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German Pages 426 Year 2019
Tim Pickartz »Der Tanz war sehr frenetisch...« – Kuratorische Praxis, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst auf der dOCUMENTA (13)
Image | Band 152
Tim Pickartz (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunst, Kunstgeschichte und ihre Vermittlung an der Universität Paderborn. Seine Schwerpunkte sind die Vermittlung von Gegenwartskunst, Ausstellungsanalyse und Kuratorische Praxis, vor allem auf internationalen Großkunstausstellungen. Er arbeitet darüber hinaus als freiberuflicher Kunstvermittler.
Tim Pickartz
»Der Tanz war sehr frenetisch...« – Kuratorische Praxis, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst auf der dOCUMENTA (13)
Dissertation am Institut Kunst/Musik/Textil, Fach Kunst, der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Paderborn.
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»I’ll just keep on
till I get it right«
Inhalt
Format, Begriffe und Methode: »Vorwort zur zweiten Auflage« Eingrenzungen des Formlosen | 13 Untersuchungsgegenstand: Die Vermittlungsinstitution | 14 Innerhalb der Grenzen: Auf bau der Arbeit | 19 Standortbestimmung: Forschungsstand | 20 Drei Perspektiven auf Vermittlung | 25 Kuratorische Praxis: Zwischen Kuratoren und dem Kuratorischen | 26 Kunstvermittlung: Zwischen Kolonisierung und Emanzipierung | 33 Vermittlungskunst: Zwischen Infiltration und Assimilation | 38 Kriterien: Affirmation, Dekonstruktion und Transformation | 53 Methoden-Bricolage | 59
Struktur der Vermittlung: »Der Tanz war sehr frenetisch …« Strukturen der documenta: Körper, Parcours, Plattformen, Formlosigkeit | 67 Strukturen der dOCUMENTA (13) | 73 Notation: Tanz, Choreografie, Bewegung, Rhythmus, Widerstand | 79 Choreografisches Denken und Notation durch Anordnungen | 89 Die Choreografie der dOCUMENTA (13) | 95
Gegenstand der Vermittlung: »Es geht nicht um irgendetwas.« Beteuerungen von Konzeptlosigkeit | 101 Konzepte zwischen Fetischisierung und Ablehnung | 105 Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹ | 113 Die mythische Anfangszeit | 114 Begründung einer Legende | 115 Die Botschaften Einzelner | 117 Ort der Erinnerung | 119 Tautologie oder alternative Sichtweisen? | 121 Mythos und Legende – und doch eine Tradition | 127 Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain | 129 Definieren und implizieren | 131 Geschichten erzählen | 133 Konstellieren und assoziieren | 137 (De-)Lokalisieren | 142 Relationen herstellen | 145 Modellieren und Miniaturisieren | 148 Choreografieren und frenetisch tanzen | 153 dOCUMENTA (13): Ein Geisteszustand | 157
Kuratorische Praxis: »Mehr als eine Ausstellung und gleichzeitig keine Ausstellung.« Vier Analysen aus vier Positionen | 167 Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums | 169 Entree: Initiierende Setzungen | 170 Linker Seitenflügel: Verweigerung und Scheitern | 172 Rechter Seitenflügel: Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten | 174 Leere Räume: Etwas, woran ich mich erinnern kann | 177 Die homodiegetische Erzählerin | 178 Unter Belagerung: Der Friedrichsplatz | 181 Erste Eindrücke | 182 Nicht-Logozentrismus und Nicht-Anthropozentrismus | 184 Fiktive Monumente | 187 Setzungen von Außen | 188
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze | 193 Karlsaue: Einige kleine freistehende Gebäude | 195 Kaufhäuser: Im Kontext anderer Institutionen | 199 Kloster Breitenau: Das Gewissen der dOCUMENTA (13) | 202 Im Zustand der Hoffnung: Kabul | 205 Fridericianum: Kabul und Quantenteleportation | 207 Ehemaliges Elisabeth Krankenhaus: Eine autonome Replik | 212 Kabul: Rekonstruktion einer Re-Edukation | 214 Auf Reisen mit Carolyn Christov-Bakargiev: Inszenierung und Vorgehen | 219 Die Kehrseite der Affirmation | 227
Kunstvermittlung: »Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was wir tun?« Vorbemerkung zur Kennzeichnung des Plural | 233 Von der Vermeidung der Didaktik zur Maybe Education | 237 Konzeption und Struktur der Maybe Education | 243 School for Worldly Companions | 251 Choreografie als delegierte Performance | 255 Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung | 261 Erfahrungsgeschichte | 271 Hinführung zur Realness | 271 Dienstleistung und deren Verweigerung | 273 Nicht-Wissen markieren | 277 Die persönliche Perspektive | 277 Zäsuren und Brüche in der Affirmation | 281 Routinen verlassen: Ausdauer-dTOUR und Nacht-dTOUR | 284 Dekonstruktion als Arbeit mit dem Gegebenen | 289 Nachtrag: Wir lassen nicht locker | 295
Vermittlungskunst: »Und manchmal vermitteln sie sich lieber selbst!« Eine gemeinsame Arbeit am Projekt | 301 Bildung einer kritischen Öffentlichkeit | 305 Vom Verschwinden des Konflikts im Außenraum | 306 Inblicknahme der Institution | 309 Aufforderung zur und Verhinderung von Öffentlichkeit | 311 Re-Politisierung des Ausstellungspublikums | 317 Vortrag, Führung und Spaziergang: Das Publikum aktivieren | 319 Film: Eingliederung in die Choreografie | 322 Prosumer als Täterkollektiv | 329 Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹ | 337 En route to documenta XIII | 338 Die Weigerung des Textes, das zu tun, was er tun soll | 345 Eingriffe in den Text: Das Begleitbuch | 347 Transformation der Ausstellung | 354 Transformation durch die Institution dOCUMENTA (13) | 359
Schluss: »… rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.« Der Tanz ist zum Erliegen gekommen? | 367 Ein Überschuss, der der Beendigung widerspricht | 373
Anhänge Literaturverzeichnis | 381 Abbildungsverzeichnis | 407 Index und Werkverzeichnis | 409 Dank | 423
Format, Begriffe und Methode »Vorwort zur zweiten Auflage«
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Eingrenzungen des Formlosen
»Vor Kurzem verblüffte mich die Tatsache, dass bei den meisten Gemälden, die im Arab Museum of Modern Art in Doha ausgestellt sind, einige Reflexionen, wenngleich nicht alle, fehlen. Ich beschloss, ihnen mit diesen Werken einige zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, dass die Reflexionen auf meinen Fotografien meine Werke letztlich verlassen und sich auf die Gemälde im Museum übertragen lassen.« Walid R aad: Vorwort zur zweiten Auflage
Auf der dOCUMENTA (13) stellte der Künstler Walid Raad etwas abseits der Hauptschauplätze seine Künstlerische Forschung zu Konflikten und daraus resultierenden Entwicklungen im Nahen Osten aus. Die einzelnen Werke werden über Abschnitte und Kapitel eines imaginären Buches in einen Zusammenhang gestellt.1 Während ein Buch lineare Nachvollziehbarkeit verspricht, präsentiert Walid Raad fragmentarische Versatzstücke, die sich nur über eine durch ihn entwickelte Narration assoziieren lassen. Dieser stellt er mit dem Vorwort zur zweiten Auflage eine bestimmte Lesart zur Verfügung. Hierbei handelt es sich nur vordergründig um Darstellungen von Lichtspiegelungen, die von seinen Werken zu denen im Arab Museum of Modern Art in Doha emigrieren sollen, sondern die Werke selbst stellen eine Form des Nachdenkens dar, welches er an anderer Stelle zu vermissen scheint. Auch die vorliegende Untersuchung möchte Reflexionen zu einem – wenn auch an sich weniger schwerwiegenden, aber dennoch komplexen – Gegenstand zur Verfügung stellen: der dOCUMENTA (13), die über Werke wie die von Walid Raad allerdings mit etlichen weit reichenden Kontexten verbunden ist. Dieser Gegenstand fordert aufgrund seiner Anlage, die als Choreografie verstanden wird, ebenfalls ein assoziatives Vorgehen, dass durch das Format eines Buches nicht begünstigt wird. Aber im Gegensatz zu den Erscheinungsweisen und Äußerungsformen einer großen Ausstellung bedarf die wissenschaftliche Untersuchung einer Form.2 Bereits diese Diskrepanz verweist auf ein Anliegen der Künstlerischen Leiterin der dOCUMENTA (13),
1 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RA WA« (Walid Raad), Faltblatt »Scratching on Things I Could Disavow«. 2 | Vgl. R.M. Buergel/R. Noack: Vorwort, S. 11.
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Format, Begriffe und Methode
Carolyn Christov-Bakargiev: Ihre Choreografie soll »über die normativen Grenzen akademischer Textproduktion hinausweisen«3. Innerhalb des ersten Teils dieser Arbeit, der vor allem als Vorwort verstanden wird, wird zunächst der Untersuchungsgegenstand umrissen und in einer bestimmten Rezeptionsgeschichte positioniert, welche die documenta als Ausstellung einer Theorie mit Vermittlungsabsicht versteht. Der Begriff ›Vermittlung‹ umfasst etliche, sich teils überlagernde, aber auch konkurrierende Diskurse, die hier unter drei Perspektiven fokussiert werden. Der Teil schließt mit zwei Kapiteln zur Entwicklung von Bewertungskriterien und methodischen Positionierung ab. Die folgenden Teile stellen jeweils relativ in sich geschlossene Reflexionen zu Aspekten der dOCUMENTA (13) dar.
Untersuchungsgegenstand: Die Vermittlungsinstitution Großkunstausstellungen wie die documenta formulieren häufig den Anspruch, dem Publikum im Sinne einer ästhetischen Bildung einen eigenen Denk- und Handlungsraum zu eröffnen.4 Im starken Kontrast dazu steht die persönliche Verunsicherung, die Besucherinnen und Besucher oftmals in solchen Ausstellungen befällt. Diese resultiert zum einen vielfach aus der institutionellen Präsenz von Museum und Ausstellung und ihrem Anspruch nach Bildung und Erziehung, die weit bis in das 19. Jahrhundert zurück reicht. Zum anderen verursacht aber auch das, was ausgestellt ist, oftmals Ratlosigkeit bis Unbehagen. Dies betrifft vor allem moderne und aktuelle Kunst, d.h. eine Kunst, die ständig neue (Bild-)Sprachen entwickelt. Doch wie lassen sich monochrome Farbfelder, gestische Zeichenspuren oder installativ inszenierte Alltagsgegenstände in ihrer künstlerischen Aussage präsentieren und vermitteln? Welche Sprache wird benötigt, um Kunst in ihrer Atmosphäre, Interaktivität oder Prozesshaftigkeit zu kommunizieren und gleichzeitig diese Eigenschaften als grundlegende Kriterien von Kunst zu erkennen? Wie verändern kunstwissenschaftliche Begriffe und Diskurse wie Globalkunst, artistic research oder Post-Art die Parameter der Beurteilung des Ausgestellten und wie können diese von unterschiedlichen Besuchergruppen nutzbar gemacht werden? Hinzu kommt, dass sich Kunstrezipientinnen und -rezipienten im seltensten Fall nur einem Kunstwerk gegenüber verhalten müssen, sondern sich in Ausstellungen befinden, die eine Vielzahl solcher komplexen Werke in Zusammenhänge stellen, die wiederum selbst Kontext für das Einzelwerk sind und eine eigene Botschaft vermitteln wollen. Daniel Buren greift diese Doppelung in seinem Beitrag zum Katalog zur documenta 5 (1972) unter dem Titel Ausstellung einer Ausstellung kritisch auf: »Immer mehr neigen Ausstellungen dazu, nicht mehr Ausstellungen von Kunstwerken zu sein, sondern sich selbst als Kunstwerk auszustellen. Im Falle der documenta […] ist es das Team, das ausstellt (die Werke) und sich selbst ausstellt (vor der Kritik). Die ausgestellten Werke sind die sorgfältig ausgewählten Farbtupfen eines Bildes, das jeweils durch das Ensemble […] zusammenkommt. Diese Farben gehorchen einem bestimmten Ordnungsprinzip… So ist es klar, dass sich die Ausstellung selbst
3 | C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 4 | Vgl. J. Miller: Show You Love to Hate, S. 16.
Eingrenzungen des Formlosen als Gegenstand und das Thema als Kunstwerk anbietet. Die Ausstellung ist zwar der Ort, wo Kunst als Kunst bestätigt und aufgewertet, aber auch vernichtet wird…« 5
Durch den Vergleich mit einem Gemälde wird deutlich, dass die Ausstellung selbst als Kunstwerk einer anderen Ordnung betrachtet werden kann, bzw. sich als solches präsentiert. John Miller beschreibt dies als ›Wagnerianisches Gesamtkunstwerk‹, in dem die Kunstwerke nur noch als Elemente der Komposition verstanden werden können.6 Die Vereinnahmung der eigentlichen Kunstwerke zu einem Meta- oder Gesamtkunstwerk richtet sich zumindest potentiell gegen die eigenständigen Intentionen der Künstlerinnen und Künstler, mindert deren eigene kritische Wirkungsmacht und führt sie mitunter nur noch als Beweise für eine zu illustrierende These an. Aber auch die Fähigkeit des Publikums, die Ausstellung und die Einzelwerke selbst zu beurteilen, wird durch dominante Erläuterungen oder rahmenden Kontext geschmälert. 7 Es zeigt sich deutlich, dass das Verhältnis von Einzelwerk und Ausstellung ein von Macht geprägtes ist, sich beide gegenseitig notwendig bedingen, aber auch miteinander um Aufmerksamkeit konkurrieren.8 Natürlich ist es möglich, dem einzelnen Werk vertiefte Aufmerksamkeit zu widmen, aber das Medium Ausstellung stellt eine solche Form der Wahrnehmung nicht automatisch oder notwendig her. Unter den Bedingungen einer Großausstellung, die einem Spektakel gleicht, ist eine kontemplative und intensive Auseinandersetzung häufig schlicht unmöglich. Die von Daniel Buren formulierte ›Vernichtung‹ des Einzelwerkes gilt deshalb insbesondere für Großausstellungen wie die documenta, deren Anliegen es von ihrer ersten Ausgabe an war, eine räumliche Vermittlungsstrategie der Einzelwerke zu verwirklichen. Georg Imdahl spricht von einer Verlinkung der Elemente zu einem ›Hyperimage‹.9 Arnold Bode, Begründer der Ausstellungsreihe, forderte, keine Schranken oder Schutzzonen zwischen das Kunstwerk und die Betrachterinnen und Betrachter treten zu lassen. In dieser Forderung läst sich aber auch der Vorwurf einer Vereinnahmung begründen: die Inszenierung der Ausstellung sollte so wirken, dass eine schlüssige Präsentation der zu vermittelnden These an die Stelle von Didaktik träte.10 Arnold Bode »realisiert seine Vorstellung von Kunstvermittlung, eine aus der Praxis gewonnene Theorie, der zufolge jedes Werk ›inszeniert‹ werden, d.h. ihm mit Hilfe der ›zweiten Ordnung‹ der Rahmenumstände erst seine Wirkung ermöglicht werden muß.«11 Als Aufgabe von Großkunstausstellungen und Biennalen wird häufig formuliert, einen umfassenden und objektiven Überblick an Kunstwerken und Positionen zu liefern und den Besucherinnen und Besuchern zu vermitteln, was in internationaler Perspektive relevant ist.12 Arnold Bode nutzt das Bild eines Buches, um deutlich zu machen, wie sich diese Ausstellungen erschließen lassen: »Denn jede documenta war und ist ein großes Buch, das man beim Durchblättern (Durchschreiten) le5 | D. Buren: Ausstellung einer Ausstellung, S. 17/29. 6 | Vgl. J. Miller: Show You Love to Hate, S. 17. 7 | Vgl. ebd., S. 17. 8 | Vgl. B. Wyss: Ikonografie des Unsichtbaren, S. 363. 9 | Vgl. G. Imdahl: Großausstellung und Hyperimage, S. 97. 10 | Vgl. P. Borchers: Konzepte der documenten, S. 161. 11 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 25. 12 | Vgl. J. Miller: Show You Love to Hate, S. 16.
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Format, Begriffe und Methode
sen kann! Einiges bleibt – einiges fällt fort. Die documenta war und ist eine große Informations-Ausstellung, die vieles sichtbar macht – wer sehen will, kann sehen!«13 Die Forderung nach Überblick wird mit zunehmender Komplexität gleichzeitig notwendiger, aber auch paradoxer: »Je mehr sich der Zustand der Kunstszene verkompliziert, desto stärker wird die Hoffnung auf die klärende Kraft der Documenta durch ihre Objektivierung des Subjektiven.«14 Doch ist es überhaupt möglich oder sinnvoll, explizit subjektive künstlerische Äußerungen objektivieren zu wollen? Geht mit der Forderung, Übersicht über unterschiedlichste internationale Kunstströmungen zu generieren, nicht eine Komplexitätsreduktion einher, die dem Gegenstand nicht gerecht wird? Ist es möglich, unsere Welt zu lesen, wenn man es nur will? Ist die Vernichtung des Einzelwerkes also eigentlich von Publikum und Kritik geforderter Zweck der Ausstellung? Mit diesem Sichtweisenwechsel auf die Rahmung der Kunstwerke durch Theorie oder Konzept einer Ausstellung rückt statt der Künstlerinnen und Künstler eine neue Figur in das Zentrum der Aufmerksamkeit: »Die Ausstellung selbst als Kunstwerk auszugeben, ist eine offene Anspielung auf die diskreditierten Vorstellungen von Inspiration und Genialität, die nun ausgerechnet dem Kurator zufallen sollen.«15 Im Falle der documenta sind es die Künstlerischen Leiterinnen und Leiter, die spätestens seit der documenta 5 sowohl einer Findungskommission als auch der Kunstöffentlichkeit ein Konzept vorweisen und dieses vor der Kritik verteidigen müssen.16 Rudi Fuchs, Künstlerischer Leiter der documenta 7 (1982), positionierte sich im Diskurs um die Autonomie der ausgestellten Werke selbstbewusst, indem er die Ausstellung als eigenes Format stark macht, dessen Autorschaft nicht bei den Künstlerinnen und Künstlern, sondern bei den Ausstellungsmachern läge: »Ihr macht die Kunst, wir machen die Ausstellung.«17 Auch Jan Hoet entwirft seine DOCUMENTA IX (1992) als »bewusste und persönliche Stellungnahme zu unserer Zeit«18 und macht so deutlich, objektive Kriterien oder den Anspruch eines gemeingültigen Überblicks von sich zu weisen. Eine Haltung, welche die DOCUMENTA IX zu einer der am kritischsten rezipierten Ausgaben der Reihe werden lässt. Mit der documenta X (1997) vollzieht sich endgültig ein Umbruch in der Tradition der Ausstellungsreihe: Catherine David stellt eine Trias aus Ausstellung, einem umfangreichen Textband und einer Vortragsreihe zusammen.19 Diese documenta bezeichnete Amine Haase als »ein Lehrstück mit Vermittlungsmethode«20: »In der Art der Präsentation – die von keinerlei visueller Überredungsstrategie getrübt ist, sondern Statement für Statement zusammentragen und collagiert – wird sofort deutlich, wer diese Ausstellung bestimmt: Nicht das einzelne Kunstwerk, nicht der Künstler, sondern die Orchesterchefin David, die das Ensemble streng dirigiert. Sie hat die einzelnen Stimmen aus dem Vielklang des Kunstangebots ausgesucht, und sie will 13 | A. Bode: Vorwort, S. 15. Die im Original verwendeten Umbrüche wurden nicht übernommen. 14 | H. Kimpel zitiert nach W. Seppmann: Mechanismen ideologischer Formierung, S. 24. 15 | J. Miller: Show You Love to Hate, S. 17. 16 | M. Schneckenburger: Die documenta, S. 89. 17 | R. Fuchs: documenta 7, S. 99. 18 | J. Hoet zitiert nach H. Kimpel: Die Überschau, S. 115. 19 | Vgl. S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 22. 20 | A. Haase: Ausstellung als Wandzeitung, S. 81.
Eingrenzungen des Formlosen diese Stimmen zu einem Chor zusammenbringen, der die von ihr erdachte Melodie singt.« 21
Statt von einem Bild mit Farbtupfen, wie bei Daniel Buren, ist hier von einem Chor, der die Vielstimmigkeit unter einer Orchesterchefin zu einer Melodie bündelt, die Rede. Die Vergleichbarkeit liegt auf der Hand. Dennoch wird der Vorwurf der Vernichtung der Kunstwerke an dieser Stelle nicht aufgegriffen. Stattdessen wird bescheinigt, dass es Catherine David gelungen sei, ihre These ohne ›Überredungsstrategie‹ zu vermitteln, die Statements der Künstlerinnen und Künstler zwar zusammenzutragen, aber nicht zu verklären. Dieses Urteil erscheint umso erstaunlicher, wenn man die Wirkungsmacht der Verschiebung innerhalb des Kunstfeldes bedenkt, welche durch die Einbindung eines kritischen Diskurses in eine Ausstellung vollzogen wurde. Okwui Enwezor, Künstlerischer Leiter der Documenta11 (2002), bezeichnet die Ausstellung schließlich als ›diskursives System‹, welches er in mehreren Plattformen an fünf internationalen Standorten verwirklichte.22 Diese Öffnungen des Mediums Ausstellung hin zu einem Netzwerk aus Kunst und Theorie, welches sich nicht mehr nur als eigentliche Ausstellung in Kassel, sondern auch als Publikationen, Vortragsreihen oder Workshops mit internationalem Rahmen manifestiert, wurde von den folgenden Ausgaben bzw. deren Künstlerischen Leiterinnen und Leitern jeweils in unterschiedlicher Ausprägung fortgeführt. Es wird deutlich, dass es heute für die einzelne Besucherin bzw. den einzelnen Besucher unmöglich ist, das gesamte System einer solchen Großausstellung zu erfassen. Ausstellungen zu erschließen, bedeutet nicht nur Genuss oder Vergnügen, sondern auch Arbeit. Sie sind Herausforderungen für das Publikum, die Kritik und die Kunstwissenschaft. Die Ausstellung selbst und mit ihr die Theorien ihrer Macherinnen und Macher, sind anscheinend vermittlungsbedürftig geworden.23 Fast alle großen Kunstausstellungen versorgen ihre Besucherinnen und Besucher mit Hilfestellungen in Form von Wandtexten, Katalogen und Führungsangeboten. Die oben angeführten Beschreibungen – und Vorwürfe – gegenüber der documenta und anderen Großkunstausstellungen beziehen sich allerdings nicht auf deren pädagogische Bemühungen, sondern auf die Tendenz der gesamten Institution, etwas zu vermitteln. Oliver Marchart stellt fest: »Dass viele Kunstinstitutionen sich also eine eigene Vermittlungsabteilung leisten, verdeckt nur die Tatsache, dass die Institution selbst eine große Vermittlungsabteilung ist.«24 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Vermittlungsabteilungen sind damit immer schon Teil der durch die Institution konzipierten Gesamtvermittlung, egal welche institutionskritischen oder subversiven Praxen sie verfolgen mögen. Harald Kimpel bezeichnet die documenta daher als ›Vermittlungsinstitution‹. Dieses Begriffsgebilde hat einige Implikationen. Erstens: Die documenta agiert als Institution.25 Mithin eine Organisation mit definierten Aufgaben und Zielen, die sich möglicherweise auch verschieben, aber vor allem durch eine – auch über die unterschiedlichen Ausgaben der Reihe 21 | Ebd. 22 | Vgl. O. Enwezor/A. Haase: Kunst als Teil, S. 85. 23 | Vgl. H. Kimpel: Die Überschau, S. 62. 24 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 80. 25 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 80.
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Format, Begriffe und Methode
fortlaufende – Tradition gekennzeichnet ist. Er stellt fest, dass die documenta ihre ursprüngliche Aufgabe, die er als Alleinstellungsmerkmal bezeichnet, verloren habe.26 Dennoch scheint es, dass Kunstkritik und Publikum die Erfüllung dieser nach wie vor verlangen, indem sie eine objektive und autoritäre Überblicksschau fordern. Die positiven Aspekte dieses Verlustes, der sich tatsächlich eher als Verschiebung hin zu einem explizit subjektivistischen Ansatz darstellt, geraten dabei aus dem Blick und müssen mit jeder Ausgabe erneut begründet und verteidigt werden. Zweitens: Diese Institution betreibt die Vermittlung ihrer Inhalte an das Publikum, evtl. auch an die Gesellschaft.27 Dabei eröffnet sich ein »Spannungsfeld aus Dokumentationsbehauptungen und Durchsetzungsinteressen«28, denn: »Es genügt nicht, etwas produziert zu haben – es muß auch ›durchgesetzt‹ werden, um gesellschaftlich als künstlerisches Objekt wirksam werden zu können: das heißt, es genügt nicht, eine Kunstbehauptung zu formulieren – diese muß auch den Filter der vermittelnden Instanzen passieren, der sich in zunehmender Komplexität zwischen Produzenten und Publikum geschoben hat.« 29
Walther Grasskamp spricht in diesem Zusammenhang von einer ›Ideologie der Vermittlung‹.30 Es wird angenommen, dass es Inhalte gibt, die vermittelt werden müssen und ein Publikum, an das sich diese Bemühungen richten.31 Es lassen sich unterschiedliche Ansätze für eine Kritik an dieser Haltung festmachen: Oliver Marchart bezeichnet Großausstellungen als »Hegemoniemaschinen der – bürgerlichen, nationalstaatlichen, okzidentalistischen, europäistischen – Dominanzkultur.«32 Auch John Miller stellt fest, dass der Ritualcharakter dieser Events dazu beiträgt, bestehende Strukturen und Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten.33 Werner Seppmann formuliert noch schärfer: »[D]ie Documenta [ist] nach wie vor eine Veranstaltung mit grundlegender Manipulationstendenz, eine Institution zur Entsorgung ernsthafter Kunst und eine Flucht vor einer verständigen Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen.«34 Aber John Miller stellt auch fest, dass das Abschaffen dieses Rituals und damit kein Statement zu geben, nicht zur Lösung dieser Situation führe. Dadurch gäbe man nur die Möglichkeit auf, kritisch-dekonstruktiv in den Diskurs einzusteigen und somit andere, subversive Perspektiven zu formulieren, die quer zu dem hegemonialem System stünden.35 Drittens: Schließlich ist im Begriff ›Vermittlungsinstitution‹ die Annahme ungenannt, es handele sich bei den Inhalten, welche diese Institution vermittelt, um Kunst.36 Harald Kimpel vertritt dem entgegen die Annahme, dass Teile der vermit26 | Vgl. ebd., S. 218. 27 | Vgl. ebd., S. 80. 28 | Ebd., S. 245. 29 | Ebd., S. 76f. 30 | W. Grasskamp: Museumsgründer und Museumsstürmer, S. 84. 31 | Vgl. ebd. 32 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 9. 33 | Vgl. J. Miller: Show You Love to Hate, S. 15. 34 | W. Seppmann: Ästhetik als Ideologie, S. 13. 35 | Vgl. J. Miller: Show You Love to Hate, S. 15. 36 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 80.
