die Recherche zu öffnen und mit Außenstehenden zu teilen. Jede Kollaboration erfolgte dabei im gleichen Setting (Lichtinstallation) und nach bestimmten vorgegebenen Regeln. Im Zentrum stand das Teilen und Konkurrieren um (Licht-)Energie und die Interaktion zwischen Licht, Raum und Körpern. Es fanden je sieben Improvisationsdurchgänge inmitten der Lichtinstallation statt, die von unterschiedlichen Aufgabenstellungen – beispielsweise: »Reagiere auf das Licht wie eine Pflanze/Blume« – gerahmt und angeleitet wurden. Die Aufgaben fungierten als Strategien der Improvisation, als Regeln für das Untersuchen und Erfahren der Recherchesituation. Nach jeder Improvisation wurden die Erfahrungen des Durchlaufs gemeinsam besprochen und die Regeln für den nächsten Durchlauf entwickelt. Am Ende entstand jeweils eine fünfminütige, nicht öffentliche und nicht noch einmal gezeigte Performance, entwickelt im Zeitrahmen des gemeinsamen Recherchetages.19
19 Diese Strategie der Restriktion, beziehungsweise das Stellen von unterschiedlichen Aufgaben als Widerstand im kreativen Prozess, erinnert an das filmische Experiment The Five Obstructions von Lars von Trier und Jørgen Leth. Leth sollte seinen Film Der perfekte Mensch fünf Mal neu drehen, musste dabei jedoch je unterschiedliche Aufgaben, die von Trier ihm stellte, beachten und umsetzen. Diese Verbindung liegt nahe und war für mich im Rahmen meiner teilnehmenden Beobachtung der »one-day
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Die zweite Recherchephase fand zwei Monate später in Kopenhagen statt. Neben dem Bau und der technischen Entwicklung der Wagen, die für die Performance später zu »fahrenden Gewächshäusern« entwickelt wurden, fanden über mehrere Tage hinweg Workshops mit Kindern statt. Die Workshops funktionierten nach dem gleichen Prinzip wie zuvor die »one-day experimental calloborations« in Essen. Eine reduzierte Variante der Lichtinstallation wurde aufgebaut und um »Prototypen« der kleinen Wagen (noch ohne Pflanzen) erweitert. Auch hier standen die Interaktion mit dem Licht (und den Wagen) und die verschiedenen Spielarten und Varianten von Konkurrenz im Mittelpunkt. Die Improvisation wurde erneut von konkreten Aufgabenstellungen gerahmt, die nach jedem Durchlauf besprochen und gemeinsam weiterentwickelt wurden. Diese Restriktionen und Anweisungen fungierten als stabilisierendes und ordnendes Element. Die Zusammenarbeit mit den Kindern knüpfte dabei an Workshops mit Kindern und Jugendlichen in Brüssel an (T.E.R.R.Y.#3), in deren Rahmen Konkurrenz in sozialen Situationen erforscht wurde. Die Workshops in Kopenhagen verknüpften die Lichtinstallation (T.E.R.R.Y.#1) und die Recherchephase in Essen (und Brüssel) erstmals mit der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Anders als in Essen stand jetzt die Entwicklung von Beziehungen (mit dem Licht und den Wagen), von neuen Kommunikationsformen, neuen Räumen (durch beispielsweise das Bauen von Höhlen und Hütten mit den Lichtröhren der Installation) und das Erfinden neuer Spiele mit neuen Regeln im Zentrum. So entstanden verschiedene Momente der Konkurrenz (zwischen den Kindern, den Wagen, dem Licht), die je von unterschiedlichen Akteuren (Licht, Wagen, Kinder) ausgelöst wurden. Die Agentialität der Dinge erscheint hierbei in besonderer Weise: Durch ihre immanente Struktur sowie ihre Situiertheit legen (manche) Dinge einen be-
experimental collaborations« sofort offensichtlich, da dieses filmische Experiment wenige Tage zuvor im Rahmen eines Postdoc-Workshops des Graduiertenkollegs Materialität und Produktion von Daniel Blanga-Gubbay, Postdoc Mitarbeiter des Graduiertenkollegs und zugleich Mitglied der Performancegruppe Pathosformel, thematisiert wurde. Hierin zeigt sich der wechselseitige Einfluss von wissenschaftlicher Forschungsarbeit und »Forschungen im Ästhetischen« (Mersch 2015) als künstlerische Praxis, womit der Diskurs von artistic research tangiert wird. Im Zuge der Debatte um künstlerische Forschung rücken zunehmend Verfahrensfragen und Produktionsprozesse – ein Interesse daran, »was ein ›Ereignis‹ hervorbringt, für ein Wissen und dessen Produktion« (Mersch 2015: 14) – in den Fokus wissenschaftlicher wie künstlerischer Praxis und Forschung.
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stimmten Umgang mit ihnen nahe, lassen jedoch gleichzeitig unterschiedliche Möglichkeiten der Nutzung zu (Reckwitz 2014: 21). Durch ihre materielle Beschaffenheit geben Dinge spezifische Gebrauchsmöglichkeiten vor – Rübel spricht von konkreten Umgangsformen, die von den Dingen ausgehen (Rübel 2009: 133) – und stecken den Rahmen der potentiell möglichen Handlungen ab. Die Lichtstative und Wagen sind für die Kinder jedoch unbekannte Objekte, die es zu erkunden und denen es handelnd zu begegnen gilt. Dabei wenden die Kinder zum einen bekannte Umgangsformen (beispielsweise Spiele) auf die unbekannten Dinge an, etwa das Bauen von Hütten mit den neuen Materialien oder das gegeneinander Fahrenlassen der Wagen, das an das Spielen mit Modellautos erinnert. Zum anderen werden bestimmte Handlungen überhaupt erst durch die Dinge »erlaubt«. So bieten die Stative aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit an, dass die Leuchtröhren abgenommen werden können, wohingegen weitere Veränderungen der Stative, wie etwa das Verbiegen oder das Verstellen der Höhe oder aber das eigenständige Ein- und Ausschalten der Lichter, nicht angeboten werden, womit sich erneut die Handlungsmacht beziehungsweise das Handlungspotential der Dinge zeigt. Wenn ästhetische Situationen damit arbeiten, sprich: unklar lassen, wann was passiert, so kann das als eine Strategie ästhetischer Praxis verstanden werden, der Agentialität der Dinge mehr Raum zu lassen. Die Premiere von T.E.R.R.Y. fand im August 2013 im Rahmen des Festivals »Mein Herz« in Centrale Fies, einem Produktionszentrum für Zeitgenössische Kunst in Dro (Italien) statt. Am Tag zuvor fand die erste und gleichzeitig letzte Probe mit den Kindern statt. Eines der Kinder reist immer mit Pathosformel mit, ist bei jeder Aufführung von T.E.R.R.Y. dabei. Zwei weitere Kinder kommen jedes Mal vor Ort neu hinzu, kennen also die Installation, die Wagen, die Arbeitsweise und Aufgabenstellungen der vorherigen Workshops (und zukünftig: der vorherigen Aufführungen) noch nicht. Sie werden von dem ersten Kind eingeführt: er (Luca) erklärt ihnen die Lichtinstallation, zeigt ihnen, was alles mit den Leuchtröhren angestellt werden kann und wie mit den Wagen umzugehen ist. Die Probe in Dro orientierte sich an den Erarbeitungsstrategien und Aufgabenstellungen der vergangenen Workshops. In kurzen Improvisationssequenzen wurden die Themen und Aufgaben des Workshops in Kopenhagen aufgegriffen: Es wurde um Lichtröhren konkurriert und Hütten wurden gebaut, die Wagen kämpften gegeneinander, Spiele in und mit der Lichtinstallation wurden entwickelt. Die Umsetzung der Aufgaben wurde auch hier je gemeinsam besprochen und die Aufgabenstellung für die nächste Improvisation weiterentwickelt. Luca wirkte dabei als stabilisierendes Moment. Durch seine konstante Position und Anleitung, was sich als individuelle Auswahl aus dem in den Workshops erar-
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beiteten Feld von Möglichkeiten verstehen lässt, beziehungsweise durch diese strategische Entscheidung von Pathosformel, wurde an dieser Stelle der Spielraum der Emergenz nicht erweitert, sondern eingegrenzt. Es ging nun nicht mehr darum, gänzlich neue Spiele etc. zu erarbeiten, neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken, sondern um ein produktives Umgehen mit dem bereits Existierenden. Den »neuen« Kindern wurde ein bestimmtes Setting vorgegeben, innerhalb dessen sich der spielerische Umgang mit der Lichtinstallation und den Wagen vollziehen sollte. Die in den Workshops und bereits mit Luca erarbeiteten Gebrauchsmöglichkeiten und Praktiken steckten den Rahmen für zukünftige Handlungen ab. Luca fungiert so als ordnendes Prinzip (Stabilität), wohingegen die jeweils neuen Kinder die Möglichkeit von Emergenz wiederum erhöhten (Instabilität). Für die Aufführungssituation ergab sich ein Set und eine Reihenfolge von verschiedenen Aufgabenstellungen, die in ihrer Umsetzung (in der Aufführung) jedoch den Charakter der Improvisation behielten und nicht von einer Besprechung unterbrochen wurden, sondern ineinander übergingen und sich im Moment der Ausführung (und nicht durch eine reflektierende Besprechung von außerhalb) weiterentwickelten. Der genaue Ablauf, die Umsetzung der Aufgabenstellungen und die Beziehungen, die sich zwischen dem Licht, den Kindern und den Wagen entwickelten, wurden, trotz der angesprochenen stabilisierenden Elemente, so offen wie möglich gehalten. Durch die Interaktion der Kinder mit den Wagen, die elektrisch gesteuert, gleichzeitig aber auch von den Kindern bewegt wurden, und den unterschiedlich aufleuchtenden Lichtern, die mit den Kindern (und ihren Taschenlampen) kommunizierten, entstand eine Strategie ästhetischer Praxis, die die »Kontrolle« über den Ablauf der Performance gering halten will. Der Handlungsmacht der Dinge wurde mehr Spielraum gegeben, ihre Agentialität wurde herausgestellt, indem Phänomene von Emergenz stärker berücksichtigt beziehungsweise zugelassen wurden. Der Verlauf des Handlungsvollzugs blieb durch das wechselseitige Bewegen und Bewegt-Werden offen und dynamisch. So hätten die Wagen beispielsweise umkippen oder sich gegenseitig blockieren können. Oder aber von den Kindern so ineinander geschoben werden, dass die Wagen nicht mehr aus ihrer Position hätten heraus manövriert werden können. Andere Bewegungsmöglichkeiten wurden wiederum im Vorfeld (strategisch) ausgeschlossen. So waren etwa die Kabel der Wagen so an der Decke befestigt, dass sich diese trotz der unkalkulierbaren Bewegungen der Wagen nicht ineinander verheddern oder zu Stolperfallen werden konnten, wie etwa in Kopenhagen noch des Öfteren geschehen. Bis auf die Reihenfolge der Aufgabenstellung, der die Kinder in der Performance folgten, konnte nicht vorhergesagt werden, was genau passieren und welche Momente und Beziehungen von Kon-
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kurrenz sich in der Interaktion zwischen Mensch, Technik, Medien, Licht und Pflanzen entwickeln würden, was über die grundsätzliche Unvorhersehbarkeit einer jeden Performance hinaus geht. Es ist eine (Produktions-)Entscheidung der Performance, Momente der Emergenz nicht nur im Rahmen der Improvisations-Workshops, sondern auch während der Aufführung selbst zu fokussieren. Dem zuvor beschriebenen grundsätzlichen Ineinandergreifen von Strategie und Emergenz wird so viel Raum wie möglich gelassen. Darüber hinaus wird die »Kontrolle« über den Ablauf der Performance nicht nur durch den Einbezug von Improvisation in der Aufführung, sondern auch durch den großen Spielraum der Agentialität der Dinge (hier: Licht, Wagen) minimiert. So werden etwa die Bewegungen des Lichts zum Auslöser für weitere Bewegungen: Die Wagen ändern die Fahrtrichtung in Abhängigkeit von den Bewegungen der Lichter; sie stoßen gegeneinander, stellen sich einander in den Weg auf der Suche nach und in Konkurrenz um den besten Platz am Licht. Luca reagiert auf Lichtsignale aus den Glasvitrinen der Wagen, leuchtet sie an, wiederholt sie (beispielsweise drei Mal kurz, einmal lang), gibt eigene Lichtimpulse vor, auf die wiederum das Licht in dem Wagen antwortet. Damit liegt der Fokus hier auf einem ästhetischen Handeln, das Situationen eingehen kann, in denen die Agentialität der Dinge zu Emergenzereignissen führen darf und soll. Zentral ist hier somit weniger die Frage, wie Handlungsmacht erworben wird, sondern jene, wie sich das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure je unterschiedlich gestaltet und Agentialität sich dadurch je unterschiedlich verteilt. Im obigen Sinne wird Agentialität damit in Bezug auf ihre Wechselwirkungen gedacht: »Man kann nicht wissen, was ein Körper zu tun imstande ist, weil man nicht wissen kann, welche Relationen er eingehen wird.« (Folkers 2013: 28) Sprich: Die Handlungsmacht des Einen ergibt sich durch die Handlungsmacht des Anderen und ihrer jeweiligen Bezugnahmen aufeinander. Das kann strategisch berücksichtigt werden, aber eben niemals vollständig. Die ästhetische Praxis wird so zu einer Art Testfall für das, was aus dem je neuen Verhältnis von Strategie und Emergenz entsteht. Im Rahmen des künstlerischen Produktionsprozesses kann beziehungsweise muss immer mit der Möglichkeit von Emergenz gerechnet werden. Das lässt sich im Vorhinein zwar vermuten und einkalkulieren, aber erst im Moment des Vollzugs greifen Strategie und Emergenz ineinander. Damit wird das Zusammenspiel von Strategie und Emergenz, im Sinne einer andauernden Bewegung von Potentialität und Aktualität als Teil performativer Prozesse beschreibbar und erscheint damit gleichermaßen als konstitutiv für kulturelle und soziale Praktiken, worin fruchtbare Anknüpfungspunkte für praxistheoretische Analysen vor allem in der
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performativen Kunst zu sehen sind. Strategie und Emergenz sind hier in besonderer Weise dazu »eingeladen« miteinander zu interagieren, um Situationen für »neue« sinnliche Erfahrungen zu schaffen, wodurch die performative Dimension der Praxis in ihrer Materialität, Ereignishaftigkeit und Präsenz betont wird (Wieser 2004: 101). Performative Prozesse vollziehen sich durch ein Zusammenspiel von intentionaler Planung (Strategie) und nicht-intendierter, unvorhersehbarer Emergenz. Dadurch rücken Körper und Artefakte gleichermaßen als Akteure in den Blick, wodurch Unterscheidungen und Hierarchisierungen von Subjekt und Objekt ästhetisch reflektierbar werden. Praktiken können so als ein Oszillieren zwischen Akteuren, Artefakten und Situationen beschrieben werden und sind nicht an einzelne Akteure oder bestimmte kulturelle Zusammenhänge gebunden (Husel 2014: 23). Damit ist erneut die Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Dynamik performativer beziehungsweise kultureller und sozialer Prozesse und – mit Blick auf T.E.R.R.Y. – die Prozessualität künstlerischer Produktion betont. So wird ein Verständnis von Praxis in Anschlag gebracht, das Praxis als eine Situation versteht, die sich zwischen den verschiedenen Akteuren und ihren jeweiligen Beziehungen im Verhältnis von Strategie und Emergenz materialisiert, verkörpert und bewegt. Aus diesem Spiel der Faktoren (Strategie und Emergenz) entsteht eine künstlerische Praxis, die selbst ein Schwellenraum ist, in dem sich Strategie und Emergenz wie in sonst keinem anderen sozialen Feld (etwa im Militär oder der Politik) einander in paradoxen Weisen überlagern und vermischen können. Dadurch bewahrt dieser ästhetische Verhandlungsraum eine Dynamik, die die »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2006) immer wieder neu verhandelt.
L ITERATUR Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp. Bormann, Hans-Friedrich/ Brandstetter, Gabriele/ Matzke, Annemarie (2010): »Improvisieren: eine Eröffnung«, in: dies. (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, S. 7–19. Brandstetter, Gabriele (2010): »Selbst-Überraschung: Improvisation im Tanz«, in: dies./ Bormann, Hans-Friedrich/ Matzke, Annemarie (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, S. 183–199.
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D IE P RAXIS DER P ERFORMANCE ZWISCHEN S TRATEGIE UND E MERGENZ | 137
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NORMATIVITÄT UND ENTGRENZUNG
Praktiken und Praxis. Zur Relationalität von Ordnungs- und Selbst-Bildung in Vollzügen1 T HOMAS A LKEMEYER
Nach der folgenreichen Hinwendung zu Sprache, Zeichen und semiotischen Strukturen im linguistic turn der 1980er Jahre postuliert der sogenannte practice turn (Schatzki u.a. 2001) seit dem Beginn dieses Jahrhunderts eine übergreifende methodische Ausrichtung an den Begriffen der Praxis und der Praktiken – mitsamt weiteren Konzepten, die diesen Begriffen ihre Kontur verleihen: der vermittelnden Rolle des Körpers und eines verkörperten Praxiswissens, der Performativität sozialer Ordnungsbildung sowie der Mitwirkung von Dingen, Artefakten und materiellen Settings. Als eine neue, interdisziplinäre Wirklichkeitswissenschaft interessiert sich Praxistheorie im Kern dafür, wie sich Ordnungen und deren Trägerschaften in den wiederholten Vollzügen von Praktiken ausformen, verfestigen und verändern.2
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Teile dieses Beitrages stammen aus bereits mit Ko-Autoren veröffentlichten Artikeln (Alkemeyer u.a. 2015a, 2015b; Alkemeyer/Buschmann 2016). Sie werden hier unter anderen, körpersoziologischen und performativitätstheoretischen Aspekten aufgegriffen. Wenn immer im Folgenden von »wir« oder »uns« die Rede ist, bezieht sich dies auf die genannten Ko-Autorenschaften.
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Begleitet wird dieses neu erwachte Interesse am Begriff der Praxis von einer selektiven Wiederaneignung traditioneller Positionen zum Beispiel des Pragmatismus oder des Praxisdenkens bei Hegel und Aristoteles. Eine Reihe anderer, etwa tätigkeitstheoretischer (Leontjew, Vygotski) und (post-)marxistischer (Gramsci, Mouffe, Castoriadis) Praxiskonzepte bleibt von dieser Neuentdeckung bis auf wenige Ausnahmen (Nicolini 2012; Hillebrandt 2014) ausgenommen, unter anderem mit der Folge einer
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Theoriegeschichtlich ist der praxistheoretische Ansatz vornehmlich als negativ-kritischer Gegenpol zu Sozialtheorien profiliert worden, die entweder zu stark das Subjektive, Individuelle und Mentale betonten oder aber die konkrete Praxis zu Gunsten allgemeiner Strukturen und Systembeziehungen ignorierten. Bereits Pierre Bourdieus Praxeologie kennzeichnet demgegenüber das Anliegen, den Prozessen der Strukturbildung in der Praxis nachzugehen. Soziale Ordnung geht danach weder auf rational handelnde Akteure zurück, noch auf determinierende Strukturen oder Diskurse, sondern konstituiert sich in der gesellschaftlichen Praxis von »Agenten« (agents3), deren »soziales Spiel« (Bourdieu 1987: 52) den in einem sozialen Feld vorgefundenen Möglichkeitsräumen »eine konkrete Struktur und Gestalt« (Krais/Gebauer 2002: 81) gibt. Die Ordnung des Sozialen und die Handlungsmöglichkeiten ihrer »Agenten« verweisen unter diesem Blickwinkel aufeinander; sie konstituieren einander. Mit einer etwas anderen Akzentuierung konturiert auch Andreas Reckwitz (2003) den praxistheoretischen Ansatz gegen andere Zugänge zum Sozialen: Praxistheorie stelle sich, so Reckwitz, den »Rationalismen und Intellektualismen anderer Sozial- und Kulturtheorien« (ebd.: 290) entgegen und begreife »mentalistische Kategorien wie Wissen und Reflexion nicht mehr als Bestandteil und Eigenschaften von Personen, sondern immer nur in Zuordnung zu einer Praktik« (ebd.: 292). Konsequent rücken nun die Materialität im Gegensatz zum Mentalen, der Körper im Gegensatz zum Geist, die Tätigkeit als Gegensatz zur Kontemplation und die Performativität als Eigendynamik sozialer Ordnungsbildung im Gegensatz zur bloßen Anwendung in den Fokus (Alkemeyer u.a. 2015b: 8). Eben diese Bestimmungen kennzeichnen das typische Profil des praxistheoretischen Ansatzes: Praxistheoretiker, erläutert Theodore Schatzki (2001: 11), »conceive[s] of practices as embodied, materially mediated arrays of human activity centrally organized around shared practical understanding«. Der praxistheoretische Ansatz verweist somit erstens auf die materielle und körperliche Bedingtheit allen Handelns und Denkens; das heißt, er bringt die materielle Wirklichkeit, die in einer mentalistischen Perspektive nur als Gegenstand
gewissen Indifferenz gegenwärtiger Praxistheorie gegenüber Fragen nach Macht, Herrschaft und Kritik. 3
Bourdieu verwendet den Begriff agent im Sinne der angedeuteten negativ-kritischen Stoßrichtung in Abgrenzung zu acteur und sujet. Er hat ein weites Bedeutungsspektrum: als Handelnder, wirkende Kraft, Bevollmächtigter, Handels- oder Geheimagent im Sinne eines »für eine Organisation oder (fremde) Macht Handelnden« (Krais/Gebauer 2002: 84).
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geistiger Operationen oder als äußere Bedingung intentionalen Handelns auftaucht, als deren Konstituens in den Blick (Volbers 2015: 199; Schürmann 2014: 218f.); er führt zweitens »Wissen, Sinn und Verstehen weder auf das einzelne Bewusstsein noch auf intersubjektiv gegebene Regeln und Strukturen« (Volbers 2015: 199) zurück, sondern integriert sie als implizites Wissen in die gekonnten Verrichtungen kompetenter Körper, die dabei zwingend auf kulturell zirkulierende, in Artefakten vergegenständlichte Wissensrepertoires angewiesen sind; und er erklärt drittens Bewusstsein, Intentionalität und Denken nicht durch ein ursprüngliches, der Praxis vorausgesetztes Subjekt, sondern postuliert eine praktische Verfasstheit jedweder Subjektivität und Individualität. Damit formt sich das, wofür in subjektphilosophischer und handlungstheoretischer Perspektive die Konzepte des Subjekts und des Akteurs stehen, praxistheoretisch allererst durch die Verwicklung von Körpern in Praktiken aus. Praxistheorien sehen in Geist und Intention also nicht den Erklärungsgrund für ein Handeln, das unter materiellen Bedingungen vollzogen wird, sondern zu Erklärendes: Sie sind praxistheoretisch im Vollzug zu verorten (Schürmann 2014: 216ff.). Praxis-Vollzüge treten damit als eine eigene Kraft in den Blick, die Ordnungen »ohne die Rückendeckung« (Volbers 2014: 78) prä-praktischer Intentionen oder absichernder Strukturen erzielt. Statt das Ganze von seinen Elementen her zu erklären, wollen Praxiskonzeptionen beleuchten, wie sich in lokal situierten praktischen Verflechtungen unterschiedlich beschaffener Entitäten und Kräfte – Räume, Dinge, Artefakte, Körper, Bewegungen etc. – performativ jene Strukturen ausformen, perpetuieren und verändern, in denen diese Entitäten und Kräfte allererst ihre Bedeutung, Identität4 und Teilnahmebefähigung5 erlangen. Mit dem Umstellen auf Praxis ist mithin die Absicht verbunden, zusammen mit dem cartesianischen Dualismus von Körper und Geist auch den methodologischen Gegensatz von Individualismus und Holismus zu überwinden. Allerdings lässt sich die Spannung zwischen dem einzelnen Akt und einem strukturierenden Kontext nicht leicht auflösen: Auch praxistheoretische Analysen ringen mit dem altbekannten Grundproblem, ob soziale Strukturen das Handeln allererst konstituieren oder ob sie auf eine im Voraus bestimmte Individualität zurückgehen (Koßler 2015). Entsprechend spannt sich das praxistheoretische Diskursuniversum unseres Erachtens zwischen zwei, in der Folge ideal-
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Identität setzt die Befähigung voraus, die eigene Bedeutung in einer Praktik zu verstehen (Schatzki 2002: 47f.); es ist eine Bedeutung, die sich ihrer selbst bewusst ist.
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Zu diesem Begriff siehe den letzten Abschnitt dieses Beitrags.
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typisch6 kontrastierten Polen auf: Am einen Pol wird Praxis als ein geordnetes, von wiedererkennbaren Mustern (Reckwitz 2003: 289) geprägtes Geschehen untersucht, das heißt als Praktiken im Sinne sozial verfasster, typisierter Bündel sprachlicher und nicht-sprachlicher Akte, die historisch schon immer vor und damit unabhängig vom Handeln der Individuen existieren. Als solche konkret benennbaren historischen Formen von Praxis (wie Fußballspielen, eine Banküberweisung tätigen oder Schulunterricht machen) bilden Praktiken einen Schauplatz, auf dem Teilnehmer-Akte7 spezifisch geformt und als Beiträge zur jeweiligen Praktik verständlich werden. Praktiken haben in diesem Verständnis einen Status, der dem Status von »Kultur« oder »Sozialstruktur« in holistischen Sozialtheorien ähnelt.8 Am anderen Pol werden hingegen die Vollzüge einzelner Akte fokussiert, ohne sie irgendeinem übergeordneten sozialen oder diskursiven Mechanismus zu unterstellen (Volbers 2014: 78). Statt überdauernden Praxisformen gilt die Aufmerksamkeit der perspektivisch bestimmten Bedingtheit eines jeden Akts sowie der Herstellung eines geteilten Bezugsrahmens für diese Akte in der gegenwärtigen Praxis. Die Beobachtung stellt an diesem Pol die Aus- und Aufführungen der einzelnen Akte scharf und nicht deren Rahmung und Gestaltung durch gegebene Strukturen. Sie richtet sich damit zugleich auf a) in der Praxis auftauchende Unstimmigkeiten und Konflikte, b) Unsicherheiten, Anforderungen und Erwartungen, denen sich Teilnehmer auf ihrer jeweiligen Position im Beziehungsgeflecht einer Praktik konfrontiert sehen, c) Spielräume und »Situationspotenziale« (Jullien 1999: 33ff.), die sich ihnen auf ihrer Position eröffnen, sowie d) darauf, wie sie diese Anforderungen und Potenziale beantworten und ergreifen, um im Spiel zu bleiben und selbst auf den Spielverlauf einzuwirken. Methodologisch entspricht beiden Beobachtungsperspektiven somit eine eigene Praxis des Forschens und folglich der Gegenstandskonstitution: Jede der beiden Perspektiven weist den Teilnehmern, so soll im Folgenden in einem ersten Schritt gezeigt werden, einen anderen Status zu und führt zu einer anderen
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An beiden Polen finden sich Ansichten des jeweils anderen Pols. Es geht allein um die
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Die Beschränkung auf die maskuline Form erfolgt ausschließlich aus Gründen der
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Dabei werden Praktiken ausdrücklich als dynamisch verstanden: Sie verändern sich in
Frage der Gewichtung. besseren Lesbarkeit. ihren Aktualisierungen durch immer neue Teilnehmer kontinuierlich. Gesellschaft konstituiert und reproduziert sich unter diesem Blickwinkel durch die Vernetzung von Praktiken und Praktikenbündeln zu sozialen Feldern und Lebensformen (Jaeggi 2014).
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Gewichtung von Beharrung und Veränderung in der Praxis. An beiden Polen wird die Bildung sozialer Ordnungen und ihrer Träger mithin unter einem anderen Aspekt beobachtbar gemacht. Um beide Perspektivierungen aufeinander zu beziehen, schlagen wir einen fortlaufenden Perspektivwechsel vor. Auf dieser Folie kann sodann in einem zweiten Schritt der für die Praxistheorie elementare Status des Körpers in beiden Beobachtungsperspektiven – einmal primär als ein Gegenstand von Formgebungen, das andere Mal eher als ein intelligentes Agens in und von Praxisvollzügen – beleuchtet werden. Abschließend wird der Perspektivenwechsel als eine Methode vorgeschlagen, mit der sich die Genese und das Wirken einer konstitutiv bedingten Handlungsmacht in der Praxis von Praktiken systematisch nachvollziehen lässt: In einem quasi-filmischen Verfahren von Schnitt und Gegenschnitt lässt sich, so die These, eine distanzierend feststellende Beobachter-Perspektive zweiter Ordnung so mit Rekonstruktionen der Teilnehmerperspektiven vermitteln, dass das wechselseitig konstitutive Verhältnis von Ordnungs- und Selbst-Bildungen in den Blick treten kann.
D ER
TOTAL VIEW DER P RAKTIKEN -P ERSPEKTIVE UND DIE POINT - OF - VIEW - SHOTS DER P RAXIS -P ERSPEKTIVE Die Praktiken-Perspektive: Praxisvollzüge zeigen sich ausschließlich retrospektiv aus der Draufsicht als ein geordnetes Geschehen. Ein Beispiel ist Gunter Gebauers (1998: 226) Darstellung eines Fußballspiels als eine Choreografie, in der »alle Einzelaktionen« in einer harmonischen »Gesamtbewegung [...] miteinander verschmolzen« scheinen als seien sie von magischer Hand gelenkt. Die Welt wird hier aus der Theaterperspektive wie ein Schauspiel betrachtet; im Film entspricht dies der Totalen (Etzemüller 2015): Der total view gewährt einen ÜberBlick und gibt das raumzeitliche Ineinandergreifen einzelner Spielzüge zu einer emergenten Gesamthandlung zu sehen. Jede einzelne Bewegung wird als ein Beitrag zu dieser Gesamthandlung und damit als eine vom Ganzen abhängige Größe in Szene gesetzt. Sie erscheint als Teilakt in einem Kraftfeld, das aus überdauernden räumlich-materiellen Strukturen (in diesem Fall des Spielfelds) sowie der situativen Konstellation menschlicher und nicht-menschlicher Kräfte gebildet wird. Diese Perspektive setzt einen deutlichen Kontrapunkt zum methodologischen (und normativen) Individualismus, indem sie jede Reifikation von Teilnehmern als souveräne Subjekte vermeidet. Auf der anderen Seite neigt sie dazu, die Vorstellung eines Primats des Ganzen vor jeder Einzelaktion hervorzurufen: Jeder individuelle Akt scheint sich auf der Basis von Routinen wie von selbst ins Gesamtbild zu fügen. Im praxistheoretischen Diskursuniversum findet
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diese Vorstellung einen prägnanten sprachlichen Ausdruck in der militärischen Metaphorik einer Rekrutierung von Handlungsträgern (»career«) durch Praktiken (Shove u.a. 2012: 63–80). Solches Begriffsspiel droht Praktiken zu übergeordneten Quasi-Subjekten zu hypostasieren,9 die selbst »durch das [menschliche, T.A.] Subjekt hindurch« (Reckwitz 2015: 448) wahrnähmen und neu Hinzukommende nur aneignen und integrieren müssten, um sich zu perpetuieren. So verblasst, dass Praktiken gemacht und aktiv aufrechterhalten werden müssen und dass es dafür Kräfte bedarf, die disponiert und bereit sind, sich als Mitwirkende engagieren zu lassen. Wie viel Arbeit an sich selbst ein solches Engagement voraussetzt, zeigt Brian Lande (2002) beispielhaft am militärischen Marschieren:10 Jeder individuelle Körper muss sich in mühevollen Lern- und Trainingsprozessen an das militärische Milieu anpassen, um zum tragenden Teil eines aus der Theaterperspektive wie automatisch sich organisierenden kollektiven »Marschkörpers« zu werden. Bei komplexeren Praktiken erfordert solche Arbeit am Selbst noch deutlich größere Investitionen an Zeit, Energie oder Leidenschaft. Im toten Winkel der Praktiken-Perspektive bleibt zudem, was das Zusammenspiel der Kräfte stört, sich entzieht oder ausgeschlossen wird: unfügsame Elemente, Reibungen, Dissens und Missverständnisse, mit denen die Teilnehmer fortlaufend klarkommen müssen. Die Praxis-Perspektive: Beschreibt man Praktiken hingegen, wie in mikrosoziologischen Zugängen, über (Re-)Konstruktionen der verschiedenen Teilnehmerperspektiven mit Hilfe von point-of-view-shots als Praxis, dann ergibt sich ein anderes Bild. Statt der Orientierung und Gestaltung einzelner Akte durch die überdauernden Strukturen von Praxisformen sowie die situativen Konstellationen einer Gesamthandlung wird das interaktive Machen einer Praktik in seiner Prozesshaftigkeit scharf gestellt. Der beobachtende Praxeologe changiert, real oder virtuell, zwischen den unterschiedlichen Teilnehmerpositionen und vollzieht so die Multiperspektivität einer jeden Praktik mit. Sein Blick über die Schultern der unterschiedlich engagierten Teilnehmer erschüttert den der Draufsicht einer Theaterperspektive geschuldeten Eindruck einer für alle kongruenten und konsensgetragenen Praktik. Er gibt diese stattdessen als ein Vollzugsgeschehen zu sehen, das bereits aufgrund der disparaten körperlichen wie biogra-
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Hypostasierung bedeutet, so Jörg Volbers (2015: 199) in Bezug auf Kant, Gedanken »zu Sachen« zu machen, sie als primäre Erklärungsprinzipien anzusehen und auf diese Weise zu ontologisieren.
10 Auf diese Studie hat mich Robert Mitchell aufmerksam gemacht.
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phischen Situiertheiten11 der Teilnehmer fortwährend Konflikte, Irritationen und Probleme provoziert, zu denen sich jene »verhalten müssen« (Volbers 2015: 210). Aus seiner Position als Beobachter zweiter Ordnung 12 bemüht sich der Forschende darum, möglichst detailliert die körperlichen, emotionalen und mentalen »Bewältigungsanstrengungen« (Brümmer 2015: 69) herauszuarbeiten, mit denen die Teilnehmer erster Ordnung jene Anforderungen und Erwartungen beantworten,13 denen sie sich auf ihrer jeweiligen Position konfrontiert sehen. Im Kontrast zur Praktiken-Perspektive werden so die Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, die Konflikte und Momente des Misslingens beobachtbar, mit denen Teilnehmer unter Aufwendung von Aufmerksamkeit, Energie und Geschick fertig werden müssen, um sich selbst im Spiel zu halten und zu behaupten (Brümmer/Mitchell 2014), etwa, indem sie Routinen situationsadäquat modifizieren (Suchman 2011). Indem diese Perspektive statt der Rekrutierung von Menschen, Körpern und Dingen als »Partizipanden« (Hirschauer 2004) die aktiven Beiträge der Teilnehmer scharf stellt, steht sie allerdings wiederum der Idee eines autonomen Individuums nicht allzu fern. Die Leistung jeder Beobachtungsperspektive hat somit ihren jeweiligen Preis. Da schlechterdings nicht beides – die Strukturierung der TeilnehmerAktivitäten und deren situierte Bewältigungsleistungen – gleichzeitig in gleicher Weise beobachtet werden kann, schlagen wir einen ständigen Wechsel zwischen beiden Perspektiven vor: Um die Ausformung sozialer Ordnungen und der Teilnehmerleistungen als ein ko-evolutionäres und ko-konstitutives Geschehen in den Blick zu bringen, werden beide Perspektiven reflexiv so aufeinander bezo-
11 Den Begriff der »Situiertheit« entnehme ich der Lerntheorie Klaus Holzkamps (1995). Er reflektiert sowohl auf die »sinnlich-stoffliche« (ebd.: 253) Körperlichkeit als auch auf die »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit« (ebd.: 263) der menschlichen Teilnehmer eines sozialen Geschehens, somit auch auf die Lebenserfahrung, die jene in dieses einbringen. 12 Zwar kommt es bei ethnographischen Studien immer wieder vor, dass der Gegenstand der Beobachtung mit dem eigenen Leben verschmilzt. Dennoch sind die Forschenden auch in diesem Fall in anderer Weise, mit einem anderen Interesse, am Geschehen beteiligt als die beobachteten Teilnehmer erster Ordnung. 13 Ebenso wie Anforderung anderes ist als ein objektiver Stimulus, so ist Antworten keine bloße Reaktion. Vielmehr zeigt sich etwas im Beziehungsgeflecht einer Praktik nur dann als eine Anforderung oder Erwartung, wenn es von den Teilnehmern öffentlich als eine solche ratifiziert wird. Entsprechend setzt Beantworten die Wahrnehmung eines Gegenstands, eines Ereignisses oder einer Situation als bedeutsam voraus.
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gen, dass sie sich sowohl komplementieren, indem sie unterschiedliche Aspekte der Ordnungsbildung scharf stellen, als auch relativieren, irritieren und stimulieren. Für jede Perspektive bildet dann die jeweils andere den Referenzrahmen der Beobachtung. Mit einem solchen methodischen Wechselspiel von Theaterperspektive und Teilnehmerperspektiven lässt sich der Zusammenhang zwischen den praxisstrukturierenden Bedingungen einer Praktik und deren konkreten Gestaltungen durch das lebensgeschichtlich vorgeformte, orts-, positions- und situationsbezogene Handeln von Teilnehmern erfassen, deren Akteurs- beziehungsweise Subjektstatus sich in diesem Handeln allererst zeigen und konstituieren muss. Es kann aufweisen, wie eine gegebene Praktik als ein konkretes lokales Geschehen in einem Kraftfeld hervorgebracht und konturiert wird, in dem sich heterogene und verschieden situierte Teilnehmer aufeinander beziehen, zueinander positionieren und zur Teilnahme befähigen: Ein in das Geschehen gleichsam hinein zoomendes, mimetisches, den Forschenden also nicht nur mental, sondern auch körperlich, sinnlich und affektiv am Geschehen beteiligendes Mitvollziehen 14 der verschiedenen internen Perspektiven lässt erkennen, wie sich die beteiligten Kräfte aneinander orientieren und reiben, wie sie einander anziehen, abstoßen und zurechtweisen, mit welchen Anforderungen sie sich jeweils konfrontiert sehen und wie sie mit diesen umgehen. Herauszoomend tritt hingegen in den Blick, wie in diesem Handgemenge der Praxis »Zug um Zug und Schritt für Schritt« (Scheffer 2008) ein sozialer Zusammenhang fabriziert wird – und zwar reflexiv vermittelt durch den materiellen, symbolischen und normativen »Rahmen« (Goffman 1974) beziehungsweise die »teleo-affektive Struktur« (Schatzki 2002) der gemeinsam geteilten Praktik.15 Auf diese Weise wird erkennbar, dass der Rahmen oder die teleo-affektive Struktur einer Praktik keine bloß äußeren Handlungsbedingungen sind, sondern einzelne Vollzüge nur dann als ein bestimmtes, der Praktik angemessenes Teilnehmer-Handeln verständlich werden, wenn jene eine
14 Ich beziehe mich auf das Verständnis von sozialer Mimesis von Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1998), das die sinnlich-körperliche Seite des Bezugnehmens auf das Verhalten und Handeln anderer Personen hervorhebt. 15 Ervin Goffmans Rahmen-Kategorie und Schatzkis Konzept der teleo-affektiven Struktur ähneln sich darin, auf die Alltagserfahrungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Affekte orientierende Funktion überindividueller Handlungs- und Deutungsmuster beziehungsweise die normativ aufgeladenen und hierarchisch angeordneten Ziele einer Praktik hinzuweisen.
P RAKTIKEN UND P RAXIS
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Art Fingerabdruck in diesen Vollzügen hinterlassen. 16 Rahmen und Struktur werden, so betrachtet, in den Teilnehmerakten selbst aufgerufen und dabei situations- und standpunktbezogen ausgelegt: Es handelt sich um fortlaufend praktisch interpretierte und damit stets provisorische, also auch revidierbare Rahmen beziehungsweise Strukturen im Vollzug. 17 Ausschließlich in der Vermittlung durch diese, in gemeinsamer Praxis immer wieder aufs Neue fabrizierten Rahmen oder Strukturen sind die einzelnen Akte und die Teilnehmer das, was sie sind: ihre Bedeutung und Identität realisieren sich performativ, sofern sie sich in der Praxis einer Praktik als dieses oder jenes Tun, als dieser oder jener Teilnehmer adressierbar machen, ohne dass die Als-Struktur in der Regel zu Bewusstsein tritt (Pille/Alkemeyer 2016). Im methodischen Wechsel der Beobachtungsperspektiven werden die Strukturiertheit und die Kontingenz, die Stabilität und die Instabilität (Schäfer 2013) der Ordnungsbildung beobachtbar und es lässt sich erschließen, wie die transsituativen Rahmen beziehungsweise Strukturen sozial etablierter Praktiken im lokalen Spiel heterogener Teilnehmer konkret hervorgebracht, gestaltet oder auch durchkreuzt werden. In einer retrospektiven Langzeitperspektive können darüber hinaus die Veränderungen einer Praktik in ihren vielgestaltigen lokalen Wiederholungen nachgezeichnet werden.
B EOBACHTUNGSPERSPEKTIVE
UND
T EILNEHMERSTATUS
Jede der beiden Beobachtungsperspektiven weist den Teilnehmern somit einen anderen Status zu. Im Folgenden werden nun jene Teilnehmer fokussiert, denen in Praxistheorien zusammen mit den Dingen eine zentrale Rolle zugemessen wird: die Körper. Aus der Praktiken-Perspektive zeigen sich Körper vornehmlich als ein »organische[s] Substrat« (Reckwitz 2006: 40), das wandelbaren kulturellen Regimen unterliegt. Sie treten in dieser Sicht als heterogen zusammengesetzte Bündel aus Bewegungsmöglichkeiten, Aktionspotenzialen, Stoffen, Resistenzen und Gewohnheiten in den Blick, die sich allererst in historisch kontingenten Prakti-
16 Dass die Intelligibilität expressiver Gesten an ihren situativen Kontext gebunden ist, zeigt bereits Goffman (1964) in seinen Überlegungen zur Situiertheit des Handelns. 17 Insofern haben nicht nur Praktiken einen »stage-setting character«, wie Rahel Jaeggi (2014: 99) im Anschluss an John Rawls ausführt, sondern schafft auch die Praxis eine Bühne für das Auftreten und Handeln der Teilnehmer.
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ken zu mitspielfähigen und intelligiblen »Vollzugskörpern« (Alkemeyer/ Michaeler 2013) 18 zum Beispiel des Fußballspielens oder des Schulunterrichts (Pille 2013) ausformen. Erkennbar wird, wie Körper in den Vollzügen von Praktiken zu dem werden, was sie sind. Mit dieser de-ontologisierenden Kritik an der Vorstellung des Körpers als überdauernde Einheit korrespondiert nun die Neigung der Praktiken-Perspektive, Körper auf Objekte kultureller Regime zu reduzieren. »Ein praxeologisches Verständnis des Körpers«, formuliert entsprechend Reckwitz (2015: 447), »[...] betrachtet den Körper als notwendigen Mobilisierungsort für eine Praktik, als eine Hardware, die die Praktik mit einer ihr entsprechenden Software bespielt«. In den Hintergrund tritt damit, dass nicht nur Praktiken »ihre« Körper, sondern umgekehrt auch Körper jene Praktiken bespielen, in denen sie ihre Intelligibilität und Mitspielfähigkeit erlangen. Einseitig werden so das Gelingen und die Stabilität von Praktiken hervorgehoben: Wie die Dinge, so erscheinen auch die Körper unter dem Blickwinkel des Praktiken-Konzepts vornehmlich als »zuhandene« (Heidegger 2006: 69) Träger praktikenadäquater »Qualitäten und Gebrauchsgewährleistungen« (Schmidt 2012: 66ff.), nicht jedoch als potentiell transformatorische oder gar aufsässige Kräfte in ihrer »Vorhandenheit« (Heidegger 2006: 77ff.); sie werden entweder als ein beliebig zu formendes und zu bespielendes »Rohmaterial« (Moore/Kosut 2010: 1) thematisiert oder aber als immer schon adäquat disziplinierte oder habitualisierte Vollzugsorgane – und damit in der Funktion, eine Praktik am Laufen zu halten und ein gegebenes kulturelles Regime zu reproduzieren. Diese Beobachtung ist keineswegs falsch, aber sie lässt doch Fragen unbeantwortet, deren Beantwortung für das Verständnis konkreter Praktiken zentral ist, zum Beispiel: Was bedingt die Rekrutierbarkeit bestimmter Körper durch bestimmte Praktiken? Was zeichnet das situative, den Fortgang einer Praktik seinerseits beeinflussende Antwortverhalten verkörperter Mitspieler aus? Und wie kommt es in diesem Antwortverhalten immer wieder zu jenen Momenten »somatischen Eigensinns« (Alkemeyer/Villa 2010), die eine Irritation, ein Stocken in der Praxis hervorrufen und Impuls sein können für Reflexion, Kritik und Veränderung? In der gegenwärtigen praxistheoretischen Debatte wird gern Bourdieu mit einer einseitig an der Reproduktion von Strukturen interessierten Sichtweise iden-
18 Mit diesem Konzept versuchen wir, Gebauers (2009) in Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Denken Wittgensteins entwickelten Begriff des »Umgangskörpers« in einer performativen Perspektive zu dynamisieren.
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tifiziert. Allerdings weist schon sein Körperverständnis über strukturfunktionalistische Engführungen hinaus. Zwar postuliert Bourdieu einerseits, gewissermaßen aus der Totalen, eine starke Kodependenz zwischen der Positionierung von »Agents« im sozialen Raum, ihrem Habitus und ihrem Handeln; jedoch berücksichtigt er andererseits auch die Teilnehmerperspektiven und thematisiert mit dem »praktischen Sinn« (Bourdieu 1987) ein erlerntes Gespür für die praktische Logik sozialer Felder und Situationen, das es einem Handelnden in den Grenzen seines Habitus gestattet, kreativ mit der Kontingenz und Mehrdeutigkeit der Praxis klarzukommen.19 Damit ist bereits in Bourdieus Praxeologie eine Differenz zwischen dem Körper als einem habitualisierten Vollzugsorgan sozialer Strukturen und dem Körper als einem intelligenten Agens angelegt, das die reflexive Orientierung des Handelns in einer Praktik ermöglicht und trägt. Allerdings geht Bourdieu den mit dieser Differenzierung eröffneten Möglichkeiten nicht systematisch nach, so dass, wie Thomas Bedorf (2015: 133) schreibt, »notorisch unklar« bleibt, ob ihm die Integration von Draufsicht und Teilnehmerperspektiven »begrifflich und praktisch gelingt«. Um die, die Strukturierung des Körpers akzentuierende Praktiken-Perspektive mit einem genaueren Verständnis für die Operationen des verkörperten Praxissinns in den Interaktionen der Praxis zu vermitteln, wird in der jüngeren kulturphilosophischen und kultursoziologischen Debatte zunehmend eine praxistheoretische Rezeption des phänomenologischen Leibkonzepts postuliert (zum Beispiel Bedorf 2015; Prinz 2014). Analytisch rückt dieses Konzept besonders die Berührbarkeit des lebendigen Körpers, seine Bedeutung als Bezugspunkt einer reflexiv-spürenden Orientierung in praktischen Raum- und Zeitbezügen sowie seine elementare Unverfügbarkeit in den Blick (ausführlich Alkemeyer 2015). Als sozialtheoretische Annahme ermögliche es der Leib-Begriff, so prominent Gesa Lindemann (2016: 58), »Vergesellschaftung als einen situierten raumzeitlich strukturierten Vollzug leiblicher Umweltbezüge« zu analysieren. Nicht das aktive Handeln und Entscheiden einzelner Akteure bilden unter diesem Blickwinkel den Ausgangspunkt der Analyse, sondern deren leibliche Einbindung in Situationen (ebd.): Unter welchen Bedingungen und wie werden leibliche Selbste in und von Situationen berührt? Wie beantworten sie diese Berührungen entsprechend? Und wie wirken sie durch ihre Antworten ihrerseits auf ihre Umwelt ein und kommunizieren mit anderen? Die Vermittlung von Praxistheorie und Leibphänomenologie verspricht somit, die aus der Draufsicht einer
19 Ähnlich Reckwitz (2003: 289), wenn er praktisches Wissen als »sich auf etwas zu verstehen« begreift; vgl. auch Bedorf 2015: 145.
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Theaterperspektive resultierende Verdinglichung des Körpers brechen zu helfen und im Gegenzug jene Leiblichkeit der Erfahrung zu berücksichtigen, welche die Orientierung des Handelns in Praktiken vorreflexiv fundiert; sie ermögliche, so Bedorf (2015: 145), »die Momente der Subjektivität und der Reflexion nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch« in die Praxeologie eintragen zu können. 20 Allerdings steht der praxeologischen Rezeption des Leibkonzepts nach wie vor manch leibphänomenologische Orthodoxie entgegen, die den Leib partout als eine »transhistorische Bedingung von Erfahrung« (Lindemann zitiert nach Bedorf 2015: 146) einsetzen möchte. Wenn beispielsweise im Leib eine das Individuum spürbar mit sich selbst konfrontierende, eigene »Natur« (Gugutzer 2014: 97) gesehen wird, von der Impulse dazu ausgehen (können), sich gesellschaftlichen Zumutungen, wie etwa dem sozialen Druck zur biotechnologischen Hochrüstung des Körpers, zu widersetzen und »echte Emanzipation« (Abraham 2011: 48) zu erlangen, dann droht »Leib« zu einer Residualkategorie für das begriffslose Andere der Gesellschaft mystifiziert und das Verhältnis von Körper und Leib weiterhin in die klassische Unterscheidung von Kultur und Natur eingeordnet zu werden. Als dessen »soziologischer Erbe« (Wacquant 1996: 41, Fn. 34) teilt demgegenüber schon Bourdieu Maurice Merleau-Pontys (1966) Vorstellung eines »fungierenden Leibes«, der Praktiken »mit einem bereits angewöhnten Umgang aus dem Jetzt einer Situation heraus« vollziehe (Bedorf 2015: 134).21 Im deutschen Sprachraum reflektiert seit längerem Lindemann mit ihrem sozialtheoretischen Leibkonzept auf die Historizität und Gesellschaftlichkeit des leiblichen (Selbst-)Erlebens. Im Rekurs auf die Neo-Phänomenologie von Hermann Schmitz sowie Helmuth Plessners Begriff einer exzentrischen Positionalität des Menschen ist in ihrem Ansatz nicht der individuelle Leib in seiner nachträglichen Beziehung zu einer ihm gegenüberstehenden Umwelt Ausgangspunkt der Analyse, sondern die geschichtlich variable »Bezogenheit der Leiber aufeinander« (Lindemann 2014: 18): Die »Struktur der leiblichen Erfahrung« (ebd.) wird von der historischen Mitwelt her als eine »vermittelte Unmittelbarkeit«
20 Die leibliche Erfahrung hat in dieser Sicht, ähnlich wie im Pragmatismus John Deweys, eine das Subjekt konstituierende und nicht voraussetzende Funktion (Nassehi 2006: 228). 21 Freilich sei Bourdieu, wie Wacquant (1996: 41f., Fn. 34) hinzufügt, auf eine Weise innovativ, die »mitunter mit dem Geist wie mit dem Buchstaben dieses Phänomenologen unvereinbar« sei. So lasse Bourdieu Merleau-Pontys subjektivistische Wahrnehmung des Praxissinnes hinter sich, um stattdessen »die soziale Genese seiner objektiven Strukturen und Funktionsbedingungen zu untersuchen«.
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(Plessner 1975) begriffen, in der Körper und Leib zirkulär aufeinander verweisen, ohne ineinander aufzugehen. Der Bezug auf den gesellschaftlichen Körper verdeckt in dieser Sicht nicht – wie noch bei Schmitz (Lindemann 2017: 64) – ein ursprüngliches leibliches Erleben; vielmehr wird Körper als »eine institutionalisierte symbolische Form« begriffen, »die das leibliche Selbsterleben im Sinne der vermittelten Unmittelbarkeit strukturiert« (ebd.). 22 Soziale Ordnungsbildung ist so gesehen mit der Personen- beziehungsweise der Subjektwerdung dadurch vermittelt, dass mit dem Körper auch das leibliche Sensorium entsprechend der Sensibilitätsanforderungen einer jeweiligen Mitwelt ausgeformt wird. Dabei falle, so Lindemann (2014: 90), die im Vollzug der Praxis sich realisierende Grenze leiblicher Selbste nicht unbedingt mit der sichtbaren Grenzkontur des Körpers zusammen, sondern schließe andere Teilnehmer – Körper, Räume, Dinge – in die leibliche Erfahrung ein. In eine vergleichbare Richtung weist das Konzept eines praktischen Körpers im Vollzug – kurz »Vollzugskörper« (Alkemeyer/Michaeler 2013) –, das Bourdieus Einsicht in das translokale und übersituative Wirken inkorporierter Dispositionen mit den praxeologischen Konzepten der Situativität und der Performativität vermitteln möchte. In der Sozialisation, im Lernen, Üben und Trainieren erworbene Dispositionen-Repertoires 23 des Sich-Bewegens, Wahrnehmens und Empfindens konturieren sich demzufolge allererst in Bezug auf praktikenspezifische Strukturen und situative Umstände aus. Die in phänomenologischen Zu-
22 Zu einer soziologischen Reformulierung des Leibbegriffs als »körperlicher Leib« vgl. unter anderem auch Jäger 2004 und Villa 2008. Zu einer praxeologischen Reformulierung der Konzepte Merleau-Pontys vgl. Prinz 2014: 167-327. 23 Mit »Disposition« benennt Bourdieu (1979: 165, Fn. 39) »das Resultat einer organisierenden Aktion«, im Weiteren eine erlernte »Seinsweise, einen habituellen Zustand (besonders des Körpers) und vor allem eine Prädisposition, eine Tendenz, einen Hang oder eine Neigung« und definiert den Habitus als »System von Dispositionen« (ebd.). Mit dem Repertoire-Begriff zielen wir weitergehend darauf ab, statt von einem geschlossenen »System« von einem lockeren, noch ungestalteten Bündel von Bereitschaften, Gewohnheiten, Methoden, Kenntnissen, Fähigkeiten etc. auszugehen, die kontextabhängig für ganz unterschiedliche Praktiken verfügbar gemacht und ausgeformt werden können, mit denen also auch Agierende unterschiedliche Praktiken bespielen und interpretieren können. Die selektive Aktualisierung und Ausformung eines Repertoires ist in dieser Sicht stets durch die jeweilige Praktik und ihren Kontext vermittelt. Sie geht also weder einseitig auf den einzelnen Akteur noch auf die strukturellen Anforderungen einer Praktik zurück, sondern ist ein relationales Geschehen.
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gängen als Wahrnehmen, Empfinden, Spüren und Erleben thematisierten Dimensionen der praktischen Umweltbezüge leiblicher Selbste werden in diesem Ansatz als eine reflexive Modalität untersucht, in der sich ein »Vollzugskörper« durch spürend-wahrnehmendes Erkennen so auf die situativen An- und Aufforderungen eines praktischen Geschehens einstellt, dass er darin als ein »agiles Moment« (Fuchs 2004: 86) mitwirken kann. Damit wird berücksichtigt, dass sich erlernte Dispositionen-Repertoires in Praktiken nicht automatisch ausformen, sondern dass diese Ausformung geleistet werden muss, und zwar nicht allein durch bewusste Reflexion, sondern immer auch im Modus eines seinerseits erlernten körperlich-leiblichen Reflektierens. Detailliert ließe sich solche Ausformung an Sportlern exemplifizieren, die die Bewegungen des eigenen Körpers durch ein erfahrungsbasiertes und auf ihre jeweilige Sportart eingestelltes kinästhetisches Nachspüren fortlaufend am Maßstab eines angestrebten Bewegungsbildes, eines antizipierten Spielverlaufs sowie der situativen Umstände beurteilen und gegebenenfalls noch in actu korrigieren (Alkemeyer/Michaeler 2013; Brümmer 2015).24 Dass sich ein praktischer Körper nicht nur in seinen Bewegungen und Haltungen, sondern auch in der Gesamtheit seiner Sinne und seiner »kinästhetischen Achtsamkeit« (Sutton 2007: 775)25 auf die Motive, Ziele und Zwecke – die teleo-affektive Struktur – der Praktik einstellen muss, an der er mitwirkt, belegen eindrucksvoll die Reflexe eines Handballtorwarts: Sie wären ohne das verkörperte Motiv, den Wurf zu halten, schlechterdings unvorstellbar; ein motorisch, sensorisch und kinästhetisch nicht auf die Praktik des Torhütens eingestellter Körper würde sich klein machen statt möglichst viel Abschussfläche zu bieten.26 Werden die solcherart eingestellten motorischen und sensorischen Vermögen des praktischen Körpers allerdings auf bloße Operatoren soziokultureller Struk-
24 Bourdieu (2001: 208) thematisiert Ähnliches als »praktisches Reflektieren«. Sein Beispiel ist ein Tennisspieler, der einen misslungenen Schlag gestisch wiederholt, um »den Effekt dieser Bewegung zu prüfen, die es auszuführen galt« (ebd.). Bourdieu sieht in dieser Prüfung ein der Praxis zugewandtes Nachdenken. Durch eine leibphänomenologische Brille zeigt es sich freilich ebenso sehr als ein Nachempfinden oder -spüren beziehungsweise als das Moment einer »reflexive[n] Leiblichkeit« (Gugutzer 2002: 295ff.). 25 Weitere Kandidaten für die Analyse eines solchen praktischen Erkennens und Reflektierens wären die Konzepte »sinnliche Erkenntnis« (Holzkamp 1973) oder »empraktische Vernunft« (Caysa 2016). 26 Dieses Beispiel verdanke ich Velten Schäfer.
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turen und situierter Anforderungen reduziert, droht ein Rückfall in funktionalistische Deutungsmuster. Auch dann, wenn man die so nur im Deutschen mögliche begriffliche Trennung zwischen dem Körper als Objekt und dem Leib als dem (gesellschaftlich vermittelten) »Nullpunkt der Orientierung« (Alloa u.a. 2012: 2) nicht mitmachen möchte, um gar nicht erst das Missverständnis aufkommen zu lassen, es handele sich um zwei material trennbare Gegenstände, schärfen leibphänomenologische Zugänge doch die Aufmerksamkeit dafür, dass das leibliche Selbsterleben nicht mit jenen gesellschaftlichen Mustern identisch ist, die es vermitteln. Deshalb können sich spontan immer Konflikte, »Abweichungen und Überraschungen ereignen« (Lindemann 2017: 63). Weder als materiales Ding noch als verletzbarer, empfindsamer und bedingt eigensinniger Organismus ist der menschliche Körper beliebig verfügbar. Lust und Unlust, Schmerz und Müdigkeit, Lachen und Weinen, Angst, Scham und Ekel, Leid, Empörung und Wut belegen dies nachdrücklich. Diese, unter anderem bereits in Kritischer Theorie, materialistischer Psychologie (Sève 1973) oder mikrohistorischer Alltagsgeschichte (Lüdtke 1993) thematisierten »widerständige[n] Minima« (Grüny 2012: 247) des Unproduktiven und Nichtfungiblen können immer auch Auslöser sein für Kritik und politisches Aufbegehren (Gugutzer 2014: 102). Möchte man sie nicht voreilig einem a-sozialen, vor-kulturellen Leib zuschreiben, wäre soziologisch zu untersuchen, inwiefern sie sich über Unstimmigkeiten zwischen lebensgeschichtlich akkumulierter Erfahrung und gegenwärtigen Anforderungen, Erwartungen und Zuständen erklären lassen – wie umgekehrt danach zu fragen wäre, unter welchen Bedingungen das Empfindungsvermögen, zum Beispiel durch dauernde Gewalterfahrung, so abgestumpft wird, dass es Missstände überhaupt nicht mehr als solche wahrzunehmen in der Lage ist.