Eingrenzungen des Formlosen
telten Inhalte nicht explizit als Kunst gelten müssen oder können. Pointierter wird die Unterscheidung, wenn er positiv formuliert, was zusätzlich zur Kunst noch vermittelt wird: »In allen Analysen und Kommentaren ihrer bisherigen Rezeptionsgeschichte wird die documenta als Kunstausstellung behandelt; sie ist jedoch mehr: Sie ist eine Theorieausstellung.«37 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer documenta-Ausstellung fordert somit mehr als eine Untersuchung der dort ausgestellten Kunst: nämlich eine kritische Aufarbeitung der durch diese Ausstellung vermittelten Theorie und deren Verhältnis zu einzelnen künstlerischen Positionen. Das Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es, zu analysieren, auf welche Weise die Theorie oder das Konzept der dreizehnten documenta an ihre Besucherinnen und Besucher vermittelt wurde, somit wie sie als ›Vermittlungsinstitution‹ strukturiert wurde. Der eingangs beschriebenen Diskrepanz zwischen persönlichem Erleben und theoretischem Überbau soll nachgegangen werden, indem untersucht wird, welche Aussagen, Theorien und Konzepte explizit und implizit vermittelt wurden, um diese mit den Ambitionen der Ausstellung kritisch abzugleichen. Dieses Anliegen hat mehrere Verschiebungen erfahren, die sich vor allem durch den besonderen Status des Konzeptes der dOCUMENTA (13) ergaben.
Innerhalb der Grenzen: Aufbau der Arbeit Die Untersuchung der ›Vermittlungsinstitution‹ dOCUMENTA (13) bedarf grundlegender Analysen der unterschiedlichen Perspektiven auf den Begriff ›Vermittlung‹, die gemeinsam mit der Entwicklung von Bewertungskriterien und einer Methoden-Bricolage den ersten Teil der Untersuchung bilden. Es folgen zwei Annäherungen an Struktur und Gegenstand der Vermittlung: Zunächst wird dem Motiv des Tanzes bzw. der Choreografie als Ordnungsprinzipien der dOCUMENTA (13) nachgespürt und diese in Bezug zu ordnenden Strukturen vorheriger documenta-Ausstellungen und aktuellen Forschungen der Tanzwissenschaft gesetzt. Daraufhin erfolgt eine Annäherung an das, was einem Konzept der dOCUMENTA (13) am nächsten kommt, den sogenannten ›Geisteszustand‹. Dazu wird in Bezug auf die Rotunde des Fridericianums die ›pars pro toto‹-These historisch nachvollzogen, kritisch beleuchtet und für die Untersuchung des Brain angewendet. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich über die Blickwinkel dreier Gruppierungen von Akteurinnen und Akteuren den Strategien der Vermittlung von Choreografie und Geisteszustand angenähert: erstens dem der Kuratorischen Praxis, welcher sowohl (Selbst-)Inszenierung und Strategien der Künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev umfasst als auch kuratorische Setzungen in Form von Ausstellungsensembles, bei denen die Autorschaft sich auf ein kuratorisches Team ausweitet; zweitens dem der als Maybe Education and Public Programs (im Folgenden nur noch als Maybe Education bezeichnet) ausgewiesenen Vermittlungsabteilung der dOCUMENTA (13), wobei auch hier ein deutlicher Fokus auf die personale Vermittlung gelegt wird und die weiteren Programme nur kontextualisiert werden sollen; drittens dem Blickwinkel einer Auswahl von Künstlerinnen und Künstlern, die sich entweder Strategien der Vermittlung bedienen oder deren Arbeit eine deutliche Auseinandersetzung mit der Theorie der dOCUMENTA (13) beinhaltet – diese Künstlerinnen und Künstler 37 | Ebd., S. 247f.
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Format, Begriffe und Methode
waren größtenteils Teil der Public Programs, so das auch dieser Bereich zumindest in Teilen umrissen wird. Kuratorische Praxis, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst treten dabei nur scheinbar als sauber getrennte Praktiken auf, tatsächlich fallen alle möglichen Begriffspaare im Verlauf dieser Arbeit mehrfach in eins zusammen – sie stellen daher drei Blickwinkel auf den gleichen Gegenstand dar, die sich häufig überlagern, kreuzen, aber mitunter auch kollidieren. Nur gemeinsam beginnen sie ein klares Bild dessen zu zeichnen, was das komplexe System der dOCUMENTA (13) war, ist und sein könnte.38 Daher folgt die Form des Aufbaus eher den Erfordernissen akademischer Texte und nicht den Erfordernissen des Gegenstandes dOCUMENTA (13). Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Untersuchung hat die documenta als die »große Ausstellung […] keine Form«39 und bedarf dieser auch nicht. Sie ist im Falle der dOCUMENTA (13) sogar willentlich widerständig und weist über logozentrische Strategien hinaus.40 Dies führt einerseits zu Passagen, die eher assoziativ oder essayistisch aufgebaut sind. Andererseits bedingt dies, dass sich die Untersuchung zwar linear lesen lässt, an vielen Stellen aber eher als Hypertext argumentiert41 Dieser zweite, weniger offensichtliche Aufbau der Arbeit ist es, der den Erfordernissen des Gegenstandes Rechnung tragen möchte. Als Einstiege in diese Struktur bieten sich die Notizen zum Motiv des Tanzes auf der dOCUMENTA (13) (vgl. S. 79), der Schlussteil (vgl. S. 373) oder der angehängte Künstlerindex (vgl. S. 409) an. Schließlich versteht sich auch der abschließende Teil weniger als Antwort auf den eingangs formulierten Fragenkomplex, als denn als Beendigung der Untersuchung, die wesentliche Gedankengänge reflektiert und hoffentlich zu einer weiteren Lektüre des umfangreichen Materials der dOCUMENTA (13) motiviert.
Standortbestimmung: Forschungsstand Sowohl Ausgangspunkt der Fragestellung dieser Untersuchung als auch Grundlegung der Herangehensweise waren die Sammelbände Kunstvermittlung 1: Arbeit mit dem Publikum, Öffnung der Institution. Formate und Methoden der Kunstvermittlung auf der documenta 12 und Kunstvermittlung 2: Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts.42 Eine Einordnung der Vermittlung auf der documenta erfolgte vor allem durch Oliver Marchart in Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11 und d12 und die Politik der Biennalisierung und durch die umfangreiche Forschung Harald Kimpels, hauptsächlich documenta. Mythos und Wirklichkeit, aber auch die gemeinsam mit Karin Stengel herausgegebenen Bildbände zu den ersten documenta-Ausstellungen. Der von Hans Eichel zum 60. Geburtstag der Ausstellungsreihe herausgegebene Sammelband 60 Jahre documenta. Die lokale Geschichte einer Globalisierung bietet ebenfalls grundlegende Einsichten, die sich vor allem in den Beiträgen mehrerer Künstlerischer Leiterinnen 38 | Vgl. N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 79. 39 | Vgl. R.M. Buergel/R. Noack: Vorwort, S. 11. 40 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 41 | Vgl. G. Imdahl: Großausstellung und Hyperimage, S. 103. 42 | Vgl. W. Wieczorek/C. Hummel/U. Schötker/A. Güleç/S. Parzefall: Kunstvermittlung. Vgl. C. Mörsch: Kunstvermittlung.
Eingrenzungen des Formlosen
und Leiter eröffnen. Unverzichtbares Quellenmaterial stellen die Kataloge aller documenta-Ausstellungen dar. Die begriffliche Unterteilung von ›Vermittlung‹ in Kuratorische Praxis, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst ergab sich aus der Notwendigkeit, mehrere breite und sich überlagernde Diskurse zu strukturieren, die in den Begriffsbestimmungen im folgenden Kapitel umrissen werden. Besondere Klärung lieferten Thomas Wulffen: Radikales Kuratieren in hegemonialen Systemen, Beatrice von Bismarck: Curating Curators, Eva Sturm: Im Engpass der Worte, Nora Sternfeld: Unglamorous Tasks: What Can Education Learn from its Political Traditions, Marius Babias: Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Stella Rollig: Projektorientierte Kunst in den 90er Jahren und Stefan Germer: Unter Geiern, Kontext-Kunst im Kontext. Eine hilfreiche Einordnung der künstlerischen Strategien der dOCUMENTA (13) findet sich in der Einleitung Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis von Johannes Lang zum Sammelband Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation. Im Zusammenspiel mit dem aus der Kunstvermittlung heraus argumentierenden Aufsatz Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen. Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation von Carmen Mörsch konnten Kriterien für die drei in dieser Untersuchung beleuchteten Perspektiven auf Vermittlung gewonnen werden. Zur Methode der Ausstellungsanalyse liefert der Sammelband Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes vielseitige Zugänge, von denen vor allem Heike Buschmann mit Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse als Grundlegung für diese Untersuchung diente. Weitere Impulse lieferten Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch in Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen und Mieke Bal mit Double exposures: the subject of cultural anaysis. Der verwendete Begriff der ›Methoden-Bricolage‹ stammt ebenfalls von Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch. Neben den bisher aufgeführten Autorinnen und Autoren fügen sich Ansätze zur Feldforschung (Clifford Gertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme), zur Spurensicherung (Carlo Ginzburg: Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes und Gunnar Richter: Der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit – Eine lokale Studie über ein Verbrechen der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Methoden des Recherierens), der Relationalen Ästhetik mit besonderem Fokus auf Körperlichkeit und subjektive Erfahrungen (Sandra Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst), dem Verhältnis zwischen Kuratorischer Praxis und Besucherinnen und Besuchern von Ausstellungen (Judith Barry: Dissidente Räume, Maren Ziese: Kuratoren und Besucher und Anna-Lena Wenzel: Ausstellungen und normiertes Besucherverhalten. Die documenta 12 als Beispiel für den Versuch eines nicht-normativen Ausstellungskonzeptes) und zum spekulativen Realismus (Armen Avanessian: Das spekulative Ende des ästhetischen Regimes) ein. Eine Besonderheit der vorliegenden Analyse ergab sich über das in der dOCUMENTA (13) angelegte Motiv einer Choreografie, das den ersten Zugang innerhalb dieser Untersuchung darstellt. Über die Sammelbände Notationen und choreographisches Denken und Choreografie – Medien – Gender und vor allem die Impulse von Kirsten Maar, z.B. in Choreografische An-Ordnungen, konnten Verbindungen von der Tanzwissenschaft in die bildende Kunst nachgezeichnet werden, die in dieser Untersuchung in umgekehrter Richtung nutzbar gemacht werden.
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Eine weitere Annäherung an die dOCUMENTA (13) erfolgt über die ›pars pro toto‹-These, die von Volker Rattemeyer und Renate Petzinger zur documenta 8 publiziert wurde: Pars pro toto. Die Geschichte der documenta am Beispiel des Treppenhauses des Fridericianums. In Folge wurde diese These immer wieder aufgegriffen, so z.B. bei Christoph Lange Das Museum Fridericianum als Gedächtnisort der documenta oder Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11. Neben einer Analyse des Ausstellungsensembles Brain erfolgt in dieser Untersuchung eine kritische Perspektivierung der ›pars pro toto‹-These. Die Primärquellen der dOCUMENTA (13), die Publikationsreihe 100 Gedanken – 100 Notizen, die in das Buch der Bücher überführt wurden, das Logbuch und das Begleitbuch, stellen einen umfangreichen Material-Korpus zur Verfügung. Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Texte von Carolyn Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, Über die Zerstörung von Kunst – oder Konflikt und Kunst, oder Trauma und die Kunst des Heilens und »Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit«, die durch die Sichtung zahlreicher Interviews und Vorträge ergänzt wurden. Im Verhältnis zur medialen Präsenz der Künstlerischen Leiterin fällt eine über Berichterstattung hinausweisende, wissenschaftliche Analyse ihrer Kuratorischen Praxis verhältnismäßig dünn aus. Erwähnenswert erscheinen Michael Hübl: Eine Omnipotenzphantasie. Die dOCUMENTA (13) zwischen kosmischen Einschlag und Kleingarten-Appeal, NS-Remineszenzen und Quantenphysik, Nanne Buurmann: Angels in the White Cube? Rhetoriken kuratorischer Unschuld bei der dOCUMENTA (13) und Dorothea von Hantelmann: Die documenta: eine Gesellschaft arbeitet an sich selbst – wobei letztere hauptsächlich über einzelne Kunstwerke argumentiert. Die historische Entwicklung der Vermittlungsangebote ließ sich neben einer ausführlichen eigenen Recherche im documenta archiv vor allem über den bereits erwähnten Aufsatz von Carmen Mörsch und ErwartungsRaum – Kunstvermittlung auf documenta-Ausstellungen d11 bis d(13) von Juliane Gallo erschließen. Zur Maybe Education findet sich neben den wenigen durch die dOCUMENTA (13) publizierten Texte im Wesentlichen nur der durch Claudia Hummel herausgegebene Sammelband Finding Something Bad About Mickey Mouse. Über die Arbeit im Studio d(13) für Kids und Teens auf der dOCUMENTA 13. Ansonsten ist die Maybe Education auf verschiedenen Tagungen vor allem durch Sandra Ortmann, Ayşe Güleç und mich selbst umrissen worden, wobei sich in der Regel auf die personelle Vermittlung innerhalb der dTOURS beschränkt wird und die umfangreichen weiteren Programme zunehmend aus dem Blick geraten. Eine besondere Erwähnung der nicht-publizierten Abschlussarbeiten Maybe Education – Arts Based Learning at dOCUMENTA (13) von Joshua Raphel Weitzel und Denken und Wirklichkeit im Feld der dOCUMENTA (13). Überlegungen zu einer forschenden Praxis von Lena Johanna Reisner erscheint angebracht: Gemeinsam arbeiteten wir als Worldly Companions für die dOCUMENTA (13). Aufgrund mangelnder Vernetzung sind es weniger Impulse zur Lösung ähnlicher Probleme mit dem Gegenstand, sondern eher eine gegenseitige Bestätigung zum Umgang mit der eigenen Rolle im Feld und auch zu geäußerter Kritik im Nachhinein, die diesen Arbeiten zu verdanken ist. Joshua Raphael Weitzel führte zudem mehrere Interviews mit Julia Moritz, der Leiterin der Vermittlungsabteilung der dOCUMENTA (13), die wertvolles Material zur Verfügung stellten. Im Gegensatz zur documenta 12 hat die dOCUMENTA (13) trotz der umfangreichen Menge an Publikationen keine Forschung über die eigene Vermittlung angesto-
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ßen bzw. die durch die unzähligen Veranstaltungen gemeinsam erreichten Erkenntnisse nicht umfassend dokumentiert, evaluiert und publiziert. Darin ist möglicherweise ein programmatischer Anspruch der Verweigerung und eine Erwartungshaltung ablesbar. Auch wenn sich diese nachvollziehen lassen (und im Verlauf dieser Untersuchung nachgezeichnet werden), ist aus Sicht des Kunstwissenschaftlers der Verlust bedauerlich, zumal die Akten der dOCUMENTA (13) im documenta archiv bisher nur in Ausnahmen zugänglich sind. Darüber hinaus bildet sich dadurch in Bereichen, die nicht im Zentrum der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit angesiedelt sind und dennoch einen offenen Diskurs benötigen, um aus vergangenen Erfahrungen zu lernen, ein relativ hermetischer Kreis Eingeweihter. Darin sehe ich ein Desiderat, welches neben offensichtlicher wissenschaftlicher Relevanz auch eine besondere Verantwortung der Institution documenta gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern darstellt.43 Ruth Noack spricht in diesem Zusammenhang auch von ›kuratorischer Ethik‹.44 Berücksichtigt man, dass sowohl die Analyse von Ausstellungen als auch deren Vermittlung relativ neue Forschungsfelder sind, für die sich bisher noch kein Methodenapparat etabliert hat, wird deutlich, wie richtungsweisend die Institution hier tätig werden könnte.45 Zur documenta 14 gibt es mit aneducation – documenta 14 eine offizielle Publikation zur Vermittlung sowie eine selbstverlegte, unabhängige Publikation der Vermittlerinnen und Vermittler: Dating the chorus. In Bezug auf die dOCUMENTA (13) finden sich zahlreiche Aufsätze zu einzelnen künstlerischen Positionen. Insbesondere Pierre Huyghe, Tino Sehgal und Rabih Mroué wurden besprochen. Dennoch stützt sich dieser Teil der Untersuchung vor allem auf Primärquellen, Aktenbestände und eigene Analysen. Eine Ausnahme stellt der bereits erwähnte Artikel von Dorothea von Hantelmann dar. Ich selbst habe mehrere Artikel zu Künstlerinnen und Künstlern der dOCUMENTA (13) veröffentlicht, von denen zwei (Instructions and Advice How to Shoot Today. Choreografien des Todes in bewegten und bewegenden Bildern zeitgenössischer Video-Kunst sowie Aus der Deckung gehen. Die Spring/Summer-Collection von Seth Price und Tim Hailton) in überarbeiteten Auszügen in diesen Text eingearbeitet wurden. Dies ist an den entsprechenden Stellen separat gekennzeichnet. Die documenta bedingt neben einem großen Presseecho auch einige populärwissenschaftliche Überblickswerke, wie z.B. die regelmäßig erscheinenden Meilensteine von Dirk Schwarze oder auch documenta. Die Überschau von Harald Kimpel. Obwohl diese sicherlich geeignete Zugänge zur documenta anbieten, zeigte die eigene Erfahrung mit der dOCUMENTA (13), wie ausschnitthaft diese Überblickswerke vorgehen und das Bild einer Ausstellung dadurch eher einengen als tatsächlich Überblick zu gewähren. Daraus resultiert das Anliegen, mit dieser Untersuchung, obwohl sie ebenfalls keinen Anspruch auf Überblick oder gar Vollständigkeit erheben kann, dennoch ein Gegenmodell anzubieten.
43 | Vgl. W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 58. 44 | Vgl. J. Gallo: ErwartungsRaum, S. 167. 45 | Vgl. J. Scholze: Medium Ausstellung, S. 8. Vgl. B. Jaschke/C. Martínez-Turek/N. Sternfeld: Vorwort, S. 9.
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Wenn die documenta nicht mehr ausschließlich als Kunstausstellung, sondern als ›Theorieausstellung‹ mit einer ›Ideologie der Vermittlung‹, als eine ›Vermittlungsinstitution‹ oder sogar ›Hegemoniemaschine‹ begriffen wird, muss, um diese zu untersuchen, nicht nur geklärt werden, welche Inhalte, welche Theorien und Konzepte vermittelt werden sollen, sondern auch, was unter Vermittlung tatsächlich verstanden wird. Die unscharfe Nutzung des Begriffs zeigt sich nicht nur in der Forschungsliteratur – und damit ebenso im bisherigen Text dieser Untersuchung –, sondern beispielsweise auch in dem zur dOCUMENTA (13) erschienenen Band des Kunstforum International: Hier werden Vermittlung von Arbeitsplätzen, Verkauf von Kunstwerken, der allgemeine höhere Umsatz des Einzelhandels in Kassel zur documenta, Führungen durch die Worldly Companions, politische Demonstrationen sowie Streitschlichtung als »Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft«1 zusammengefasst. Tatsächlich kann der Begriff nur vage sein, da die Aufgabe der Vermittlung sich stets im Bezug auf ein konkretes Werk oder einen Metatext befindet, mit dessen Besonderheiten Rezipierenden konfrontiert werden sollen.2 Der Begriff ›Vermittlung‹ existiert darüber hinaus in dieser Form nur im Deutschen. »Es bedeutet alle möglichen Arten, sich über Kunst zu verständigen, über Kunst zu kommunizieren, von der Pressemitteilung über die Webseite, über das, was sich im Ausstellungsraum abspielt, bis zu Ausflügen und Workshops«3. Vermittlung erschöpft sich zwar nicht in Expertenwissen, aber dennoch wird in der Regel von einem vorhandenen Informationsgefälle ausgegangen. Dies ist ein typisches Defizitmodell, welches davon ausgeht, der Gegenstand sei vermittlungsbedürftig, ohne gleichzeitig die Rolle der Vermittlung zu hinterfragen.4 Carmen Mörschs Vorschlag, Kunstvermittlung als »die Praxis [zu verstehen], Dritte einzuladen, um Kunst und ihre Institutionen für Bildungsprozesse zu nutzen: sie zu analysieren und zu befragen, zu dekonstruieren und gegebenenfalls zu verändern«5, eröffnet einen Möglichkeitsraum für unterschiedliche Akteure, Vermittlung mit unterschiedlichen Intentionen und Strategien zu betreiben – auch solche, die nicht oder nur zum Teil eine Zugehörigkeit zur Institution selbst haben: Künstlerinnen und Künstler sowie Kuratorinnen und Kuratoren wurden bereits genannt, aber auch die Wissenschaft, die Kunstkritik, andere 1 | J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 348. 2 | Vgl. T. Loer: Die Sache selbst, S. 43. 3 | N. Ilic/M. Lind/N. Schafhausen/J. Schillinger: Zwischen Kunst und Öffentlichkeit, S. 81. 4 | Vgl. J. Kirschenmann/W. Stehr: Die Kuh muss zurück, S. 7. 5 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9.
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Institutionen, Sponsoren, der Kunsthandel sowie staatliche und private Bildungseinrichtungen können eine Stimme haben.6 Sie nutzen für ihre Vermittlung jeweils unterschiedliche Ebenen und Medien. Vor allem aber unterscheiden sie sich in ihrem symbolischen Kapital. Das jeweilige Verständnis der unterschiedlichen Praktiken soll im Folgenden jeweils umrissen werden.
Kuratorische Praxis: Zwischen Kuratoren und dem Kuratorischen Kuratorinnen bzw. Kuratoren sind ursprünglich verantwortlich für das Sammeln, Ordnen, Bewahren und Vermitteln der Objekte einer Institution.7 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden diese Aufgaben verstärkt auf mehrere spezialisierte Personen verteilt. Dabei wurde Vermittlung durch Ausstellungsgestaltung, Inszenierung und allgemeine Kommunikation zur Hauptaufgabe des neuen Berufsverständnisses. Die Ausstellung wird dadurch zum zentralen Vermittlungsmedium, innerhalb dessen Auswählen, Zusammenstellen und Ordnen zu bedeutungsstiftenden Verfahren werden.8 Verschiedene Autorinnen und Autoren sprechen von einem durch die documenta begründeten Trend, dass »der Name der Ausstellungsmacher wichtiger ist als das Ausgestellte«9. Dabei geht es »nicht um das Was der Ausstellung, sondern nur um das Wer ihres Organisators. Die Person des Kurators avanciert zum alleinigen Sinngeber der Ausstellung.«10 Selbst wenn man diese radikale Formulierung nur teilweise einräumt, lässt sich feststellen, dass Kuratorinnen und Kuratoren Teil der ›Celebrity Culture‹ innerhalb der Kunstwelt und mit erheblichem symbolischen Kapital ausgestattet sind.11 Wie sehr die Künstlerische Leitung einer documenta-Ausstellung in den Fokus des medialen Interesses rücken kann, selbst als ›erstes Exponat‹ angesehen wird, macht Harald Kimpel an Catherine David deutlich: »Je weniger über Arbeitsmethoden und Konzeptvorstellungen von ›Madame Eigensinn‹ nach außen dringt, desto intensiver hält sich die Kunstkritik mit Äußerlichkeiten auf: ›Schneewittchen‹, ›heilige Johanna‹, ›zartscheue Märchenfee‹ sind nur einige der vorzugsweise literarisch inspirierten Titulierungen, die sich die ›zierliche Pariserin‹ seitens ihrer männlichen Kritikerschaft gefallen lassen muß. In dem Maß, wie sich die ›spröde Dame‹ den Medien verweigert, wird sie selbst zum Medienobjekt[...]. Dabei nimmt die ›kühle Schwarzhaarige‹ für manche Beobachter gar mythologische Dimensionen an: ›Sphinx‹ und ›Pythia‹ glaubt man in ihr erkennen zu können. Und wird später der Blick sachlicher, konstatiert er die Identität von Person und Produkt: ›spröde, schroff, konsequent, kompromißlos, kopflastig und ernst‹ sind Ausstellung wie Kuratorin.« 12
6 | S. Brunsiek: Versuch einer Systematisierung, S. 123ff. 7 | Vgl. B. von Bismarck: Curating, S. 108. 8 | Vgl. ebd., S. 108f. 9 | G. Schöllhammer: Kuratiert von, S. 31. 10 | O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 33. 11 | Vgl. N. Ilic/M. Lind/N. Schafhausen/J. Schillinger: Kunst und Öffentlichkeit, S. 71. 12 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 129.