S ELBST -B ILDUNG , B EFÄHIGUNG UND S UBJEKTIVIERUNG IM W ECHSEL VON TOTAL POINT - OF - VIEW - SHOTS
VIEW UND
Sofern sich die Praxistheorie den von ihr kritisierten Traditionen von Objektivismus, Subjektivismus und Cartesianismus nur entgegenstellt, indem sie die Materialität gegenüber dem Mentalen, den Körper gegenüber dem Geist und die Routine gegenüber der Reflexion priorisiert, läuft sie Gefahr, die überkommenen Dualismen unter umgekehrten Vorzeichen schlicht zu reproduzieren. Sie lassen sich nur dann überwinden, wenn Praxistheorie konstruktiv an die kritisierten Denkfiguren anschließt und die darin mit dem Reizwort »Subjekt« behandelten
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Probleme – geistige Perspektiven, Reflexion, Selbstkorrektur, Kritik etc. – im Rahmen des eigenen Paradigmas neu angeht. Um einen solchen konstruktiv-kritischen Anschluss an die Tradition ist das Oldenburger Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive bemüht (Alkemeyer u.a. 2013). 27 Mit der begrifflichen Trias von »Selbst-Bildung«, »Befähigung« und »Subjektivierung« zielen seine theoretisch-empirischen Forschungen darauf ab, die Ko-Konstitution von sozialen Ordnungen und ihren Subjekten in den Vollzügen historisch kontingenter Praktiken nachzuzeichnen. »Selbst-Bildung« hebt hervor, dass jedes Handeln physisch und psychisch, kognitiv und affektiv auch den Handelnden formt (Hirschauer 2016: 62f.), sich also Handelnde in ihrem Handeln bilden. Konsequent werden deren Körper unter diesem Blickwinkel weder als bloßer Rohstoff für soziale Formungen noch als Vollzugsorgane gegebener Strukturen oder als Behälter für innere Denkvorgänge beobachtet, sondern in ihrer »komplexen Rolle« (Bedorf 2015: 132) für die Ermöglichung, Reproduktion und Transformation sozialer Strukturen. Das Interesse gilt dann den konkreten Möglichkeiten und Manifestationen der reflexiven Orientierung körperlich-leiblicher Selbste in ihrer praktischen Verwicklung mit der jeweiligen Um- beziehungsweise Mitwelt. Körper rücken damit als (fehler-) sensitive und intelligente Handlungsträger in den Blick, die diese Orientierung im Modus eines gesellschaftlich vermittelten unmittelbaren Spürens fundieren (Alkemeyer u.a. 2015b). Wenn Praktiken historische Formen des Handelns sind, dann entsprechen ihnen Formen des Selbst (Hirschauer 2016: 62). Die Anerkennung als Teilnehmer verlangt, das eigene Auftreten, Verhalten und Handeln diesen Formen anzubequemen. Allererst in diesen Formen werden mögliche Teilnahmekandidaten zur Teilnahme befähigt. Der Begriff der »Befähigung« bringt zum Ausdruck, dass ein diffuses Können ausschließlich in den Verflechtungen eines konkreten Vollzugsgeschehens als eine bestimmte Fähigkeit sich zeigt. Er verweist somit auf die grundlegende Relationalität und Heteronomie von Teilnahmefähigkeiten: Befähigt zu werden, bedeutet in die Lage versetzt, das heißt dazu ermächtigt und bevollmächtigt zu werden, so mitzumachen, dass das Mitmachen in der Öffentlichkeit einer gemeinsam geteilten Praktik als ein kompetentes Mitspielen anerkannt wird. Das Medium solcher Befähigung sind die Interaktionen der Praxis selbst: In ihren praktischen Bezugnahmen aufeinander setzen sich die Interagie-
27 Siehe auch www.uni-oldenburg.de/graduiertenkolleg-selbst-bildungen (Zugriff 09.10. 2016).
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renden immer auch als Teilnehmer ein – oder schließen einander von der Teilnahme aus. Sie adressieren sich als Teilnehmer (oder eben nicht) und zeigen sich in diesen Adresssierungen gegenseitig durch sprachliche wie gestische Hinweise und Korrekturen – einen Tonfall, ein Anheben der Augenbraue, ein Verziehen des Mundwinkels – worum es geht, was zu tun ist und, vor allem, wie es gemacht werden muss, um anerkennungswürdig zu sein. »Schritt für Schritt und Zug um Zug« (Scheffer 2008) entfaltet sich so eine bestimmte Normativität der Praxis (Rouse 2007): Fortlaufend treffen die Teilnehmer praktische Unterscheidungen zwischen einem angemessenen und einem unangemessenen, einem richtigen und einem falschen, einem kompetenten und einem inkompetenten Verhalten. Sie sozialisieren sich auf diesem Weg gegenseitig in eine Praktik hinein und bringen sich zusammen mit Routinen und Geschick eine »soziale Sensibilität« (Ostrow 1990) dafür bei, etwas erwartungsgemäß – und das heißt immer auch: in einer bestimmten Form oder einem bestimmten Stil – zu tun. Die Normativität und den machtvollen, politischen Charakter dieser Formen akzentuieren wir mit dem Begriff der »Subjektivierung«. Zwar ersetzt er in gouvernementalitätstheoretischen Studien den »übersozialisierten Menschen« des Strukturfunktionalismus gern durch einen »überkulturalisierten Menschen« (Hirschauer 2016: 63); in der Tradition von Louis Althusser über Michel Foucault bis zu Judith Butler schließt er jedoch die bedingte oder relative Möglichkeit ein, sich zu den Verhältnissen verhalten zu können, in denen die Befähigung zum Mitmachen erfolgt, also eine besondere Handlungsmacht sich bildet und konturiert (Saar 2013). Empirisch lassen sich dabei verschiedene Formen, Weisen und »Aktivitätsniveaus« (Hirschauer 2004: 82) des Als-ein-Subjekt-inErscheinung-Tretens unterscheiden: Routine, adaptives Tun, strategisches Handeln, Kritik in und an der Praxis, Ausstieg oder auch parrhesiastische Akte des Widerstands (Foucault 2012).28 Unter einem praxeologischen Blickwinkel geht keine dieser Formen und Weisen von einem autonomen, prä-praktischen Subjekt aus, sondern ist stets auf die Ko-Aktivität anderer Teilnehmer sowie in der Praxis sich ergebende Gelegenheiten angewiesen, die augenblicklich (sinnlich) erkannt werden müssen. Theorie ist auch dann kein wertneutrales Unterfangen, wenn sie als Methodologie oder Forschungsperspektive verstanden wird. Indem sie Bestimmtes sichtbar zu machen gestattet, während Anderes unsichtbar bleiben muss, hat sie stets po-
28 In diesen Formen zeigen und bilden sich nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Subjekte.
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litische Implikationen. So blendet die handlungstheoretische Emphase der Selbststeuerung des Akteurs dessen konstitutive Bedingtheit aus, während ihn seine strukturalistische Brechung zu einem Struktureffekt oder einem bloßen Vollzugsorgan von Praktiken degradiert und damit die situierten Möglichkeiten des Andersmachens und der Kritik verschweigt. Zwar lässt sich die Transformation von Praktiken auch aus der Draufsicht einer Theaterperspektive über die Abweichungen und Veränderungen erfassen, die sich in den Wiederholungen von Handlungsmustern unweigerlich ergeben (Schäfer 2013; Shove u.a. 2012); jedoch bleiben in dieser Perspektive jene praktischen Interventionen in den Gang der Dinge unverständlich, in denen sich die kritischen Kompetenzen von Teilnehmern zeigen, die diese in ihrem »vielfachen Engagiertsein« (Thévenot 2011) in und zwischen Praktiken fortlaufend erwerben und einbringen. Um sowohl die Bedingungen der Konstitution subjektiver Handlungsmacht als auch deren situierte praktische Äußerungen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit beobachtbar zu machen, ist im vorliegenden Beitrag ein systematischer Perspektivenwechsel vorgeschlagen und zu diesem Zweck auf Begriffe und Methoden zurückgegriffen worden, die dem Theater und dem Film entstammen. So reflektiert die Analyse von Praktiken als Bühne beziehungsweise Schauplatz der Praxis zum einen auf den Umstand, dass ein bestimmtes Tun (»ein Tor schießen«, »Unterrichten« etc.) nur vor dem Hintergrund sozial etablierter Praktiken (des Fußballspielens, des Schulunterrichts etc.) möglich ist, die das Verhalten normativ regulieren und immer auch neue Formen des Verhaltens und Handelns kreieren (Jaeggi 2014: 99f.).29 Zum anderen lenkt die Bühnenmetapher die Aufmerksamkeit darauf, dass etwas auf eine spezifische Weise, in einem bestimmten Stil, vollzogen werden muss, um als kompetenter Beitrag zu einer Praktik identifiziert und anerkannt werden zu können.30 Sie rückt somit zusammen mit dem Vollzugscharakter die szenische Verfasstheit allen intelligiblen Tuns in den Fokus: Ein anerkennbares Handeln realisiert sich im Lichte dieser Metaphorik performativ auf bestimmten Schauplätzen in distinkten Szenen, das heißt in empirisch unterscheidbaren Abschnitten übergreifender Handlungszusammenhänge. 31
29 Wie Jaeggi hier ausführt, hat John Rawls bereits lange vor dem gegenwärtigen sozialtheoretischen »Siegeszug der Praxistheorien« auf diesen »stage-setting character« von Praktiken aufmerksam gemacht. 30 In der Ethnomethodologie wird Ähnliches mit dem Konzept der »accountability« (Garfinkel 1967) gefasst. 31 Zur szenischen Verfasstheit von Praktiken der Subjektivierung vgl. ausführlich Querfurt 2016: 55–92.
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Der methodische Rekurs auf die Aufnahme- und Montagetechniken des Films gestattet es, sowohl die Abhängigkeit einzelner Akte von den Gegebenheiten des Schauplatzes als auch deren Ausgestaltung durch jene Akte, schließlich die Wechselseitigkeit von diesem und jenem zu erfassen und zu rekonstruieren: Indem der total view das Gesamt eines Handlungsraums zeigt, orientiert er über das Setting der Praxis. Er stellt dessen Bedeutung über die Bedeutung der Einzelvollzüge, akzentuiert das Milieu gegenüber den Absichten, Motiven und Gefühlen der Agierenden und gibt die fortlaufende reflexive Bezugnahme deren Tuns und praktischen Bewertens auf den Rahmen beziehungsweise die teleoaffektive Struktur der jeweils vollzogenen Praktik zu sehen. 32 Point-of-viewshots zeigen hingegen die disparaten Sichtweisen der Teilnehmer auf das Gesamtgeschehen und entfalten so aus dessen Innern heraus die Uneinheitlichkeit dessen, was aus der Totalen als einheitlich sich darstellt. Erkennbar wird, wie ein Handlungsraum in den Interaktionen der Teilnehmer gestaltet, bestellt, bewohnt wird und wie sich die Teilnehmer auf eine jeweilige, lebensgeschichtlich informierte sowie orts-, positions- und situationsabhängige Weise darum bemühen, ihr Verhalten in eine anerkennungswürdige Form zu bringen, um im Spiel zu bleiben und darin die eigenen Interessen zu wahren.33 Gegenschnitte beider shots schließlich können erkennbar machen, wie sich »objektiver Kulturzusammenhang« und »subjektive Lebenspraxis« (Lorenzer zitiert nach Querfurt 2016: 86) im Vollzug einer Praktik bedingen und darin Teilnehmer als Subjekte auftreten, die ihrerseits den Schauplatz bespielen, der ihr Spiel allererst ermöglicht. 34
32 Lexikon der Filmbegriffe, Stichwort »Totale«: www.filmlexikon.uni-kiel.de/index. php?action=lexikon&tag=det&id=4371 (Zugriff 01. 07. 2016). 33 In empirischen Forschungsprojekten können die Teilnehmer zu diesem Zweck mit point-of-view-Kameras ausgestattet werden (Latham/Wood 2015). Interessant für praxeologische Untersuchungen dürfte in diesem Zusammenhang auch die filmische Technik sein, Einstellungen aus der Sicht unbelebter Objekte und damit deren Anteil an Praktiken zu zeigen (Lexikon der Filmbegriffe, Stichwort »point-of-view-Shot«: filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2453 (Zugriff 01.07. 2016). 34 Der Perspektivenwechsel unterläuft somit auch die Entgegensetzung einer »partizipatorischen« und einer »kontributorischen« Perspektive auf Praktiken und ihre Teilnehmer (Hirschauer 2004): Richtet die Praktiken-Perspektive die Aufmerksamkeit auf die partizipatorische Verwicklung von Körpern und Dingen in Praktiken, so beleuchtet die Rekonstruktion von Teilnehmerperspektiven die kontributorischen Leistungen der
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I NTERNETQUELLEN Lexikon der Filmbegriffe, www.filmlexikon.uni-kiel.de (Zugriff 01.07.2016).
Passungen herstellen. Zur Affizierungspraxis von Körpern und Prothesen in der Leichtathletik 1 H ANNA K ATHARINA G ÖBEL
Zwei Monate vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro, im Juni 2016, äußerte sich die International Association of Athletics Federation (IAAF) zu einem Antrag auf Teilnahme an den Spielen des deutschen, einseitig beinamputierten Weitspringers Markus Rehm, den dieser bereits im November 2015 gestellt hatte. Rehm hatte seinen Körper mittels einer von BiomechanikerInnen der Deutschen Sporthochschule Köln durchgeführten und durch einen japanischen TV-Sender finanzierten und in der Fernsehdokumentationsreihe Miracle Body medial begleiteten Studie »vermessen« lassen. Das Zusammenspiel von Forschungsergebnissen und medialer Inszenierung, von »Wahrheitsproduktion« und medialer Präsentation sollte den Beweis liefern, dass Rehm, dessen Weitsprünge seit mehreren Jahren jene der besten WeitspringerInnen ohne »Behinderung« überbieten, mit seiner Beinprothese keinen Vorteil gegenüber den nicht-amputierten SportlerInnen hat.2 Die Antwort des Verbandes lautet: nein, er
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Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf laufende, ethnographische Forschungen im Feld des leichtathletischen Spitzensports von »Behinderten« und konzentriert sich auf AthletInnen, die im Verein TSV Bayer Leverkusen 04 trainieren. Die Forschungen sind empirische Grundlage für die Ausarbeitung meiner Habilitationsschrift »Prothesenkörper im Spitzensport. Subjektivierung und Vergesellschaftung mit und über die Dinge« (AT).
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Im Folgenden wird der Begriff »Behinderung« so verwendet, wie er auch unter den ExpertInnen des untersuchten Feldes und in deren Strukturen Bedeutung hat. Er ist hier einerseits eine Klassifikation zur Bezeichnung der Leistungsklassen, die auch kri-
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darf nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen. Die rechtliche Grundlage, auf die sich der Verband beruft, ist die internationale Wettkampfregel Nr. 144.3 (d) des IAAF, die seit dem 01.November 2015 in Kraft ist, und die den »Gebrauch irgendeiner mechanischen Hilfe [verbietet, H.G.], sofern der Athlet nicht schlüssig nachweisen kann, dass der Gebrauch der Hilfe ihm in der Gesamtschau keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber einem Athleten gewährt, der solch eine Hilfe nicht benutzt«.3 Die Studie zu Rehms sportlichen Leistungen schien kein hinreichender Nachweis zu sein; zu weiteren Entscheidungsbegründungen sah die Kommission keinen Anlass. Dass Rehm die Studie überhaupt in Auftrag gegeben und einen Antrag gestellt hatte, spaltet nicht nur die VertreterInnen des Deutschen Behindertensportverbands, sondern auch den Verein TSV Bayer Leverkusen 04, in dem Rehm mit als »behindert« und »nicht-behindert« klassifizierten LeistungssportlerInnen für die Olympischen und Paralympischen Spiele in Rio trainiert.4 Denn diese Studie versucht zu vermessen, was der Meinung vieler ExpertInnen und Assoziierten des Vereins (TrainerInnen, AthletInnen, OrthopädiemechanikerInnen, ManagerInnen) nach nicht vermessen werden kann: Die Passung und das routinisierte Zusammenspiel von dem beinamputierten Körper und der medizintechnischen Sportprothese. Die soziale Tabuzone liegt unter anderem in dem Explizitmachen, wie die Prothese zu einem sozial wirksamen Akteur im Sport wird (beziehungsweise schon längst geworden ist) und sich untrennbar in die körperliche Bewegung der AthletInnen, in die Bewertungspraxis ihrer Klassifizierungen und Leistungen sowie die institutionelle Vermischung von »behinderten« und »nicht-behinderten« Strukturen von Wettkämpfen, Vereinen und Verbänden einmischt. Diese Zone hat Rehm in der Leichtathletikdiskussion betreten, um dem vermeintlichen Geheimnis im Zusammenspiel von Körper und Prothese mittels »objektiver«,
tik-/kommentarlos von den SportlerInnen und anderen Vereinsmitgliedern übernommen wird. Andererseits wird er als ironischer Marker eingesetzt, wenn es etwa darum geht sich auf Inklusionsdebatten zu beziehen. 3
Siehe hierzu: Deutscher Leichtathletikverband (2016) Änderungen der Internationalen Wettkampfregeln
2016-2017,
www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/12_
Sevice/Wettkampforganisation/01_Bestimmungen_Satzung_Vordrucke/Wettkampfbe stimmungen/IWR_-_Regeländerungen_2016-2017_01.11.2015.pdf
(Zugriff
22.08.
2016). 4
Siehe hierzu auch die journalistische Aufarbeitung der aktuellen Geschehnisse in Dossierform, Henk 2016.
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sportwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden auf die Schliche zu kommen; verbunden mit dem Versuch, eine endgültige Faktizität zu schaffen, die seine Vor- und Nachteile in Anlauf und Absprung in klar benennbaren, quantifizierten Werten ausdrückt. Während biomechanische Studien in vielen anderen Bereichen des Sports als wissenschaftliche Zuliefer- und Verifizierungsdienste für die in Training- und Wettkampfpraxis gewonnenen Erkenntnisse sozial legitim sind, ist die isolierte und in Zahlen übersetzte Darstellung der Generierung von athletischer Bewegung an der Schnittstelle zum stigmatisierten »Behindertensport« unter vielen ExpertInnen des Vereins weder glaubwürdig noch überzeugend. Die starke Skepsis hat damit zu tun, dass der »Behindertensport« und speziell jener der SprinterInnen und WeitspringerInnen in den letzten zwei Dekaden in Wissenschaft und medialer Öffentlichkeit als paradigmatisches Beispiel für unterschiedliche, technologiegläubige Zukunftsbilder herangezogen wurde. 5 Während die Einen die Prothese in den Diskurs um transhumane Cyborg-Fantasien stellen (Kienitz 2010; Schneider 2005) oder die Grenzen zwischen den Klassifizierungen von »behinderten« und »nicht-behinderten« SportlerInnen in der Leichtathletik verschwimmen lassen (Norman/Moola 2011; Swartz/Watermeyer 2008), geht es Anderen darum, das »Techno-Doping« im »Behindertensport« in den größeren Kontext der Doping-Debatte und der Frage nach der prinzipiellen Klassifizierbarkeit von Körpern in der Leichtathletik zu stellen (Harrasser 2013; Harrasser u.a. 2014). Viele der TrainerInnen, SportlerInnen, PhysiotherapeutInnen oder OrthopädiemechanikerInnen im Umkreis von Rehms Verein sind sich einig, dass es im praktischen Zusammenspiel von Körper und Prothese weder ausschließlich um das eine noch das andere geht, sondern um eine als privat
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Sportprothesen der Beine haben seit den 2000er Jahren im (stigmatisierten) »Behindertensport« insbesondere unter den SprinterInnen und WeitspringerInnen mit ihren cförmig geschwungenen Unterschenkeln aus geschichteter Kohlenstofffaser mit Vorfuß und ohne Ferse (»Gepardenbeine«) eine technologiegläubige Öffentlichkeit sowohl in der Wissenschaft als auch in der journalistischen Berichterstattung für sich gewonnen. Seitdem Oscar Pistorius, der südafrikanische Sprinter, als erster beidseitig beinamputierter Sportler an den olympischen Spielen in Peking 2008 teilnehmen durfte, ist eine Debatte um die Vergleichbarkeit von körperlichen Leistungen im Sport entbrannt, die im Rahmen der paralympischen Spiele in London 2012 ihre Fortsetzung fand und bis heute anhält. Der »Fall Rehm« ist im deutschsprachigen Raum der Präzedenzfall. Pistorius hatte sich bereits 2008 von BiomechanikerInnen der Universität Tübingen »vermessen« lassen.
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beziehungsweise intim anzusehende »Gefühlssache« (S1)6 der AthletInnen, die für Außenstehende nicht zu ermitteln sei. Keiner der ExpertInnen wagt zu thematisieren und zu beurteilen, wie ein SportlerInnenkörper die Handhabung für die Prothese ausbildet. Entgegen dieser Annahme des Feldes greift der folgende Text diese kontroverse Gefühlssache als ein öffentlich sichtbares und praktisch vollzogenes Aufführungsgeschehen der Subjektivierung auf. In einer praxeologischen Perspektive werden Gefühle in Affizierungen im Trainingsalltag prothetisierter LeichtathletInnen übersetzt. Nicht, um einer biomechanischen Perspektive eine schlichte Opposition zu bieten. Vielmehr soll im Anschluss an anthropologische und soziologische Studien der Wissenschafts- und Technikforschung (Knorr-Cetina 1999; Latour/ Woolgar 1986) gezeigt werden, wie sich erstens eine soziale Stabilität über Affizierungen herstellt, die sich als ein untrennbares Zusammenspiel von Mensch und der vermeintlichen Hoch-Technologie der Sportprothesen gestaltet. Zweitens soll aufgezeigt werden, worin sich die Affizierungspraxis prothetisierter LeichtathletInnen von dem Sporttreiben nicht-prothetisierter Läuferund WeitspringerInnen unterscheidet. Dies wird anhand meiner derzeit laufenden ethnographisch angelegten Forschungen über beinamputierte SportlerInnen dargelegt, die in dem Verein, dem auch Rehm angehört, durchgeführt werden. Um diese Argumentation zu entfalten wird zunächst die »Passung« zwischen menschlichen Körpern und nicht-menschlichen Dingen im Sport aus praxeologischer Perspektive eingeführt und die Spezifik der Passung im »Behindertensport« diskutiert. Daran schließt der theoretische, vor allem aber methodologische Zugang der Analyse an: eine praxeologische Perspektive auf Affizierung und das Affiziert-Werden. Die Affizierung selbst ist hierbei als eine soziale Praxisformation zu denken. Einzelne Praktiken werden zum Träger der Affizierung von Körpern und der affektiven Besetzung von Dingen. Die kulturwissenschaftlich geführte Diskussion um Affizierung in der vitalistischen Tradition wird hier an die praxeologische Debatte in der Kultur- und Körpersoziologie angeschlossen. Zweitens werden im Dialog zwischen körper- und techniksoziologischen Überlegungen ausgesuchte Praktiken von prothetisierten LeistungssportlerInnen zur Steigerung von Leistung hinsichtlich ihrer Affizierungen beschrieben. Die
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Im Folgenden werden alle InterviewpartnerInnen mit S für SportlerIn und einer fortlaufenden Nummerierung anonymisiert und abgekürzt. Das Datenmaterial umfasst neben den ethnographischen Protokollen ebenfalls Interviewmaterial mit derzeit (09/2016) 15 AkteurInnen (SportlerInnen, TrainerInnen, OrthopädietechnikerInnen) des Vereins.
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Komposition der Passung selbst ist, so die These dieses Beitrages, ein situatives, routinisiertes Geschehen des sich wiederholenden Affiziert-Werdens. Es beruht auf Ensembles von Praktiken, die die jeweils passende »Prothese« und die »Körper« dazu immer wieder neu/anders hervorbringen. Für die prothetisierten SportlerInnen sind dazu – wie exemplarisch analysiert wird, Praktiken der Wartung der künstlichen Bauteile des Beines sowie die Pflege des Stumpfes zur immer wieder neu herzustellenden Passung dieser beiden materiellen Komplexe notwendig. Abschließend wird Bezug darauf genommen, was die praxistheoretischen Erkenntnisse vor dem Hintergrund der momentan geführten Debatte bedeuten.
P ASSUNGEN IM S PORT
ALS ALLTÄGLICHES
V OLLZUGSGESCHEHEN
In einer körpersoziologischen Perspektive sind die menschlichen Körper und die nicht-menschlichen Dinge in den Routinen von Training und Wettkampf schon immer eng miteinander verwoben gewesen (Gugutzer 2015). Im modernen Sport, der auf die systematische Optimierung von körperlicher Leistung abzielt (Gebauer 2002) und im Spitzensport auf die in systemtheoretischer Perspektive dargelegte Leitunterscheidung »Sieg/Niederlage« (Cachay/Thiel 2000) ausgerichtet ist, waren unterschiedliche Sportgeräte (zum Beispiel Dinge des Gebrauchs, verwissenschaftlichte Objekte oder spezielle mediale Apparaturen, dies jeweils in Abhängigkeit von den jeweiligen industrialisierten Produktionen und der jeweiligen Expertise) schon immer konstitutiver Bestandteil der Ausübung und Leistungssteigerung von sportlicher Bewegung. Der normative Zweck in der Rekrutierung der nicht-menschlichen Dinge, Objekte und Medien für das Sporttreiben liegt darin, die modernen Leistungsversprechen des Sports zu erfüllen und damit zum Beispiel systematisch an der persönlichen Bestzeit, der optimierten Sprung-, Wurf- oder Schussweite, aber auch der optimierten medialen Inszenierung und wechselseitigen Bewertung von Leistung (Woermann 2013) zu arbeiten. Wie in anderen Alltags- und vor allem Expertenkulturen auch bilden sich dadurch »symbiotische« Beziehungen zu Hoch-Technologien (Alkemeyer 2006) aus, wie beispielhaft am Motorradfahren dargelegt wurde. Oder Sportgeräte jeglicher Art werden zu »Sozialpartnern« mit eigenen Distinktionsmerkmalen (Gugutzer 2015) – zum Beispiel dingliche, wie etwa der Stab im Hochsprung, oder Kleidung und Schuhe; flüssige wie etwa die Beschaffenheit von Wasser für SchwimmerInnen oder atmosphärisch-räumliche Komponenten, wie etwa Stadionarchitekturen oder Schwimmanlagen.
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Die Passungen zwischen dem »Restbein« (S2) der beinamputierten SportlerInnen und der Sportprothese herzustellen sind im Anschluss an diese Erkenntnisse der Dreh- und Angelpunkt für das leistungsorientierte Sporttreiben im stigmatisierten »Behindertensport«. Eine Passung herzustellen ist weder ein sozial determinierender technischer Prozess des »Anpassens» von Bauteilen an den Körper oder umgekehrt eine körperliche Determination der Technik, noch ist die Passung als ein sozial isoliertes interface zwischen Mensch und Maschine zu verstehen (siehe dazu kritisch Pickering 2001), wie im Folgenden dargelegt wird. Das hier zugrunde gelegte praxistheoretische Argument lautet in Anlehnung an Theodore Schatzkis (2010) Betonung des Materiellen und dessen grundständige Eigentätigkeit in Praktiken wie folgt: In die Routinen des Trainings, die sich unwesentlich von denen der nicht-amputierten LeichtathletInnen unterscheiden, nistet sich eine Affizierungspraxis zur Herstellung von Passungen ein. Diese bringt Praktikenkomplexe hervor, die über ihre zeitlichen, räumlichen und materiellen Strukturen sichtbar werden. Nur durch die Herstellung dieser Passungen werden die SportlerInnen zu teilnahmefähigen AkteurInnen des Leichtathletikgeschehens – im übertragenden Sinn wird ihre »Mitspielfähigkeit« (Alkemeyer/ Michaeler 2013; Brümmer 2015) hierdurch beglaubigt. Diese Passungen sind, wie im Folgenden dargestellt wird, komplexer und kontrollintensiver herzustellen als etwa jene von Sportschuhen oder medizintechnischer Dinge zur Optimierung des Laufens im Trainingsalltag nicht-amputierter SportlerInnen. Dies liegt unter anderem daran, dass das Herstellen von Passungen in der Verantwortung von vielen liegt. Zwischen AthletInnen, TrainerInnen, OrthopädietechnikerInnen und den IngenieurInnen der Forschungsabteilungen der Hersteller entsteht eine aus spezifischen Praktiken der Wartung und Pflege heraus gewonnene Expertise, die situativ gebunden ist, wie gezeigt wird und deshalb nicht (analog) übertragbar ist auf andere Sport- oder Alltagssituationen.
AFFIZIERUNG ALS SOZIOLOGISCHE F IGUR DES M ATERIELLEN UND K ULTURELLEN Der affective turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Clough 2007; Clough 2010; Gregg/Seigworth 2010) hat dazu angeregt, die in der Körpersoziologie bereits etablierten leibphänomenologischen Ansätze zur Affizierung des Menschen durch die Dinge um eine materialitätstheoretische Akzentuierung von Affekten, beziehungsweise der Affizierung des sozialen Sensoriums durch die nicht-menschliche oder mehr-als-menschliche materielle Welt, zu erweitern.
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Diese Perspektive, die sich an Ansätze des (in Anlehnung an die Feministische Theorie geprägten) »Neuen Materialismus« (Coole/Frost 2010) anschließt, befremdet gleichsam anthropozentrische Sichtweisen auf den Menschen und die stark dominierende Sichtweise auf ein durch die menschlichen Wahrnehmungsorgane selbstbestimmt handelndes Subjekt, die auch phänomenologischen Ansätzen unterstellt wird (Göbel 2016).7 Mit Affekten sind allgemein vor-kognitive körperliche Gemütserregungen bezeichnet, wie Wut, Scham, Lust und Begehren, Freude, Aufregung, Anspannung, Trauer, Schmerz oder Angst. Diese jüngeren Ansätze der Affekttheorie (Thrift 2008), die insbesondere aus der Kulturgeographie (Anderson 2009; Whatmore 2006), der Anthropologie sowie der Soziologie nahestehenden Medientheorie (Ahmed 2004; Featherstone 2010) stammen, verorten die Emergenz und Reproduktion von Affekten als sozial bindende Einheiten ausschließlich in einer im topologischen Sinn räumlich-materiell ausgefalteten »Situation» (beziehungsweise in den Aneinanderreihungen von Situationen). Affekte als sozialtheoretische Einheiten des Situativen erweitern dadurch die etablierte, handlungstheoretisch ausgerichtete Soziologie der Emotionen (Barbalet 2002; Schnabel/ Schützeichel 2012) sowie die Konzeption von Gefühlen in zweierlei Hinsicht (Seyfert/Kwek 2012; 2015): Erstens werden Affekte nicht ausschließlich im »Inneren« des Körpers der Subjekte angesiedelt, so wie etwa Gefühle überwiegend als psychologisierte Einheiten (Scheer 2011), auch im Anschluss an die dominierenden soziologischen Theorien der Moderne, konzipiert wurden (Reckwitz 2015).8 Zweitens ist der Affekt nicht als eine den Subjekten »äußerlich« konstruierte oder als eine rein in Sprache aufgehende Erscheinung, wie sie für die Emotionen in sozialkonstruktivistischer Perspektive bereits in den 1980er Jahren konzipiert und damit überhaupt in die sozialwissenschaftliche Analyse eingeführt wurde (Gerhards 1988; Harré 1986; siehe auch Reckwitz 2015: 33). Die Emotion ist die
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Wenn etwa auf die Betroffenheit oder Ergriffenheit des Subjekts durch die Dinge rekurriert wird, jedoch die Effekte des Tuns im nicht-menschlich Materiellen außer Acht geraten.
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Eine Ausnahme bilden hier die Arbeiten von Georg Simmel und dessen Soziologie des Sinnlichen (2009) sowie Norbert Elias (1997), für den Affekte immer schon Teil sozialer Figurationen sind; auch Autoren wie Gabriel de Tarde (2009) und sein Ansatz der Nachahmung wären hier zu nennen.
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konventionalisierte Form zur Bewusstmachung eines Affekts, dieser vollzieht sich hingegen immer vor-kognitiv – im Geschehen (Pile 2010). Affekte sind somit nicht ohne ihren Vollzug, die Affizierung – auch verstanden als ein Affiziert-Werden, zu denken. Sie sind durch ihre Situiertheit stets an das Materielle gebunden (Blackman 2012) – sei es an menschliche Körper, genauso aber auch an andere, organische oder nicht-belebte Dinge der materiellen Kultur, der Pflanzen- und Tierwelt. Sie werden auch zu einem medientheoretisch wie soziologisch interessanten Untersuchungsobjekt, denn sie »vermitteln« sich über diese Materialitäten (Angerer 2007) oder werden als ein Phänomen der »Übertragung« (Brennan 2004) zwischen menschlichen Körpern und deren Wahrnehmungsdispositionen sowie den nicht-menschlichen Dingen (Tiere, Pflanzen, Technologien und medialen Apparaturen) diskutiert. Affekte sind nur situativ erfassbar, wenn sie durch-/er-/ge-/lebt werden. Das heißt im methodologischen Sinn, ihr Vollzugscharakter ist anhand der wechselseitigen Prozesse der »Affizierung« (Ott 2010) zu erkennen, die sowohl Körper als auch die nichtmenschlichen Dinge »betreffen«. Affizierung bezieht sich auf das Moment des Affiziert-Werdens, wenn beobachtet werden kann, wie menschliche Körper »Vorlieben dank der Ein- und Auswicklung anderer in uns« (ebd.: 14) entwickeln. Denn, »diese [nicht-menschlichen, H.G.] anderen leben als molekulare Differentianten im Organismus, geben Rhythmen, Empfindungsfelder und affektive Muster zur Gewohnheits- und Gedächtnisbildung vor […], die den Einzelnen dimensionieren und in ein Weltwesen transformieren« (ebd.). Die Perspektive des Affiziert-Werdens beinhaltet auch, dass die nicht-menschlich Anderen durch Affizierungen geformt und sozialisiert, animiert und belebt werden. Affizierungen, die als Prozesse verstanden werden, bilden somit im situativen Geschehen eine überindividuelle Struktur aus, in der einzelne Affekte benennbar werden. Affizierungen können hierdurch keinen einzelnen menschlichen Körpern oder nicht-menschlichen Materialitäten zugeschrieben werden. Diese Überlegung der Affekttheorien folgt der vitalistischen Begriffsgeschichte in der Tradition von Baruch de Spinoza, der bereits im 17. Jahrhundert die Genese von Affekten über die materiellen Dinge herleitete und darin ein sozial produktives Moment sah (Kwek 2014). Henri Bergson wies mit dem Begriff des élan vital auf die produktive Kraft des sozialen Lebens des Materiellen hin (Delitz 2014), das sich immer durch organische wie nicht-organische, menschliche wie nichtmenschliche Materialitäten herstellt. Gilles Deleuze und Félix Guattari hoben den Begriff des »Affektblocks« (Deleuze/Guattari 1992) hervor, um auf die eigenständige Verschaltung von Wahrnehmungsdispositionen des Körpers sowie nicht-menschlichen Beteiligungen hinzuweisen. Diese Überindividualität wurde im Anschluss daran als »Autonomie des Affekts« (Massumi 1995) bezeichnet,
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um eine vermeintlich soziale Unabhängigkeit von dem einen (menschlichen Körpern) oder dem anderen (nicht-menschlichen Dingen) zu betonen.9 Die historisch gewachsene Kulturalität der Affizierung wurde durch die hier skizzierten Ansätze und zentralen TheoretikerInnen in den Performance Studies stark gemacht und auf das Sich-Bewegen in Bühnen- oder Alltagssituationen bezogen, vorrangig im Ästhetischen aber auch im Sozialen (Massumi 2002). Kulturell vermittelte Gesten und Mimiken von Affekten, wie etwa Schamesröte, freudiges Jauchzen, sexuelles Begehren, Angstschweiß oder die schmerzvolle Verzerrung der Gesichtsmuskulatur, werden hier insbesondere auf ihre historisch gewachsenen Konventionen im Sozialen hin untersucht und zum ästhetischen Thema gemacht. Oder: Sie geraten durch ihre vermeintliche Autonomie und die Nichtkalkulierbarkeit in den Blick. In beiderlei Fällen sind diese Zugriffe für eine historisch-kulturelle Perspektivierung der Affizierung weiterführend: Die Bewegung (movement) als routinisiertes Geschehen wird als die Emotion im sozialen Flow sichtbar (ebd.: 14), denn Bewegung vollzieht sich immer affizierend, bedient sich kultureller wie sozialer Konventionen, unter anderem der Politik des Berührens und des Berührt-Werdens (Manning 2007: xxi). Das Sich-Bewegen im Affekt wird der Entscheidungsort des Sozialen, denn es lotet aus, inwiefern »being bodily attuned to opportunities in the movement, going with the flow« (Massumi 2015: 14) Konventionen des Affiziert-Werdens bedient und gleichermaßen befremdet, innoviert und verschiebt.
AFFIZIERUNG IN PRAXEOLOGISCHER P ERSPEKTIVE Diese Diskussion in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist für eine praxeologische Perspektive auf Affizierungen in Routinen und die methodologische Frage nach dem Affiziert-Werden von Praktiken zentral (Duff 2010; Timm
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Massumi hat die Autonomie des Affekts zunächst als ein asoziales Moment bezeichnet, das sich empirisch nicht einfangen ließe. Er wurde dafür später kritisiert (Leys 2011), denn die neueren Affekttheorien der Kultur- und Sozialwissenschaften sollten im Umkehrschluss keinesfalls mit einer neurowissenschaftlichen Perspektive und der außersozialen Isolation des Affektiven und einer Perspektive, die verwunderlicherweise auch in die Sozialwissenschaften Eingang findet, verwechselt werden. Die Betonung des vermeintlich Asozialen hebt jedoch zugleich die Innovationskraft und Produktivität des Affekts hervor; letztlich ist damit auch seine soziale Effektivität gemeint.
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Knudsen/Stage 2015). In Anlehnung an den Aufsatz »Praktiken und ihre Körper« (Hirschauer 2004) wurde in der soziologischen Praxistheorie die Bearbeitung von »Praktiken und ihre(n) Affekten« ausgerufen (Reckwitz 2015), um die untrennbare, situative Verbundenheit der Wahrnehmungsmodalitäten des Körpers mit den Artefakten, Dingen und Technologien des alltäglichen Gebrauchs herauszustellen (Göbel/Prinz 2015). Es wurde argumentiert, dass das Konzept der »Praxis« die körperlich-materielle Logik der Affizierung am präzisesten zu fassen vermag (Scheer 2012; Wetherell 2012).10 Die Praxis kann als der Träger von Affizierungen verstanden werden, denn die Analyse einzelner Praktiken machen die Inanspruchnahme von Wahrnehmungsdispositionen des Körpers als auch den affektiv besetzten Dingen im Sozialen sichtbar. Eine praxeologische Perspektive schaut darauf, wie Körperorgane ihr Wahrnehmungsvermögen fortlaufend zu erweitern, einzuschränken oder umzustellen wissen, um mit forschenden Augen den Prozess des »learning to be affected« zu identifizieren (Latour 2004: 206). Gleichsam kann durch Praktiken erfasst werden, welche Affizierungen für die Subjektivierungsformen durch Praxis relevant werden und Aussagen darüber treffen, wann sich bestimmte Muster des Affiziert-Werdens im Einnisten in Routinen verstetigen und einzelne Praktiken resistent gegenüber fortlaufenden Neu-Affizierungen werden. Hieran lässt sich körpersoziologisch schlussfolgern, dass Affekte ausschließlich über Praktiken und deren eingelagerte normative Muster sowie soziale Dispositionen des Wahrnehmens generiert und verhandelt werden. Dies bedeutet auch, dass bestimmte affektiv besetzte Sozialfiguren des Materiellen (zum Beispiel in diesem Kontext »LeichtathletInnen«) nicht nur situativ anbeziehungsweise aufgerufen werden, sondern sich diese in ihrer kulturellhistorischen Struktur auch nur hierdurch reproduzieren, verändern, variiert und differenziert werden können. In Anlehnung an subjektivierungstheoretische Ausarbeitungen der Praxistheorie (Alkemeyer 2014) ließe sich argumentieren, dass das Subjekt hierdurch für bestimmte Affizierungen sensibilisiert wird und für andere nicht. Über das Identifizieren von Praktiken lässt sich somit dieser Prozess zur sozialen Differenzierung von Affizierung aufzeigen. Körperliche Erregungszustände und deren situative Ausdifferenzierungen sind somit nicht als Eigenschaften eines Körpers zu verstehen und auch nicht als außerkörperliche symbolische Ordnungen. Sie werden performativ in der Interaktion erzeugt und
10 Zum Begriff der Praxis als Vollzugsgeschehen und Verhältnis von Praxis und Praktiken siehe auch den Beitrag von Thomas Alkemeyer in diesem Buch.
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differenzieren beziehungsweise entdifferenzieren sich auch über diesen Vorgang. Dies impliziert auch eine grundlegende dingsoziologische Annahme zum Prozess der affektiven Besetzung von Dingen. Das, was materiell »anspricht«, was positive wie negative Affekte in Praktiken hervorruft, folgt bereits einem sozialen Prozess der materiellen Kulturalisierung (Reckwitz 2015). In Rückgriff auf die psychoanalytische Kulturtheorie Jacques Lacans wurde in Feministischer Perspektive betont, inwiefern die Dinge, mediale Apparaturen und Technologien symbolisch-affektiv »besetzt« (Silverman 2015) sind und das Subjekt sich dementsprechend daran ausrichtet (Prinz 2014). Im Anschluss daran wurde argumentiert, dass sich insbesondere in wissensintensiven Praxiszusammenhängen libidinös eingerichtete Begehrensstrukturen (»chains of wantings«) stabilisieren, die auf den unendlichen kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten der Dinge, beziehungsweise Technologien beruhen, diese aber auch dadurch begrenzen und steuern (Knorr-Cetina 2001: 185). Entgegen einer anthropomorphen Perspektive auf die Dinge sind diese gleichermaßen wie der Körper in der Lage zu affizieren und affiziert zu werden. Die nicht-menschlichen Dinge (wie hier zum Beispiel die Schichtungen der »Karbonfaser« in den Sportprothesenbeinen, »Silikon« im Schaft) werden in spezifischen Praxiskonstellationen zu einem zentralen Träger des Affizierens, da sie in der Lage sind, nicht nur ihre materiellen, sondern auch ihre kulturell-historischen Inskriptionen situativ zu entfalten, beziehungsweise je nach InteraktionspartnerIn abrufbar zu machen. Diesen vielfältigen materiell-kulturellen Affizierungen im Vorgang der Passungen von Körpern und Sportprothesen wird im Folgenden anhand der Rekonstruktion von ausgewählten Routinen der SportlerInnen im Trainingsalltag und spezifischen Praktiken der Wartung und Pflege ihrer Prothesen nachgegangen.
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»Die Sportprothese« existiert im Trainingsalltag der SportlerInnen nie als etwas Singuläres, denn sie wird beständig in ihre Einzelteile und unterschiedlichen materiellen Aggregatzustände zerlegt und wieder zusammengefügt, Einzelteile werden ausgetauscht oder repariert. Genauso wie der »Körper« der AthletInnen in den Routinen des Trainings nur über seine vielfältigen Erregungszustände sichtbar wird – im übertragenen Sinn ist er ein »body multiple« (Mol 2002), der in verschiedenen Situationen jeweils andere Dispositionen zeigt und entfaltet. Die Verschaltung von Körpern und Prothesen geschieht in Trainingsroutinen der SportlerInnen und TrainerInnen, bei dem unregelmäßigen Aufsuchen von Ortho-
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pädietechnikerInnen beziehungsweise bei deren Begleitung von Trainingseinheiten und Wettkämpfen und/oder mit Hilfe von ExpertInnen aus den Forschungsabteilungen des Herstellers. Analog zu Erkenntnissen aus dem Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung im Labor und im Alltag von IngenieurInnen können diese über ein fortlaufendes »tinkering« (Pickering 1995), als ein Basteln an Praktiken und im Modus des Affiziert-Werdens identifiziert werden. Die athletische Bewegung des »Laufens« wird die normative Orientierungsinstanz, um das Zusammenspiel zwischen den mechanischen Bauteilen und dem »Restbein« immer wieder neu herzustellen und auf körperliche Dispositionen wie materielle Zustände zu beziehen. Sie fungiert im epistemischen Sinn als ein konzeptuelles Vehikel im Sinne eines vortastenden, systematischen Arbeitens an dem Vollzug des Sich-Bewegens.11 Zwei zentrale Aspekte des Affiziert-Werdens in den Routinen des Trainings lassen sich in Praktiken der Wartung und Pflege aus dem Alltag der SportlerInnen rekonstruieren: die Wartung des Vakuums, das sich zwischen Schaft, Stumpf und den mechanischen Bauteilen der Prothese einstellt sowie die Pflege des Stumpfes. Wartungen des »Vakuums« Praktiken des Wartens sind als ein situationsspezifisches, fortlaufendes Justieren und Nachjustieren des »Vakuums« zu verstehen, das sich zwischen Schaft und dem mechanischen Verbindungsglied zum Karbonbein einstellen muss, um die Bewegung so herzustellen, dass eine gezielte Optimierung der Leistung möglich wird. Dies ist zumeist eng verknüpft mit dem auf Wiederholung aufbauenden Justieren und Nachjustieren eines (je nach Amputationsgrad angefertigten) mechanischen (Knie-)Gelenks, dessen Beweglichkeit immer wieder neu eingestellt und mit der Sprungfeder abgeglichen werden muss. Dabei wird der Schaft über einen Saugknopf mit dem mechanischen Kopf des Karbonfaserbeines verbunden. Bereits beim Anlegen der Prothesen sowie im Moment des Aufstehens und nach einem kurzen Hoch-Hüpfen (das von den SportlerInnen als ein Hüpfen wie ein »Känguru« beschrieben wird) ist der Saugmechanismus ausgelöst. Danach setzt sich die SportlerIn noch einmal auf eine Bank. Über ein Ventil wird die
11 Hans-Jörg Rheinberger hat die explorativen Wissensprozesse im Labor unter anderem in dieser Vehikelfunktion beschrieben, indem er zeigte, wie einzelne Teile oder mediale Apparaturen als konzeptuelle Behelfslösungen gebraucht wurden, um einen anderen/neuen Gegenstand zu definieren und real werden zu lassen. Dies hat er mit »epistemische Dinge« bezeichnet (Rheinberger 1997).
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restliche Luft aus dem Schaft herausgelassen. Das Ertönen eines Zischens zeigt an, dass das Vakuum nun hergestellt ist. Die SportlerIn überprüft dies durch ein Hin- und Herwenden des Beines. Beim Tragen von Alltagsprothesen und insbesondere bei Personen »mit geringer Aktivität« (Klassifikation des Herstellers) wird dieser Mechanismus nicht verwendet. Hier wird das Restbein über einen Stift, der in den darüber gestülpten Strumpf eingearbeitet ist, in die Mechanik hineingeschraubt. Die Vakuum Variante ist in der Klassifikationslogik des Herstellers insbesondere für Personen »mit hohem Aktivitätsniveau« geeignet, denn ein routiniertes Geschick im Ansaugen ist notwendig, um die Verbindung überhaupt als ein Vakuum wahrnehmen zu können, das eine athletische Laufbewegung ermöglicht. Personen, für die der Saugmechanismus ungewohnt ist, haben zunächst einmal Schwierigkeiten überhaupt mittels eines Vakuum zu stehen/zum Trainingsfeld zu gehen/zu laufen. Erst wenn der Umgang mit der Prothese schon etwas routinierter ist, kann das Halten und Steuern des Vakuums im Laufen beibehalten werden. Im Laufen bewahrt das Vakuum das »Restbein« (S1) davor, noch weiter in den Schaft hineinzurutschen. Der unvermittelte »Endkontakt« (S1) wäre für die SportlerInnen, die mit dem Vakuum trainieren, sehr schmerzhaft. Dies gilt insbesondere für diejenigen, deren Kniegelenk amputiert und deren Restbein schmaler ist, da sie, um zu laufen, noch »tiefer« in den Schaft hineingleiten als es notwendig wäre. Das Vakuum beugt einem Absinken des Stumpfes vor. Der angesaugte untere Teil des Restbeins wird durch den Schaft gepolstert, der gegebenenfalls noch mit Karbon ummantelt ist, sowie durch die Sprungfeder in dem mechanischen Bauteil, das unterhalb des Saugknopfes ansetzt. Für die Einstellung der Gelenkigkeit der mechanischen Sprungfeder ist die Amputationshöhe entscheidend. Die Kniegelenkamputationen erfordern ein aufwändiges künstliches Gelenk. Um dieses zu warten entfernt die kniegelenkamputierte SportlerIn dazu gegebenenfalls die karbongeschichtete Ummantelung der Mechanik, die auch zumeist im Training nicht verwendet wird. Dann nimmt die SportlerIn dazu sitzend oder liegend das Karbonbein in die linke Hand und tastet sich mit der rechten Hand an der Mechanik entlang, lockert mit einem Handgriff und der Hinzunahme eines Schraubschlüssels das Gewinde, dreht und knickt das Gelenk, spürt dann nach, indem sie die Muskulatur des Restbeins lockert, dreht und knickt noch einmal weiter, dreht dann mit Hilfe des Schlüssels das Gewinde fest, lässt dann das Karbonbein mit der linken Hand los, streckt dieses oder setzt es mit dem Vorfuß auf dem Boden ab, beugt sich meist noch einmal darüber, steckt den Schlüssel noch einmal in das Gewinde hinein. Dieser Ablauf vollzieht sich zumeist ein paar Mal, eventuell wird zwischendrin ein Lauf ausprobiert, der die Wendigkeit des Dings testet. Danach kehrt die SportlerIn wieder zur Bank oder auf den Rasen zurück, der Turnus des Überprüfens beginnt
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erneut. Manchmal muss auch das Ventil für die Herstellung des Vakuums erneut überprüft werden. Es sind entweder akute Schmerzen oder eine kleine Druckstelle, was die SportlerInnen in diesen Turnus zurückkehren lässt. Oder es besteht eine Schwierigkeit darin, das Vakuum während unterschiedlicher Laufeinheiten zu halten, zum Beispiel nach einer längeren Trainingspause oder wenn in direkt aufeinander folgenden Einheiten zwischen Sprints, Anlauf/Absprung oder Läufen mit Gewichten gewechselt wird. Selbst-Versorgungspraktiken dieser Art werden hier zur zentralen Teilnahmevoraussetzung der SportlerInnen an Training und Wettkampf, um auf akute Schmerzen reagieren zu können und die Leistungssteigerung Stück für Stück zu vollziehen. Insbesondere diejenigen, die im Beruf des Orthopädietechnikers arbeiten, haben immer ihren eigenen Werkzeugkasten dabei, um zum Beispiel das künstliche Knie etwas gelenkiger einzustellen, das mechanische Verbindungsglied während des Trainings oder einer Wettkampfphase zu tauschen oder ähnliches. In Trainings- und Wettkampfteams gibt es teilweise ExpertInnen unter den SportlerInnen, die auch andere mit versorgen. Der Ort der Wartung ist der Rand des Leichtathletikfeldes, meist findet das Warten und Pflegen auf einer Bank, einer Matte oder auf dem Rasen statt; manchmal im Austausch mit der TrainerIn, oftmals aber eher unter den SportlerInnen. Wenn zudem eine OrthopädietechnikerIn vor Ort sein sollte, hilft diese. Je nach Tagesform und muskulärem Befinden ist das Warten bereits beim Anlegen der Sportprothese, nach dem Aufwärmen und vor und nach jedem Sprint, Lauftraining oder dergleichen angedacht. Ebenso nach dem Ablegen und Verpacken der Sportprothese in eine Tasche (die der von Tennisschlägern ähnlich sieht) vor dem Verlassen des Trainingsgeländes. Auch das aus der Karbonfaser geschichtete, c-förmig geschwungene »Bein« wird beständig für die Routinen des leistungssteigernden Trainings weiterentwickelt und gewartet. Dazu ein Ausschnitt aus einem Interview mit einem Weitspringer und Läufer: »Wenn man mit der Prothese sehr schnell laufen möchte, muss man die natürlich auch sehr grenzwertig aufbauen. Also es ist weit weg von Komfort, weit weg von /eh/ gemütlich, sag ich mal. Und das muss man erstmal beherrschen, und dann muss man nachfühlen und eher also Stück für Stück auch ein bisschen nachjustieren.« (Interview, S1)
Die Kohlenstofffaser, auch Karbonfaser genannt, übernimmt als geschichtetes Material ebenfalls eine zentral vermittelnde Rolle in der Herstellung der Laufbewegung. Anders als es Holzprothesen oder kunststoffgeschichtete Materialien sein können, ist die Faser in Analogie zu den menschlichen Muskelgruppen und
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den Attributen von »statisch« und »dynamisch« aufgebaut. Die Karbonfaser wird bereits seit längerer Zeit in der Medizintechnik zur Herstellung von Alltagsprothesen der oberen und unteren Extremitäten, der Arme und Beine, verwendet. Sportprothesen, die vor allem für die Beine hergestellt werden, machen hierbei nur einen kleinen Bereich der industriellen Fertigung aus. Karbon wird ebenfalls für die großen Bauteile eines Formel 1-Wagens verwendet um die Wendigkeit des Wagens zu optimieren; in Zeiten des Terrors nutzen (in der medialen Öffentlichkeit vorwiegend männliche) SelbstmordattentäterInnen, die vielfach als IngenieurInnen ausgebildet sind,12 ebenfalls die Faser zum Bau ihrer Bomben. Die Faser wird hier für die bestmögliche Generierung von Sprengkraft bearbeitet. Die heroisierten Handlungsskripte, die die Faser in diesen Praxiskontexten erworben hat, werden auch in die Praktiken der SportlerInnen im Kontext der Optimierungen ihrer Leistungen übersetzt.13 Die Aufgabe der SportlerInnen liegt im Training jedoch zunächst darin, im Wippen und Hüpfen, im Anlaufen und Abspringen, im Hocken und HochSpringen Affizierungen für die Passung auszuloten, sich über das Vakuum des Schafts in die Materialität der Prothese hineinzubewegen. Die Affizierung durch die Kohlefaser zeigt sich insbesondere in Sprints und beim Abstoßen während der Sprintstarts, denn hier geht es abermals darum, ihre materielle Aktivität auf Druckstellen im Schaft oder individuelle Schmerzen hin auszuloten. Alltagsprothesen verzögern solch ein Abstoßen, während die Kohlenstofffaser »hinterherkommt«, dem Restbein in den biomechanischen Begrifflichkeiten »Energie zurückgibt« (Interview S2) und aus der Startposition herausdrückt. Bei den Weitspringern bezieht sich dies ebenfalls auf den Absprung. Die karbongeschichteten Bauteile werden mindestens einmal pro Jahr ausgetauscht, manchmal häufiger. Zwischenzeitlich wird immer wieder an der Form geschmirgelt, es werden Absplitterungen entfernt, die durch die Abreibung des Schafts zum Beispiel bei den einseitig amputierten SportlerInnen entstehen. Ironisierte Erkennungszeichen der einseitig amputierten SportlerInnen untereinander sind auch immer wiederkehrende kleine Wunden an den Knöcheln durch den Abrieb an der Karbonfaser. Der Vorfuß wird unterschiedlich individualisiert; bei den einseitig amputierten SportlerInnen werden teilweise die Spikes den Schu-
12 Selbst wenn es zu dem Zusammenhang von Selbstmordattentätern und Akademikerrate noch nicht zu viele Studien gibt, so siehe dazu exemplarisch Kieserling 2016. 13 Auf diese kulturalisierte Perspektive des Materials »Karbon« und dessen sozial normierende Effektivität kann an dieser Stelle nicht vertiefender eingegangen werden. Dies wird in den weiteren Forschungen ausgearbeitet.
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hen nachempfunden. In der Halle müssen alle Sportprothesenträger einen Überschuh tragen, um die Spikes nur auf der Tartanbahn einzusetzen und den Hallenboden zu schützen. Insofern ist auch hier die Herstellung von Passungen im Umgang mit sich immer wieder ändernden Schmerzen und materiellen Konstellationen zentral. Pflegen des Stumpfes Der Schweiß, der während des Trainings produziert wird und sich zwischen dem Schaft, dem Strumpf (dem sogenannten liner) und dem Stumpf des Restbeins bildet, ist der sozial affizierende Ort für die Praktiken des Pflegens. Die Silikonmaterialien, die sowohl in den Strümpfen als auch im Schaft enthalten sind, werden bereits von Herstellerseite so präpariert, dass eine möglichst geringe Schweißbildung entsteht. Dennoch ist diese nicht vermeidbar. Im Gegenteil: alle SportlerInnen des Teams haben individualisierte Bauteile des Schaftes oder des Kohlenstofffaserbeines, um auf die eigene Schweißproduktion reagieren zu können. Diese Individualisierungen werden über Routinen des Pflegens herausgearbeitet. Mit ihnen entstehen Affizierungsgewohnheiten für bestimmte Materialien: So hat jede SportlerIn stets ein Handtuch oder einen in ein Handtuch umfunktionierten Liner zur Hand, die nach fast jedem Lauf zum Einsatz kommen. Die Prothesen werden abgenommen, die Strümpfe ausgezogen, mit dem Handtuch wird einmal der Stumpf abgetupft oder gewischt. Dann aber auch, wenn etwa in die Karbonteile des Schaftes eigenständig Löcher gebohrt wurden, um mittels eines angebrachten Klettverschlusses die Enge und Weite, je nach Schweißanfälligkeit und Tagesform, selbst regulieren zu können. Oder, wenn die SportlerInnen unterschiedliche Fasern ihrer Strümpfe hinsichtlich der Saugfähigkeit ausprobieren, etwa textile Leinenfaser im Vergleich zu Silikonstrümpfen. Oder, wenn unterschiedliche Cremes – wie beispielsweise Babycreme, ölhaltige oder besonders fettlose Cremes – am Stumpf durch vorsichtiges Einreiben getestet werden, um eine möglichst druck- und reibungsfreie Passung mit Strumpf und Schaft unter erhöhter Schweißproduktion zu erzeugen. Unter den SportlerInnen des Vereins gibt es regen Austausch über diese Individualisierungen, insbesondere noch unerfahrenere SportlerInnen der Juniorgruppen informieren sich über You-Tube-Tutorials oder versuchen die Individualisierungen von MedaillengewinnerInnen der internationalen Wettkämpfe über Bild- und Filmmaterial zu kopieren. Die TrainerInnen sind für diese Expertise weniger gefragt. Auch die OrthopädiemechanikerInnen sind hier nicht im Bilde. Das Pflegen setzt während des Trainings in regelmäßigen Abständen ein und insbesondere nach jedem Sprint.
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D IE SOZIALEN V ERANTWORTUNGEN S CHLUSSFOLGERUNGEN
VON
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AFFIZIERUNGEN :
Die Leistungssteigerungen im Training der beinamputierten AthletInnen basieren auf Routinen der Herstellung von vielfältigen Passungen zwischen dem »Restbein« und einem Zusammenschluss unterschiedlicher materieller Dinge, die dann als »Prothese« fungieren. Das, was hierdurch als athletische Bewegung erarbeitet wird, stabilisiert sich maßgeblich über Affizierungen. Die Praxis des Affiziert-Werdens von Körpern wie auch den Dingen wird situativ entwickelt, nistet sich in bestehende Trainingsroutinen ein und ist ein öffentlich sichtbares Aufführungsgeschehen. Die Vorlieben für Materialien und ebenso die Abneigungen entwickeln sich hierbei. Affizierungen entstehen demnach nicht einmalig und nicht in einem sozial radikalen Moment14, sondern vor allem durch Wiederholungen und das beständige Testen, Variieren und die Ausbildung von einer bewegungsbezogenen Wahrnehmungsexpertise für bestimmte Materialien und die körperlichen Dispositionen der SportlerIn. Dabei hat diese Analyse gezeigt, dass der sozial legitimierte Flow der Bewegung immer wieder neu hergestellt werden muss und nicht gegeben ist. Entgegen der in der biomechanischen Perspektive isolierten Darstellung der Bewegung macht eine praxeologische Analyse deutlich, inwiefern die Leistungssteigerung sich nur situativ über Affizierungen im Materiellen vollziehen kann und an spezifische Praktiken gebunden ist. Die Expertise des Affiziert-Werdens, die hier beispielhaft in der Wartung des Vakuums und dem Pflegen des Stumpfes dargestellt wurde, liegt nicht ausschließlich in der Verantwortung der SportlerIn selbst, sondern ist ebenso in den Händen der anderen ExpertInnen. Zudem wird das nicht-menschlich Materielle in die Verantwortung gezogen, das ein soziales Eigenleben besitzt. Wie gezeigt werden konnte, tragen die Affizierungen maßgeblich zur Stabilisation jener Praktiken bei, die wiederum erst die SportlerInnen zu TeilnehmerInnen des Leichtathletikgeschehens werden lassen. In zweifacher Hinsicht werden deshalb die von SportfunktionärInnen gewählten Formulierungen der Wettkampfregel 144.3 (d) unterlaufen, da der »Gebrauch irgendeiner mechanischen Hilfe« hier nicht allein auf die determinierenden Effekte der Mechanik zu beziehen ist. All die stofflichen, flüssigen und immer wieder in andere Aggregatszustände »übersetzten«15 Dinge, die für die Wartung und Pflege
14 Siehe dazu auch den Beitrag von Elisabeth Leopold in diesem Buch. 15 »Übersetzung« folgt in diesem Fall einer zentralen Denkfigur der anthropologischen und soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung als auch der Akteur-
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benötigt werden, tragen ebenfalls systematisch zur Ausübung der Bewegung bei und sind nicht als ein vor-soziales Nebengeschehen einzustufen. Ebenso ist der Aspekt des »Wettbewerbsvorteils« ambivalent zu betrachten, da er gemäß der hier dargelegten Perspektive situativ entsteht und sowohl an die Dinge als auch an die Performanz der Expertise der beteiligten ExpertInnen gebunden ist. Die Wettkampfregel ist sicherlich nicht zum letzten Mal vom IAAF bemüht worden. Neben der medialen Öffentlichkeit, die dem nach wie vor stark stigmatisierten »Behindertensport« durch den »Fall Rehm« zuteilwird und die Ideologien einer »inklusiven Gesellschaft« durch den Sport überprüft, ist davon auszugehen, dass die Kontroverse um den sozialen Ort der Prothese genau durch solche Regelungen fortlaufend weitergetrieben wird. In praxeologischer Perspektive hat dieser Beitrag für einen Fokus auf das Einnisten von Affizierungen in Praktiken plädiert, um die soziale Wirksamkeit der nicht-menschlichen Dinge im Körperlichen weiterzuentwickeln. Anhand des Trainings der amputierten SportlerInnen mit dem Affekt Schmerz sowie der spezifischen Schweißproduktionsprozesse lässt sich folgern, dass nicht nur die Verwobenheit von Körpern und Dingen beziehungsweise Technologien und medialen Apparaturen grundlegend ist, sondern ebenfalls jene Praktiken des Affiziert-Werdens, in denen ausgehandelt wird, wie Affekte sozial und materiell ausgestaltet werden. Wie die Analyse gezeigt hat, ist Schmerz weder ein rein
Netzwerk-Theorie, die im Zuge dessen entwickelt wurde (Callon 1986; Latour 1994). Sie orientiert sich in philosophischer Hinsicht an Michel Serres’ Begriff der »Translation« (Serres/Latour 1995). Das Über-Setzen hat immer eine ethische Grundlegung, denn soziale Ordnungen basieren auf der vermittelten Verantwortungsübernahme durch die nicht-menschlichen Akteure (Dinge, wissenschaftliche Objekte, HochTechnologien sowie mediale Apparaturen). Somit steht das Problem der Aushandlung und Koordination von Handlungsmacht im Vordergrund und dieses wird als ein Prozess des fortlaufenden »Übersetzens« der Akteure in ihre materiellen Bestandteile sichtbar gemacht. Das Über-Setzen ist ein produktives »displacement« oder ein »drift« (Latour 1994: 32) von sozialen Ordnungen und wird ausschließlich über das Materielle vermittelt. Das Körperliche wird hier nicht berücksichtigt, ausschließlich die vielfältigen sozialen Aggregatszustände der nicht-menschlichen materiellen Kultur. Über den Begriff der Affizierung, wie er hier vorgelegt wurde, ließe sich die dingliche Perspektive um eine körperliche erweitern. Zum Begriff der Übersetzung und der Übersetzungsforschung siehe auch die Beiträge von Gabriele Klein und Claude Jansen in diesem Buch.
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körperlicher Erregungszustand noch eine ausschließlich dinglich determinierte Produktion, genauso wie die Schweißproduktion nur im Prozess des Zusammenspiels und den wechselseitigen Affizierungen im (körperlich wie dinglich) Materiellen sichtbar wird. Für eine körper- wie dingsoziologische Perspektive ist es entscheidend, das die analytische Vermischung von »Körper« und »Prothese« eigene soziale Analyseeinheiten (Affekte beziehungsweise Affizierung) ausbildet. Insbesondere vor dem Hintergrund der im Rahmen des »Fall Rehm« geführten Debatten um Trans- und Posthumanität sowie zur Entgrenzung des Menschlichen, die ebenfalls zentrale praxeologische Diskussionen seit den 1990er Jahren sind (Knorr-Cetina 1997; Pickering 2001; Reckwitz 2003), ist die soziologische Dringlichkeit einer Perspektive auf Affizierung umso virulenter. Es bleibt eine weitere Aufgabe für die Zukunft diese Spannungsverhältnisse im Sport und andernorts über die Analyse von Praktiken des Affiziert-Werdens in den Blick zu nehmen.
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Z EITUNGSARTIKEL Henk, Malte (2016): »Ist er besser, weil er behindert ist?«, in: DIE ZEIT Nr. 33/2016, 04.08.2016 / DIE ZEIT online, www.zeit.de/2016/33/markus-rehmolympische-spiele-behinderung-prothese-weitsprung (Zugriff 25.08.2016). Kieserling, André (2016) »Der Frust des Akademikers. Nur mit Bildung gegen den Terror reicht nicht«, in: FAZ online, www.faz.net/aktuell/wissen/ forschung-politik-1/nur-mit-bildung-gegen-den-terror-reicht-nicht14321007. html (Zugriff 25.08.2016).