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Dass eine kritische Befragung einer solchen Personalisierung – die vor allem bei weiblichen Akteurinnen erfolgt – auch innerhalb dieser Untersuchung erfolgen muss, zeigt sich an den Zuschreibungen, die Carolyn Christov-Bakargiev erhalten hat, z.B. »Madame Maybe«13, »Lady Gaga der Kunst«14 oder sogar »Mini-Mubarak«15. Neben der Popularisierung der Kuratorischen Praxis kam es in den 1990er Jahren zu einer Professionalisierung und Verschiebung innerhalb kuratorischer Tätigkeiten.16 Im Zuge der immer komplexer erscheinenden Kunstwelt ist es die Instanz der Kuratorin bzw. des Kurators, welche »die Sondierung, Auswahl und Bündelung von künstlerischen Einzelpositionen«17 übernehmen soll. Diese Instanz betreibt somit Vermittlung. Die vielleicht deutlichste Verschiebung im Feld des Kuratorischen ist, dass Kuratorinnen und Kuratoren heute für sich und ihr Handeln den Autonomiestatus geltend machen können, der bisher ausschließlich Künstlerinnen und Künstlern vorbehalten war.18 Nur dadurch war es historisch möglich, sich vom klassischen Verständnis des Berufsfeldes abzugrenzen.19 Die im Vorfeld bereits diskutierte Kritik an Kuratorinnen und Kuratoren »richtete sich gezielt gegen Projekte, in denen Kuratorinnen ›ihr kuratorisches Konzept als das eigentliche künstlerische Produkt und sich selbst als die eigentlichen Künstler verkaufen‹«20. Helmut Draxler beobachtet allerdings eine wechselseitige Verschiebung: »Today, many of the most interesting art projects are essentially curatorial. What appears to happen is a kind of continuous exchange between artists and curators, in which the specific roles are not abandoned but constantly readjusted in relation in each other«21. Während künstlerische Projekte durch kuratorisches Handeln also häufig symbolisch aufgewertet werden, bedeutet diese Verschiebung von der Seite der Kuratorinnen und Kuratoren »in den meisten Fällen den Vorwurf hypertropher Selbstverwirklichung auf Kosten der ›wahren‹ Kreativen.«22 Durch steigende Popularisierung oder durch einen Status der Autonomie begründet, übernehmen Kuratorinnen und Kuratoren somit nicht bloß organisatorische Autorschaft einer Ausstellung, sondern auch häufig deren Interpretation.23 Bazon Brock, der maßgeblich an der Konzeption der documenta 5 und der Vermittlung mehrerer weiterer Ausgaben beteiligt war, räumt ein, dass ein Konzept oder eine Besucherschule – das Vermittlungskonzept Bazon Brocks – nicht den Zusammenhang vorgeben sollte. Ein solches kann nur vormachen, »wie jemand, zum Beispiel der Verfasser der Besucherschule oder ein Künstler, durch eigene Aussagen und Handlungen den Zusammenhang für sich selbst herstellt.«24 Den Zusammenhang, den kuratorische Konzepte durch Ausstellungen herstellen, bezieht Bazon Brock auf den berechtigten Anspruch 13 | D. Boese: Schluss mit vielleicht, o.S. 14 | B. Fraschke/W. Fritsch/M. Lohr: Lady Gaga der documenta, o.S. 15 | H. Rauterberg: Die Heilerin, o.S. 16 | Vgl. S. Beckstette/B. von Bismarck/I. Graw/O. Lochner: Vorwort, S. 4. 17 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 43. 18 | Vgl. S. Beckstette/B. von Bismarck/I. Graw/O. Lochner: Vorwort, S. 4. 19 | Vgl. O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 31. 20 | B. von Bismarck: Curating, S. 110. Eingeschlossenes Zitat von S. Schade nicht nachgewiesen. 21 | H. Draxler: Crisis as Form, S. 54. 22 | S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 24. 23 | Vgl. B. von Bismarck: Curating Curators, S. 43. 24 | B. Brock: Besucherschule zur d6, S. 34.
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des Publikums nach Orientierung und erwehrt sich dadurch gegen Vorwürfe gegenüber einer solchen Vermittlung, die »das thematische Konzept als innere Logik der Ausstellung sichtbar machte«25. Die Vorwürfe waren nach Bazon Brock »nicht gerechtfertigt, da es ja jedem Besucher freigestellt blieb, die Ausstellung ohne die Aneignungsvorschläge der Besucherschule zu besuchen.«26 Diese Aussage muss kritisch bewertet werden, da sie zwar inhaltlich korrekt ist, aber eine Mündigkeit der Besucherinnen und Besucher voraussetzt, die sowohl aufgrund der potentiellen Überforderung durch die ausgestellte Kunst als auch der Dominanz der kuratorischen Position geschwächt oder zumindest nicht begünstigt wird. Die Befreiung von diesen Vorgaben sollte selbst innerhalb der Vorgaben begünstigt werden, das kuratorische Konzept müsste offene Enden aufweisen. Bereits diese kurze Skizze zeigt, dass Kuratorinnen und Kuratoren zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Anforderungen positioniert sind: zum einen die individuelle Sichtbarkeit, eine Position, ein Stil, zum anderen die Kompetenz zur Teamarbeit; eine in sich schlüssige Ausstellung herzustellen, die über ein Thema, eine Fragestellung oder ein Konzept verfügt und dennoch die künstlerischen Einzelpositionen zu wahren und zu befördern; unterschiedlichen Besuchergruppen den intellektuellen Zugang zur ausgestellten Kunst zu ermöglichen, ohne zu simplifizieren oder zu didaktisieren.27 Als die unterschiedlichen Rollen einer Kuratorin bzw. eines Kurators führt Beatrice von Bismarck die »der Moderatorin/des Moderators, Kritikerin/Kritikers, Schauspielerin/Schauspielers, der Interviewpartnerin/des -partners, Aktivistin/ Aktivisten, Lehrerin/Lehrers, der Regisseurin/des Regisseurs, Produzentin/Produzenten, Gestalterin/Gestalters, Dokumentaristin/Dokumentaristen, der Ethnologin oder des Ethnologen«28 an. »Kuratieren heißt Themen und Orte finden, Settings konstruieren, Plattformen bereitstellen, und es ist wie die künstlerische eine Arbeit an und in einem kulturellen Denk-Raum, an Inhalt, Funktion und Erscheinungsbild der Kunst.«29 Wenn unter Berücksichtigung dieser komplexen Rollenstruktur mittlerweile häufig in kuratorischen Teams gearbeitet wird, wird damit transparent gemacht, was auch schon zu Harald Szeemanns documenta 5 schlicht Notwendigkeit war.30 Dennoch behält der berufene Künstlerische Leiter bzw. die Leiterin der documenta innerhalb der Außenwahrnehmung einen Sonderstatus, der dadurch nicht nennenswert geschmälert wird. Beatrice von Bismarck plädiert daher dafür »den Blick auf Einzelleistungen und Subjekte hinter sich zu lassen. Dadurch träte die Tätigkeit [des Kuratierens] selbst stärker als bislang in den Vordergrund – eine Sichtweise, die dem Vorgang und sinnstiftenden Potentialen des Kuratierens besser entspräche.«31 Ferner, nicht weiter den Antagonismus zu Künstlerinnen und Künstlern zu bestärken, sondern »nach ihren spezifischen Handlungsmöglichkeiten im Kunstfeld angesichts der besonderen Stellung […] zu fragen.«32 Die Handlungen des Kuratorischen umfassen »diejenigen
25 | Ebd., S. 33. 26 | Ebd. 27 | Vgl. O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 37. 28 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 59. 29 | S. Rollig: Kunst, Text und Öffentlichkeit, S. 49. 30 | Vgl. O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 35. 31 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 43. 32 | Ebd., S. 45.
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Techniken, Verfahren und Fertigkeiten […], die auf das Öffentlichwerden von Kunst und Kultur gerichtet sind«33 – somit auf deren Vermittlung: »Within contemporary art, the curator’s mediating function has developed into ›the curatorial‹ itself. The curatorial is akin to methodologies used by artists that focus on post-production approaches–that is, principles of montage, with disparate images, objects, as well as other material and immaterial phenomena that are brought together within a particular time and space-related framework. Because the curatorial has clear performative sides, ones that seek to challenge the status quo, it also includes elements of choreography, orchestration, and administrative logistics–like all practices working with defining, preserving, and mediating cultural heritage in a wider sense.« 34
Das Kuratorische kann somit als eine Praxis verstanden werden, die über das Ausstellungenmachen selbst deutlich hinaus geht und ein eigenes Verfahren der Generierung, Vermittlung und Reflexion von Erfahrung und Wissen ist.35 Gerorg Schöllhammer hält fest: »Aber dieser neue Umgang ist nur scheinbar einer, der eine offene, gleichwertige Situation zwischen vermittelten Produzenten (KünstlerInnen) und produzierenden Vermittlern (KuratorInnen) schafft.«36 Viele Kuratorinnen und Kuratoren setzen daher auf Strategien, die innerhalb der Strömungen der 1990er Jahre entwickelt wurden. Dazu zählen Institutionskritik, Kontext-Kunst, politischer Aktivismus und Kunst als soziale Dienstleistung.37 Nora Sternfeld arbeitet aber heraus, dass dieser ›educational turn in curating‹ Strategien von Kuratorinnen und Kuratoren betrifft, die pädagogische Überlegungen der Kunstvermittlung für sich als Methode instrumentalisieren, ohne die komplexen internen Konflikte und Widersprüche dieser Praxis berücksichtigen zu müssen.38 Diese Abkürzung ermöglicht ihnen, durch ihre durch das symbolische Kapital abgesicherte Vermittlung nicht ausschließlich, wie Tony Bennett es beschreibt, nationale und gesellschaftlich-bürgerliche Werte zu reproduzieren oder abgesichertes Wissen weiterzugeben, sondern die Möglichkeiten zu erforschen, alternatives Wissen zu produzieren, welches den traditionellen Diskursen widersteht, quer zu ihnen liegt oder sie unterwandert.39 Seit den 1990er Jahren findet außerdem verstärkt eine Selbstreflexion von Rolle und Macht der Kuratorinnen und Kuratoren statt. Dabei begann die zunächst noch klar abzugrenzende Position sich mit denen anderer professioneller Rollen zu überschneiden.40 Dazu zählen Künstlerinnen und Künstler auf der einen, aber auch kunstferne Berufsfelder wie Management, Sozialarbeit oder politischer Aktivismus auf der anderen Seite. Irit Rogoff spricht von einer ›verkörperten Kritikalität‹, die sich in der Figur des Kurators manifestieren kann und dadurch deren Potentiale gegen die eigene Position richtet.41 Eine solche Haltung bezeichnet Thomas Wulffen als Radikales Kuratieren. 33 | Ebd., S. 47. 34 | M. Lind: Performing the curatorial, Klappentext. 35 | Vgl. B. von Bismark/J. Schafaff/T. Weski: Kulturen des Kuratorischen, o.S. 36 | G. Schöllhammar: Kuratiert von, S. 32f. 37 | Vgl. ebd., S. 34. 38 | Vgl. N. Sternfeld: Unglamorous Tasks, S. 7. 39 | Vgl. ebd., S. 1. 40 | Vgl. B. von Bismarck: Curating, S. 109. 41 | Vgl. I. Rogoff: From Criticism to Critique, o.S. Übersetzung TP.
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Dies bedeutet, gegen die Hegemonie der Kunstwelt oder der eigenen Institution vorzugehen, oder diese Strukturen offen zu legen.42 Diese Strategie ist eine Parallelentwicklung zu den Strategien der Vermittlungskunst. Thomas Wulffen fordert schließlich, dass Kuratorinnen und Kuratoren sich im Idealfalle gegen ihre eigene Institution und deren nachfolgende Institutionalisierung der eigenen Person wenden sollten.43 »Denn als eine Tätigkeit, die Zusammenhänge herstellt und gestaltet, kann eine kuratorische Arbeit, wenn sie selbstreflexiv ausgelegt ist, nicht zuletzt auch auf die Positionen gerichtet sein, von denen sie ausgeführt wird.«44 Allerdings sollte beachtet werden, dass dieses Agieren mit und gegen die Institution nur innerhalb selbiger möglich ist. Radikales Kuratieren ist in das System eingebunden, es gibt kein Außen mehr. Somit ist auch dieser anti-hegemoniale Diskurs ein Teil des Hegemonialen: »Radikales Kuratieren arbeitet mit Verunsicherungen, des Systems, der eigenen Person und der Institution. Das Spiel im System mit dem System aber ist nur in Grenzen zulässig.«45 Diese Strategien, Risiken einzugehen, bezeichnet Thomas Wulffen als Notwendigkeit für künstlerische und Kuratorische Praxis innerhalb der Kulturindustrie.46 Beatrice von Bismarck formuliert mit Curating Curators eine ähnlich kritische Praxis: »Sie kuratiert die Position des Kurators/der Kuratorin. Im Zentrum stehen dabei Sprecherpositionen, die sich im Verhältnis zu den von ihnen übernommenen Aufgaben und den professionellen Zugehörigkeiten kontinuierlich kontextbedingt und relational verschieben. [...] Den Kurator zu kuratieren bedeutet somit, den Fokus von der Subjektposition auf eine Handlungsweise zu verschieben, die weniger auf quantitative Verknüpfung als auf qualitative Ausformulierung kontinuierlich entstehender Verhältnisse im Sinne eines selbstreflexiven Kritikbegriffs besteht.« 47
Kuratorische Praxis ist einerseits die ›Kunst des Ausstellungenmachens‹ – darunter versteht man die ausstellungsimmanente Vermittlung – somit ist die Ausstellung selbst das Objekt der Untersuchung.48 Andererseits muss bewusst sein, dass die (Vermittlungs-)Arbeit der Kuratorinnen und Kuratoren über die tatsächlich manifeste Ausstellung weit hinaus geht und auch eine Hinterfragung der eigenen Position beinhalten kann: »Es wird immer noch viel zu selten geschaut, welche kuratorische Methode das Projekt zusätzlich zur reinen Künstler/innenauswahl strukturiert, die dagegen sehr oft diskutiert wird: Wer ist dabei, wer ist nicht dabei? Aber wie das alles arrangiert wird und welche Effekte dies hat, das bleibt oft undiskutiert.«49 Auch Events im öffentlichen Raum, Kataloge, Einladungskarten oder Interviews etablieren sich als gleichrangige kuratorische Publikationsformate, deren Gestaltung von Künstlerinnen und Künstlern
42 | Vgl. T. Wulffen: Radikales Kuratieren, S. 119. 43 | Vgl. ebd., S. 121. 44 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 55. 45 | T. Wulffen: Radikales Kuratieren, S. 122. 46 | Vgl. ebd. 47 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 57ff. 48 | Vgl. M. Ziese: Kuratoren und Besucher, S. 10. 49 | N. Ilic/M. Lind/N. Schafhausen/J. Schillinger: Kunst und Öffentlichkeit, S. 73.
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ebenso wie von Kuratorinnen und Kuratoren betrieben wird.50 Dennoch ist auffällig, dass sämtliche Setzungen neben der Ausstellung von Kritik wie Wissenschaft häufig nur marginal betrachtet werden.51 Manifestiert sich Kuratorische Praxis in Ausstellungen, bedeutet »Kuratieren das Zusammenstellen von Subjekten, Objekten, Orten und Informationen und die Bestimmung ihrer Verhältnisse untereinander […]. Insofern umfasst es ein breites Spektrum unterschiedlicher möglicher Aktivitäten, die deutlich über die Ursprungsbedeutung des lateinischen curare im Sinne von sorgen und pflegen hinausgehen, um vermehrt den Aspekt der Vermittlung in den Vordergrund zu rücken.« 52
Kuratorische Praxis wird verstanden als »Aktivierung eines Netzwerks aus Institutionen, Personen und Objekten in Form des Projekts Ausstellung«53, welches sich zwar in einer räumlichen Schauanordnung manifestiert, aber grundlegend ein performatives Gefüge ist. Mit der Feststellung, dass performative Strategien der Vermittlung im Kuratieren mehr Bedeutung erlangen, schlägt Gabriele Brandstetter ein konstellatives oder choreografisches Denken vor, das in seiner Begrifflichkeit die Komposition von Raum, Objekten und Körpern ebenso erfasst, wie geöffnete Wege und Pfade, Partizipationsstrukturen: »The structure of the curatorial as a choreographic practice could be borrowed from Walter Benjamin’s concept of ›constellation‹.«54 Dies ermöglicht die Felder der Theorie und der kuratorischen, vermittlerischen sowie künstlerischen Praxis in Relation zu setzen.55 Ähnliche Denkansätze bietet Nicolas Bourriauds Relationale Ästhetik, die eine Definition für künstlerische Praxis vorschlägt, welche sich auf eine konstellative Kuratorische Praxis übertragen lässt: »The artist’s practice, and his behaviour as producer, determines the relationship that will be stuck up with his work. In other words, what he produces, first and foremost, is relations between people and the world, by way of aesthetic objects.«56 Im Vordergrund steht die Vorstellung, dass jemand (bei Bourriaud sind es Künstlerinnen und Künstler, hier Kuratorinnen und Kuratoren) Gemeinschaft und Austausch stiftet. Darüber hinaus bemüht sich relationale Kunst um die Erzeugung neuer Situationen und neuer Gemeinschaften.57 Begreift man die Ausstellung als Medium, welches nicht bloß der Informationsübermittlung dient, sondern auch dem gemeinsamen Erleben einer Gemeinschaft, wird deutlich, dass diese auf unterschiedlichen Ebenen gestaltet werden kann, die sich nicht in der Zusammenstellung von Kunstwerken erschöpft, sondern Sichtbarkeit und Außenwirkung ebenso beinhaltet wie interne Strukturen.58 Sabiene Autsch betont Anschaulichkeit und Begehbarkeit als zwei die Medialität konstituierende Aspekte, und bezieht sich damit auf das Potential der Schnittstelle zur Besucherin oder zum Besu50 | Vgl. B. von Bismarck: Curating Curators, S. 49. 51 | Vgl. N. Ilic/M. Lind/N. Schafhausen/J. Schillinger: Kunst und Öffentlichkeit, S. 73. 52 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 47. 53 | O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 31. 54 | G. Brandstetter: Written on Water, S. 120. 55 | Vgl. ebd. 56 | N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 42. 57 | Vgl. M. Ziese: Kuratoren und Besucher, S. 83. 58 | Vgl. A.-L. Wenzel: Ausstellungen und normiertes Besucherverhalten, o.S.
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cher.59 Vermittlung ist schon für Arnold Bode keine sekundäre Ordnung (wie z.B. das Anbringen von Kommentartafeln) sondern ›Inszenierung‹, die Einbettung des Werkes in einen formalen Kontext.60 Kunstwerke entfalten nie losgelöst von ihren Umständen Wirkung. Die Inszenierung entlockt ihnen ihre Bedeutung. »Es ist einfach nicht wahr, dass das Kunstwerk sich selbst genug ist. [Es] ist uns, um die Chance des Begreifens zu bieten, aufgetragen, diesem Kunstwerk eine zweite Ordnung zu bieten.«61 Jana Scholze bezeichnet Ausstellungen als komplexe Medien, die sich aus ihren Präsentationsformen, d.h. den Präsentationsmedien, Ausstellungsobjekten, der architektonischen Konstruktion, Licht, Ton und allem zusammensetzt, was das Ausstellungskonzept transportieren soll.62 Sie geht davon aus, dass diese Präsentationsformen in der Lage sind historische, soziale, kulturelle, ethnologische, politische, ethische, technische, künstlerische und/oder museumsspezifische Phänomene zu vermitteln.63 Dass Ausstellungsbesucherinnen und -besucher aufgrund der Ausstellung Erfahrungen machen und möglicherweise auch Erkenntnisse sammeln, steht außer Frage, ob diese allerdings mit der Intention der Ausstellungsmacherinnen und -macher übereinstimmen, ist unklar. Sie bezeichnet dies als einen Prozess des Codierens und Decodierens.64 Es handelt sich somit um einen offenen Kommunikationsprozess, da eine Ausstellung schon für zwei Rezipierende nie identische Erfahrungen und Erkenntnisse liefert. Dies formuliert auch Carolyn Christov-Bakargiev in ihrem Brief an einen Freund: »Daher lässt sich eine Ausstellung als Netzwerk mehrerer Ausstellungen verstehen, die unaufhörlich abwechselnd in den Vorder- oder Hintergrund treten, manche sichtbar, manche unsichtbar und manche erst viele Jahre nach einem solchen Ereignis sichtbar.«65 Trotz dieser Polyvalenz sind Ausstellungen »keine neutralen Zeigewerkzeuge«66, die beliebig interpretierbar wären, sondern »kuratorische Konstellationen«67, in denen sich Besucherinnen und Besucher bewegen. In der Ausstellung kreuzen sich Deutungsund Bedeutungsabsichten der Ausstellungsmacherinnen und Ausstellungsmacher, der Exponate, sowie der Rezipierenden.68 Maria Lind spricht von diesem Gefüge als »Gesamtchoreographie«69 und auch Gabriele Brandstätter vergleicht den Kurator mit dem Choreografen.70 Diese Terminologie wird auch von der dOCUMENTA (13) aufgegriffen, um ein relationales Gefüge zwischen der Ausstellung, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie dem Publikum zu beschreiben. Eine solche Aktivierung und Beteiligung des Publikums bezweckt die Transformation des Verhältnisses zwischen Produzierenden und Rezipierenden in dessen traditioneller Variante der Werk-Be59 | Vgl. S. Autsch: Medium Ausstellung, S. 40. 60 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 292. 61 | A. Bode: Das große Gespräch, S. 36. 62 | Vgl. J. Scholze: Medium Ausstellung, S. 11. 63 | Vgl. ebd., S. 12. 64 | Vgl. ebd., S. 13. 65 | Beiträge der Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken werden sowohl als Monografie als auch über den Wiederabdruck im Buch der Bücher (BdB.) nachgewiesen. C. Christov Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 19, BdB. S. 81f. 66 | B. von Bismarck: Curating Curators, S. 43. 67 | Ebd., S. 59. 68 | Vgl. S. Offe: Ausstellungen, S. 42. 69 | N. Ilic/M. Lind/N. Schafhausen/J. Schillinger: Kunst und Öffentlichkeit, S. 77. 70 | Vgl. G. Brandstetter: Written on Water, S. 127.
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trachter-Beziehung: »Die Intention der Auflösung dieser Situation in eine Dynamik der Wechselseitigkeit entwickelt sich entlang einer Kritik der rein visuellen Erfahrung und zielt häufig auf die Aktivierung des Körpers als Voraussetzung von Beteiligungen.«71
Kunstvermittlung: Zwischen Kolonisierung und Emanzipierung Wenn es um das Generieren von Aussagen geht, wird von Kuratorinnen und Kuratoren häufig die Vorstellung vertreten, dass ihre Ausstellungen sich selbst vermitteln und eine zusätzliche Vermittlung nicht zwingend notwendig sei oder zumindest auf eine unterstützende Weitergabe der kuratorischen Thesen zu beschränken sei.72 Dem gegenüber steht eine historische Entwicklung, die Museen als Bildungsstätten versteht und im deutschsprachigen Raum auf das Aufklärungs- und Vermittlungsprogramm von Alfred Lichtwark zurückzuführen ist. In verschiedenen Phasen entwickelte sich eine Tradition der Vermittlung, die häufig als Museumspädagogik beschrieben wird und sich vor allem an der reproduktiven Aufgabe, immer neuen Besucherinnen und Besuchern das Wissen der Institution weiterzugeben, orientiert. »Heute sehen die Kunstvermittlerinnen zunehmend ihre Aufgabe darin, die Kunst einem qualitativ weiteren Publikum zugänglich zu machen, nicht zuletzt aufgrund der Kritik an den Ausschlussmechanismen des Kunstfeldes und seiner Institutionen.«73 Mary Jane Jacob bezeichnet kritischer als Aufgabe von Kunstvermittlung, Individuen zu kolonisieren und Museumsbesucher aus ihnen zu machen.74 Auch wenn Kunstvermittlung häufig als Synonym zur Museumspädagogik verwendet wurde, zeigt sich eine Abgrenzung dieser beiden Begriffe zunächst verbunden mit der kritischen Museologie und schließlich deutlicher zu Beginn der 1990er Jahre. Diese Abgrenzung erfolgt somit parallel zu einer Entwicklung von Unschärfen innerhalb des Kunstsystems in Bezug auf Autorschaft, zwischen künstlerischen und politischem Handeln sowie zwischen vermittelnder Tätigkeit und Kunst an sich.75 Dennoch sind die Grenzen zwischen Museumspädagogik und Kunstpädagogik nicht trennscharf und müssen gerade deswegen im weiteren Verlauf dieser Begriffsbestimmung noch genauer betrachtet werden. Der Begriff ›Kunstvermittlung‹ ist weder letztgültig klar definiert noch eine geschützte Berufsbezeichnung. Die Berufsgruppe tritt unter verschiedenen »Namen, Zielsetzungen und unterschiedlichen methodischen Strategien als ›Vermittler/innen‹, ›Musemspädagog/inn/en‹, ›Kommunikator/inn/en‹«76 auf. Dem gesellen sich durch Institutionen geprägte Bezeichnungen hinzu, die teilweise auf Ziele und Methoden verweisen mögen, aber vor allem auch als wirtschaftliche Marke fungieren. Im Falle der letzten documenta-Ausstellungen wären dies: Guides, Vermittlerinnen und Vermittler, Worldly Companions bzw. Weltgewandte Begleiterinnen und Begleiter sowie Choristinnen und Choristen. Sigrun Brunsiek versucht Kunstvermittlung zu systematisieren und unterscheidet zwischen den unterschiedlichen Anforderungen von historischen Werken und Gegenwartskunst, da sich für erstere klare Vermittlungsstrategien herausgebildet haben, 71 | C. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 31. 72 | Vgl. M. Ziese: Wie viel Vermittlung, S. 327. 73 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 20. 74 | Vgl. M.J. Jacob: Outside the Loop, S. 31. 75 | Vgl. R. Puffert: Die Kunst und ihre Folgen, S. 13. 76 | E. Sturm: Im Engpass der Worte, S. 47.