I NTERNETQUELLEN Deutscher Leichtathletikverband (2016): Änderungen der Internationalen Wettkampfregeln 2016-2017, www.leichtathletik.de/fileadmin/user_upload/12 _Service/Wettkampforganisation/01_Bestimmungen_Satzung_Vordrucke/W ettkampfbestimmungen/IWR_-_Regeländerungen_2016-2017_01.11.2015. pdf (Zugriff 22.08.2016).
Mediale Praktiken des Gendering. Tamara und Irina Press im westlichen Sportdiskurs zu Zeiten des »Kalten Krieges« D ENNIS K RÄMER »Die Fachleute trauten keiner Frau einen echten Weltrekord im Diskuswerfen zu. Denn er gehörte seit sieben Jahren einer Sowjetbürgerin, die 98 Kilo wog, weder rauchte, trank noch jemals flirtete und ihre Karriere erst beendete, nachdem 1966 ein Sex-Test für Leichtathletinnen eingeführt worden war.« [10]1
D ER F ALL
DER
P RESS S CHWESTERN
Im internationalen Profisport, wo die Leistungen einzelner die großer Nationen repräsentieren, werden die Körper der Athletinnen und Athleten auf besondere Weise zur Projektionsfläche von Zugehörigkeit und Differenz. Ein eindrucksvolles historisches Zeugnis darüber, wie die Anerkennung der einen mit dem Ausschluss der anderen zusammenhängt, stellt der Umgang der Medien mit vermeintlich allzu virilen Sportlerinnen aus Osteuropa zu Zeiten des »Kalten Krieges« dar, die im westlichen Sportdiskurs unter Verdacht standen, von den sozialistischen Sportverbänden zwangsgedopt und als geschlechtlich »maskierte« Männer und Hermaphroditen in den Frauensport eingeschleust worden zu sein (Hilbrenner/Kobchenko 2014; Hilbrenner 2010; Wagg 2007; Wiederkehr
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Detaillierte Angaben zu den einzelnen Presseartikeln finden sich am Ende des Beitrags und werden hier zu Übersichtszwecken nummeriert dargestellt.
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2007a/b, 2009, 2010). In unmittelbarer Verbindung mit dem journalistischen Misstrauen jener Zeit steht die politische Situation: Zu Zeiten des Kalten Krieges wird die Instrumentalisierung des Mediensports zu Zwecken der politischen Propaganda auf ein bislang ungekanntes Ausmaß getrieben (Balbier 2007; Malz u.a. 2007; Wagg/Andrews 2007). Denn die Erfolge, die die eine Seite des »Eisernen Vorhangs« in der Gesamtwertung der Nationen bei den großen Turnieren erringen kann, gibt nicht nur Auskunft über die Leistungen einzelner Athletinnen und Athleten, sondern spiegelt das Potential des dahinterstehenden kommunistischen und kapitalistischen Gesellschaftssystems wider (Pfetsch 1975). Vor diesem Hintergrund vollzieht sich der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West nicht nur im Bereich der militärischen Aufrüstung; mit den zunehmenden Konflikten überträgt sich das Wettrüsten auch auf den Sport, wo sich dieser unter anderem in einem signifikanten Ausbau der Talentförderung und der Verwissenschaftlichung der Trainingsmethoden niederschlägt (Wiederkehr 2009). Ein historisches Dokument, das die Politisierung des Sports in jener Zeit eindrucksvoll bezeugt, stellt ein Interviewauszug aus einer Jahreskonferenz der Leitungen der Sportorganisationen der sozialistischen Länder von 1975 dar, in dem der Vertreter der Sowjetunion öffentlich verkündet, dass man sich im Westen bewusst sei, »dass große Sportveranstaltungen, insbesondere die Olympischen Spiele, heutzutage ein Kriterium sind, mit Hilfe dessen die Weltöffentlichkeit […] die gesellschaftlichwirtschaftliche Überlegenheit des einen oder anderen Gesellschaftssystems beurteilen kann. Es ist kein Zufall, dass der gegenwärtige Anführer der größten kapitalistischen Macht, Gerald Ford, bekannte, dass bei der heutigen Bedeutung von Massenveranstaltungen ein sportlicher Triumph ein ebenso wichtiges Mittel zur Hebung des Nationalstolzes ist wie der Sieg auf dem Schlachtfeld.« (Główny Komitet Kultury Fizycznej i Turystyki 1975, 18/41 mit Übers. zit. n. Wiederkehr 2009: 2)
Die politische Bedeutung, die der Sport angesichts der schwelenden Ost-WestKonflikte erfährt, spiegelt sich unmittelbar darin wider, wie über ihn berichtet wird. Im westlichen Sportdiskurs zeichnet sich ein Teil der Berichte durch eine beständige Verschränkung des Sports mit der Politik aus, in der die Erfolge osteuropäischer Sportlerinnen tendenziös abgewertet werden, indem ihre Leistungen auf staatlich verordnete Zwangsdoping-Programme oder das Einschleusen maskierter Männer in den Frauensport zurückgeführt werden. Bei Letzterem stehen neben Sportlerinnen aus der Sowjetunion vor allem jene aus Polen und der DDR unter Verdacht, wie zum Beispiel Ewa Kłobukowska (Wiederkehr 2007a), der 1967 im Zuge der gender verification ein XY-Chromosomen nachgewiesen werden konnte, in dessen Folge sie vom Wettbewerb ausschied. Oder Heidi
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Krieger, die sich in den 1990er Jahren geschlechtsangleichenden Operationen unterzog und zu Andreas Krieger wurde: In den Medien wurde die Erscheinung ihrer Körper in teils kriegsrhetorischem Duktus als unweiblich und unnatürlich erklärt, womit der Verdacht transportiert wurde, dass die osteuropäischen Sportverbände heimlich »unweibliche Kampfmaschinen« heranzüchteten (Hilbrenner/ Kobchenko 2014: 5). Ins Fadenkreuz des frauen-diskriminierenden Enthüllungsjournalismus geraten in diesem Zuge auch die 1937 und 1939 in der Ukraine geborenen Schwestern Tamara und Irina Press, die den sowjetischen Frauensport der 1960er Jahre par excellence repräsentieren, indem sie zahlreiche Goldmedaillen bei Olympischen Spielen und Leichtathletik-Weltmeisterschaften gewinnen. Bereits bei der ersten TV-Liveübertragung der Olympischen Sommerspiele 1960 in Rom sorgten die damals 21- und 23-jährigen Schwestern für Aufsehen, indem sie maßgeblich dazu beitrugen, dass die Sowjetunion am Ende des Turniers in der Gesamtwertung der Nationen vor den USA lag. Die Schmach einer Niederlage und die unaufhaltbare Erfolgsserie der ukrainischen Schwestern lösten in der westlichen Presse eine Welle der Empörung aus, die sich über allerlei Verdächtigungen über ein maskiertes männliches Geschlecht beziehungsweise einer verborgenen Intersexualität erstreckt, insbesondere bei der älteren Schwester Tamara. Das Sammelsurium an belastenden Attributen reicht von »boyish« [1] über »freaks« [2] bis hin zu »Soviet Union’s muscular sisters« [3], und das renommierte Life Magazine gibt den international auch als »Press sisters« bekannten Sportlerinnen 1966 spöttisch den Beinamen »Press brothers« [3].2 Vor diesem Hintergrund eines im westlichen Sportdiskurs transportierten Generalverdachts über den illegitimen Einsatz von Männern im Sport der Frauen wird 1966 erstmals für alle Teilnehmerinnen des Frauensports ein obligatorischer Geschlechtstest eingeführt (Müller 2006). Bei diesem sorgten die Press Schwestern erneut für Schlagzeilen, indem sie ihre Kandidatur für die Leichtathletik Europameisterschaft 1966 in Budapest erst nach Bekanntgabe der gender verification zurückzogen, was in der Folge den Verdacht auf ein verborgenes männliches Geschlecht in den Medien erhärtete. Der vorliegende Beitrag will die im westlichen Sportdiskurs jener Zeit angezeigten geschlechtlichen Grenzüberschreitungen am Beispiel der Körper der Press Schwestern näher untersuchen. Ein theoretischer Exkurs, der Judith Butlers
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Da Tamara und Irina Press nie öffentlich gemacht haben, nicht weiblich oder intersexuell zu sein, wird ihr Geschlecht im vorliegenden Beitrag selbstverständlich als weiblich angenommen.
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Grundannahmen zur Performativität von Geschlecht vorstellt und an Debatten zu medialen Praktiken des Gendering anschließt, soll die enge Verzahnung von Macht, Politik und Geschlecht verdeutlichen und den Blick auf Medien als Konstrukteure von Geschlecht schärfen.3
G ENDERING
ALS PERFORM ATIVE
P RAXIS
Im Kontext der deutschsprachigen Praxistheorien sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten entstanden, die sich, im Gegentrend zur ansonsten eher textorientierten Neigung poststrukturalistischer Forschung, mit dem Performanzcharakter von Diskursen beschäftigen und das (körperliche) »Tun« in, von und durch Diskursen betonen (Reckwitz 2003).4An der Schnittstelle einer zwischen Poststrukturalismus und Praxistheorie angesiedelten Geschlechterforschung hat Butler bereits in den 1990er Jahren deutlich gemacht, dass die Performativität der Geschlechter unmittelbar mit ihrer Diskursivität in Verbindung steht. Butlers grundlegende Argumentation, die sie erstmals in ihrer 1990 veröffentlichten Arbeit Gender Trouble entwickelt, macht deutlich, dass sowohl das biologische Geschlecht (sex) als auch das soziale Geschlecht (gender) keine natürlichen Substantialitäten widerspiegeln, sondern die unserem Alltagswissen zugrundeliegenden Vorstellungen über das, was als Natur der Geschlechter gilt, Produkt von Diskursen seien und Geschlecht somit nichts Ahistorisches und Vorsoziales darstellt, sondern »eine kulturelle Norm […], die die Materialisierung von Körpern regiert« (Butler 1995: 23). In Anlehnung an Michel Foucaults archäologische Wissenschaftsgeschichte entwickelt sie die Überlegung, dass unsere unhinterfragten Vorstellungen über die Geschlechter in historischen Machtgeflechten begründet liegen, in denen sich Diskurse mit anderen Instanzen der Macht, wie Institutionen, Gesetzen, Medien, politischen Programmen oder wissenschaftlichen Theorien, zu einem strategi-
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Das herangezogene Pressematerial bezieht sich auf internationale, regelmäßig und in hohen Auflagen erscheinende deutsch- und englischsprachige Tageszeitungen und Magazine mit einer Mindestzeichenzahl von 2500 Zeichen. Der Erhebungszeitraum wurde auf die Zeit zwischen 1960-1989 festgelegt. In einer ersten Recherche mittels Metasuchmaschinen sowie in zwei Pressearchiven konnten bislang 42 Beiträge identifiziert werden. Da es sich bei den Press Schwestern um bislang noch nicht erhobenes Pressematerial handelt, sind weitere Forschungen zu begrüßen.
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Vgl. dazu für einen Überblick auch Schäfer 2013.
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schen Imperativ verbinden und Geschlecht so zu einem intelligiblen Konstrukt modellieren. Obgleich Foucault bereits einforderte, Diskurse nicht bloß als sprachliche Zeichen zu betrachten, sondern als Praktiken zu verstehen, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1988: 88), unterzieht Butler Foucaults Diskursbegriff einer weitreichenden theoretischen Modifikation. Anders als Foucault, der die Frage nach einer Ordnung der Dinge an der Entstehung abendländischer Institutionen, der Genealogie ihrer Wissensbestände und der sich entfaltenden Wahrheitsansprüche reflektiert, entwickelt Butler unter Hinzuziehung sprachphilosophischer und sprechakttheoretischer Ansätze den Gedanken, dass Diskurse ihre Macht nicht nur über eine Praxis der Produktion und Rezeption von Text, sondern über die Alltags-Theatralität der Körper entfalten, die über ihre gelebte Präsenz unaufhörlich eine diskursive Ordnung der Geschlechter sedimentieren – Geschlecht stellt für Butler die wiederholte und sich wiederholende Stilisierung diskursiver Repräsentationspraktiken dar (Butler 2002: 302). Für diese Perspektive einer sich über die Körper reproduzierenden Ordnung der Geschlechter kommt Jacques Derridas Konzept der Iterabilität (iter, »von neuem«, von itara, anders im Sanskrit) in Butlers Überlegungen eine zentrale Bedeutung zu. In seiner denaturalistischen Sprachphilosophie entwickelt Derrida den Ansatz, dass jedwedes Zeichen (marque), das als Schrift identifiziert werden kann, »trotz des völligen Verschwindens eines jeden bestimmten Empfängers« lesbar, das heißt wiederholbar, »iterierbar« ist (Derrida 1976: 133). Mit dieser poststrukturalistischen Wendung der Sprache zum unpersönlichen und überindividuellen Kommunikationsmittel, bricht Derrida seinerzeit mit den einflussreichen und eher technisch ausgelegten Sprachphilosophen der einflussreichen Ordinary Language Philosophy, zu dessen Anhängern auch John Austin und dessen Schüler John Searle zählen. In der aufsehenerregenden Kontroverse, die Derrida in den 1970er Jahren mit Searle führt (Searle 1975 und Derridas Replik 1976), argumentiert er gegen den Austin Schüler, dass die symbolische Bedeutung, die in Kommunikation entsteht, niemals eine vollidentische Iteration des bereits Bestehenden leisten kann; der Aspekt, der bei Austin und Searle in ihrer sich auf interaktive Gebrauchsregeln beziehenden Sprechakttheorie zentral ist. Dagegen argumentiert Derrida, entsprechend seiner Zugehörigkeit zu einem poststrukturalistischen Wissenschaftsparadigma, dass jede Schrift, »um zu sein, was sie ist, in radikaler Abwesenheit eines jeden empirisch festlegbaren Empfängers« funktionieren muss (Derrida 1976: 134); womit sich bei ihm die Voraussetzung einer realen Präsenz des Autors verliert, die in der systematischen Anordnung des Zeichens zum allgemeinen »Code« der Sprache aufgelöst wird; ähnlich Foucaults zuletzt in der Ordnung der Dinge genannten epistemologischen Feststellung, in
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der vom Verschwinden des Menschen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1974: 462) die Rede ist. Für Derrida heißt Kommunikation, dass die semantische Identität des Zeichens in seiner Iteration zugleich immer belebt aber auch zerstört wird und es so zu permanenten Sinnverschiebungen innerhalb eines Kontexts »Desselben« kommt, das Neue also stets aus dem Alten hervorgeht, die différance aus der identité erwächst. Butler greift Derridas Terminus der Iterabilität auf, um einen historisch verankerten, an Foucaults Diskurs angelehnten Begriff der Performativität zu entwickeln und diesen für eine semiotische Theorie des praktischen Handlungsvermögens fruchtbar zu machen. In diesem Sinne argumentiert sie, dass die performative Macht nicht in der willentlichen Intention der Individuen begründet liegt, die in solcher oder jener Weise handeln, wahrnehmen, denken und fühlen, sondern ihre Subjektivität Effekt der sich genealogisch transformierenden Sinnkonstruktionen darstellt. Vor diesem Hintergrund versteht sie auch die geschlechtliche Performativität der Subjekte nicht als ein Ensemble von singulären, unwiederholbaren Praktiken, die ein für alle Mal, ahistorisch und sozial isoliert, existieren; stattdessen begreift sie das, was als Geschlecht gilt und wie Geschlecht ist, als intelligibles, historisch veränderliches Konstrukt, das seine Identität im Zuge einer iterativen, sich über und durch die Körper signifizierenden diskursiven Praxis ausdrückt. Unter Rücksichtnahme einer auf dem Prinzip der Iteration beruhenden Geschlechterwirklichkeit gewinnt die Frage nach den sozialen und kulturellen »Impulsen«, die uns sagen, was als Geschlecht beziehungsweise geschlechtliche Norm gilt und was nicht, an zentraler Bedeutung. Einen ersten Hinweis auf diese komplexe Frage findet sich bereits bei Marcel Mauss. Wie Mauss in seinem 1935 erstmals erschienenen Aufsatz über die »Techniken des Körpers« schreibt, hatte er während eines Aufenthalts in einem New Yorker Krankenhaus die Beobachtung gemacht, dass die Krankenschwestern auf eine Weise zu gehen wussten, die er bereits aus dem Hollywoodkino kannte: »Eine Art Erleuchtung kam mir im Krankenhaus. Ich war krank in New York. Ich fragte mich, wo ich junge Mädchen gesehen hatte, die wie meine Krankenschwestern gingen. Ich hatte genug Zeit, darüber nachzudenken. Ich fand schließlich heraus, daß es im Kino gewesen war. Nach Frankreich zurückgekehrt, bemerkte ich vor allem in Paris die Häufigkeit dieser Gangart; die jungen Mädchen waren Französinnen und gingen auch in dieser Weise. In der Tat begann die amerikanische Gangart durch das Kino bei uns verbreitet zu werden. Dies war ein Gedanke, den ich verallgemeinern konnte.« (Mauss 1974: 202)
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Mauss Erkenntnis folgend hatten sich die Französinnen die Gangart, die im Kino gezeigt wurde, nicht bloß passiv angeschaut, sondern aktiv abgeschaut. Das, was die jungen Frauen im »Bild« einer Performanz der Körper sahen und in der Folge als besondere weibliche Praxis identifizierten, stellt mehr als ein rein kinematographisches Unterhaltungsangebot dar; auf die bewegten »Bild-Körper«, wie es Gabriele Klein auch beschreibt (2008), von der Kinoleinwand folgten sich entsprechend bewegende »Körper-Bilder« im Alltag, die ihre Weiblichkeit in einem zeitgemäßen, sich am Avantgardismus des Kinos jener Zeit ausrichtenden Praxis anzeigten. In dieser Perspektive, die die Performanz der Geschlechter als wechselseitig von Körpern, Dingen, Text und Bild durchdrungene Erscheinungen begreift, stellt sich die Frage, wie sich die Rolle der Medien, als zentrale »impulsgebende« Instanzen der »Bildgebung«, empirisch näher bestimmen lässt. Im Kontext der medienwissenschaftlichen Gender- und Queertheorie konnten hier besonders Arbeiten, die sich mit der Darstellung der Geschlechter im Sport beschäftigen, zeigen, dass wesentliche Unterschiede darin existieren, wie Männer und wie Frauen abgebildet werden und wie ein naturalistisches Denken über Geschlecht im performativen Zusammenspiel von Bild und Text entsteht (Angerer/Dorer 1994; Buysse/Embser-Herbert 2004; Dimitriou 2015). Gertrud Pfister (2011) etwa macht deutlich, dass die im Medienfokus stehenden weiblichen Körper nicht nur eine geschlechtliche Inszenierung wiedergeben, sondern über diese eine generelle Vorstellung über das Leistungsvermögen der Frau im Sport transportiert wird; vor diesem Hintergrund sei doing sports in den Medien immer auch als eine Form von doing gender zu verstehen. Dagegen konnten insbesondere sporthistorische Arbeiten zeigen, dass die Darstellung von Weiblichkeit im Mediensport nicht nur implizit ein »Qualitätsurteil« über Frauen transportiert, sondern häufig in enger Verbindung mit einem politischen Auftrag steht. So zeigen etwa diverse Studien, die sich der Inszenierung von Weiblichkeit in den Medien zu Zeiten des Kalten Krieges annehmen, dass die Art und Weise der Inszenierung des weiblichen Körpers von weitreichender nationaler und gesellschaftspolitischer Bedeutung sein kann (Balbier 2007; Hilbrenner/Kobchenko 2014; Wagg 2007; Wiederkehr 2007 a/b, 2009, 2010). Vor diesem Hintergrund fungieren Kategorien wie: weiblich/unweiblich, männlich/unmännlich, passiv/aktiv oder – wie noch zu zeigen sein wird – inter-/transsexuell, nicht nur als geschlechtsanzeigende Merkmale, die der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht eine bestimmte Repräsentativität und Identität verleihen oder ihr absprechen, sondern werden über die Medien zu einem »Merkmal« aller und zur »Qualität« von nationaler Bedeutung erklärt.
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D AS G ESCHLECHT
DER
G ESCHWISTER P RESS
Das Bild, das im westlichen Sportdiskurs von vermeintlich geschlechtlich maskierten Sportlerinnen aus dem »Ostblock« zu Zeiten des Kalten Krieges gezeichnet wird, ist unmittelbar mit der politischen Situation und den schwelenden Konflikten zwischen Ost und West verwoben. In diesem Sinne stellen die großen Turniere jener Zeit nicht nur Ereignisse von rein kompetitiver Bedeutung dar, sie fungieren auch als mediale Schauplätze, in denen ein bestimmtes Bild von einer politischen Lage gezeichnet und dieses mitunter auf die Leistungen der Sportlerinnen, ihre Herkunft, Biographien, Kleider und Körper, übertragen wird. Vor diesem Hintergrund markiert die Ära des Kalten Krieges nicht nur eine Phase, die geprägt ist von den politischen Konflikten, die sich an den Ereignissen des Vietnamkriegs, der Kubakrise oder dem NATO-Doppelbeschluss verschärfen, es ist auch eine Ära, in welcher das Sportstadion als integraler Bestandteil der Machtdemonstration und als ein weiteres »Schlachtfeld« [4] der Großmächte erkannt wird, auf dem die »Grenzen des Menschengeschlechts« [4] angesichts eines anhaltenden Säbelrasselns zwischen Ost und West vermessen werden. »Die sportliche Höchstleistung ist nicht mehr Sache des einzelnen oder seines Vereins, sondern gilt als nationales oder gar weltanschauliches Güteprädikat. Aus den sportlichen Amateuren sind – je nach Regierungsform mehr oder weniger verschleiert – Staatsfunktionäre geworden. Die Perfektion des modernen Staates hat sich ihrer Muskeln angenommen, schmiert, massiert und trainiert sie zum höheren Ruhm der Nation.« [4]
Bei der zunehmenden Verschränkung von Sport und Politik erfährt der im westlichen Sportdiskurs transportierte Verdacht über den Einsatz von maskierten Männern und Intersexuellen im Frauensport eine besondere politische Brisanz. Osteuropäische Sportlerinnen, die unter Verdacht gestellt werden, keine echten Frauen zu sein, gelten als »neue Skandalfiguren im Sport« [5] und »bedauernswerte Wesen« [5], deren Körper über ein unrechtmäßiges Potential, über »manly performances« [3], verfügen. Als aufschlussreiches Dokument, wie die Verschränkung von Sport und Politik unter dem Zeichen des Geschlechts in jener Zeit vorgenommen wird, lässt sich ein Artikel der ZEIT anführen, der unter dem Titel: »Nicht alle Sportlerinnen sind Frauen« erschienen ist, und den der Autor mit der Einsicht eröffnet, dass es »sich bei diesen Intersexen nur um Fälle aus dem sogenannten Ostblock« [5] handelt, was den Verdacht nahelegt, »daß hier aus nationaler Indikation auch jene Individuen zum höheren Ruhme des Kommunismus in die Arena geschickt werden, die den Keimdrüsen beziehungsweise ihren Chromosomen nach keine Frauen sind« [5]. Erst aufgrund des systemati-
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schen Einsatzes von maskierten Männern und Intersexuellen im Sport der Frauen, so der Autor weiter, sei der 1966 bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Budapest noch oberflächlich durchgeführte Geschlechtstest 1967 durch zuverlässigere, labortechnisch gestützte Verfahren ersetzt worden, mit denen die unzulässigen Machenschaften der osteuropäischen Sportverbände aufgedeckt und so auch die Polin Ewa Kłobukowska, die den 1966 noch auf einer visuellen Inspektion durch drei Gynäkologinnen beruhenden Geschlechtstest bestanden hatte, überführt werden konnte. In diesem Sinne erscheint die 1967 durchgeführte gender verification nicht nur als probates Mittel einen fairen Wettbewerb herzustellen, indem die entlang der Chromosomen und Hormone als unweiblich identifizierten Körper aus ihm entfernt werden; er stellt zugleich ein politisches Instrument dar, den im westlichen Sportdiskurs unter Generalverdacht stehenden illegitimen Strategien der Osteuropäer Einhalt zu gebieten. Denn im westlichen Mediendiskurs wird der intersexuelle Körper als ein durchweg unrechtmäßig im Frauensport eingesetzter, unweiblicher und übernatürlicher Körper dargestellt, bei dem sich mitunter die Frage stellt, ob dessen Leistungen »überhaupt von einer Frau überboten werden« können [5]. »Man könnte die Intersex-Weltrekorde einfach annullieren, aber es fehlt ja, außer bei dem polnischen Fall, sowohl bei den vier Russinnen als auch bei der Rumänin der einwandfreie Nachweis, daß sie tatsächlich keine Frauen sind, denn sie haben sich ja der Untersuchung entzogen. Der Hochsprung-Weltrekord der Frauen wird also wohl noch lange Zeit und vielleicht immer auf seiner einsamen Höhe unerreicht weiter thronen, da er mit größter Wahrscheinlichkeit gar nicht von einer Frau aufgestellt wurde.« [2]
Vor diesem Hintergrund eines in den Medien erzeugten Generalverdachts über den Einsatz von geschlechtlich maskierten Männern im Frauensport kommt den Geschwistern Tamara und Irina Press eine besondere Bedeutung zu. Dabei spiegeln die Artikel, die ihren Fall behandeln, nicht nur ein unterschiedliches Frauenbild wider, das seit der Nachkriegszeit zwischen der Sowjetunion und dem Westen besteht (Hilbrenner 2010). Ihre ungebrochene Erfolgsserie lässt sich auch als eine Aufforderung für einen notwendigen Paradigmenwechsel im westlichen Frauensport begreifen. Denn in den Leichtathletik-Begegnungen zwischen Ost und West trägt die Sowjetunion seit 1958 regelmäßig den Gesamtsieg davon, obwohl die amerikanischen Männer die sowjetischen Athleten besiegen. Hier liegt die Überlegenheit des sowjetischen Sports in einer umfassenderen Förderung und emanzipierten Einstellung gegenüber sporttreibenden Frauen begründet, die durch die verbreitete Körperkultur der Fizkultura (von russ. fizicheskaya
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kultura, dt. Körperkultur) seit Jahrzehnten zum Alltag gehören (Wiederkehr 2009). Eine passable Lösung, um das westlich-konservative Weiblichkeitsideal jener Zeit von der häuslichen und familienorientierten Frau zu verteidigen und gleichzeitig die Erfolge der weiblichen Konkurrenz in Verruf zu bringen, sehen die überwiegend männlichen Sportjournalisten darin, die gegnerischen Athletinnen als unechte Frauen zu diskreditieren. Davon bleiben auch die Press Schwestern nicht verschont, deren »boyish appearance« [1] mitunter durch kuriose Anekdoten erläutert werden. Beispielhaft schreibt ein Autor der ZEIT in einem weiteren Beitrag, dass es sich bei Tamara Press um eine »Dame von furchterregender Kraft [handelt, D.K.]. Täglich trainiert sie mit schweren Hanteln, und man erzählt, sie könne fast zwei Zentner zur Hochstrecke bringen« [7]. Neben solchen überzogenen Plakatismen stellen insbesondere Interviews mit Personen aus dem vermeintlichen nahen Umfeld eine gängige Praxis dar, die Weiblichkeit der Schwestern quasi fundiert als unwahr zu entlarven. In den herangezogenen Artikeln wird hierbei wiederholt die als »gute Freundin« von Tamara und Irina vorgestellte tschechische Ex-Diskuswerferin Olga Connolly herangezogen, die im Interview bezeugt, dass Tamara in Wahrheit als Hermaphrodit geboren sei [8, 2]. Der folgende Interviewauszug aus der englischen Boulevardzeitung The Sun wird unmittelbar nach dem Hinweis angeführt, dass die Press Schwestern »mysteriously disappeared from the international sports scene after sex tests were instituted at the 1967 European Cup« [8], was den Verdacht verstärken soll, dass es sich bei ihnen tatsächlich um Hermaphroditen handeln müsse: »Tamara was born a hermaphrodite […]. She would never undress in the presence of other girls. She would always shower separately. Other Russian girls were very jealous of her. In Tokyo for the 1964 Olympics, I was very friendly with Tamara. She was a very sad, awkward person. I felt sorry for her. I once told her, ›Why don’t you make yourself pretty?‹ I took her to a beauty shop. But she was so uncomfortable she went back to her room and braided her hair into two braids again. She couldn’t handle it. Her makeup was all male.« [8]
Das Interview hat hier hauptsächlich die Funktion das nach wie vor ungeklärte Geschlecht von Tamara Press im öffentlichen Mediendiskurs zu beglaubigen. Um die bezeugte Unweiblichkeit anschließend mit der einer »echten« Frau zu kontrastieren, wird der Körper der Press Schwestern gleich in mehreren Artikeln mit dem der als attraktiv geltenden britischen Leichtathletin Mary Rand kontrastiert, die das westliche Frauenideal jener Zeit als schlanke Hausfrau und Mutter
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verkörpert [3, 6, 9, 10, 11]. Dabei beruhen die vorgenommenen Vergleiche in erster Linie auf diskursiven Verfahren der Kontrastierung, die eine Grenzziehung zwischen einer natürlichen und unnatürlichen Weiblichkeit herstellen. Während »die berühmte Tamara Press trotz ihrer furchtgebietenden Figur auf den zweiten Platz verwiesen« [6] und ihre »Schwester Irina die Ehre der Familie im speziellen und die der Sowjetunion im Allgemeinen [rettete, D.K.], indem sie mit ungeheurer Vehemenz allen auf und davon« [6] stürmte, wird die Unweiblichkeit dieser vehementen und furchtgebietenden Körper anschließend mit einer Weiblichkeit kontrastiert, welcher der furchtgebietenden Vehemenz den passiven und sexualisierten Körper entgegensetzt: »Danach kam erst die englische Olympiasiegerin Mary Rand-Bignal. Man hätte auch ihre schönen langen Beine mit einem Pokal preiskrönen sollen, um so mehr, als sie nur eine Andeutung von Sporthose trug, welches die 8000 in den vollen Genuß dieses Meisterwerkes kommen ließ. Die schöne Mary erreichte 6,53 Meter und wurde von der Deutschen Heide Rosendahl, die ihre Füßchen bei 6,49 Meter in den Sand setzte, wie man so schön sagt, noch bedroht. Die beiden besten Leistungen gehen also wieder einmal auf das Konto der Sowjetunion, womit sie glaubt bewiesen zu haben, was zu beweisen war, daß nämlich die kommunistische Ideologie dem dekadenten Westen überlegen sei.« [6]
Noch deutlicher wird der Verdacht des Hermaphroditismus bei Tamara Press in einem Beitrag aus dem Spiegel ausgesprochen, in dem ihre Rekorde zunächst als »Hermaphroditen-Rekorde« bezeichnet und auf subtile Weise als Leistungen »keiner Frau« dargestellt werden: »Die Fachleute trauten keiner Frau einen echten Weltrekord im Diskuswerfen zu. Denn er gehörte seit sieben Jahren einer Sowjetbürgerin, die 98 Kilo wog, weder rauchte, trank noch jemals flirtete und ihre Karriere erst beendete, nachdem 1966 ein Sex-Test für Leichtathletinnen eingeführt worden war.« [10]
Anschließende Interviewauszüge, die Tamara als »mehr Mann als Frau« [10] beschreiben, sowie weitere Fälle von intersexuellen Sportler*innen, die in der Vergangenheit mit ihrem Geschlecht aufgefallen waren, suggerieren, dass es sich auch bei Tamara Press in Wahrheit um einen Hermaphroditen handelt. Anschließend gibt der Autor eine Erklärung für den verbreiteten Einsatz von intersexuellen Sportler*innen seitens der Sowjetunion ab: »Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten immer mehr Athletinnen in das sowjetische Frauen-Kollektiv, die sich nicht unter die Gemeinschafts-Dusche trauten, zu deren Reiseaus-
202 | D ENNIS K RÄMER rüstung ein Rasierapparat gehört und die, wie etwa Tamara Press, im Chor den Baß übernehmen konnten. Die Sportler nannten Tamara und ihre Schwester Irina, die zusammen 25 Weltrekorde aufgestellt und fünf olympische Goldmedaillen gewonnen hatten, seit Jahren die Press-Brothers.« [10]
Auch in diesem Artikel werden die unverdienten Leistungen vermeintlich unweiblicher Sportlerinnen aus dem Osten mit den verdienten Rekorden »echter« Frauen aus dem Westen kontrastiert. Auch hier ist es Mary Rand, die im westlichen Mediendiskurs als legitimer weiblicher Sportkörper dargestellt wird; einen Körper, der nicht nur der von der Männerwelt gewünschten sexuellen Attraktivität, sondern auch den an sie gerichteten damaligen gesellschaftlichen Erwartungen als Hausfrau und Mutter gerecht wird. Die diskursive Herstellung des unechten Frauenkörpers wird bildlich noch einmal untermauert. Abbildung 1: Tamara (l.) und Irina Press (r.)
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Eindrucksvoll bringt es hierbei das Life Magazine vom 7. Oktober 1966 auf den Punkt [3]. Der Artikel beginnt zunächst damit, die Notwendigkeit der 1966 in Budapest eingeführten gender verification angesichts des Verdachts über den verbreiteten Einsatz von intersexuellen Sportler*innen zu erläutern. Anschließend wird der Erfolg des Geschlechtstests dadurch zum Ausdruck gebracht, dass bereits unmittelbar nach seiner Ankündigung drei sowjetische Sportlerinnen dem Turnier fernblieben, darunter die Weitspringerin Tatyana Schtschelkanowa sowie die Press Schwestern. Es folgen zwei Großaufnahmen (siehe Abbildung 1), die Tamara und Irina in Einzelaufnahmen, jeweils aktiv in einer ihrer erfolgreichsten Disziplinen zeigen. Tamara ist hier beim Kugelstoßen zu sehen, kurz nach dem Abwurf der Kugel, der Arm noch in der ausgestreckten Haltung, der Blick dem fliegenden Objekt zugewandt, das Gesicht angestrengt und den Wurf ausschreiend, ihr ganzer Körper ist angespannt. Ähnliches gilt für Irina im Hürdenlauf: Auch hier ist es erneut ein aktiver, angestrengter, muskulöser und vehementer Körper, der gezeigt wird. Unmittelbar nach den zwei Bildern werden die als »Soviet Union’s muscular sisters« [3] beschriebenen Athletinnen zunächst mit weiteren Fällen von vermeintlich maskierten Männern im Frauensport verglichen, darunter Dora/Heinrich Ratjen sowie Claire/Pierre Bressolles und Lea/Leon Caurla, deren geschlechtliche Transformation vom weiblichen ins männliche Geschlecht mit Vorher-/Nachherbildern verdeutlicht wird. Parallel hierzu werden die Aufnahmen durch eine naturalisierende Verbindung von Geschlecht und Beruf untermauert. Demnach sei Lea Caurla nicht nur physisch zum Leon geworden, sondern anschließend auch der Französischen Luftwaffe beigetreten; oder Claire Bressolles, die später Pierre hieß, wurde Landwirt. Abschließend kontrastiert der Autor die normativen geschlechtsanzeigenden Parallelen, die zwischen Beruf und Geschlecht gezogen wurden, erneut mit der Britin Mary Rand (siehe Abbildung 2), die nicht nur ihrem Äußeren nach als legitime Frau in Szene gesetzt wird, sondern auch der gewünschten Rolle als Hausfrau und Mutter gerecht wird. Interessant ist hierbei auch der Vermerk direkt unter ihrem Bild, in dem es heißt: »Britain’s Mary Rand, who holds long-jump record and has a 4-year-old daughter, passed test« [3].
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Abbildung 2: Mary Rand
S CHLUSSFOLGERUNGEN Unter Rücksichtnahme des im theoretischen Teil formulierten Erkenntnisziels, die Performanz des weiblichen Körpers als diskursives Erzeugnis zu betrachten, lässt sich die mediale Inszenierung der Press Schwestern, ihre Erscheinung als starke, vehemente und furchtgebietende Körper ohne »echtes« weibliches Geschlecht, als Produkt eines westlich hegemonialen Diskurses begreifen. In diesem Sinne verkörpern sie nicht nur das Andere eines normativen, westlichkonservativen Frauenideals jener Zeit, dessen Unweiblichkeit über rein physische Angaben wie Gewicht, Größe und Kraft ihrer Körper zum Ausdruck ge-
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bracht wird, die im westlichen Sportdiskurs formulierten geschlechtlichen Verdächtigungen werden immer auch durch ein soziales Wissen untermauert, das gleichsam kollektiv adressiert und so zu einem nationalen Charaktermerkmal erklärt wird. Vor diesem Hintergrund sind es nicht nur die Press Schwestern, die ihr »wahres«, vermeintlich männliches beziehungsweise intersexuelles Geschlecht vor dem »echter« Frauen (aus dem Westen) verbergen; es sind Sportlerinnen aus Osteuropa, die sich nicht unter die Gemeinschaftsdusche trauen, nicht vor anderen Frauen entkleiden und immer einen Rasierapparat im Reisegepäck mit sich tragen [10]. Im westlichen Sportdiskurs wird die vermeintliche geschlechtliche Grenzüberschreitung in erster Linie durch eine »Nähe« zum männlichen Körper zum Ausdruck gebracht. Alles, was als illegitim gilt und als medialer Fixpunkt dient für die vorgenommenen Diskriminierungen und Spekulationen über eine verborgene Intersexualität, stellen in erster Linie männliche Attribute dar, die in diesem Zuge als quasi fundierte Hinweise des Geschlechtsirrtums fungieren. Dabei ist die heteronormative Matrix, in die der Körper der Press Schwestern eingeordnet wird, von einem politischen Dispositiv gerahmt. Insbesondere Tamaras Körper gilt nicht nur als unweiblich, weil er männliche Züge zeigt, sondern weil behauptet wird, dass sich hinter seiner Männlichkeit eine ideologische Maschinerie verbirgt, die für diesen Körper verantwortlich ist. Wie sehr sich diese Vorstellung von den geschlechtlich maskierten Männern aus Osteuropa im Frauensport gehalten hat, bringt noch eine am 1. August 2012 auf Welt online unter dem Titel: »Die zehn größten Olympiaskandale der Geschichte« veröffentlichte Bildcollage zum Ausdruck [12]. An fünfter Stelle erscheint ein Foto von Tamara Press beim Hammerwerfen und darunter die fragende Anmerkung: »Ihr bulliges Auftreten weckt Zweifel. Sind sie wirklich Frauen? Zu den Europameisterschaften 1966 werden Geschlechtstests eingeführt. Das Duo zog sich vorher zurück. « [12] Die Press Geschwister stehen somit nicht nur für einen Körper, dessen Geschlecht weiter ungeklärt bleibt, sie stehen auch für einen politischen Ideologiekampf, der nach wie vor in unserem Kollektivgedächtnis präsent ist.
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Z EITUNGSARTIKEL [1] »The Big Red Machine«, New York Times, 29. Mai 1977. [2] »Women facing more than an athletic struggle«, New York Times, 21. Dezember 1980. [3] »Are Girl Athletes Really Girls?«, Life Magazine, 07. Oktober 1966. [4] »Olympia/ Leistungsgrenze – Pfeffer in der Kiste«, Der Spiegel, 07. September 1960, Ausgabe 37. [5] »Nicht alle Sportlerinnen sind Frauen«, Die ZEIT, 24. November 1967, Ausgabe 47. [6] »Gala-Generalprobe. Die Europa-Hallenwettkämpfe der Leichtathleten«, Die ZEIT, 01. April 1966, Ausgabe 14. [7] »Weltrekorde ohne Make-up«, Die ZEIT, 21. Juli 1971, Ausgabe 30. [8] »Women in sports: The new crisis of credibility«, The Sun, 23. Dezember 1980. [9] »Im Taumel der Rekorde: Noch schneller, noch höher, noch weiter – Amerika bleibt Sportnation Nummer eins – Die Deutschen waren besser als ihr Ruf«, Die ZEIT, 23. Oktober 1964, Ausgabe 43. [10] »Eine Viecherei«, Der Spiegel, 13. November 1967, Ausgabe 47. [11] »Grube zugeschüttet«, Der Spiegel, 21. Oktober 1968, Ausgabe 43. [12] »Die zehn größten Olympiaskandale der Geschichte«, Welt online, 01. August 2012 www.welt.de/sport/olympia/article108447514/Die-zehn-groesstenOlympiaskandale-der-Geschichte.html (Zugriff 04.03.2016).
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Tamara Press (l.) und Irina Press (r.): »Are Girl Athletes Really Girls? « in: Life Magazine, 07.10.1966. Abb. 2: Mary Rand: »Are Girl Athletes Really Girls?« in: Life Magazine, 07.10.1966.
TRANSFORMATION UND BESTÄNDIGKEIT
Rituelle Magie und Bühne. Die Transformation des »Fetischs« in der choreografischen Arbeit von Faustin Linyekula C LAUDE J ANSEN »Die Geschichte Europas der letzten Jahrhunderte ist, ob man es zugeben will oder nicht, eine afrikanische Geschichte. So wie die afrikanische Geschichte mit aller Bestimmtheit eine europäische ist.« (Njami 2004: 26)
Afrika steht, neben der geografischen Bezeichnung eines Kontinents, für eine Vielzahl von sozialen und kolonialen Imaginationen – überflutet von Bildwelten, Rassenkonzepten und Paradoxien. Afrika ist Leben und Tod, Faszination und Abscheu, Realität und Mythos zugleich. Der Ethnologe Michel Leiris spricht von Afrika als einem »Phantom« (Leiris 1980: 25 ff.), der Philosoph Achille Mbembe von der »Urform des Beliebigen« (Mbembe 2014: 105). Faustin Linyekula, kongolesischer Choreograf, Tänzer, Kurator und Leiter der Studios Kabako in Kisangani im Nordosten des Kongos, beschreibt seinen künstlerischen Auftrag als eine beständige Auseinandersetzung mit der Beziehung der beiden Kontinente Afrika und Europa. Insbesondere eine Korrektur der europäischen Wahrnehmung sei ihm wichtig 1, denn diese sei nach wie vor ge-
1
Die Erkenntnisse beruhen auf der Auswertung eines Interviews, das Faustin Linyekula am 19. Juli 2015 mit der Autorin führte. Das Interview wurde auf Englisch geführt. Die Zitate im Original sind somit auch im Original (Englisch) aufgeführt, die indirekt formulierten Äußerungen wurden inhaltlich von der Autorin (C.J.) zusammengefasst
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prägt von Klischees, Fantasien und nicht zuletzt von einer schockierenden Ignoranz, sodass es seine Verantwortung als Künstler sei, sowohl auf die historischen, als auch auf die aktuellen Verflechtungen der beiden Kontinente zueinander hinzuweisen. Linyekula: »It’s almost violant. How come that this common history is not that much acknowledged in Europe? And it gets to the point where somehow some people even wonder how Africans got here [to Europe, CJ].« (Linyekula 2015) Auf die Frage, wie er das Verhältnis und die (historischen) Verflechtungen in seiner künstlerischen Arbeit thematisiere beziehungsweise (choreografisch) umsetze, antwortet er: »With my body memory – that’s the most precise source. We know that in history we have facts of course, that’s one way of entering history. But we also have experience, which is embodied. […] and that’s another possible way of dealing with it.« (Linyekula 2015) Auf der konzeptuellen Ebene sind Rahmungen eine seiner künstlerischen Strategien, denn diese beschreiben einen mikrokosmischen Ausschnitt der Welt, der beständig in Bewegung sei, sich immer wieder verändere und verflüchtige. »It was about the translation of a certain reality of the world here [Europe, C.J.] where only colonial keys exist. They [the audience, C.J.] expect to see and hear certain things. So there was a translation to find to defeat that frame.« (Linyekula 2015) Linyekula erklärt Performance zu einer intendierten Übersetzungspraxis, die einer postkolonialen Auseinandersetzung dient, um die politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen der beiden Kontinente zueinander zu verhandeln. Dieser Text widmet sich der Analyse dessen, wie Linyekula »übersetzt«. Diese orientiert sich am Beispiel eines Fetischs, 2 den Linyekula im Rahmen seiner Aufführung Le Cargo in den Fokus rückt. Die diversen Stadien, die die Figur während der hier vorgestellten Performance »durchlebt«, beschreiben die Reise
und ins Deutsche übertragen. Zitate werden im Folgenden mit (Linyekula 2015) im Fließtext gekennzeichnet. Das Interview ist Teil der empirischen Forschung des Teilprojektes »Bewegungen übersetzen. Tanzästhetische Transformationen und ihre medialen Rahmungen am Beispiel des ›afrikanischen Tanzes‹« des Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen – Praktiken medialer Transformation. Projektleitung des Teilprojektes und Sprecherin des Forschungsverbundes ist Prof. Dr. Gabriele Klein. Weitere empirische Daten sind Aufführungsaufzeichnungen, Gesprächsnotizen, inter-/nationale Kritiken. 2
Die hölzerne Figur, ein afrikanisches Artefakt, das Linyekula nicht weiter benennt, wird im Folgenden von der Autorin mit dem Begriff Fetisch gekennzeichnet. Die Begriffsverwendung erklärt sich im Verlauf der Analyse.
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der europäischen Rezeption des »Fetischs«, die gleichermaßen Fragen nach dessen Etymologie, Metaphorik, Symbolik und Ontologie aufwirft. Dem Fetisch werden seit seiner Begriffsfindung im 16. Jahrhundert vielfältige Deutungen zugesprochen, die in ihren Ursprüngen auf portugiesische Seefahrtberichte zurückzuführen sind: »Fetish – derived from the Portuguese word feitiçio ›made object‹, in other words a graven image or idol – is scarcely used any more among anthropologists because of its connotations of Western appropriation and of reduction of the cultural other to superstitious barbarism; this applies in the first place to the Portuguese, as the first European nation to sail the coasts of Sub-Saharan Africa in early modern times.« (van Binsbergen 2008: 186)
Wie der Anthropologe Wim van Binsbergen bemerkt, dienten die europäischen Interpretationen des Fetischs vielfältigen (kolonialen) Denunzierungsstrategien, da dieser zum »Sinnbild barbarischen Aberglaubens« (ebd.) erklärt wurde. Der Fetisch wird zum Emblem »afrikanischen« Denkens und Handelns und zur Schlüsselfigur für die Grenzsetzungen und Dichotomien, die in der europäischen Moderne etabliert wurden: Der Fetisch ist das Sinnbild des Irrationalen, er trennt Afrika von Europa und setzt die Linien zwischen den Kontinenten, die das Rationale vom Irrationalen, das Subjekt vom Objekt, die Natur von der Kultur trennen, wobei dem Rationalen, dem Subjekt, der Kultur und so auch Europa jeweils das Primat zugeschrieben wird, das die Hegemonie zwischen den beiden Kontinenten zueinander beständig markiert. Linyekula greift diese Zuschreibungen im Rahmen seiner Performance auf. Er sieht darin die kolonialen Imaginationen und Fantasien, die die Geschichte des Fetischs abbilden, indem er diesen durch den Einsatz repräsentativer, meist emblematisch eingesetzter Gesten, Choreografien und Bilder rahmt. Darüber reproduziert er zunächst beständig Kategorien und Dichotomien. Im Verlauf der Aufführung werden »Übersetzungspraktiken« aus dem Bereich der Symbole und Dichotomien generiert, die erlauben, sich in die Materie zu tanzen und darüber situativ Beziehungen zwischen Körpern und der materiellen Kultur herzustellen, durch welche im Ästhetischen überraschende Handlungsmächte wirksam werden. Diese Praktiken sind der Gegenstand der nun folgenden Aufführungsanalyse. Sie werden abschließend in einen Dialog mit exemplarischen kulturwissenschaftlichen Positionen um Neue Materialismen in der Kunst gebracht.
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D ER AUFFÜHRUNGSRAHMEN Paris, 20. Juli 2015, Fondation Cartier, Ausstellung: Beauté de Congo (Linyekula 2015c). Im Rahmenprogramm: Faustin Linyekula mit seiner Aufführung Le Cargo. Die Fondation Cartier, gegründet durch das Label Cartier, ist weltweit bekannt für die Produktion und internationale Distribution von hochwertigen Uhren und Schmuckstücken. Mit der Ausstellung Beauté de Congo – kongolesische Kunst von 1926 bis 2015 und dem begleitenden Rahmenprogramm, darunter kongolesische Musiker*innen und Performer*innen, wird die kongolesische Gegenwartskunst einem internationalen Publikum zugänglich gemacht. Die Performance von Linyekula findet in einem Garten hinter dem mehrstöckigen verglasten Stiftungsgebäude statt, dessen untere Etagen die Werke der Ausstellung beherbergen. Das Rahmenprogramm aller Live-Performances wird mit dem Titel »Les Soirées Nomades« versehen. Unter Bäumen wurden eine kleine Bühne und eine aus Steinen geformte Zuschauer*innen-Tribüne errichtet, sodass das Publikum zwischen wild gewachsenen Gräsern sitzt. Ameisen kriechen über den erdigen Boden, Vögel setzen sich auf die Äste vereinzelter Bäume, die ungeordnet an den Rändern des Gartens erscheinen. Die hintere Front des Gebäudes, die für die Dauer der Aufführung die Bühnenrückwand bildet, ist gläsern transparent und ermöglicht den Zuschauer*innen einen Einblick in die Büroräume, die alle, soweit ersichtlich, mit demselben Mobiliar ausgestattet sind. Der ebenfalls verglaste Aufzug transportiert in unregelmäßigen Abständen Fahrgäste. Nach Erving Goffmans Rahmenanalyse (1977) gewähren Rahmungen den jeweiligen sozialen Akteur*innen auf einer primären Ebene Sicherheit, Normativität sowie Deutungs- und Handlungszusammenhänge. Sie sind Hüter der Ordnung und bieten der sozialen Gemeinschaft eine Orientierung (Goffman 1977). Sind die Besucher*innen einer Ausstellung oder Theateraufführung vertraut mit den Codes derselben, wissen sie, sich zu bewegen, zu informieren, zu benehmen, aber auch das Gezeigte zu interpretieren, zu analysieren, zu diskutieren, zu goutieren. Ebenso sind die in die Konventionen eingeführten Besucher*innen vertraut mit dem ungeschriebenen Gesetz von Nähe und Distanz, welches sie sowohl zu den menschlichen als auch den nicht-menschlichen Akteur*innen etablieren (etwa gegenüber den Ausstellungsgegenständen, weiteren Besucher*innen, Performer*innen, geöffneten Büroräumen, Mitarbeiter*innen der Stiftung etc.). Die hier vorgestellten Rahmungen entsprechen einer westlichen Konvention von Kunst- und Kulturrezeption, denen sich die kongolesischen Akteur*innen unweigerlich anpassen beziehungsweise unterordnen. Die Ausstel-
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lungsgegenstände werden mit Namenstafeln der jeweiligen Künstler*innen versehen, auf denen auch die Herkunftsorte, Zeitangaben und Ausbildungsstätten genannt werden. Wie diese im jeweiligen kolonialen beziehungsweise postkolonialen Zusammenhang zu lesen und zu verorten sind, wird nicht beschrieben. Sowohl Ausstellungsgegenstände als auch Aufführungen werden mit dem Label des »Zeitgenössischen«3 versehen. Ob den jeweiligen Künstler*innen das Attribut genehm ist, bleibt ungewiss. Die Künstler*innen des Begleitprogrammes werden mit dem Begriff »Nomaden« gekennzeichnet, jenen Menschen, die sich die Wanderschaft als Überlebenspraxis, aber auch als Lebensstil aneignen. Durch diese markierte (äußere) Rahmung ist die hier vorgestellte Situation klar definiert. Ebenfalls wird durch die vorgegebene Raumordnung, die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, den jeweiligen Protagonist*innen ein Platz zugewiesen. Die Performer*innen finden diesen auf der Bühne, die Zuschauer*innen auf den Sitzreihen. Infolgedessen wurde in der theaterwissenschaftlichen Analysepraxis bislang der Fokus auf die Interaktion zwischen Performer*innen im Rahmen ihrer szenischen Handlungen beziehungsweise zwischen Performer*innen und Zuschauer*innen gesetzt. Denn diese Trennung wird, wenngleich sie im Zuge gegenwärtiger Performance-Praxen, etwa durch den Wandel vom repräsentativen »zur Schau Stellen«, eines »so tun als ob«, zum/zur durchführenden, handelnden und vollziehenden Performer*in, zunehmend durchlässiger wird, durch die vorgegebene Sitz- bzw. Bewegungsordnung (auch wenn diese scheinbar aufgehoben wird),mit dem Erwerb einer Eintrittskarte, als auch durch die Zugabe eines Abendzettels oder Programmhefts, kontinuierlich bestätigt. Während der Aufführung von Le Cargo werden die Beziehungen jedoch um weitere (nichtmenschliche) Akteur*innen erweitert, was eine mögliche Konsequenz für die mediale und räumliche Wahrnehmung und Kommunikation haben wird. Linyekula webt ein feines Netz von Beziehungen mit menschlichen aber auch nichtmenschlichen Akteur*innen, darunter eine Fetisch-Figur, mit der Linyekula im Verlauf der Aufführung eine Beziehung etabliert. Während der Lecture Performance Knowing Dance more – The broken Circle 4 beschreibt Linyekula die Idee von »Performance-Beziehungen« wie folgt:
3
Vgl. dazu Klein 2016.
4
Lecture Performance: »The Broken Circle – Knowing dance more«, a lectureperformance on beauty and revolutions, Faustin Linyekula at University of the Arts
218 | C LAUDE J ANSEN »I understand theatre ... dance as a relationship ... negotiating a relationship. But you are sitting there and I am sitting here ... so it is trying to connect ... there is this invisible wall between us. […] Traditionally, even in Kingshasa, a city of 12 Mio. people, they make a circle if they want to dance. I started reflecting on what a circle means: It’s an ideal shape for folks for being connected ... it’s like a community that gets together, like brothers and sisters, side by side and we are protecting something precious, which is inside the circle, in the middle. From here we can connect to God, to the ancestors and all that ... so it’s an ideal space. […] I came to the conclusion that the circle is broken ... and the new circle is the 'face to face'. […] But I don’t want to take it for granted ... So how I place my body in space becomes like another way of trying to find this connection again. Maybe we can all reconstruct the circle again.« (Linyekula 2015a, 09:30-17:30)
Wenn Linyekula davon spricht, dass eine Theater- beziehungsweise Tanzaufführung der Herstellung von Beziehungen diene, wird hier zunächst eine Intentionalität artikuliert, die mit Mbembes Aussage über die »kontingenten, vieldeutigen und widersprüchlichen Beziehungen zu den Dingen und zur Welt und zum Körper und seinen Doppelgängern« (Mbembe 2014: 102) erfasst werden kann. Nach Mbembe handelt es sich um vielschichtige Beziehungsnetze, die keinem linearen, zeitlichen Narrativ folgen. Durch die regelmäßige Kommunikation der Lebenden mit ihren Ahnen und Geistern ist Mbembe zufolge Vergangenes sowohl immer auch Gegenwärtiges als auch Zukünftiges (ebd.: 226–236). Um diese Kommunikation zu ermöglichen, wird dem Fetisch eine Vehikel-Rolle zugewiesen, denn laut Linyekula benötigt man zur Kontaktaufnahme zu »god, the ancestors and all that« einen Ort in Form eines Kreises, der wiederum durch die Raumtrennung zwischen Publikum und Performer*innen hier nicht gewährleistet ist.
D IE P ERFORMER * INNEN Um den verschiedenen Übersetzungsvorgängen nachzugehen, die Linyekula auf unterschiedlichen Ebenen produziert, werden zunächst die Performer*innen, »actors«, vorgestellt, mit denen Linyekula interagiert und Beziehungen herstellt. Gemeinsam mit Pytshens Kambilo, einem Gitarristen, betritt Linyekula im
School of Dance, 04. Oktober 2015; Vimeo: Knowing Dance More: vimeo.com/ 143649336 (Zugriff 08.06.2016) (diese wird im Folgenden mit Linyekula: 2015a gekennzeichnet).
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Dämmerlicht barfüßig die Bühne, die eigens für die Aufführung mit Sand bestreut wurde. Linyekula steht am vorderen Bühnenrand zum Publikum gerichtet. In der einen Hand hält er einige Bücher mit den Titeln: Modern Dance und Contemporary Dance, in der anderen eine hölzerne afrikanische Figur. Am vorderen Bühnenrand steht ein Computer, mehrere auf dem Boden platzierte Scheinwerfer bilden in der linken Bühnenhälfte einen Kreis, in der rechten eine Linie. Zu Beginn der Aufführung spricht Linyekula direkt ans Publikum gerichtet: »I wish you all a good evening ladies and gentleman. My name is Kabako. I’m Kabako. Again Kabako. Forever Kabako. Kabako is my name. I am a storyteller. But tonight I’m not here to tell any stories. Tonight I’m something here to dance.« (Linyekula 2015b)5 Doch anstatt zu tanzen, setzt er sich auf die hölzerne Figur, die einen Teller auf dem Kopf trägt und somit zu einem nutzbaren Artefakt wird. Er spricht weiter und etabliert einen direkten Dialog mit seinen Zuhörer*innen. Dabei gibt er vor, ein Geschichtenerzähler zu sein, obgleich er sich selbst unter dem Label des Tänzers vermarktet. Und so frage er sich, ob er während der letzten zehn Jahre, in denen er dem Weg des »Contemporary Dance« gefolgt sei, Geschichten erzählt, beziehungsweise eigentlich wirklich getanzt habe. Im Sinne einer wahrlich romantischen Idee von Tanz – da wo Tanz als eine Einheit jenseits von Geografie, jenseits von Politik, jenseits des Verhandlungsraumes zwischen den Lebenden und den Toten stattfinde (Linyekula 2015b). Mit »I am Kabako – forever Kabako – Kabako is my name« bringt Linyekula einen weiteren Protagonisten ins Spiel: seinen Freund Kabako, der, wie wir im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren, im Jahr 1994 an der Pest starb. Von nun an jongliert Linyekula zwischen seiner Bühnenfigur, seinem Selbst und seinem Doppelgänger Kabako, dessen Identität er annimmt. Als Bühnenfigur bewegt er sich zwischen dem Tänzer und dem Geschichtenerzähler, als sein Selbst kommentiert er seine Handlungen in der Manier eines Brecht ’schen V-Effektes6
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Alle Textzitate wurden mit Hilfe der Aufführungsaufzeichnung zu Le Cargo von der Autorin übertragen. Le Cargo Aufführungsaufzeichnung (Ort und Datum der Aufführung unbekannt) www.vimeo.com/33401518 (Zugriff 02.08.2016). Indirekte Rede wurde von C.J. ins Deutsche übersetzt.
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Der sogenannte Verfremdungseffekt (V-Effekt) bezeichnet eine von Bertold Brecht eingeführte Methode bei der die lineare Dramenhandlung unterbrochen wird. Dies geschieht durch Inszenierungsbrüche, etwa den unerwarteten Einsatz von Liedern, Gedichten und/oder unerwarteten Handlungen, besonders durch das »Aussteigen« aus der Rolle, bei der die Schauspieler*innen Handlungen kommentieren oder diskutieren. Mit dieser Methode etablierte Brecht einen Gegenentwurf zum aristotelischen Dra-
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und gibt dem Publikum, das er direkt anspricht, darüber Auskunft, wie unfassbar es für ihn sei, dass ein Mensch im Jahr 1994 im Kongo an der Pest stirbt und er sich frage, welchen Unterschied es mache, dass er seit Jahren auf internationalen Bühnen stehe, um darüber zu berichten? Als sein Doppelgänger Kabako wird er zum Medium, indem er zwischen dem Selbst und dem Toten kommuniziert, durch ihn spricht. Kabako ist ein unsichtbarer (nichtmenschlicher) Akteur. Ähnlich wie die verschiedenen Figuren (Rolle, Selbst, Doppelgänger) einleitend durch seinen Körper sprechen, folgen nun Tanzsequenzen zwischen den verschiedenen (Tanz-)Techniken, die er nicht nur geografisch zwischen den Kontinenten Afrika und Europa festlegt und körperlich darbietet, sondern auch durch unterschiedliche räumliche Kennzeichen, die er auf dem Bühnenboden markiert. Zunächst begibt er sich in eine Gasse aus Licht, die mit Hilfe von zwei auf dem Boden stehenden Scheinwerfern hergestellt wird. Zum Klang der E-Gitarre tanzt er auf der »Straße des zeitgenössischen Tanzes«, geradlinig, choreografiert. Daraufhin geht er zurück an den Bühnenrand, um die Fetisch-Figur als Trommel einzusetzen; das Gitarrenspiel verstummt und aus dem Lautsprecher sind zusätzliche Trommelklänge zu vernehmen. Linyekula spricht weiter, über Tanz – seine Tanzausbildung in Europa, die ihn zurück zu den Tänzen an den Ort seiner Kindheit in Ubilo gebracht habe, den populären Tänzen wie Ndombolo, besonders aber den rituellen Tänzen. In diesem Moment vermischen sich Trommeln und Tanz mit der Fetisch-Figur, die darüber affektiv besetzt und zur aktiven Performer*in wird. Die beiden tanzen zum Kreis aus Scheinwerfern, sie tanzen mit ihnen und zwischen ihnen – so werden auch die Scheinwerfer zu aktiven Akteur*innen, die gemeinsam mit ihm einen tanzenden Kreis bilden, in dessen Mitte er tritt, nachdem er diese animiert hat. Durch die Transformation, die die Scheinwerfer durchleben, werden sie zur »community«, von der Linyekula im eingangs zitierten Text spricht: »It’s like a community that gets together, like brothers and sisters, side by side and we are protecting something precious which is inside the circle.« (Linyekula 2015a) Mit dem Tanz, den Linyekula im Anschluss vollzieht, verändert sich sein Bewegungsvokabular. Sein Körper, so ist zu vermuten, nimmt eine weitere Beziehung auf, diesmal zu einem unsichtbaren Akteur – zu seinem toten Freund Kabako. Durch die Lichtquellen rückt sein Körper nicht nur
menkonzept, das durch eine lineare Handlung und eine kathartische Wirkung gekennzeichnet ist. Brechts Intention war es, das Publikum durch die von ihm inszenierten »Brüche«, aus der Position der passiven Rezeption, in denkende, handelnde, mündige und mitfühlende (aktive) Zuschauer*innen zu überführen.
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in den Fokus des Kreises, er verdoppelt sich mehrfach durch die vielfältigen Schatten, die dieser auf die gläserne Rückwand des Stiftungsgebäudes wirft. Gleichzeitig erscheinen kongolesische Straßenszenen auf dem Computermonitor, wenige Sekunden später das Gesicht eines jungen Mannes, das vermutlich den jungen Kabako zeigt. So wird die Beziehung mit dem unsichtbaren Akteur, dem Doppelgänger Kabako, die Linyekula durch Trommelspiel, Kreisbildung und Tanz eingeleitet hat, von einer unsichtbaren zu einer sichtbaren Übersetzung. Tanzend in der Mitte des Scheinwerferkreises wird er durch die Präsenz der animierten Scheinwerfer und der Fetisch-Figur zum Übersetzer (zum Mittler) auf unterschiedlichen Ebenen: zwischen den Lebenden, den Toten, dem Computerbild, dem Publikum und nicht zuletzt dem Stiftungsgebäude.
D ER TANZENDE »F ETISCH «: VOM S INNBILD ZUR M ATERIALITÄT Der Fetisch durchlebt in Linyekulas Produktion vielfältige Transformationen: Zunächst dient er als Symbol, um zu rahmen und Vertrautes über koloniales Wissen zu reproduzieren. Im nächsten Abschnitt wird er zu einem Sitzmöbel und damit erfolgt eine erste Übersetzung: Er verwandelt sich vom Signifikanten zum Funktionsgegenstand. Als Trommel erhält er eine weitere Funktion, Linyekula produziert Töne mit ihm, wodurch der Körper schwingt und vom Klangproduzenten zum Vehikel mutiert, zum schwingenden Körper, der im Rahmen einer rituellen Praktik, die unsichtbaren Akteur*innen, die nach Linyekula die Götter und Ahnen darstellen, in das Geschehen einbindet. Der Fetisch als Trommel entwickelt somit seine eigene Wirkkraft und wird zum Agenten, der einen weiteren Akteur ins Spiel bringt: den Toten Kabako. Waren Bücher und Fetisch zunächst Sinnbilder, Symbole, Träger von repräsentativen Erzeugnissen der unterschiedlichen Kulturen, werden sie im darauf folgenden Moment voneinander getrennt und ihrer rituellen Gebrauchsweisen befremdet: Linyekula legt das Buch demonstrativ beiseite, während er die Fetisch-Figur in den Fokus rückt. Diese wird von nun an zu einer/einem zentralen »Performer*in«, die/der durch seine Metamorphose einen entscheidenden Wandel durchlebt. Mit Hilfe der englischen Begriffe von meaning zu matter findet dieser Wandel eine angemessene Begriffszuordnung. Ist die Figur zu Beginn der Aufführung ein Sinnbild für das vermeintlich Afrikanische (das Klischee, die Imagination, das Dunkle, Irrationale), das heißt Träger*in von Bedeutungen (meaning), die einem westlichen Vorstellungs-Kanon entsprechen, wird diese im Verlauf der Aufführung zur wirkmächtigen Akteur*in, zur Materie (matter), die
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im Zusammenspiel mit Linyekula während der verschiedenen Handlungen und Interaktionen situativ Sinn produziert. Die Verwandlung, die die Figur durchlebt, macht deutlich, wie Linyekula (kulturelles) Wissen reproduziert und rahmt. Die historischen Verläufe, die die Rezeption des »Fetischs« während der letzten Jahrhunderte kennzeichnen, lassen sich am performativen Handeln Linyekulas mit der Fetisch-Figur im Laufe der Aufführung nachzeichnen: Wird die Figur zunächst als Repräsentant*in für kulturelles Wissen gemeinsam mit dem (Tanz-)Buch präsentiert, reproduziert Linyekula all die vertrauten Dichotomien und Imaginationen, besonders jene, die das Buch als Symbol des Rationalen (Schrift, Text, Wissen) und den Fetisch als Symbol des Irrationalen (Magie, Zauber) zuordnen und gleichermaßen denunzieren. Verstärkt wird der Aspekt durch die Wahl des Buchinhaltes, also der Verschriftlichung einer körperlichen Praktik, des Tanzes; der Titel Contemporary Dance, der zugleich plakativ eingesetzt wird. Er verweist auf eine Kategorisierung des Tanzes, die einer normativen (nordatlantischen) Idee von Tanz folgt. Linyekulas folgende Funktionalisierung des Fetischs, indem er diesen zum Sitzmöbel erklärt, lässt vermuten, dass er für diesen Moment der Aufführung einer scheinbaren Idee von Rationalisierung folgt, sich darüber von den (europäischen) Zuschreibungen des Irrationalen distanziert. Denn laut Christina Antenhofer wird »Fetischismus als primitivste Stufe der Religion noch unterhalb des Polytheismus angesetzt, da er auf der materiellen Ebene, nämlich jener der Verehrung von nichtanimierten Dingen angesiedelt sei. […] Hierin spiegelt sich die Einordnung Afrikas als chaotische, gesetzlose, anarchische Gesellschaft außerhalb der Zivilisation« (Antenhofer 2011: 12). Gleichzeitig verweist die wechselnde Verwendung auf situative Neurahmungen, die den Fetisch in seiner Funktion nicht festlegen, weder universell, noch kulturell, sondern individuell. Linyekula ist selbstbestimmt im Umgang mit dem Artefakt, befreit sich also von jeglichen Konventionen und Deutungsvorlagen. Während Linyekula auf dem Stuhl (als Fetisch) sitzt, was diesen sichtbar bedeutungslos werden lässt, geht er mit seiner Geschichte zurück in die Vergangenheit. Der Verweis auf die rituellen Tänze, die er von seiner Großmutter gelernt habe, ist kein Ausdruck für eine nostalgische Kindheitserinnerung, sondern eine aktive Rückwendung zu einer präkolonialen Praktik – ein Moment des politischen Re-Enchantments. Durch Gesang, Tanz und Klangproduktion – der Beziehung die Linyekula mit dem Fetisch etabliert – wird sie zu seiner Partner*in, einer wirk- und handlungsmächtigen Performer*in. Mit »Enchantment« bezeichnet Jane Bennett ein Handeln, das durch das Zusammenwirken von Körpern in Alltagssituationen mit kulturellen Produkten vollzogen wird, um die Praktiken ethischen Bewusstseins und politischen Handelns zu stärken (Bennett
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2010). Die Übersetzungspraktik, die in der Aufführung generiert wird, vollzieht dieses Enchantment im Ästhetischen. Linyekulas (Re-)Enchantment leitet den Wandel von Sinnbild, über Neutralisierung (Rationalisierung) in die Materialität ein; ein Wandel, der ähnlich auch in der gegenwärtigen theoretischen Auseinandersetzung um den Fetisch geführt wird. Laut Antenhofers Zusammenfassung, die sich hier konkret auf die FetischStudien von William Pietz bezieht, weist der »Fetisch« folgende Merkmale auf: »a. seine Materialität: der Fetisch ist kein Zeichen, kein Symbol, er hat keine figurative Bedeutung; b. seine Historizität: der Fetisch ist die materielle Verdichtung des historischen Ereignisses; c. seine soziale Bedeutung: der Fetisch dient der Regulierung sozialer Beziehungen; d. der Fetisch steht in engem Bezug zu einem Individuum, mit dem er sogar körperlich verbunden ist.« (Antenhofer 2011: 19)
Während Linyekulas Tanz-Performance mit dem Fetisch werden all die hier aufgeführten Merkmale nachvollziehbar: Linyekula hat den Fetisch in seine aktive Materialität überführt und ein historisches Ereignis gesetzt, denn der Kreis und die darin vollzogene Korrespondenz mit Kabako verweist nicht nur auf verschiedene historische Ereignisse (Kabakos Herkunft, seinen Tod und die Todesursache), sondern setzt in genau diesem Moment erneut ein historisches Ereignis in Paris, das nicht (nur) durch seine zeitliche, räumliche Konvention (Datum, Ort, Uhrzeit), sondern durch das Ereignis an sich definiert wird. Darüber markiert Linyekula einen zusätzlichen Aspekt: der Fetisch ist weder Emblem, noch universell wirksam, seine Wirksamkeit wird nur in der individuellen, situativen Anwendung hervorgebracht, wie hier ganz deutlich wird. Linyekula hat einen engen Bezug zu der Figur, ja eine körperliche Verbindung durch Tanz und Trommel. Darüber reguliert er wiederum die sozialen Beziehungen, in dem Fall auch diejenigen, die zwischen Zuschauer*innen und Performer*innen stattfinden, denn er etabliert Momente der Irritation und Überraschung. Wird Kabako zunächst durch die einleitende Behauptung in Linyekulas Anrede ans Publikum mit »I am Kabako« ausschließlich symbolisch durch seinen Körper materialisiert (durch seine verbale Behauptung), erlaubt Linyekula nun die Vermutung, dass er während der Tanzsequenz im Kreis eine Beziehung zu dem Toten herstellt, da er zu Beginn der Aufführung von der »romantischen Idee des Tanzes spricht, da wo Tanz jenseits des Verhandlungsraumes der Lebenden und der Toten möglich ist« (Linyekula 2015b). Ebenso lässt sich ein Verweis zu der einleitend zitierten Lecture Performance herstellen, bei der Linyekula von der Besonderheit des Kreises spricht, durch den im Ritual eine Kontaktaufnahme zu den Ahnen (den Toten)
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möglich sei. In diesem Fall liegt die Aktion nicht mehr ausschließlich beim sichtbaren Akteur, sondern bei anderen (unsichtbaren) Wirkkräften.
Ü BERSETZEN :
ZWISCHEN
F ETISCH
UND
»F AITICHE «
Wenn Übersetzung zunächst der Hervorbringung von »Etwas« dient, das Irritation, Unerwartetes, Unvertrautes, Überraschendes hervorruft, dann ist die FetischFigur, die Linyekula mehrfach transformiert, der Gegenstand der Hervorbringung. Dieser ist nach Antenhofer ohnehin ein Produkt der Irritation: »Der Fetisch entzieht sich seit seinem Auftauchen dem Zugriff seiner Erforschung, worin sich bis heute ein guter Teil seiner Faszination wie seiner Irritationskraft erhalten haben mag.« (Altenhofer 2011: 15) Gleichzeitig ist er sogleich das Produkt einer Übersetzung, da der Fetisch ein »Paradebeispiel einer Hybridisierung in einer interkulturellen Kontaktzone darstelle« (ebd.: 20), welches sich erst durch die Begegnung der christlich portugiesischen und animistisch afrikanischen Gesellschaften gebildet habe und dem Fetisch somit die Rolle des »kreativen Vermittlers/Übersetzungscodes zukommt« (ebd.). Daraus folgt die Annahme, dass dem Fetisch in Linyekulas Produktion eine doppelte Vermittlungsposition zugesprochen werden kann, die mehrfach eingesetzt wird. Zunächst verweist Linyekula darauf, dass dieser ein koloniales Phantasma, ein Modell des Repräsentativen, also Symbol einer sozialen Ordnung (Weltsicht) sei, oder aber lediglich eine leere Hülle; eine schlichte, von Menschenhand produzierte Materie, deren Wirkkraft dem Aberglauben geschuldet sei. Der Beziehung, die er in der darauffolgenden Szene mit dem Fetisch einleitet, dem Ding, das nach Bruno Latour »made to do« ist, wird der Fetisch in einen Prozess des »becoming« übersetzt. In einer von Latours frühen Schriften mit dem Titel »factures/fractures« (Latour 1999) führt er den Begriff »Attachment« ein, als Erweiterung zu jenem des »Netzwerks« und plädiert für eine zunehmende affektiv-kulturelle Anbindung an die Dinge, die gemacht sind zum Handeln, Interagieren, Sein. »I no longer seek to sunder what makes and what is made, the active and the passive, because I am positioned to persue a chain of mediators, each not being the exact cause of the next, but instead, each enabling the next to become.« (Latour 1999: 26) Latour inspiriert seine Leser*innen dazu, nicht alle Handlungsmächte per se der Gesellschaft zuzuordnen, die sich nach Ordnungsprinzipien wie etwa Struktur oder Kultur zusammenfassen lassen, sondern ermutigt die Wissenschaft, besonders jene Ereignisse aufzuspüren, die im Verborgenen liegen. Auch Jane Bennett entdeckt für sich das ethische Potential, das sich im New Materialism eröffnet. Bennett spricht davon, eine kultivierte, geduldige
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und sinnliche Aufmerksamkeit gegenüber nicht menschlichen Kräften zu entwickeln, die außerhalb und innerhalb des menschlichen Körpers am Werk sind (Bennett 2010). Der Fetisch durchlebt in der Aufführung den Wandel von der kolonialen Imagination und einem symbolischen Bedeutungszusammenhang zu einer Wiederentdeckung in der aneignenden Praxis. Linyekula dekonstruiert einen kolonialen Fakt und entwirft einen post-kolonialen Möglichkeitsraum. Diese Übersetzungspraxis kommt der Latour’schen Idee der »Zerstörung des Fetisches« gleich, einem Vorgang, den Latour auch mit »iconoclash« (Latour 2002b: 2ff.) bezeichnet. Mit dem Akt der Zerstörung des Sinnbildes – hier schließt Böhme an Latour an – geht ein kreativ-produktives Potential einher, das den Fetisch nicht entmachtet, sondern dessen Wirkkraft bestätigt – also ermächtigt. So bringt die Zerstörung nach Latour den sogenannten Antifetischisten hervor, der sich zwischen den Bereichen Fetisch und Fakt bewegt: »Einmal wird der Fetisch für eine Tatsache gehalten, einmal wird die Tatsache zum Fetisch.« (Böhme 2006: 92) Das Wechselspiel zwischen Fetisch und Fakt inspiriert Latour zu einem Wortspiel, indem er die Begriffe auf die gleiche etymologische Wurzel zurückführt: factitius – das Gemachte. So vermischen sich nach Latour Fakt und Fetisch zu »Faitiches« (Latour 2002a: 326) und diese wiederum kennzeichnen die »Überraschungsmomente des Handelns« (ebd.: 327) wie sie ebenfalls bei Linyekula im Ästhetischen nachvollziehbar werden. Latour kreiert den Begriff »Faitiches«, um »den komplizierten Umwegen zu folgen, auf denen exakte Fakten, wirksame Artefakte und rechtschaffene Politik zirkulieren« (ebd.: 326). Ein Prozess, den Latour auch mit »Übersetzung, Verflechtung, Transfusion, Verschiebung« kennzeichnet (ebd.: 327). Durch Beziehungsgeflechte (attachments), die Linyekula (im Sinne Latours) erzeugt, können Verbindungen zwischen den Dichotomien hergestellt werden, worüber sich eventuell auch die Kreise schließen, von denen Linyekula »romantisch träumt« (Linyekula 2015b) – ganz ungeachtet dessen, ob die räumliche Trennung zwischen Zuschauer*innen und Performer*innen weiterhin sichtbar ist. Die zirkulierenden Körper werden durch ihre unsichtbaren Wirkmächte in ihren leiblichen Grenzen nicht mehr nachvollziehbar, die Grenzen verflüssigen sich: Wenn in Linyekulas Performance die verschiedenen Akteur*innen situativ miteinander in Aktion treten, zirkulieren sie. Eine mögliche Kreisbildung kann anhand der Transformation des Fetischs wie folgt übersetzt werden: Wenn Linyekula etwa durch den Einsatz von Gesang und Trommel die Scheinwerfer im Kreis animiert und diese seinen Schatten an die Rückwand des Stiftungsgebäudes werfen, während er mit seinem verstorbenen Freund Kabako kommuniziert, entsteht folgender »Überraschungsmoment des Handelns«. Durch »exakte Fakten, wirksame Artefakte und rechtschaffende Politik« (Latour 2002a:
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326), wie Latour sie bezeichnet, erinnern die Zuschauer*innen die einleitende Erzählung vom Tod Kabakos durch die Pest im Jahr 1994 in Kisangani, einer Stadt, die im Nordosten des Kongos liegt und bekannt ist für Rohstoffe wie Gold und Diamanten. Linyekula kommuniziert mit dem Toten durch die Wirkkraft des Fetischs; dabei wird sein Schatten mehrfach vergrößert auf das Stiftungsgebäude geworfen, das von dem namhaften französischen Schmuck- und Uhrenproduzenten Cartier begründet wurde. Eine Korrespondenz von Fakt (Rohstoffe im Kongo) und dem Schmuckproduzenten Cartier (Vertreiber dieser Rohstoffe) liegt nahe. Inwiefern dieser Aspekt in eine »rechtschaffende Politik« mündet, überlässt Linyekula seinem Publikum, denn dieses wird durch den Moment der Magie (Re-Enchantment) zum Mond geführt, um sich durch die Erfahrung erneut zu positionieren, wie Linyekula wie folgt beschreibt: »In setting up a theatrical experience you have to be a storyteller. The storyteller is the one who has the capacity to on one hand constantly remind you of being here and then he opens a little window to a different world. When [something real, C.J.] suddenly changes into a space shuttle and takes you to the moon, but he will never meet you there. Cause if you meet him there he would never give you the chance to position yourself. […] I think that’s exactly what happens. I believe that for the magic you have to open as concrete as possible. […] A framing concept means that nothing can be taken for granted. Nothing remains the same.« (Linyekula 2015)
Linyekula übersetzt in seiner Performance Le Cargo Sinnbilder in situativ erzeugte Praktiken, indem er Beziehungsgeflechte über die Materialität der Körper und der Fetisch-Figur zueinander herstellt. Ob der verlorene Kreis sich schließt, bleibt ungewiss. Doch im Sinne Latours kann eine affektive, körperliche Beziehung zu einem Fetisch einen Paradigmenwechsel im Nachdenken über den Fetisch einleiten. »The notion of fetish or fetishism emerges precisly from the shock encounter between those who utilize the terms of necessity and freedom and those who know themselves to be fastened by numerous beings that make them exist.« (Latour 1999: 29) Linyekula entwickelt in seiner Performance Praktiken, die genau diese Begegnung übersetzen.
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L ITERATUR Antenhofer, Christina (Hrsg.) (2011): Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte – Rezeption – Interpretation, Bielefeld: transcript. Bennett, Jane (2010): Vibrant Matter. A political Ecology of Things, London: Duke University Press. Van Binsbergen, Wim (2008): »he author(s)/QUEST«, in: An African Journal of Philosophy/Revue Africaine de Philosophie, XXI, S. 155–228. Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek: Rowohlt. Goffman, Erving (1977 [1974]): Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klein, Gabriele (2017): »Zeitgenossenschaft behaupten. Zur Politik kulturellen Übersetzens am Beispiel des Tänzers und Choreografen Koffi Kôkô«, in: Benthien, Claudia/ dies. (Hrsg.): Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen, Paderborn: Fink, S. 165–178. Latour, Bruno (1999): »Factures/fractures. From the Concept of Network to the Concept of Attachement«, in: Anthropology and Aesthetics 36 (autumn 1999), Harvard: Harvard University Press, S. 20–32. Latour, Bruno (2002a): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Latour, Bruno (2002b): Iconoclash oder gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin: Merve. Leiris, Michel (1980): Phantom Afrika. Tagebuch einer Expedition, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp. Njami, Simon (2004): »Chaos und Verwandlung. Zur Ausstellung ›Afrika Remix‹«, in: (ders.) (Hrsg.): Afrika Remix, zeitgenössische Kunst eines Kontinents, Ausstellungskatalog, Ostfildern/Ruit: Hatje Cantz, S. 13–26.
F ILME Linyekula, Faustin (2015a): The Broken Circle – Knowing Dance More. A Lecture-Performance on Beauty and Revolutions, www.vimeo.com/143649336 (Zugriff 08.06.2016), 2015/10. Linyekula, Faustin (2015b): Le Cargo, www.vimeo.com/33401518 (Zugriff 02.08.2016).
Choreografie vermitteln. Eine praxeologische Untersuchung zu Tanzkunst und Kultureller Bildung G ITTA B ARTHEL
Wie lassen sich Vermittlungsprozesse in choreografischer Praxis in Tanzkunst und Kultureller Bildung wissenschaftlich untersuchen und welchen Beitrag kann dabei ein praxistheoretischer Zugang liefern? Diese Zusammenhänge thematisiert dieser Text, indem er sich zunächst mit den Praktiken zeitgenössischer Choreografie befasst. Anschließend wird die Relevanz von Tanzkunst für die Tanzvermittlung in den Blick genommen und der daraus entstehende Boom von Tanzund Choreografie-Projekten mit Hilfe des »Kreativitätsdispositivs« (Reckwitz 2012) erschlossen. Vor diesem Hintergrund stellt sich aus praxistheoretischer Sicht die Frage, wie sich Vermittlungspraxis in Choreografie-Projekten vollzieht, die in künstlerisch-kulturellen Kontexten im Zusammenspiel von Choreograf*innen und nicht- oder semiprofessionellen Gruppen stattfindet. Zur Beantwortung dieser Frage dienen Ausschnitte aus den Analyseergebnissen meiner Dissertation (Barthel 2017), die zentrale Praktiken des Vermittelns beim Choreografieren empirisch kenntlich machen und das Verhältnis von Kunst- und Vermittlungspraxis spezifizieren. Dabei wird sichtbar, welche Analogien zwischen der praxeologischen Grundannahme einer Untrennbarkeit von Körperlichkeit, Handeln und Denken und dem Forschungsergebnis, der Verwobenheit explorativer und reflexiver Praktiken von Choreografie und Vermittlung, existieren.
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C HOREOGRAFISCHE P RAKTIKEN
IM
B ÜHNENTANZ
Bis zum 20. Jahrhundert bestanden choreografische Verfahren des Bühnentanzes noch im »Finden, Kombinieren und Ausführen von Tanzschritten zu Musik« (Siegmund 2010: 120). Sie zeichneten sich durch »memoriale Festlegung, Geschlossenheit und Wiederholbarkeit« (Lampert 2007: 35) aus. Seit den 1970er Jahren entstanden vermehrt prozessorientierte Praxen, die die Improvisation als choreografisches Verfahren einführten. Damit wurden Veränderungen angestoßen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in einen »erweiterten Choreografiebegriff« (Foster 2011) münden, unter dem diskursprägende Tanzwissenschaftler*innen (ebd.; Klein 2011; Siegmund 2010) Bewegungsordnungen in Zeit und Raum fassen. Seitdem sind choreografische Ordnungen nicht mehr zwangsläufig an eine tänzerische Ästhetik und die Bewegungen menschlicher Körper gekoppelt, sondern können unter anderem von Medien und Artefakten erzeugt werden. In intermedialen Arbeitsweisen besteht Choreografieren aus der »Organisation von heterogenen Materialien, aus Bewegung, Körpern, Sprache, Texten, Bildern, Licht, Raum und Objekten.« (Siegmund 2007: 1) Choreografische Ordnungen betreffen den gesamten Generierungsprozess und gehen über eine Choreografie als Werk, welches zur Aufführung kommt, hinaus. Festgelegte und improvisierte Ordnungen bilden keine Dichotomien, sondern Potentialitäten. Sie können sich als künstlerische Choreografie im Rahmen einer Aufführungssituation ereignen oder als soziale Choreografie im alltäglichen Lebensraum, wie etwa bei dem Interaktionsgefüge von Passant*innen auf einer Straßenkreuzung. Was als Choreografie wahrgenommen wird, kann von Akteur*innen ebenso wie von Rezipient*innen entschieden werden, hängt also nicht von der Beschaffenheit des Geschehens ab, sondern vom Blickwinkel des Wahrnehmenden. In dem Terminus Choreografie, der sich aus graphein (griech. Schreiben) und choros (griech. Tanzplatz, Reigenplatz) zusammensetzt, ist eine Doppelbedeutung vom Schreiben und Bewegen angelegt (Klein 2011: 18f). Neben dem Bewegungsgeschehen bezieht er somit auch das Notieren, Dokumentieren und Publizieren von choreografischen Ordnungen mit ein. Wie in diesen Ausführungen bereits anklingt, besteht die Praxis zeitgenössischen Choreografierens aus einer Vielzahl von Praktiken, die im Rahmen meiner Forschung auf der Grundlage tanzwissenschaftlicher Literatur sichtbar gemacht wurde und hier in einer Übersicht (siehe Abbildung 1) abgebildet ist:1
1
Praxis wird hier als Oberbegriff verwendet. Eine Vielzahl an choreografischen Praktiken bildet die choreografische Praxis aus.
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Abbildung 1: Praktiken des Choreografierens
Das Zusammenspiel von Explorieren/Improvisieren bei der Generierung des choreografischen Bewegungs-, Text-, Musik- und Bildmaterials mit dem Reflektieren der Choreograf*innen über konstitutive Bestandteile ihres Metiers, wie Formen der Zusammenarbeit und Präsentationsformate, bildet darin das signifikanteste Strukturelement. Es soll im Folgenden an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Strukturierte Improvisationen auf der Basis von Regelwerken mit Vorgaben für das Zusammenspiel der Performer*innen und ihren Umgang mit Bewegungsmaterial (Klein u.a. 2011a: 2) werden in Aufführungen als »EchtzeitKomposition« (ebd.: 35) praktiziert. Sie erzeugen eine »Kunst des Augenblicks« (Klein 2011: 43) und rücken die Ereignishaftigkeit in den Mittelpunkt. Damit fordern sie von den Performer*innen die Fähigkeit, mit emergenten Komponenten umgehen zu können, spontane Entscheidungen zu treffen und diese gleichzeitig unter einem choreografischen Blickwinkel in ihrem Gesamtzusammenhang zu reflektieren. Es entsteht eine »Kunst der Kombinatorik« (Lampert 2007: 179), in der explorative mit reflexiven Praktiken einhergehen und die Performer*innen an der Bewegungsgenerierung und -komposition als Co-Autor*innen teilhaben. Choreograf*innen verstehen sich gleichzeitig »als suchend, forschend, lernend, vermittelnd und reflektierend« (Klein u.a. 2011b: 42) und entwickeln eine Kultur des Fragens und der (Selbst)-Reflexivität. Sie hinterfragen unter anderem, wie Bewegung in verschiedenen Medien erfahrbar wird und untersuchen deren Potentialitäten im jeweiligen Kontext: Was macht den Körper als Instrument für die Bewegung in Zeit und Raum aus und wie verhält sich die menschliche Bewegung zur Bewegung von digitalen Trägermedien in intermedialen Choreografien? Dispositive des eigenen Metiers wie Körper, Bewegung oder Autorschaft werden neu verhandelt. Echtzeit-Kompositionen zum Beispiel machen die Themen der Emergenz und der geteilten Autorschaft nicht nur für die Performer*innen, sondern auch für die Zuschauer*innen erfahrbar, stellen sie aus und reflektieren sie (Brandstetter 2010).
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T ANZKUNST
UND
T ANZVERMITTLUNG
Tanzkunst erfährt im 21. Jahrhundert eine bislang nicht bekannte Anerkennung in der ästhetischen Bildung. Antje Klinge konstatiert aus tanzpädagogischer Perspektive, dass Tanz inzwischen »als Teilbereich kultureller Bildung selbstverständlich geworden« (Klinge 2012a: 9) ist und einen wachsenden Stellenwert in der Schule einnimmt. Mithilfe zahlreicher Förderprogramme auf Bund- und Länderebene entstehen in Deutschland Tanzprojekte sowie »Tanz-in-SchulenProjekte« (Müller/Schneeweis 2006) von professionellen Choreograf*innen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Kunst-, Freizeit- und Bildungskontexten. Sie stellen die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischen und künstlerisch-kulturellen Praktiken. Letztere werden in der Arts Education propagiert, die mit künstlerisch-kultureller Bildung übersetzt werden kann und für eine Bildung in, mit und durch die Künste eintritt (Eger 2014).2 Im Zuge dieser Entwicklungen etablierte sich im deutschsprachigen Raum der Begriff der »Tanzvermittlung« (Klinge 2012b: 883), der sich auf die Zusammenarbeit von Künstler*innen mit nicht-, semi- und professionellen Beteiligten in künstlerisch-kulturellen Kontexten bezieht, in denen Selbstbildung und Eigenverantwortlichkeit im Vordergrund stehen. Als Sammelbegriff bietet er Raum für die gegenwärtige Heterogenität der Personengruppen, Aktionsfelder, Konzepte und Ansprüche sowie die Vielfalt der etymologischen Bedeutungsvarianten, die praktiziert werden. Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist ein regelrechter »Vermittlungsboom« (Bischof/Nyffeler 2014: 13) zu verzeichnen, der im Folgenden im Kontext eines »Kreativitätsdispositivs« (Reckwitz 2012) verortet wird.
2
Diese Entwicklung wurde durch das schlechte Abschneiden von Deutschland im Rahmen der Pisa-Studie ausgelöst und führte zu bildungs- und kulturpolitischen Reformen wie den Ganztagsschulen und vermehrten Kooperationen von Schulen, Kommunen und außerschulischen Einrichtungen. Im Zuge dessen erfuhr die Teilhabe an Kultureller Bildung im Allgemeinen und an Tanzprojekten im Besonderen eine Positivbewertung. Zusätzlich beförderte eine für die UNESCO durchgeführte internationale Studie von Anne Bamford die Anerkennung künstlerisch-kultureller Bildung (Bamford 2006).
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ÄSTHETISCHE P RAXIS
UND DAS
K REATIVITÄTSDISPOSITIV
Kreativität bezieht sich Andreas Reckwitz zufolge in unserem Jahrhundert nicht mehr allein auf die Kunst, sondern ist zu einer »ästhetischen Sozialität« (ebd.: 54) geworden. Sie ist Teil eines individuellen Lebensprogramms, nicht nur von Künstler*innen, und expandiert zugleich in die Strukturen des Sozialen. Damit einher geht die Bestärkung des Wunsches nach Selbstverwirklichung und eine lustgesteuerte Motivation nicht nur kreativ tätig sein zu können, sondern dies auch zu müssen. Die ästhetische Sozialität bildet eine spezifische Form des Sozialen, die auf eine dynamische Selbsttransformation ausgerichtet ist und in der das sinnlich-perzeptive Erleben im Vordergrund steht. Sie wird laut Reckwitz von vier Instanzen geprägt, die sich in Tanz- und Choreografie-Projekten wiederfinden: Dem institutionellen Rahmen zur Marktregulierung, dem Kunstwerk als Ereignis, den Künstler*innen und den Rezipient*innen. Zusätzlich kann die Teilhabe an choreografischen Projekten in multiplen Subjektpositionen geschehen: als Künstler*in, Darsteller*in und Zuschauer*in. Bei Projekten in künstlerisch-kulturellen Kontexten nimmt dieselbe Person oftmals mehrere dieser Subjektpositionen ein, woraus eine spezifische Intensität des Erlebnisses entsteht. Wenn Darsteller*innen und Publikum einander kennen und die Darsteller*innen keine oder nur eine partielle Ausbildung besitzen und nicht durch eine berufliche Professionalität und geschulte Virtuosität bestechen, dann erzeugen sie eine eigene Art des Affiziert-Seins. Bei Aufführungen im Schulkontext setzt sich das Publikum zu einem Großteil aus Mitschüler*innen und Familienangehörigen zusammen, die Schüler*innen sind als Tänzer*innen an der Aufführung beteiligt und als Zuschauer*innen der Aufführungen anderer Schulklassen. Das Publikum von Tanzprojekten mit Erwachsenen besteht meist zu einem Großteil aus Gleichgesinnten, die entweder schon an vergleichbaren Aufführungen mitgewirkt haben oder daran interessiert sind. In allen Subjektpositionen suchen die Beteiligten nach einem Affiziert-Sein durch das Neue, Andere und Ungewohnte und finden dieses in ästhetischen Praxen, in denen sie sich temporär wie eine Künstler*in erleben können. Die Hervorhebung des Affektiven, der kreative Habitus als Orientierungspunkt eines individuellen Lebensprogramms und die Verwobenheit multipler Subjektpositionen können als Gründe für das steigende Interesse von Personen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Altersstufen an Tanz- und Choreografie-Projekten angesehen werden. Sie entsprechen einem zentralen Paradigma unserer »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992). Sie ermöglichen eine Erlebniskultur, die auf körperlichen Erfahrungen und dem Verlangen nach einem fortlaufenden Stimulus durch das ästhetisch Neue beruht, wie es Reckwitz beschrieben hat.
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V ERMITTLUNGSPRAKTIKEN IN KULTURELLEN K ONTEXTEN
KÜNSTLERISCH -
Die Forschung, auf die hier Bezug genommen wird, nimmt die Schnittmenge der bisher erörterten Bereiche in den Blick und vernetzt dafür die Disziplinen der Tanzwissenschaft, der Tanzpädagogik und der Tanzkunst. Sie bringt den erweiterten Choreografiebegriff in den Kontext der Tanzvermittlung und der Kulturellen Bildung ein und schließt eine Lücke der tanzpädagogischen Forschung, in der Choreografie bisher als Teil der Tanzkunst behandelt wird und die Ausdifferenzierung eines erweiterten Choreografiebegriffs noch nicht stattfand. Gleichzeitig ergänzt sie den tanzwissenschaftlichen Diskurs um den bisher wenig beachteten Aspekt der Choreografievermittlung. Von der Hypothese ausgehend, dass der choreografischen Praxis eine Vermittlungspraxis inhärent ist, werden im Folgenden Choreografie-Projekte aus der Perspektive ihrer Vermittlungsprozesse empirisch betrachtet. Im Rahmen meiner Dissertation habe ich zwei choreografische Projekte ethnographisch begleitet. Das Erste fand als Teil eines Tanzvermittlungsprogramms in der Kooperation zwischen einer Kunstinstitution und einer Schule mit einer Choreografin und zwölf Schüler*innen aus dem achten bis zehnten Jahrgang statt. Das Zweite bestand in einer außerschulischen, nicht institutionell gebundenen Produktion von einer Choreografin und dreißig Erwachsenen unterschiedlichen Alters. Um diese Projekte auf einer Mikroebene zu untersuchen, bildet eine praxeologische Tanzwissenschaft, die sich als Erfahrungswissenschaft versteht (Klein 2013), einen kohärenten Ansatz. Sie berücksichtigt die Gesamtheit des Interaktionsgefüges der Choreograf*innen, mitwirkenden Schüler*innen und Erwachsenen sowie Artefakte und nimmt das (Bewegungs-)Wissen aller Beteiligten ernst. In einer praxeologischen Perspektive kann die Vermittlungssituation zudem losgelöst vom Blickwinkel des Wissens- und Kompetenzerwerbs oder der Qualitätssicherung gelingender Bildungsprozesse und unabhängig von Erwartungshaltungen seitens des Bildungssystems untersucht werden. Zu diesem Zweck habe ich im Rahmen meiner Forschung im Anschluss an ethnomethodologische Forschungen eine videogestützte Ethnographie mit teilnehmender Beobachtung durchgeführt, die von Experteninterviews und Gruppendiskussionen ergänzt wurde. Auf dieser methodologischen Grundlage stellt der nächste Teil choreografische »Praktiken in ihrer Situiertheit, ihrer materialen Verankerung in Körpern und Artefakten sowie in ihrer Abhängigkeit von praktischem Können und implizitem Wissen in den Mittelpunkt« (Schmidt 2012: 24).
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Als Ergebnis der empirischen Untersuchung (siehe Abbildung 2) wurden folgende konstitutive Praktiken des Vermittelns herausgearbeitet: Abbildung 2: Praktiken des Vermittelns
Die Verbindung der Praktik Ausprobieren, bei der unter anderem Bewegungsaufgaben umgesetzt und Prinzipien für Interaktionen ermittelt werden, und dem Auswerten der Bewegungserfahrungen, Beobachtungen und Umsetzungsmöglichkeiten der Aufgaben, bildet darin das signifikanteste Strukturelement. Sie tritt in jedem Probentermin sowohl als zirkuläres Prinzip als auch simultan auf. An einer exemplarischen Probensituation soll anschaulich werden, wie bei Aneignungsprozessen einer vorgegebenen Bewegungsfolge während des Ausprobierens Auswertungen des Bewegungsgeschehens erzeugt werden. Es folgt ein Ausschnitt aus einem Feldprotokoll bei einem Probenaufenthalt in dem Projekt mit den Schüler*innen: »Anja,3 die Choreografin, bringt eine von ihr vorgegebene Bewegungsfolge in die heutige Probe ein, die eine Passage enthält, bei der man sich auf den Boden setzt und dreht. Die Mitwirkenden versuchen, diese Bewegung zeitgleich mit Anja auszuführen. Bei der Drehung sind einige unsicher, Nathalie hält inne und Nora meint: ›Ich weiß nicht, wie ich weiter komme‹. Anja antwortet ›ah okay, dann lass’ uns zusammen machen‹. Während sie das sagt, nimmt sie die Sitzhaltung erneut, aber langsamer als vorher ein. Dabei beschreibt sie, dass sie beide Beine beugt, vorsichtig ihren rechten Unterschenkel auf den Boden absetzt, sich auf ihre rechte Hand stützt und sich mit ihrer rechten Gesäßhälfte auf ihren rechten Unterschenkel setzt. Dann dreht sie sich auf ihrem Gesäß zur linken Seite hinüber. Nora kann dennoch nicht folgen. Anja wendet sich nun an die anderen, die den beiden zuschauen, und fragt: ›Sagt mal, wenn ihr so sitzt – sitzt ihr manchmal so?‹ Franziska meint ›Ja‹, aber Elisabeth ruft, sie könne so nicht sitzen, das tue ihr weh. Anja fragt weiter: ›Und wie sitzt ihr noch so?‹ Daraufhin nehmen Madeleine, Luzie und Nathalie Sitzhaltungen
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Die Namen der Beteiligten wurden anonymisiert.
236 | GITTA BARTHEL am Boden ein, die ihnen vertraut sind. Anja beobachtet sie, überlegt einen Moment und meint dann: ›Okay, von hier‹, sie setzt sich wieder auf ihre rechte Gesäßhälfte, ›nach hier‹, sie wechselt in Luzies Sitzhaltung, ›nach hier ist nicht so’n Problem, oder?‹ und dreht sich auf dem Gesäß genauso weiter, wie es in ihrer Bewegungsabfolge vorgesehen ist. Als sie Nathalie bittet, diese Version ebenfalls auszuprobieren und Nathalie das problemlos gelingt, wird für alle sichtbar, dass die Bewegung und die Sitzhaltung auch für sie nicht schwierig, sondern einfach ausführbar sind. Daraufhin probieren einige andere diese Version auch aus, was Luzie sofort gelingt, Nora kommt ins Stocken, schafft es dann aber doch.« (Feldprotokoll GB)
Als Analyseergebnis zeigt sich das simultane Zusammenwirken von Ausprobieren und Auswerten als situative Notwendigkeit dieser Vermittlungspraxis. Eine rein verbale Auswertung ohne das wechselseitige Beobachten und Durchführen der Bewegungen hätte für diesen Prozess nicht ausgereicht. Ausprobieren findet hier als Auswerten statt. Es entsteht der Bedarf, herauszufinden, wie es für die Gruppenmitglieder möglich wird, das von Anja vorgegebene Bewegungsmaterial auszuführen. In der Folge interessiert Anja sich für den inkorporierten Bewegungshabitus der Schüler*innen und verzahnt ihre Bewegungsfolge mit der Sitzhaltung von Luzie. Dabei wird für alle sichtbar, dass sich beide einfach miteinander verbinden lassen. Deutlich wird ebenfalls, dass Vermittlungspraxis von Personengruppen mit unterschiedlichen Erfahrungswerten im Kontext der Kulturellen Bildung Bestandteile beinhaltet, für deren Bewältigung noch keine routinisierten Verstehensmuster und keine »konventionalisierten Motiv/Emotions-Komplexe« (Reckwitz 2008: 122) existieren. Entweder passen die Beteiligten bereits bekannte Vermittlungsmethoden der situativen Notwendigkeit an oder sie erzeugen neue. Dabei verbinden sich explorative und reflexive Anteile, die auch das Risiko beinhalten, dass der Vermittlungsprozess misslingt. Nathalie und Anja präsentieren kein Positivbeispiel als Endergebnis. Sie machen ihren Ermittlungsprozess performativ nachvollziehbar und performen im Ausprobieren das potentielle Scheitern und Gelingen ihrer Praxis. Bei Aneignungsprozessen, in denen das »mimetische Vermögen« (Klinge 2004: 6) der Beteiligten gefragt ist, zeigt sich Vermitteln als multidirektionales und emergentes Geschehen in einem Geflecht der Praktiken Ausprobieren und Auswerten. Klinge differenziert »drei Herstellungspraxen und damit drei sich voneinander unterscheidende Qualitäten tänzerischer Mimesis« (ebd.: 7): eine imitierende, nachgestaltende Nachahmung, eine verändernde, umgestaltende Nachahmung und eine sich von der Vorlage entfernende Neugestaltung. In der beschriebenen Situation wird erkennbar, dass eine imitierende, nachgestaltende Nachahmung zum Übernehmen der Bewegung nicht aus-
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reicht, sondern eine Übersetzung als explorative Praktik notwendig ist. Das Verzahnen von vorgegebenem Bewegungsmaterial mit dem eigenen inkorporierten Bewegungshabitus ist nicht nur von den Schüler*innen gefordert, sondern auch von der Choreografin. Ein unidirektionaler Prozess des Wissenstransfers von der Choreografin an die Mitwirkenden reicht offensichtlich nicht aus. Erst als das implizite Bewegungswissen aus alltäglichen Zusammenhängen einfließt, erzeugen die Beteiligten ihre gelingende Vermittlungspraxis – und als gelungen wird aus praxeologischer Sicht angesehen, was beglaubigt wird. Wann und wie und unter welchen Bedingungen ein Vermittlungsprozess gelingt, wird somit feldintern in situ ausgehandelt und bedingt Prozesse des Ausprobierens und Auswertens. Anja praktiziert diese wiederholbare Bewegungsfolge, die später noch auf die Zählzeiten einer Musik festgelegt wird, aufgrund des Wunsches der Gruppe nach einem »Tanz zu Musik«. In der ersten Projektphase hatte Anja prozessorientierte und intermediale Arbeitsweisen in Form von Hör-, Sprech-, Schreibund Gestaltungsaufgaben in die Arbeit eingebracht, die einem erweiterten Choreografiebegriff aus dem Bühnentanz entsprechen. Diese werden aber von den Gruppenmitgliedern im Kontext der Kulturellen Bildung nicht mitgetragen und so passt Anja ihre Praxis den Bedürfnissen der Gruppe nach tänzerischen und produktorientierten Arbeitsweisen an. Die Schüler*innen generieren und komponieren ebenfalls eigenes Bewegungsmaterial. Anja legt nicht ihre künstlerischen Ansprüche an die Ästhetik des Endproduktes an, sondern folgt den Wünschen der Schüler*innen. In diesem Vorgehen sieht sie einen klaren Unterschied zwischen ihrer Arbeit mit Professionellen und Laien. Aus ihrer Perspektive als Vermittlerin im bildungskulturellen Kontext formuliert sie rückblickend das »Lostreten eines Prozesses« und »Zurücktreten aus dem Prozess«4 als wichtiges Thema. Einen positiven Output sieht Anja im »sozialen Lernen« durch gemeinsame Erfahrungen der Gruppenmitglieder und eine »Gruppenbildung. Und dass sie dann geschafft haben, auch was selbst in die Hand zu nehmen«. Elisabeth aus der Gruppe erzählt, am Anfang sei die Arbeit schwierig gewesen, »weil Anja immer Sachen mit uns gemacht hat, wo wir den Sinn dahinter nicht verstanden haben. Und dann ging das aber mit der Zeit. Dann ham’ wir uns ’n bisschen mehr drauf eingelassen und dann is’ das besser geworden.« Für Luzie »war Choreografie eigentlich immer so ’n Tanz. Also wie der Tanz abläuft und so
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Zitate von den Choreografinnen und Gruppenmitgliedern stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus Interviews und Gruppendiskussionen, die ich im Rahmen meiner Forschung durchgeführt habe.
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was. […] Und dann dacht’ ich, hä-? Ja is’ halt total anders als ich mir vorgestellt hab. War ich erstmal 'n bisschen verwirrt, dass des jetzt ’ne Choreografie is’.« Bruno meint: »Ich hatte auch ehrlich gesagt gar nich’ so ’n Plan von Choreografie, dass das ((em)) auch so viel mit ((em)) inneren Gedanken und so zu tun haben kann und so Das hab ich da halt jetzt gelernt und find ich auch echt interessant. Hab ich jetzt ’nen andern Bezug zu.« Nathalie ergänzt: »Wenn man die dann umsetzt, wird irgendwas draus.« Aus diesen Beschreibungen wird deutlich, dass das Verständnis der Schüler*innen von Choreografie dem ursprünglichen Zusammenspiel von festgelegten Schritten auf Musik entspricht, welches eingangs ausgeführt wurde. Anja stellt rückblickend zu ihren Erfahrungen eines erweiterten Choreografiebegriffs im Kontext der Kulturellen Bildung fest, dass die »Metaebene von Choreografie, also hinter die choreografische Praxis zu gucken« dem Alter der Schüler*innen der achten bis zehnten Klasse nicht entspricht. In den Äußerungen der Schüler*innen am Ende des Projektes sind jedoch erste Veränderungen in Bezug auf ihr Verständnis von Choreografie erkennbar.
AUSPROBIEREN UND A USWERTEN ALS ZENTRALES S TRUKTURELEMENT VON V ERMITTLUNGSPRAXIS Das Zusammenspiel von Ausprobieren und Auswerten ist auch als zirkuläres Prinzip zu beobachten: Auf Phasen des Ausprobierens folgen FeedbackGespräche. Dabei berichten die Anwesenden über ihre Erfahrungen, äußern Gefühle und Meinungen, beschreiben Bewegungsabläufe, diskutieren über Strategien, klären Aktionsspielräume und benennen, bestätigen oder modifizieren Errungenschaften. Sie geben einander Hinweise, setzen Prioritäten, werten Arbeitsweisen und Aufgabenumsetzungen aus, vergleichen verschiedene Varianten oder reflektieren ihre Vermittlungspraxis. Wie dies geschieht, soll eine exemplarische Probensituation aus dem Projekt mit den Erwachsenen veranschaulichen. Es folgt wieder ein Ausschnitt aus einem Feldprotokoll: »Gerade wurde eine Szene geprobt, die alle Traktor nennen. Beim Traktor befindet sich eine Person auf allen Vieren und bildet den sogenannten ›Motor‹, den mehrere andere Personen durch Ziehen an dessen Kleidung in Bewegung bringen. Als die Praxisphase beendet ist, richten sich alle auf, manche schütteln ihre Glieder aus, es ist Gelächter zu hören und die konzentrierte Arbeitssituation löst sich auf. Sofort beginnt ein verbaler Austausch über diese Phase innerhalb der Gruppe. Einige teilen sich ihre Befindlichkeiten mit, andere nehmen Wertungen vor. Birgit, die Choreografin, schaut aufmerksam um sich, ihr Blick
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verweilt mehrmals für einen Moment bei einer Person, sie hört dem Stimmengewirr zu und wartet ungefähr eine Minute lang ab, ohne etwas zu sagen. Mit einem ›Okay, es ist viel Feedback da, wir können uns ein bisschen austauschen‹ reagiert Birgit auf das Geschehen und fragt: ›Was wollt ihr in die Mitte bringen? Strategien, Feedback und so.‹ Nach und nach setzen sich die Anwesenden auf dem Boden dicht zusammen. Hubert, ein Gruppenmitglied: ›Man kann nicht nur auf den, den man zupft, achten, sondern man muss auf den Auslöser achten, weil sonst zupft man und zupft, hab ich gemerkt. Erst hab ich nur auf Kordula geachtet und das macht ja gar keinen Sinn, ich muss ja auch auf Edwin achten, um zu wissen, was passiert.‹ Birgit: ›Ja, das hat gut funktioniert, das, das war ganz toll bei der Gruppe‹. Lisa, ein Gruppenmitglied: ›Ist das eigentlich so, dass man die Bewegung verstärkt, dass die Bewegung da ist, man nimmt das auf, dass man sieht, es geht in die Richtung, und dann merkt man’s noch mehr?‹ Lisa probiert währenddessen selbst das Ziehen an ihrer eigenen Kleidung aus, indem sie mit ihren Fingerspitzen ihr Hosenbein am Knie nach oben und nach vorne lüpft. Nun fasst Birgit mit ihrer ganzen Hand an das Hosenbein von Lisa und probiert ebenfalls das Ziehen an Lisas Knie aus. Birgit: ›Ja, es geht schon in die Richtung und du siehst, dass es da weiter gehen kann, dann iss es-‹, Birgit zieht dabei so stark, dass Lisa sich aus dem Sitzen heraus nach vorne bewegt und sich auf ihre Hände stützt. Lisa: ›Hm, die zupfende Person hilft, dass es da weiter geht‹. Margot: ›Das hat auch ein Ziel dann‹.« (Feldprotokoll GB)
Die Analyse des Gesprächs macht deutlich, dass die Beteiligten ihre körperlichen Erfahrungen auswerten und ihre Erkenntnisse in mehreren Strategien formulieren, die dazu beitragen, die Praxis des Bewegungsthemas Traktor zu präzisieren. Das Auswerten ist durch ein Ausprobieren gekennzeichnet, um Erkenntnisse zum Verstehen der Funktionsweise eines Bewegungsthemas anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Dies geschieht durch haptisches und verbales Auswerten. Josephine beschreibt das Zusammenwirken der Praktiken Ausprobieren und Auswerten rückblickend in einer im Rahmen der Forschung durchgeführten Gruppendiskussion als gewinnbringend: »Das war eigentlich sehr lehrreich, ne. Weil es so diese Verknüpfung war zwischen dem, man hat was gemacht und dann hat man ’n Feedback gekriegt und hat das dann gleich umsetzen können. Das find’ ich immer ’ne ganz schöne Arbeit. Also es bringt mir immer sehr viel.« Im Vermittlungsgeschehen zeigt sich ein wiederkehrender Verstehensprozess: Auf die Beobachtung der choreografischen Praxis folgen feldintern erzeugte Hinweise für die Weiterentwicklung des Interaktionsgeschehens, die auspro-
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biert werden und feldinterne individuelle Bewegungs- und Interaktionserfahrungen bilden. Diese Erfahrungen führen zu Erkenntnissen, die im anschließenden Feedbackgespräch formuliert und reflektiert werden. Die Bewegungs- und Interaktionserfahrungen erzeugen gemeinsame Errungenschaften und erweitern das Bewegungs- und Interaktionsverständnis der Beteiligten. Die Analyse hat ergeben, dass gemeinsames Auswerten nach dem Ausprobieren potentiell die Teilhabe der Gruppenmitglieder an Reflexionsprozessen begünstigen kann. Ein Auswerten während des Ausprobieres im Rahmen des Feedbackgespräches war auch bei Lisa zu beobachten. Rückmeldungen während einer Praxisphase werden jedoch vornehmlich von den beiden Choreografinnen vorgenommen, worin sich ihr Alleinstellungsmerkmal in ihrer Funktion als Projektleitung zeigt. In der Vielfalt der Kombinationen des Praktiken-Geflechtes Ausprobieren und Auswerten können alle Beteiligten potentiell an der Vermittlungspraxis teilhaben, wie der Kommentar einer Mitwirkenden in einer Gruppendiskussion mit der Forscherin nach Beendigung des Projektes bestätigt. Kordula: »Birgit war selber auch noch in Prozessen. Also sie hat ja auch mit uns zusammen experimentiert. Also wir waren alle irgendwie dran beteiligt, und deswegen war’s vielleicht- ging das auch so gut mit Vertrauen und Mut. […] Also ich fand immer dieser ganze Raum, dann bist du dabei gewesen, so ’n Blick auch, was passiert, Prozesse, das heißt wir waren alle in so ’nem- in so ’nem Kosmos von ((em)) ausprobieren. So das war also dieser erste Prozess für mich. Ganz viel experimentieren, reflektieren, so, was is ’ geschehen, wie könnten wir’s noch verändern. Wir durften raustreten, durften uns das Bild ansehen, was gefällt uns, wie könnte es noch anders sein. Das haben wir dann auch immer wieder besprochen.« (Auszug Gruppendiskussion)
Auch Birgit wurde von mir zum Verhältnis ihrer Arbeitsweise mit der Gruppe von Erwachsenen, die aus heterogenen Vorkenntnissen und Altersstufen besteht, und professionellen Tänzer*innen befragt. Sie stellt fest, dass sich im Prinzip nicht grundsätzlich etwas verändere. Wenn, »dann würde ich noch differenzierter an den choreografischen Bildern arbeiten, dass die teilweise vom Vokabular noch differenzierter sind und weniger flächig« und »in der Formsprache teilweise mehr fordern«. Intensivierungen in Bezug auf Herausforderung im Energieeinsatz treibt sie mit der heterogenen Gruppe weniger voran. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Erwachsenen Birgits Arbeitsweise nicht in Frage stellen, für einige bildet sie die Motivation, an dem Projekt teilzunehmen. Birgits Erfahrungs- und Fachwissen bietet ihnen »Vertrauen und Sicherheit« als Basis für eine körperliche Erfahrung des Ästhetischen mit einem besonderen Af-
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fiziert-Sein in der Position der Künstler*in, wie es im Kreativitätsdispositiv beschrieben wurde. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Schüler*innen und Choreografinnen Veränderungsprozesse beschreiben, die bei künstlerischer Praxis im kulturellen Kontext notwendig werden. Diese beziehen sich auf die Komplexitätsgrade der Aufgaben, den inkorporierten Bewegungshabitus, Verstehensmuster, den körperlich-energetischen Einsatz, die ästhetische Formensprache, die Zusammenarbeit und das Verständnis von Choreografie. Sie alle bilden Bestandteile explorativer und reflexiver Praktiken.
C HOREOGRAFIEREN ALS K UNST - UND V ERMITTLUNGSPRAXIS Das Zusammenspiel von Ausprobieren und Auswerten wurde in den zwei Beispielsituationen als strukturbildendes Element beider Projekte anschaulich. Die Analysen explizieren ebenfalls, und dies ist entscheidend für den Argumentationsgang des Beitrags, eine Übereinstimmung der Vermittlungspraktiken Ausprobieren und Auswerten mit den künstlerischen Praktiken Explorieren/Improvisieren und Reflektieren: Ausprobieren als Vermittlungspraktik zeigt sich ebenso als Explorieren im Sinne einer prozessorientierten Suche und forschenden Haltung wie in der künstlerischen Praxis. Vermitteln zeigt sich ebenfalls als Kunst des Augenblicks: Die Schwierigkeit mit der Bodenbewegung tritt unerwartet auf und die Praktiken performatives Nachvollziehbarmachen und performatives Umdeuten werden situativ in einem multidirektionalen und emergenten Prozess erzeugt. Die Interaktion im Rahmen des Bewegungsthemas Traktor bedarf spontaner Entscheidungen jedes Einzelnen in Abstimmung mit den anderen. Vermitteln geschieht als Ermitteln. Auch das Auswerten als Vermittlungspraktik weist Entsprechungen zur künstlerischen Praktik des Reflektierens auf. Die Bewegungsmöglichkeiten der Beteiligten werden auf ihren Kontext bezogen und die Verschiedenartigkeit des inkorporierten Bewegungshabitus der Beteiligten wird berücksichtigt, die spontanen Entscheidungen jedes Einzelnen werden im Gesamtkontext reflektiert. Die Entsprechung von Kunst- und Vermittlungspraxis im Explorieren und Reflektieren bzw. Ausprobieren und Auswerten weist Vermittlungspraxis als immanenten Bestandteil choreografischer Praxis aus. Mit dem Titel »Choreografie vermitteln« wurde zu Beginn dieses Textes die Intention formuliert, Zusammenhänge zwischen choreografischer Praxis, Tanzkunst, Tanzvermittlung und dem Kreativitätsdispositiv herzustellen, um wissen-
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schaftlich aufarbeiten zu können, wie sich Choreografievermittlung vollzieht. Abschließend sollen die Ergebnisse der praxeologischen Untersuchung zusammengefasst werden: Choreografie wird als Kunst- und Vermittlungspraxis kenntlich. Dabei treffen die Praktiken eines erweiterten Choreografiebegriffs aus dem Bühnentanz im Kontext der Kulturellen Bildung zuerst auf Unverständnis. Die Schüler*innen formulieren vielmehr ein traditionelles Verständnis von Choreografie als tänzerischem Bewegungsvollzug auf Musik. Im Laufe der Zusammenarbeit mit der Choreografin entwickeln sich jedoch Veränderungen, die am Ende des Projektes dazu führen, dass Choreografie von einzelnen Mitwirkenden nicht nur auf tänzerische Bewegung, sondern auch auf Gedanken bezogen wird, was einem erweiterten Choreografiebegriff entspricht. Auch wenn der Tanz in unserem Jahrzehnt bereits in der Kulturellen Bildung verankert ist, so bedarf es für die Integration eines erweiterten Choreografiebegriffs in diesem Kontext noch weiterer Kunst- und Vermittlungspraxis. Choreografische Vermittlungspraxis im Rahmen der Tanzvermittlung wurde als multidirektionales Geschehen sichtbar. Dieses findet im zirkulären und simultanen Zusammenspiel von Ausprobieren und Auswerten statt. Beim Kombinieren und Gewichten dieser Praktiken zeigt sich Vermitteln »als über verschiedene körperliche und materielle Knotenpunkte verteilte Aktivität, Emergenz und Kräftezirkulation« (Schmidt 2012: 65). Darin wirkt das Erfahrungswissen aller Beteiligten zusammen, wie die Kommentare der Mitwirkenden sowie die Analysen der Vermittlungssituationen veranschaulichen, und erzeugt feldinternes und damit personen- und kontextgebundenes Erfahrungs- und Fachwissen. Erst eine multidirektionale, explorative und reflexive Vermittlungspraxis ermöglicht situationsadäquate Veränderungen in Bezug auf die Komplexitätsgrade der Aufgaben, den inkorporierten Bewegungshabitus, Verstehensmuster, den körperlich-energetischen Einsatz, die ästhetische Formensprache und das Verständnis von Choreografie. Eine solche Vermittlungspraxis setzt sich aus der Unterschiedlichkeit der Expertise aller Beteiligten zusammen und entsteht als selbstreferenzielle Erfahrungspraxis. Eine selbstreferenzielle Erfahrungspraxis wiederum stellt den Erlebnischarakter in den Vordergrund. Sie entsteht aus einer lustgesteuerten Motivation zur kreativen Teilhabe am Geschehen. Choreografie-Projekte bilden für die Mitwirkenden Gelegenheiten für körperliche Erfahrungen des Ästhetischen mit einem besonderen Affiziert-Sein in der Position als Künstler*in. Gleichzeitig fordert eine selbstreferenzielle Erfahrungspraxis aber auch eine kreative Beteiligung ein. Beides, der Kreativwunsch und -imperativ gehören zum Kreativitätsdispositiv, ebenso wie die Veränderungen des Choreografieverständnisses der Schüler*innen in ihrer dynamischen Selbsttransformation Aspekte des Kreativitätsdispositivs abbilden. Bei der Erörterung der steigenden Anerkennung von Tanzkunst in der Kulturel-
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len Bildung wurde anfangs auf die Vielfalt der Bedeutungsvarianten des Begriffs der Vermittlung hingewiesen. Die empirischen Befunde machen sichtbar, wie sich Vermitteln beim Verzahnen von vorgegebenem Bewegungsmaterial mit dem inkorporierten Bewegungshabitus in seiner etymologischen Bedeutung »des vereinigens, zusammenbringen, in berührung bringen« und »mittel zu etwas geben, verursachen« (Grimm 1956: 878) zeigt. Die Vermittlungsprozesse beim Verzahnen laufen aber nicht unidirektional als intentionale Weitergabe des Erfahrungs- und Fachwissens der Choreografin an die Mitwirkenden. Sie entstehen vielmehr in multidirektionalen und emergenten Prozessen, die von allen Beteiligten explorative und reflexive Praktiken erfordern. Vermittlung wird nicht vornehmlich als unidirektionale Weitergabe des Wissens »von Lehrpersonen an Lernende« (Howahl/Tiedt 2008: 304) praktiziert. Vielmehr erzeugen die Beteiligten mit ihren jeweiligen Erfahrungs- und Wissensbeständen die ihnen adäquate Vermittlungspraxis in ihren Interaktionen. Als Quintessenz lässt sich somit abschließend festhalten: Choreografievermittlung vollzieht sich als selbstreferenzielle Erfahrungspraxis im Zusammenspiel von explorativen und reflexiven Praxen in multidirektionalen Prozessen, die von den Beteiligten in situ erzeugt werden.
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Praktiken des Choreografierens, 2016 © Gitta Barthel Abb. 2: Praktiken des Vermittelns, 2016 © Gitta Barthel
Reflexion als Praxis. Das Beispiel einer künstlerischen Recherche zu Stadträumen H EIKE L ÜKEN »Research is a practice, writing is a practice, doing science is a practice, doing design is a practice, making art is a practice. The brain controls the hand which informs the brain.« (Frayling 1993: 4)
Christopher Frayling hat diese Setzung in seinem emblematisch für die Debatte um künstlerische Forschung gewordenen Aufsatz »Research in Art and Design« zu Beginn der 1990er Jahre vorgenommen und damit die Verschränkung von Theorie und Praxis in der Kunst zu fassen gesucht. Die Diskussion um die künstlerische Wissensproduktion oszilliert zwischen einer Abgrenzung von der wissenschaftlichen Forschung und einer Etablierung als genuin forschende Praxis. Beständig wird sie als das »Andere« angerufen: eine Wissensproduktion, die in der Lage ist, ein anderes Wissen als die anerkannte Forschung hervorzubringen (Caduff u.a. 2009; Panzer 2010) – und zwar durch ein sinnengeleitetes, praktisches Forschen.1 Ebenso wird sie im Sinne einer kooperierenden Transdisziplinarität als produktiv im »Zusammenspiel mit anderen, diskursiv operierenden Erkenntnisweisen« (Badura 2015: 48) gesehen (Tröndle 2012) oder übergreifend sowohl für Wissenschaft wie für Kunst auf die Notwendigkeit eines ästhetischen, multimedial ausgestalteten Denkens abgehoben (Mersch 2015). Die Diskurslinien zielen auf ein Theorie-Praxis-Verhältnis, das aus wissenschaftlicher Per-
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Deutlich wird an der Diskussion ein ihr zugrunde gelegter erweiterter Wissensbegriff, in dem Künste als Wissensproduzent Platz finden und sogar als Motor für gesellschaftliche Entwicklung angesehen werden (Panzer 2010: 184).