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während für die Gegenwartskunst aufgrund der strukturellen Veränderung des Kunstbegriffs andere Strategien entwickelt werden müssten.77 Sie weist außerdem auf eine bereits erfolgte Sanktionierung der historischen Kunstwerke und eine damit einhergehende Akzeptanz des Publikums hin, die dazu führt, dass eine Kunstvermittlung als Information zu den Werken auf ein »gelangweiltes, wohlwollendes Desinteresse« 78 stößt. Die Schwierigkeiten diesen Werken mit experimentellen Vermittlungsformaten zu begegnen sind im Rahmen der Gegenwartskunst obligatorisch: sowohl die Betrachterinnen und Betrachter als auch die Vermittlung bewegen sich auf »unsicherem, erst zu erforschendem Terrain.«79 Dies wird besonders durch Werke provoziert, die den Kunstbegriff hinterfragen oder selbst vermittlerische Züge annehmen. Kunstvermittlung wird somit als zwischen den Produzierenden, die das Öffentlichmachen, das Präsentieren von Kunst, erfordern und den Rezipierenden, mit den Ziel der Zugangserleichterung als Sensibilisierung für künstlerische Phänomene, positioniert angesehen.80 Diese Aufgabe erschöpft sich nicht in der Weitergabe von Expertenwissen. Dennoch sollen Kunstvermittlerinnen und Kunstvermittler »die (relativ) gesicherten Diskurse des Museums und das ihm zugrundeliegende Wissen ausweisen, es argumentativ weitertragen, sollen Unverständlichkeiten verständlich machen, sie sollen die Unterscheidungen des Museums fortsetzen und untermauern, sollen seine Wertkategorien verdeutlichen, sollen einsichtig machen, was/wer warum wichtig ist und was/wer nicht.« 81
Diese Aufgabe ist nicht nur konfliktreich, sondern auch annähernd unmöglich zu bewältigen, auch weil das, »was im Zentrum der professionellen Kunstwelt entwickelt wird, für kein externes Publikum konzipiert«82 ist. Innerhalb dieser Zuschreibungen wird dennoch davon ausgegangen, dass Vermittlung zwischen dem Zu-Vermittelnden und einem Publikum angesiedelt ist und Expertenwissen transportieren soll. Kunstvermittlung solle ein vorhandenes Informationsgefälle zwischen Kunstwerken und ihrer Rezeption abzubauen. So verstanden wäre sie synonym zu Museumspädagogik. Carmen Mörsch hingegen bezeichnet Kunstvermittlung als »die Praxis, Dritte einzuladen, um Kunst und ihre Institutionen für Bildungsprozesse zu nutzen: sie zu analysieren und zu befragen, zu dekonstruieren und gegebenenfalls zu verändern. Und sie dadurch auf die eine oder andere Weise fortzusetzen.«83 Dadurch erweitert sie den Fokus und schließt neben der Kunst auch deren Institutionen und die Vermittlung selbst ein. Auch Eva Sturm plädiert dafür, die Aufgabe der Kunstvermittlung nicht als Wissenstransfer zu definieren, sondern als die Praxis, »spezifische Räume herzustellen, in denen sich vielleicht etwas ereignet, das mit den jeweiligen Menschen, die mit Kunst zu tun haben, und mit den jeweiligen künstlerischen Arbeiten zu tun hat.«84 Und weiter: 77 | Vgl. S. Brunsiek: Versuch einer Systematisierung, S. 122. 78 | Ebd. 79 | Ebd. 80 | Vgl. R. Goebl: Wissenschaftliche Untersuchung, S. 38. 81 | E. Sturm: Im Engpass der Worte, S. 47. 82 | C. Behnke: Untitled, S. 6. 83 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9. 84 | C. Mörsch/E. Sturm: Vermittlung – Performance – Widerstreit, S. 1.
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»Räume zu schaffen, in denen Uneinigkeit und Unverstandensein kultiviert werden können, in denen noch nicht alles fixiert und in Hierarchien eingeordnet ist.«85 Einige Vermittlerinnen und Vermittler bevorzugen die Ausdrücke ›Kunsthafte Vermittlung‹ oder ›Künstlerische Kunstvermittlung‹ um zu betonen, dass es sich nicht (nur) um eine ›Vermittlung von Kunst‹, sondern ›Vermittlung als Kunst‹ handelt.86 Im deutschsprachigen Raum war die Initiative Kunstcoop© richtungsweisend, die eine eigenständige künstlerische Position beansprucht und damit auch Zuständigkeiten und Befugnisse hinterfragt.87 Doch selbst, wenn man die Annahme einer Kunsthaftigkeit zunächst außer Acht lässt, fragt Kunstvermittlung nach Carmen Mörsch und Eva Sturm nach den Befugnissen des Sprechens: »Wer ist autorisiert, Kunst zu vermitteln? ExpertInnen der Kunstwissenschafts- und -theoriebereiche? KünstlerInnen? Pädagoginnen? […] Zuständigkeitsfragen dieser Art waren und sind Teil des Vermittlungsdiskurses neben den Hierarchie- und Konkurrenzproblemen mit den ›ProduzentInnen‹: KuratorInnen, AusstellungsmacherInnen, GestalterInnen und nicht zuletzt den KünstlerInnen.« 88
Eva Sturm schlägt zur Verdeutlichung eine Unterteilung in vier Gruppen vor: »Befugt autorisiert im Diskurs ist nur Gruppe III [Die befugt-autorisierten Sprecher/innen], wirklich geschätzt Gruppe II [Die Kunst-Diskurs-Kenner], und toleriert bzw. willkommen ist in jedem Fall Gruppe I [Die ›gebildeten Laien‹], manchmal auch Gruppe 0 [Die nicht befugten Sprecher/innen].«89 Die Autorisierung erhalten Mitgliederinnen und Mitglieder von Gruppe III nicht nur durch die Institution, sondern müssen diese selbst immer wieder neu leisten und performativ bestätigen, »nicht nur a) durch Wissen, Kenntnis und b) durch diskursive Vorgangsweisen […], sondern auch c) durch eine ganze Menge an autoritätsstützenden Worten und Redewendungen, die dazu dienen dem Gesagten Gewicht zu verleihen.«90 Oliver Marchart setzt hingegen Kunstvermittlerinnen und -vermittler annähernd mit Ausstellungskatalogen gleich, die im Normalfall nicht selbst sprechen, sondern die Institution durch sich sprechen lassen.91 Die Institution, die pädagogische Systeme errichtet, sieht diese »natürlich im Dienste der hegemonialen Formation und nicht im Dienste einer zu errichtenden Gegenhegemonie«92, dies gilt auch, wenn ›höhere Werte‹ wie Freiheit, Moral oder Verantwortung vermittelt werden.93 Kunstvermittlerinnen und -vermittler sind damit immer Teil der ›Hegemoniemaschine‹, egal welche institutionskritischen Praxen sie verfolgen mögen. »Auch wenn die in den Museen und Kunsthallen werkenden Kunstpädagogen und -pädagoginnen […] sich selbst und ihren höheren Auftrag anders imaginieren mögen, sind sie doch Teil der Institution, die selbst als komplexes Agglomerat aus diskursiven Praktiken betrachtet werden 85 | Ebd., S. 4. 86 | Vgl. P. Maset: Vermittlungskunst und Maschinengefüge. Vgl. N. Karobath: Vermittlungskunst. 87 | Vgl. S. Bosch: Kunstvermittlung, S. 94. 88 | R. Goebl: Wissenschaftliche Untersuchung, S. 38. 89 | E. Sturm: Im Engpass der Worte, S. 40. 90 | Ebd., S. 42 91 | Vgl. O. Marchart: Die Institution spricht, S. 35. 92 | Ebd., S. 45. 93 | Vgl. ebd.
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muss.«94 Andererseits besteht die Forderung, dass »man sich weder zum Sprachrohr des Ausstellungsmachers noch zum Nachbeter von Feuilletons und schon gar nicht zum Kunstlexikon machen [sollte], sondern […] sich immer zugleich als ersten Rezipienten einer nur schwer zugänglichen Kunst begreifen [sollte].«95 Oliver Marchart zeichnet zwei Strategien einer emanzipatorischen Vermittlung vor, die alle möglichen Gruppen berücksichtigt und dennoch hauptsächlich durch die autorisierten Sprecherinnen und Sprecher initiiert werden müssen: Vermittlung als ›Unterbrechung‹ und Vermittlung als ›Gegenkanonisierung‹. Eine Ausstellung muss unterbrochen werden, wenn sie ihre eigene Macht nicht selbst thematisiert. Unterbrechende Vermittlung ist also nicht ausschließlich Präsentation von Objekten, sondern eine Offenlegung von Bedingungen.96 In Bezug auf diese angestrebte Emanzipation der Unterbrechung muss deutlich gemacht werden, dass auch in der Kunstvermittlung die Absicht zu erziehen immer latent mitläuft.97 Gegenkanonisierung arbeitet hingegen aus der Institution heraus: »Diese Strategie zielt weniger auf die Unterbrechung der institutionellen Logik […] als auf den zu vermittelnden ›Inhalt‹. Ja, die Definitions- und Kanonisierungsmacht der Institution ist geradezu willkommen, weil sie die beabsichtigte Kanonverschiebung mit dem nötigen symbolischen Kapital ausstattet.«98 Auch Eva Sturm spricht sich für eine Form des Widerstandes aus: Kunstvermittlung sollte so verstanden gegen bestehende Machtmechanismen anarbeiten, diese offenlegen, alle Beteiligten darin unterstützen, mitzureden und ständig reflektieren, selbst Teil eines solchen Machtgefüges zu sein.99 Oliver Marchart unterscheidet des Weiteren zwischen ›geschäftsmäßiger‹ und ›kritischer‹ Kunstvermittlung, weist aber darauf hin, dass jeweils die Inhalte, also die Ausstellung als solche hingenommen wird. Weiterhin stellt er die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre eine gute, d.h. eine an sich bereits kritische Ausstellung affirmativ zu vermitteln, somit ›geschäftsmäßig‹.100 Bedarf es allerdings einer Kritik an der Ausstellung, fällt diese Aufgabe unter anderem der Vermittlung in Form von Unterbrechung zu. Eva Sturm bezeichnet eine solche Vermittlung als Dekonstruktion. Diese wird als weniger zerstörerisch, sondern als kritische Würdigung durch Zerlegung verstanden. Sie ist der Versuch, durch Grenzüberschreitung Widersprüche aufzudecken und ein Arbeiten gegen die Vorstellung ewiger Wahrheiten.101 Dekonstruktion richtet sich dabei nicht ausschließlich gegen die Institution, sondern auch das Verhältnis zwischen autorisierten und nicht-autorisierten Sprechenden steht zur Disposition. Das Ziel einer solchen Vermittlung ist die Ermächtigung und Emanzipation der Besucherinnen und Besucher.102 Entgegen einer Deutungshoheit von Kuratorinnen und Kuratoren sollen die Aussagen aller gleichwertig verhandelt werden.103 Dazu ist es allerdings notwendig, nicht nur die Schauanordnungen der Ausstellung (somit die Artikulationsform der Kuratorischen Praxis) zu analysieren, sondern auch zusätzliche Verfahren zur Schaffung 94 | Ebd., S. 34. 95 | B. Mandel: Wege zum mündigen Kunstrezipienten, S. 68. 96 | Vgl. O. Marchart: Die Institution spricht, S. 47. 97 | Vgl. U. Schöttker: Zum Verhältnis von Kunst, o.S. 98 | O. Marchart: Die Institution spricht, S. 49. 99 | Vgl. E. Sturm: Kunstvermittlung und Widerstand, S. 106f. 100 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 101 | Vgl. E. Sturm: Kunstvermittlung, S. 27f. 102 | Vgl. B. Mandel: Wege zum mündigen Kunstrezipienten, S. 69. 103 | Vgl. T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 6.
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eigener Aussagen zur Verfügung zu stellen.104 Dabei geht es nicht darum, die kuratorische Arbeit zu leugnen oder zu negieren, sondern einen offenen Dialog zu initiieren, der multiple Autorschaft zulässt.105 Es wird nicht davon ausgegangen, dass alle Besucherinnen und Besucher gleich befähigt wären, sich die Ausstellung anzueignen, sondern die Vermittlung stellt diesen bewusst jene Werkzeuge und Informationen zur Verfügung, die dazu notwendig erscheinen.106 »Werden die Vermittlungs-, sprich: Inszenierungsweisen reflexiv transparent gemacht, werden dadurch Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten für das Publikum eröffnet.«107 Nora Sternfeld arbeitet heraus, dass neben der Vermittlung der Ausstellung, ihrer Thesen, der ausgestellten Kunst und der Institution auch immer eine Präsentation der eigenen Person stattfindet und fragt, was passiert, wenn über Vermittlung gesprochen wird.108 Dekonstruktive Vermittlung müsse grundsätzlich auch die eigenen Machtverhältnisse thematisieren und deren Strukturen sichtbar machen. Weder stehen besondere Methoden im Vordergrund, noch das Verlangen bestimmte Personengruppen an die Kunst heranzuführen, sondern die Markierung der Positionen aller Akteure, um aus diesen heraus zu sprechen und dadurch Gegenerzählungen zu ermöglichen.109 »Es ist klar, dass ein Konzept wie dieses immer an institutionelle Grenzen stoßen wird. Und das ist letztlich auch das, was eben emanzipatorische von bloß partizipatorischen Modellen unterscheidet. Gerade dort, wo die Grenzen der Institution infrage stehen, wo die Forderung nach Öffnung nicht bloße Beteiligung meint, sondern das Aufbrechen sozialer und institutioneller Logiken, die Ermöglichung zur Eroberung neuer Orte, in denen Werte definiert werden und Geschichte gemacht wird, kann Kunst- und Kulturvermittlung als emanzipatorische verstanden werden.« 110
Dennoch ist dekonstruktive Kunstvermittlung in jedem Kontext zu realisieren, egal wie autoritär oder demokratisch sich die Institution gibt, da es als Arbeiten innerhalb eines dominanten Textes, insbesondere an seinen Widersprüchen verstanden wird.111 Es besteht durchaus das Bestreben von Kunstinstitutionen, diese Unterbrechung der eigenen Logiken selbst zu betreiben. Eine Etablierung und Stärkung von pädagogischen Diensten, die durch verschiedene Akteure betrieben werden, ermöglichen Öffnung und Dekonstruktion.112 Andrea Hubin weist in diesem Zusammenhang erneut auf eine mehrfache Marginalisierung von Kunstvermittlung hin, die sich im Vergleich zu den Rollen der Kuratorinnen und Kuratoren, als deren Sprachrohr sie zu dienen haben, einerseits und der Künstlerinnen und Künstler, die das eigentliche Werk herstellen andererseits zeigt: »Angesichts einer solchen von mehreren Seiten betriebenen Marginalisierung, scheint es kaum vorstellbar, wie die Kunstvermittlung eine Veränderung
104 | Vgl. M. Ziese: Wie viel Vermittlung, S. 336. 105 | Vgl. B. Florenz: Multiple Autorschaft, S. 23. 106 | Vgl. M. Ziese: Wie viel Vermittlung, S. 343. 107 | Ebd., S. 344. 108 | Vgl. N. Sternfeld: Der Taxispielertrick, S. 15. 109 | Vgl. ebd., S. 30f. 110 | Ebd., S. 32. 111 | Vgl. C. Mörsch/E. Sturm: Vermittlung – Performance – Widerstreit, S. 5. 112 | Vgl. M. Ziese: Wie viel Vermittlung, S. 340f.
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der Institutionen – und sei sie nur, um die eigene Position zu verbessern – mitgestalten soll.«113 Eine weitere Professionalisierung der Kunstvermittlung scheint hierfür notwendige Bedingung. Diese zielt nicht (ausschließlich) auf die Entwicklung neuer Methoden ab, sondern auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung, Analyse und Dokumentation von Vermittlungsarbeit. Vermittlung ist ein neues Forschungsfeld, in dem bisher oft beschreibend vorgegangen wird und wenig kritische Auseinandersetzung stattfindet.114 An diese Erkenntnis schließt sich ein deutlicher Appell zur Begleitforschung und Evaluation an: »Evaluation wird in unseren Breiten oft als Kontrollinstrument der Geldgeber angesehen und eher gefürchtet und abgelehnt. Dass es Teil einer professionellen Praxis ist, sich darüber Rechenschaft zu geben, ob die selbstdefinierten Ziele erreicht werden, die Arbeit erfolgreich ist, ist noch nicht allgemein verbreitet.« 115
Renate Goebl folgert, dass Kunstvermittlerinnen und -vermittler selbst aufgerufen sind, sowohl Ziele und Kriterien für ihre Arbeit zu definieren, als auch für eine wissenschaftliche Dokumentation und Evaluation einzutreten.116 Dem schließt sich die vorliegende Arbeit uneingeschränkt an.
Vermittlungskunst: Zwischen Infiltration und Assimilation In dem von dem Kunstkritiker Marius Babias herausgegebenen Sammelband Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren wird der Diskurs der durch die Entwicklungen der 1980er Jahre »an die Peripherie gedrängte interventionalistische[n] Kunstpraxis«117 verschiedener Künstlerkollektive durch Basistexte, Podiumsdiskussionen, Interviews und Projektbeschreibungen dokumentiert und der Begriff ›Vermittlungskunst‹ begründet. Dieser verortet sich zunächst diametral entgegengesetzt zur künstlerischen Praxis und Repräsentation auf Großkunstausstellungen wie der documenta und soll hier auch im Bewusstsein dieser Differenz verwendet werden.118 Dies erfordert zunächst eine Darstellung des Verständnisses des Begriffs vor allem in den 1990er Jahren sowie eine Abgrenzung sowohl von möglichen Gegenbegriffen als auch von Strömungen der Künstlerischen Kunstvermittlung, bevor die Möglichkeit einer Infiltration der oder Assimilation durch die Großkunstausstellungen umrissen wird, die beide ein Potential zur Transformation beinhalten. Dadurch ergibt sich auch auch die Art und Weise, wie dieser Begriff in dieser Arbeit verwendet wird. Als vorläufige Definition soll eine Gleichsetzung von Kunst und Vermittlung, aus
113 | A. Hubin: Handlungsmacht, S. 4. 114 | Vgl. J. Scholze: Medium Ausstellung, S. 8. 115 | R. Goebl: Wissenschaftliche Untersuchung, S. 42. 116 | Vgl. ebd., S. 43. 117 | M. Babias: Vorwort, S. 24. 118 | Vgl. ebd., S. 25.
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der auch die Künstlerische Kunstvermittlung hervorgeht, dienen.119 Diese ist auf »einer Grenze zwischen Kunstsystem und Erziehungssystem zu verorten«.120 Marius Babias entwickelt eine doppelte Oppositionalität von Peripherie und Zentrum, die zum einen als Kunsttheorie im Verhältnis zur autonomen künstlerischen Behauptung und zum anderen als hegemonial-institutionelle Repräsentationskultur und periphere Subkultur gefasst werden. Seine These ist, dass die Peripherie beginnt, ihr jeweiliges Zentrum auszuhöhlen.121 Waren es zunächst die Diskursmächtigen, die die Kunstvermittlung zur Domäne der Theorie herabgewürdigt haben, beginnen nun dort Künstlerkollektive sich zusammenzuschließen und einen Gegendiskurs zu formulieren.122 Vermittlung wird hier verstanden als ein gesellschaftlicher Prozess, der durch und zwischen allen Akteuren vollzogen werden kann, vor allem aber durch Künstlerinnen und Künstler bzw. die Kunst selbst. Im Verlauf der 1980er Jahre habe sich die Kunst allerdings immer stärker entpolitisiert und auf ihre Autonomie berufen, um mit der neunten Ausgabe der documenta den »Abstieg der Kunst in die Unterhaltungsbranche«123 zu vollziehen: »In einer Zeit politischer und ökologischer Krisen von ›Intuition‹, ›Vibration‹, ›Körper‹ und ›Manöver‹ zu reden – Jan Hoets bevorzugtes Vokabular – bedeutet die Verbannung der Kunst aus dem Leben, ihre Degradierung zum Small talk.«124 Vermittlung findet hier nur noch als subjektivistisches Sprechen über Kunst statt. Ehemals periphere Bereiche wie Philosophie, Kunstkritik und Kulturmangement übernehmen das »ästhetische Mandat«125. Museumspädagoginnen und -pädagogen werden explizit nicht genannt, vermutlich, da sie als Teil des hegemonialen Kunstbetriebs verstanden werden, sollen aber hier hinzugefügt werden, da auch sie sowohl Bedeutung produzieren wollen als auch sich im Vergleich zu Künstlerinnen und Künstlern als Dienstleister am unteren Ende der Hierarchien dieses Betriebs und somit an einer Peripherie befinden.126 Die Vertreterinnen und Vertreter politischer Kunst haben »seit Beginn der neunziger Jahre stärker denn je die gesellschaftliche Vermittlungsfunktion von Kunst bis hin zu ihrer Re-Politisierung«127 gefordert. Dieses Verständnis von Kunst lehnt die Autonomie ab und fordert stattdessen eine Anbindung sowohl an soziale als auch politische Kontexte und Themen: »Unterhalb der institutionellen Repräsentationskultur à la documenta und Biennale Venedig […] führte die Auseinandersetzung mit ›Institutionskritik‹, ›Political Correctness‹, ›Bio-‹ und ›Gentechnologie‹ zur Ausformung einer subkulturellen Infrastruktur. Die bildende Kunst wurde deshalb zum Aktionsfeld, weil die in Angriff genommene Umdefinition ihrer institutionellen Verankerung das Versprechen auf ›Gegenöffentlichkeit‹ gab.« 128 119 | Vgl. N. Karobath: Vermittlungskunst, S. 9. 120 | U. Schöttker: Zum Verhältnis von Kunst, o.S. 121 | Vgl. M. Babias: Vorwort, S. 17. 122 | Vgl. ebd., S. 17 u. 24f. 123 | Ebd., S. 11. 124 | Ebd., S. 13. 125 | Ebd., S. 17. 126 | Vgl. H. Draxler: Ambivalenz und Aktualisierung, S. 83. 127 | M. Babias: Vorwort, S. 11. 128 | Ebd., S. 25.
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Diese künstlerischen Projekte und Aktionen müssen sich nicht zwangsläufig in einer Opposition zu Kunst und Ausstellungen innerhalb des hegemonialen Diskurses positionieren. Stattdessen sei es ihr Anliegen, das soziale Gefüge zu verschieben und durch dieses den ästhetischen Kontext zu überlagern oder sogar zu verdrängen.129 Marius Babias bezeichnet die »re-politisierte Kunstpraxis der neunziger Jahre mit ›Korrektur der Realität‹«130, während Andrea Fraser eine »neue Auffassung von Kunst als sozialer Praxis«131 formuliert. Diese zeigt in den Bestrebungen, das Publikum von bestimmten Themen und Aktionen her zu politisieren und zu einer Gemeinschaft zu organisieren.132 Kunst wird somit »als soziales Medium in Vermittlungsfunktion zwischen gesellschaftlichen Randgruppen ein[ge]setzt«133 und wird in dieser Manifestation als Vermittlungskunst verstanden. Diese Randgruppen werden von Oliver Marchart als sozial Untergeordnete definiert.134 Methoden des künstlerisch-politischen Widerstandes sind »Forschung, Text, Ortsspezifität, eine Öffentlichkeit konstruieren, Produktion und Rezeption anzusprechen, seine eigene sozio-politische Position zu erkennen zu geben etc.«135 mit der Strategie, »die Übersetzung der kritischen Funktion gewisser künstlerischer Praktiken in andere (spezifisch nicht-künstlerische) soziale, institutionelle und disziplinäre Bereiche«136 zu ermöglichen. Vermittlungskunst ist somit nicht auf bestimmte Gattungen festgelegt, sondern zeigt sich in Methoden und Strategien bzw. deren Manifestation als Kunst. Dennoch generiert eine Verschränkung von Kunst und politischem Widerstand nach Marius Babias vor allem drei Handlungsformate: »Aktivismus als Kunstform; Kooperation zwischen KünstlerInnen und AktivistInnen; Kunst als aktivistische Manifestation.«137 Diese sind nicht trennscharf und durchdringen sich gegenseitig und auch hier zeigt sich eine Gleichsetzung der verschiedenen Praxen: »Es ist die Strategie des zeitgenössischen Aktivismus – die Haltung, daß man genau so gut ein Plakat oder eine Anschlagtafel oder eine Installation […] machen kann.«138 Als potentielle Orte bzw. Handlungsfelder kritischer Praxis bezeichnet Joshua Decter »die Organisation von Ausstellungen, die editorische Konstruktion von Zeitschriften, die Organisation von kulturellem Aktivismus, den Bildungskontext von Schule und Universität und andere sanktionierte und nicht-sanktionierte Orte der kulturellen Produktivität.«139 Diese Aufzählungen sind quasi allumfassend und zeigen das Bestreben auf, keine Kunstrichtung zu formulieren, sondern das Aushöhlen des Zentrums 129 | Ebd., S. 20. 130 | Ebd., S. 23. 131 | J. Barry/P. Colo/J. Decter/D. Deitcher/A. Fraser/I. Graw/B. Wallis/D. Walworth/F. Wilson: Kritische Foren, S. 153f. 132 | Vgl. ebd. 133 | M. Babias: Vorwort, S. 23. 134 | Vgl. O. Marchart: There is a Crack, S. 341. 135 | J. Barry/P. Colo/J. Decter/D. Deitcher/A. Fraser/I. Graw/B. Wallis/D. Walworth/F. Wilson: Kritische Foren, S. 162. 136 | Ebd., S. 192. 137 | M. Babias: Kunst in der Arena der Politik, S. 17. 138 | J. Meyer: Was geschah, S. 244. 139 | J. Barry/P. Colo/J. Decter/D. Deitcher/A. Fraser/I. Graw/B. Wallis/D. Walworth/F. Wilson: Kritische Foren, S. 151.