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spektive sowohl ein altes, wie auch ein hochkomplexes ist: Was passiert, wenn die Hand den Kopf informiert beziehungsweise wann informiert die Hand den Kopf? Wann wird »nur« getan, wann gedacht – und wie wird das Tun durch zum Beispiel Reflexion geändert oder vice versa? Und wie kommt man diesem Verhältnis auf die Spur? Der Beitrag untersucht das Verhältnis von Praxis und Reflexion am Beispiel einer künstlerischen Recherche zu Stadträumen. Die empirische Grundlage des Beitrags bildet die Auswertung empirischen Materials, das im Rahmen meiner Dissertation bei einer mehrtätigen Feldforschung, bei der ich den Künstler Boris Sieverts2 und seine Recherchen für ein Projekt begleitete, erhoben wurde. Die zugrundeliegende These lautet, dass in Situationen des Beschreibens der eigenen Arbeit oder mit Blick auf die spätere Rezeption durch Dritte geänderte Perspektiven eingenommen werden und dieser Perspektivwechsel eine Irritation darstellt, die zu einer Veränderung der Praxis führt. Irritation wird als systematisch für die künstlerische Praxis pointiert. Die praxeologische Perspektive auf die Routine der künstlerischen Recherchepraktiken vermag Aspekte der Reflexion allerdings nur schwer zu fassen, daher werden in die praxistheoretische Diskussion (Schäfer 2012; Volbers 2015) derzeit philosophische Ansätze des USamerikanischen Pragmatismus einbezogen, die dieses Verhältnis beleuchten. Beide Theoriekomplexe eint die Absage an ein intellektualistisches Denkmodell. Während pragmatistische Konzepte vor allem Lösungsansätze von Handlungsproblemen in den Blick nehmen, fokussieren praxeologische Ansätze den Vollzug, das Doing (Sacks 1985). Das Problem der Reflexion von Praxis wird in letzteren zumeist (noch) vernachlässigt, da es eine subjekttheoretische Setzung impliziert, die das praxeologische Programm (zunächst) nicht berücksichtigen will. Aktuelle Arbeiten (Alkemeyer u.a. 2015; Schäfer 2012, Keller/Meuser 2011) greifen diesen Aspekt jedoch auf und denken über die Vereinbarkeit von Reflexion mit praxistheoretischen Ansätzen nach. Der Beitrag folgt diesem Inte-
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Boris Sieverts hat freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Er hat in Architekturbüros in Köln und Bonn, aber auch als Schäfer im französischen Zentralmassiv gearbeitet und 1997 das Büro für Städtereisen gegründet. Das Büro erforscht sogenannte »Randgebiete« von Städten oder städtischen Regionen und bietet Reisen in diese oftmals in der Stadtwahrnehmung vernachlässigten oder ausgeblendeten Orte an und verbindet sie miteinander. www.neueraeume.de (Zugriff 24.08.2016). Sieverts hat in den vergangenen Jahren diverse stadtplanerische Projekte und städtebaulichen Maßnahmen künstlerisch beraten und ist als Dozent an Hochschulen tätig.
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resse und nutzt John Deweys pragmatistischen Ansatz, um künstlerische Recherche-Praktiken und ihre reflexiven Momente zu beleuchten. Diese Diskussion soll skizzenhaft eingeführt und im Anschluss daran die pragmatistische Perspektive auf Wissensproduktion aufgezeigt werden. Daraufhin wird das empirische Material über künstlerische Wissensproduktion vorgestellt. Dessen Analyse veranschaulicht die Nutzbarkeit der Verschränkung dieser beiden Theorieangebote. Abschließend wird ein kurzer Blick auf die Spezifik künstlerischer Wissensproduktion geworfen und im Fazit die Verschränkung von pragmatistischen und praxeologischen Ansätzen für die Theoriebildung goutiert.
P RAXISTHEORIEN
UND
R EFLEXION
Praxistheoretische Ansätze eint eine Abkehr von mentalistischen und textualistischen Ansätzen (Reckwitz 2003: 284); sie betonen, dass kognitivistische Handlungstheorien zu kurz greifen. Basierend auf Überlegungen, dass nicht alles Tun einer Intention folgt und wir nicht alles, was wir wissen beziehungsweise können auch explizieren können, rücken Praxistheorien jene »Verhaltensakte in den Vordergrund, die auf routinisiertem, implizitem, nicht reflektiertem und kollektiv geteiltem Wissen beruhen« (Elias u.a. 2014: 9). Doch Praktiken bewegen sich stets »im Spannungsfeld zweier grundsätzlicher Strukturmerkmale: der Routinisiertheit einerseits, der Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten andererseits« (Reckwitz 2003: 294). Die Möglichkeiten von Wiederholung und Misslingen sind als die zwei Seiten (ebd.) der »Logik der Praxis« (Bourdieu 1987: 147ff.) ausgemacht worden. Dennoch verbleiben praxistheoretische Ansätze oftmals bei einem Fokus auf die Routine und deren repetitiven Mustern (Reckwitz 2003: 294) ohne beispielsweise Veränderungsleistungen aufgrund eines Misslingens in den Blick zu nehmen. Praxistheorien sehen im Doing eine eigene Kraft und betonen in dieser Sichtweise die Vollzüge, konzipieren also auch Denkakte als Praxis. Die Momente der Irritation und der Reflexion oder der kreativen Handlungsanpassungen an Situationen (wie sie in Pierre Bourdieus Konzept des Habitus angelegt sind (Schäfer 2012: 24), ebenso wie die aus der Reflexion resultierenden Wissensobjekte, wurden in ihrem Bezug aufeinander bisher wenig beleuchtet. Besteht das methodologische und theoretische Surplus der Praxistheorien gerade in einer Betrachtung der Performativität des Tuns und seiner Materialität und damit in einer Zurückweisung von Rationalismen und Intellektualismen, wird damit zugleich ein Körper-Geist-Dualismus produziert. Denn: Wird der Körper als Vollzugsorgan der Praktiken ausschließlich als Objekt betrachtet, erfolgt eine einseitige
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Aufmerksamkeit auf das Gelingen. Körper werden auf ein Funktionieren als skilled bodies reduziert und Momente der Affizierbarkeit, von Reflexion, Eigensinn, Kritik und Transformation, außen vor gelassen. In der deutschsprachigen wie in der internationalen Diskussion praxistheoretischer Ansätze stellt Reflexion somit eher ein Reizwort dar (Alkemeyer u.a. 2015: 12). Diese Leerstelle suchen aktuelle Veröffentlichungen (Alkemeyer u.a. 2015; Schäfer 2013; Hörning 2004) auszuleuchten. Sie diskutieren, wie die »klassische Konzeption der Rationalität und der theoretischen Reflexivität im Rahmen des eigenen Paradigmas produktiv neu verstanden werden kann« (Alkemeyer u.a. 2015: 11). Denn Praxis ist mehr als Routine, beinhaltet sie doch auch Störung, Kontingenz, Irritation, Reflexion und damit Veränderung. Was aber passiert, wenn eine Routine durchbrochen wird, zum Stoppen kommt, zum Erliegen gebracht wird oder auch nur kurzzeitig ins Trudeln gerät? Wenn beispielsweise eine Körpertechnik wie das Fahrrad fahren durch die Nutzung eines Fahrrads anderen Typs, zum Beispiel Rennrad statt Hollandrad, nicht mehr mit der gewohnten Sitz- und Bewegungsroutine in Einklang gebracht werden kann? Wenn etwas routiniert Gekonntes nicht mehr funktioniert oder behindert wird, setzt ein Nachdenken über das eigene Tun ein. Am Beispiel des Rennrades könnte dies sein zu realisieren, dass durch die Schwerpunkt- und Gewichtsverlagerung ein geändertes Lenken nötig wird. Diese Veränderung geschieht entweder zugleich – während des Fahrens – oder das Doing wird gestoppt, reflektiert und dann gegebenenfalls verändert fortgesetzt. In derartigen Momenten tritt der Körper in Distanz zum eigenen Tun und beleuchtet seine bisherige Routine. Diese Distanz ermöglicht eine Autonomie und die Möglichkeit zur Übernahme einer alternativen Perspektive (ebd.: 45). Die geänderte Perspektive wird, so die These dieses Beitrages, in der künstlerischen Praxis in Situationen des Beschreibens der eigenen Arbeit eingenommen: Das eigene Tun wird gestoppt, Wahrnehmungen expliziert oder eine andere Perspektive – nämlich die einer dritten Person – eingenommen und das eigene Tun darauf ausgerichtet. Anschlussfähig für die praxistheoretische Auseinandersetzung mit reflexiven Momenten des Tuns und einer damit einhergehenden Transformation der Wissensbestände (implizit zu explizit sowie gegebenenfalls vice versa) erscheinen pragmatistische Ansätze. Schon 2003 erklärte Andreas Reckwitz einen Vergleich pragmatistischer und praxeologischer Ansätze für lohnenswert (Reckwitz 2003: 283), 2004 hat Karl Hörning deutlich eine »pragmatische Fundierung des Praxisbegriffs« (Hörning 2004: 29) gefordert. Die aktuelle Diskussion (Schäfer 2012; Volbers 2015; Alkemeyer u.a. 2015) greift diese nun auf und injiziert Aspekte von Reflexion, Kritik und Transformation in die praxeologische Theoriebildung.
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Dem Grundgedanken des klassischen, US-amerikanischen Pragmatismus folgend, entstehen Erkenntnisse im Laufe kreativer Problemlösungen. Im Hinblick auf das hier genutzte empirische Material sind insbesondere die Schriften Deweys (1951, 2004), der sich explizit auch mit künstlerischer Praxis auseinandergesetzt hat (1980), geeignet. Deweys Ansatz soll nun vorgestellt und anschließend auf Praktiken künstlerischer Wissensproduktion bezogen werden.
P RAGMATISMUS
UND
W ISSENSPRODUKTION
Der klassische Pragmatismus fokussiert auf kreatives Handeln, »denn die Hauptaussage pragmatistischen Denkens ist, dass sich Bewusstsein, Erkenntnisse und Bedeutungen im Verlauf der kreativen Lösung von Handlungsproblemen entwickeln« (Schubert 2009: 345). Damit vertreten die Pragmatisten einen handlungsbasierten Wissensbegriff, demzufolge Wissen in Problemsituationen generiert wird. Diese Position findet sich am prägnantesten in den Schriften Deweys. Deweys zyklischem Modell des Handelns zufolge (Dewey 1938; 1951) werden gewohnheitsmäßig ablaufende, unhinterfragte Routinen irritiert und eine Lösung für deren Störung gefunden. Oder anders ausgedrückt: Nicht-reflexive Abläufe werden irritiert, reflektiert und verändert fortgesetzt. Reflexive Momente stellen somit Antworten auf ambivalente Situationen dar, die Routinen unterbrechen und kreative Anpassungspotentiale schaffen. Durch die Reflexion werden Handlungsoptionen geschaffen und das Handeln neu ausgerichtet. Handlungen werden im Spannungsfeld von »unreflektierten Handlungsgewohnheiten und kreativen Leistungen gesehen« (Joas 1996: 190). Dem Tun geht nicht immer ein Denkakt, eine Willensbildung oder eine bestimmte Zweckverfolgung voraus, sondern die Umsetzung erfolgt jeweils situationsadäquat. Hier beinhaltet »können«: etwas routiniert können, aber auch die »Fähigkeit, in Auseinandersetzung mit den Personen und Gegenständen der Handlungswelt kreativ mit den Gegebenheiten umzugehen und diese reflexiv zu bedenken« (Hörning 2004: 29). Dewey bezeichnet solche Situationen als Handlungssituationen (Dewey 1998: 223), in denen wir mit komplexen Strukturen konfrontiert sind, die Reaktionen erfordern und schließlich zu Veränderungen führen. Situationen versteht er als eigenständige Mitwirkende, die das Handeln der AkteurInnen auf der Basis ihrer jeweiligen Fertigkeiten provozieren. Handeln erscheint in pragmatistischer Perspektive als ein Antworten auf fragenaufwerfende Situationen, die nur auf der Basis des für die Antwort benötigten Vorwissens absolviert werden können. Intention und Zwecksetzung einer Handlung werden als ihr Bestandteil verstanden und nicht als ein ihnen vorgeschalteter mentaler beziehungsweise kognitiver
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»Akt des Wissens und Abwägens« (Hörning 2004: 31). Handlungssituationen provozieren somit Reflexion. Sowohl das Denken wie die situationsadäquate Handlungsänderung werden zu einem Handlungsbestandteil. Dewey hat diesen Zyklus kreativer Handlungsanpassung in Wie wir denken (How we think (1910)) als »Analyse eines vollständigen Denkaktes« (Dewey 1951: 71–82) und später in Logic. The Theory of Inquiry als »Pattern of inquiry« (Dewey 1938: 101ff.) beschrieben. In Wie wir denken (1951) trennt Dewey zwischen Denken und unmittelbarer Wahrnehmung und verweist darauf, dass Denken ein Prozess ist, der von seiner Dauer bestimmt wird: »Reflektierendes Denken besteht in einem regen, andauernden, sorgfältigen Prüfen von etwas, das für wahr gehalten wird, und zwar im Lichte der Gründe, auf die sich die Ansicht stützt, und der weiteren Schlüsse, denen sie zustrebt.« (Dewey 1951: 6) Dieser Prozess kann von Wahrnehmungen ausgelöst werden. Dewey nennt hierfür das Beispiel eines Spaziergängers, der Regenwolken bemerkt und daraufhin den Heimweg antritt; ob der naheliegenden Vermutung, es könne bald regnen: »Was an dieser Situation könnte denken genannt werden? Weder der Akt des Gehens noch das Gewahrwerden der Abkühlung stellen einen ›Denkakt‹ dar. Das Gehen in einer Richtung ist eine Tätigkeit. Die Wahrscheinlichkeit des nahenden Regens ist jedoch etwas, das hervorgerufen wurde. Der Wanderer fühlt die Kühle, er denkt an Wolken und an den kommenden Regen.« (ebd.: 7)
Das Gehen wird irritiert, denn die wahrgenommene Wolke und die vermutete Unannehmlichkeit, nass zu werden, stellen ein Problem dar. Der Akt der Prüfung der Relation der Wahrnehmung mit Gedankeninhalten oder Kenntnissen (ebd.: 8) verändert entsprechend die Praxis. Dewey betont weiter, dass jedem Reflexionsprozess ein Zögern und Zweifeln inne liegt und dieser ein Forschen oder Suchen provoziert: »Schwierigkeiten und Hindernisse auf dem Weg, etwas für wahr zu halten, veranlassen uns anzuhalten.« (Ebd.: 11) In diesem Beispiel stellt somit das Wenden des Kopfes gen Himmel und das Entdecken der Regenwolken einen Akt des Sehens sowie einen Akt des Suchens oder Forschens dar, der die Routine des Gehens unterbricht und verändert. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass Dewey keine Trennung zwischen Bewusstsein und körperlicher Handlungsfähigkeit macht: Auf die sinnliche Wahrnehmung folgt eine bewusste NeuOrientierung der Handlungsausrichtung. Das Denken beginnt also mit einer Beunruhigung oder einem Zweifel, es hat einen bestimmten Auslöser. Den Reflexionsprozess dominiert das Ziel, die Be-
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unruhigung beziehungsweise das Problem zu beenden. Ohne ein solches Problem fließen unsere Gedanken dahin. Wenn aber das Denken ein Ziel hat oder eine bestimmte Frage beantworten soll, werden die Gedanken in Bahnen gelenkt: »Das Problem setzt den Gedanken ein Ziel, und das Ziel regelt den Denkprozeß.« (Ebd.: 12) Gedanken basieren wiederum auf zuvor erworbenem Wissen, das für die Lösung des akuten Problems nutzbar ist. Ist das nicht der Fall, ist das Wissen also nicht nutzbar und relevant, bleibt die Verwirrung bestehen. Anders ausgedrückt: Der Prozess des reflektierenden Denkens umfasst das Ordnen der Dinge sowie die Fähigkeit, diese zueinander in Relation zu setzen (ebd.: 41f.). Für diesen Prozess ist Erfahrung wesentlich; fehlt diese, bleibt die beunruhigende Situation und der Zweifel bestehen. Erfahrung ist Dewey zufolge wichtig für das Denken, denn sie ermöglicht die Ordnung und das In-Bezug-Setzen der Denkinhalte. Die Prägung des Denkens wird durch regelmäßige Tätigkeiten, die zum Beispiel im Beruf vollzogen werden, verstärkt (ebd.: 43). Wie wir wahrnehmen, denken und handeln ist somit von unseren Routinen abhängig und erfährt eine ständige Prägung durch sie. Dewey betont in seinem späteren Werk Die menschliche Natur: ihr Wesen und ihr Verhalten (2004) aber die Veränderbarkeit von Gewohnheiten durch Reflexion (Dewey 2004: 17–47) und entwickelt ein dynamischeres Verständnis von Routinen: Kommt es zu Störungen, setzt ein jeweils situationsangemessenes Denken ein, der/die AkteurIn kann dann auf eine »Pluralität von Gewohnheiten« (Schäfer 2012: 31) zurückgreifen. Obwohl also unser tägliches Tun unsere Denk- und Wahrnehmungsweisen prägt, sind diese keinesfalls statisch, sondern – angeregt durch Störungen – variabel. Damit hat Dewey sowohl die Prägung des Wahrnehmens und Denkens durch routinisierte Vollzüge wie auch deren Veränderbarkeit provoziert durch Störungen und die Möglichkeit der flexiblen Reaktion darauf beschrieben.
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E THNOGRAPHIE KÜNSTLERISCHER W ISSENSPRODUKTION ÜBER S TADTRÄUME Die Grundlage der hier dargelegten Analyse bildet die Auswertung empirischen Materials, das im Rahmen meiner Dissertation3 bei einer mehrtätigen Feldforschung erhoben wurde. Im August 2012 begleitete ich den Künstler Boris Sieverts bei einer Recherche für ein Projekt nach Dinslaken. Ich folgte Sieverts bei seinen Recherchen zu Fuß, auf dem Fahrrad, machte Fotos und Videos und fertigte Feldnotizen an, die ich im direkten Anschluss an die Feldaufenthalte zu Feldprotokollen erweiterte. Ich dokumentierte folglich die Recherche-Praxis und beobachtete teilnehmend, wie Sieverts recherchiert, sucht, erkundet, fotografiert, Kenntnis von etwas nimmt, sieht und fotografierte und filmte dies, verschriftlichte meine Beobachtungen und explizierte später mit technischer Unterstützung des Computerprogramms Atlas.ti die Praktiken der Wissensproduktion, die ich in den transkribierten Feldnotizen, Bildbeschreibungen, Videos und Interviews vorfand. Das Doing der künstlerischen Wissensproduktion umfasst Praktiken wie etwa in Bewegung wahrnehmen, im Gespräch erfahren, im Gehen Kenntnis erlangen, durch inkorporierte Methoden zu Erkenntnissen gelangen und diese durch zeitlichen Aufenthalt vor Ort gerinnen lassen. Wie unten gezeigt wird, nutzt Sieverts meine Anwesenheit bei seiner Recherche als Reflexionsanlass, indem er mir gegenüber seine Wahrnehmungen expliziert und diese Ausführungen zum Teil korrigiert (siehe unten). Die Generierung des empirischen Materials über Sieverts’ Rechercheprozess erfolgt über ein schriftbasiertes, nachträgliches, reflektierendes Entdecken
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In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich Praktiken künstlerischer Wissensproduktion und vergleiche dazu die Recherchepraxis zweier Künstler mit der eines Architekturbüros. Dabei interessiert die Frage, wie KünstlerInnen ihr Wissen über Stadt generieren, wie sie also wissen, was sie wissen (Knorr Cetina 2002: 11). Es handelt sich um eine laufende Forschung, die noch nicht abgeschlossen ist. Deswegen wird in diesem Beitrag auf einige Aspekte vorgegriffen. Das Adjektiv künstlerisch soll hier zunächst auf die Tatsache verweisen, dass das empirische Material auf der Basis teilnehmender Beobachtung von Personen erworben wurde, die Kunst professionell betreiben. Die Professionalisierung basiert auf einer spezifischen Ausbildung und einer spezifischen Berufspraxis. Das Doing der Wissensproduktion bzw. der Erwerb der spezifischen Teilinhalte des Wissensvorrats (Schütz/Luckmann 1979) dieser Berufsgruppe markieren das diesem Artikel und meinem Dissertationsprojekt zugrundeliegende Forschungsinteresse.
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(Hirschauer 2010: 212), in das Impressionen in situ und in actu einfließen und das im Anschluss an den Feldaufenthalt durch wissenschaftliches Wissen kontextualisiert wird.4 Insofern ist hier das wissenschaftliche Interesse an Praktiken künstlerischer Wissensproduktion von einem ethnomethodologischen Zugang geprägt: Die in der Praxis der Wissensproduktion inkludierte Logik ist für die wissenschaftliche Betrachtung wichtiger als übergeordnete Theorien, die ihr vorangestellt werden (Bourdieu 2001; Hirschauer 2010). Bei meiner Ethnographie künstlerischer Wissensproduktion liegt der Fokus auf dem Prozess der Recherche, weniger auf dem Ergebnis, also deren Produkt, nämlich dem Vorschlag für ein Kunstprojekt. Panzer (2010: 187) beschreibt den Prozess der Wissensproduktion in der Kunst als vierstufig und macht Imagination (Schöpfung), Inkorporation (Verkörperung im Werk), Präsentation/Rezeption und Veräußerung/Verkauf als ihre Bestandteile aus. In allen Phasen wird Wissen produziert. Ich konzentriere mich auf die Beschreibung der Recherchepraxis als Teil der Imagination, die wiederum nur ein Element der gesamten Praktiken der Wissensproduktion markieren. Ich lasse daher eine Diskussion des Projektvorschlags und des Auftragskontextes zunächst außer Acht. Der Kurator Markus Ambach hatte Sieverts sowie elf weitere KünstlerInnen beziehungsweise Künstlergruppen aus dem Bereich Bildender Kunst eingeladen am Projekt Choreographie einer Landschaft teilzunehmen und skulpturale Arbeiten für das Gebiet der ehemaligen Zeche in Dinslaken-Lohberg oder partizipative Angebote für die AnwohnerInnen zu entwickeln. Das Projekt hat zum Ziel, das Gebiet der stillgelegten Zeche mit der bestehenden sowie der neu zu erschaffenden Wohn- und Geschäftsbebauung zu verbinden.5 Zu Fuß und auf dem Fahrrad hat Sieverts die Zeche und ihre Umgebung an insgesamt acht Tagen erkundet. Sieverts folgt im Verlauf des Rechercheprozesses einer induktiven Forschungslogik, nach der er zunächst zirkulär den eigentlichen Ort des Interesses (die Zeche) umkreist und diese erst am letzten Tag aufsucht. Sieverts umfährt die Zeche selbst zunächst im großen Bogen und lernt damit deren Umgebung eben-
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Insbesondere die sozialtheoretische Analyse künstlerisch-kreativer Praktiken gewinnt in der programmatischen Diskussion um Kreativität und künstlerische Forschung in den vergangenen Jahren an Bedeutung (Reckwitz 2012; Krämer 2014; Schürkmann 2015), wenngleich die empirische Betrachtung der Praxis künstlerischer Wissensproduktion noch immer ein Desiderat darstellt.
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Ambach, Markus (2011). Choreografie einer Landschaft. Konzept. www.choreografie einerlandschaft.de/Konzept.html (Zugriff 20.03.2016).
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falls gut kennen. Auffallend an Sieverts Recherche ist weiterhin, dass er, anstatt Gegebenheiten vor Ort nur zur Kenntnis zu nehmen, jede Möglichkeit nutzt, sie genauer und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten: Er klettert auf Dachgärten anstatt nur zu bemerken, dass es welche gibt. Er fährt in Toreinfahrten hinein und nimmt die Nutzung der Hinterhöfe von verschiedenen Standpunkten aus in Augenschein. Er besteigt Jagdstände und sieht von dort in alle Himmelsrichtungen. Er folgt den Trampelpfaden, die die AnwohnerInnen in dem an die Zeche grenzenden Wald oder die BewohnerInnen der Lohberger Gartenstadt in den Hinterhofgärten auf den Grünstreifen als Abkürzungen zwischen den angelegten Wegen hinterlassen. Ich beschreibe diese wiederkehrenden RecherchePraktiken als Praktiken des Dahinter-Sehens und Praktiken des Ver-Folgens. Sie markieren – neben weiteren – eine Recherchepraxis, die bestrebt ist, einem Ort und seiner »Eigenlogik« (Berking/Löw 2008) mit Hilfe der Instrumentalisierung sinnlicher Wahrnehmung und idiosynkratischen Methoden auf die Spur zu kommen. Während der tagelangen Recherche nimmt er sich die Zeit, verschiedenste Dinge wahrzunehmen und ein Potpourri von Eindrücken entstehen zu lassen, das mit dem eigentlichen Ziel beziehungsweise Ort der Recherche – einen skulpturalen oder partizipativen Vorschlag für die ehemalige Zeche zu erarbeiten – zunächst wenig zu tun hat. Diese zeit- und bewegungs-intensive Sammlung von Wahrnehmungen und Eindrücken vor Ort, die den Modus der Suchbewegung lange offenzuhalten sucht, ist struktureller Bestandteil seiner Recherche und markiert – so lässt sich aus einem ersten Vergleich mit dem Rechercheprozess in einem Architekturbüro erkennen – ein Spezifikum der künstlerischen Recherche.
D IE REFLEXIVE P RAXIS W ISSENSPRODUKTION
KÜNSTLERISCHER
Im empirischen Material finden sich zahlreiche Beschreibungen, wie Sieverts mir als teilnehmende Beobachterin immer wieder »ungefragt« Auskunft darüber gibt, warum er gerade etwas fotografiert, was er daran bemerkenswert findet oder welche Nutzung er vermutet. Sieverts ist die Begleitung seiner Recherchen gewohnt. Er ist in dieser Hinsicht als routiniert zu beschreiben, da er bereits zahlreiche Projekte gemeinsam mit anderen KünstlerInnen durchgeführt hat und somit kollaborative Phasen der Recherche kennt. Zudem hat ihn 2010 ein Filmteam bei einer Recherche in Polen begleitet; aus dem Material ist eine Dokumentation seiner Methode entstanden (Büchner 2010). Die Anwesenheit von TeilnehmerInnen an seinen Recherchen ist er gewohnt; im Folgenden soll ge-
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zeigt werden, dass und wie er diese auch für die eigene Wissensproduktion beziehungsweise Reflexion nutzt. Die Auswertung hat zu mehr als vierzig Codierungen unter dem Stichpunkt »kommentiert, was er sieht« geführt, wie zum Beispiel: • Sieverts gibt an, dass ihm die abblätternde Farbe der Tür in Zusammenhang
mit der Wandfarbe der Garage und die Eigentümlichkeit der Tür gefallen. • In der angrenzenden Wohnsiedlung verweist Sieverts darauf, hier ein typisches Ruhrgebietsmotiv gefunden zu haben, was er mehrfach fotografiert und zu erklären sucht, was für ihn daran so typisch ist: Die Zusammenstellung von Einfamilien- oder Mehrfamilienhausbebauung, darüber ein Strommast, ein heller, blauer Himmel, spezifisches Licht. Diese exemplarisch ausgewählten Stellen meiner Feldprotokolle zeigen, dass Sieverts während der Vor-Ort Recherche seine Wahrnehmungen verbalisiert. Im Gespräch mit mir während meiner Feldforschung gibt er an, dass er im Kunststudium gelernt habe, zu sehen und zu beschreiben. Über das Beschreiben und Vergleichen seien ihm dann wieder neue Erkenntnisse und Fragen gekommen. Sieverts nutzt somit während der Recherche die Möglichkeit, das sinnlich Wahrgenommene in laut formulierte Sprache zu übersetzen, seine Wahrnehmungsroutine zu unterbrechen und neue Relationen herzustellen. Auch dieser Transformationsprozess dient der Wissensproduktion: Die Praktik des Beschreibens überprüft und präzisiert das Wahrgenommene wiederum und stabilisiert oder hinterfragt erste Erkenntnisse. Dewey weist diesbezüglich auf die Bedeutung der Sprechens für das In-Beziehung-Setzen von Wahrnehmungen und damit für das logische Schlussfolgern hin: »Worte sind nicht nur Namen oder Titel oder Einzelbedeutungen, sie bilden auch Sätze, in denen die Bedeutungen geordnet und zueinander in Beziehung gebracht werden« (Dewey 1951: 187). Diese Explikation des Wahrgenommenen stellt darüberhinaus eine Distanzierung zur eigenen Wahrnehmungspraxis dar und eröffnet die Möglichkeit zur Überprüfung und Kontextualisierung. In Sieverts’ Reflexion derartiger Interview-Situationen zeigt sich, dass sich das praktische Wissen oder Können sowohl im Doing als auch »im darauf bezogenen Sprechen – im Gewahrwerden, im Vermuten, im Erklären, im Schlussfolgern, im Rechtfertigen, im Kritisieren« (Hörning 2004: 37) zeigt. Das Spezifikum der künstlerischen Arbeitsweise besteht weniger in der Explikation der Wahrnehmungen, denn diese ist auch für andere Berufsgruppen essentiell. Sie besteht in der methodischen Struktur der Irritation: Durch die Explikation soll die eigene Wahrnehmung hinterfragt und irritiert werden. Passen
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Ausdruck und Gegenstand zueinander? Stimmen die gewählten Worte mit den sich damit ergebenden Sinnfeldern (Gabriel 2013) überein? Über die Praxis des Explizierens wird diese Übereinstimmung getestet und gegebenenfalls variiert. Dies verdeutlicht der sich an oben genanntem Beispiel aus dem Feldtagebuch anschließende Eintrag: • Sieverts fährt weiter in das angrenzende Industriegebiet und findet hier wieder
ein typisches Ruhrgebietsmotiv: hinter dem Parkplatz eines Netto-Supermarktes stehen Mehrfamilienhäuser, wieder ein Strommast, dahinter ein alter Industrie-Schornstein. Insbesondere aber eine eher zierliche Fichte mache das Typische in diesem Bild aus, so Sieverts. Er korrigiert sich und meint, er wüsste gerne genau, was das Typische ist, weiß es aber nicht wirklich. Es ist davon auszugehen, dass Sieverts und seine langjährige Seh-Erfahrung im Ruhrgebiet ihm bereits unzählige dieser Motive vor die Augen beziehungsweise vor das Kamera-Objektiv geführt hat. Erst der Explikationsversuch lässt ihm deutlich werden, dass seine Beschreibung und die damit evozierten Sinnfelder nicht zusammen passen; dass die Wahrnehmungsroutine an dieser Stelle irritiert ist und vertieft werden muss. Eine andere Form der Distanzierung beschreibt Sieverts mit Blick auf die Rezeption: Bei der Ausarbeitung seiner sogenannten Stadtreisen erkundet er ein Gebiet intensiv und im Hinblick darauf, wie er es späteren Tourengästen zugänglich und erfahrbar machen will. Er nimmt also schon während der Ausarbeitung der Stadtreise Distanz zu seiner eigenen Wahrnehmung ein und befragt sie daraufhin, wie seine Tourengäste seiner Perspektive folgen können. Im Interview beschreibt Sieverts, dass er bei der Vorbereitung einer seiner Stadtreisen auf die Idee kam einen Baumarkt von der Kasse aus zu durchqueren und über den rückwärtigen Notausgang zu verlassen, um einer gedachten Luftlinie vom Parkplatz zum dahinterliegenden Baggersee zu folgen. Diese der Nutzung eines Baumarktes entgegengesetzte Laufrichtung ist mit dem Baumarktpersonal vor der Tour zu vereinbaren. Sieverts dazu im Interview: »[…] dann muss ich den Leuten ja erklären, warum ich da durch will. Und wenn sie nicht selber erkennen, dass es Sinn macht, da in dieser Richtung durchzugehen, dann sagen sie: Der Typ ist ja einfach nur ein Spinner, warum soll ich dem das denn erlauben. Also muss ich mir zum einen vorher ganz genau überlegen, ob das sein muss, ob ich da durch will, warum ich da durch will, um es ihnen dann in Worten, die sie verstehen, erklären zu können. Und das funktioniert meistens ganz gut, ich warte damit immer bis zum letzten Moment. Ich kann das nur machen, wenn ich wirklich davon überzeugt bin, weil wenn ich
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dahin gehe zu einem Zeitpunkt wo ich denke: ja, das wäre vielleicht eine Möglichkeit aber vielleicht gibt es andere, die noch besser sind, dann kann ich das nicht mit genügend Überzeugung rüberbringen und dann klappt es eben auch oft nicht.« (Sieverts im Interview, geführt von der Verfasserin. Dinslaken, August 2012)
Sieverts Aussage verdeutlicht, dass die Abfolge der Stadtreise bereits während der Recherche auf ihre mögliche Rezeption hin überprüft wird. Nur, wenn die erarbeitete Abfolge der Tour dem eingenommenen Blick des Rezipienten standhält und mit Überzeugung vermittelt beziehungsweise nach Zugängen gefragt werden kann, hat das erworbene Wissen sowie die Idee bestand. Der Blick auf die spätere Rezeption durch Dritte stellt somit eine Distanzierung und Objektivierung der eigenen Wahrnehmungen und Überlegungen dar. Die Aussage veranschaulicht weiterhin, dass sich praktisches Wissen auch im Sprechen zeigt: Sieverts hat durch die jahrelange Praxis Routine darin, unterschiedlichen Personen sein Anliegen zu vermitteln und ein gegebenenfalls zunächst auch abstrus anmutendes Ansinnen – in entgegengesetzter Laufrichtung einen Baumarkt zu durchqueren – Anderen verständlich zu machen. An anderer Stelle im Interview beschreibt er, dass er derartige Explikationen mit Gesten unterstützt, die er intuitiv ergänzend zu den sprachlichen Ausführungen einsetzt: »Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, wenn man den Leuten das erklärt, mache ich das viel mit den Händen, weil es ja um Bewegung geht, um Richtungen: mit offener oder geschlossener oder zugespitzter Hand. Wenn ich erklären will, dass man durch ihren Baumarkt, also vom Parkplatz durch den Baumarkt zur Kiesgrube will, dann würde ich wahrscheinlich mit einer gespreizten, offenen Hand, mit der Handfläche nach unten zeigenden Hand den Baumarktparkplatz beschreiben. Also sagen, wir kommen über den Baumarktparkplatz – und das ist ja einfach eine große, gespreizte, offene Hand mit der Handfläche nach unten – und dann kommt ihr Baumarkt – und dann würden die fünf Finger so vorne zusammengehen – und dann müssen wir durch ihren Baumarkt durch und dann kommen wir hinten raus – dann würden die fünf Finger so zusammengehen – und dann kommt der Badesee – dann würde die Hand so abknicken und nach unten gehen. Das ergibt sich immer spontan in dem Moment, ich hab mir jetzt auch gerade überlegt, du wärst die Frau vom Baumarkt, deshalb bin ich darauf gekommen, wie ich das beschreiben würde. Und ich merk immer, dass die Leute den Handbewegungen relativ aufmerksam folgen. Und dann so grinsen und sagen: OK, ich spreche mal mit dem Geschäftsführer.« (Sieverts im Interview, geführt von der Verfasserin, Hamburg, Februrar 2012)
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Sieverts hat Routine darin, sein Anliegen zu verdeutlichen und sich zum Beispiel Zugänge zu verschaffen. Seine Aussage »Das ergibt sich immer spontan in dem Moment« weist darauf hin, dass die Explikation seines Anliegens immer neu auf die jeweilige Situation angepasst werden muss. Selbst wenn er Dritten routiniert seine Ideen vermitteln und Zugänge erfragen kann, ist eine aktive Deutung der Situation ebenso wie eine kreative Handlungsanpassung für das Gelingen nötig, gegebenenfalls bis zu »Revisionen seiner Absichten und Zielsetzungen« (Hörning 2004: 29). Damit stellen Momente der Störung das changierende Element routinierter Explikationssituationen dar, denn auch die Störmomente können zur Routine werden. Wird dieser Ablauf von Routine, Praxisunterbrechung und Lösung jedoch zu sehr fokussiert, wird in diesem Licht die Änderung der Praxis wiederum nur als Routine lesbar (ebd.: 32). Gerade hierin liegt aber das Potential der pragmatistischen Theorie Deweys, denn sie betont die Exklusivität der Störung für die kreative, jeweils situationsangemessene Handlungsanpassung. Die künstlerische Wissensproduktion inkludiert reflexive Perspektiven, die bereits auf die spätere Rezeption ausgerichtet sind und damit eine Perspektivtransformation beinhalten. Denn »während er arbeitet, verkörpert der Künstler in sich die Haltung des Betrachters« (Dewey 1980: 62). Die Praxiskompetenz Reflexion umfasst entsprechend nicht allein erworbenes kognitives Wissen, sondern ebenso Kenntnisse situationsangemessenen Handelns (Hörning 2004: 35). Die genannten Beispiele für die Praktik des Beschreibens und für Praktiken der Einnahme der RezipientInnenposition sind zum einen gut erforschbar, denn sprachlich und gestisch explizieren sie Praktiken und das ihnen zugrunde liegende Wissen (Hirschauer 2011: 95). Zum anderen machen sie deutlich, dass Situationen, in denen die eigene Arbeit expliziert werden muss, eine Distanzerfahrung provozieren und einen Reflexionsprozess starten. Derartige Explikationszwänge machen einen nicht unerheblichen Anteil künstlerischer Praxis aus: An verschiedenen Punkten eines künstlerischen Projektes ist gefordert, das eigene Werk zu kontextualisieren, den TeilnehmerInnen/BeobachterInnen die eigene Arbeitsweise zu erklären oder die Ziele der Arbeit vorab in Anträgen oder für die Arbeit vor Ort darzulegen. Die gemeinsame Recherche mit anderen KünstlerInnen in verschiedenen Projekten, die Begleitung der Recherche durch Dritte oder die schriftliche Reflexion der eigenen Praxis (Sieverts 2007, 2008, 2010, 2014), stellen darüber hinaus Explikations- und Reflexionsanlässe dar, die wiederum für die Praxis produktiv gemacht werden.
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Z UR S PEZIFIK KÜNSTLERISCHER W ISSENSPRODUKTION Was ist nun als Spezifik künstlerischer Wissensproduktion auszumachen? Auch die Recherche anderer Disziplinen kennt Praktiken des Explizierens, Untersuchens, Wahrnehmens oder Vor-Ort Seins. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich um eine laufende Forschung, deren abschließende Ergebnisse noch vorzulegen sind. Dennoch legt ein erster Vergleich des empirischen Materials nahe, dass die künstlerische Recherche das Sammeln multisensueller Eindrücke und eine zeitintensive Anwesenheit am Ort der Recherche profiliert. Sieverts Recherche vor Ort fand im Anschluss an einen eintägigen Einführungsworkshop durch die Auslobenden des Projekts und einem Besuch der Zeche gemeinsam mit dem Kurator an insgesamt fünf Arbeitstagen statt. Während der Recherche hat Sieverts mehrmals auf der Zeche übernachtet. Statt sich ausschließlich für deren Gebiet und die angrenzende Lohberger Gartenstadt zu interessieren, für die das Projekt einen Vorschlag suchte, umkreiste Sieverts das Zechengelände weiträumig und kehrte erst am letzten Tag seiner Recherche für eine intensive Begehung zur Zeche zurück. Sieverts fotografiert konstant während der Recherche, die Kamera und eine topografische Karte sind seine ständigen Begleiter. Die Kamera nutzt er vor allem, um Dinge zu dokumentieren und zu erinnern – ein Notizbuch oder andere Praktiken schriftlichen Memorierens konnte ich kaum beobachten – und um Bildmaterial für seine stetig geführten Bildarchive zu produzieren. Sieverts sieht sich die Fotos am Abend an, sortiert Bilder aus und vollzieht die Stationen seiner Recherche nach. Das Fotografieren ermöglicht einen Einstieg in die Recherche vor Ort durch die Fokussierung auf visuelle Eindrücke und schafft einen direkten, räumlichen Bezug zu der erforschten Gegend. Durch das tagelange Durchwandern und Durchfahren entstehen aber vor allem multisensuelle Eindrücke: wie sieht es vor Ort aus, wie riecht es, wie lässt sich dort schlafen, welche Wege nehmen die AnwohnerInnen und wie sind diese Wege zu begehen oder zu befahren, welche Speisen werden angeboten und wie schmecken sie, wo halten sich Menschen auf und wie fühlt es sich dort an und so weiter. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sieverts Praxis geprägt ist von einem Sammeln von Sinneseindrücken, um die Spezifik des Ortes zu erfassen. Durch den zeit- und bewegungsintensiven Aufenthalt vor Ort werden Praktiken des Explizierens zu einer wichtigen Instanz der Wahrnehmungssensibilisierung: Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sieverts meine Anwesenheit als ein Gegenüber für die Explikation seiner Wahrnehmungen nutzt. Da vor Ort in der Bewegung des Gehens oder Radfahrens keine Dokumentation stattfinden kann und die Stillstellung durch das Fotografieren vor allem die visuellen Eindrücke fi-
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xiert, ist eine Explikation der eigenen Wahrnehmungen an ein Gegenüber eine willkommene Chance die Sinneseindrücke zu transformieren und ein Stück weit zu fixieren. Sieverts Recherche ist geprägt von einem möglichst langen Sammeln dieser Eindrücke, die erst mit dem Einreichen des Projektvorschlags eine – vorläufige – Objektivierung erfahren.
R ESÜMEE Der Beitrag hat an empirischen Beispielen gezeigt, dass die Reflexion der künstlerischen Praxis ein zentraler Bestandteil im Prozess der künstlerischen Wissensproduktion ist und damit ein struktureller Bestandteil einer Theorie der Praxis. Die praxeologische Perspektive mit der pragmatistischen Position Deweys zu verschränken, hat sich hier als besonders fruchtbar erwiesen, um sowohl Routine als auch Reflexion und Explikation in den Blick nehmen zu können. Der Pragmatismus wirft ein besonderes Augenmerk auf Situationen der kreativen Anpassung an neue oder unerwartete Situationen. Die künstlerische Wissensproduktion erfolgt – so wäre entsprechend einer Verschränkung pragmatistischer und praxeologischer Theorien zu konstatieren – ebenso routiniert mit Hilfe von idiosynkratischen Methoden sowie durch die Bewältigung von Handlungsproblemen. Es wurde deutlich gemacht, dass die Einnahme der RezipientInnenposition eine solche Handlungssituation darstellen kann, in der die eingebübte, routiniert ausgeführte Praxis expliziert wird, so dass sie anderen Menschen zum Verständnis und gar zur Handlungsanweisung dient. Sowohl praxeologische wie auch pragmatistische Ansätze weisen ohnehin zahlreiche Gemeinsamkeiten auf 6 – wie etwa die Betonung der Körperlichkeit und Zeitlichkeit des Handelns, die Zurückweisung klassischer Dichotomien (Körper-Geist, Subjekt-Objekt etc.), das Fokussieren auf Gewohnheiten (Schäfer 2012: 34) sowie auf implizites Wissen. Die pragmatistische Akzentuierung reflexiver Momente ermöglicht jedoch eine produktive Ergänzung praxeologischer Beobachtungen des Doings. Der Pragmatismus macht Reflexion, die durch Probleme ausgelöst wird, zu einem wesentlichen Bestandteil der Praxis. Reflexion ist entsprechend keine besondere Tätigkeit mehr, kein »externes Datum« (Volbers 2015: 197), sondern »selbst eine Wirkmacht der Praxis« (ebd.). Denn: »Die Klärung der Situation ist immer selbst eine Praxis, das heißt, sie greift in die Situati-
6
Zum Unterschied der beiden Ansätze insbesondere am Begriff der Erfahrung siehe Volbers 2015: 194ff.
R EFLEXION ALS P RAXIS | 263
on ein, verändert sie.« (ebd.: 209) Im Hinblick auf die Einlagerung der Reflexion in die Praxis erscheint die eingangs erwähnte Theorie-Praxis-Dichotomie relativiert: Wissensproduktion ist ebenso wenig ein rein mentaler Prozess, wie Erfahrungen, die nach Dewey auf Reflexion angewiesen sind, ausschließlich empirisch sind (ebd.). Praxis stellt vielmehr alle TeilnehmerInnen auch vor die Herausforderung, Lösungen zu finden und zwar situationsangemessen und damit jeweils neu, jedoch basierend auf Routinen und damit einem zuvor erworbenem Wissen. Fraylings eingangs zitierter Satz, wonach der Kopf die Hand kontrolliert und wiederum von ihr Rückmeldung erhält, wäre demnach in pragmatistischer Perspektive zu ergänzen, denn diese Rückmeldung erfolgt nur, wenn die Hand auf ein Hindernis stößt, andernfalls schreitet die Praxis – so der praxeologische Fokus – routiniert voran. Erhält der Kopf, um im Bild zu bleiben, jedoch eine Hinderniswarnung, gibt er eine Aufforderung zu einem kreativen Umgang damit. Die im Beitrag vertretene These, dass dieses Hindernis auch im Hinblick auf die Rezeptionssituation und in der Explikation der eigenen Wahrnehmung liegen kann und diese damit eine Distanz zum eigenen Tun ermöglichen, die eine Unterbrechung der Routine und Anpassungsleistung darstellen, ist im Hinblick auf künstlerische Recherchepraxis von besonderer Bedeutung, da hier die Sensibilisierung für die eigenen Wahrnehmungen sowie die Provokation von Störungen als Möglichkeit für Perspektivwechsel und damit Erkenntniszuwachs Methode haben.
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R EFLEXION ALS P RAXIS | 265
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Die Suche des Tanzes nach seiner Geschichte. Zum Umgang mit vergangenem Wissen S ABINE H USCHKA »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. […] Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetzt-Zeit erfüllte bildet.« (Benjamin 2010: 144ff.)
Die zeitgenössische Tanzkunst geht gegenwärtig der Frage nach, wie ihrer eigenen Geschichte ein Raum der Erinnerung gegeben werden kann. Als Teil einer gesellschaftlich vorherrschenden Geschichtseuphorie 1 ist auch im Zeitgenössischen Tanz – international wie national – spätestens seit den 1990er Jahren ein helles Interesse an der Historizität der eigenen Kunstgattung entbrannt, das mit intensiven Recherchen und experimentellen Erinnerungstechniken zu einem Aufmerken für die brüchige Historizität des Tanzes geführt hat. Zahlreiche transnationale Produktionen wie etwa Fabian Barbas Rekonstruktion von Mary Wigmans Schwingende Landschaft (2008), A Mary Wigman Dance Evening
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Wie sehr europäische Gesellschaften darum bemüht sind, Vergangenes gegenwärtig zu halten und verschiedensten Kult(ur)orten ein Gedächtnis zu geben, hat Aleida Assmann in ihren Publikationen eindringlich herausgestellt. Vgl. hierzu Assmann 2006.
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(2009) mit den Tanzreigen Schwingende Landschaft, Celebration und Visionen von Wigman,2 ein Re-Reading von Steve Paxtons Satisfyin‘ Lover (1967/1996) der französischen Gruppe Quattuor Albrecht Knust mit Christophe Wavelet, Jérôme Bel, Boris Charmatz, Emanuelle Huynh und Xavier Le Roy, oder das Solo Ohne Titel (2000) von Tino Seghal, das dokumentarische Spuren der modernen Tanzgeschichte zu einem vertanzten »Museum des Tanzes« zusammenführte, haben in ihrer Divergenz – hier nur ausschnitthaft angeführt – politische Fragen zum Gedächtnis des Tanzes, zum Umgang mit dem körpergebundenen Wissen und über die medialen Dispositionen des Tanzes ausgelotet. Dabei kommt ein zentrales Anliegen jener breit praktizierten Erinnerungskultur im Tanz darin überein, nicht allein historische Werke und Stile erinnernd wachzurufen. Spätestens seit den 1990er Jahren sind im Zeitgenössischen Tanz praxeologische, das heißt in der Praxis reflektierte Verfahren von Interesse, Möglichkeiten und Modi zu überdenken, wie sich ein Wissen der Vergangenheit erkunden lässt, wie es angeeignet und re-aktiviert werden kann. Gegenüber den klassisch-traditionellen Verfahren institutionalisierter Tanzkompanien, die ihre Stücke und Techniken über einen aktiven Repertoirebetrieb vermittelt über das Körpergedächtnis der Tänzer generationsübergreifend tradieren und durch die Sammlung und Archivierung von produktionsrelevanten Materialien dem Tanz ein Gedächtnis geben, unterzieht der Zeitgenössische Tanz die ästhetischen Verfahren der Wissenstradierung einer kritischen Auseinandersetzung. Jene vor allem in Europa anhebende Auseinandersetzung hat Praxen einer gleichsam angewandten Historiographie hervorgebracht, die heterogene Erinnerungstechniken an ein vergangenes Tanzwissen entwickelt haben. Ein zentraler Kern der erprobten Praxen des Erinnerns liegt – wie es im Weiteren deutlich wird – in einer geradezu unumgänglichen Begegnung mit dem grundlegend Unverfügbaren der Vergangenheit, bildet doch die Vergangenheit für die Tanzkunst ihre eigene Leerstelle. Dies wird für viele ChoreografInnen zum Anlass, kritische Interventionen im Umgang mit verschiedenen Wissensformen zu erproben und als Praxis zu reflektieren, 3 Aneignungsmodi des tänzerischen und choreografischen Wis-
2
Mary Wigman zeigte diese Tänze auf ihrer ersten USA-Tournee in New York 1930/31.
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Ein tanzwissenschaftlicher Begriff der Praxeologie perspektiviert die (selbst-)reflexiv vollzogenen Praktiken der ästhetischen Zugänge im Tanz, die – wie hier als Erinnerungstechniken operierend – aus einem Zusammenwirken materieller und medialer Akte der Aneignung von Wissen hervorgehen. Die Praxen sind methodologisch reflektiert und rühren aus einem situativen Aktionsraum zwischen Akteuren und Arte-
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sens der Vergangenheit auszutesten. Ob als Re-Konstruktion oder als ReEnactment gefasst, lassen sich differente Zugänge und künstlerische Verfahren beobachten, deren Fokus (in unterschiedlicher Gewichtung) darauf liegt, Spuren der medialisierten Historizität von Tanz offenzulegen, kritische Verfahren der Verkörperung zu entwickeln und Strategien einer re-arrangierten WiederAufführung zu entwickeln. Gestützt durch die Einsetzung des nationalen Förderprogramms Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes sind hierbei in Deutschland seit den 2010er Jahren allein über 40 Produktionen entstanden, die sich explizit Fragen nach den Optionen, Bedingungen und Funktionen eines Tanzerbes stellen. Ihre vielfältigen Produktionen praktizieren gemäß den Förderrichtlinien der Kulturstiftung des Bundes eine »Auseinandersetzung mit dem Erbe«, um – wie es programmatisch heißt – »eine exemplarische Aufarbeitung der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland« zu leisten, die »die Aktualität des modernen Tanzes offenlegt und ihn im Hier und Jetzt verankert«.4 Eine Vergegenwärtigung des Vergangenen scheint dem Tanz potentiell zumutbar zu sein. Perspektiviert und gefordert wird eine zeitenspezifische Übertragung historischen Wissens, mit der Geschichte erfahrbar inmitten zeitgenössischer Reflexionen hervortritt. Doch bleibt die Frage offen, wie die angedeutete Zeitenspanne zwischen Vergangenheit und Gegenwart in eine Aktualisierung münden soll. Zahlreiche freie TänzerInnen und ChoreografInnen, freie KuratorInnen aber auch Ballettkompanien an Stadttheatern arbeiten seither an einer »lebendigen Erinnerungskultur« (www.tanzfonds.de/home, Zugriff 20.02.2014) historischen Tanz-Wissens und setzen verschiedenste Reflexionsformen ins Werk. Begleitet von Diskussionsrunden und Symposien (unter anderem Archive/Practice (2009)
fakten. Gegenüber einer kulturwissenschaftlichen Perspektivierung von Praxeologien, deren Qualifikationsmerkmal unter anderem in die bedeutsame Hervorhebung des Materiellen zurückreicht, sind für praxeologische Tanz- und Performanceanalysen das Zusammenspiel materiell-körperlicher und medial-artefaktischer Anteile bedeutsam (Reckwitz 2014: 13–25). 4
Die Konzeption des Förderprogramms Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes folgt den Statuten der UNESCO Convention for the Safeguarding Intangible Cultural Heritage. »TANZFONDS ERBE does not create a museum of work and people from the past, but rather a lively commemorative culture that reveals the topicality of modern day dance.« (www.tanzfonds.de/de/erbe) Die Website weist thematisch nunmehr einen veränderten Fokus auf und trägt einen veränderten Textinhalt (www.tanzfonds. de/en/about-us, Zugriff 14.09.2016).
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Tanzarchiv Leipzig; tanzkongress Düsseldorf 2013) richtet sich die Aufmerksamkeit der eingesetzten Erinnerungsarbeit vornehmlich auf ProtagonistInnen des Tanzes im 20. Jahrhunderts wie unter anderem Isadora Duncan, Loïe Fuller, Anita Berber, Valeska Gert, Kurt Jooss, Mary Wigman, Gertrud Bodenwieser, Rudolf von Laban, Oskar Schlemmer, Jean Weidt, Yvonne Georgi, Clotilde und Alexander Sacharoff, Dore Hoyer, Gerhard Bohner, Uwe Scholz und einzelnen Bühnenstücke von ihnen (zum Beispiel Das Triadische Ballett, Bauhaustänze, Der grüne Tisch, Le Sacre du Printemps, Errand into the Maze, Pax Questuosa – Klagender Friede, Dans la Marche, 1000 Grüße), aber auch auf postmoderne Positionen von Improvisation (Judson Dance Theater) und Körperarbeit (Anna Halprin). Das künstlerisch-kulturelle Großprojekt ist dabei vor allem darauf ausgerichtet, ergänzend zu den üblichen und institutionell verankerten Verfahren der Tradierung von Tänzen und Tanzstilen, wie sie in der Repertoirepflege verankert sind, eine Aneignung von modernen Choreografien, Tanzstilen und Positionen zu realisieren, die gerade nicht der eigenen tänzerischen Ausbildungstradition der ProjektteilnehmerInnen angehören und daher im konkret körperlichen Sinne fremd sind. Zwischen Bewahren und Erfinden, klassisch operierenden Re-Konstruktionen und kontextualisierenden Arrangements suchen verschiedenste Produktionsformate – Tanzaufführungen, Lecture-Performances, Installationen, Ausstellungen, Filme, Konzerte, Textdokumentationen, Websites, Vorträge und Zeichnungen – gegenwartbezogene Perspektiven auf den historischen Horizont einer modernen Tanzgeschichte zu eröffnen. Praxeologisch steht für die Produktionen und ihre ChoreografInnen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Optionen der Tradierung und Weitergabe zugänglich gemachter Wissensgefüge im Mittelpunkt: Die Suche gilt choreografischen Fundstücken etwa in Notationen oder Bildern, aufwendigen Recherchen und Interviews mit ZeitzeugInnen, SchülerInnen und TänzerInnen jener Zeiten, um das aufgelesene Wissensgefüge ästhetisch dergestalt zu bearbeiten, dass Reste eines aktivierbaren Bewegungswissens erinnernd zu Tage treten. Kurz: Tanzgeschichte zeigt sich in den Produktionen primär als ästhetischer Reflexionsraum, um die Vergangenheit des Tanzes – so paradox es klingen mag – aktualisierend und wiederholend präsentieren zu können: überarbeitet, weitergeführt, (wieder-)gefunden und (wieder-)erfunden. Hierin besteht die Besonderheit ihrer Praxeologien der Erinnerung. Mit Blick auf drei sehr disparate Produktionen aus diesem Kontext – Mary Wigmans Le Sacre du Printemps von Henrietta Horn (2013), The Source Code von Jochen Roller (2012–2014) sowie undo, redo and repeat von Christina Ciupke und Anna Till (2014) – werden in diesem Text die erarbeiteten Reflexionsräume und angewandten Praxeologien beleuchtet und deren Wege der Erin-
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nerung im Sinne einer geschaffenen Historizität von Tanz und seinem Wissen befragt. Welche Potentiale Re-Enacting für die Reflexion von Tanzgeschichte aufzuschließen vermag, markiert das Ziel meiner Befragung. Welche Räume der Erinnerung lassen sich im Tanz als Techniken einer aktualisierenden Historizität erschließen? Wie lässt sich historisches Wissen des Sich-Bewegens re-aktivierend aufrufen und wie kann es choreografisch erinnert werden? Wohin die Begegnung mit dem grundlegend Unverfügbaren der Vergangenheit die Kunst des Tanzes führen kann, von welcher Art und Dynamik die Erinnerungsräume beschaffen sind und welche Reflexionsräume des Geschichtlichen eine Arbeit der Aneignung der Vergangenheit erschließen vermag: Diese Fragen leiten vor allem die Produktionen undo, redo and repeat von Ciupke/Till (2014) und The Source Code von Roller (2012) und finden im Re-Enactment und in der medialen Reflexion eines Online-Projekts einen differenzierten Widerhall. Die Re-Konstruktion von Wigmans Le Sacre du Printemps (1957) durch Henrietta Horn (2013) verweist in ihrem gewählten Umgang mit Leerstellen auf die komplexe Herausforderung, einen praktikablen Zugang zum medialen Wissensgefüge eines vergangenen Tanzstücks zu erarbeiten.
R E -E NACTING B ODY -K NOWLEDGE : M EETING THE G AP Womit aber bekommen wir es bei den Versuchen im Zeitgenössischen Tanz, sich die Vergangenheit anzueignen, eigentlich zu tun? Oder absurd formuliert: Wie tritt das Vergangene dieser Kunst eigentlich auf? Mittlerweile hat sich ein begriffliches Umfeld ausdifferenziert, mit dem die praktizierten Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart als ein abständiges Verhältnis von Aushandlungsprozessen gefasst werden. 5 Hierzu kursieren Begriffe wie re-vived, re-made, re-staging, re-animation oder re-play und eröffnen – wie Susanne Foellmer ausgeführt hat (Foellmer 2014a) – ein Feld begrifflicher und damit analytischer Uneindeutigkeiten.6 Dabei sticht für Praktiken einer Geschichtserinnerung im deutschsprachigen Raum eine begriffliche und
5
Dies hat einige Absonderlichkeiten gezeitigt, wie etwa in jener Formulierung von André Lepecki: »the past is not that which vanishes at every second that passes, but rather that which presents itself in the present as a forceful absence, a set of references, signs, lines of forces, all traversing the body on stage, and defining the ground on where dance (all of us) stands.« (Lepecki 2004b: 176).
6
Vgl. dazu auch Krutschkova 2010: 39-45.
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theoretische Unausgewogenheit zwischen den Begriffen Re-Konstruktion und Re-Enactment heraus, wie sie sich etwa in der Auseinandersetzung bei den beiden Tanzwissenschaftlerinnen Claudia Jeschke und Nicole Haitzinger abzeichnet. Selbst wenn Jeschke einen Rekonstruktionsbegriff entkräftet, da er sich ihrer Ansicht nach historiographisch und im Repertoirebetrieb auf Originaltreue und Authentizität bezieht, präferiert sie diesen dennoch in einer nunmehr getrennten Schreibweise – als Re-Konstruktion, wobei sie zeitzeugInnen- und aufzeichnungsgestützte Verfahren unterscheidet (Jeschke 2010: 69–79).7 Gegenüber der begrifflich mit dem Re-Enactment gefassten Perspektivierung des Vergangenen, wie sie Haitzinger präferiert, bleibt Jeschke skeptisch. Das Re-Enactment stelle kein »geeignetes Instrument« dar, »historisches Wissen zu generieren« (Jeschke 2009: 57). Haitzinger indessen identifiziert gerade das Re-Enactment im Sinne von Re-Invention als eine »zeitgenössische künstlerische Perspektivierung, der (Er-)Findung und Visualisierung von Geschichte« (Haitzinger 2010: 181) und wendet sich damit explizit gegen die Praxis der Rekonstruktion, die von ihr als eine »möglichst original- wie detailgetreue Praxis der Wiederaufführung« (ebd.) identifiziert wird. Das Gemeinsame aller Begriffsführungen liegt in der stets mitgeführten Figur eines Re-, gewissermaßen als Indikator einer der Wiederholung unterworfenen Praxis. 8 Doch wird Wiederholung als Erinnerungsstrategie der Verkörperung des Vergangenen theoretisch weder ausdifferenziert noch analytisch produktiv gemacht. Der Begriff der Wiederholung liefert daher bislang keine theoretische Reflexionsebene, mit der körperlich-choreografische Erinnerungstechniken qualifizierbar sind.
7
ZeitzeugInnengestützte Rekonstruktionen arbeiten mit dem kommunikativen Gedächtnis, aufzeichnungsgestützte pflegen den Umgang mit kulturellen Gedächtnisformen.
8
Unter der Fragestellung der Wiederholung differenziert etwa Susanne Foellmer den Begriff der Rekonstruktion als »kritischer, distanzierterer Ansatz, sich vergangenen Aufführungen, Stücken oder Performances anzunähern« (Foellmer 2014b: 70) gegenüber dem des Re-Entacments »als Versuch, ein vergangenes Aufführungs- oder Performanceereignis möglichst detailgetreu nachzubilden« (ebd.: 72), da Re-Enactments »ein Ereignis möglichst nahe am ursprünglichen Geschehen detailliert zu reanimieren« suchen (ebd.: 70).
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D AS P OTENTIAL DES R E -E NACTMENTS POLITISCHE D IMENSION
UND SEINE
Die zugleich praxeologisch erarbeitete und theoretisch reflexive Haltung, wie Tänze, Stile und ästhetische Positionen der Vergangenheit von TänzerInnen und ChoreografInnen erinnert werden, wie ihr Wissensgefüge adressiert und Wissen aufgerufen werden kann, richtet sich auf eine Befragung des Ästhetischen von Tanz. Unzweifelhaft mutet die Aneignung der Vergangenheit dem Zeitgenössischen Tanz eine spannungsreiche Arbeit zu. Denn mehr, als dass es sich hierbei um eine kreative Auseinandersetzung handelt, die aus der Vergangenheit unentdeckte Möglichkeiten für die Gegenwart zu gewinnen sucht, wie es Yvonne Hardt in Engagements with the Past in Contemporary Dance dargelegt hat (Hardt 2012),9 klafft mit dem Interesse für die Historizität des Tanzes allererst der Blick auf das Verlorene auf. Der konstitutive Verlust wird im Bezug von der Gegenwart auf die Vergangenheit offensichtlich und wahrnehmbar erfahren. Die Leerstelle, das vormalige Tanzen als körperlichen Akt eben nicht mehr antreffen zu können, vermag nicht geschlossen zu werden. Wie soll der Raum der Erinnerung beschaffen sein, um Vergangenes herbeizuholen und in eine Gegenwart zu überführen, in der sein Körperwissen längst begraben liegt? In jeglichen Aneignungsprozessen von vergangenen Choreografien und Tanzstilen nistet eine klaffende Wunde, die nicht zu schließen ist: Das Wissen der Körperbewegungen ist mit den toten TänzerInnen verstorben. Dieses historiographische »Faktum brutum« (Heeg 2006: 177), wie Günther Heeg es genannt hat, die Radikalität des Todes, betrifft die Tanzkunst angesichts der Vergänglichkeit ihrer Körper in besonderer Weise. Die Aneignung des Vergangenen kon-
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Hardt geht es um »a present that is highly reflective of the inescapability of the past« (Hardt 2012: 218). In ähnlicher Weise argumentiert Lepecki, wenn er schreibt: »With the expression will to archive in contemporary dance, I am proposing an alternative affective, political, and aesthetic frame for recent dance Reenactments – as well as for their relations to archival forces, impulses, or systems of command. […] I am suggesting that the current will to archive in dance, as performed by reenactments, derives neither exclusively from ›a failure in cultural memory‹ (Foster 2004: 21-22) nor from ›a nostalgic lens‹ (Santone 2008: 147). I am proposing ›will to archive‹ as referring to a capacity to identify in a past work still non-exhausted creative fields of ›impalpable possibilities‹ (to use an expression from Massumi 2002: 91).« (Lepecki 2010: 31). Darin die zitierte Literaturen von Foster (2004: 3-22); Santone (2008: 147-152) und Massumi (2002: 91).
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frontiert ChoreografInnen und TänzerInnen mit dem Abwesenden als NichtWieder-Einholbares einer vergänglichen Materialität. Die historischen Tanzkörper sind gänzlich aus der Zeit gefallen. Ein Dialog mit ihrem längst verloschenen Phänomenbereich ist im Zustand des Gegenwärtig-Seins zwischen eigenen und fremden Bewegungen abgeschnitten. Diese Leerstelle stiftet eine Erinnerungsarbeit an. Der Verlust bedingt, strukturiert, motiviert, behindert und ermöglicht die beziehungsstiftende Aneignung des Vergangenen. Nur über Andere, Dritte, kann ein Weg des Gegenwärtig-Werdens gegangen, ein Dialog inmitten eines Gegenwartsbezug des Vergangenen geführt werden. Dann wird ein inszeniertes Nachleben mit Blick auf die verstorbenen Bewegungskörper möglich. Obwohl das Argument der ontologischen Bedingung körperlicher Bewegung trivial ist, fordert gerade deren Verlust rekonstruktive Erinnerungsarbeit praxeologisch in dem Maße heraus, in dem hierzu eine Position bezogen werden muss. Aus dieser Position geht die Arbeitshaltung und ästhetische Zielsetzung der entwickelten Praxeologien hervor, die interessanterweise mit einer ästhetischpolitischen Haltung gegenüber dem Tanz als Tanzkunst übereinkommt. So sehen sich die künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit genau mit jener Leerstelle konfrontiert, die Tanz nach seinem modernen ästhetischen Selbstverständnis zur Kunst macht: die Körper/Bewegung und deren ephemerer Wissenscorpus. Das Aufmerken für diesen so trivialen, weil offensichtlichen, Verlust kommt einer Konfrontation mit der grundlegenden ästhetischen Disposition der Tanzkunst gleich. Denn die Erinnerungsprozesse bekommen es als aneignende Zugänge zur Vergangenheit des Tanzes mit jener Disposition seiner ästhetischen Materialität – dem Körperlichen – zu tun, die geradewegs mit jener ästhetisch zugeschriebenen Disposition übereinkommt, der zufolge das Ephemere zentrales Charakteristikum und Merkmal der Tanzkunst ist. So wird der Tanz seit der Moderne als vergängliche und pointiert flüchtige Gattung angesehen,10
10 Das Ephemere klassifiziert das Vergängliche des Tanzes als einen kurzlebigen Akt, einen flüchtigen Moment, dem die Aura des Verschwindens beiwohnt. Moderne Diskurse haben der Tanzkunst das ontologische Merkmal des Ephemeren geradezu eingeschrieben und als Differenzkriterium seiner spezifischen Kunstgattung und Wissensform erhoben (Lepecki 2004a: 124-139, vor allem 126ff.). Dabei avancierte die Rede des Flüchtigen nicht erst mit Paul Valéry, wie Gerald Siegmund in seiner Abwesenheit – Eine performative Ästhetik des Tanzes (2006) aufgezeigt hat, zur ontologischen Denkfigur, sondern sie reicht zurück bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und zwar in einer überarbeiteten Fassung der Lettres (1803) von Jean Georges Noverre. Zur Diffe-
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womit eine tiefgreifende kulturelle und theoretische Tragweite der »Glorifizierung, Trivialisierung und Marginalisierung der Tanzkunst als apolitische Aktivität« (Franko 1995: 206) einhergeht, die – und hierauf hat die US-amerikanische Tanzwissenschaft deutlich hingewiesen – das Phantasma der »absoluten Unübersetzbarkeit« (Foster 1995: 9) mit sich führt. Als radikal präsentisch bestimmtes Gegenstandsfeld verliert der Tanz zudem – so wäre zu ergänzen – die potentiell ästhetische wie kulturelle Bedeutung, Geschichte zu haben und geschichtlich zu sein. Denn die ontologische Bestimmung, ein ephemeres und sonach ein flüchtiges Ereignis zu bilden, reduziert den stets aufgespannten Gegenwartsbezug des Bühnentanzes auf ein punktuelles Ereignis, mit dem sein Geflecht aus räumlichen und zeitlichen Bezügen aus dem Blick gerät. Markiert ist demnach eine ästhetische-ontologische Disposition, die durch die eingesetzten Praktiken des Re-Enacting eine potentiell kritische Intervention erfährt: Das Ephemere klassifiziert das Vergängliche des Tanzes als einen kurzlebigen Akt, einen flüchtigen Moment. Mit Blick auf die Vergangenheit soll nunmehr das Vergängliche in eine Erinnerungstechnik überführt werden, um das Geschichtliche des Tanzes wieder-verkörpernd in Szene zu setzen und als ein choreografisches Geflecht praktizierter Körpererinnerung vorzuführen. Die ästhetische Figuration der Tanzkunst, selbst keine Geschichte zu haben, transponiert damit in einen durch Erinnerungstechniken geschichteten Zeiten-Raum, deren disparate Vergegenwärtigungsstrategien choreografisch arrangiert sind. In welcher Weise zeitgenössische ChoreografInnen Praxeologien des Erinnerns und Freilegens einer Historizität gewesener Tänze und Tanzstile entwickeln, welche Annäherungen sie an das Vergangene vollziehen, wie also die erarbeiteten Praktiken eines Wi(e)der-Verkörperns und Aneignens fremder Bewegungsensembles gestaltet sind, welche raum-zeitlichen Konstellationen durchlaufen werden und wie mit den medialen Dispositionen der Vergangenheit aus Bildern, Notaten, Beobachtungen, Rezensionen und Erzählungen umgegangen wird, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
renz zwischen einem Transitorischen des Tanzes und seinem Ephemeren vgl. aus historischer Perspektive Huschka 2012: 77–97.
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D IE KÜNSTLERISCHE P RAXIS DES R E -E NACTMENTS : »L ÜCKEN F ÜLLEN «. L E S ACRE DU P RINTEMPS VON H ENRIETTA H ORN Die materiell-verkörperte Gebundenheit des Tanzwissens konfrontiert die körpergebundene Erinnerungstechnik mit eklatanten Lücken. Der Tod vieler TänzerInnen und ChoreografInnen der Tanzmoderne hat ihr körperliches Gedächtnis ausgestrichen, wodurch die raum-zeitliche Distanz zum Vergangenen für die Produktionsprozesse in absoluter Weise erfahrbar wird. Das fehlende eigene Körpergedächtnis und der Mangel, auf übliche Verfahren des Wissenstransfers zurückgreifen zu können, die meist auf der Übertragung des Wissens von Meister und Schüler basieren, macht verstärkt auf Fragen nach den medialen Optionen des Tanz-Wissens aufmerksam. Wenn ChoreografInnen als Wissende, TrägerInnen und personell materialisierte GarantInnen verstorben sind, verschiebt sich das Gefüge der tänzerischen und choreografischen Wissenspraxis. Der fraglich gewordene Status des verkörperten Wissens eröffnet andere praxeologische Zugänge, die auf den stets mitgeführten Wissenskorpus des Tanzes aufmerksam werden. Adressiert werden nunmehr verstärkt Quellen und Materialien, die aus der Tanzpraxis und dem choreografischen Aufführungsgeschehen hervorgehen und in ihnen verankert sind, um sie als transmediales Geflecht aus Notationen, Mitschriften, Fotografien, Kostümen, Bühnenbildentwürfen und Filmen für den Wissenstransfer zu nutzen.11 Jenen Weg einer ausgiebigen Quellenforschung hat Henrietta Horn zusammen mit Susan Barnett und Katharine Sehnert in ihrer Re-Konstruktion von Mary Wigmans Choreografie von Le Sacre du Printemps (1957) angestrengt. In einer aufwendigen Recherche im Archiv der Akademie der Künste Berlin wurde das unsortierte Quellenmaterial wie Notationen, Probenaufzeichnungen und Fotografien gesichtet, um Anhaltspunkte für die Bewegungsästhetik zu bekommen und ergänzt durch ausgiebige Gespräche mit ehemaligen TänzerInnen von Wigman wie Emma Lewis Thomas und Brigitta Hermann in der Probenarbeit an den Theatern in Osnabrück und Bielefeld zusammengeführt. Das vergleichsweise
11 Wissen über Choreografien und Tanzstil generiert sich nunmehr über die Auseinandersetzung mit Materialien und Informationen, die unzweifelhaft als qualitative Bestandteile dem Wissen vom Tanz/en zuzurechnen sind. Mit dem Verlust steht der Status des Wissens vom Tanzen als praxeologischer Wissensverbund zur Disposition (Huschka 2016; 2015: 143-157), was nicht ohne Einfluss auf das Verständnis von Tanz/Wissen als kulturelles Wissen ist.
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umfassend dokumentierende Material wies dennoch eine bedeutsame Leerstelle auf: Der zentrale »Tanz der Auserwählten« fand sich entgegen aller anderen szenischen oder bewegungsspezifischen Aufzeichnungen nicht notiert. Bis auf wenige Fotografien aus der Probenarbeit mit Dore Hoyer, die diese Rolle eigenverantwortlich in Wigmans Choreografie gestaltet hatte und tanzte, war gerade jene zentrale Passage des Stücks verloren. Mit diesem Verlust konfrontiert, suchte das Re-Konstruktionsteam, im Wissen über das theatrale Setting räumlicher Ordnung und Kostümierung, einen Zugang mittels der Kontextualisierung des vorherrschenden Bewegungsstils zu finden. Die gewählte Praxeologie grundierte auf der konzeptionellen Überzeugung, über das Wissen der integrierten TänzerInnen »die choreografischen Leerstellen in der Rekonstruktion des Stücks füllen zu können«12 – und dies trotz der deutlichen Leerstelle, die eine eklatante Lücke für eine homogene Rekonstruktion darstellte. Die TänzerInnen fungierten damit als ZeitzeugInnen, die qua ihres Miterlebens und ihrer Erfahrung als TänzerInnen in dem Stück die Rolle kompetenter choreografisch Wissender einnahmen. Sie erhielten quasi den Status eines lebenden Archivs, wobei sich in den Proben ein spannungsreicher Prozess entwickelte. Die Arbeit an der Erinnerung förderte bei allen TänzerInnen und ihren gemeinsamen Diskussionen die Brüchigkeit der eigenen Erinnerung hervor, so dass durchzogen von eklataten Divergenzen und Widersprüchen kein einhelliges Bild der Choreografie geschaffen werden konnte.13 Doch war die Re-Konstruktionsarbeit von der ideellen Einstellung geprägt, eine intakte Aufführung von Le Sacre du Printemps zu produzieren, die diese in unmittelbarer Erinnerung an eine vergangene Präsenz wieder erfahrbar machen sollte. Die auffälligen Lücken galt es, so die Dramaturgin Patricia Stöckemann, »nicht stehen zu lassen«, sondern »aus dem Geist der Rekonstruktionsarbeit und dem Geist aus der Beschäftigung mit Mary Wigman und ihrer Technik« 14 zu füllen. Daher wurden die zusammengetragenen divergierenden Erinnerungen der ZeitzeugInnen letztlich durch eine choreografische Entscheidung von Henrietta
12 Patricia Stöckelmann im Interview für die Projektdokumentation unter www.tanz fonds.de/projekt/dokumentation-2013/le-sacre-du-printemps (Zugriff 05.10.2016). 13 Vgl. hierzu Filmausschnitte aus: »Mary Wigman: ›Kreise ohne Frontveränderung‹. Ein Gespräch mit Brigitta Herrmann und Katharine Sehnert zur Rekonstruktion von ›Le Sacre du Printemps‹« unter www.tanzfonds.de/projekt/dokumentation-2013/lesacre-du-printemps (Zugriff 05.10.2016). 14 Patricia Stöckelmann im Interview für die Projektdokumentation unter www.tanz fonds.de/projekt/dokumentation-2013/le-sacre-du-printemps (Zugriff 05.10.2016).
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Horn eingeholt, indem sie den Tanz des Opfers von Dore Hoyer neu kreierte, das heißt selbst neu choreografierte. Die Leerstellen traten demnach eingeebnet nicht hervor und blieben auch aufführungsästhetisch unmarkiert. Die vorgelagerte, spannungsreiche Arbeit in der Auseinandersetzung mit einem vielfältigen, medialen Wissensgefüge der Choreografie fand hier zugunsten eines Akts der Wieder-Belebung von Wigmans Tanzästhetik keinen Widerhall. Der aufführungsästhetische Akt präsentierte eine Zeitenlosigkeit der Choreografie, in der sich ein ewiges Bild ihrer Ästhetik zu manifestieren suchte.
R E -E NACTMENT ALS WIDERSTÄNDIGER AKT V ERKÖRPERUNG : M ARTIN N ACHBARS U RHEBEN _A UFHEBEN
DER
Schon vor Beginn jener Förderphase hatten europäische ChoreografInnen wie Martin Nachbar mit Urheben_Aufheben (2008)15 in Auseinandersetzung mit Dore Hoyers Affectos Humanos (1962), Jérôme Bel mit seiner Trilogie von ehemaligen Tänzern und Tänzerinnen wie Véronique Doisneau (Ballerina der Pariser Opéra, 2006), Lutz Förster (Tänzer des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, 2009) und Cédric Andrieux (Tänzer der Merce Cunningham Dance Company, 2009) sowie Boris Charmatz mit 50 years of dance (2009) verschiedene Zugänge zu vergangenen Tanzperformances erarbeitet. Ungeachtet der Differenzen ihrer historischen Referenzen und ihren Präsentationsformaten (Tanzstück, Performance, Lecture-Performance) war den entstandenen Produktionen ein reflektierter und mitunter gebrochener Bezug zum Vergangenen gemein. Geschichtserinnerung wurde nicht als eine wiederherstellende Arbeit von reinen Rekonstruktionen des historischen Materials angestrebt, sondern Modi eines Re-Enacting – eines Neu-Arrangierens und Wieder-Verkörperns – erforscht. Die Art und Weise, das Vergangene zu adressieren, vollzog sich über einen kritischen Zugang, der den Status des historischen Materials selbst in Frage stellte und die auffind-
15 Urheben_Aufheben (2008) bildet die letzte Produktion von Nachbars langjähriger Auseinandersetzung mit Dore Hoyers Affectos Humanos (1962) und dessen Verfilmung (1967). Entstanden ist ein Zyklus sich re-reflektierender Lecture-Performances, der der Frage nach den körperlich-theatralen Bedingungen und Optionen, die Tänze Eitelkeit – Begierde – Hass – Angst – Liebe erinnernd zu verkörpern, nachgeht. Exemplarisch verdeutlichen gerade diese Produktionen die Eigenwilligkeiten tänzerischer Erinnerungsarbeit. Vgl. auch Siegmund 2010: 15-26.
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baren Materialien als historische Quellen und Archivalien von Tanz/en auf den Prüfstand stellte (Huschka 2012). Im Mittelpunkt standen Fragen, inwieweit die »ÜberReste«16 von Tanzstücken und Körpertechniken in ihrer je eigenen Materialität Erinnerungen bereithalten und wie diese reaktiviert wieder zu Tage treten können oder sollen. Exemplarisch hierfür verdeutlicht insbesondere die langjährige Auseinandersetzung von Martin Nachbar mit den Materialien und Filmaufnahmen von Dore Hoyers Affectos Humanos (1967) und den Erinnerungen ihrer Tänzerin und Rechteinhaberin Waltraud Luley die geradezu sperrige Eigenwilligkeit der Erinnerungsarbeit.17 Ein konstitutiv fremdes Bewegungsmaterial von einem anderen, abwesenden Körper auf den eigenen – historisch und stilistisch different ausgebildeten – Körper zu übertragen, bedeutet Tanzgeschichte aus der Differenz zu rekonstruieren und dabei der Historizität des eigenen Körpers zu begegnen, die sich im Erinnerungsvollzug geradezu querstellt. 18 Die Übertragung kam für Nachbar angesichts unüberwindbarer bewegungstechnischer Schwierigkeiten eine homogene Verkörperung des ausdruckstechnisch fundierten Tanzstils von Hoyer zu realisieren, einer »Konfrontation mit dem Unverfügbaren« (Siegmund 2010: 21)19 gleich. Aufführungsästhetisch entstanden Performances, in denen er als männlicher Tänzer unkostümiert und ohne Musik Hoyers Choreografien
16 Vgl. das DFG-Projekt ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten unter der Leitung von Susanne Foellmer. 17 Schon 1999 begann der Berliner Choreograf und Tänzer sich mit Hoyers Affectos Humanos auseinanderzusetzen. Ursächlich erarbeitet in einer Kollaboration mit Thomas Plischke, Alice Chauchat und Joachim Gerstmeier und unter dem Titel affects (17.02.2000) (später affects/rework) folgten weitere, als Lecture-Performance konzipierte Aufführungen: ReKonstrukt (2000 uraufgeführt in Leipzig im Lofft) und drei Jahre später erneut umgearbeitet mit dem Titel Urheben_Aufheben (Context Festival, Berliner HAU, 2003) gezeigt. 18 Martin Nachbars eigener, in der Release-Technik ausgebildeter Körper weiß kaum um die notwendige Spannungskraft, mit der Hoyer, ihren gesamten Muskelapparat im Krampf, tänzerisch Angst darzubieten verstand. 19 Zusammenfassend pointiert Siegmund: »Nachbars Choreografie spielt nicht mit der phantasmatischen Anwesenheit des Körpers von Dore Hoyer. Er macht den Abstand sichtbar, einen Abstand, einen Zwischenraum, in dem Produktion ermöglicht wird, weil sich etwas Virtuelles (die Vorstellung von Dore Hoyers Körper) in etwas Aktualem (Nachbars Körper) realisiert.« (Siegmund 2010: 26)
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tanzte, womit eine deutliche genderspezifische und historische Differenz zwischen zwei Körpergestalten markiert wurde, ohne dass Nachbar dabei den Materialgrund der Choreografien und Hoyers expressiven Tanzstil verließ. Mit Urheben_Aufheben (2008) wurde dann eine weitere Reflexionsebene eingezogen: Schreibend an der Tafel stehend, entfaltete Nachbar das Historisierungspotential von Tanz als notwendigen Erinnerungsakt in seinen Prozessen und Stationen, um sich sukzessiv im Bühnenraum choreografisch zu entfalten. In Szene gesetzt findet sich ein choreografisch reflektierter und körperlich sich re-konstruierender Erinnerungsvollzug eines per se Abwesenden: Eine Widerverkörperung ohne ursächlichen Grund.20
R E -E NACTMENT
ALS B EGEGNUNG MIT EINER MEDIALISIERTEN H ISTORIZITÄT Die Aneignung der Vergangenheit mutet dem Tanz und seinen im Re-Enactment eingesetzten Erinnerungsprozessen ein komplexes und zeitlich abständiges Arbeitsfeld zu, das an eine kritische Intervention der entwickelten Praxeologien appelliert. Der notwendige Dialog mit dem Vergangenen macht auf die Geschichtlichkeit der verstorbenen, fremden Körper und die Vergänglichkeit ihres Wissens aufmerksam und mittelbar zugleich auf die Geschichtlichkeit des eigenen Körpers. Erfahrbar wird ein Abstandsverhältnis zum Gegenwärtigen, aus dem heraus die Zeitenspanne zwischen Gegenwart und Vergangenheit in eine Bewegung der Aneignung überführt werden kann. Eine Anerkennung dieses Abstandsverhältnisses, mit der ein tänzerisch-choreografischer Erinnerungsprozess in Gang gesetzt wird, markiert in besonderer Weise das Potential von ReEnactments, wie es in The Source Code von Jochen Roller reflektiert und in undo, redo and repeat von Ciupke/ Till praktiziert wird. Beide Produktionen voll-
20 Die letzte Produktion Urheben_Aufheben. Ein Selbstversuch (2008, Sophiensaele Berlin) zeigt den Akt des Auflesens geschichtlicher Spuren, in dem die für den Tanz notwendige re-konstruierende Arbeit an der Wiederholung als Übertragung und Fügung in ein Körperbild vorgeführt wird. Aufgezeigt werden die Brüche und Leerstellen dieses Prozesses: An der Tafel stehend, zeichnet und listet Nachbar das historische Material und die Stationen der theatralen und choreografischen Handlungsräume der Rekonstruktion auf, um sie im Performance-Raum als Tanzsequenzen körperlich zu reflektieren. Markiert werden die (un-)sichtbaren Gänge des Vergegenwärtigens von Vergangenem.
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ziehen ihre Erinnerungen über einen interagierenden Bezug zu verschiedenen Quellenmaterialien, um als intermedialer Wissensvollzug hervorzutreten. Die Produktionen richten sich auf eine Begegnung mit dem »Fremden« der Vergangenheit, ohne dem Wunsch zu folgen, bestehende Leerstellen oder Lücken zu füllen. Die Zeitenspanne zum Vergangenem und Fremden wird selbstreflektierend offen gehalten, wodurch die grundsätzliche medialisierte Historizität von Tanz offen zu Tage tritt.
R E -E NACTMENT ALS S PUREN -S UCHE : T HE S OURCE C ODE VON J OCHEN R OLLER Roller wählt mit The Source Code21 einen konzeptionellen Zweischritt, um sich in Australien mit dem Ausdruckstanz-Vermächtnis von Gertrud Bodenwieser – 1938 dorthin emigriert – auseinanderzusetzen: In einer ersten Arbeitsphase rekonstruiert Roller zusammen mit vier TänzerInnen, der Journalistin Elisabeth Nehring und der Videokünstlerin Andrea Keiz, Bodenwiesers Choreografie Errand into the Maze (1954), ohne diese als Re-Kreation begriffene Aneignung jemals aufzuführen. In einer zweiten Arbeitsphase bearbeitet und präsentiert Roller die gefilmten Trainingseinheiten unter der Anleitung von den Bodenwieser-Schülerinnen Carol Brown und Barbara Cookson beim Erlernen der Bodenwieser-Technik, Showings passagenweise rekonstruierter Teilstücke aus der Choreografie, Gespräche und Diskussionen während der dreiwöchigen Probenarbeit mit seinen TänzerInnen, die Interviews mit ZeitzeugInnen und seine zuvor über zwei Monate durchgeführte Recherche mit unter anderem Fotos, Briefen und Interviews auf einer Website. Diese versammelt alle wesentlichen Materialien der Recherche und den gesamten Arbeitsprozess der Aneignung von Errand
21 Concept, Research, Re-Creation and Archiving – Jochen Roller; Video Documentation – Andrea Keiz; Archiving – Theresa Willeke; Research – Elisabeth Nehring; ReCreation Errand into the Maze – Nadia Cusimano, Matthew Day, Latai Taumoepeau, Lizzie Thomson; Custodian of the Bodenwieser Archives – Barbara Cuckson; Bodenwieser Advisors – Carol Brown, Lee Christofis, Biruta Clark, Moira Claux, Barbara Cuckson, Shona Dunlop-MacTavish, Elaine Vallance; Additional Research – Jan Poddebsky; Additional Archiving – Andreas Russe; Funded by: A TANZFONDS ERBE – An initiative by the German Federal Cultural Foundation. With the support of: Rozelle School for Visual Arts, Sydney.
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into the Maze (1954).22 Die Entscheidung, ein Online-Projekt durchzuführen und keine Rekonstruktion als Aufführung anzustreben, stand von vornherein fest und bildete den konzeptionellen Kern dieser Produktion. Nicht ein lebendiges Bild eines Tanzes sollte dem Publikum vor Augen gestellt, sondern die geradezu unwillkürlich einsetzenden Probleme und Auseinandersetzungen in einem transkontinental und zeitlich abständig operierenden Erinnerungsprozess sollten aufgezeigt werden. Roller erläutert: »For me it’s about making the reconstruction process completely transparent, to publish everything, or as much as possible, that documents our route, even the false paths taken, as I believe that ultimately the attempt and failure to reconstruct something says as much about the choreography as succeeding in copying it perfectly.«23
Auf den ersten Blick vergegenwärtigt die Webseite einen heterogenen Materialkorpus aus disparaten Arbeitsphasen, ohne die vollzogenen Recherche chronologisch oder systematisierend zu präsentieren. Unter zehn Menüpunkten finden sich Quellenmaterialien wie historische Fotos, Zeitungsartikel, Programmhefte, Skripte aus Archiven neben Filmaufnahmen aus Probenprozessen, in denen die bewegungsästhetischen Prinzipien der Bodenwieser-Technik vermittelt werden und Interviews mit ZeitzeugInnen, in denen ausführlich die ästhetischen Leitgedanken von Bodenwiesers Arbeit erläutert und ihre Karriere in Australien nach ihrer Emigration durch den Aufbau einer eigenen Tanzgruppe beleuchtet wird. Den NutzerInnen der Website kommt hierbei die Aufgabe zu, sich durch das Material und deren Verlinkung einen eigenen Rechercheweg zu bahnen. Einleitend erklärt Roller die Struktur des Internetportals: »By accessing rehearsal footage, interviews, photos, letters and other testimonies, I invite the online-audience to make their own version of the 60 year-old dance piece. The re-
22 Interessant sind in diesem Zusammenhang die beträchtlichen rechtlichen Schwierigkeiten, mit denen Roller und sein Team konfrontiert wurden. Überhaupt einen Zugang zu der einzigen filmischen Aufzeichnung von Errand into the Maze zu bekommen, war äußerst kompliziert, gleichwohl es sich um eine 1960 anlässlich eines MemorialConcerts der 1959 verstorbenen Bodenwieser Fassung des Tanzes handelt, die im Grunde selbst eine Re-Konstruktion darstellt. 23 Jochen Roller während eines ausführlichen Interviews über die Arbeitsschritte der Produktion. www.tanzfonds.de/projekt/dokumentation-2012/the-source-code/ (Zugriff 05.10.2016).
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creation process was full of errors, contradictions, analogies, theories, assumptions and interpretations. The structure of the website mirrors the structure of that process – it’s a complex web of references, comparisons and links.«24
Der Erinnerungsprozess gestaltete sich hier als ein Rechercheprozess der veröffentlichten Quellenmaterialien, um diese aufgreifend selber zu sortieren, sie zu interpretieren und zu bewerten. Dabei rücken die in der Produktion aufgeworfenen Fragen nach Sinn und Zweck einer re-konstruierenden Aneignung eines für alle Beteiligten des Teams fremden historischen Tanzkontextes in den Vordergrund. Ein grundlegender Zweifel motivierte paradoxerweise die tänzerische und choreografische Arbeit des Teams, der sich nicht aus der Begegnung mit einem grundlegend Unverfügbaren ergab. Anlass der kritischen Interventionen bildeten vielmehr die ästhetischen Differenzen zwischen einem historischen Bewegungswissen mit seinen spezifischen Gesten und Energieflüssen und einem zeitgenössischen Körperwissen, die in ihrer erfahrenen Fremdheit nach den Trainingseinheiten intensiv reflektiert wurden. Obwohl sich alle TänzerInnen der rekonstruierenden Arbeit unterwarfen, nahmen sie ihre Arbeit an einer WiederVerkörperung als einen reflektorischen Prozess zwischen verschiedenen Körperlichkeiten wahr.
R E -E NACTMENT ALS R E -ARRANGIERTES W ISSEN : U NDO , R EDO UNDO AND R EPEAT VON C IUPKE / T ILL In einer ebenso umfassenden Recherchearbeit erforschten Christina Ciupke und Anna Till Strategien der Aneignung fremder Tanzstile von verstorbenen oder konstitutiv fremden Tanzstilen von gleich fünf ästhetischen Positionen des 20. Jahrhunderts: Mary Wigman, Kurt Jooss, Dore Hoyer, Pina Bausch und William Forsythe. Hierzu stellten beide Tänzerinnen explizit die Frage nach den Optionen eines Erinnerungsprozesses, die praxeologisch über das Weitergeben von Tanzwissen ausgelotet wurde. Im Vordergrund stand eine Suche nach potentiellen TrägerInnen und möglichen Zugängen zu einem historischen Tanz- und Körperwissen. Undo, redo and repeat entfaltete mit gleich drei Produktionsformaten – Website, Aufführung und Installation25 – ein transmedial-interpersonelles Wis-
24 Eröffnungsseite von: www.thesourcecode.de (Zugriff 05.10.2016)
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sensgefüge vergangener Tanzstile und Stücke. Explizit stand hier die Frage nach Weitergabe im Mittelpunkt. So nahm die Produktion ihren Ausgang von einer Befragung ausgesuchter Personen, die mit den ausgewählten ProtagonistInnen des Bühnentanzes in einer engen Beziehung standen: Irene Sieben hatte als Schülerin die Tanzklassen von Mary Wigman besucht; Reinhild Hoffmann war Schülerin von Kurt Jooss an der Folkwang Hochschule Essen; Martin Nachbar hatte über seine Rekonstruktionen ein weitläufiges Wissen über Dore Hoyer gewonnen; Thomas McManus ist als ehemaliger Tänzer derzeit Ballettmeister der Forsythe Company; und die befragten ExpertInnen und ZuschauerInnen hatten alle einzelne Stücke von Pina Bausch für das Tanztheater Wuppertal gesehen. Ciupke und Till leiteten ihren Erinnerungsprozess in die Vergangenheit mit einem Brief an die als »Zeitzeugen« 26 fungierenden Personen ein, mit der Bitte ihnen »[…] eine physische Erinnerung zu überlassen, die Du unmittelbar mit der Arbeit von […] verbindest. Ein Fragment aus Deiner Erfahrung und Deinem Erlebnis als Zuschauer/in, das Du weitergeben möchtest, damit es im heutigen Kontext erinnert wird und in der Geschichte überlebt. Das weiterzugebende Material kann spezifisches Bewegungsmaterial, ein Teil aus einem Tanz, ein Bewegungsprinzip, choreografisches Material, eine Improvisationstechnik, ein Score o.ä. sein.«27
Irene Sieben übermittelte hierauf eine »physische Erinnerung an den Unterricht bei Mary Wigman« (Ciupke/Till 2014), in dem sie Wigmans körpertechnisches Kernmotiv des Kreisens als choreografische Figuration entwarf, Martin Nachbar stellte beiden unter dem Titel geschüttelt und gerührt eine Bewegungsaufgabe, mit der ein Bewegungsvollzug jeweils in anderer emotionaler Färbung selbstaffizierend innerhalb eines Scores des Angeblickt-Werden ausgeführt werden sollte, um einen Moment der Anrührung zu erwirken. Thomas McManus bat Ciupke und Till fünf Bilder zu finden und die CD-ROM der Improvisation Technologies zu studieren, und Reinhild Hoffmann schlug letztlich die Bitte aus, »das weiter-
25 Die Produktionsformate sind miteinander verzahnt, da die Website Ausschnitte der ausgiebigen Recherche in verschiedenen Arbeitsphasen ebenso dokumentiert wie die beiden anderen Präsentationsformate des Projekts: die Installation im Heidelberger Kunstverein und Bilder der Performance an den Sophiensaelen Berlin. 26 Ciupke und Till bezeichnen die Vermittler als Zeitzeugen. Zugleich sind sie Mitwirkende der Produktion. 27 Unveröffentlichtes Material aus der Produktion.
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zugebende Material in Form einer Handlungsanweisung, eines Scores oder performance directive schriftlich festzuhalten und an uns zu übergeben«. Stattdessen wollte sie ihr Stück VOR ORT (1997)28 an Ciupke und Till weitergeben. Die befragten ZuschauerInnen reichten verschiedene Beschreibungen ein, unter denen die Choreografinnen eine aussuchten. In Form einer Proben-Anweisung reflektierten SchülerInnen, KollegInnen, ArbeitspartnerInnen, FreundInnen und ZuschauerInnen Erinnerungen, Erfahrungen und ein Körperwissen, das sie mit den historischen ProtagonistInnen verband. Auf der Grundlage des weitergereichten Materials, der vermittelten Scores und Bewegungsanweisungen erprobten Ciupke und Till, flankiert durch weitreichende historische Recherchen deren bewegungstechnische Umsetzung. Es folgte eine intensive Probenphase mit den nunmehr als LehrerInnen fungierenden ZeitzeugInnen, in der – ergänzt durch (dokumentierte) Interviews und ausgiebige Gesprächsrunden, der Sichtung privater Sammelbestände aus Filmen, Bildern und Notaten – Bewegungen praktisch reflektiert wurden. Die durch die VermittlerInnen historisch markierten Tanztechniken, Körperprinzipien und choreografischen Formen wurden wiederholend angeeignet, wobei ihr verkörpertes und durch die Zeiten historisiertes Tanzwissen eine wi(e)derverkörpernde Aneignung erfuhr, die keine physische Angleichung sucht. Die Probenarbeit öffnete vielmehr einen transkorporalen Aneignungs- und Vermittlungsprozess historisch markierter Positionen, der sich in einem Differenzraum bewegte. Wie der Titel undo, redo and repeat bereits andeutet, schloss sich dabei ein Wiederholen (repeat) als konstantes methodisches Körperverfahren von Bewegungsaneignungen einem redo an. Repeat steht am Ende des erinnernden Gangs in die Tanzgeschichte. Voran steht das praxeologisch weitaus schlichtere Wieder-Machen: Ein redo, das eher einem imitatorisch operierenden Wiederholen als tanztechnische Fertigkeit gleichkommt. Beide Verfahren und Aneignungsmodi – redo and repeat – nehmen aber ihren Ausgang in einem vorgelagerten undo. Denn in der Arbeit mit den vermittelnden ZeitzeugInnen-LehrerInnen wird das Vergangene ganz im Wortsinn von undo: aufgebunden, aufgeknotet, aufgemacht und aufgetrennt. Die ZeitzeugInnen fungieren als VermittlerInnen gewissermaßen als Nahtstellen des ästhetischen Wissens der Vergangenheit. Ihre eigene, in ihren Körpern wirkende Geschichtlichkeit des Tanzwissens tritt selbst aus einer Spannung zwischen einem Gelöschten und Geöffneten, Getrennten und
28 Ein Soloabend von Reinhild Hoffmann, Uraufführung am 28.09.1997 im HebbelTheater Berlin.
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Gemachten, längst zu Grunde Gerichteten und Widerrufenen29 ins Bewusstsein. In einen Erinnerungs- und Aneignungsprozess arbeiteten Ciupke und Till an dem Spalt zwischen Gegenwart und Vergangenem, in dem sie den Prozess eines erinnerten Vergegenwärtigen – im Probenprozess und im Aufführungsgeschehen – ausspielen. Undo, redo and repeat verdeutlicht mit seinen bewusst zwischen die Zeiten von Vergangenheit und Gegenwart gesetzten Erinnerungsakten den Prozess des Erinnerns als konstitutive Arbeit an einer wiederholenden Aneignung der Vergangenheit, die notwendigerweise mit den historischen Dispositionen des Körperlichen umzugehen hat. Die Akte der Wiederverkörperung durchlaufen ein transmedial aufgefaltetes und doch längst durch das eigene angeeignete Körperwissen widerrufenes Tanzwissen. Dies zeigt sich schon zu Beginn der Aufführung: Choreografisch als simultaner Ablauf figuriert, zeigten Ciupke und Till in einer lang anhaltenden Wiederholungssequenz das bewegungstechnische Grundmotiv von Mary Wigmans Drehen und Kreisen, das sich deutlich different als ein gegenwärtiges Bewegungsmotiv fern des idealistisch überformten Spannungskörpers von Wigman präsentiert. Die Szene spannt einen visuellakustischen Raum auf, in dem die sprachlichen Korrekturen von Irene Sieben aus dem Probenprozess ebenso widerhallen wie eine historische Tonaufnahme von Wigman über die Prinzipien der Tanzkomposition. Undo, redo and repeat entblätterte die Arbeit an Re-Konstruktionen und Re-Enactments und präsentiert in einem changierenden Performanceraum Stationen eine brüchige Historizität des Tanzes. So breitete die Aufführung durch wechselnde Präsentationsflächen innerhalb des offenen Performance-Raumes Historie als transmedial geschichteten Schauplatz des Erinnerns aus. Stets von Bildern, Schriftzügen, Tonaufnahmen oder Objekten umsäumt, zeigen die Performerinnen das ausdruckstechnische Kreisen, die choreografische Musterung einer Polonaise, das als Duo performte Stück VOR ORT, die Bildung einer affizierenden Szene der Angst und zuletzt eine kommentierte Improvisationssequenz. Die Differenzen zu den bewegungstechnischen Vorbildern der ProtagonistInnen sind augenfällig und doch werden sie als Quelle oder Material erkennbar gemacht, indem die Schritte der rekonstruktiven Aneignung ihrer Tanzstile und Choreografien aufgezeigt wer-
29 Undo umfasst einen breiten semantischen Bereich und folgende Wortfeldeinträge: abzetteln, etwas annullieren, aufbinden, aufknoten, aufmachen, auftrennen, jmdn. zu Grunde richten, etw. löschen, lösen, gelöst, etw. öffnen, geöffnet, etw. rückgängig machen, rücksetzen, trennen, etw. ungeschehen machen, widerrufen. Vgl. www.dict. cc/?s=undo (Zugriff 05.10.2016).
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den. Die ProtagonistInnen der Tanzgeschichte erscheinen als Erinnerungsvollzug des Weitergebens eines Wissens. Choreografisch in Szene gesetzt finden sich Reflexionen über das Körperlich-Werden der Vergangenheit, ein verkörpernder choreografischer Erinnerungsraum, in dem das Tanzen beider Akteurinnen in ein akustisch-visuelles Wahrnehmungsgeflecht aus Tonaufnahmen (korrigierende Anweisungen der ZeitzeugInnen aus der Probenarbeit, historische Aufnahmen der ProtagonistInnen), projizierten Schriftzügen (Briefe der ZuschauerInnen von Pina Bausch) und Filmaufnahmen (Interviews mit den ZeitzeugInnen), die auf Tablets durchs Publikum gereicht werden, eingelassen ist. Der Erinnerungsvollzug historischen Tanzwissens ist – dies macht undo redo and repeat deutlich – im Raum des Körpers nicht ohne Weiteres zu haben. Die ZuschauerInnen bekommen es mit einem Vergangenen als Erinnerungsgang zu tun: Einem arrangierten Wi(e)der-Verkörperungsakt innerhalb einer intermedialen Wissensordnung, in der das Vergangene als choreografisches Wahrnehmungsdispositiv reflektiert wird. Verkörperndes Erinnern erscheint als eine choreografische und theatrale Disposition von Körper und Szene, die einen Schauplatz des Vergegenwärtigens aufspannt. Die Wirklichkeit eines Gewesenen wird choreografisch aufgerufen. Ausgestellt findet sich ein dialogisches Terrain, das Vergangenes vergegenwärtigt und Aneignung als eine Arbeit am Spalt des Vergänglichen erkennbar macht.
Z UR L OGIK
UND
G ESTE
DES
E RINNERNS
Wenn man Re-Enactments als eine potentiell kritische Praxis der Geschichtserinnerung begreifen will, so gilt es deren Inszenierungsweisen und Wahrnehmungsdispositive als gestaltete Beziehungsgefüge in den Blick zu nehmen. 30 Denn Re-Enactments eignen ungeachtet ihrer disparaten Praxisfelder exakt ausgestaltete Verfahren an, die das Vergangene kulturell, historiographisch und ästhetisch in ein Wahrnehmungsdispositiv der Gegenwart überführen, mit dem
30 Was mit Re-Enactments als weltweites Freizeitvergnügen und einer der Eventkultur zuzurechnenden Hobbykultur geschaffen wurde, in der nachgespielte Geschichtsszenarien Vergangenheit in einen vergegenwärtigten Erfahrungshorizont zu stellen suchen, hat in den Künsten – voran in der Performance-Kunst – zu einer eigenwilligen Form praktizierter Erinnerungskultur geführt. Vgl. Schlehe u.a. 2010; Arns 2007; Heeg u.a. 2014: 10–39.
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Vergangenheit in einem präzise inszenierten Licht erscheint: erhellend, irritierend oder beschwörend. Das Vergangene wird in einen Raum der Vergegenwärtigung überführt und tritt mittels einer Re-Inszenierung und einer durch den Körper geleisteten Darstellungsarbeit auf. Die Wirklichkeit eines Gewesenen rückt als Inszenierungsstrategie ein und nistet sich in einer dispersiven RaumZeit-Spannung ein (Schwarte 2013: 135–147).31 Gegenüber den kunstwissenschaftlichen Diskursen und den Praktiken des Reenactment in der Performancekunst markiert die körperliche Verfasstheit des Wiederholens im Tanz per se keinen ästhetischen Akt kritischer Reflexion des Vergangenen. Der für die Kunstwissenschaft sich im Körperlichen artikulierende Erfahrungshorizont einer bildkritischen Praxis, die als ein Akt der Verlebendigung gefasst wird und ein Einrücken des Vergangenen in das »Hier und Jetzt« markiert, wie Inka Arns betont (Arns 2007), findet im Tanz als Akt einer Vergegenwärtigung im Grunde gar nicht statt. Die Funktion des Körperlichen als (ver)lebendigende und damit kritische Instanz von Vergangenheit kommt auf Grund derselben medialen Disposition – Körperbewegungen in Körperbewegungen zu übertragen – kaum zum Tragen, außer das Körperliche wird als Akt der Verlebendigung inszeniert, wie etwa in Henrietta Horns Le Sacre du Printemps, die das kulturelle Bildarchiv von Wigman animiert und verlebendigt vor Augen stellt. Denn Verkörperung meint im Tanz den Raum eines mitgeführten Vergangenen und von Vergänglichkeit gesäumten Raumes, der nicht im Akt der Verlebendigung aufgeht. Die Geste des Re-Enactments liegt vielmehr in der Einsetzung eines wiederverkörperten Inszenierungsaktes einer historiographischen Aneignung von Vergangenheit. Diese animiert Geschichte nicht, wie etwa Jerome de Groot das ReEnactment qualifiziert (De Groot 2009: 129). Nicht eine hervorgekehrte Wahrheit von Geschichte zeigt sich, vielmehr wird Geschichte über eine medialisierte, verkörperte und inszenatorische Aneignung von Vergangenheit erzeugt und aufgeführt. Der erinnernde Wieder-Verkörperungsakt führt das Vergangene ins Feld einer konkreten Wahrnehmungsdisposition, in der sich etwas vergegenwärtigt, das aus der Vergangenheit noch und stets wirksam ist. Dies ist eben die Logik
31 Schwarte plädiert für einen Begriff des Vergegenwärtigens, aus der »die Streuung der Eigenzeit von Lebewesen, Dingen, Stoffen, Materialien, die aus ihrer gegenseitigen Wahrnehmung hervorgeht. […] Vergegenwärtigen sollte dementsprechend als eine Auseinanderfaltung, eine Rekonfiguration dispersiver Intensitäten verstanden werden« (Schwarte 2013: 139).
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des Re-Enactments: ein inszenatorischer Akt einer aktivierten Erinnerung, die wiederholend eine Arbeit der Selbstvergewisserung vollzieht.
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POLITISCHES UND ÄSTHETISCHES
Performance Practice: Between Self-Production and Transindividuality A NA V UJANOVIĆ Although practice is a widespread activity among contemporary Western European performing arts makers, as a notion there is far from consensus about which phenomena and activities it signifies. For some, practice is about perfecting a technique or style, for others a continuous solitary activity through which they come closer to their artistic selves, for others, time for experimentation and research – to mention a few possible understandings (Parkinson 2011; Nyberg et al. 2012b; Hay 2000; “Nobody” 2015). Despite such conceptual dispersion, what most of these activities seem to have in common is that they present a temporary withdrawal from regular performance production. What the vivid, unstructured and weakly theorized field of performance practices signals could thus be a huge need on contemporary Western European performing arts scenes to resist the ongoing alienation of artistic production. So much so that even to call a performance product has immediate negative connotations: those of commodification, loss of control or betrayal of real artistic intentions. In such an atmosphere, practice might appear as a break, a temporary rupture in the alienating process, wherein things could be reset. Against this backdrop, my essay intends to examine the notion and, so to speak, the practice of practice in contemporary Western European performing arts within the frameworks of performance studies and the humanities. It is based on various research methods that have been available to me, such as (apart from consulting the scarce literature on that topic) investigating collections of descriptions of performance practices gathered by Nobody’s Business (2015–2016) and Practice Symposium editors (2012), as well as direct talks, consultations and informal interviews with choreographers and makers who use the notion of practice and with whom I participate in the same Western European dance and performance scene. This essay asks how practice relates to the production of subjec-
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tivity by consideration of the problem of labor in the performing arts as seen in philosophy and political theory. The main issue that will be identified here is that as resistance to alienation, an orientation toward practice could move contemporary performance makers toward the public sphere where they – as artist-citizens – could claim political activity, but it could also push them deeper toward their inner self, where the practice contributes to artistic self-realization and personal growth. As a matter of fact, performance practice in contemporary Western European performing arts scenes has mostly been understood as “personal performance practice”1 and thus followed the course of the latter stream. However, in some other contexts, such as the Yugoslav and post-Yugoslav periods, for instance, the notion has instead designated artists’ public activities, what they do as artists besides making art. In other words, the expression artistic practice in difference to artistic creation spreads across – usually solitary – kinds of artmaking, including all other artists’ engagements on the art scene and in public. Although these examples will not be the topic of this essay, they are latently present in the assumption that practice as an activity of performance artists has a potential to operate on the level that traverses individuals and take part in creating new, transformative and collective subjectivities.
W HAT
IS ( PERSONAL ) PERFORMANCE PRACTICE ?
Although there is no consensus about what or which activity the notion of practice actually signifies in the context of contemporary dance and performance (Nyberg et al. 2012b; Hay 2000; “Nobody” 2015), it seems there is a tacit knowledge of it. As a result, when at a gathering of professionals someone proposes “Let’s keep morning hours for regular practice,” usually nobody asks, “What exactly do you mean by that?” Looking at the history of the notion of practice2 could help us situate its current artistic usages in the relations between production and politics.
1
I took the syntagm “personal performance practice” from Brussels-based choreographer, performer and dance teacher Chrysa Parkinson (2011), who uses it to describe a variety of daily practices engaged in by contemporary Western European and American performance artists; which cannot be reduced to one paradigmatic performance practice of this time.
2
See also Vujanović 2010.
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According to the traditional Western division of human activities into labor, work/production and action/practice, which can be traced back to ancient Greece, labor responds to humans’ general cyclical metabolic relationship with nature, while production and practice distinguish the human being as a specific and unique species. What also connects and at the same time differentiates these two activities is that both, along with theory, according to Aristotle, belong to human intellectual activity – knowledge, science or epistême.3 In Aristotle’s Nicomachean Ethics (Aristotle 1999) the distinction between praxis and poiesis was, however, fairly sharp and clear. Production/work (poiesis) is understood as the act of shaping, of coming into being in a particular form, and practice (praxis) implies a performed action, intervention – a voluntary activity in public. Poiesis therefore claims a value and has a goal beyond itself: it results in a product, a piece of work that contributes to the civilization. Unlike poiesis, praxis results in the public action itself and, accordingly, influences current social relations. In Aristotle’s words: “While making has an end other than itself, action cannot; for good action itself is its end.” (Aristotle 1999: 95) Paradigmatic instances of Greek notions of production are craft and art, and of practice – politics. Looking through this lens, the syntagm performance practice seems to mark, in the realm of human doing, a distance from the classical concept of art and an approach toward the classical concept of politics. In the twentieth century Aristotle’s account on practice was discussed by Hannah Arendt against the backdrop of her conception of “vita activa”, or active life of citizenry. In her key writings, such as Vita activa (Arendt 1958), she lept over Marx’s theory of labor – which doesn’t differentiate between labor and work/production and considers labor/work as the core of human subjectivity as a species – and looked back at Aristotle and the Athenian model of direct democracy, where politics was considered a form of practice. Starting from that reference, Arendt defines politics, qua vita activa, as the practice of free citizens who are interested in the organization and running of the polis, which is performed on the public stage of society. As practice, politics can be concerned neither with
3
A view developed in many works; see some basic postulates in Metaphysics (Aristotle 2015: VI, 1). A new unity of theory and practice was then elaborated in the nineteenth century by Marx and Engels and furthered by various Marxist theorists. The core of the doctrine is that theory is not a matter of pure thought but is a socially conditioned and contextualized activity of particular people, with their material conditions of life. Accordingly, Marxists thinkers try to take into account practical needs of the working class in their theoretical work (Marx/Engels 1939; Horkheimer 2002).
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constituting eternal truths, which belong to the domain of “vita contemplativa”, nor with issues pertaining to the oikos, that is, private life, personal interests or material goods, wherein the labor belongs. Therefore for Arendt, the socialization of politics and its approximating economics in modern and contemporary capitalist society from the French Revolution onward means that politics has gradually become less and less praxis and more and more a management of production. Accordingly, this process led to the historical failure of (democratic) politics and spelled its demise as a specific human activity. Giorgio Agamben’s approach to practice is different from Arendt. In his essay “Poiesis and Praxis” (Agamben 1999) he – from the perspective of artmaking and the related productive/poetic status of man as a species – demonstrates how, throughout Western history after classical Greece, the notion of practice itself changed.4 On one side, he follows the process of the convergence of poiesis and praxis, traced back to the Roman era, which is already manifest in the translation of the Greek term poiesis into the Latin agree/actum, to act, to do, as “the voluntary production of an effect“ (Agamben 1999: 43). Following Agamben, Christian theology proclaimed the Supreme Being as an actus purus, and firmly tied the idea of being as actualization and act with Western metaphysics. However, on the other side, the process of converging wouldn’t be possible without a radical change in the notion of practice. Agamben noticed that, in modern and contemporary Western society, all human doing began to be perceived as practice – which is now conceived as a productive activity. In the course of this process, the meaning of praxis was not only broadened to such an extent that it became a general term for all human activities, but it went through a complete transformation to the point where it started to signify a manifestation of the human being’s will and vital impulse which produces concrete effects. In these epistemic and social processes, the conception of art changed accordingly. According to Agamben, during the nineteenth and even the twentieth century, it was predominantly considered that art is also practice; but practice is seen as an expression and actualization of the artist’s will and creative force: “The problem of the destiny of art in our time has led us to posit as inseparable from it the problem of the meaning of productive activity, of man’s ‘doing’ in its totality. This productive activity is understood, in our time, as praxis. According to current opinion, all of man’s doing – that of the artist and the craftsman as well as that of the workman and the
4
The terms he uses are poiesis, praxis and work – which stands for labor (Agamben 1999).
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politician – is praxis, that is, manifestation of a will that produces a concrete effect.” (ibid: 42)
Bearing in mind the conceptual changes as expounded above and following what Agamben identifies as practice in contemporary Western society and its art, the great variety of the activities that could be referred to as performance practice should not come as a surprise. However, performance practice in today’s sense – which addresses various regular, individualized practices of performing artists and can be named personal performance practice – is not about making, creating or producing performances in general. However dispersed, porous and elusive it might be, the notion still refers to a certain set of activities, while – intuitively or deliberately – avoiding others. Practice as knowledge-embodying Among its prevalent meanings, there is an understanding of practice as an activity of embodying, incorporating, sometimes also perfecting a certain style, technique or body of knowledge. Accordingly, one could hear in the dance and performance scene sentences like “She is practicing BMC (Body Mind Centering)” or, more often, a particular, personalized, artist’s own set of tools and exercises. Calling an activity practice here echoes with Aristotle’s still widely present division between human intellectual activities, which says that an activity is practical when it is neither theoretical nor productive, with an emphasis on the former. In a similar vocabulary, but promoting the Marxist unity of practice and theory rather than its division, the program pamphlet of Practice Symposium, organized at Konstnärsnämnden in Stockholm in 2012 by Stina Nyberg, Zoë Poluch, Petra Sabisch and Uri Turkenich, reads: “Emerging from specific defining parameters, sometimes in view of method, practices produce a know-how that cannot be separated from the particularity of the practice. This particularity arises from its being implicated into a specific materiality: there is no idea without a material expression, as much as there is no knowledge unless it is practiced.” (Nyberg et al. 2012a)
Practice as experimentation and research The notion of performance practice sometimes also refers to the framework for artistic experimentation, improvisation and research, which do not necessarily lead to performance or any other tangible product. Deborah Hay’s practice “my
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body engages in work” is one such example that can be found in the arts.5 Basically it consists of a set of instructions for students’ physical exercise from which they can learn, from doing, about body movement in the group, but no performance will come as an offspring of that exercise. Moreover, once the practice gets frozen in performance, it is not considered practice any longer, and in that sense even the performance, in case it keeps the quality of practice, can maintain the practice as a mode of performing. Games and scores gathered as a toolbox at Everybody’s platform function in a similar fashion.6 Furthermore, for some authors, the very act of writing and/or examining the scores could be their performance practice – as is the case with Alice Chauchat or Petra Sabisch of Everybody’s. One more example of understanding practice as non-product-oriented artistic experimentation, improvisation and research is the seminar Regular practice at the MA in Performance Studies at Hamburg University. 7 The seminar was introduced at the request of students who asked for time and space apart from theoretical seminars where they could experiment with their artistic and performance skills. At first no student asked about the more precise meaning of the seminar’s title. However, it turned out that most of the time was used to figure out how to use that framework of a few hours per week in the studio, who should lead it, what to do or not to do in it, etc. So the most regular of the students’ regular practices was discussion, then presentations of works-in-progress done elsewhere and experiments with group improvisation. In Mette Ingvartsen’s essay “Experimental Practice” (Ingvartsen 2011) the practice is also associated with artistic experiment and research. However, Ingvartsen almost equates practice with the artistic process, and in order to emphasize that it is somewhat of a misfit in the face of market demands, the expectations of the audience, the criteria for a “good piece” etc., she adds the attribute “experimental.”8
5
See full description and score in the essay “My body engages in work“ (Hay 2000: 17–18). In the same book there are more examples of dance practice understood this way.
6
See everybodystoolbox.net (access 10.08.2016).
7
I refer here to the period 2013–2014 when I led the seminar.
8
At the same time, she sees practices and experiments as steps in artistic research, which could refer to her own tendency to organize her artistic processes to an extent as research. But I would not take this as a prevalent way of using the term practice in the context I write about. Here I would also mention that Hay’s understanding of per-
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Practice as maintenance of performance skills One more, frequently occurring meaning of practice is the maintenance of one’s performance skills. In this sense, personal performance practice could refer to keeping the body in shape and improving physical performances, reading literature and learning about the current debate, writing or drawing notes, ideas, images that do not need to have a utilitarian function, etc. In the midst of such a variety, one can never be sure what the artist practicing is doing behind the closed door: dancing, warming up her/his voice, jump-roping, singing, drawing, reading, day-dreaming, doing Yoga, listening to music, googling … but what s/he is very probably not doing is this: rehearsing for a new piece. So one can conclude that many of those activities that make up the daily life of performance artists today are positioned between training and production, do not result in a product, and are not shown to the audience. Practice as other than art making: on the commodification of artistic work According to Chrysa Parkinson (Parkinson 2011), who tried to elucidate the phenomenon of (personal) performance practice, it is neither training nor process, but the continuous in-between activity that is performed on a regular basis. In her self-interview “On practice” (2011) Parkinson attempts to define performance practice not only subjectively but also by induction of its various appearances which she meets on the contemporary dance scene. She thereby identifies three prevailing ways to use the term: (1) to designate the process of embodying and incorporating concepts, ideas, theories, topics or what she calls “active thought” (Parkinson 2011: 26f.); (2) to signify a regular activity, even a habitual one; and (3) to signify tries or repeated attempts at doing something. On a conceptual level, while juxtaposing various activities that performing artists do, Parkinson creates two conceptual couples through which she differentiates practice from training and process (of making performance). In difference to training, it is usually not possible to specify the goal of practice, says Parkinson (ibid.: 31). The goal is a criterion to differentiate between practice and process as well, but it here means the product, the performance, which is a measure
formance as a practice (Hay 2001) is peculiar and for that reason interesting more to those who investigate her work rather than to those who investigate the concept of performance practice.
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of the process’s success: “If you don’t create a product from a process, it’s a failed process.” (ibid.) The opposite is the case with practice. Not only is it usually impossible to specify its product, but it also seems that most artists insist on not producing performances through practices (“Nobody” 2015; Nyberg et al. 2012b). A similar reasoning can be found in Ingvartsen’s (self-)critical pondering of the artist’s focus on production, where she asks this: “How badly do you really want to make a GOOD piece, if a good piece would be the end of reflection, of searching, the finishing of a process that fixes the performance into an object?” (Ingvartsen 2011: 69) The other important aspect that Parkinson introduced in the conceptual pair process – practice is duration: “Most processes are finished once the piece is constructed. A practice can span many processes.” (Parkinson 2011: 31) From that follows that apart from not resulting in performance or having no specific goal whatsoever, performance practice is an artistic activity that escapes today’s omnipresent logic of art projects. While doing that, practice brings a sense of continuity to one’s artistic opus and life, otherwise compartmentalized in spatial, temporal, contextual and personal categories, and provides a framework excepted from the requirements of the market. At this point we could look back at the tendency of practice not to result in performance, where there is the same resisting inclination. Therefore, although a personal performance practice might not have any particular goal, the introduction of that activity into the context of the performing arts as a regular professional activity seems to be motivated by discontent with the commodification of artistic work and products. The problem of commodification in post-industrial capitalism has been widely discussed, especially by Post-Operaists such as Maurizio Lazzarato (1996) and Paolo Virno (2004). As a system where post-industrial production and immaterial labor dominate, neoliberalism has a capacity to pervade different kinds of social activity, from the economy via culture to everyday life, by transforming them into commodities: “I believe that in today’s forms of life one has a direct perception of the fact that the coupling of the terms public-private, as well as the coupling of the terms collective-individual, can no longer stand up on their own, that they are gasping for air, burning themselves out. This is just like what is happening in the world of contemporary production, provided that production – loaded as it is with ethos, culture, linguistic interaction – not give itself over to econometric analysis, but rather be understood as a broad-based experience of the world.” (Virno 2004: 26)
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Thereby, the main – political as well as economic – problem with commodification in the performing arts seems to be that, in its expanding crusade, it ultimately leads to what has been called alienation. Although the term is no longer popular, in the situation where neither the product nor the work belongs to the artist as the agent of poiesis or, simply, the worker, the main common goal of otherwise goalless personal performance practices can be understood as resistance to the ongoing alienation of artistic production.
ALIENATION OF PERFORM ANCE
PRODUCTION AS A
TRIGGER FOR PRACTICE Alienation is one of the main concepts from Marxist vocabulary. Following postMarxist authors like Virno (Virno/Hirose 2006) in times of post-industrial production alienation is ever more urgent, as production pervades all segments of life and as such could be among the crucial consequences of the commodification of artistic work and products, which in response calls the performance practice. Already in Marx (1959)9, alienation comprises both the relation of the worker to the product of labor as an alien object and the relation to the act of production, where there is a self-estrangement. While Marx keeps it on the level of the alienation of human being from his/her species, philosopher Gajo Petrović, a member of the former Yugoslav Praxis group, whose interpretations are colored by Marxist-humanist concerns10, furthered the thesis and said that alienation is: “[…] the alienation of man (of his self) from himself (from his human possibilities) through himself (through his own activity)” (Petrović 2001: 11). The selfalienation, however, is not about the alienation of the human being’s selfconsciousness. To be self-alienated means to become alienated from human essence defined socio-historically: “… alienation from oneself should be understood not as alienation from a factual or ideal (normative) human nature, but as alienation from historically created human possibilities, especially from the hu-
9
Internet resources of classics such as Aristotle and Marx are used because they are easily accessible, free and ecological. The translations have been proven by the author.
10 See more about Praxis group and journal at: www.marxists.org/subject/praxis; and Šarac, Milan (ed.) (2014): Praksis orientation, journal praxis and the Korčula summer school (Collection), Belgrade: Rosa Luxemburg Stiftung Southeast Europe.
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man capacity for freedom and creativity.” (ibid.: 14) Apart from pointing at the historical and man-made character of human nature, an important point here is that the notion of (self-)alienation serves not only to diagnose the state of affairs. By stressing, on the one hand, its broad and processual character and, on the other, the importance of the individual’s own action, her/his active role in the process of alienation, Petrović signals that a resistance to alienation, a de-alienation is a revolutionary call which traverses individuals. This approach resolves to an extent the question that preoccupied thinkers in the post-Second World War period: what is the priority when we talk about alienation – individuals or society (ibid.: 16)? To unpack current issues of alienation of immaterial labor and with it, general intellect and human creativity, in his essay “The Production of Subjectivity” Jason Read followed and furthered Paolo Virno’s links between Marx and Gilbert Simondon (Read 2011). The main concept of Simondon’s that Read discusses is that of individuation. It completely departs from the dilemma individual or society, as the crucial consequence of Simondon’s taking the process of individuation as primordial is that the individual is only a phase of being (Simondon 1992: 299–300, 2009: 6). In that sense, the individual is always an individual of a collective. This also means that the collective presents a preindividual reality, and as such it is an integral part of the individual subject. The preindividual conditions, if put into a historical perspective, are close to Marx’s concept of speciesbeing (Gattungswesen) and Petrović’s historically created human possibilities. They comprise language, history of productive relations and desires, which form a metastable system in which individuation takes place. Simondon calls it metastable because “the living entity is both the agent and the theater of individuation” (Simondon 1992: 307). At this point, there is a fruitful link from Simondon to Marx: “At the basis of Simondon’s understanding is a fundamental fact of existence, that Marx indicates (and Virno underscores): the very things that form the core and basis of our individuality, our subjectivity, sensations, language, and habits, by definition cannot be unique to us as individuals.” (Read 2011: 118) Besides the preindividual conditions, one more of Simondon’s terms is at play here – that of transindividuality. Transindividual relations – like a specific language, technology, cultural milieu or public institution – are not understood as relations between the individual and society as two stable categories. Therein the individual plays an active role, and in doing so s/he exceeds her/his individuality in transformation of the preindividual (for instance language) on the transindividual level (for instance in the educational institution). However, the
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scope of that role is limited by various factors, such as formal and real subsumptions of subjectivity by capital, where real subsumption encompasses “an increased exploitation of the transindividual and commodification of the preindividual“ (ibid: 120). In my view, commodification of the preindividual is the alienating process characteristic of neoliberal capitalism, as it paralyzes the individual’s agency in articulating new transindividuality despite being hyper-active. In explaining alienation, Read quotes Virno, who indeed gave a sharp definition: “By alienation I understand the situation in which the preindividual remains an internal component of the subject but one that the subject is unable to command. The preindividual reality that remains implicit, like a presupposition that conditions us but that we are unable to grasp, is alienated.” (Virno/Hirose 2006: 38, in Read 2011: 123)
This may be exactly what contemporary performance makers withdraw from when trying to provide time, space and legitimacy for personal performance practices. Namely, by losing control over their own work, their creativity and their products, artists lose their agency in commanding and, further, changing preindividual reality, including the conditions of production, as well as language, symbols and forms of common sense, for instance. As a response to that situation, Western European contemporary artists have invented numerous ways to bring that power back to themselves. And here might lie one of the key problems of being an artist in neoliberal societies, where the specificity of post-Fordist alienation “consists in the fact that the preindividual, although it is the actual basis of social production, does not become res publica, political organism, nonrepresentational democracy” (Virno/Hirose 2006: 38f.). Deprived of that power, artists are left to observe how the market produces a commodity out of artworks, which are in that way cut off from the transindividual and moved to the private domain and property. In these circumstances, the fact that even a seriously critical or artivist11 performance can – in fact, quite easily – contribute to the gentrification of workers’ or immigrants’ urban areas, that it can be evaluated by the amount of sold tickets, etc., functions as a trap that many artists do not know how to negotiate. The political economy of art is an underdeveloped discourse, and consequently this situation – in which artists are alien to the process in which their skills, creativity, labor and products socially operate – can only pro-
11 The term artivism refers to the public performances, actions and interventions that stand between art and activism, whose concerns come both from politics and from art without prioritizing any (Milohnić 2005).