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– die auf Unterhaltung angelegte Repräsentationskultur mit nicht-politischen, autonomen Kunstwerken – bis hin zu dessen Auflösung durch Überlagerung oder Verdrängung zu vollziehen. Trotz der Euphorie dieses Anspruchs auf Gemeingültigkeit stellen Ute Meta Bauer und Marius Babias aber auch Schwierigkeiten bei der Verschränkung von Kunst und anderen Kontexten heraus.140 Vermittlungskunst kann somit sowohl von außen als auch von innen kritisiert werden. Neben einer sozial-ethischen Verantwortung insbesondere bei Projekten mit gesellschaftlichen Randgruppen, muss tatsächlich gefragt werden, welche Erkenntnisse generiert, welche Ergebnisse erzielt werden können, wenn Künstlerinnen und Künstler in Bereichen arbeiten, in denen sie – vermeintlich oder tatsächlich – keine Expertise haben. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass »Kunst die Sozialpolitik entlastet und von politisch Verantwortlichen als Trostpflaster oder kurzfristiges Ablenkungsmanöver in diskriminierenden und marginalisierenden Verhältnissen angewandt wird.«141 Marius Babias weist schließlich noch darauf hin, dass dezentrale Projekte des Kunstbetriebs an der Peripherie vor allem dazu dienen, »den sozialen Kontext zu kolonisieren, den Zugriff auf Subkulturen zu flexibilisieren und sind dadurch ebenso betriebsdienlich wie herkömmliche Groß-, Themen- und Einzelausstellungen in Galerien und Museen.«142 Diese Gefahr besteht ebenso für Vermittlungskünstlerinnen und -künstler, die versuchen, ihren Diskurs zu reproduzieren und potenziert sich, je mehr es gelingt, das Zentrum auszuhöhlen. Der Diskurs um Vermittlungskunst wird in den 1990er und frühen 2000er Jahren fortgeführt und erhält einige Ausdifferenzierungen und Verschiebungen. Auch wird er von anderen (ähnlichen) Diskursen gekreuzt und zum Teil überlagert. Laut Stella Rollig hat sich die »Überzeugung, daß eine Kunst des Schöngeistigen den Erfordernissen der Zeit nicht mehr genügt«143 durchgesetzt. Sie benennt als Leitvokabeln des neuen Kunstbegriffes: »Diskurs – Aktion – Projekt – Kommunikation – Kontext – Selbstorganisation – Ökonomie – Site Specificity.«144 Nachdem die DOCUMENTA IX ein Hauptziel der Kritik von Marius Babias war, entwickelt Pierangelo Maset in Materialien zur documenta X die Begriffe ›kontextuelle Kunst‹ und ›Vermittlungskunst‹ aus philosophischer Perspektive und weist auf ihre Bezüge zu den Avantgardebewegungen hin: »Fortgeführt werden insbesondere die radikale Überschreitung des Werkbegriffs und die Aufnahme und Überantwortung nichtästhetischer Praxen in die Kunstpraxis; erweitert werden die Fragen nach der gesellschaftlichen Einbettung und der Funktionsweise von Kunst.«145 Somit lässt sich festhalten, dass der an den Rändern geführte Diskurs auch im sogenannten Zentrum wahrgenommen und rezipiert wurde – einige Diskurse und Methoden der documenta X ähneln den Leitbegriffen, die Stella Rollig aufführt, deutlich. Pierangelo Maset versucht außerdem die Vermittlungskunst von Kunstvermittlung abzugrenzen, indem er letzterer in Bezug auf Martin Heidegger das Potential von Kunst abspricht, etwas zu entbergen, das heißt Aussagen über die Realität zu machen, die Wahrheitsgehalt haben, 140 | Vgl. M. Babias/U.M. Bauer: Interview, S. 213. 141 | S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 20. 142 | M. Babias: Vorwort, S. 17. 143 | S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 14. 144 | Ebd., S. 13. 145 | P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 70.
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aber zunächst verborgen sind. »Der Begriff der Vermittlungskunst macht nur dann einen Sinn, wenn er beansprucht, durch das Vermitteln etwas ins Offene zu entbergen. […] Mit der Vermittlungskunst geht es wieder um etwas in der Kunst, es geht um ihre Wahrheit.«146 Durch dieses Unterscheidungsmerkmal wird nicht nur der Status von Kunstvermittlung als verschieden von Kunst affirmiert, sondern auch die Möglichkeit einer Negierung von Vermittlungskunst ermöglicht: Nur wenn es ihr möglich ist, zu entbergen, ist sie Kunst – ansonsten bleibt sie Vermittlung, Aktivismus oder Sozialarbeit, bzw. subjektiv-affirmative Kunstbetrachtung: »Hier verlassen wir die Auffassungen der herkömmlichen Kunstdidaktik, deren Kunstverlustigkeit gerade darin besteht, Kunst operational vermitteln zu wollen ohne über die notwendige Kunsthaftigkeit dieses Vorgangs zu verfügen, denn dazu wäre die Möglichkeit eines Entbergens erforderlich. Diese kann aber in dem zugerichteten Umgang mit Kunst, in der diese nur noch Objekt für einen operational nachvollziehbaren Vorgang ist, sich nicht mehr ereignen. […] Das Ergebnis ist dann zumeist eine subjektivistische Kunstbetrachtung, die vorprogrammierte Kunstbegriffe weitergibt.« 147
Hingegen bei der Vermittlungskunst wird »das Risiko des Offenen nicht zugunsten nachvollziehbarer Vermittlungsschritte aufgegeben und das Kunsthafte von Vermittlung als Vermittlung unternommen. Die Operationen binden sich dabei an Verfahren, die in der Kunst oder in angewandten ästhetischen Disziplinen bzw. ästhetischen Alltagspraxen erprobt worden sind.« 148
Als ein Problem dieser Kunstströmungen formuliert Pierangelo Maset, dass sie mit ihrem Bezug auf nicht-ästhetische Kontexte selbst das Ästhetische einbüßen, dadurch spröde wirken und die Wahrnehmung nicht mehr affizieren. Er sieht gleichzeitig in einer erneuten Ästhetisierung die Gefahr, den inhaltlichen Standpunkt wieder zu verwässern.149 Richard Hoppe-Sailer verortet das Desiderat eher auf Seiten der Ausstellungsmacher, wenn er feststellt, dass durch die auf Partizipation angelegten Kunstformen »zugleich Präsentationsformen eingefordert [wurden], für die in den traditionellen Ausstellungs- und Museumskonzepten noch kein Platz war.«150 Ulrich Schöttker bezeichnet Künstlerinnen und Künstler, die Arbeitsweisen und Medien für sich nutzbar machen, die normalerweise von der Kunstvermittlung beansprucht werden, als Vermittlungskünstlerinnen und -künstler.151 Auch hier bleibt die Gegenüberstellung beider Bereiche aufrecht erhalten, während nach Craig Owens durch die kritische Position der Vermittlungskunst explizit »die Arbeitsteilung – Künstler/ Kritiker, Theoretiker, Historiker – in Frage«152 gestellt wird. Andreas Paeslack führt die Vermittlungskunst auf die künstlerische Praxis ohne Werk von Bazon Brock zurück:
146 | Ebd., S. 74. 147 | Ebd. 148 | Ebd. 149 | Vgl. ebd., S. 71. 150 | R. Hoppe-Sailer: Die Künste und die Wissenschaften, S. 114. 151 | Vgl. U. Schöttker: Zum Verhältnis von Kunst, o.S. 152 | C. Owens zitiert nach J. Meyer: Was geschah, S. 243.
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»Genau an dieser Stelle setzt ein Verständnis von Kunst an, das auf das Handeln ausgerichtet ist und versucht, die historische Werkform aufzulösen. Das widerspricht jedoch allen marktfähigen Eigenschaften der Kunst. […] In seinen [Bazon Brocks] Besucherschulen professionalisiert er das Publikum, damit es mit der Produktion von Realitäten kritisch Schritt halten kann. Brock hat die Kunstvermittlung zur Vermittlungskunst erhoben.« 153
Eva Sturm spricht von »künstlerisch-edukative[n] Projekte[n]«154 und behält in dieser Formulierung eine Offenheit, die sowohl Trennung als auch Verschmelzung dieser Positionen mitdenkt. Projekte werden von Marius Babias und Achim Könnike verstanden als Prozess intensiver Kommunikation und kollaborativer Situationen, der ausgerichtet ist auf ein Realisierungsziel und dessen Modifikation und Scheitern ebenso mitgedacht sind, wie das Erreichen dieses Ziels.155 Diese Projekte sind außerdem »eine Erweiterung der Definition des Kunstpublikums, das anstatt in Museen gelockt zu werden nun von den KünstlerInnen direkt aufgesucht und zu aktiver Mitwirkung angeregt wurde. Durch die Zusammenarbeit mit Nichtkünstlerinnen, denen ein Mitspracherecht eingeräumt wurde, strebte man die kollektive AutorInnenschaft künstlerischer Resultate und die Demokratisierung des Zugangs zur Kunst an.« 156
Damit trügen diese Projekte gewisse Charakteristika der transformativen, dekonstruktiven aber auch reproduktiven Diskurse der Kunstvermittlung nach Carmen Mörsch in sich.157 Deutlich herausgestellt wird in obigem Zitat allerdings eine Arbeit mit Nichtkünstlerinnen und -künstlern, die ihr Mitspracherecht erst eingeräumt bekommen, wodurch die Machtposition der Institution ebenfalls affirmiert wird, so dass die institutionskritischen Potentiale fraglich werden – wirkliche Beteiligung bedeutet mehr, als die Erweiterung des Kreises der Rezipienten.158 Ulrich Schöttker macht mit einer Reihe von rhetorischen Fragen zu Thomas Hirschhorns Bataille-Monument (2002) auf der Documenta11 die Schwierigkeiten des Umschlags zwischen Kunst und ihrer Vermittlung deutlich: »Es erlaubt sich diese Frage, ob Hirschhorn mit seiner Arbeitsweise Formen der Kunstvermittlung übernimmt, die Kunstvermittler üblicherweise für sich beanspruchen. Was ist es sonst, wenn Teilnehmer an künstlerischen Prozessen beteiligt sind und dadurch Erkenntnisse erreichen (zum Beispiel erste Kunsterfahrung, Begegnung mit amerikanischen Sammlern, Ausstellungsaufbau und -aufsicht, etc.), Teilnehmer, die des weiteren zu einem typischen Klientel der Schul- und Erwachsenenbildung gehören? […] Ist nicht auch die Arbeit der Kunstvermittler auf ein ›nicht-exklusives Publikum‹ bezogen? Arbeiten diese nicht auch in Interaktionssystemen wie Workshops, oder Unterricht?« 159
153 | J. Herrmann/W. Höhne/A. Paeslack: Das Vermögen der Kunst, S. 131. 154 | E. Sturm: Give a Voice, S. 171. 155 | Vgl. M. Babias/A. Könneke: Kunst des Öffentlichen, S. 7. 156 | N. Karobath: Vermittlungskunst, S. 21. 157 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9ff. 158 | Vgl. C. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 45. 159 | U. Schöttker: Zum Verhältnis von Kunst, o.S.
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Nikola Karobath fasst im umgekehrten Blickwinkel die Tendenzen der Künstlerischen Kunstvermittlung ebenfalls als eine zunächst übliche Vermittlungspraxis, die Zugänge zur Kunst ermöglichen und Barrieren abbauen soll, bei der »der gesamte Vorgang schließlich aufgrund immanenter kunsthafter Charakteristika zum Kunstwerk oder zur künstlerischen Praxis erklärt«160 wird. Sie arbeitet in Folge die künstlerischen Wegbereiter der Avantgarden auf, die durch ihre Infragestellung des Werk-Begriffs eine Annäherung von Kunst und Vermittlung ermöglicht haben, um schließlich zur Vermittlungskunst zu gelangen, wie sie Marius Babias entwickelt hat. Dennoch zeigt sich in der nachträglichen Transformation von Vermittlung zu Kunst eben auch das Unterscheidungsmerkmal zwischen Künstlerischer Kunstvermittlung und Vermittlungskunst, welches nicht die jeweilige Methode ist, sondern anscheinend innerhalb der Intentionen und Ausgangspunkte der Akteure liegt. Künstlerische Kunstvermittlung realisiert somit Projekte, für die meist Werke anderer Künstlerinnen und Künstler als Impuls fungieren, sind Dienstleister – obwohl sie für sich selbst Kunststatus beanspruchen.161 Dieses Unterscheidungsmerkmal lassen allerdings weder Vertreterinnen und Vertreter aus dem Diskurs der Vermittlungskunst noch aus dem der Künstlerischen Kunstvermittlung zu. Andrea Fraser, mithin anerkannte Künstlerin, definiert ihre Arbeit als Dienstleistung und setzt sich damit den nicht idealen Bedingungen der Praxis Kunstvermittlung aus und stellt dadurch sowohl die Hierarchien als auch den Werk-Status in Frage.162 Kunstvermittlerinnen und -vermittlern, die von Kunst aus argumentieren, fällt eine solche Umdefinition ohne das entsprechende symbolische Kapital schwerer: »In diesem Feld aktive KünstlerInnen sehen den einzigen Unterschied ihrer eigenen zu anderen anerkannten künstlerischen Tätigkeiten in den Ausgrenzungen und Differenzierungen des Kunstsystems, das erheblichen Widerstand gegen die Bestätigung des Kunststatus für die entsprechende Praxis leistet, was unter anderem an deren […] kritischer Haltung zum Kunstbetrieb liegen mag. So ist es für die Institutionen vermutlich ein paradoxes Unterfangen, die Störung der eigenen Logik aktiv zu unterstützen.« 163
Zu entscheiden, ob Kunsthafte Kunstvermittlung selbst eine Kunstform ist, und ob diese Frage identisch mit dem Diskurs der Vermittlungskunst ist, muss für diese Untersuchung nicht abschließend geklärt werden, da der radikal erweiterte Kunstbegriff der dOCUMENTA (13), der auf eine Auflösung der Kunst-Nichtkunst-Dichotomie abzielt, vermittelnde Tätigkeiten ohnehin in die künstlerische Praxis einschließt.164 Es stellt sich für diese Untersuchung eher die Frage, ob den Vermittlerinnen und Vermittlern der dOCUMENTA (13), den Worldly Companions, selbst künstlerische Praxis zugeschrieben wurde oder ob sie nicht-künstlerische Partizipierende in einem künstlerischen Projekt waren. Eine Unterscheidung zwischen Kunstvermittlung und Vermittlungskunst – an der in Anerkennung des gegenteiligen Diskurses dennoch zumindest begrifflich festgehalten wird – ist eine implizite Vereinbarung zwischen Vermittlerin/Vermittler und Publikum/Adressat, wobei beide Positionen die Kunsthaftigkeit dieser Praxis in Form 160 | N. Karobath: Vermittlungskunst, S. 9. 161 | Vgl. ebd., S. 27. 162 | Vgl. H. Draxler: Ambivalenz und Aktualisierung, S. 83. 163 | N. Karobath: Vermittlungskunst, S. 42. 164 | Vgl. ebd., S. 33. Vgl. R. Hoppe-Sailer: Die Künste und die Wissenschaften, S. 112.
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von Museumspädagogik, Kunstkritik oder Kuratorischer Praxis in der Regel eher nicht voraussetzen. Durch diese immer wieder neu zu treffende Absprache fällt jede Vermittlung zumindest potentiell mit Kunst zusammen, hat Vermögen, etwas zu entbergen; sie umfasst aber auch die Fälle, in denen dies misslingt oder in denen eine Partei sich aktiv oder passiv verweigert, das Werk (anzu-)erkennen und zu konstituieren und in denen somit Dienstleistung keine kritische Praxis, sondern ökonomische Realität ist. »Ein Publikum, das sich dieser Erwartung verweigert und stattdessen z.B. auf eine serviceorientierte Wissensvermittlung besteht, entzieht sich zunächst den diesen Diskursen inhärenten Bildungsabsichten: die Förderung von Kritik- und Handlungsfähigkeit sowie von Selbstermächtigung.«165 Die Haltung der beteiligten Öffentlichkeit fließt somit gleichwertig zu der der Vermittlerinnen und Vermittler in diese Frage ein. Juliane Rebentisch fordert, zur Klärung der Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst von der Werk- zur Erfahrungsästhetik zu wechseln: »Die Differenz von Kunst und Nichtkunst sollte nicht als Grenze zwischen einem in sich geschlossenen Werk und seinem Außen objektiviert werden, vielmehr denke ich, dass man sie an der spezifischen Erfahrung festmachen sollte, die die Kunst ermöglicht (und die sich vom Erlebnis der Unterhaltung, aber auch von den Erfahrungen, die man erkennend oder handelnd machen kann, unterscheidet). […] Das Ereignis der Kunst ist jetzt nicht mehr das Objektive des Werkes, sondern das eines Prozesses zwischen Werk und BetrachterInnen.« 166
Diese Formulierung setzt deutlicher die Präsenz eines Werkes, die Intention von Künstlerinnen und Künstlern sowie eine kritische Öffentlichkeit in den Blickpunkt als der oben verwendete Erfahrungsbegriff. Auch innerhalb der herrschenden Strukturen am Kunstmarkt und auf Großkunstausstellungen wie der dOCUMENTA (13) setzen institutionskritische Arbeiten »eine kritische Öffentlichkeit als notwendiges Komplement und eigentlichen (gewissermaßen hinter dem Rücken des Auftraggebers angesprochenen) Adressaten voraus. Denn die ›Dienstleistung‹ – das Eingehen auf die spezifischen Konditionen in einem Unternehmen – schlüge in eine bloße Restitution des vormodernen (vor-autonomen) Künstler-Auftragsgeber-Verhältnis um, wenn nicht für Dritte transparent gemacht, also an die Öffentlichkeit adressiert würde.« 167
Diese Öffentlichkeit sieht Stefan Germer als im Verschwinden begriffen, was die Produktionsbedingungen von institutionskritischen Künstlerinnen und Künstlern insofern verändert, als dass sie nur noch vom Anspruch nach für die Vorstellung einer kritischen Öffentlichkeit arbeiten könnten, tatsächlich aber nur auf das (vermeintlich unkritische) Publikum der kuratierten Großausstellungen träfen.168 Daher der von Marius Babias formulierte Anspruch, das Publikum zu re-politisieren. So nimmt »Kunst
165 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 13. 166 | J. Rebentisch zitiert nach D. Laleg: Das Potential des Ästhetischen, S. 29. 167 | S. Germer: Unter Geiern, S. 89. 168 | Vgl. ebd., S. 91.
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als realisierte Gegenöffentlichkeit […] eine Haltung an, die sich auch als Ausbildung von Handlungs- oder Kritikfähigkeit beschreiben lässt.«169 Oliver Marchart wendet sich gegen einen Begriff von Öffentlichkeit, der diese mit dem öffentlichen (Außen-)Raum gleichsetzt und sie damit als immer schon vorhanden definiert, und schlägt vor, darüber nachzudenken, wie diese konstituiert wird: »Wenn Öffentlichkeit nicht immer schon da ist, dann muss sie immer erst aufs Neue hergestellt werden. Mein Vorschlag lautet nun, dass diese Herstellung von Öffentlichkeit im Moment konfliktueller Auseinandersetzung geschieht. Wo Konflikt, oder genauer: Antagonismus ist, dort ist Öffentlichkeit, und wo er verschwindet, verschwindet Öffentlichkeit mit ihm. […] Erst in dem Moment, in dem ein Konflikt ausgetragen wird, entsteht über dessen Austragung eine Öffentlichkeit, in der verschiedene Positionen aufeinanderprallen und gerade so in Kontakt treten. Und wenn wir genau hinsehen, werden wir feststellen, dass Öffentlichkeit dabei nicht etwa das ›Produkt‹ dieses Aufeinanderprallens ist, kein ›Werk‹, das irgendwie nach einem Masterplan konstruiert und hergestellt worden wäre. Sondern Öffentlichkeit ist nichts anderes als der Aufprall selbst.« 170
Einen anderen Blickwinkel auf den Diskurs gab die von Peter Weibel kuratierte Ausstellung Kontext-Kunst (1993), die mit institutioneller Autorität die Entdeckung dieses neuen Verständnis von Kunst für sich reklamierte und deren Diskurse vereinnahmte.171 »Eine Reorientierung findet statt, in deren Prozeß die Kunst über ihr eigenes Feld hinausblickt und sich Methoden und Themen anderer Disziplinen menschlicher Kreativität und Forschung aneignet, wie Philosophie, Ethnologie, Soziologie, Architektur, etc. […] Verbindlich ist die Methode, den Kontext, in dem die künstlerischen Interventionen stattfinden, zum Objekt der künstlerisch-analytischen Auseinandersetzung zu machen. Dadurch wird die Kunst zu einem Instrument der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, zu einem Instrument der Kritik und Analyse der sozialen Institutionen.« 172
Die Verknüpfung unterschiedlicher Handlungsfelder und die künstlerische Nutzung von Methoden anderer Disziplinen ist mit dem Diskurs der Vermittlungskunst identisch, allerdings wird hier weniger stark aus der Opposition argumentiert, sondern von einer Gesellschaft aus, die Institutionen beinhaltet und sich durch das Instrument der Kunst selbst beobachtet. Deutlich stärker ist die Verbindlichkeit, mit der der ›Kontext‹ zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden soll, schwächer der Fokus auf die Politisierung Dritter. Laut Pierangelo Maset haben trotz gewisser Unterschiede der Strömungen alle »eine aktive Einbeziehung des Betrachters als wesentliches Element der künstlerischen Arbeit. Objekte, die innerhalb einer solchen Arbeit angeordnet werden, bekommen den Status von Attraktoren, die intendierte Kommunikationen auslösen sollen.«173 Er spricht daher von einer »Transformation vom Werk-Charakter zum Kontext-Gefü169 | BüroBert: Gegenöffentlichkeit, S. 30. 170 | O. Marchart: There is a Crack, S. 342. 171 | Vgl. S. Germer: Unter Geiern, S. 85f. 172 | P. Weibel: Kontext Kunst, S. XIIIf. 173 | P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 71.
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ge«174, einem »Vermittlungsgefüge«175 oder einer Kunst, die sich in Konstellationen zwischen Institution und Akteuren manifestiert.176 All diesen Konzeptionen ist gemein, dass Kunst auch als Medium verstanden wird: »Kunst soll zum Medium der Herstellung von Gemeinschaft werden – also Verhältnisse, Relationen zwischen Subjekten herstellen. Dabei wird die Herstellung unmittelbarer Intersubjektivität durchaus als kritische Intervention in eine Welt gedeutet, die durch korrupte Kommunikationsstrukturen und Vereinzelung gekennzeichnet sein soll. Kunst soll also Sozialintegration leisten; womit zugleich ihre ethisch-politische Funktion sichergestellt wäre.« 177
Die zunächst anti-hegemoniale und institutionskritische Haltung der Kontext-Kunst zum ›Betriebssystem Kunst‹, wurde schließlich selbst zu einem hegemonialen System, welches bestimmte Künstlerinnen und Künstler, Medien sowie Vermittlerinnen und Vermittler einbezog.178 Dies führte schließlich zu einer Verkehrung der ursprünglichen Situation: »Kontextualismus […] muß sich keinesfalls auf Kritik, er kann sich ebenso auf corporate identity reimen. So verstanden, erscheinen kontextorientierte Arbeiten als aktualisierte Ausgabe der alten Auftragskunst, welche ihren Mäzenen von jeher dadurch schmeichelte, daß sie auf deren spezifischen Bedürfnisse, die jeweiligen Bedingungen des Aufstellungsorts, den Kreis der potentiellen Rezipienten etc. einzugehen wusste.« 179
Auch fällt die Diagnose des Kunstbetriebs und des Projekts Vermittlungskunst, die Marius Babias knapp eine Dekade nach dem Sammelband abgibt, kritisch aus: »Jene kollektive kritische Kunstpraxis, die sich in Opposition zu den Institutionen an den Rändern des Betriebs entwickelt und kurzzeitig Diskursmacht errungen hatte, wurde nach und nach zurückgedrängt, um Platz zu schaffen für das altbewährte Individualmodell künstlerischer Praxis.« 180
Laut Marius Babias ist das Ergebnis dieser Verschiebungen die Wiederkehr zu tradierten Diskursen im Zentrum des Kunstbetriebs und auch die Auseinandersetzung mit Vermittlungskunst in der Forschungsliteratur scheint zu versiegen – wobei vergleichbare Strömungen unter anderen (erfolgreicheren) Begriffen bis heute nachvollziehbar sind. Es ist aber entscheidend festzustellen, dass eine temporäre Verschiebung möglich war, Adrian Piper macht dies sehr deutlich: »Galerien und Museen sind öffentliche Räume. Öffentliche Räume sind politische Arenen, in denen Macht erlangt, anerkannt, unterschrieben, bestritten, angegriffen, 174 | P. Maset: Vermittlungskunst und Maschinengefüge, S. 202. 175 | P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 74. 176 | Vgl. ebd., S. 70. 177 | J. Rebentisch zitiert nach D. Laleg: Das Potential des Ästhetischen, S. 30. 178 | Vgl. T. Wulffen: Radikales Kuratieren, S. 120. 179 | S. Germer: Unter Geiern, S. 88. 180 | M. Babias: Rückeroberung der Subjektivität, o.S.