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duce anxiety. Anxiety comes from the double position of the artist in neoliberalism, where artists find themselves passive in respect of their own (productive) activity. At the same time they take active part in that process with whatever they create. Performance practices described above therefore have appeared as a tiny gap where artists can take a break from that capitalist machinery and take their creativity back, while nominally and structurally still occupying the position of artists (and not private persons).
P RACTICE
AS RESISTANCE TO ALIENATION : TRANSINDIVIDUALITY
A PROMISE
OF
The previous chapter leads us to conclude that the popularity of practice in the Western European contemporary performing arts emerges as resistance to the alienation of artistic production in the moment when artists are capable of seeing, acknowledging that they can do more – everything which belongs to their historically created capabilities as artists – but are not allowed to. This very moment, the hypothetical moment of a historical or individual turn to practice, already manifests the nucleus of a de-alienating process, which – if we follow Virno’s definition of alienation – must start with the recognition of the loss of active relation to the preindividual. But can personal performance practice turn that passive condition into an active process? If labor is what places people in relation and if practicing artists resist the relations of alienated labor, what are the relations which that ((personal) performance) practice enables? What relations also means what subjectivities and what collective conditions of subjectivity. As we could have already seen, practice has had a myriad of meanings and functions, and so as a response or resistance to alienation, performance practice has had different paths to choose. These are the most apparent ones: by relying on the notion of practice from democratic Athens, it could have moved contemporary dance and performance makers toward the public sphere where they, as artists-citizens could claim political activity; while, by complying with the individualistic premises of subjectivity in neoliberalism, practice could have pushed them away from the public toward themselves, toward the inner self of the artist, where the practice contributes to artistic selfrealization and personal growth. Personal performance practices, as we currently know them in Western Europe, have mostly opted for the latter, although their motive doesn’t seem to be complicity with neoliberal premises of subjectivity. This logically and politically surprising choice in fact shows how the process of alienation of the preindividual functions: namely, by being passively internalized
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by the neoliberal subject. In a broader perspective, this situation indicates that a turn to practice from production does not guarantee the political mobilization of art, since practice itself predominantly no longer keeps its ties to ethics, politics and res publica. It is instead understood as an expression of individual will and vital impulses. From this perspective, personal performance practice topologically operates far from the public scene, powered by the self, performed for the self and for the sake of the self.12 At the same time, being an investment in the self of the artist and in that sense an artistic self-creation, these practices, instead of departing from the artistic field of poiesis and approaching the political field of practice, become actually more poiesis than practice in the classical sense. The orientation of performance practice toward the self of the artist goes hand in hand with the ongoing personalization of art sustained by the consensus of creative will. From a critical standpoint this orientation tends toward an atrophy of the political potential of art and art practice since it does not strive toward the collective transindividual. That is, the aspect of free human doing in the public realm is thereby, in principle, replaced by a creativity that strives for the humanistic emancipation of the artist as an individual: her/his personal realization and affirmation. This creates the paradox: practice as a resistance to alienation of production returns to the realm of production in the form of production of the self. In these circumstances, which are not analyzed critically enough within the art – one of the generators of the almost clichéd “cult of personality” (distinctive individuality, strong personality and deep inner self) as well as of post-Fordist manners and tools of production – self-production doesn’t function as a collective social activity as it would be in a Marxist framework, where it would indicate human transindividual creation of the future preindividual conditions. Moreover, in implicitly present neoliberal conditions of subjectivity, artistic self-production is almost asocial in being centered on the human inner self, on the individualistically meant self that even in cooperation realizes itself as a whole surrounded with other wholes. Probably one of the crucial problems here is that as invested in the self of the artist, performance practice is not less alienated than regular production. In fact, it can only be a short-lasting and mild resistance to working conditions that exploit and alienate, as it is constantly exposed to the danger of being absorbed by
12 I would determine this self, from a perspective of cultural and social performance, by a wide range of aspects and features of the human being which are felt and perceived as unique to the individual, from body shape to affects, thoughts and sensations to performance skills.
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the market and made into one more commodity. And this is what is happening right now. The recent “popularity” of personal performance practices doesn't say that performance artists started practicing recently en masse. These activities have been present for a long time, while what is new about them is that these activities have recently started to be recognized, organized and as such have become the content of cultural programs such as laboratories, festivals, open days in residency programs, etc. An explicit example of that is so-called “practicebased choreography,” which now makes performances out of the practice, while one ambiguous move in that direction is the organized sharing of practices. In particular choreographers and dancers gathered around Everybody’s platform have been engaged in that venture, through publishing a series of self-interviews of European performance makers and doers as well as an online toolbox for sharing methods and knowledge that operate in contemporary dance and choreography. Their way to avoid being commodified is to keep the framework of a smallscale, self-organized, no-budget and open-source initiative. Additionally, for example, the already mentioned Practice Symposium was organized with the purpose of sharing performance practices and in that way providing them with a semi-public life. “Practice Symposium uses the academic framework of a symposium in a different way by proposing practices instead of papers,” write the symposium’s editors, who claim that “engaging in these experience-based and usage-oriented practices allows for a cooperative knowledge production, where learning, doing and thinking intertwine” (Nyberg et al. 2012a). Here there are two tendencies that could defend practice from the market: the public character of the program and cooperation. However, when one looks closer at the descriptions of practices offered for sharing,13 one can see that most of them, not all, reproduce a well-known West-European contemporary dance playfulness powered by the self. In addition, the symposium itself is created and presented as an institutional cultural program made out of performance practices. These aspects push Practice Symposium to the point from which the commodification of perfor-
13 See, for instance, Fake it till you make it # Halla Ólafsdóttir: “Sensual hard core YouTube power Yoga for voice and body with a spiritual twist. We will do some serious superficial soul searching through medicine cards that will guide you to your inner spiritual animal and your physical voice. Using the video as a structure to get away from the pressure of being creative and adding some cliché ideas about being a free spirit on top creates a possibility for some weird shit to happen. I do not know yet what it is for but you do get out your warrior voice, a six-pack and a sense of togetherness.” (Nyberg et al. 2012b)
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mance practice becomes relatively easy. The theoretical reason for this is that as a self-creation, personal performance practice – singing or reading current literature, for instance –becomes the precondition of productive activity, which is already commodified. And it is not only about activities with an obvious potential to be utilitarian, such as singing (which develops vocal skills) and reading theory (which makes artists more informed about their field); even the humorous, cynical and joyful practices offered at the symposium are know-how in post-Fordist production, as long as they stay disconnected from the transindividual. Practices that cannot very easily become the precondition of production should therefore earn more attention from Western European dance and performance artists. They firstly overcome the artist’s psychological realm – the feeling of being politically incapable, of not having enough space for their ideas, resentment at unfair social treatment, etc. – and take place among people, in public, in media, on the street, at cultural events, on protests, blogs and online platforms, as actions, interventions, initiatives or simply doings as citizens. There is something in this externalization that may be politically empowering. Less than to “the inner life of the artist“, these practices – such as, for instance Everybody’s platform, ID_Frankfurt initiative, Nobody’s Business platform, a blog that discursively articulates recent performances, or a simple reading or discussion group – attend to creating public(s) and counterpublics. And this is what gives res (publica) to the otherwise alienated preindividual, whereby “reification is the only remedy to alienating dispossession” (Virno/Hirose 2006: 39). That is why the practice of externalization, of going out, should gain a special value on the list of performance practices. In the last instance, these publics seem to be the only environment where new subjectivities could emerge. This is so since alienation itself is not a personal and individual matter; “it is not a loss of what is most unique and personal but a loss of connection to what is most generic and shared” (Read 2011: 124). Performance practice as a type of activity, with its motives and agents, is rich in potential to operate on the level that traverses individuals and is capable of taking part in creating new, transformative collective or transindividual subjectivities. For that reason, we could criticize practices as they are, but shouldn’t drop from our hands the newly gained opportunity to nurture such an activity as a regular segment of our lives as artists-citizens. At least, it gives artists the chance to say that even if everything they create could be commodified, not everything they do is (alienated) labor – in post-Fordist societies.
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Künstlerische Praktiken des »Radikalen«. Das Beispiel der Performance Schönheitsabend E LISABETH L EOPOLD
D IE AUFFÜHRUNG : E IN » RADIKAL - GLAMOURÖSES B ÜHNENPAAR « 1 FEIERT EINEN S CHÖNHEITSABEND Exhibition, Furore und Aufruhr. Dem Dogma des eingeleiteten Schönheitsabends, wie er Anfang des 20. Jahrhunderts als Inszenierung der Nacktkultur2 zelebriert wurde, wird das Stück des Künstlerduos Florentina Holzinger und Vincent Riebeek nicht nur durch seinen Titel gerecht. Auch durch historische
1
Die Formulierung aus dem Zeitungsartikel lautet wie folgt: »[…] und wurden international auf Anhieb als radikal-glamouröses Bühnenpaar gefeiert« (Hager/Hofer: 2014). Bei dem hier angesprochenen Künstlerpaar handelt es sich um Florentina Holzinger und Vincent Riebeek. In den Pressebesprechungen zu und über ihre Stücke gelten ihnen oft Zuschreibungen wie »radikal«, »provokativ«, »Extrem-Performer«, »trashig«, »poppig« und »queer«.
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Schönheitsabende wurden, initiiert von Kurt Vanselow und benannt nach dessen Zeitschrift Die Schönheit, ab 1907 in Berlin und anderen Orten abgehalten. Generell lassen sich diese Abende der Lebensreform und der Nacktkultur zum Ende des 19. Jahrhunderts zuordnen. Die Organisator*innen nutzen Legitimierungsstrategien der Hinwendung zum Natürlichen und Sittlichen, um diese Abende durchführen zu können. Sie hatten aber auch Gegner innerhalb der Nacktkultur, die ihnen die sinnliche Inszenierung des nackten Körpers vorwarfen. Diese Inszenierungen ebneten als Bindeglied zwischen Nacktkultur und Theater mitunter den Weg zum nackten Körper auf der Bühne, nehmen aber bisher nur eine periphere Stellung in der Tanzgeschichte ein (Traub 2010: 86–93).
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Referenzen auf Künstler*innen wie Anita Berber und Vaslav Nijinsky3, in denen sie laut Pressetext »Vorläufer ihrer transgressiven Ästhetik entdeckt haben« 4 , finden sich in ihrer Zusammenarbeit durch »radikales exponieren« (Hager/Hofer 2014) nackter Körper und die (über-)dekorative Gestaltung des Bühnenraumes Wiedererkennungsaspekte der Schönheitsabende aus den 1910er/20er Jahren. Die Performance Schönheitsabend ist eine Auftragsarbeit des Tanzfonds Erbe – ein Fonds für künstlerische Projekte zum Kulturerbe Tanz – und eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes mit Uraufführung am Julius-Hans-Spiegel Zentrum in Freiburg; ein Ort, der sich als ein Projekt des Tanzfonds Erbe den oft verdrängten Exotismen der Tanzmoderne zuwendet. Die Verwendung von Referenzen zu außereuropäischen Körpertechniken, mit denen man in der Tanzmoderne versuchte, den Tanz zu revolutionieren, hat bis heute Auswirkungen auf dessen Entwicklungsgeschichte. Die Rahmung dieses Projekts, in dem das Künstlerduo zusammen mit drei weiteren Künstler*innen arbeitet, legt damit bereits eine spezifische Herangehensweise an Tanzgeschichte und den Prozess des Weiter- und Umschreibens dieser Geschichte nahe.5
3
Vaslav Nijinsky war einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der russischen Avantgarde und wurde zum Startänzer und später Choreograf des Ballet Russes, welches Anfang der 1920er Jahre in Paris unter Serge Diaghilev und dem Choreografen Michel Fokine durch seine besondere interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Designern, Musikern und Komponisten zu dem bedeutendsten Ensemble der Avantgarde wurde. Vaslav Nijinsky revolutionierte den Tanz und erreichte durch seinen Stil – das Hervorheben des Profils der Tänzer*innen in parallelem Stand, gebeugten Ellenbogen und Knien, Kopfrotationen und geflexten Handgelenken – einen Bekanntheitsgrad. Die Bekanntheit wuchs vor allem durch die vielbesprochene Aufführung von Le Sacre du Printemps (1913); siehe dazu auch Bellow 2013. Anita Berber, eine »skandalumwitterte« Nackttänzerin, gehörte zur tänzerischen und künstlerischen Avantgarde der 1920er Jahre in Berlin. Sie wurde durch ihre nacktdargebotenen Tänze, die sich mit Themen wie Drogensucht, Suizid, Wahn und Hoffnungslosigkeit auseinandersetzen, bekannt. Siehe dazu auch Traub 2010: 127–138; Wohler 2009: 146–159.
4
Pressemeldung der Kulturfabrik Kampnagel: www.kampnagel.de/de/programm/
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Siehe dazu auch die Projektbeschreibung des Julius-Hans-Spiegel-Zentrums auf der
schoenheitsabend (Zugriff 23.06.2016). Homepage des Tanzfonds Erbe: www.tanzfonds.de/projekt/dokumentation-2013/ julius-hans-spiegel-zentrum (Zugriff 17.03.2016).
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Die Seitenwände der Fabrikhalle auf Kampnagel in Hamburg werden an diesem Abend6 nicht verhangen, man erkennt ihre ursprüngliche Textur aus hellem Backstein. Die Bühnenrückseite ist allerdings von einer Art Leinwand bedeckt, auf der eine Säulenhalle aufgemalt ist. Sie erinnert an frühere Theaterkulissen. Auf dieser Abbildung einer antiken Säulenhalle befinden sich irritierende Gegenstände, beispielsweise Rolltreppen, ein Motorrad, ein Wasserbecken, ein Teppich, der eher wirkt als würde er der Biedermeierzeit entstammen. Im Zentrum des Bildes, weiter hinten in der Säulenhalle, steht eine Art Podest, das im Himmel zu schweben scheint und zu dem die Rolltreppen emporführen.7 Unter der Decke der Fabrikhalle hängt ein weißes Tuch, das links und rechts von der Bühne bis zum Boden herunter reicht. Es schlägt leichte Wellen, wirkt wie ein Himmelbett. Dahinter, links in der Bühnenecke, kann man einen weißen Flügel erkennen. In der Mitte der Bühne befindet sich eine Eisenstange wie ein umgekehrtes U auf einem kleinen Podest. Diese erinnert an eine Pole-DanceStange und bringt ein wenig die Stimmung eines »Nachtclub-Flairs« in den ansonsten romantisch-kitschigen Bühnenraum. Amelie Deuflhard, die künstlerische Leiterin der Kulturfabrik Kampnagel, stellt die Künstler*innen dem Publikum zu Beginn als »das provokanteste Tanz Duo Europas« vor und führt fortan in die drei Akte des Stückes thematisch ein. In diesen Akten, den Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase, widmet sich das Bühnenpaar pathetisch ausgeführten Tänzen mit Referenzen an die Ballett-Romanze Shéhérazade8, ein Liebes-Duett zwischen der Frau eines Sultans und ihrem Sklaven und zugleich der letzte Auftritt Vaslav Nijinskys, der 1919 in einem Schweizer Hotel stattfand, kurz bevor er in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde. In diesem, seinem letzten Solo, welches als Reenactement in den Tänzen des Grauens von den beiden Künstler*innen aufgenommen wird, saß er angeblich für sehr lange Zeit auf einem Stuhl, bis er schließlich aufstand und den Stuhl zerschlug (Holzinger/Riebeek 2015).
6
Die im Text enthaltenen Beschreibungen des Stückes beziehen sich auf den Besuch der Autorin der Aufführung am 21.08.2015 im Rahmen des Sommerfestivals auf Kampnagel, Hamburg. Es handelt sich dabei um ein Erinnerungsprotokoll, das nach dem Besuch der Aufführung erstellt wurde. Im Kontext dieses Aufsatzes soll es als bereits interpretative Sicht auf das Stück gelesen werden. Die Uraufführung fand am 15.03.2014 am Julius-Hans-Spiegel-Zentrum in Freiburg statt.
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Die beschriebene Hintergrundgrafik auf der Leinwand stammt von Joeri Woudstra.
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Ballets Russes 1910, Choreografie: Michel Fokine. In der Originalversion wurde der Einakter getanzt von Vaslav Nijinsky und Ida Rubenstein.
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Am Beispiel der Performance Schönheitsabend lassen sich auf mehreren Ebenen Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung mit dem Radikalen finden, denen dieser Text nachgeht. Ein erster Blick lässt diese Aushandlung in der Karikierung historischer Gesten und dem ungenierten Umgang mit diesen, im Explizieren sexueller Anspielungen, in der Nacktheit auf der Bühne gepaart mit dem Oszillieren zwischen intimen Szenen und öffentlicher Kunstpräsentation, vermuten. Dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass die Zuschauenden sich während der Performance Fragen nach dem privaten Verhältnis der beiden Performer*innen stellen sowie durch die oftmals dilettantisch anmutende Tanzsprache. All das dient zugleich den Kritiker*innen, dafür Zuschreibungen wie »Penetranter Dilettantismus« (Fischer 2015), »Schrill, vulgär und pornografisch« (Perez 2015), »österreichische Extremperformerin« und »radikal-glamourös« (Hager/Hofer 2014) in ihren Stückbesprechungen9 zu verwenden und in der Aufführung von Holzinger und Riebeek eine teilweise moralische und/oder ästhetische Überschreitung »normierten Bühnenverhaltens« zu erkennen. Im diskursiven Umgang mit der Aufführung lassen sich also Vorwürfe einer Unsittlichkeit beziehungsweise Empörung über Pornografisches oder Dilettantisches beobachten – obschon der Tatsache, dass sich die Notwendigkeit von Legitimationsstrategien für Nacktheit, Karikierung und dem Oszillieren von Privatem und Öffentlichem auf den Bühnen im US-amerikanischen und europäischen Kontext seit den 1920er Jahren und vor allem seit den 1960er Jahren weitgehend liberalisiert hat.10 In den Schönheitsabenden Anfang des 20. Jahrhunderts feierte man eine radikale Freiheit der Körper und rahmte diese durch glamouröse und elitäre Inszenierungen, an denen nur ausgewählte Personen teilnehmen durften. Die Theatertüren des Schönheitsabends von Holzinger und Riebeek sind für alle weit geöffnet, wenn sie sich an eine Neuerung der avantgardistischen Zugänge an den Körper und den Tanz wagen. Es drängt sich die Frage auf, inwieweit es sich hier um eine Auseinandersetzung mit der radikalen Freiheit des Körpers handelt. Kann man das Stück des Künstlerpaares gegenwärtig mit und als künstlerische Praktiken des Radikalen begreifen und beschreiben? Wie kann man das Verhält-
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Siehe dazu auch Grindlstrasser 2015: »Ihr Interesse am Erzählen von Geschichten, anhand derer das Publikum – hoffentlich, möglicherweise – Erfahrungen von Schock, Ekel und Faszination durchleben kann […]« und Ploebst 2015: »Und es führt dem Publikum vor Augen, wo es heute steht: Das Spiel der indirekten Erotik hat auf so gut wie allen Gesellschaftsebenen distanzloser Direktheit und damit blanker (eben auch im übertragenen Sinne) Pornografie Platz gemacht.«
10 Siehe dazu Traub 2010: 62–72, 359–366.
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nis von körperlichen und reflexiven Performance-Praktiken und einer kritischprovokativen »Intention« deuten? Kann man dies radikal nennen? Wenn ja, besteht hier das Radikale eher in der nachträglich diskursiven Verhandlung, in der Interpretation? Anhand dieser Fragen und ausgehend von diesem Performance-Beispiel untersucht der Text das Verhältnis von Praxis, Reflexivität und Interpretation in Tanz und Performance. Mit dem Sichten der Aufführung,11 dem Führen eines Interviews mit Holzinger und Riebeek12 zu ihren künstlerischen Probenpraktiken sowie der Analyse von Pressestimmen zum Schönheitsabend fließen unterschiedliche methodische Zugänge und Textmaterialien auf der Suche nach der Produktion des Radikalen im Folgenden immer wieder ineinander. So bedingen sich die Proben, die Aufführung und die Interpretation der Kritiker*innen innerhalb der Analyse stets gegenseitig. An dieser Stelle lassen sich Parallelen zur methodischen Herangehensweise einer »praxeologischen Produktionsanalyse« (Klein 2015) ausmachen, bei der nach Gabriele Klein der Herstellungsprozess und die Rezeption einer Aufführung bei der »Stückanalyse« mitbedacht werden. Der kulturelle wie soziale Kontext der Aufführung wird dabei in den Analyseprozess mit eingeschlossen. Den theoretischen Hintergrund liefert dabei ein praxistheoretischer Zugang im Anschluss an Theodore Schatzki und Andreas Reckwitz. Dieser wird durch das Hinzuziehen des Konzeptes des »Reflexiven« in den Handlungstheorien des französischen Pragmatismus, insbesondere in den Konzepten von Laurent Thévenot und Luc Boltanski, hinterfragt und erweitert. Durch diese theoretische Bezugnahme werden Beziehungen von Praxis, Reflexivität und Interpretation näher beleuchtet, um sie für die Performanceanalyse fruchtbar zu machen. Des Weiteren wird sich dem Begriff des Radikalen angenähert und versucht, Tendenzen, die eine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von künstlerischen Positionierungen beinhalten,13 mit dem Begriff des eindeutig-radikalen in Bezug zu setzen und auf die künstlerische Praxis des Künstlerpaares zu übertragen.
11 Siehe dazu Fußnote 6. 12 Die in diesem Text benutzen Inhalte in Bezug auf Künstleraussagen stammen aus einem nicht veröffentlichten Interview der Autorin mit Florentina Holzinger und Vincent Riebeek via Skype (Hamburg–Amsterdam) am 02.09.2015. 13 Der Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt in seinem Werk Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (1995) das Scheitern der Moderne am Versuch der Klarheit, Transparenz und Gleichheit im gesellschaftlichen Zusammenleben und dem Wandel zur Postmoderne, in der eine Akzeptanz der Vieldeutigkeit ein tolerantes Zu-
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D IE R ELEVANZ EINES PRAXISTHEORETISCHEN ANSATZES IN B EZUG AUF DAS ÄSTHETISCH R ADIKALE IM T ANZ Die Relevanz von Praxis hat sich seit dem practice turn in mehreren aktuellen Theorieansätzen und unterschiedlichen Disziplinen weiter durchgesetzt. Es stellt sich also die Frage, warum sich ein praxistheoretischer Zugang auch für die szenischen Künste im Allgemeinen und für den Tanz im Besonderen gut eignet. Hier tut sich zu allererst das Naheliegende auf, nämlich der Paradigmenwechsel im praxistheoretischen Ansatz, der den Körper in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, wie es auch in anderen Theorieansätzen beispielsweise in der Phänomenologie, der Fall ist. Die Praxistheorie verschärft aber zudem noch die Verortung des Sozialen – und Schatzki folgend damit auch der Kunst – in den Körpern und ihren Praktiken: »At a minimum, accordingly, approaching art through the concepts of practice theory is, first, conzeptualizing art as a matter of social practices or as rooted in them and, second, acknowledging the nonpropositional basis of the activities that make up these practices.« (Schatzki 2014: 18)
Das praxistheoretische Verständnis von sozialer Ordnung besteht darin, dass jede Ordnung durch kollektiv ausgeführte Praktiken in einem dynamischen Prozess erst hervorgebracht wird (Schatzki 1996, 2002; Reckwitz 2003). Analog dazu wird auch Kultur durch diesen praktischen Vollzug einerseits erst hervorgebracht und kommt darin andererseits zum Ausdruck (Husemann 2009: 29). Eine Tanzaufführung sowie eine Choreographie können diesem Gedanken folgend als
sammenleben erst ermöglicht. Eine solche theoretische Auseinandersetzung lässt sich nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Kunst, wo sich »ambigue Strukturen und ambivalente Rezeptionsweisen besonders deutlich artikulieren« (Krieger/Mader 2010: 9) beobachten. So erläutern Verena Krieger und Rachel Mader in ihrem Werk Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas (2010), dass vor allem künstlerischen Positionen der Vieldeutigkeit, Ambivalenzen, Unentschiedenheit und werkimmanente Widersprüche, eine Aktualität und Qualität attestiert wird. Hier lassen sich zwei kulturtheoretische Positionen erkennen, die entweder den Begriff der Ambivalenz ubiquitär für gegenwärtige gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten nutzen oder den ubiquitären Gebrauch des AmbivalenzBegriffs kritisieren. Hal Foster (1982) setzt sich in seinem bekannten Aufsatz »Against Pluralisme« kritisch mit diesen Tendenzen im Kunstkontext auseinander.
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ein sichtbares Vollziehen von künstlerischen Alltagspraktiken gesehen werden. Kultur und mit ihr auch soziale Verhältnisse werden in diesem Moment erst hervorgebracht, zum anderen aber auch als bestehende (Bühnen-)Konventionen (re-)aktualisiert. Sie zeigen sich als »stilisierte Praktiken, die als Konvention repräsentativen Charakter annehmen« (Hörning/Reuter 2004: 12). Das implizite, inkorporierte und kollektive Wissen14 wird in den ausgeführten Praktiken immer wieder (re-)aktualisiert und damit immer auch zu einem gewissen Grad variiert: »Die Körperlichkeit der Praktiken umfasst den Aspekt der Inkorporiertheit ebenso wie den der Performativität.« (Reckwitz 2004: 45) Dieser Aspekt betont eine situative Offenheit und postuliert die »Subversion, [d.h. das Potential, E.L.] der ständigen Durchbrechung eingespielter Routinen« (Reckwitz 2004: 46). Auch in den szenischen Künsten wird im Moment der Aufführung die Performativität der künstlerischen wie sozialen Praktiken und somit auch ihr prekärer Aufführungscharakter sichtbar. Überdies wird diese Prekarität und Prozesshaftigkeit auch bewusst künstlerisch eingesetzt. In der Arbeit von Holzinger und Riebeek wird das Sichtbar-Machen zum Kalkül, um die körperlichen Praktiken mit künstlerischen Mitteln zu bearbeiten.
14 Zum Begriff des impliziten Wissens bei Reckwitz: »Eine kognitive Strukturierung der Wirklichkeit in einer bestimmten Form praktischen Wissens legt Kriterien angemessenen, gleichförmigen Sichverhaltens nahe. Diese impliziten Kriterien, die nur aus der Beobachterperspektive in die Form eindeutiger ›kultureller Codes‹ gebracht werden können, setzen sich vor allem in drei miteinander verknüpften Formen um: in Schemata des Verstehens und der Interpretation […]; in script-förmigen Prozeduren kompetenten Sichverhaltens; schließlich in einem impliziten Sinn für in diesem Rahmen als gewollt und als zu vermeidend voraussetzbares Handeln.« (Reckwitz 2004: 44) Zum Begriff des inkorporierten Wissens: Ein Nexus aus Verhaltensroutinen baut auf dem praktischen Sinn und der Inkorporiertheit von Wissen auf, wobei das Subjekt »gleichzeitig unterschiedliche, heterogene, möglicherweise auch einander widersprechende Formen praktischen Wissens inkorporiert« (Reckwitz 2003: 296). Siehe dazu auch Bourdieu 1972, 1980, 1997 nach Reckwitz 2003, 2004.
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K ÜNSTLERISCHE P RAKTIKEN DES ÄSTHETISCH R ADIKALEN . Z UR E NTBLÖSSUNG VON E XOTISMEN Das Sichtbar-Machen als Kalkül inkludiert die Karikierung historischer Gesten, das Explizieren sexueller Anspielungen zusammen mit der Nacktheit auf der Bühne und das Oszillieren zwischen dem Intimen und Öffentlichen. Dies geschieht auch in der Performance, die zudem im Geiste der Spannungen des Privat- und Arbeitslebens von Künstlerpaaren wie Vaslav Nijinsky und Bronislava Nijinska oder Anita Berber und Sebastian Droste 15 getanzt wird. Laut Ulrike Traub war Berber »[…] die einzige Tänzerin dieser Zeit, welche triebhafte Sexualität und ihren nackten Körper bewusst auf eine hässliche Weise zeigt« (Traub 2010: 361). Anspielungen privater Spannungen und Erotisierung auf der Bühne finden sich um die Jahrhundertwende jedoch nicht nur bei den Nackttänzer*innen, wie Berber oder in den Varietés, sondern auch im Ausdruckstanz und sogar in Balletten, allerdings in anderer Art und Weise. In Balletten wie Shéhérazade (Urauffühung 1910), Le Corsaire (Uraufführung 1826) oder La Bayadere (Uraufführung 1845) wird eine Kontrastfigur der romantischen »Starballerina«, die als ungreifbares und mystisches Wesen inszeniert wird, entworfen. Dafür greifen diese Ballette die Idee einer »begehrten und erotisierten Fremde« auf, um an orientalisch-exotischen Schauplätzen, wie im Fall von Shéhérazade einem Harem, die Tänzer*innen als sinnlich und erotisch zu insze-
15 Bronislava Nijinska war die Schwester von Vaslav Nijinsky und ebenfalls Tänzerin und Choreografin. Sie tanzte und choreografierte unter anderem ebenfalls mit und für die Ballets Russes; siehe dazu auch Bellow 2013. Sebastian Droste war ein deutscher Tänzer, Lyriker und Schauspieler, der zusammen mit seiner Ehefrau Anita Berber, zu den skandalträchtigsten Künstlern der Weimarer Republik zählte und zudem zum einzigen Nackttänzer dieser Zeit, dessen Darbietungen überliefert sind. Sie kreierten zusammen einen Bühnenabend mit den Titeln: Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, (Uraufführung 1922), die Holzinger und Riebeek für die Bezeichnung der Akte ihrer Performance Schönheitsabend zitieren. Siehe dazu auch Traub 2010: 128 und Balk 1998: »Als in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bereits zahlreiche Tabus bis zur Nichtigkeit an Wirkung verloren hatten, war in Anita Berbers und Sebastian Drostes Programm Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase ihre SoloTanzdarstellung eines Rauschzustandes durch das titelgebende Cocain noch immer die skandalträchtigste Darbietung.« (Balk zitiert nach Wohler 2009: 113)
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nieren. 16 Auch der Ausdruckstanz – Beispiele sind die Tänzerinnen Ruth St. Dennis und Sent M’Ahesa (geborene Else von Carlsberg) – versucht sich in seiner Hoch-Zeit an einer idealisierten Vorstellung eines orientalischen Tanzes: »Man kann also mit Fug und Recht von einer Romantisierung des Orients durch den künstlerischen Orientalismus sprechen, die nicht zufällig zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert als ›naturnäherer‹ Gegenentwurf des Lebens entflammte.« (Wohler 2009: 123) Dem orientalischem Tanz wird – wenn auch umstritten – der Ursprung des Striptease nachgesagt, vor allem aufgrund seiner Zentrierung auf das Exhibitionieren der Körpermitte und seines interaktiven Charakters zwischen Tänzerin und Publikum. 17 Im Ballett und auch im Ausdruckstanz um die Jahrhundertwende wird die Exotisierung der Fremde als ein Idealbild einer entsexualisierten, unantastbaren und göttlich-naturgegebenen Sinnlichkeit dargestellt. Im Gegensatz dazu brechen avantgardistische (Nackt-) Tänzerinnen, wie Anita Berber oder auch Valeska Gert, mit diesen Exotismen mithilfe minimaler Überschreitungen ins Groteske.18 Einer Praxis des Exotisierens und Karikierens bedienen sich auch Holzinger und Riebeek. Das schlägt sich vor allem in der Auswahl der Kostüme – bauchfrei, mit Perlen bestickte Glitzeroberteile, Haremshosen, zahlreiche Armreifen, einem Turban ähnelnde Kopfbedeckungen – nieder. Daneben aber auch in der Bühnengestaltung – vor allem in ihrer Opulenz und Buntheit und in der Rahmung der Bühne durch Vorhänge, sowie in dem balletthaften, gymnastischakrobatischen Bewegungsmaterial. So führen sie beispielsweise Hebungen und Drehungen aus dem klassischen Tanz aus, verändern diese aber durch engeren Körperkontakt, durch nicht auswärts gehaltene Bein- und Hüftstellungen und übertriebene Mimik und Blickkontakt. Zudem werden akrobatische Elemente wie Überschläge eingebaut. Die orientalische Ballettästhetik wird immer wieder gebrochen, etwa durch die queere Erscheinung der beiden Performer*innen, beispielsweise tragen beide Make-Up und bauchfreie Bustiers und die Bewegungen
16 Siehe dazu auch die Beobachtung des Zeitgenossen Carl Van Vechten: »Carl Van Vechten, an American esthete, witnessing an early performance [d.h. Shéhérazade, E.L.], suggested that the ballerina dancing Zobeide, the Shah’s unfaithful concubine, was a suggestive picture of ›languorous lust‹ and Nijinsky, the legendary dancer, as the Golden Slave, engaged in ›most lascivious gestures‹« (zitiert nach Balanchine 1968: 152). 17 Siehe dazu auch Wohler 2009: 103–138. 18 Siehe dazu auch Foellmer 2006: 109–152; Traub 2010: 127–174; Wohler 2009: 146– 165.
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weisen keine männlich oder weiblich kodierten Merkmale auf, wie dies in einer klassischen Rollenaufteilung eines Ballettes wie Shéhérazade durchaus der Fall ist, in denen der Tänzer die Führung in Drehungen und Hebungen übernimmt. Vielmehr vermischen sich historische und genderspezifische Referenzen im Laufe der Aufführung auch durch die intimen Annäherungen, die bis zur tatsächlichen Penetration von Riebeek durch Holzinger mithilfe eines Strap-On’s führen. Zusätzlich passiert dieser Bruch mit einer Orientalismus-Exotik und einer kitschig-bunten Atmosphäre durch die trotzige und wütende Haltung der Performerin Holzinger, wobei sie sich teilweise gewaltvoll und widerständig in die Bewegungen hineinwirft, sowie durch den Einsatz von Objekten, wie dem aufschnallbaren Dildo, der Pole-Dance-Stange und dem Bondagematerial. Am Ende wird Riebeek von Holzinger an der Stange festgebunden und erst wieder für den Applaus befreit.19 Im ersten Akt, den Tänzen des Lasters der Performance Schönheitsabend, bedienen sich die beiden Tänzer*innen demnach einer Referenz und Bewegungssprache des klassischen, romantischen Balletts. Sie passen ihre Probenpraxis dementsprechend an und fügen dieser ein tägliches Ballett-Training hinzu, etablieren es als Routine20 für dieses Projekt. Eine solche Praxis variieren sie von Stück zu Stück, angefangen bei einer Yoga-Praxis (im zweiten Stück einer Trilogie von Holzinger und Riebeek: Wellness, Uraufführung 2013), über Boxtraining (Solo Holzinger: Recovery, Uraufführung 2015) zu Pole Dance (Schönheitsabend, Uraufführung 2014) und ziehen diese für die Wiederaufnahmen der Stücke auch immer wieder heran. Dabei spielen sie unter anderem mit einer DeProfessionalisierung des Tanzes, indem sie das schnelle Aneignen mit Hilfe neuer Medien einem langen Prozess des professionellen Erlernens und einer langjährigen Schüler*innen-Lehrer*innen-Beziehung gegenüberstellen. Sie bedienen
19 Hier gab es Abweichungen in unterschiedlichen Aufführungen, die einerseits die trotzige Haltung der Performerin unterstreichen und andererseits auf den ephemeren Charakter der Aufführungen verweisen. In einer Kritik wird erwähnt, Holzinger habe ohne Riebeek loszubinden die Bühne vorzeitig verlassen und kam auch nicht zum Applaus wieder. Vincent musste daraufhin von einem Techniker losgebunden werden. Siehe dazu Fischer 2015. 20 Der Begriff der Routine wird hier gewählt, um das Merkmal der Repetitivität an ausgewählten Stellen im Text hervorzuheben. So soll die Routinisiertheit von Praktiken für die Argumentation betont werden statt deren Unberechenbarkeit. Repetitive Praktiken bilden Routinekomplexe oder einen Nexus aus Routinen. Siehe dazu auch Reckwitz 2003, 2004.
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sich dafür eines aktuellen, vor allem popkulturell verbreiteten Trends, über YouTube-Tutorials Tanz, Yoga oder Boxen zu lernen: »The idea of transforming yourself in a very short time which is super hyped in the society, also […] change yourself, transform in super short time, […] tomorrow you can be something completely different than you were the day before.« (Holzinger/Riebeek 2015) Für jedes Projekt werden also ausgesuchte Praxen, wie Yoga, Boxen oder Ballett neu oder wieder erlernt und routinisiert. Hierbei ist das den beiden Tänzerkörpern inkorporierte und implizite Wissen einer absolvierten zeitgenössischen Tanzausbildung zu berücksichtigen, das zwar nicht die Schwerpunkte der jeweiligen oben erwähnten Praxen – Yoga, Boxen, Pole Dance – aufweist, aber dennoch die gegebenen körperlichen Voraussetzungen dafür unterstreicht. Die sehr rigide, extreme Form und Kontinuität des Ballett-Trainings bei den Proben zu Schönheitsabend war für die Körper der Künstler*innen unüblich und verändert nach und nach deren physische Gegebenheiten. So spricht Riebeek von der Auswärtsdrehung der Hüften, die sich durch das Balletttraining verbessert und der eine Yoga-Praxis wiederum entgegenwirkt (Holzinger/Riebeek 2015). Jedoch versuchen sie an dieser Stelle auch, nicht die Perfektion einer Balletttänzer*in zu erreichen, sondern gerade andere Möglichkeiten des Ausdruckes zu finden, die eine Wertschätzung des Publikums jenseits fehlender Perfektion erlaubt. Auch die (über-)dekorierte Bühne als klare Referenz zum Ballett spielt hierbei eine ergänzende Rolle. Das Künstlerpaar (re-)aktualisiert demnach für jedes Projekt die Praxis und macht in den Stücken diese auch als solche sichtbar. In der Aufführung der Tänze des Lasters mit der Referenz zu Shéhérazade wird die Performativität der Ballettpraxis als künstlerisches Kalkül genutzt, um die normative Ballettästhetik herauszustellen und gleichzeitig legen sie damit den prekären Aufführungscharakter offen. Dies zeigt sich durch die mitschwingende technische Imperfektion, die dilettantische Realisation, das übertriebene Bühnenund Kostümdekor und die extremen Gesichtsausdrücke. Die Proben- und Aufführungspraktiken stehen dabei in unmittelbarer Abhängigkeit zu den Körpern, zu deren Routinisiertheit ebenso wie zu deren Unberechenbarkeit. Und sie stehen in Abhängigkeit zu Artefakten, zu der Bühne und zu den Kostümen, die das Spiel mit der Illusion eines romantischen Balletts unterstützen. Dazu gehören beispielsweise der weiße Flügel im Hintergrund, der an einer Stelle mit klassischer Musik bespielt wird, und der Vorhang, der die Bühne rahmt. Artefakte gefährden aber ebenso zum Teil die romantische Illusion, wie im Falle des Hintergrundes mit Abbildungen von Motorrädern und Rolltreppen und die Pole-DanceStange in der Mitte der Bühne.
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I NSTABILITÄT UND S TABILITÄT – K ÜNSTLERISCHE P RAKTIKEN DES I N - STABILISIERENS Mit diesem Gedanken werden bereits leitende Grundannahmen einer Praxistheorie tangiert, nämlich erstens die Materialität sozialer wie auch künstlerischer Praktiken, also die Abhängigkeit der Praktiken von Körpern und Artefakten, zweitens die Routine und gleichzeitige Unberechenbarkeit und drittens die »implizite« und »informelle« Logik der Praxis (Reckwitz 2003: 289ff.): »Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges ›knowing that‹ oder als rein kognitives Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikation, sondern als ein praktisches Wissen, ein Können ein ›Know how‹, ein Konglomerat von Alltagstechniken ein praktisches Verstehen im Sinne eines ›Sich auf etwas verstehen‹.« (Reckwitz 2003: 289)
Durch die eher routinisierten als instabilen Aspekte der Praktiken entsteht und (re-)akualisiert sich Ordnung. Aber hier ist auch immer schon das Prekäre und Instabile mit eingeschrieben, das den Praxis-Begriff in seiner ganzen Ambivalenz mitbestimmt (Schäfer 2013: 49ff.). Auch am Beispiel von Holzinger und Riebeek zeigt sich anhand einer für jedes Projekt immer neu etablierten sowie dadurch wiederum gebrochenen Routinisiertheit der Praktiken ein solches ambivalentes Verhältnis. Ein Wechsel der körperlichen Praktiken der Probe für jedes Projekt wirkt (re-)aktualisierend und zugleich in-stabilisierend. Gleichzeitig wird aber gerade diese Art, einen kreativen Schaffensprozess anzugehen, zu einem stabilisierenden, vorhersehbaren Aspekt in der künstlerischen Arbeit. Die Instabilität in der Praxis selbst wird dadurch betont. In diesem ambivalenten Verhältnis von gleichzeitiger Stabilität und Instabilität, Routinisiertheit und Störung, scheinen auch die potentiellen Möglichkeiten für Veränderungen, für politische und/oder kritische Praktiken zu liegen. Vor allem die von Hilmar Schäfer (2013) postulierte Instabilität der Praxis rückt damit in den Fokus einer Untersuchung, die sich die Verortung von aufrüttelnden und de-stabilisierenden Provokationen oder dem Radikalen, zur Aufgabe gemacht hat. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, ob die Instabilität, die dem Praxisbegriff inhärent ist, möglicher Ausgangspunkt und infolgedessen auch Strategie einer engagierten, künstlerischen Praxis sein kann. So kann man in der Arbeitsweise der beiden Künstler*innen nicht nur diesen, der Praxis inhärenten Moment der Instabilität beobachten, sondern eine strategische Praxis des In-stabilisierens nachzeichnen.
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Das Künstlerduo wechselt sich im zweiten Akt des Stückes, den Tänzen des Grauens, in dem das letzte Solo Nijinskys wiederaufgeführt wird, bei jeder Vorstellung ab. Wer von den Tänzer*innen auf dem Stuhl sitzt und diesen anschließend zerstört, variiert demnach von Performance zu Performance und wird kurzfristig entschieden. Das geschieht auch aus dem Grund, dass während des Probenprozesses und in den meisten der Aufführungen für diesen Teil des Stückes das Rauchen einer bestimmten Droge als eine Strategie des In-stabilisierens zum Einsatz kommt, als eine Möglichkeit, die »Verrücktheit« Nijinskys zu inszenieren. Riebeek beschreibt diesen Moment der Wirkung der Droge als einen, in dem die Sinne aufnahmefähig sind und man auf alles in der Umwelt reagiert, aber der Übersetzungsprozess zum Gehirn auf eine Art unterbrochen wird, die einen Zustand des »Weggetreten-Seins« hervorruft (Holzinger/Riebeek 2015). Nach ungefähr fünf Minuten erlebt man eine Art Rückkehr in die gegenwärtige (Bühnen-)Situation. Aufgrund der Modalitäten, dass die Stücke oft gespielt und das Künstlerduo dafür sehr viel reist beziehungsweise mehrere Stücke zugleich geprobt werden, kann diese Praxis, die hier als eine des In-Stabilisierens bezeichnet wird, zwar nicht durchgehend umgesetzt werden, sie bildet aber dennoch einen Hauptaspekt des künstlerischen Prozesses. Schönheitsabend bietet damit einen möglichen theoretischen Anknüpfungspunkt, um nachträgliche Zuschreibungen und das vermeintlich Provokative und Radikale in diesen Praktiken des In-stabilisierens zu verorten. In den Praktiken der Entblößung, Karikierung und Verfremdung des historischen Materials, aber auch im Exponieren, Explizieren und Penetrieren von Körpern, die sich in einem notgedrungen fragilen Zustand dem Publikum preisgeben sowie zuletzt im Zeigen von Dilettantismus im Tanz lässt sich das Radikale im Sinne einer Grenzüberschreitung von sozialen und ästhetischen Bühnenkonventionen vermuten. Im Zuge dessen werden zwar einerseits aktuelle Bühnenkonventionen durch die oben genannten Grenzüberschreitungen und Praktiken des In-stabilisierens von Holzinger und Riebeek unterlaufen. Andererseits werden von ihnen aber auch zahlreiche vorherrschende Bühnenkonventionen eingehalten – die Rahmung des Stückes in einem Theater mit konventioneller Publikumssituation, eine zuvor angekündigte Einteilung in drei Akte, der Einsatz von Musik, um nur einige wenige zu nennen – und durch ihre Aufführungspraktiken (re-)aktualisiert und zum Ausdruck gebracht. Dem Radikalen wird hier kein ontologischer Status, der aus einer vordiskursiven Wirklichkeit schöpft, zugesprochen. Das Radikal-Sein wird als situatives Ergebnis der performativen Inszenierung »erfolgreich« als ein radikales Phänomen dargestellt/interpretiert beziehungsweise von Holzinger und Riebeek, wie sich im Folgenden zeigen wird, wieder als ein Konstrukt des Radikalen entlarvt.
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Um auf die Frage nach dem Verhältnis von körperlichen und reflexiven Performance-Praktiken und einer kritisch-provokativen »Intention« beziehungsweise Interpretation des Radikalen zurückzukommen, muss zuvor eine Begriffsklärung des Radikalen und darauf aufbauend zur Praktiken des Radikalen stattfinden.
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MIGHT STILL BE RADICAL ? KÜNSTLERISCHER P RAKTIKEN
– Z UR R ADIKALITÄT
Überzeugung, unbedingter Einsatz, Entwurzelung21, Auflösung von bestehender Ordnung und konstitutivem Sinn – ein radikaler Akt, eine radikale Praxis der Entwurzelung ästhetischer, sozialer und kultureller Codes? Der Begriff des Radikalen wird im kulturtheoretischen, wie auch im künstlerischen und gesellschaftlichen Kontext aktuell inflationär22 gebraucht und mit Begriffen wie kritisch und extrem durchmischt. Nach einer Avant- und Neo-Avantgarde in den Künsten wird der Begriff radikal im heutigen Zeitalter des Neoliberalismus, in welchem man, so Slavoj Žižek, die Sprache verloren habe, seine eigene Unfreiheit zu artikulieren (Žižek 2002: 2) als nicht mehr zutreffend und zu einer Anmaßung erklärt. Das Radikale verliert seinen »Gegenstand« zur Entwurzelung in einer Zeit, in welcher, so Nicolas Bourriaud, wir weder über eine imaginäre Form noch über einen Begriff verfügen, um den Neubeginn zu denken (Bourriaud 2009: 48). Auch Helmut Draxler fragt sich daran anschließend: »Wie kön-
21 Die Verwendung des Begriffes der Entwurzelung wird auf die etymologische Herkunft des Begriffes radikal, auf das lateinische radix – die Wurzel – zurückgeführt. Siehe dazu auch Bourriaud 2009: 21–61. 22 Ein inflationärer Gebrauch zeigt sich zum einen im Aufkommen des Begriffes im Zuge aktueller Nachrichten in Verbindung mit Terrorismus, Rechtspopulismus, Nationalismus und Radikalisierung. Siehe dazu auch Gabriele Fischer: »Es ist schon seltsam, welche Karieren manche Worte machen. In den siebziger Jahren war das Wort ›radikal‹ so übel beleumundet, dass sich Alice Schwarzer von der selbst gewählten Bezeichnung als Radikalistin lieber wieder verabschiedet hat. Und heute, hat Wolf Lotter in seiner Auseinandersetzung mit dem ›Wurzelziehen‹ herausgegoogelt, verwendet Gerhard Schröder das Wort so gern, dass es gleich 15 700-mal im Zusammenhang mit seinem Namen erscheint. Edmund Stoiber bringt es immer noch auf 7 500 radikale Kombinationen. Radikal ist in.« (Fischer 2007: 4) Zum anderen zeigt er sich in Diskursen der Kunst- und Kulturtheorie und Kritik. Siehe dazu auch Bourriaud 2009; Hoffmann-Axthelm 2013, Mader 2014.
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nen wir […] politische und wohl auch ästhetische Entscheidungen treffen hinsichtlich einer möglichst eindeutigen Positionierung, eines Willens zur Veränderung oder einer symbolischen Prägnanz, obwohl wir ständig in vielfältige Ambivalenzen verstrickt sind?« (Draxler 2014: 20) Welche Möglichkeiten haben demnach szenische Künste – insbesondere der zeitgenössische Tanz – in einer Zeit, in der auch die Kunst dem Neoliberalismus unterworfen ist, etwas Radikales zu produzieren, radikal zu sein? Zunächst kann man feststellen, dass die Etymologie des Wortes radikal und seine interdisziplinären Verzweigungen und unterschiedlichen Kontextualisierungen ein weites Feld öffnen, das in diesem Beitrag nicht vollständig verhandelt werden kann. Ein Verständnis von Radikal-Sein als eine auf Eskalation angelegte Opferung des eigenen und des Lebens Anderer für eine Idee oder eine Ideologie (Hoffmann-Axthelm 2013: 13) würde auf das Performancebeispiel Schönheitsabend nicht zutreffen. Würde man den Begriff dabei ernst nehmen, ginge es um »[…] dasjenige individuelle Schicksal, das sich anders als über den radikalen Bruch nicht zu helfen weiß« (ebd.: 14). Das Vermittlungslose, Subjektive und zugleich aber auch Kollektive, sowie das Eindeutige radikaler sozialer und politischer Praxis – deren fassungslose Kompromisslosigkeit des Öfteren den negativen Ruf einer radikalen Einstellung evoziert (Fischer 2015) – steht für die Performance-Analyse nicht im Vordergrund. Vielmehr bezieht sich radikal in der Performance-Kunst auf eine ästhetische, sozial-kulturelle und provokativradikale Wirkung einer Performance. Diese hebt vor allem künstlerische Praktiken des Radikalen hervor, deren Fokus eine ambivalente Ausrichtung erfährt,23 verstanden als eine künstlerisch-strategische Praxis, die das Spiel von Stabilität und Instabilität von Proben- und Aufführungspraktiken aufgreift. Diese Ambivalenz wird künstlerisch-strategisch eingesetzt, indem jede ästhetische (Stil-) Verankerung – beispielsweise durch Karikierung der benutzten Referenzen oder »pornografische« Grenzüberschreitungen – vermieden und damit das Radikale, im »ursprünglichen« Sinne des philosophischen Konzeptes einer Eindeutigkeit untergraben, sowie als Vorgehensweise auch selbst-reflektierend ausgestellt wird (Bourriaud 2009: 9). Eine diskursive und ästhetische Verwendung des Begriffes radikal kann sich demnach zum einen auf die hier beschriebenen körperlichen Praktiken der Überschreitung intimer, körperlicher Grenzen, der Bewegungssprachen zwischen Dilettantismus und Perfektion und der Karikierung historischer Referenzen beziehen. Zum anderen aber auch auf die reflexiven Praktiken der strategischen Entscheidung der Künstler*innen, das Label radikal zu ver-
23 Siehe dazu auch Mader 2014.
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wenden und die Interpretation der Kritiker*innen damit in Teilen vorwegzunehmen und auch vorzugeben. Vor allem dieses Verhältnis und Zusammenspiel der körperlichen und reflexiven Praktiken und deren inhärente und eingesetzte Ambivalenzen erweisen sich dabei als fruchtbar. Die Performance Schönheitsabend stammt von einem Künstlerduo, welches das Label des Provokativen und Radikalen sowohl diskursiv zugeschrieben bekommt als auch selbst (be-)nutzt. Ausgehend von ihrer ersten gemeinsamen Produktion Kein Applaus für Scheiße (Uraufführung 2011), einer Studienabschlussarbeit der Amsterdamer School for New Dance Development, wurde diese Zuschreibung von dem Künstlerpaar selbst initiiert und im Folgenden zusätzlich von anderen Kritiker*innen weiterverwendet und etabliert.24 In Schönheitsabend wird diese Zuschreibung dann künstlerisch-strategisch und »verwertungstauglich« eingesetzt und ironisch reflektiert, wenn sie sich von der Intendantin als »das provokanteste Tanz Duo Europas« vorstellen lassen. Das Künstlerpaar selbst spielt hier demnach vor allem mit der Wirkung ihrer Performance sowie mit den Ambivalenzen der parodierenden, laienhaften Darstellung einer konventionellen Tanztechnik, wie dem Ballett, oder der Auswahl historischer Referenzen, wie die Anspielungen auf Shéhérazade und Nijinskys Solo, welche in den 1920er Jahren als provokativ und radikal wahrgenommen wurden. In ihrer eigenen künstlerischen Praxis geschieht eine solche Aneignung zwar ohne den Anspruch auf Korrektheit gegenüber den historischen Vorbildern, aber auch ohne die Intention, zu schockieren und zu provozieren, also radikal zu sein: »[…] we were exactly invited there because the people that started this archive they recognized in our work that we do this a lot, appropriation, that we take something from somewhere else and we somehow only take from it what we like without being, being correct towards where it comes from.« (Holzinger/Riebeek 2015) Der Anspruch des Künstlerduos besteht vielmehr darin, das Publikum dazu zu bringen, ein »schlecht getanztes« Ballett oder eine Penetration auf der Bühne nicht als schockierend wahrzunehmen, auch wenn die Stückankündigungen diese Lesart zum Teil vorgeben: »We are not setting out to make anything shocking, or radical, or provocative when we are making it. […] when I’m thinking about material, it’s like, how can I present in a way that it becomes something that you want to watch and that you can accept.« (Holzinger/Riebeek 2015) Hierbei tritt klar eine Differenz aber auch eine Ambivalenz zwischen der eigenen
24 Das Etikett »Europa’s most provocative dance couple« wurde von Joachim Kapuy (Presse und Marketing Impulstanz Festival Wien) im Auftrag von Holzinger und Riebeek verbreitet.
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künstlerischen Praxis und der Wirkung der Performance einerseits und den interpretativen Praktiken der Kritiker*innen andererseits hervor. Denn es wird hier deutlich, dass das Intentionale (die eigene Arbeit als radikal labeln) und die eigene reflexive Praxis (nicht vorzuhaben zu schockieren und zu provozieren) nicht klar voneinander zu trennen sind, sondern im Verhältnis zueinander stehen und als Teil der künstlerischen Praxis verstanden werden müssen. Vor allem bei Performances mit aufrüttelnden und destabilisierenden Wirkungen und Zuschreibungen wie provokativ und radikal tritt ein solcher Zusammenhang klar hervor. Infolgedessen sollten Intention und Reflexivität als Teil künstlerischer Praxis sowie die Wirkung und Deutung einer Performance in den wissenschaftlichen Analyseprozess von Tanz und Performance miteinbezogen werden. Diese Forderung lässt sich auf alle Strategien künstlerischer Praxis ausweiten, da sie auf eine reflexive Dimension der körperlichen Praxis und deren interpretative Ebene hinweisen. Jüngere praxistheoretische Positionen, wie beispielsweise diejenige von Schäfer (2012, 2013), forcieren das Dynamische, Prozesshafte und somit eine Flexibilität und Veränderbarkeit von Praxis. Schäfer fordert die Aufhebung eines Dualismus von Stabilität und Instabilität und eine Zurückweisung der Dichotomien zwischen Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Innen und Außen sowie Körper und Geist. Damit betont er die relationalen Strukturen von Situationen, die Verhältnismäßigkeit von Praxis und Reflexivität (Schäfer 2012). Viele Praxistheorien unterschätzen durch die ausschließliche Betonung der körperlichen und präreflexiven Dimension die aktiven und reflexivdistanzierten Kompetenzen gegenüber künstlerischen Lebensbezügen des menschlichen Handelns (Bongaerts 2007; Schulz-Schaeffer 2010).
Z UM V ERHÄLTNIS I NTERPRETATION
VON
P RAXIS , R EFLEXIVITÄT
UND
Die Problematik eines praxistheoretischen Zugangs zu künstlerischen Praktiken des Radikalen in Tanz und Performance besteht in der vernachlässigten Verbindung zu reflexiven Praktiken und zur Intention. Diese macht Thévenot zum Schwerpunkt seiner Untersuchung: »One must also take into account figures of action which, beyond showing habit and the body, point towards intention and plans, or towards forms of activity that require reflective argumentation.« (Thévenot 2001: 57) Gregor Bongaerts (2007) und Ingo Schulz-Schaeffer (2010) üben ebenfalls Kritik an der zentralen Stellung des Routinebegriffs und des impliziten Wissens und Könnens in der Praxistheorie. Sie kritisieren eine terminologische Unschärfe der Abgrenzung der Tätigkeitsmodi zu den Handlungstheo-
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rien. Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass die Praxistheorie um ein umfassenderes Verständnis der sinnhaften Orientierung von Akteur*innen erweitert werden muss. Denn es käme auch bewusstes Handeln vor, welches – auch wenn es nicht den primären Modus sozialer Praxis bilde – dennoch integriert werden müsse (Bongaerts 2007; Schulz-Schaeffer 2010). Daraus folgt, wie bereits beschrieben, dass jede Möglichkeit von Praktiken des Radikalen in zeitgenössischem Tanz und Performance in den körperlichen, wie auch reflexiven Praktiken vorhanden ist. Denn eine Durchbrechung, Entwurzelung der vorherrschenden sozialen und theatralen Konvention und das Einsetzen und Ausstellen einer radikalen Ambivalenz betont die Notwendigkeit des Einbezuges einer intentionalen Reflexivität. Den praxistheoretischen Zugang um eine Perspektive des französischen Pragmatismus zu erweitern, die nach Boltanski und Thévenot (2014) verschiedene Formen des Engagements des Handelnden in seinen Regimen der Rechtfertigung miteinbezieht, könnte hierbei ein wichtiges ergänzendes Analysewerkzeug für Tanz und Performance sein. Denn im Zentrum der Überlegungen zur »Pluralität persönlichen Engagements«25 (Thévenot 2011: 231ff.) steht das reflektierende kritische Urteil und die Wertschätzung sozialer sowie künstlerischer Akteur*innen, die als »aktive Handelnde« (acteurs) und nicht als »passive Handlungsträger« (agents) gesehen werden (Bongaerts 2013: 133). Dennoch wird das dynamische Verhältnis zwischen Reflexivität und Praxis, Mensch und Umwelt stärker ins Zentrum gerückt als das menschliche Handeln selbst. Eine Situation wird demnach als Nexus, Organisation von Kompromissen und Relationen gesehen (Thévenot 2011: 233ff.). Die Instabilität der Praxis, das Prekäre und Offene dieser Unberechenbarkeit, die in die routinisierte Handlung ebenso wie deren Stabilität eingelagert ist, soll grundsätzlich auch von ihrer intentionalen und reflexiven Dimension aus gedacht werden, um die Möglichkeiten von Engagement
25 Ein Involviert-Sein in sozialen Situationen bedeutet für Thévenot nicht ausschließlich einen Bezug zur Umwelt, sondern postuliert auch eine gewisse Abhängigkeit zu dieser. Ziel eines Engagiert-Seins ist es, diese Abhängigkeit zur Welt in ein Machtverhältnis zu transformieren, welches es ermöglicht, einen Handlungsspielraum des Subjekts zu eröffnen und damit Engagement möglich zu machen. Für verschiedene Stufen oder Ausformungen dieses Engagements benutzt Thévenot den Begriff der pluralen Regime. Jeder dieser verschiedenen Ausformungen wird dabei ein gewisser Grad an Reflexivität zugesprochen, der die Art und Weise des Engagements mitbestimmt. Siehe dazu auch Thévenot 2001, 2011.
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miteinzubeziehen. Das widerspricht zum Teil den Ansätzen von Reckwitz, wenn er schreibt: »Entscheidend ist, dass sich diese relative ›Offenheit‹ der Praxis für die Praxistheorie nicht aus vorgängigen, allgemeingültigen Eigenschaften des ›Subjekts‹ (oder der Gemeinschaft von Subjekten) ergibt, nicht aus einer subjektiven ›Freiheit‹ und ›Autonomie‹ ›hinter‹ dem Sozialen der Praktiken und nicht aus einer subjektiven oder intersubjektiven ›Reflexivität‹ oder einem individuellen ›Eigeninteresse‹, die die Praktiken außer Kraft zu setzen vermögen.« (Reckwitz 2003: 294)
Selbst wenn Engagement unter keinen Umständen meint, Praktiken außer Kraft zu setzen und auch keine subjektive Autonomie hinter dem Sozialen der Praktiken vermutet, so wird mit Engagement trotzdem eine subjektive Freiheit und ein individuelles Eigeninteresse innerhalb des Sozialen der Praktiken postuliert und somit auch ein Einfluss auf diese. Die praxistheoretische Perspektive vernachlässigt entscheidende Aspekte einer »Formung von Engagement« (Thévenot 2011), die hier zusätzlich am Werk ist. Dies bedeutet nicht, die Intentionalität in künstlerischen Praktiken mit einem intentionalen Verständnis des Sozialen gleichzusetzen, wie es in Handlungstheorien oder dem Mentalismus gebraucht wird. Die Problematik, die sich in praxistheoretischen Ansätzen jedoch auftut, bezieht sich auf eine nicht explizit postulierte Handlungsfähigkeit des künstlerischen Individuums. Daraus resultiert die Annahme einer Unmöglichkeit von Verantwortung und Engagement in künstlerischen Praktiken: »Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹, ›anleitet‹.« (Reckwitz 2003: 293) Zwar wird der Fokus auf Routine in praxistheoretischen Konzepten bereits von mehreren Positionen aus kritisiert oder deutlich vorsichtiger gehandhabt, wie beispielsweise auch von Schatzki, der davon spricht, dass Absichten, Ziele und Einstellungen der Individuen prägend für deren sinnhaftes Verhalten sind (Schatzki 2002: 75). Dies ändert aber nichts an der praxistheoretischen Grundannahme, dass Praktiken durch Schemata impliziten Wissens und Könnens geprägt sind und Rechtfertigungen außen vor lassen. Gleichzeitig verstehen Praxistheoretiker*innen Praxis als ein Bündel von Aktivitäten und das inkorporierte Wissen nicht als eines einzelner Personen, sondern inkorporiert in den Praktiken selbst oder in einer Vielzahl von Körpern – dies gilt auch für künstlerische Praktiken (Schatzki 2015: 23ff.). Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass individuelle Ziele, Intentionen und Entscheidungen zwar durch Subjekte in eine Situation hineingebracht werden können, wie diese dann aber innerhalb situationaler Relationen verhandelt wer-
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den – wie in einer Bühnensituation oder einem Tanzstück ist immer schon normierten Praktiken der Aus- und Verhandlung unterworfen. Ingo SchulzSchaeffer fordert deshalb, »[…] intentionale und dispositionale Gesichtspunkte als einander ergänzende Aspekte der handlungspraktischen Orientierung von Akteuren zu betrachten und nicht als einander widersprechende Orientierungsprinzipien« (Schulz-Schaeffer 2010: 335). Dies scheint vor allem im Hinblick auf künstlerische Praktiken und Probenprozesse ertragreich, was auch das Beispiel des Schönheitsabends zeigt. In dem von der Autorin geführten Interview sprechen Holzinger und Riebeek über diverse Visionen und Herangehensweisen in dem Probenprozess, die sie in der Studio-Situation aus- und verhandeln müssen. Dies funktioniert für die beiden anfangs über Diskussionen, dann über körperliche Prozesse des Ausprobierens, also über das Tun: »Once we kind of tried to go into practice we have like super catastrophic abilities to talk about the work, about what we are doing or trying to do […]. I do feel, certain things, especially content wise, we don’t need to talk about it we can work through it physically.« (Holzinger/Riebeek 2015)
Im Laufe eines Probenprozesses werden also aktive, reflexiv-distanzierte und intentionale Dimensionen miteinbezogen, um die gesamte Komplexität einer Probensituation zu erfassen und sich selbst in ihrem Engagement ernst zu nehmen, ohne dabei jedoch die sozialen, inkorporierten Praktiken und deren (Re-) Aktualisierungen außen vor zu lassen. Neben Intentionen ist ein weiterer Aspekt bei einem praxistheoretischen Zugang zu künstlerischen Praktiken des Radikalen wichtig: das Verhältnis von Praxis und Interpretation. Es ist notwendig, eine Einbettung von Praktiken in die soziale Wirklichkeit, in die relationale Struktur (Thévenot 2001: 59) vorzunehmen. Denn vor allem in Bezug auf künstlerische Praktiken des Radikalen ist die Rezeption und Deutung wichtig. Schönheitsabend zeigt, dass die Relation zwischen Praktiken des Radikalen und die Deutung dieser Praktiken als radikal nicht klar voneinander zu trennen ist. Sie stehen stets im Verhältnis zueinander. Die Gefahr besteht jedoch darin, das Verhältnis von ästhetischen Praktiken und diskursiven Praktiken als miteinander in Beziehung stehendes Geflecht wahrzunehmen, jedoch ihre Differenzen und Abweichungen voneinander zu vernachlässigen. Die Relation von Reflexivität und Praxis sowie von Praxis und Interpretation – wirkt sich demnach auf die künstlerischen Praktiken selbst und auf deren Analyse aus. Um einerseits radikale und kritische Strategien in künstlerische Praktiken ein-
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fließen zu lassen und um diese andererseits zu untersuchen und zu analysieren, ist ein Bewusstsein über diese Relationen, die hier als zirkuläre Aushandlungsprozesse verstanden werden, nötig. Daraus folgt, dass das Radikale und das Kritische einer künstlerischen Praxis nicht ausschließlich in reflexiven und körperlichen Praktiken wie etwa des Intendierens, Recherchierens, Ausprobierens, Choreographierens, Aufführens zu verorten sind, sondern auch und vor allem in rezeptiven und nachträglichen Praktiken des Zuschauens, Interpretierens und Diskutierens: »Je ambiguer und indifferenter künstlerische Kritik auftritt, desto wichtiger werden die Interpreten – erst durch ihre Aktivität wird solchen Formen künstlerischer Praxis ein kritischer Moment eingeschrieben.« (Krieger 2014:55) Verena Krieger lenkt die Aufmerksamkeit auf die Interpretation kritischer Momente in künstlerischen Praktiken. Dennoch ist der Hinweis, dass ausschließlich durch die Aktivität der Interpret*innen künstlerische Kritik aufscheint, unzureichend und einseitig. Dies würde nicht nur die kritische Potentialität der reflexiven und künstlerischen Praktiken selbst als Praktiken des In-stabilisierens und/oder des Radikalen ignorieren. Es würde auch die Praktiken der Interpretation auf einzelne handelnde Akteur*innen lenken und nicht, wie dieser Text postuliert, auf das Verhältnis und die strukturellen Relationen, also auf eine Aushandlung zwischen Probenprozess, Bühnenereignis und deren Rezeption und Deutung. Außerdem widerspricht diese kontinuierliche Aushandlung und deren Zirkularität einer linearen Reihenfolge von Intention – Praxis – Interpretation. Das, was als radikal angenommen wird, lässt sich demnach nur in den Relationen und zirkulären Aushandlungen zwischen intentional-reflexiven und körperlichen Praktiken und deren Interpretation finden. Vor allem aber auch in Abhängigkeit zu einem situativ performativen Erscheinen des Radikalen, im Gegensatz zu einem ontologischen Status.
D ER S CHÖNHEITSABEND ALS B EISPIEL ZIRKULÄRER AUSHANDLUNGSPROZESSE ZWISCHEN P RAXIS , R EFLEXIVITÄT UND I NTERPRETATION Das Relationale des Praxisbegriffs in Bezug auf diese zirkulären Aushandlungsprozesse zwischen Praxis, Reflexivität und Interpretation verweist auch auf Ambivalenzen und Spannungen im Zuge dieser Aus-Handlungen. Es gilt diese Ambivalenzen in dem Analyseprozess zu erhalten und aufzuzeigen, vor allem zu Gunsten eines vermeintlich radikalen Charakters sozial-kultureller und ästhetischer Praktiken, die sich gerade in diesen instabilen Aus-Handlungen verorten
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lassen. Indem hier der radikale Charakter sozial-kultureller und künstlerischer Praktiken im Vordergrund stand, hat der Beitrag den Fokus auf die Instabilität und Veränderbarkeit von Praktiken gelenkt, ohne dabei ihre Routinisiertheit außer Acht zu lassen. Draxler betont, dass Begriffe eine Vieldeutigkeit erhalten müssen. Wenn man ihnen ihren metaphorischen Charakter nehme, könnten sie keine Veränderung mehr leisten. Draxler problematisiert deshalb, ähnlich wie Krieger (2014), dass der Praxis-Begriff den der Interpretation abgelöst hätte: »Vielmehr geht es darum, das Verhältnis von Praxis und Interpretation zu denken und dabei die Interpretation als transzendentale Voraussetzung der Praxis bzw. umgekehrt zu begreifen. Praxis und Interpretation sind ebenso wie Behauptung und Kritik, Entscheidung und Werden notwendige Elemente des Politischen.« (Draxler 2014: 23)
Die Performance Schönheitsabend zeigt auf, wie dieses dynamische Verhältnis zwischen reflexiven, künstlerischen Praktiken (wie dem bewussten und intentionalen Umgang mit historischen Referenzen, den unterschiedlichen Visionen und Intentionen für eine Performance, dem Einsatz von bewusstseinserweiternden Mitteln und Objekten wie ein anschnallbarer Dildo, sowie der Selbst-Labelung), körperlichen Praktiken (intensives Ballett-Training, Vorbereitungen auf Penetration auf der Bühne, Aneignung und Verfremdung von Bewegungen historischer Beispiele) und der Interpretation von Kritiker*innen und den Künstler*innen selbst sich gegenseitig beeinflussen, verändern und/oder bestätigen. Die Möglichkeit, eine Performance wie den Schönheitsabend umfassend zu analysieren, ist nur gegeben, wenn Praxis als ein Phänomen verstanden wird, das sich immer im Verhältnis zwischen Instabilität und Stabilität, mehreren »acteurs« sowie zwischen körperlichen und reflexiven Praktiken und Praktiken der Interpretation bewegt. Die Relevanz, Praxis mit Reflexivität und Interpretation in Beziehung zu setzen, ist auch notwendig in Zusammenhang mit dem Radikalen und dessen kulturellen und ästhetischen Dimensionen im zeitgenössischen Tanz und Performance. Erst die Frage, ob und wann Praktiken radikal sein können, macht die Problematik von Intention, Rezeption und Interpretation deutlich: Wie werden Praktiken intendiert, ausgeführt und wahrgenommen? Wann und wie vollzieht sich dabei ein radikaler Bruch mit der bestehenden Ästhetik, den Normen und Konventionen der vorherrschenden sozialen und theatralen Ordnung? Diese Fragen machen aufmerksam auf die Notwendigkeit einer methodischen Erweiterung des praxistheoretischen Zugangs, um handlungstheoretische Orientierungen in Bezug auf Performance-Analyse und -theorie einzubeziehen. Selbst wenn man
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Gefahr läuft, Differenzen und Trennschärfe zwischen den Begriffen und damit auch Analysewerkzeuge, die auf die Performance angewendet werden, zu verlieren, ist die Wichtigkeit, diese in ein Wechselverhältnis zu setzen, von Bedeutung, insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis einer Idee von radikalen Geisteshaltungen in Verbindung mit radikalen Körpertechniken. Durch die entstehende Kluft zwischen Imagination und Wirklichkeit, Theorie und Praxis wird die Wichtigkeit solcher Zusammenhänge bemerkbar, wenn die radikale Überwindung dieser Kluft möglicherweise in ihrer ambivalenten Erhaltung verborgen liegt.
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Performing Citizenship. Beobachtungen zur Praxis performativer Forschung S IBYLLE P ETERS
P RAXIS , P ERFORMANCE B ÜRGERSCHAFT
UND
E RFORSCHUNG
VON
»Bürger_innen eines von allen geteilten Planeten zu werden – das erscheint heute ebenso notwendig wie unerreichbar. ›Global citizenship‹ ist noch ein fernes Ziel, von ›planetary‹ oder gar ›posthuman citizenship‹ ganz zu schweigen. Und doch hat sich immer wieder drastisch verändert, was es heißt, Bürger_in zu sein: durch revolutionäre und konstitutionelle Prozesse, durch Aktionen einzelner und Alltagspraktiken vieler. In den Städten des 21. Jahrhunderts werden auch heute wieder neue Formen von Bürger_innenschaft entwickelt: Sichtbar wird ein Gap zwischen traditionellen Institutionen bürgerlicher Stellvertretung und selbstorganisierten Citizens, in deren Praxis sich Bürger_innenschaft ganz anders artikuliert. Dabei spielen nicht selten künstlerische Mittel und Verfahren eine Rolle: Performing Citizenship – das meint das Austesten neuer Rollen und Praktiken des Gemeinsamen und das Bestehen auf dem Recht Rechte zu haben, in kritischer, aber auch spielerischer Auseinandersetzung mit den Grenzen gegebener Konzepte von Bürger_innenschaft.« (Evert u.a. 2016)
Mit diesen Worten lud das Graduiertenkolleg Performing Citizenship im April 2016 zu zwei Präsentationswochen ein, in denen die Stipendiat_innen des Kollegs ihre künstlerische Forschungspraxis öffentlich machten. Um Praxis und um Performance ging es hier in mehrfacher Hinsicht. Inhaltlich war nach den Praktiken gefragt, die wir als Bürger_innen haben oder möglicherweise auch nicht haben, und darum, wie sich diese Praxis, diese Praktiken oder ihr Fehlen gegenüber den gegebenen, insbesondere rechtlichen Rahmensetzungen von Bürger_innenschaft verhält, inwiefern unsere Praxis als Bür-
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ger_innen diese Setzungen verkörpert und praktisch interpretiert, also umsetzt, aber auch darum, wie Praxis diese Setzungen versetzt, mit etwas anderem versetzt, unter Umständen auch ent-setzt: Das Ent-setzen der Bürger, auch dies hat eine Praxis. In diesem Buch geht es »um die Differenz, die jede Praxis hervorbringt«, und darum, wie wir um diese Differenz wissen können. Im vorliegenden Artikel wird der Versuch gemacht, diese von der Praxis hervorgebrachte und in der Praxis als solcher insistierende Differenz als Konstituens von Bürger_innenschaft zu begreifen, Citizenship als ein Konzept zu verstehen, das per se nicht mit sich selber in Übereinstimmung zu bringen ist, weil es notwendig aus einem konstituierten Rahmen und einem konstituierenden Prozess besteht (Lorey/Raunig 2015), in dem Bürger_innen ihr Bürger_innen-Sein immer neu finden und behaupten, gerade indem sie eine Differenz zum Gegebenen aufmachen.1 Trotz der scheinbaren Tragweite dieses Theorems ist hier jedoch nicht in erster Linie nach einer Philosophie oder Theorie der Beziehung von Staat und Gesellschaft gefragt, sondern eher nach der Praxis der Konflikte, die aus dieser Differenz von Citizenship entstehen: Wie werden politische Praktiken wie Repräsentation, Delegation, Entscheidung, Mitsprache, Teilhabe oder Schutz und wie werden Subjektpositionen in und mit dieser Differenz verhandelt und ausgehandelt? Diese Differenz der Praxis, die hier verstanden wird als der Umstand, dass Praxis niemals nur Umsetzung eines Vorhabens, eines Konzepts, einer Theorie oder eines Plans ist, wird spätestens seit den diskursverändernden Schriften Judith Butlers in einer bestimmten Theorietradition direkt mit dem Begriff der Performance beziehungsweise der Performativität in Zusammenhang gebracht (Butler 1991, 1997): Performance als Aufführung und Verkörperung und zugleich als Verschiebung und Veränderung dessen, was hier verkörpert, was hier aufgeführt wird. Wenn hier dennoch ein Unterschied besteht, so gehört er den Performer_innen selbst. Von Performing Citizenship zu sprechen, von Performance statt von Praxis zu sprechen, weist in diesem Zusammenhang auf ein Wissen hin, ein
1
Im Folgenden wird, wie im Kontext des Graduiertenkollegs insgesamt, der englische Begriff Citizenship als Begriffsalternative für das Bürger_in-Sein, also für den Status des Bürgers/der Bürgerin verwendet. Das deutsche Wort Bürger_innenschaft hat demgegenüber eine leicht verschobene Bedeutung, da es eher die Gesamtheit aller Bürger_innen und deren institutionelle Vertretung (wie etwa in »Die Hamburger Bürgerschaft«) meint.
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Wissen von der Differenz, die jede Praxis hervorbringt. Dieses Wissen entspringt wiederum einer Praxis, es ist beinahe ein Können, zugleich allerdings auch ein Nicht-Können, ein Zweifeln, das aus der Praxis der Bühne, des Auftritts, der Rolle, der Verkörperung, der Präsentation und der Repräsentation entsteht. Anders formuliert: Von Performance statt von Praxis zu sprechen, weist auf die Möglichkeit hin, mit der Differenz der Praxis zu spielen, sie gezielt und doch niemals kontrolliert hervorzubringen, sie zugleich zu betrachten, ihr zu folgen, von ihr zu lernen, sie als Forschung am Konzept von Bürger_innenschaft zu begreifen und zu betreiben. Diese Möglichkeit der Performance geht mit Schwierigkeiten einher, sie bringt ihre eigenen Differenzen hervor, die Differenz der Simulation, des Spektakels beispielsweise. Mit diesen Schwierigkeiten zu arbeiten, sie beispielsweise mit den Schwierigkeiten der Repräsentation, wie sie das Konzept von Bürger_innenschaft selbst prägen, 2 in Resonanz zu bringen, macht hier die Praxis der Forschung aus. Zum Rahmen: Mit dem Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste wurde 2012 bundesweit das erste Kolleg für künstlerisch-wissenschaftliche Promotionen gegründet. 3 Möglich wurde dies durch eine neuartige Form der Kooperation zwischen der HafencityUniversität (HCU) und den forschungsorientierten Kultureinrichtungen Forschungstheater/FUNDUS THEATER und K3 – Zentrum für Choreographie, eine Kooperation, in der Universität und Kultureinrichtungen gleichberechtigt zusammenarbeiten. Mittlerweile wird dieses Konzept in einem zweiten Kolleg mit
2
Vgl. beispielsweise: »The so called financial crisis that is ongoing since 2008 brought one question to the forefront of political struggle: What is the relation between the many and the few? This question is not only raised each time the crisis proves to foster the concentration of capital in the hands of the fewer and fewer, it is also raised when given instruments of representative democracy, given procedures of political representation, which were designed to make the few stand, speak and decide for the many, once more prove to be dysfunctional.« (Peters 2016a: 35)
3
Finanziert durch Mittel der Landesforschungsinitiative der Freien und Hansestadt Hamburg.
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dem Titel Performing Citizenship. Neue Artikulationen von Bürger_innenschaft in der Metropole (2015–2017) weiterentwickelt.4 Seit Jahren wird in diesem Arbeitszusammenhang also diskutiert, ausgehandelt und immer wieder neu erprobt, wie wissenschaftliche und künstlerische Forschung zueinander stehen können. Wichtig sind den Leiter_innen der Kollegs dabei zwei Setzungen: Zum einen die Überzeugung, dass diese Art der Forschung durch ein gemeinsames Thema, eine gemeinsame Fragestellung projektübergreifend gerahmt werden muss und dass sie eine gemeinsame, diskursive Praxis braucht, um erfolgreich zu sein. Zum anderen der Ansatz beider Kollegs, Forschung insgesamt inklusiver, zugänglicher, demokratischer zu gestalten: Wissenschaftliche und künstlerische Forschungsverfahren werden hier mit dem erklärten Ziel kombiniert, ein »Forschen aller« zu ermöglichen (Peters 2013), ein Forschen also, an dem Menschen beteiligt sind, die von einem zu erforschenden Thema in besonderer Weise betroffen sind und/oder die eine einschlägige praktische Expertise einbringen können, mit anderen Worten: Citizen Researchers.5 Im Laufe der Jahre hat sich gezeigt, dass die zahlreichen grundsätzlichen Debatten über das Wie und das Warum und das Überhaupt künstlerischen Forschens in diesem Aushandlungsprozess vergleichsweise wenig weiterhelfen. Nicht nur deshalb, weil Forschung hier vor allem im Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft erörtert wird, statt zunächst das grundsätzlich veränderte Verhältnis von Forschung und Gesellschaft zu betrachten, sondern auch weil künstlerische Forschung keine akademische Disziplin ist, die sich im Wechselspiel zwischen
4
Das zweite Graduiertenkolleg wird außer den genannten Institutionen auch vom Department Design der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg mitgetragen.
5
Ein aktueller Überblick in die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs »Citizen Research« beziehungsweise »Citizen Science« findet sich bei Kullenberg/Kasperowski 2016. Ein Schwerpunkt der Verwendung liegt in naturwissenschaftlichen, ökologischen und medizinischen Kontexten. Dabei haben »Citizen Researchers« unterschiedliche Funktionen, etwa als Datensammler, als Bürger_innen im Kontext der Umstellung von Kommunen auf mehr Nachhaltigkeit oder als Betroffene mit besonderer Expertise (Medizin). Das Forschen aller, das im Rahmen des Graduiertenkollegs angestrebt ist, steht eher Ansätzen des sogenannten »Participatory Action Research« nahe, vgl. Reason/Bradbury 2008. Dennoch verwende ich hier und im Folgenden den Begriff des »Citizen Researchers« aufgrund seiner Beziehung zum Untersuchungsgegenstand Citizenship.
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Gegenstandsbezug und Verfahren finden und entwickeln könnte. 6 Alles kann Gegenstand künstlerischer Forschung sein. Auf den Begriff bringen lassen sich solche Forschungen daher erst dann, wenn ein gemeinsamer Gegenstandsbezug gesetzt ist, zum Beispiel: Wie artikuliert sich Bürger_innenschaft heute?
B ETEILIGUNGSKULTUR Performing Citizenship 01: Der Doktorand und Aktivist Michael Ziehl lädt ins Hamburger Gängeviertel. Der im Ankündigungstext der Präsentationswochen beschriebene »Gap zwischen traditionellen Institutionen bürgerlicher Stellvertretung und selbstorganisierten Citizens« (Evert u.a. 2016) ist hier mit Händen zu greifen. Nichts geht mehr. Vertreter_innen des Gängeviertels und Angestellte der Hamburger Verwaltung, die eigentlich in einem Sanierungsprozess zusammenarbeiten sollten, kommen nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner. Baustopp. Michael Ziehl selbst war es, der ein Jahr zuvor das Statement verlesen hatte, mit dem sich die Aktivist_innen aus dem gemeinsamen Prozess zurückzogen. Ein Dokument des offenen Konflikts. Nun wechselt er die Rollen und lädt die Beteiligten des Konflikts als Forscher_innen und Doktorand_innen zu einer Mediation ins Gängeviertel ein. Realexperiment nennt er das (Krohn 2012). Um die Akteur_innen überhaupt in einen Raum zu versammeln, bedarf es des Moderators Christoph Hinske, dessen Institute for Strategic Clarity zuvor verfeindete Bürgerkriegsparteien in Guatemala in eine friedliche Kommunikation zurückgeführt hat. Die beteiligten Mitglieder der Verwaltung verlangen außerdem absolute Geheimhaltung beziehungsweise Kontrolle über die Ergebnisse des Zusammentreffens. Keine einfache Ausgangsbedingung für Forschung. Nichts außer einer Zeichnung und einigen Post-its darf zunächst öffentlich werden. Um die Lücke zu füllen, veranstaltet Michael Ziel im Anschluss an die Mediation einen öffentlichen Abend mit zwei Vorträgen, in denen Wissenschaftler_innen über typische Schwierigkeiten zwischen Verwaltung und Bürgerinitiativen in Planungs- und Beteiligungsprozessen sprechen. Gerahmt als Teil der praktischen, künstlerischen Forschung und zugleich markiert als Stand-In für einen anderen Prozess, der an dieser Stelle nicht öffentlich werden kann, haftet diesem klassischen Vortragsabend ein performativer Charakter an, der die Rituale der sozial-
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Im Unterschied beispielsweise zur Sozialwissenschaft oder zur Literaturwissenschaft, deren Akteur_innen bei aller Unterschiedlichkeit doch von vornherein eben die Frage nach dem Sozialen oder der Literatur gemeinsam haben.
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wissenschaftlichen Präsentation seltsam komisch erscheinen lässt. Die Begriffe Planungs- und Beteiligungskultur werden erörtert und geben Aufschluss über die Lösungsansätze der wissenschaftlichen Reflexion, die dabei auf der Höhe moderner Theatralitätskonzepte operiert (Fischer-Lichte 2001): Die wissenschaftliche Moderation teilt die Erkenntnisse, die sie aus der Perspektive des unbeteiligten Beobachters gewonnen hat und nimmt die Beteiligten dabei bei der Hand für eine Art der Aufführungsanalyse, im Zuge derer sie sich ihrer Rollen bewusst werden, die Grenzen ihrer jeweiligen Perspektive erkennen und die Perspektiven der anderen respektieren lernen sollen. Nicht reflektiert wird in diesem Vorgehen allerdings, dass auch die Wissenschaft in dieser Planungs- und Beteiligungskultur eine Rolle spielt, nicht nur als Ausbilder der Planer_innen von morgen, sondern auch ganz praktisch als Moderation und Beratung, die immer dann auf den Plan tritt, wenn der Gap allzu schmerzlich in Erscheinung tritt. Stephanie Bock vom Deutschen Institut für Urbanistik (DIfU) beschreibt dies im Rahmen ihrer Präsentation wörtlich als »Transmissionsriemen zwischen Wissenschaft und Praxis«; ihre Aufgabe sei es Wissenschaft so zu vermitteln, dass sie »in die Kommune als System Eingang finden könne«. 7 Zugleich ginge es darum, im Feld Probleme zu recherchieren, um dann aus der institutionellen Forschung heraus Lösungen anbieten zu können. Bock verweist auf eine lange Liste von Kommunen, die sich in dieser Weise vom DIfU beraten lassen. Die städtischen Verwaltungen seien dabei natürlich, so Bock auf Nachfrage, die Auftraggeber_innen. Dies erfordere ein besonderes Markieren von Neutralität, ein Signal der Distanznahme gegenüber der Position der »BIs«.8 Dies erscheint nur richtig, führt man sich vor Augen, dass Bürgerinitiativen in diesem Zusammenhang keineswegs immer Kollektive wie das Gängeviertel sind, sondern durchaus auch Zusammenschlüsse von Bürger_innen nach dem NIMBY-Prinzip (Not In My Backyard), die sich etwa gegen die Ansiedlung von Flüchtlingsunterkünften in der Nachbarschaft wehren. Kritisch zu vermerken bleibt daher zunächst, dass die entsprechenden Wissenschaften selbst ihre gesellschaftliche Relevanz nicht zuletzt im Verweis auf besagten Gap konstruieren, genauer gesagt aus der Möglichkeit, diesen Gap durch Wissensvermittlung zu vermitteln. In dieser Konstruktion schreiben sie zugleich ein bestimmtes Verhältnis von Theorie und Praxis, Forschung und Praxis fest: Ihr Verhältnis zu den Akteur_innen ist das eines Mehrwissens, das aus der Position der unbeteiligten Beobachter_in entsteht, der
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Mitschrift des Vortrags durch die Verfasserin.
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BI – die in diesem Zusammenhang auch mündlich verwendete Abkürzung für Bürgerinitiative.
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im Feld oder auf der Szene erscheint, um dieses Mehrwissen zu vermitteln, zugleich aber auch um Probleme der Praxis zu kartieren, die dann wiederum im Rückzug auf die Position der unbeteiligten Beobachter_in zu Forschungsgegenständen werden. Neben Bock auf dem Podium sitzt an diesem Abend, in dieser Performance, jedoch ein Auftraggeber anderer Art. Kein Mitglied der öffentlichen Verwaltung, sondern Ziehl, selbst Aktivist und Forscher, sichtbar und hörbar erschöpft von der Doppelrolle, die er den Tag über im Mediationsworkshop innehatte. In diesem Auftragsverhältnis erscheint der besondere Aufwand, den wissenschaftliche Präsentation betreibt, um als neutral und seriös zu erscheinen, seltsam fehl am Platze. Mit Ziehl als Anstifter des Tages und in den Räumen des Gängeviertels verortet, steht heute eine etwas andere Frage im Raum: (Wie) Kann Forschung eine Strategie der Praxis selbst werden? Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass der Fall des Gängeviertels singulär sei, nicht zuletzt deshalb, weil im Gängeviertel selbst ein Raum und ein Rahmen entstanden sei, der das Verhältnis zwischen Verwaltung und Citizen-Aktivist_innen in neuer Weise zum Problem, zugleich aber auch in neuer Weise verhandelbar macht. Ein Rahmen, in dem auch die Performance der Wissenschaft selbst auf der Szene erscheint und angeschaut werden kann. Im Publikum sitzen Angehörige aller, vermeintlich zu vermittelnder Gruppen – Aktivist_innen, Verwaltung, Politik, Künstler_innen des Gängeviertels. Ihnen erscheint das vermittelte Wissen im Wesentlichen bereits bekannt, und allenfalls neu dank des seltsamen Verfremdungseffekts, den das Vokabular einer anderen, nämlich der Wissensbürokratie, ihrer Stellvertretungsund Power-Point-Logik, mit sich bringt. Die Maschine wissenschaftlicher Evidenzproduktion dreht frei. In einer Art Umriss dessen, was nicht da ist, zeigt sich in dieser Performance eine andere Position, die Profis der Forschung hier einnehmen könnten, wenn sie zunächst die Praxis der anderen, also all derer, denen hier vermeintlich etwas vermittelt wird, als Forschung anerkennen würden. Im Lichte dieser Anerkennung der Forschung der anderen wäre die eigene Forschungspraxis dann kritisch zu befragen: Inwiefern ist sie geeignet, diese spezifische Praxis in ihrem Forschungscharakter zu unterstützen, zu befördern, zu begleiten? Was hieße es, gewissermaßen den Schritt von der Theatralität zur Performativität zu wagen und unterschiedliche Praxen und Performances des Forschens zueinander ins Verhältnis zu setzen, statt wissenschaftliche Expertise aus der klassischen Differenz zu einer vermeintlich nicht forschenden Praxis herzuleiten, die man beobachtet und beschreibt? Im Rahmen der Diskussion entsteht eine Art Konsens zwischen Podium und Saal darüber, dass es für die Probleme, die sich mit besagtem Gap zwischen bürger-
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schaftlich legitimierter Institution und Aktivist_innen verbinden, derzeit keine Lösungen gibt. So kann Moderation und Wissensvermittlung zwar Kommunikation verbessern. Letztlich aber weisen die Rollenkonflikte zwischen denen, die im System repräsentativer Demokratie die Gesamtheit der Bürger_innen zu vertreten meinen, beziehungsweise denen, die im Namen dieser Gesamtheit gefällten Entscheidungen umsetzen, und denen, die für sich in Anspruch nehmen, als Bürger_innen selbst zu sprechen, zu entscheiden und umzusetzen, allerdings auf einen Bruch im Konzept von Citizenship selbst hin. Angesprochen wird dieser Zusammenhang im Laufe des Abends mehrfach mit dem Begriffspaar der repräsentativen und der direkten Demokratie. In der Formel Performing Citizenship steckt diesbezüglich bereits ein Versuch der Differenzierung: Dass Citizenship heute performt wird, meint zugleich, dass sich im besagten Gap eben nicht einerseits bürgerschaftliche Stellvertretungen und andererseits Bürger_innen gegenüberstehen, die sich gewissermaßen nur selbst verkörpern. Sobald sich Bürger_innen versammeln, als Kollektiv oder als Bürgerinitiative, ist ebenfalls Repräsentation im Gange. In den Gängen des Gängeviertels wird dies ganz bewusst gesehen. Ziehl nimmt in Anspruch hier nicht für Einzelinteressen zu stehen, sondern Fürsprache für Interessen der Stadtgesellschaft zu üben. Und er erregt damit sofort Widerrede aus den eigenen Reihen: dies helfe erst einmal nichts, denn das würden doch die Großarchitekten auch immer sagen. Das Gängeviertel sei, so hatten Angehörige der Verwaltung zuvor im nicht-öffentlichen Teil geltend gemacht, genau in diesem Anspruch, für andere mitzusprechen, elitär und eben keineswegs »näher an der Basis« als klassische Volksvertreter_innen. Dies sagten die Angehörigen der Verwaltung ihrerseits nicht so sehr als Beamte der Stadt, die mit Bürger_innen reden, sondern als die Bürger_innen, die sie selbst sind, und die so nicht vertreten werden möchten. Und Vertreter_innen des Gängeviertels sind ganz erleichtert über diese Kritik, denn auf dieser Ebene kann man doch wieder diskutieren und beginnt das Gespräch neu. Niemand ist hier einfach in einer Rolle oder ohne Rolle oder nur er selbst. Es geht nicht um Repräsentation versus Unmittelbarkeit und auch nicht um ein Heraustreten aus gegebenen Rollen, sondern um eine differenzierte, forschende Auseinandersetzung darum, wie Citizenship heute performt werden kann, im Wissen um die Krisen ebenso wie um die Unausweichlichkeit von Repräsentation, im sich Ereignen von Rollendifferenzen und Rollenkonflikten, die immer durch die Individuen hindurchgehen. Und zwar natürlich im Konfliktfall, denn der ist immer gegeben, wenn es um die res publica geht. Statt also eine Performance der Forschung zu vermarkten, die sich als Expert_in der verhandelten Dinge präsentiert und Lösungen aus der Forschung in die Praxis vermittelt, wären Wissenschaftler_innen als Profis der Forschung an dieser Stelle gut beraten, in erster Linie die Ak-
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teur_innen zu stärken und zu begleiten, und sich zugleich selbst als Akteur_innen in der Szene zu begreifen. Denn die Forschungspraxis der Akteur_innen ist hier entscheidend; niemand kann sie vorwegnehmen oder stellvertretend durchführen, denn alle Stellvertretung steht hier ja gerade zur Debatte. Alle Beteiligten, die Wissenschaftler_innen ebenso wie die anderen Akteur_innen, sind auf dieser Szene gleichermaßen Citizen Researchers und Citizen-Performer_innen, und zwar in mehr als nur einem Sinne.
F EHLER
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F ALSCHEN
Es fällt auf: Das Graduiertenkolleg Performing Citizenship, selbst eine hybride Körperschaft zwischen Wissenschaft und Kultureinrichtungen, scheint aus dieser Argumentation ganz elegant als Siegerin hervorzugehen. Doch der Konfliktfall, der immer gegeben ist, folgt auf dem Fuße. Er ist ausgelöst durch das Forschungsprojekt von Thari Jungen, die im Kontext des Kollegs ein Institut für Falsifikate gegründet hat. Bürger_innenschaft basiert in so vieler Hinsicht auf echten Dokumenten, dass es nur naheliegend scheint, in die Performance von Citizenship mit dem Instrument des Falsifikats zu intervenieren, um diese Beziehung von Echtheit, Einschluss und Ausschluss in und von Bürger_innenschaft zu erkunden. Neben einigen anderen Ansätzen hatte das Institut für Falsifikate kurz vor den Präsentationswochen relativ eilig das Falsifikat einer städtischen Initiative für einen Local Passport angefertigt. Mit einem Faltblatt und einer Presseerklärung, in denen der hybride Charakter des Kollegs zwischen Kunstproduktionszusammenhang, universitärer Anbindung und städtischer Finanzierung gezielt dazu eingesetzt wird, eine produktive Verwirrung zu stiften: Ist dies eine seriöse städtische Initiative, ist dies ein wissenschaftlich legitimiertes Realexperiment? Die Antwort lautet nein, denn nicht nur gibt sich das Institut für Falsifikate letztlich als Initiator zu erkennen, auch die Formulierungen auf dem Faltblatt selbst zeigen einen schrägen, für die Seriositätsbehauptung von Verwaltung und/oder Universität völlig untypischen Humor. Nichtsdestoweniger braucht der Aha-Effekt des Falsifikats diese mittels der Vielzahl der Logos und Adressen, der komplexen Stellvertretungs- und Repräsentationsstrukturen der hybriden Körperschaft erzeugte Verwirrung, um sich überhaupt zu entfalten, um sich zu produzieren. Das Institut für Falsifikate sattelt seinen Effekt, seine Produktivität quasi auf der fragilen hybriden Struktur des Kollegs auf und zwar in mehr als einer Hinsicht. Prompt gibt diese Struktur nach, gibt es Fehlermeldungen, setzt ein Erosionsprozess ein: Verwirrt sollten die Empfänger der Pressemitteilung sein, und das sind sie dann auch und rufen im Rathaus und in der Hafencity Universi-
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tät höchst offizielle Stellen an, um Klarheit zu gewinnen. Diese offiziellen Stellen sind alarmiert, denn die vermeintliche Local Passport Initiative droht im Zusammenhang gelesen zu werden mit einer aktuellen, höchst öffentlichen Initiative der Universität, die sich in jenem aktuellen Gap zwischen Bürger_innen und Stadtregierung engagieren will, der sich in der Frage nach der Unterbringung von Flüchtlingen aufgetan hat.9 Um erfolgreich zu sein, muss dieses Engagement auf höchster politischer Ebene ebenso angenommen werden, wie von den Bürger_innen, die im Rahmen eines groß angelegten Beteiligungsprozesses in dieser Sache mitsprechen sollen. Hier ruht, so scheint es den Akteur_innen der Universität, alles auf der Frage der seriösen Reputation, die nun vom Falsifikat in Frage gestellt zu werden scheint. Entsprechend zieht die Universität ihre Unterstützung des Instituts für Falsifikate zurück. Nicht insgesamt und finanziell, wohl aber im Hinblick auf die Rolle, die die Universität in der zum Falsifikat gehörenden Figur der Verwirrung spielen sollte und die sie letztlich ja bereits gespielt hat. Inhaltlich wird dabei die Kritik laut, das Local Passport Falsifikat sei eben keine aktivistische Initiative, also in gewisser Weise gerade keine andere, alternative, ernstzunehmende Form der Stellvertretung. Und in der Tat: Das Falsifikat ist etwas ganz anderes, es performt Citizenship eher als eine Art Spuk, der die Akteur_innen doch überraschend und schmerzlich einholt, Aktionen unterbricht und aussetzt und verstummen lässt, und zwar genau in dem Moment, in dem sich die Akteur_innen der eigenen Handlungsmacht und ihrer Vermittlung gerade aufs Schönste versichert hatten. Das Institut für Falsifikate jedenfalls stoppt die Aktion. Für die Frage, ob und wie mittels des Falsifikates geforscht werden kann, findet sich in diesem Konfliktfall akut zunächst kein Raum mehr. In der von Jungen angestifteten Debatte ruft der Kulturwissenschaftler Martin Doll das Beispiel der Yes Men in Erinnerung mit ihrer Fälschung einer Website des US-amerikanischen Pharmakonzerns, auf der das Unternehmen vermeintlich ankündigt, endlich Verantwortung für den Chemieunfall zu übernehmen, der in der indischen Stadt Bophal hunderte von Opfern gefordert hat (Doll 2012). Mittels des Hoax’, in dem die Yes Men als Vertreter_innen von Dow Chemical auftreten, eine Maskerade, die erst nach einem höchst offiziellen Interview der BBC auffliegt, gelingt es, den Unfall erneut ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und von Dow Chemical eine Stellungnahme und eine erneute Auseinandersetzung zu erzwingen.
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Gemeint ist das Projekt Urban Modelling for Refugees in Hamburg im Rahmen des City Science Labs der HCU unter der Leitung von Gesa Ziemer.
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Betrachtet man die Initiative für einen Local Passport vor dieser Folie, so hätte man prinzipiell auf einen vergleichbaren Effekt hoffen können: auf ein großes positives Echo, auf ein öffentliches Interesse, das dann auf Seiten der Stadt Hamburg und der Hafencity Universität als den vermeintlichen Initiator_innen eine entsprechende Erklärung und Auseinandersetzung hätte nach sich ziehen können. Doch die Folie zeigt auch die Differenz: Die Hafencity Universität, hier angesprochen als stadtpolitische Akteurin einerseits und als das Kolleg mittragende Institution andererseits, findet sich zugleich in der Rolle der Komplizin und in der Rolle von Dow Chemical wieder. Allerdings hinkt der Vergleich zwischen dem erfolgreichen Hoax der Yes Men und der Aktion des Instituts für Falsifikate, ist doch die vermeintliche Local Passport Initiative im Kontext des Kollegs – und dieses Artikels – weniger als eine politische Intervention denn als ein künstlerisches Forschungssetup zu betrachten. In welchem Sinne, so ist daher weiterhin zu fragen, ist die Performance des Falsifikats als Forschung geeignet und erfolgreich? Mit Doll und in der Tradition der Fälschungstheorie Anthony Graftons (1990) wäre hier zu argumentieren, dass die Fälschung immer auch eine Prüfung von vorhandenem Diskurswissen ist, eine Art experimentelle Diskursanalyse: Je weiter ein Fake in einen Diskurs vordringt, ohne entdeckt zu werden, desto besser die Analyse. Insofern dieses Prinzip auf ein Falsifikat, also ein Dokument, das sich als gefälscht in bestimmter Weise ausweist, überhaupt übertragbar ist, ist das Ergebnis jedoch wiederum eher negativ: Die Local Passport Initiative scheitert auch an einer mangelnden diskursiven Kenntnis aktueller lokaler Konflikte und Verwerfungslinien. So wird die Position der HCU im aktuellen Konflikt zwischen NIMBY-Initiativen und Stadt um die Unterbringung von Flüchtlingen, aber auch andere diskursive Anknüpfungspunkte wie etwa die Hamburger Never-Mind-The-Papers-Bewegung nicht in Rechnung gestellt.10 Dennoch erscheinen all die Argumente der Kritik an diesem Punkt immer schon als Defensivgefechte einer wissenschaftlichen Institution, die einfach nicht kalkuliert hatte, was eigentlich zu erwarten war, dass die Praxis performativer Forschung nämlich irgendwann auch die Frage nach dem Falschen stellen würde, die Frage danach, inwiefern das, was falsch ist, das, was maximal darin richtig ist, dass es zugibt, falsch zu sein, im Zuge performativer Forschung zur Basis wissenschaftlicher Qualifikation werden kann, zur Grundlage akademischer Reputation. Wie ist zu bewerten, was erklärtermaßen gefälscht ist? Wie umgehen
10 Vgl. www.nevermindthepapers.noblogs.org (Zugriff 27.06.2016).
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mit dem, was mit dem Dispositiv der Richtigkeit sein Spielchen treibt und dennoch nach Aufnahme verlangt in die Republik der Gelehrsamkeit? Die Fehler im Falschen, die das Institut für Falsifikate hervorgebracht und sichtbar gemacht hat, arbeiten einen Konfliktfall zwischen einem System der Forschung heraus, dass das Falsche maximal als ein Werkzeug zur Produktion des Richtigen begreifen kann, und der Freiheit der Kunst, deren Forschungsleistung immer auch darauf beruht, ihre Produkte nicht vollständig als Werkzeug zu betrachten und zu kontrollieren. Im Verhältnis von Praxis und Performance lässt sich dies genauer auf den Punkt bringen: Wird Praxis als Performance betrachtet und betrieben, so wird sie im Extrem potentiell auch zu einer Praxis der Fälschung und zu einer gefälschten Praxis. Mit der Differenz der Praxis spielen, experimentieren und forschen zu können, ist nicht denkbar ohne die Möglichkeit der Fälschung. Doch was fangen Institutionen des Wissens damit an? Wie sollen sie – im Extremfall – umgehen mit »gefälschter Forschung«? An dieser Stelle verstummt die Akademie. Ein seltener Moment des Schweigens, in dem wir, die Gelehrten, der Tatsache eingedenk sind, was für eine Republik wir sind und nicht sind. Und dass all die Urteile, die die Gelehrsamkeit mit solchem Witz, ja, mit der Eloquenz der Jahrhunderte, nun fällen könnte, über das Falsche und seinen fragwürdigen Anspruch auf Aufnahme, selbst immer auch falsch sind, weil Einschluss und Ausschlussmechanismen der Akademie letztlich ohne Legitimation bleiben. So dass an dieser Stelle bestenfalls Verantwortung geteilt werden kann, Verantwortung nämlich für eine nicht untypische Performance von Citizenship, in der wir einander aufgrund von Sachverhalten und Verteilungen diskursiver Macht, an denen wir mitwirken, ohne sie doch ganz gestalten zu können, Titel und Rechte verleihen oder vorenthalten, Titel, die Teil unseres Namens werden beziehungsweise geworden sind und zwar genau in dem Moment, in dem wir die Verantwortung für jene Fragen mittragen beziehungsweise mitzutragen begonnen haben, die in diesem Setting nicht oder noch nicht beantwortet werden können.
K ÖRPERSCHAFT
WERDEN
Was also heißt es, Teil einer Körperschaft zu werden – beispielsweise einer akademischen oder einer bürgerschaftlichen? Drei choreografische Forschungsprojekte, die im Rahmen der Präsentationswochen des Kollegs auf K3, am Zentrum für Choreographie, präsentiert werden, erlauben eine Annäherung an diese Frage:
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In dem Projekt The Bodies We Are macht Antje Velsinger gemeinsam mit zwei professionellen Tänzerinnen den Versuch, sich andere, fremde Körper anzueignen: Einen voluminösen, ausladenden Körper (siehe Abbildung 1), einen extrem ausgearbeiteten Bodybuilder-Körper und einen in einem sadomasochistisches Lustspiel engagierten Körper. Abbildung 1: Szene aus The Bodies We Are, Antje Velsinger
Es werden Techniken erarbeitet, mit denen es den Tänzerinnen gelingt, den anderen Körper zu verkörpern. In dieser Aneignung geht es auch um die Lust, Körperlichkeit in Transformation jenseits der üblichen neoliberalen Optimierungsstrategien zu erfahren. Choreografisch scheint hier die Frage im Hintergrund zu stehen, wie der zeitgenössische Tanz mit der historischen Aufgabe um-
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gehen kann, dem Publikum einen utopischen Körper zu zeigen – sei dies der Körper des Balletts, der die Gewalt der Disziplinierung in der Figur der Grazie aufhebt, oder der expressive Körper des Ausdruckstanzes, oder der sich befreiende, auf dem Anderen der Physis insistierende Körper späterer Avantgarden etc. Velsingers choreografische Suchbewegung geht der gesellschaftlichen Ambivalenz nach, die sich mit der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der Körper zeigt: Einerseits ist gerade der wandelbare Körper ein zeitgenössisches Körperkonzept im Kontext neoliberaler Selbstoptimierung und physischer Mobilisierung von Ressourcen. Andererseits könnte in der performativen, lustbetonten Aneignung radikal anderer Körper aber auch ein utopisches Moment liegen. Velsinger zeigt so eine ambivalente zeitgenössische Deutung der Figuration des utopischen Körpers. In welcher Beziehung diese choreografische Auseinandersetzung mit der Performance von Citizenship steht, erscheint dabei allerdings zunächst völlig offen. Historisch wäre hier den Verbindungen nachzugehen, die bestimmte utopische Körper zu bürgerlichen Körperschaften und deren Transformation immer schon aufgenommen haben (Brandstetter 1995; Matala de Mazza 1999). Oder aber man beginnt mit einer vermeintlich einfachen Frage: Was ist der Körper des Bürgers beziehungsweise der Bürgerin, was macht ihn aus? Anders als der oder die Leibeigene, oder der Sklave oder die Frau besitzt der Bürger (hier historisch korrekt zunächst nur der männliche Bürger) seinen Körper. Möglicherweise ist dieser Körperbesitz ein bürgerliches Alleinstellungsmerkmal, denn es unterscheidet den Körper des Bürgers zugleich auch vom Körper des Souveräns und den mit ihm verbundenen Körpern und Körperschaften, sind diese doch immer schon Bühne einer Transzendenz, die durch sie hindurch performt wird, und nicht allein »Eigenheim« eines Individuums (Kantorowicz 1992). Und es unterscheidet den Körper des Bürgers auch vom nackten Leben des Homo Sacer (Agamben 2002). In diesem sich Unterscheiden ist der Selbstbesitz des bürgerlichen Körpers ausgesprochen voraussetzungsvoll. Er basiert auf der Konstitution von Bürgerschaften, von Körperschaften, die diesen Selbstbesitz rechtlich verankern und wahren. Die darin erschaffene Souveränität allerdings herrscht damit immer auch über die Körper derer, die in der Körperschaft erfasst sind. Das ist das Prinzip Biopolitik (Foucault 2006). Doch im Unterschied zum Leviathan als Modell des frühmodernen körperschaftlichen Denkens heißt Bürgertum in diesem Zusammenhang, im Inneren der Körperschaft – und wohlgemerkt nur hier – einen Selbstbesitz der beteiligten Einzelkörper zu garantieren, der allein im Ausnahmezustand aufgehoben werden kann, und der doch ständig in Frage steht. »Acts of Citizenship« sind in diesem Zusammenhang Akte, in denen sich Körper ihres Selbstbesitzes versichern und genau darin Citizenship aufs Neue beanspruchen (Isin 2008). Dies können sehr einsame Akte
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sein. Häufiger jedoch ist es ein kollektives Geschehen, indem nicht ein einzelner Körper seinen Selbstbesitz gegenüber einer gegebenen Körperschaft performt und erneuert, sondern viele, die dabei zugleich alternative Körperschaften auf Probe bilden und zwar Körperschaften, die bei den Körpern von Menschen weder haltmachen noch beginnen. Stadtmauern beispielsweise waren immer schon Markierungen von Selbstbesitz, leider jedoch nicht sehr beweglich. Barriquefässer, in denen, wie aus dem Forschungssetup Barricades & Dances von Moritz Frischkorn zu lernen ist, alles zum Leben Notwendige vom Lande in die spätmittelalterliche Stadt geschafft wurde, sind sehr beweglich und konnten – mit Pflastersteinen gefüllt – als temporäre Stadtmauern in der Stadt dienen, als Barrikaden also, die herrschende Gewalten zumindest temporär unterbrechen, wie zuvor die Stadtmauer selbst, und um die herum sich Körperschaft also jeweils versuchsweise neu organisiert. Beispielsweise als Pariser Kommune (Traugott 2010). Für Frischkorn hat dies jedoch alles mit einem Regenschirm angefangen. Und mit den Regenschirmen, die im Jahr 2014 zur Performance des zivilen Widerstands in Hong Kong gehörten. Deshalb nimmt Frischkorn unter die Lupe, welche Rolle die Dinge im Werden und Erproben von Körperschaften spielen und nimmt sie dabei so ernst wie möglich. Denn wäre am Ende nicht zu fragen, inwiefern auch die Dinge hier Citizenship performen, inwiefern sie womöglich gar Citizenship erforschen? Wo also das Forschungsprogramm des Kollegs vorgesehen hatte, dass andere Expert_innen in die Forschung einbezogen werden, baut Frischkorn das Forschungssetup von Barricades & Dances so auf, dass auch Dinge gleichberechtigt mitforschen können. Im Workshop bilden Mitglieder des Kollegs und andere Interessierte mit den Barrikaden-Dingen, mit Reifen, Europaletten und Steinen, Figuren, die, so die erste Regel, fragil bleiben müssen (siehe Abbildung 2).
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Abbildung 2: Workshop Barrikadenbau aus dem Projekt Barricades & Dances, Moritz Frischkorn
Der teilnehmende Experte für die Geschichte der Barrikade Tom Ullrich von der Universität Weimar weiß das auch gleich treffend zu übersetzen: »Wir bauen uns selber mit ein.«11 In der Tat. Und in diesem sehr konkreten Körperschaftwerden heißt Fragilität zugleich, dass Menschen und Dingen die gleiche Agency zukommt. Menschen und Dinge verändern die hier entstehenden Körperschaften
11 Mitschrift der Diskussion durch die Verfasserin.
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im Wechselspiel. Die Menschen zeigen sich leicht überfordert. Die Dinge eher nicht. Sprechen dürfen die Menschen dabei nicht, so die zweite Regel. Die Aufnahme der Dinge in die Ränge der Bürger_innenschaft erlaubt zunächst keine Geste bürgerlicher Selbstermächtigung, denn in dieser Bürgerversammlung, diesem Ting, sind wir voll und ganz mit Schwerkraft beschäftigt. Obwohl dieser Dialog zwischen Menschen und Dingen im Bilden von Körperschaft immer wieder erst zu beginnen scheint, ist es doch zugleich richtig, dass die Beziehung zwischen Einzelkörper und Körperschaft fast immer durch Dinge hindurchgeht. Als aktuelle Bürger_innenkörper unseres biopolitisch aktiven Staatskörpers sind wir beispielsweise gemessene und immer wieder vermessene Körper und dies ist ganz buchstäblich ein an den Dingen gemessen werden. Da liegt die Vermutung nahe, dass jede Veränderung der Beziehung zwischen Körper und Körperschaft in Tateinheit mit Dingen vollzogen werden kann und muss. Zugleich stellt diese Tateinheit als solche betrachtet die ganze Figur eines sich selbst besitzenden Körpers in seinem Unterschied zur Dingwelt so stark zur Disposition, dass sich die Performance von Citizenship hier beinahe selbst auszustreichen scheint. Doch wie könnte überhaupt eine Performance aussehen, in der ein Körper in neuer Weise auf seinem Selbstbesitz und damit auf Bürger_innenschaft besteht? Im Paradigma von Gouvernementalität ist das schwer zu sagen (Lemke/ Bröckling 2000). Die gouvernementalen Technologien des Selbst machen es schwer, Selbst- von Fremdbestimmung zu unterscheiden. Einfacher scheint es da noch, das performative Gegenteil zu benennen: Körper im Gleichschritt, Körper im Militärmarsch visuell und physisch zu einer Körperschaft verschmolzen, die Repräsentation und Präsenz zur Deckung bringt. In einer Geste der Kontraindikation versucht Liz Rech in ihrem Forschungssetup Marching Sessions genau diesen »bösen Marsch« zu »hijacken« und zwar für einen, wie sie sagt, »aktivistischen Kontext« 12. Mit anderen Worten: Kann – als eine Art Gegenwehr im ökonomischen Regime des Individualismus – womöglich gerade eine militärische Praxis, die historisch zur Produktion einer hierarchischen, strikt auf Einheit orientierten Körperschaft genutzt worden ist, zur Folie für die Selbstermächtigung alternativer bürgerlicher Körperschaften werden? Um diese Frage zu beantworten, macht sich Rech in einer ganzen Reihe von Workshops mit Expert_innen verschiedenster Art daran, systematisch die Praxis des Marschierens zu dekonstruieren und präsentiert die Ergebnisse in einer Lecture Performance (siehe Abbildung 3).
12 Mitschrift des Vortrags durch die Verfasserin.
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Abbildung 3: Projekt Marching Sessions, Liz Rech, Szene der Lecture Performance
Besonders eindrucksvoll sind dabei die Übungen in der Kunst des Kommandowechsels, die Instruction Art des Marschierens. In ihr zeigt sich zugleich das ganze Gewicht der Praxis: Die Marching Sessions satteln auf einem kollektiven Arbeits- und Lebenszusammenhang auf, auf einem lokalen und zugleich transnationalen Netzwerk, das sich seit Jahren in verschiedenen kollektiven »Acts of Citizenship« reartikuliert.13 Die Marching Sessions stehen in einer Reihe von Forschungssetups – a Long March Project –, und in einem Netzwerk, das nicht etwa nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen umfasst, Gruppen, Labels, Unternehmen, Vereine, Freundeskreise, Clubs, Institute, Proteste, Parks, Parties und eben auch Graduiertenkollegs. Wie geht das zusammen? Welche Art des Marschierens entwickelt sich in einem so komplexen Netzwerk von Körpern und
13 Zu diesem Netzwerk gehören unter anderem das Künstler_innenkollektiv Schwabinggrad Ballett, das chinesische Künstlerkollektiv A Long March Project, das Netzwerk des Hamburger Euro-Maydays, die Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung und der Megaphonchor, der unter der Anleitung der Künstlerin Sylvi Kretzschmar als Forschungsprojekt im ersten Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe entwickelt worden ist.
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Körperschaften, wie viel Übung, wie viel Selbst-Disziplinierung beispielsweise kann man sich leisten, unter den Bedingungen freiwilliger Affektökonomie und prekärer Finanzierung? Welche anderen Mehrwerte, welche side effects, spin offs, Verwendungs- und Entwendungschancen ergeben sich für die Beteiligten, die ihre Souveränität und ihren Selbstbesitz ausgerechnet in Marching Sessions performen? Deutlich wird: Dieses noch nicht ganz geläufige Werden alternativer Körperschaften speist sich aus einem Vertrauen in die unentdeckten Möglichkeiten der kollektiven Bewegung ebenso wie daraus, dass gemeinsam auf die Grenzen der Beweglichkeit, auf die Schwierigkeiten und die Belastbarkeit dieser hybriden, temporären Körperschaften sowie auf die Bedingungen ihrer Lebendigkeit geachtet wird.
B ÜRGERSCHAFTLICHE P RAXIS F ORSCHUNG
UND KÜNSTLERISCHE
In allen fünf hier diskutierten Forschungssetups wird in jeweils eigener Weise ein Aspekt dessen verhandelt, was die Performance und mithin die Praxis von Bürger_innenschaft heute ausmacht: Es geht um Konflikte zwischen klassischen Körperschaften bürgerschaftlicher Repräsentation und selbstorganisiertem bürgerschaftlichem Engagement, es geht um das Handlungs- und zugleich das Forschungspotential, das in der Möglichkeit der Fälschung und des Falsifikats im Hinblick auf die konstitutive Rolle steckt, die Dokumente im Kontext von Bürger_innenschaft spielen. Es geht um die körperliche Praxis von Citizenship und darum, wie sich Körperschaften auf Probe bilden, im Wechselspiel zwischen Menschen und Dingen, oder auch in der dekonstruktiven Aufnahme traditioneller körperschaftlicher Praktiken. Performing Citizenship meint in diesem Sinne niemals nur die Ausführung eines gegebenen Protokolls von Bürger_innenschaft, sondern umfasst immer auch »Acts of Citizenship«, die Engin Isin, Autor des gleichnamigen Buches und Diskursstifter der sogenannten Citizenship Studies, folgendermaßen definiert: »To act, then, is neither arriving at a scene nor fleeing from it, but actually engaging in its creation. With that creative act, the actor also creates herself/himself as the agent responsible for the scene created.« (Isin 2008: 25) »Acts of Citizenship« sind also Aufführung eines anderen, eines im Zuge dieser Praxis sich allererst erneuernden Begriffs von Citizenship (Peters 2016b). Die Freiräume künstlerischer Forschung ermöglichen dabei verschiedene Zugänge: Gegebene Differenzen und Konflikte bürgerschaftlicher Praxis können
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auf neue Weise anschaulich und damit befragbar werden wie im Projekt von Ziehl; sie können auf die Spitze und bis in ihre Aporie getrieben werden wie im Projekt von Jungen. Differenzen können aber auch aufs Neue herausgearbeitet werden, wie in der Aneignung radikal anderer körperlicher Praktiken oder der Erprobung radikal anders verfasster Körperschaften. Der Freiraum der Forschung, zumal einer Forschung, die sich als und in der künstlerischen Praxis vollzieht, ermöglicht ein Spiel mit den inhärenten Differenzen bürgerschaftlicher Praxis, macht jedoch keine ganz neue Ebene auf, in der sich die Praxis der Forschung wesentlich von der bürgerschaftlichen Praxis selbst unterscheidet. Viel eher scheinen sich bürgerschaftliche Praktiken ihrerseits den Freiraum der künstlerischen Forschung anzueignen, um die ihnen inhärenten Differenzen weiter voranzutreiben. Auf der Szene künstlerischer Forschung zeigt sich die Differenz bürgerschaftlicher Praxis, wird sichtbar als ein Forschen aller. Das Graduiertenkolleg Performing Citizenship versucht den Freiraum künstlerischer Forschung für bürgerschaftliche Praktiken und »Acts of Citizenship« zur Verfügung zu stellen. Dabei zeigt sich jedoch auch, dass sich die Praxis der Forschung, die sich hier entfaltet, in ihren Versuchsanordnungen nicht einhegen lässt. Vielmehr entfaltet sie sich buchstäblich entlang ihrer Grenzen, entlang der Differenz der Rahmungen, die wir ihr zu geben versuchen. Denn Forschung als Praxis und Praxis als Forschung umfasst immer auch die Praktiken, die diesen Rahmen erst herstellen, die die Setups als solche ermöglichen und tragen: die institutionelle Praxis der Universität ebenso wie die körperlichen Praktiken, die Körperschaften erst zu solchen werden lassen und schließlich auch die Solidarpraktiken, aus denen partizipative Kunst und bürgerschaftliches Engagement erst hervorgehen. Sie alle sind Teil einer Praxis der Forschung und der Forschung als Praxis: Performing – Citizenship – Research.
L ITERATUR Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brandstetter, Gabriele (1995): Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer. Butler, Judith (1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997 [1993]): Körper von Gewicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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ABBILDUNGEN Abb. 1: Szene aus The Bodies We Are, Antje Velsinger 2016 © Margaux Weiß Abb. 2: Workshop Barrikadenbau aus dem Projekt Barricades & Dances, Moritz Frischkorn 2016 © Margaux Weiß Abb. 3: Projekt Marching Sessions, Szene der Lecture Performance, Liz Rech 2016 © Margaux Weiß
Zu den Autorinnen und Autoren
Alkemeyer, Thomas, Dr. phil., Professor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Barthel, Gitta, Dr. phil., Tänzerin, Tanzpädagogin und Choreografin, arbeitet in Forschung, Kunst und Vermittlung in Hamburg. Göbel, Hanna Katharina, Dr. rer. soc., wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) im Arbeitsbereich Kultur, Medien und Gesellschaft am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Huschka, Sabine, PD Dr. phil., Leiterin des DFG-Forschungsprojekts Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene am Hochschulübergreifenden Zentrum für Tanz (HZT) in Berlin. Jansen, Claude, Dipl.-Theaterwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt »Bewegungen übersetzen. Tanzästhetische Transformationen und ihre medialen Rahmungen – Das Beispiel des »afrikanischen Tanzes«« des LFFForschungsverbunds Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen (Sprecherin: Prof. Dr. Gabriele Klein) an der Universität Hamburg. Kelter, Katharina, M.A. Medien- und Kulturwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Kultur, Medien und Gesellschaft am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Klein, Gabriele, Dr. rer. soc., Professorin für Soziologie von Bewegung, Tanz und Sport und Leiterin des Arbeitsbereichs Kultur, Medien und Gesellschaft am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg.
362 | AUTORINNEN UND A UTOREN
Krämer, Dennis, M.A. Soziologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Kultur, Medien und Gesellschaft am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Leopold, Elisabeth, M.A. Performance Studies, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »Gesten des Tanzes – Tanz als Geste. Kulturelle und ästhetische Übersetzungen am Beispiel der internationalen Koproduktionen des Tanztheater Wuppertal« (Projektleitung: Prof. Dr. Gabriele Klein) an der Universität Hamburg. Lüken, Heike, Dipl. Kulturwissenschaft, wissenschaftliche Koordinatorin im LFF-Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen (Sprecherin: Prof. Dr. Gabriele Klein) an der Universität Hamburg. Peters, Sibylle, PD Dr. phil., Leitung des Bereichs Kulturelle Bildung und Forschung im LFF-Graduiertenkolleg Performing Citizenship. Neue Artikulationen urbaner Bürgerschaft in der Metropole des 21. Jahrhunderts der HafenCityUniversität Hamburg, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, K3 – Zentrum für Choreographie/ Tanzplan Hamburg sowie dem Forschungstheater im Fundustheater Hamburg. Schindler, Larissa, Dr. phil., Leiterin des DFG-Forschungsprojektes »Die Flugreise. Zum körperlichen Vollzug technisch beschleunigter Mobilität« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Institut für Soziologie. Vujanović, Ana, Ph.D. Theatre Studies, Dozentin, Dramaturgin und Performance-Künstlerin im Bereich der zeitgenössischen Performing Arts in Berlin und Belgrad. Wieczorek, Anna, Dipl. Dramaturgie, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFGForschungsprojekt »Gesten des Tanzes – Tanz als Geste. Kulturelle und ästhetische Übersetzungen am Beispiel der internationalen Koproduktionen des Tanztheater Wuppertal« (Projektleitung: Prof. Dr. Gabriele Klein) an der Universität Hamburg.
Sozialtheorie Christian Helge Peters, Peter Schulz (Hg.) Resonanzen und Dissonanzen Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion Juni 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3565-2
Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Mai 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1
Joachim Renn Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven Soziologische Übersetzungen II September 2016, 296 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3359-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Henning Laux (Hg.) Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« Einführung und Diskussion August 2016, 264 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3125-8
Kolja Möller, Jasmin Siri (Hg.) Systemtheorie und Gesellschaftskritik Perspektiven der Kritischen Systemtheorie August 2016, 256 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3323-8
Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie Mai 2016, 314 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3345-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Benjamin Rampp Die Sicherheit der Gesellschaft Gouvernementalität – Vertrauen – Terrorismus Juni 2017, ca. 310 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3414-3
Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Mai 2017, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Alles relativ? Ethische Orientierungen zwischen Beliebigkeit und Verantwortung. Vadian Lectures Band 3 April 2017, ca. 114 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3748-9
Simon Bohn Die Ordnung des Selbst Subjektivierung im Kontext von Krise und psychosozialer Beratung April 2017, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3794-6
Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven März 2017, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6
Christiane Schürkmann Kunst in Arbeit Künstlerisches Arbeiten zwischen Praxis und Phänomen
Julia Schulze Wessel Grenzfiguren – Zur politischen Theorie des Flüchtlings Januar 2017, 238 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3756-4
Ruggiero Gorgoglione Paradoxien der Biopolitik Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien August 2016, 404 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3400-6
Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen August 2016, 296 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Miteinander leben Ethische Perspektiven eines komplexen Verhältnisses. Vadian Lectures Band 2 Mai 2016, 114 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3361-0
Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Mai 2016, 384 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5
Katharina Block Von der Umwelt zur Welt Der Weltbegriff in der Umweltsoziologie Februar 2016, 326 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3321-4
März 2017, ca. 300 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3396-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de