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Format, Begriffe und Methode verloren und wieder gewonnen wird. Diese Interaktionen werden häufig verdunkelt, wenn Machtverhältnisse stabil sind, die ideologische Programmierung effektiv ist und die Mitspieler in der Verteidigung ihrer eigenen Interessen zusammenarbeiten.« 181
Oliver Marchart stellt darüber hinaus heraus: »Selbst für eine noch so rückwärtsgewandte Ausstellung gibt es im strengen Sinne kein Zurück, denn was vergangen ist, ist vergangen. […] Deshalb reagiert eine hegemoniale Kraft auf gegen-hegemoniale Attacken, wo diese einen vorübergehenden Teilerfolg errungen haben, nicht indem sie einfach zu einem Status quo ante zurückkehrt. Sondern sie entwickelt sich selbst weiter, indem sie versucht, Kritik für sich produktiv zu wenden, ja zum Argument für die eigene Position zu machen.« 182
Daher sind auch die Vermittlungskunst, Kontext-Kunst und Künstlerische Kunstvermittlung als Anstöße für die Weiterentwicklung des hegemonialen Kunstbetriebs zu verstehen und haben somit auch Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Adrian Piper überträgt den Gedanken der Re-Politisierung durch Partizipation oder Relation auf die Ebene der Künstlerinnen und Künstler in Bezug auf das System der Institutionen: »Wir, die wir mitarbeiten, die Existenz von Galerien und Museen mitzuverantworten, sind nicht ZuschauerInnen, sondern TeilnehmerInnen, nicht Publikum, sondern MitspielerInnen, die Taktiken zur Verfolgung unserer höchst eigenen Interessen planen und ausführen.«183 Trotz dieses Einflusses verstehen sich Autorinnen und Autoren der 1990er Jahre vor allem als Gegenposition, als in Oppositionalität zu einem hegemonialen Kunstsystem mit Großkunstausstellungen wie der documenta.184 Judith Barry hingegen fordert, sich aus der Opposition gegenüber den hegemonialen Strukturen in deren Infiltration zu begeben: »Für mich geht es nicht um die Frage, wie ich mich den ›herrschenden Kulturen‹ widersetzen kann, egal was sie sind und wie sie ihre Ziele bestimmen, sondern darum, wie ich auf die Institutionen, die diese herrschenden Diskurse bilden, einwirken und sie verändern kann.« 185
Auch Craig Owen spricht von einem dekonstruktiven Komplizentum und der Notwendigkeit, sich an der Tätigkeit oder Institution, die kritisiert wird, zu beteiligen um sie von innen heraus zu verändern.186 Darin äußert sich die Hoffnung, dass Großkunstausstellungen auch politische Themen in die öffentliche Debatte einschleusen könnten, die quer zu den herrschenden Ideologien und ökonomischen Zwängen des Kunstbetriebs stehen.187 Es zeigt sich, dass Marius Babias’ Rede von der Aushöhlung des Zentrums 181 | A. Piper: Einige Überlegungen, S. 81. 182 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 12. 183 | A. Piper: Einige Überlegungen, S. 81. 184 | Vgl. J. Barry/P. Colo/J. Decter/D. Deitcher/A. Fraser/I. Graw/B. Wallis/D. Walworth/ F. Wilson: Kritische Foren. 185 | Ebd., S. 166. 186 | Vgl. J. Meyer: Was geschah, S. 244. 187 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 8.
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bzw. dessen Überlagerung und Verdrängung keine Negierung dieser Position sein kann, sondern nur ein Ersetzen ihrer Inhalte: »Auch Gegenkanonisierung zielt auf Repräsentation im Zentrum. Die Dezentrierung des Zentrums ist daher nicht mit dessen Abschaffung zu verwechseln. Im Gegenteil, die zentralen Apparate des Kunstfelds […], zu denen zumeist Biennalen und die documenta zählen, sind von unschätzbarem Wert für die Reproduktion der hegemonialen Formation und können – ironischerweise – aus dem gleichen Grund auch in den Dienst gegen-hegemonialer Projekte gestellt werden.« 188
Ziel von Infiltration ist es somit, durch die Macht der Institution diese selbst zu öffnen und neue Themen und Diskurse einzuschleusen, sie als kritisierbar herauszustellen, Hierarchien und Arbeitsbedingungen zu hinterfragen und experimentelle Formate in den Bereichen der Kuratorischen Praxis, der Kunstvermittlung und der Kunst zu ermöglichen.189 Marius Babias weist allerdings darauf hin, dass diese Praxis zu Vereinnahmungen geführt hat, dass politische Aktivisten auf Stilbegriffe wie Politkünster oder Kontext-Kunst reduziert wurden und bezeichnet dies als »historisches Dilemma, aus dem Konsequenzen gezogen werden müssen.«190 Wird Kritik an der Institution von dieser zum Argument für die eigene Position gemacht, sichert sie sich gleichzeitig gegen diese ab: Das »Zulassen der Bloßlegung institutioneller Strukturen [eignet sich] trefflich als Ausweis von Liberalität und Modernität der untersuchten Institution«191. So gewendet wird aus der versuchten Infiltration schließlich Assimilation, oder wie es Oliver Marchart nach Antonio Gramsci formuliert: Transformismus als »Versuch, gegen-hegemoniale Verschiebungen und Brüche wieder dem hegemonialen Block einzuschreiben«192. Großausstellungen bezeichnet Oliver Marchart dementsprechend als als »Hegemoniemaschinen der – bürgerlichen, nationalstaatlichen, okzidentalistischen, europäistischen – Dominanzkultur.«193 Er stellt die Frage, ob die Ausstellungsapparate nicht auch Gegenhegemoniemaschinen werden können.194 Ziel wäre es, nicht mehr einzelne institutionskritische Interventionen voranzutreiben, sondern die organisatorische und kuratorische Übernahme des Apparats selbst. »Ziel der Übernahme ist es, die jeweilige Kunstinstitution zu öffnen, zu einem Raum der Kritik zu machen, experimentelle Formate zu ermöglichen, institutionelle Hierarchien, Arbeitsverhältnisse und ganz allgemein die Produktionsbedingungen der Institution zu hinterfragen.«195 Nach Stefan Germer ist es tatsächlich unmöglich festzustellen, ob eine Arbeit im Kontext einer Institution »kritisch oder affirmativ, kritisch intendiert und affirmativ verwendet, oder in Affirmation umgeschlagene Kritik ist«196, was diese Kategorien schließlich für die Bewertung von Vermittlungskunst und den Polen von Infiltration 188 | Ebd., S. 28. 189 | Vgl. ebd., S. 25. 190 | M. Babias: Rückeroberung der Subjektivität, o.S. 191 | S. Germer: Unter Geiern, S. 86. 192 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 27. 193 | Ebd., S. 9. 194 | Ebd., S. 25. 195 | Ebd. 196 | S. Germer: Unter Geiern, S. 90.
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und Assimilation unzulänglich werden lässt. Johannes Lang entwickelt aus diesem Problem einen produktiven Dreischritt, der im Begriff der ›Transformation‹ mündet: »Denn um in dem Konzert der Wirklichkeitsgestaltung mitspielen zu können, muss Wirklichkeit sowohl in dem, was sie ist, affirmiert werden, als auch in dem, was sie sein kann kritisch reflektiert werden und überdies in das, was sie sein soll, transformiert werden.« 197
Transformation ist somit das Bestreben die Wirklichkeit – eine Konstellation aus Institution, Publikum und der beide umgebenen Welt – zu verändern, indem durch künstlerische Praxis neue Handlungsräume erschlossen werden.198 Nach Carmen Mörsch dienen der dekonstruktive und der transformative Diskurs der Kunstvermittlung der kritischen Überprüfung der Machtverhältnisse innerhalb der Institution und machen diese zum Gegenstand der künstlerisch-vermittlerischen Arbeit.199 Der transformative Diskurs betont insbesondere das durch Förderung von Kritikfähigkeit und Selbstermächtigung auf Seiten des Publikums mit oder durch die Vermittlung erreichbare Potential, die Institution zu verändern: »Kunstvermittlung übernimmt in diesem [Diskurs] die Aufgabe, die Funktionen der Ausstellungsinstitution zu erweitern und sie politisch, als Akteurin gesellschaftlicher Mitgestaltung, zu verzeichnen. Ausstellungsorte und Museen werden in diesem Diskurs als veränderbare Organisationen begriffen, bei denen es weniger darum geht, Gruppen an sie heran zu führen, als dass sie selbst […] an die sie umgebende Welt – z.B. an ihr lokales Umfeld – herangeführt werden müssen.« 200
Es wird deutlich, dass transformative Kunstvermittlung stark durch die Diskurse der Vermittlungskunst und des politischen Aktivismus geprägt ist und entscheidende Parallelen aufweist: Eine kategoriale Unterscheidung der Handlungsfelder Kunst, Kunstvermittlung und Kuratorischer Praxis wird abgelehnt und das Bestreben, nicht-künstlerische Praxen zu denen der Vermittlung und deren Institutionen zu machen, sind deutlich hervorzuheben.201 Es gibt keine vorab bestimmbaren Adressaten, da diese je nach Kontext wechseln, aber eine geforderte politische Haltung oder zumindest Offenheit, eine solche einzunehmen.202 Carmen Mörsch beschreibt mit dem transformativen Diskurs somit die Haltung der Vermittlungskunst aus der Perspektive des bottom up einer Selbstermächtigung der Kunstvermittlung: »Konkret werden Fragen gestellt wie zum Beispiel: wer bestimmt, was wichtig ist, vermittelt zu werden? Wer kategorisiert sogenannte ›Zielgruppen‹ und mit welchem Ziel? Wie weit darf in ihren Inhalten und Methoden Vermittlung gehen, bevor sie von der
197 | J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 13. 198 | Vgl. ebd., S. 15. 199 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 13. 200 | Ebd., S.10. 201 | Vgl. ebd., S.11. 202 | Vgl. ebd., S. 13.
Drei Perspektiven auf Vermittlung
Institution oder dem Publikum als unangemessen oder als Bedrohung empfunden wird?« 203
Transformation der Institution ist von Innerhalb der Institution effektiver, so dass Kunstvermittlerinnen und -vermittler sich ebenso wie Vermittlungskünstlerinnen und -künstler deren Strukturen zu einem gewissen Gerade anpassen müssen, ohne dabei in deren Affirmation zu verfallen. Sie besteht sowohl in der Produktion von Gegenerzählungen – oder minor stories – zum dominanten Narrativ als auch in dem Versuch, die Funktionen der Institution zu verschieben und dadurch für die eigenen Anliegen nutzbar zu machen. Hierhin zeigt sich Vermittlungskunst als Gegenbegriff zu dem des Ausstellungskünstlers, der diesen Institutionen zuarbeitet.204 Trotz der Wiederkehr gewisser Strategien und Methoden lässt sich bei Vermittlungskunst nicht von einem gemeinsamen Stil sprechen, sondern von einer künstlerisch-politischen Haltung. Das bedeutet, dass es zwar bestimmte Vertreterinnen und Vertreter als Wegbereitende dieser Haltung gab und gibt, potentiell aber jede künstlerische und auch nicht-künstlerische Äußerung als Vermittlungskunst verstanden werden kann, sofern sie aus dieser Haltung heraus getätigt wurde. Eventuell ist es sogar legitim, aus anderen Haltungen getätigte Äußerungen vermittlungskünstlerisch zu lesen oder zu positionieren. Die in diesem Sinne vollzogenen Praxen bewegen sich in Konstellationen von künstlerischen und nicht-künstlerischen Akteuren, Institutionen und einer kritischen Öffentlichkeit. Künstlerinnen und Künstler blicken über ihr eigenes Feld hinaus und eignen sich Methoden und Themen anderer Disziplinen an (z.B. Philosophie, Ethnologie, Pädagogik, Soziologie, Ökologie, Architektur). Dies führt häufig zu Kooperationen, Kollaborationen und Kollektiven, was bereits als Infragestellung eines klassischen Kunst- und Geniebegriffs, von Autorschaft und Hierarchiesierung unterschiedlicher Formen von Wissensproduktion und -rezeption zu verstehen ist. Ziel ist die Formulierung eines Gegendiskurses, der nicht-ästhetische Fragestellungen und Themen in das Feld der Kunst einführt und diese dadurch re-politisiert. Vermittlungskunst positioniert sich kritisch gegenüber den Begriffen der Ästhetik und der Autonomie. Kunst wird verstanden als ein Instrument der Selbstbeobachtung, der Kritik und Analyse, hat somit einen Zweck, ist nicht autonom. Die Funktion des Mediums Kunst ist die Vermittlung als gesellschaftlicher Prozess, bei der die Form nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Das Publikum wird nicht als stumme Rezipientinnen und Rezipienten entworfen, sondern gleichzeitig als Material und Kollaborateure mit dem Ziel, Gemeinschaft zu organisieren, Kritik- und Handlungsfähigkeit auszubilden und deren Rolle und Status innerhalb des Projekts ständig zu hinterfragen. Adressaten sind somit zunächst gesellschaftliche Randgruppen, die nicht in die Institution gelockt werden sollen, sondern in deren Lebensraum und Kontext gemeinsam interveniert wird. Dabei ist nicht bloß Interaktivität, sondern echte Partizipation und die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit gefordert. All diesen Praxen wird durch die Vermittlungskunst Kunsthaftigkeit zugeschrieben, wobei dies im Idealfall nicht durch Autorität oder ästhetische Anteile geleistet wird, sondern durch einen radikal erweiterten Kunstbegriff bzw. dessen Auflösung. 203 | Ebd., S. 13, Fn. 12. 204 | Vgl. O. Bätschmann: Ausstellungskünstler.
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Format, Begriffe und Methode
Diese Strategien haben im öffentlichen Raum größere Dringlichkeit als im Rahmen von Museum und Ausstellungen, dennoch muss Vermittlungskunst auch in diesen Kontexten und deren Publika arbeiten, da sie als Multiplikatoren öffentlicher Wahrnehmung dienen. Aus der Strategie, die Kommunikation der hegemonialen Institutionen zu imitieren und der Erfahrung, dass die Reichweite dieser selbstorganisierten Formate gering bleibt, entwickelt sich der Gedanke der Transformation dieser durch Infiltration bis hin zur Übernahme. Dies ist – zumindest für einige Vertreterinnen und Vertreter – durch eine dekonstruktiv-kritische Komplizenschaft mit dem Kunstmarkt und den Großkunstausstellungen möglich. Vermittlungskunst muss sich in diesem Fall zunächst an die Forderungen des Ortes bzw. der Institution anpassen, um ihre eigentlichen Adressaten erreichen zu können und die Störung der Logiken der Institution und Positionierung des eigenen Diskurses vornehmen zu können. Institutionskritik wird zum Subtext. Es besteht allerdings die Gefahr, als Argument für die Position der hegemonialen Institution genutzt zu werden, als Teil der Corporate Identity assimiliert zu werden. Innerhalb dieser wechselseitigen Verschiebungen sind die Kategorien von Affirmation und Kritik ununterscheidbar geworden, da sie notwendig zusammenfallen: Der Gegenstand der Kritik muss affirmiert werden, um Zugang zu erhalten und Kritik wird zur Affirmation einer kritischen und liberalen Grundhaltung der Institution. Innerhalb dieses Gefüges muss also untersucht werden, welcher Diskurs den anderen mit welchem Ergebnis transformiert hat, um zu einer Bewertung der künstlerischen Praxen zu gelangen.
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Kriterien: Affirmation, Dekonstruktion und Transformation
Neben der offenen Definition von Vermittlung als Praxis, die von unterschiedlichen Akteuren vollzogen werden kann und aus den jeweiligen Standpunkten Unterschiedliches impliziert, bietet Carmen Mörsch vier Diskurse an, mit denen sich aus institutioneller Sicht Kunstvermittlung beschreiben ließe: Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion, Transformation.1 Eine ähnliche Terminologie (Affirmation, Kritik, Transformation) wird von Johannes Lang im Sammelband Kunst und Wirklichkeit heute für Bezugnahmen von Künstlerinnen und Künstlern zur Wirklichkeit – im engeren Sinne die Wirklichkeit des Ausstellungskontextes – verwendet. Dort wird die These vertreten, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) für eine neue Bewegung transformativer künstlerischer Praxis repräsentativ wären.2 Im Folgenden werden beide Terminologien umrissen, zusammengeführt und als Kategorien für diese Untersuchung nutzbar gemacht. Der affirmativen Kunstvermittlung wird nach Carmen Mörsch die Funktion zugesprochen, das Museum in seinen Aufgaben – Sammeln, Erforschen, Bewahren, Ausstellen und Vermitteln – effektiv nach außen zu kommunizieren. Dieser Diskurs richtet sich im Wesentlichen an eine Fachöffentlichkeit, die selbstmotiviert und von vornherein interessiert ist, da Kunst als Spezialgebiet verstanden wird. Die bevorzugten Praktiken dieses Diskurses sind Vorträge, Begleitveranstaltungen, Expertenführungen und Ausstellungskataloge.3 Im Falle der Institution documenta gibt es Verschiebungen innerhalb der zugeschriebenen und tatsächlichen Aufgaben, gleich bleibt jedoch, dass innerhalb dieses Diskurses eine Absicherung der Institution im Gesamten und ihrer jeweils aktuellen Ausgabe im Besonderen vorgenommen wird. Arbeiten hingegen Künstlerinnen und Künstler affirmativ, wird dies häufig als eine unkritische Wiederholung der Anliegen der Institution verstanden und dadurch abgewertet.4 Diese Kritik wurde auch gegenüber der dOCUMENTA (13) immer wieder laut und fand ihre extremste Ausformulierung im Vorwurf, die Künstlerische Leiterin betriebe Zensur.5 Werner Seppmann wirft der dOCUMENTA (13) eine inhaltliche 1 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9. 2 | Vgl. J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 7. 3 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9. 4 | Vgl. J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 7. 5 | Vgl. H. Meister/G. Schneider: Fouls der documenta, S. 347.
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Stromlinienförmigkeit vor, die durch deren Vermittlungsabteilung und die Kritik multipliziert wurden: »Es dominierte – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den Zeitungen und Magazinen, den ›Experten‹-Äußerungen und den Berichterstattungen in den elektronischen Medien eine Haltung bedingungsloser Akzeptanz. Die Darstellungen blieben weitgehend den Selbstdeklarationen des Ausstellungsmanagements verpflichtet. Kritische Stimmen gab es, jedoch konnten sie sich kaum zur Geltung bringen. Sie gingen weitgehend in einem Strom eines fragwürdigen Einvernehmens unter.« 6
Scheinbar wird von Künstlerinnen und Künstlern, vermittelnden Instanzen und der Kunstkritik erwartet, sich nicht affirmativ zu einer Ausstellung zu verhalten: »In der Rolle des Vermittlers sollte man sich weder zum Sprachrohr des Ausstellungsmachers noch zum Nachbeter von Feuilletons und schon gar nicht zum Kunstlexikon machen, sondern sollte sich immer zugleich als ersten Rezipienten einer nur schwer zugänglichen Kunst begreifen.«7 Oliver Marchart stellt hingegen, trotz seiner skeptischen Grundposition gegenüber der hegemonialen Position der documenta, die Frage, ob es nicht sinnvoll sei, eine gute, d.h. progressive und evtl. kanonverschiebende Ausstellung dennoch affirmativ, d.h. hier unterstützend, zu vermitteln.8 Auch wenn Affirmation eine legitime Strategie sowohl für Künstlerinnen und Künstler als auch für Vermittlerinnen und Vermittler darstellt, zeigt sich, dass eine unkritische Affirmation selbst in den Fokus der Kritik gerät und als Praxis fragwürdig wird. Die dennoch notwendige Aufgabe der affirmativen Vermittlung fällt damit der mitunter abstrakten Instanz der Institution selbst zu und somit im engeren Sinne dem ersten Blickwinkel dieser Untersuchung: dem der Kuratorischen Praxis der Künstlerischen Leiterin und der daraus resultierenden Ausstellungsdisplays und Statements. Affirmation wird hier nicht ausschließlich als eine unidirektionale Kommunikation aus einer Position von symbolischer Macht verstanden, sondern vor allem als eine, die das Konzept der Ausstellung bejaht und dadurch selbige erst situiert. Nur in diesem Raum können die folgenden Diskurse wirksam werden. Reproduktion ist der zweite üblicherweise im Museum verortete Vermittlungsdiskurs, dessen Anliegen es ist, »das Publikum von morgen heranzubilden und Personen, die nicht von alleine kommen, an die Kunst heranzuführen.«9 Auch hier werden die Inhalte des Museums bzw. der Ausstellung inhaltlich affirmiert, allerdings wird sowohl von einem Informationsgefälle zwischen autorisiert Sprechenden und Zuhörenden ausgegangen, als auch das Bestreben geäußert, Schwellenängste und real existierende Barrieren abzubauen. Carmen Mörsch nennt als Formate dieses Diskurses »Workshops für Schulklassen und Fortbildungen für Lehrpersonen, Kinder- und Familienprogramme oder Angebote für Menschen mit besonderen Bedürfnissen und Dispositionen sowie ereignisorientierte Veranstaltungen mit hohen Publikumszahlen wie Lange Nächte oder Museumstage.«10 Diese Aufgaben wurden in weiten Teilen durch die
6 | W. Seppmann: Ästhetik als Ideologie, S. 11. 7 | B. Mandel: Wege zum mündigen Kunstrezipienten, S. 68. 8 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 9 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 9. 10 | Ebd., S. 10.
Kriterien: Affirmation, Dekonstruktion und Transformation
Maybe Education der dOCUMENTA (13) übernommen, z.B. durch das Angebot Studio d(13) for Kids and Teens. Die übergeordnete Konzeption dieser Abteilung und insbesondere die der prominenten Teilprojekte Worldly Companions und dTOURS ist allerdings dem eigenen Anspruch nach dem dritten Diskurs zuzuordnen. Dekonstruktive Kunstvermittlung hat die Aufgabe, die Institution, die präsentierte Kunst und auch die Vermittlungssituation als solche kritisch zu hinterfragen, deren Machtstrukturen offenzulegen und gegebenenfalls durch Dekonstruktion zu überwinden. Darunter fällt vor allem das Verhältnis von durch die Institution autorisierten Sprecherinnen und Sprechern und solchen Personengruppen, die das Recht zur Mitsprache erst einfordern müssen.11 Gleiches gilt für die durch Johannes Lang beschriebene künstlerische Position der künstlerischen Kritik, welche ihre Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richtet, wie Rezipientinnen und Rezipienten Kunst und ihre Institutionen wahrnehmen und einen Erkenntnisraum eröffnen sollen.12 Dekonstruktion bzw. Kritik werden hier nicht als strikte Gegenposition zur Affirmation verstanden, sondern als Arbeiten mit dem Gegebenen, dem Denken in Alternativen und der Bereitschaft, Unvorhergesehenes zuzulassen. Ziel dieser Strategien sind mündige Kunstrezipientinnen und -rezipienten, die sich selbst als Agierende und Sprechende begreifen.13 Dies benötigt und erwartet allerdings auch ein offenes Publikums, statt einem, »das sich diesen Erwartungen verweigert und stattdessen z.B. auf eine serviceorientierte Wissensvermittlung besteht«14. Es zeigt sich, dass sowohl Strategien der Affirmation, der Reproduktion als auch der Dekonstruktion für die personelle Vermittlung der dOCUMENTA (13) verwendet wurden, dennoch liegt ihr eigentliches Potential in einer kritisch-dekonstruktiven Position gegenüber dem dominanten Text der Künstlerischen Leitung. Deshalb dient die Kategorie der Dekonstruktion zur Überprüfung des zweiten Blickwinkels dieser Untersuchung: Wurde eine dekonstruktive Öffnung der Vermittlungssituation und ihrer übergeordneten Institution durch andere, auch kritische Sichtweisen umgesetzt? Und wurde eine Emanzipation der Besucherinnen und Besucher, aber auch der Worldly Companions, erreicht und dadurch tatsächlich die beabsichtigte Vielstimmigkeit hergestellt? Die letzte Kategorie beider Auflistungen ist die der Transformation. Institutionen werden in dieser als veränderbar begriffen und »Kunstvermittlung übernimmt die Aufgabe, die Funktionen der Ausstellungsinstitution zu erweitern und sie politisch, als Akteurin gesellschaftlicher Mitgestaltung, zu verzeichnen.«15 Übernehmen Künstlerinnen und Künstler die Aufgabe der Transformation, begreifen sie die sie umgebende Institution als Möglichkeitsraum, in dem es »primär um eine Veränderung des Handelns [geht], sodass es befähigt wird, Gegebenes in das zu transformieren, was es sein kann.«16 Künstlerische Forschung ist eng mit dieser Betrachtungsweise verbunden: »Vielmehr möchte sie [die Kunst] direkt verwickelt sein in und teilhaben an den Wirklichkeitsproduktionen der Politik und den Wirklichkeitserforschungen der Wissenschaft. Wenn Politik und Wissenschaft aber nicht mehr das sind, womit künstlerische 11 | Vgl. ebd. 12 | J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 15. 13 | Vgl. B. Mandel: Wege zum mündigen Kunstrezipienten, S. 69. 14 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 13. 15 | Ebd., S. 10. 16 | J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 15.
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Praxis distanziert reflektierend umgeht, sondern Teil ihrer selbst, so stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Affirmation und Kritik vor diesem Hintergrund zu verstehen ist.«17 Tatsächlich ist eine Transformation erst möglich, wenn der gegebene Kontext zunächst angenommen, d.h. auch affirmiert und eventuell auch kritisch hinterfragt wurde. Forschungsfragen dieses dritten Blickwinkels sind somit, ob und auf welche Weise es Künstlerinnen und Künstlern gelungen ist, die Institution dOCUMENTA (13), deren übergeordneten Metatext und auch deren institutionelle Vermittlung zu kommentieren, sich nutzbar zu machen und schließlich in etwas Neues zu transformieren. Gleichzeitig soll untersucht werden, ob und wie es wiederum der Institution gelungen ist, diese heterogenen Transformationen zu bündeln und ein schlüssiges Gesamtbild zu präsentieren. Sowohl Carmen Mörsch als auch Johannes Lang weisen darauf hin, dass ihre Kategorien im Feld nicht trennscharf, hierarchisch oder chronologisch zu denken sind, sondern stets parallel und durchmischt bestehen: »In der Vermittlungspraxis sind meistens mehrere [Diskurse] von ihnen am Werk. So lässt sich kaum eine dekonstruktive oder transformative Vermittlung denken, die nicht auch affirmative und reproduktive Anteile aufweist. Umgekehrt lassen sich jedoch bei den bislang noch dominanten Diskursen, dem affirmativen und reproduktiven, zahlreiche Manifestationen ohne jede transformative oder dekonstruktive Dimension nachweisen. Und es ist nicht zu leugnen, dass die Reibung zwischen Vermittlung und Institution in aller Regel steigt, je stärker der dekonstruktive und transformative Diskurs zum Tragen kommen.« 18
Diese Erkenntnis soll nicht durch die vorrangige Zuordnung der Kategorien Affirmation, Dekonstruktion und Transformation zu den drei Blickwinkeln der Kuratorischen Praxis, der Kunstvermittlung und der Vermittlungskunst geleugnet werden. Vielmehr wird die Aussage der Durchmischung in Bezug auf die Vermittlungsinstitution der gesamten dOCUMENTA (13) dadurch erst untermauert: Es soll überprüft werden, ob sich tatsächlich eine komplexe und vielstimmige Choreografie der Vermittlung innerhalb dieser Institution herausgebildet hat, ein Nebeneinander und Miteinander der unterschiedlichen Strategien oder doch der dominante Text der Ausstellung – deren Konzept – auf den unterschiedlichen Ebenen affirmiert und reproduziert wurde. Diese Untersuchung wird auch zeigen, dass dieser übergeordnete Text zwar Annäherungen zulässt, aber weder qualitativ noch quantitativ abschließend auf eine Konzeption oder eine These reduziert werden kann, welche nicht andere wichtige Aspekte des Projektes dOCUMENTA (13) ausschließt. Daher ist diese Untersuchung nicht deduktiv aufgebaut, auch um tautologische Fehlschlüsse zu vermeiden: Die Kuratorische Praxis, die Kunstvermittlung und die Vermittlungskunst weisen Aspekte dieses Metatextes auf. Stattdessen soll induktiv vorgegangen und die drei Blickwinkel mit jeweils angemessenen Methoden analysiert werden. Dabei ist insbesondere auch herauszuarbeiten, was implizit zur Schau gestellt wurde, um jeweils eine eigenständige Skizze dessen zu zeichnen, was tatsächlich vermittelt wurde. Als Vermittlungsinhalt der dOCUMENTA (13) wird somit nicht mehr ein vermeintliches Konzept angenommen oder bloß die Äußerungen der Künstlerischen Leitung herangezogen, sondern das, was alle 17 | Ebd., S. 9. 18 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 12.
Kriterien: Affirmation, Dekonstruktion und Transformation
Akteurinnen und Akteure dieser Institution vermitteln: eine fortwährende Hermeneutik, in die sich auch die kunstwissenschaftliche Aufarbeitung einreiht. Dabei wird im Folgenden eine Konzentration auf Teile – mitunter Fragmente – vorgenommen, da diese das Potential haben, komplexere Zusammenhänge zu vermitteln und einen Ausgangspunkt zu liefern, um durch den Blick auf das Detail Überblick zu gewähren. Dabei werden auch Aspekte vernachlässigt und übersehen werden. Es besteht aber die Hoffnung, durch dieses Vorgehen gleichzeitig solche aufzugreifen, die in anderen Texten zur dOCUMENTA (13) marginalisiert oder durch die singuläre Rezeption des Metatextes vereinnahmt wurden.
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Methoden-Bricolage
Die dieser Untersuchung zugrundeliegenden Methoden orientieren sich am Forschungsfeld der Museumsanalyse, die als Fallanalyse von Museen verstanden wird und mit hoher Detailschärfe versucht, einzelne Museen in den Fokus zu nehmen. Sie grenzt sich von Museumskunde und angewandter Museologie ab, sofern sich diese eher museumspraktischen Fragen widmen. Der Blick von Außen auf die Institution soll nicht zu einer praktischen Verbesserung derselben führen, sondern zu einem kritischen Verständnis.1 Es hat sich bisher keine übergeordnete Methodik herausgestellt. Eine relativ breite Akzeptanz erfahren Ansätze, die sich an der Dichten Beschreibung (Clifford Geertz, Eric Gable, Michael Taussig, Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch, Karen Ziese) orientieren. Auch weitere Ansätze greifen auf Methoden anderer Disziplinen zurück, z.B. Quellenkritik (Thomas Thiemeyer), Narratologie/Close Reading (Mieke Bal, Heike Buschmann), Semiotik (Mieke Bal, Jana Scholze, Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch) oder Semantik (Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch). Ebenfalls häufig anzufinden sind Typologien (Martin Schärer, Jana Scholze) von Inszenierungsstrategien oder ›Ausstellungssprachen‹. Der Fokus der Museumsanalyse liegt darauf, »was zu sehen ist, ohne die KuratorInnen und GestalterInnen nach deren Intentionen zu befragen, um die spezifische Rezeptionssituation, wie sie sich auch für die BesucherInnen stellt, ernst zu nehmen. […] Dabei geht es sowohl um die Auseinandersetzung mit den ausgewählten Inhalten als auch um die Macht der Anordnung, die Verfahrensweisen, wie im Medium Ausstellung Botschaften transportiert werden: also wie Objekte, Texte, Bilder, Ausstellungsarchitektur, Lichtführung und Raumgestaltung eingesetzt werden und wie diese Mittel in Beziehung zu einander stehen.« 2
Eine solche Betrachtungsweise wird in der vorliegenden Untersuchung am ehesten in den Analysen verschiedener Ausstellungsdisplays der dOCUMENTA (13) eingenommen. Allerdings ist die hier formulierte Forschungsfrage nicht nur, was implizit dargestellt wurde, sondern auf welche Weise das Darzustellende vermittelt wurde. Somit stehen Formen der Bedeutungsbildung und Kommunikation im Vordergrund. Zu deren Analyse schlägt Jana Scholze in Bezug auf Umberto Eco Analyseverfahren der Kultursemiotik vor und untersucht, inwiefern durch Codierung und Decodierung Botschaften durch Ausstellungen mitteilbar und verstehbar sind. Sie richtet den Fokus 1 | Vgl. J. Baur: Museumsanalyse, S. 8. 2 | R. Muttenthaler/R. Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 9.
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Format, Begriffe und Methode
nicht vordergründig auf das Museum als Objekt, sondern auf die Diskurse, welche von und in dieser Institution geschaffen und öffentlich zur Präsentation gestellt werden.3 Es wird angenommen, dass eine erste Instanz (die Ausstellenden, nicht zwingend eine Einzelperson) beabsichtigt einer zweiten Instanz (den Besucherinnen und Besuchern) etwas durch eine dritte Instanz (das Ausstellungsobjekt) mitzuteilen. Das Objekt ist zwar präsent, aber selbst stumm. Eine Besonderheit der angenommenen Kommunikationsform ist, dass die erste Instanz nicht in Erscheinung tritt, sie äußert sich in der Auswahl von Objekten und der Art und Weise der Präsentation – eine Annahme die im Falle der dOCUMENTA (13) nicht umfassend zutrifft.4 Nach Jana Scholze liegen Kunstausstellungen aber im Allgemeinen »außerhalb des Analysefokus, weil davon ausgegangen wird, dass Kunstobjekte eine spezifische Gattung von Museumsobjekten sind. Diese wie auch deren Ausstellungskontext sind mit dem Präsentationsformen kulturhistorischer Ausstellungen nur bedingt vergleichbar und verlangen gesonderte Betrachtung.«5 Durch den Ansatz der Narratologie wird die Perspektive eröffnet, Ausstellungen als Texte bzw. Erzählungen zu verstehen. Auch hier liegt der Fokus auf historischen Museen, da Kunstmuseen und -ausstellungen in der Regel nicht durchgängig Charaktere, Ereignisse, Stilmittel wie Analepse und Prolepse, Plotstrukturen oder Spannungsbögen verwenden.6 Martin Schärer versteht die Ausstellung als ›begehbare fiktionale Welt‹.7 Obwohl Besucherinnen und Besucher scheinbar direkten Zugriff auf die Exponate haben, sind diese durch Selektion und Präsentation bereits auf eine bestimmte Erzählung festgelegt: »Die primäre Beziehung ist die zum Erzähler des Geschehens, denn sie bildet die Voraussetzung dafür, dass die Erzählung zum Leser gelangen kann. Eine wichtige Konsequenz aus dieser Beziehung ist, dass der Leser das Geschehen nie unvermittelt, gewissermaßen mit eigenen Augen, wahrnehmen kann, sondern nur Zugang zu der vom Beobachtungs- und Wiedergabevermögen des Erzählers vorgeprägten Version bekommt.« 8
Gleichzeitig verweist dieser Ansatz auf die Rezeptionsästhetik, denn der Text kann ohne Aktivität der Leserinnen und Leser nicht als bedeutungsvolle Erzählung existieren. Museumsexponate sind daher für Heike Buschmann »kaum mehr als eine statische Ansammlung von Gegenständen, solange ihnen die Aktualisierung durch Besucher fehlt.«9 Jede Lesart ist individuell, hängt von persönlichen Hintergründen sowie der momentanen Verfassung ab. Die Ausstellung zeichnet sich dabei vor allem durch Transtextualität aus.10 Die bisher genannten Analyseverfahren können in unterschiedlicher Weise dazu beitragen, Ausstellungsensembles und deren angenommenen Aussagen und Bedeu3 | Vgl. J. Scholze: Zeichenlesen in Ausstellungen, S. 121. 4 | Vgl. ebd., S. 131. 5 | J. Scholze: Medium Ausstellung, S. 29. 6 | Vgl. H. Buschmann: Erzähltheorie als Museumsanalyse, S. 150. 7 | Vgl. M.R. Schärer: Ausstellung, S. 5. 8 | H. Buschmann: Erzähltheorie als Museumsanalyse, S. 151. 9 | Ebd., S. 159f. 10 | Vgl. ebd., S. 168.
Methoden-Bricolage
tungen wissenschaftlich zu beschreiben und interpretieren. Insbesondere in Bezug auf Kunstausstellungen scheint allerdings keines der Verfahren singulär bestehen zu können, so dass sich auch alle Autorinnen und Autoren, die tatsächlich Ausstellungsanalysen unternehmen, auf mehrere Verfahren zurückgreifen. Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch bezeichnen den Versuch, diese unterschiedlichen Zugänge zu verknüpfen und nutzbar zu machen, nach Claude Lévi-Strauss sehr treffend als Bricolage, also ›Bastelei‹: »Im Sinne einer Bricolage haben wir aus dem Arsenal von schon Vorhandenem methodische Ansätze genommen, diese umfunktioniert und miteinander kombiniert für eine neue Anwendung in Anspruch genommen.«11 Auch in der vorliegenden Arbeit soll eine solche Bricolage nutzbar gemacht werden, wobei ein Schwerpunkt auf dem textimmanenten Close Reading und der Narratologie liegen soll. Semantik, Semiotik und Quellenkritik werden nicht durchgehend verwendet, sondern je nach Ensemble zu Rate gezogen. Diese Methodenvielseitigkeit soll es ermöglichen, im ständigen, teils hermeneutischen, Dialog mit einzelnen Exponaten, Ausstellungsgruppen sowie der gesamten Ausstellung eine Dichte Beschreibung zu erreichen. Die Dichte Beschreibung wurde von Clifford Geertz als Methode der ethnologischen Feldforschung entwickelt und »ist in diversen Wissenschaften zur Metapher für einen interpretativen Zugang zu sozialen und kulturellen Phänomenen geworden.«12 Für die Beobachtung und Analyse von Ausstellungen machten sie vor allem Richard Handler, Eric Gable13 und Irit Rogoff 14 nutzbar, allerdings stellt sie sich mittlerweile als sehr populär dar, da fast ausschließlich alle hier diskutierten Autoren zumindest Bezüge zur Dichten Beschreibung aufweisen. Maren Ziese plädiert für die Durchführung einer Dichten Beschreibung in mehreren Schritten: Zu Beginn sollten die ersten Eindrücke innerhalb der Ausstellungsräume beobachtet und währenddessen oder nach dem eigentlichen Besuch so genau und umfassend wie möglich notiert werden. Es wird versucht, das Gesehene neutral, also nicht wertend, wiederzugeben. Dabei stehen »unter anderem die Exponate, ihre Anordnung und Hängung, die Raumatmosphäre und das Besucherverhalten, die Texte in ihrem Inhalt und ihrer Gestaltung, und Dinge, die eigentlich verborgen werden sollten (wie etwa Abschnitte zum Verbergen von Elektrokabeln, Musikanlagen etc.)«15 im Fokus der Beschreibung. Ein zweiter Ausstellungsrundgang orientiert sich an zuvor festgelegten Fragenkatalogen. Die Ergebnisse dieser beiden Schritte können zu Fragen und Unklarheiten führen, die in weiteren Besuchen untersucht werden sollten.16 Um eine Dichte Beschreibung zu erlangen, sollte die Untersuchung mehrmals wiederholt werden, so dass der Prozess nie wirklich abgeschlossen werden kann.17 Thomas Düllo weist darauf hin, das Clifford Geertz Kultur selbst als ›selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe‹ bezeichnet und reagiert darauf ebenso mit einer methodischen Bricolage.18
11 | R. Muttenthaler/R. Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 62. 12 | Ebd., S. 50. 13 | Vgl. R. Handler/E. Gable: New History. 14 | Vgl. I. Rogoff: Looking Away. 15 | M. Ziese: Kuratoren und Besucher, 42f. 16 | Vgl. ebd. 17 | Vgl. C. Geertz: Dichte Beschreibung, S. 41. 18 | Vgl. T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 33.
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Eine unvoreingenommene Betrachtung und Beschreibung der Ausstellungsräume war mir aufgrund meiner Arbeit als Kunstvermittler auf der dOCUMENTA (13) nicht möglich: Sowohl viele der Exponate als auch deren intendierten Zusammenhänge waren mir durch die Schulung weitestgehend vor meinem ersten Ausstellungsbesuch bekannt. Das zu beschreibende Feld war mir somit zunächst eher vertraut als fremd. Dies stellte sich nur zu Beginn der Untersuchung als problematisch dar, da diese Involviertheit der ethnologischen Feldforschung genuin zu eigen ist. Gleichzeitig habe ich die Ausstellung über ihre gesamte Dauer immer wieder und sehr intensiv besucht, befragt und als Teil meiner Arbeit mit vielen und zum Teil uninformierten Besucherinnen und Besuchern gesprochen, so dass immer wieder neue Aspekte der Ausstellung beobachtet und diskutiert wurden. So hat sich sicherlich ein Bild entwickelt, dass als ›dicht‹ beschrieben werden kann. Schließlich bietet die dOCUMENTA (13) selbst die Feldforschung als Bezugsrahmen an: Der erste Band der Reihe 100 Notizen – 100 Gedanken ist eine Reflexion von Michael Taussig zu seinen der Feldforschung entstammenden Notizbüchern.19 Damit und mit etlichen weiteren Setzungen betont die dOCUMENTA (13) die Notwendigkeit neben einer Analyse der gegebenen Werke und Inszenierungen auch das wissenschaftliche Interesse auf das zu richten, was sich vor Ort, zu einer bestimmten Zeit und in bestimmten Relationen ereignet hat. Eine Erfahrung im Hier und Jetzt, wie sie die dOCUMENTA (13) durch ihre Choreografie erfahrbar machen möchte, und ›Unterbrechungen‹ sind nach Thomas Düllo Ausgangspunkte des Weitererzählens ›ansteckender Erzählungen‹.20 Diese werden dadurch zu kleinen Narrativen, die »vielleicht noch stärker nach Verlust des Verbindlichkeitsgrades der sog. großen oder Metaerzählungen (Lyotard), […] selbst wieder Ansteckungscharakter«21 haben. Sandra Umathum weißt auf das Fehlen geeigneter Analysemethoden hin, »die erfahrungsästhetischen Dimensionen in den von der zeitgenössischen Ausstellungskunst inszenierten Begegnungen zwischen Menschen«22 kunstwissenschaftlich zu erfassen. Sich auch selbst zum Subjekt der Analyse zu machen, macht selbige zwar exemplarisch, aber in ihrer Subjektivität nicht gezwungener Maßen beliebig. So soll immer auch untersucht werden, wie diese Erfahrungen durch das Kunstwerk und dessen Inszenierung vorbereitet und ermöglicht wurden. »Betrachtet man diese Grenzen der Analysierbarkeit nicht als Manko, sondern fragt nach der Qualität, dann liegt diese gerade darin, der Subjektivierung künstlerischer Bedeutungsstiftung Raum zu geben«23 Sandra Umathum spricht von einer »Inblicknahme der intersubjektiven Erfahrungssituation«24 indem sie darauf hinweist, dass Künstlerinnen und Künstler – ebenso wie Kuratorinnen und Kuratoren – vieles beabsichtigen oder vermitteln wollen mögen, aber nicht im Stande sind, die tatsächliche Erfahrung der Besucherinnen und Besucher zu antizipieren.25 Diese Inblicknahme »soll es ermöglichen, die Art der Beziehungen und die Art der Erfahrungen unter die Lupe zu nehmen, ohne sich dabei auf die Absichtserklärungen der Künstler zu verlassen und sich allein mit Mutmaßungen [über die Beziehungen 19 | Vgl. M. Taussig: Feldforschungsnotizbücher, BdB. S. 64-69. 20 | Vgl. T. Düllo: Ansteckendes Erzählen, S. 31. 21 | Ebd., S. 32. 22 | S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 18. 23 | Ebd. 24 | Ebd., S. 13. 25 | Vgl. ebd.
Methoden-Bricolage
und Erfahrungen] zufrieden geben zu müssen.«26 Auch Michael Lüthy stellt fest, dass Bedeutungsstiftung sich »subjektiviert und performiert […], indem sie sich von ihren konkreten Umständen und Verläufen weder ablösen kann noch will.«27 Mieke Bal plädiert für einen Wechsel vom Objekt zum Subjekt der Kulturanalyse.28 Irit Rogoff stellt als Ausgangspunkt für wissenschaftliche Analysen ein Subjekt heraus, dass einen bestimmten Standpunkt hat und über Wissen nachdenkt, welches ebenfalls einen Standpunkt hat.29 Sie bezieht sich auf Donna Harraway, welche nach »Erkenntnistheorien zur Abgrenzung, Anordnung und Verortung [fragt], in denen Voreingenommenheit und nicht Universalität die Bedingung ist, gehört zu werden und rationale wissenschaftliche Feststellungen zu machen […]; der Blick aus der Perspektive des Körpers, der immer komplexer, widersprüchlicher, strukturierender und strukturierter Körper ist, im Gegensatz zum Blick von oben, von nirgendwo, aus der Perspektive der Einfalt. Nur die gottgleiche Perspektive (der Allgegenwart und des Allwissens) ist verboten.« 30
Damit wird statt einer ›gottgleichen‹ eine dezidiert menschliche Perspektive eingenommen. Dies steht nicht im Gegensatz zum durch die dOCUMENTA (13) thematisierten nicht-anthropozentrischen Skeptizismus, sondern ist tatsächlich notwendiger Ausgangspunkt desselben: »›Der Mensch‹ ist nicht das Maß aller Dinge. Aus diesem Grunde ist Spekulation notwendig. Wir müssen spekulieren, um unserem eingefleischten Anthropozentrismus zu entkommen, und wir müssen die Existenz einer fundamental fremden, nicht menschlichen Welt ernst nehmen.«31 Ausgangspunkt spekulativen Denkens ist somit individuelle Zeugenschaft (oder auch das Ausbleiben von selbiger), die durch die choreografische Anlage der dOCUMENTA (13) begünstigt werden soll. Völlig abgesehen davon, dass eine vollständige Analyse der dOCUMENTA (13) unmöglich erscheint, zeigt diese Betrachtungsweise, dass in das Körper-Archiv des Verfassers dieser Untersuchung offensichtlich nur Teile des gesamten Textes eingeschrieben wurden.32 Die Untersuchung konzentriert sich somit auf Ausschnitte und Details des Gesamttextes. Ein vergleichender Blick auf diese Details kann in eine »maßlose und diabolische Unordnung der Dinge [führen], die selbst, ihrer Heterogenität und Kontingenz wegen, jedes systematische Wissen zu unterminieren und in eine Serie von Singularitäten aufzulösen droht.«33 Dem wurde versucht mit einer dem Gegenstand nicht unbedingt angemessenen Kategorisierung der Detailstudien innerhalb dieser Untersuchung zu begegnen. Thomas Düllo plädiert dennoch für Studien am Detail: »Nur im Detail und unter der Lupe kann sich erweisen, wie sich Handlungserfahrung konkret bewährt, wie kulturelle Angebote angeeignet und verschoben werden, wie kulturelle Transforma-
26 | Ebd., S. 15. 27 | M. Lüthy: Die eigentliche Tätigkeit, S. 58. 28 | Vgl. M. Bal: Kulturanalyse, S. 28ff. 29 | Vgl. I. Rogoff: Subjekte/Orte/Räume, S. 126. 30 | D. Harraway zitiert nach ebd., S. 127. 31 | S. Shaviro: Spekulativer Realismus, S. 45. 32 | Vgl. P. Bianchi/G. Dirmoser: Die Ausstellung als Dialograum, S. 83. 33 | W. Schäffner/S. Weigel/T. Macho: Das Detail, S. 8.
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Format, Begriffe und Methode
tionen und Kontingenz ver- und bearbeitet werden.«34 Angestrebt ist somit eine Spurensicherung wie sie Carlo Ginzburg für so diverse Wissenschaften wie Medizin, Psychologie, Kriminalistik oder Kunstgeschichte beschreibt.35 Gunnar Richter entwickelte Spurensicherung als kritische Methode zur Aufarbeitung historischer Ereignisse.36 Harald Kimpel sieht als Methode für eine documenta-Geschichtsschreibung, welche »die Mängel der persönlichen Remininisenzen und des Reproduzierens offizieller Ideologien ebenso vermeidet wie die Verknappung der kursorischen Chroniken und die Flüchtigkeiten des feuilletonischen Zugriffs«37 nicht eine Spurensicherung, sondern eine Spurenkritik: »Heute sind somit keine Reste vor dem endgültigen Verschwinden zu retten und keine Existenznachweise aus dem Staub der Vergangenheit herauszupräparieren. Was stattdessen geleistet werden muß ist eine Spurenkritik, die mit ›Vokabel-Argwohn‹ (G.Anders) die ausgetretenen Pfade im scheinbar historisch gesichertem Bestand an Erkenntnissen bedenkt und Zweifel an verfestigten Perspektiven weckt.«38 Damit liefert er gleichzeitig ein Argument für eine Spurensicherung, die neben den großen Erzählungen in subjektiven Mikrogeschichten eben jene Anteile des Projektes sichern möchte, die durch verfestigte Perspektiven verdeckt sind. So verstanden ist Spurenkritik gleichzeitig Spurensicherung.
34 | T. Düllo: Kultur als Transformation, S. 19. 35 | Vgl. C. Ginzburg: Indizien. 36 | Vgl. L. Pietroiusti: Gunnar Richter, S. 294. 37 | H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 83. 38 | Ebd.
STRUKTUR DER VERMITTLUNG »DER TANZ WAR SEHR FRENETISCH ...«
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Strukturen der documenta: Körper, Parcours, Plattformen, Formlosigkeit
»Ich möchte dir gern etwas mehr über die dOCUMENTA (13) erzählen und wie sie zu ihrem provisorischen Titel kam, einem Satz, den ich vor einiger Zeit niederschrieb. Auch wenn ich diesen Satz in schlechtem Deutsch formulierte, bin ich mir sicher, dass Du mir […] mein gebrochenes Deutsch nachsehen wirst. Der Satz lautet: Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit. […] Jener von Beschreibungen der Bamboule im Internet angeregte deutsche Satz stellte einen Versuch meinerseits dar, eine ebenso narrative wie fantasievolle Formulierung zu entwickeln, welche die Vorstellung einer Abfolge choreografierter Gesten und Bewegungen hervorruft und eine Reihe von Abläufen schildert, die im Gegensatz zu jeder Theorie und jedem Konzept stehen. Diese Formulierung sollte sich faktisch dem Memorieren und der Reduktion auf jene Gemeinplätze widersetzen, welche die Sprache heute prägen.« C arolyn Christov-Bakargiev: B rief an einen Freund
Die Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Christov-Bakargiev, veröffentlichte ein Jahr vor der Eröffnung der Ausstellung in Kassel einen umfangreichen Brief, dessen Adressat nur als »lieber Freund«1 ausgewiesen wird und in dem sie mehrfach die Absicht äußert, Aspekte des Projekts zu erläutern. Darunter fällt auch der zunächst als provisorisch bezeichnete Titel, der zwar bis zum Abschluss der ›Reihe von Abläufen‹, die die dOCUMENTA (13) darstellen, unverändert bestehen bleibt, aber trotzdem eher als Randnotiz als denn als Titel auftritt. Dieser Satz soll eine bestimmte Vorstellung entwickeln, allerdings sich auch widersetzen: Er ist schwierig korrekt zu erinnern und wirkt eher enigmatisch, als dass er eine Annäherung an die Ausstellung oder deren Theorie zuließe. Er ist Zugang zur dOCUMENTA (13) und deren Schwelle zugleich.
1 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 16, BdB. S. 86.
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Struktur der Vermittlung
Dieser Doppelfunktion des Satzes sehen sich gemeinsam mit dem ›lieben Freund‹ auch alle Leserinnen und Leser und schließlich das gesamte Publikum der dOCUMENTA (13) – ob es den Titel als solchen wahrnimmt oder nicht – ausgesetzt. Es bleibt unklar, wie man sich durch den Tanz im Raum bewegen, das Ausgestellte deuten und sich dazu positionieren soll.2 Um diesen Titel zu kontextualisieren und für die weitere Untersuchung nutzbar zu machen, werden im Folgenden zunächst vergleichbare Strukturen der vier vorangegangenen documenta-Ausstellungen, die sich vor allem als Topografien darstellen, nachgezeichnet. Anschließend werden neben dem Tanz weitere potentielle Strukturen der dOCUMENTA (13) umrissen und die besondere Stellung des Tanzes zwischen Titel und Randnotiz beleuchtet. Zentraler Aspekt dieses Teils der Untersuchung ist eine assoziative Notation zur Choreografie der dOCUMENTA (13), die keine Definition darstellt. Ergänzt wird diese mit einer in der Tanz- und Theaterwissenschaft fußenden Skizze zum Choreografischen Denken. Jan Hoet bezeichnet die DOCUMENTA IX als »eine documenta der Orte, ihre Topographie ist das alles tragende Gerüst«3. Er stellt damit einen Begriff zur Verfügung, der vorgelagert zu einem Konzept einen Zugang ermöglichen kann: »Eine Ausstellung hat ein bestimmtes Ziel, wird von leitenden Gedanken getragen. [...] Eine solche Struktur kann man nicht beschreiben, man kann sie nur sehen, nachvollziehen, erleben, in der direkten Konfrontation mit dem realen Ereignis rekonstruieren und neu erfinden.«4 Die DOCUMENTA IX geht von einer Ortlosigkeit aus und formiert sich schließlich über den Begriff ›Topografie‹ als wahrnehmbare Struktur: »Am Anfang stand die Ortlosigkeit. Eher eine Idee als eine Institution, entsteht die documenta jedes Mal nahezu aus dem Nichts. Ihre Räumlichkeiten sind in diesem Sinne nicht eigentlich die ihren, sondern Dauereinrichtungen im Ausnahmezustand. [...] Permanent anwesend ist nur der tragende Gedanke, eine inzwischen auch ökonomisch aufgeladene Tradition und die Geschichte ihrer Realisierungen. Diese Idee sucht einen Ort für ihre Manifestation und findet ihn seit jeher zuerst im Fridericianum. Von dort aus spinnen die Fäden sich weiter, neue Gebäude und Räume werden entdeckt und fügen sich in ein lebendiges topographisches Beziehungsgeflecht.« 5
Dieses Gerüst oder Geflecht steht einem ›Chaos‹ aus sich ›umeinander drehenden‹ Ausstellungsorten und Werken gegenüber, die sich laut Jan Hoet nicht unter einem Konzept fassen lasen.6 Nichtsdestoweniger weisen viele Kunstwerke Bezüge zur Körperlichkeit des Menschen auf, was Jan Hoet in einem Motto fasst, das in Länge und Syntax mit dem Tanz-Titel der dOCUMENTA (13) vergleichbar ist: »Von Einem zum Einen zum Anderen – oder: vom Körper zum Körper zu Körper – oder: vom Kunstwerk zum Betrachter zu Kunst.«7 Es beschreibt eine »Ausstellung, die wie ein menschlicher Körper sein sollte: mit Kopf, Herz und Gliedern als Metaphern für verschiedene
2 | Vgl. Ebd., S. 24, BdB. S. 84. 3 | J. Hoet: Eine Einführung, S. 19. 4 | Ebd., S. 21. 5 | Ebd., S. 19. 6 | Vgl. J. Hoet: documenta als Motor, S. 249. 7 | J. Kirschenmann/W. Stehr: Struktur der neunten documenta, S. 32.
Strukturen der documenta: Körper, Parcours, Plattformen, Formlosigkeit
Kategorien der Kunst.«8 ›Körper‹ bekommt im Kontext der DOCUMENTA IX somit eine Doppelfunktion zugeschrieben: Einerseits fungiert er als ordnende Struktur der Ausstellung, andererseits ist er das Medium der Wahrnehmung der einzelnen Besucherinnen und Besucher. Obwohl Jan Hoet die Ausstellung als Text mit eindeutigem Autorsubjekt beschreibt, verweist er auf dessen individuelle körperliche Erschließung: »Diese Ausstellung ist mein Text, jeder Beitrag eine Setzung, und im Durchschreiten der Räume entfaltet sich der Diskurs. Sie zeigt, wie man in und mit der Realität denken kann[…]. Sie zeigt Kunst.«9 Als Einführung und körperliche Einstimmung in diese Ausstellung schlägt Jan Hoet nicht das Fridericianum, sondern Three to One (1992) von Max Neuhaus vor. Die räumlich über der Topografie im Treppenhaus des AOK-Gebäudes installierte Soundinstallation »wirkt wie eine Schleuse zwischen der Welt und der Ausstellung. Sie stimmt den Besucher auf den Rundgang und sich selbst ein, indem sie in ruhig und aufnahmebereit macht, seinen Puls verlangsamt.«10 Catherine David distanziert sich und damit die documenta X mit der Struktur eines Parcours sowohl von einer gleichwertigen Verstreutheit als auch von der Haltung des Flanierens: »Die zehnte documenta ist kein Spaziergang mehr«11, sondern ein »Hindernislauf«12. Damit grenzt sie sich deutlich von Jan Hoet ab. Allerdings bleibt in Bezug auf den Parcours zumindest Körperlichkeit assoziierbar. Diese Struktur tritt weniger als Zugang, denn als Rahmung auf: »Was auch immer auf der Strecke liegt, wird von der Parcours-Idee vereinnahmt und zu einem Standortkontinuum lückenlos zusammengefügt.«13 Dabei stellt die räumliche Struktur nicht die einzige der documenta X dar: »So wie der Parcours uns mit der Material-Realität einer mittleren Großstadt konfrontiert, so begegnet uns im Buch [poetics/politics] eine Gedanken-Collage aus Zeitzeugnissen von 1945 bis heute. Zwei Welten, die nicht immer zusammenzugehören scheinen.«14 Zu diesen beiden ›Welten‹ gesellt sich mit der Vortragsreihe 100 Tage – 100 Gäste eine dritte, so dass sich eine dreifache Struktur – Raum, Zeit und Diskurs – ausmachen lässt. Diese dreifache Struktur wird durch die Documenta11 fortgeführt und mit den Plattformen in einem System zusammengeführt, in dem der Ausstellung selbst als fünfte Plattform ihre zentrale Rolle strittig gemacht werden soll: »Was das Konzept der Ausstellung betrifft, habe ich von Anfang an sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass unsere Aufgabe nicht darin besteht, eine Kunstausstellung als solche zu machen, sondern eine Kunstausstellung als Teil des weiter gefassten diskursiven Systems, das wir konstruieren mussten.« 15
Innerhalb dieses Systems wird der theoretische Diskurs weiter etabliert und dem umfangreichen Katalog vier weitere Bände hinzugefügt, die Tagungen dokumentieren, die vor der Ausstellung in Kassel an Standorten auf der ganzen Welt abgehalten wurden (Plattformen 1-4). Somit wurden die räumliche und zeitliche Ausdehnung einer do8 | Ebd. 9 | J. Hoet: Eine Einführung, S. 21. 10 | C. Herstatt: Collective Memory, S. 64. 11 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 130. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 131. 14 | A. Haase: Territorien einer Ausstellung, S. 74. 15 | O. Enwezor/A. Haase: Kunst als Teil, S. 85.
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Struktur der Vermittlung
cumenta neu definiert. Diese Öffnung und Verzweigung – und die damit potentiell einhergehende Überforderung – sollte sich auch innerhalb der Ausstellung und ihrer Architektur widerspiegeln: »Wenn also für die Enzyklopädie der Documenta11 eine Form möglich und vorstellbar ist, so ist es vielleicht die einer Ausstellung, in der alle Pfade sich unaufhörlich verzweigen.«16 Die Struktur der documenta 12 zeichnet sich gerade durch ihre behauptete Formlosigkeit aus, die Werke aus ihren Kontexten löst und neu konstelliert. Dies ist innerhalb der Ausstellung häufig nicht unmittelbar nachvollziehbar, da museale Präsentationen diese Eigenschaft per se aufweisen. Deutlicher ablesbar ist dies hingegen an den Publikationen: Der durch die vorhergehenden Ausstellungen etablierte Theorieband wird zu Gunsten eines Zeitschriftennetzwerkes, welches sich mit unterschiedlichen Fragestellungen auseinandersetzt, aufgelöst. Der eigentliche Katalog entspricht in Format und Umfang den Kurzführern vorheriger documenta-Ausstellungen und bietet dementsprechend wenig theoretische Rahmung. Er weist dennoch eine rigide Struktur in Form einer Chronologie auf, die die ausgestellten Werke nach ihren Entstehungsdaten systematisiert. Diese Struktur ist während des Ausstellungsbesuch wenig hilfreich, vermittelt aber, inwiefern Ordnungssysteme Blicke lenken. Dem gegenüber steht das in der Ausstellung angewandte konstellative Verfahren: »Indem man Formen (und weniger zunächst Inhalte) verkettet, lassen sich neue Verknüpfungen und Kontakte zwischen Arbeiten herstellen, Korrespondenzen wie auch Unterschiede sichtbar machen und dabei auch Bedeutungen anders verteilen. Eine Form ist eigenständig und nimmt gleichzeitig doch immer wieder neue Gestalt in unterschiedlichen lokalen Kontexten an. […] Über die Entstehungszusammenhänge vieler [Werke] konnten die meisten BesucherInnen kaum etwas wissen.« 17
Es zeigt sich, dass die documenta 12 durch eine Reduktion von Struktur und eigener Theorie genau diese Mechanismen selbst thematisiert und damit auch das Format Ausstellung – inklusive derer Strukturen als z.B. Parcours oder Plattform – in den Blick nimmt. Während Jan Hoet und Catherine David Topografien anbieten, verschieben sich die ordnenden Strukturen in einen nicht-ortsgebundenen, möglicherweise diskursiven Raum und zergliedern die Ausstellung in ›Pfade, die sich verzweigen‹ oder überantworten sie der ›Formlosigkeit‹. Angebote, dieser Situation zu begegnen, finden sich dennoch vor allem innerhalb der Architektur und Ausstellungsdisplays. Oliver Marchart befindet, dass sich die Besucherinnen und Besucher selbst im Ausstellungsdispositiv spiegeln, das dargestellte Idealbild verinnerlichen und sich dadurch selbst zu regulieren und zu disziplinieren beginnen.18 Dieser Sichtweise geht Anna-Lena Wenzel nach, wenn sie nach Ausstellungssituationen fragt, die Besucherinnen und Besucher normieren: »Eine normative Situation lenkt nicht nur die Besucher durch die Ausstellung, indem sie einen bestimmten Durch-Gang vorgibt, sondern steuert auch die Wahrnehmung
16 | C. Basualdo: Die Enzyklopädie von Babel, S. 58ff. 17 | C. Mörsch: Kunstvermittlung, S. 366. Glossar ohne Nachweis der Autorschaft. 18 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 18.
Strukturen der documenta: Körper, Parcours, Plattformen, Formlosigkeit der Ausstellung, indem ein thematisches Thema vorgegeben wird bzw. auf eine ganz bestimmte (aufklärerische, verführerische, verstörende) Wirkung abgezielt wird.« 19
Die unterschiedlichen Strukturen der documenta-Ausstellungen werden von Oliver Marchart als mehr oder weniger normativ beschrieben. Er und Anna-Lena Wenzel bewerten dabei die documenta 12 komplett gegensätzlich. Ohne auf die jeweiligen Bewertungen einzugehen, soll mit diesem Hinweis ein Spannungsbogen zwischen hilfreichen, aber offenen Strukturen und normativen Situationen aufgemacht werden, in dem auch die Strukturen der dOCUMENTA (13) kritisch positioniert werden müssen.
19 | A.-L. Wenzel: Ausstellungen und normiertes Besucherverhalten, o.S.
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Strukturen der dOCUMENTA (13)
Auffällig ist, dass sich – im Gegensatz zu den vorangegangenen documenta-Ausstellungen – für die dOCUMENTA (13) bisher kein Strukturprinzip im Diskurs etabliert hat, sondern sich verstärkt auf Leitmotive, Themen oder Begriffe konzentriert wird. Eine breite und deshalb hilfreiche Übersicht über diese liefert Lena Johanna Reisner und zeigt gleichzeitig auf, dass Begriffe inadäquat bleiben. Sie beschreibt eine definitorische Offenheit darüber, was zu den Leitmotiven zuzurechnen ist: »In einem grauen Bereich finden sich eine Reihe von Themen oder Stichworten, die an mehreren Orten in der Ausstellung offenbar werden, die immer wieder auftauchen und die, würde man sie hervorheben, sich als Leitmotive erklären ließen.«1 Sie führt das Wortpaar ›Zusammenbruch und Wiederaufbau‹, eine Infragestellung von Wissen, die Frage nach dem Wissen von Materie, die Mulitspezies-Koevolution, Ökologie und Engagement als mögliche Hervorhebungen auf.2 Insbesondere ›Zusammenbruch und Wiederaufbau‹ sowie Ökologie wurden auch durch die Kritik als Themen oder Konzepte hervorgehoben. Dies ist laut Carolyn Christov-Bakargiev tendenziös und reduktiv.3 Es lässt sich somit eher von einem Gefüge oder einem Netzwerk von Themen und Motiven sprechen. Neben diesen Begriffen, die kumulativ argumentieren, bietet die dOCUMENTA (13) dennoch in den oben herausgearbeiteten Dimensionen Zeit, Raum und Diskurs verschiedene ordnende Strukturen an. Zur Zeit: Ähnlich der Documenta11 gibt es eine Erweiterung des zeitlichen Rahmens, die durch erstens die Einweihung von Idee di pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010) von Giuseppe Penone am 21.06.2010 als erstes Kunstwerk der dOCUMENTA (13), zweitens die Herausgabe der Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken ab 2011 und drittens ebenfalls in 2011 die Herausgabe eines Hundekalenders, der die 18 Monate bis zum Ende der Ausstellung im September 2012 darstellt, markiert wird.4 Carolyn Christov-Bakargiev stellt in ihrem Brief an einen Freund, der auf den 25. Oktober 2010 datiert ist und 2011 veröffentlicht wurde, klar, dass die dOCUMENTA (13) »aus einer Reihe bereits stattfindender künstlerischer Akte und Gesten und aus einer Ausstellung, die vom 9. Juni 2012 an hundert Tage lang geöffnet sein wird«5 besteht. Dieser Prozess lässt sich zu Teilen parallel, zu weiteren Teilen in der Dokumentation des Logbuches 1 | L.J. Reisner: Denken und Weltlichkeit, S. 24. 2 | Vgl. ebd., S. 15ff. 3 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 124. 4 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 30. 5 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 24, BdB. S. 84.
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Struktur der Vermittlung
nachvollziehen, wobei ein deutlicher Anteil im Bereich des Nicht-Beobachtbaren verbleibt bzw. eine Quellenforschung erfordert, die bis dato nur in Bruchstücken möglich ist. Die Notizen stellen laut Carolyn Christov-Bakargiev einen Schlüssel dar, sich die Welt der documenta zu erschließen.6 Damit schlagen sie eine deutliche Brücke zur diskursiven Struktur, definieren sich aber vor allem – ebenso wie die knapp 400 Einträge umfassende Leseliste Propädeutik zur Grundlagenforschung 7 – durch ihre Zeitlichkeit: »Die Essays wurden von uns über einen Zeitraum von zwei Jahren in Auftrag gegeben und nach und nach veröffentlicht, so dass alle Autorinnen und Autoren lesen konnten, was bereits vorlag, bevor sie einen neuen Text verfassten und auf diese Weise eine kumulative Form des Schreibens schufen. Die Choreografie der Publikation ist angetrieben von der Logik des Geist-bei-der-Arbeit (mind-at-work) und präsentierte und entwirft Szenarien, die über die normativen Grenzen akademischer Textproduktion hinausweisen;« 8
In dieser Aussage wird bereits eine Choreografie als etwas vorgestellt, das über ›normative Grenzen‹ hinausweisen kann. Hier handelt es sich um eine zwar zeitlich lineare Abfolge, die allerdings über diskursive Bezüge mannigfaltig verknüpft ist und dadurch auch offen für weitere externe Assoziationen wird. Obwohl es einführende und strukturierende Knotenpunkte innerhalb dieser Struktur gibt, ist eine feste, sinnvolle Rezeptionsreihenfolge nicht auszumachen. Jeder Einstieg, jede Kombination erscheint gültig. Das Logbuch verknüpft schließlich die zeitliche Dimension über das Reisetopos mit der Topografie bzw. der Verortung. Zum Raum: Amine Haase beschreibt zur documenta X eine Situation, die sich auf die dOCUMENTA (13) übertragen lässt und von einem räumlichen Orientierungspunkt auf dem Friedrichsplatz ausgeht: »1977 bohrte Walter de Maria dort den ›Erdkilometer‹. 1982 begann Joseph Beuys dort mit dem Pflanzen seiner ›7000 Eichen‹, 1987 fanden dort Performances statt, und 1992 waren dort mindestens ein halbes Dutzend Kunstwerke zu sehen. Das auffälligste war Jonathan Borofskys ›Man walking to the sky‹. Zur dX ist der Platz wie leergefegt.« 9
Das Ausbleiben einer auffälligen Setzung steht sicherlich für den Versuch Carolyn Christov-Bakargievs, sich dem Zugriff des kognitiven Kapitalismus zu entziehen: »Ich habe keine spektakuläre Inszenierung vor dem Fridericianum. Dort wird nur ein Buchladen stehen.«10 Gleichzeitig ließe sich daraus gewissermaßen auch ein Strukturmerkmal ableiten: das Fehlen einer Orientierung im Zentrum und ein Blick auf die Verstreutheit oder die Peripherie. Die Topografie der dOCUMENTA (13) lässt sich in drei Gruppierungen von unterschiedlicher Strukturiertheit umreißen, die sich in ihrer jeweiligen Spezifik auch über das Inhaltsverzeichnis des Begleitbuches ablesen lassen. Zuerst werden die Ausstellungsorte in Kassel in einer Reihenfolge aufgelistet, die eine Inblicknahme vom 6 | C. Christov-Bakargiev/T. Lindemann: Keine documenta-Künstlerliste, o.S. 7 | Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 18ff. 8 | C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 9 | A. Haase: Territorien einer Ausstellung, S. 75. 10 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S.
Strukturen der dOCUMENTA (13)
Zentrum (Fridericianum) hin zur Peripherie (Abseits der Hauptschauplätze, oder sogar, wenn auch nur bedingt an eine Topografie gebunden, die Maybe Education) suggeriert.11 In ihrem Katalogtext geht Carolyn Christov-Bakargiev ebenfalls auf die verschiedenen Örtlichkeiten in Kassel ein: »Das Fridericianum, die documenta-Halle und die Neue Galerie in Kassel sind Museumsräume, die eine Entsprechung zu einer Vielzahl anderer bilden, die unterschiedliche – physische, psychische, historische und kulturelle – Bereiche und Wirklichkeiten repräsentieren. Es gibt Räume, die den technischen und den Naturwissenschaften gewidmet sind, wie das Ottoneum und die Orangerie, sowie kleine Gebäude in der großartigen, weitläufigen Parkanlage der barocken Karlsaue, die an den Rückzugsort der Gemeinschaft des Monte Verità bei Ascona zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern. Es gibt andersgeartete ›bürgerliche‹ Räume, die in der Vergangenheit genutzt wurden und heute vergessen sind – oftmals Räume der Freizeit und der gesellschaftlichen Interaktion in der Nachkriegszeit des Wiederaufbaus –, darunter alte Ballsäle, Kinos und Hotels. Ein Gegenstück zum Park bilden die industriellen Räume in der Umgebung des früheren Hauptbahnhofs, Kassels ehemals wichtigstem Bahnhof, der heute nur noch für den Regionalverkehr genutzt wird […].« 12
Hier wird eine ähnliche Reihenfolge gewählt, die dennoch eher als ein Nebeneinander mit einigen wenigen Bezugnahmen auftritt. Dem übergeordnet erscheint zweitens im Inhaltsverzeichnis des Begleitbuches die Aufzählung von vier Orten, von denen Kassel, unter dem die oben beschriebene Gruppierung verzeichnet wird, nur der erste ist. Es folgen Kabul/Bamiyan, Alexandria/Kairo und Banff – allerdings ohne Unterpunkte.13 Auch hier lässt sich ein deutlicher Bezug zu den Plattformen der Documenta11 herstellen. Aber die mit den Orten verbundenen Formate weisen eine höhere Diversität auf: Kabul/Bamiyan steht für Seminare, Workshops (7.6.2010-19.6.2012) und eine eigene Ausstellung (20.06.2012-19.07.2012), Alexandria/Kairo für ein weiteres Seminar (01.08.07.2012) und Banff für eine Klausur einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) (02.-15.08.2012).14 Die letzten drei Orte werden jeweils als eine »Position der dOCUMENTA (13)«15 bezeichnet, wodurch geschlossen werden kann, dass mit Kassel eine vierte Position auszumachen ist und somit dieses Konstrukt annähernd parallel zu den Plattformen der Documenta11 zu bewerten ist. Den Begriff der ›Position‹ führt Carolyn Christov-Bakargiev näher aus: »Die vier Positionen, die innerhalb der mentalen und realen Räume des Projekts ins Spiel kommen, sind folgende: Unter Belagerung. Ich bin umlagert vom anderen, belagert von anderen. − − Auf dem Rückzug. Ich bin zurückgezogen, ich beschließe, die anderen zurückzulassen, ich schlafe.
11 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 5. 12 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36. 13 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 5. 14 | Vgl. ebd., S. 454ff. 15 | Ebd., S. 456, 494 u. 502.
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Struktur der Vermittlung − Im Zustand der Hoffnung oder des Optimismus. Ich träume, ich bin das träumende Subjekt der Antizipation. − Auf der Bühne. Ich spiele eine Rolle, ich bin ein Subjekt im Akt der Wiederaufführung. […] Die vier Zustände (›auf der Bühne‹/›unter Belagerung‹/›im Zustand der Hoffnung‹/›auf dem Rückzug‹) beziehen sich auf die vier Schauplätze – Kassel, Kabul, Alexandria/Kairo und Banff –, an denen die dOCUMENTA (13) physisch und konzeptionell verortet ist, während sie zugleich darauf abzielen, die Assoziationen, die charakteristischerweise mit diesen stets veränderlichen Orten und Bedingungen verknüpft sind, ›aufzutauen‹.« 16
Einerseits erlaubt die Kenntnis über die Position ›auf der Bühne‹ eine Bewertung der Reihenfolge der Orte in Kassel als mehr oder weniger exponiert, andererseits macht Carolyn Christov-Bakargiev deutliche Bezüge zwischen den Positionen und Zeitlichkeit aus: »Jede dieser Positionen ist ein Zustand, ein Geisteszustand, und steht in einer spezifischen Beziehung zur Zeit: Während der Rückzug die Zeit aufhebt, erzeugt das Auf-derBühne-Sein eine lebhafte und lebendige Zeit des Hier und Jetzt, die kontinuierliche Gegenwart; während die Hoffnung durch das Gefühl eines Versprechens – das Gefühl einer Zeit, die sich eröffnet und nicht endet – die Zeit freisetzt, verdichtet das Gefühl des Belagerungszustandes die Zeit bis zu einem Punkt, an dem es jenseits der Elemente des Lebens, die eng an uns gebunden sind, keinen Raum mehr gibt.« 17
Die dritte Verortung von Raum definiert sich darüber, dass sie weder im Inhaltsverzeichnis noch anderen Ortsverzeichnissen aufgeführt wird, sondern es sich um einen ›fehlenden Ort‹ handelt.18 »Das, was in der Neutralität der Ausstellungsräume sichtbar ist und erlebt werden kann, findet einen Kontrapunkt in einem geisterhaften Anderen, an einem Ort, der als Schauplatz eines Experiments dient und den Besucher möglicherweise selten aufsuchen werden, da er zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt liegt. […] Breitenau ist das andere Kassel, das Unbewusste der dOCUMENTA (13), wo auf der grauenhaften Schattenseite der Gesellschaft über Generationen hinweg – körperliche, psychische, sexuelle und auch kreative – Unterdrückung und Maßregelung praktiziert wurden.« 19
Auch wenn durch die vier Positionen eine gewisse Strukturierung möglich erscheint, wird dennoch deutlich, dass sie ebenso wie die Themen und Begriffe das Feld nicht abschließend gliedern können und einen Überschuss zurücklassen. Sie stellen sich eher als Sichtachsen auf das nach wie vor nicht zu fassende Feld dar, die nur »vier möglichen Bedingungen entsprechen, unter denen Menschen, und insbesondere Künstler und Denker, heute agieren. […] Diese Positionen oder Standpunkte, die bei weitem nicht alle Positionen abdecken, die ein Subjekt einnehmen kann, gewinnen ihre Be16 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 35. 17 | Ebd., S. 35f. 18 | Vgl. ebd., S. 36. 19 | Ebd.
Strukturen der dOCUMENTA (13)
deutung durch ihr wechselseitiges Resonanzverhältnis.«20 Dennoch verdeutlichen sie die Betrachtungsweise, die Carolyn Christov-Bakargiev als standortbezogene Wende (locational turn) bezeichnet: »Die dOCUMENTA (13) vollzieht daher eine räumliche oder, genauer gesagt, ›standortbezogene‹ Wende, indem sie Bedeutung eines physischen Ortes betont, gleichzeitig jedoch auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt […] eine Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden Maßstäben, die die lokale Geschichte und Wirklichkeit eines Ortes mit der Welt verbinden.« 21
Obwohl zuvor immer wieder eine Gleichzeitigkeit von körperlichen und psychischen Phänomenen angedeutet wurde, zeigt sich hierin eine deutliche Vorwegnahme des physisch-realen Ortes (spacial turn) unter Hinzunahme des eigenen Standpunktes (locational turn) um daraufhin beider psychischen/diskursiven Implikationen aufzurufen. Dadurch bringt auch Carolyn Christov-Bakargiev deutlich den Körper als Medium der Wahrnehmung in die Struktur der dOCUMENTA (13) ein: Über den Körper lassen sich Orte, die außerhalb liegen, als schwierig und andere als unmöglich zu erreichen erleben. Es zeigt eine Erschütterung des eigenen Standpunktes, wenn der zentrale Platz ›wie leergefegt‹ erscheint. Über den Körper der Künstlerischen Leiterin erschließt sich, warum sie die dOCUMENTA (13) als Reise beschreibt.22 Und – ebenso wie zur DOCUMENTA IX – wird über das Ausstellungsensemble Brain möglicherweise die Ausstellung selbst als Körper denkbar. Durch die Positionen sind die Dimensionen Raum und Zeit mit dem Medium des Körpers verbunden. Zum Diskurs: Eine dritte mögliche Struktur, die durch den Titel dieser Arbeit und die Einführung dieses Kapitels bereits vorweggenommen wurde, zeigt sich in den bisherigen Versuchen nur umrisshaft. Es ist das durch den provisorischen Titel »Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.«23 eingeführte Motiv des Tanzes bzw. der Choreografie. Auf der Suche nach Tanz als Kunstform auf der dOCUMENTA (13) lässt sich schnell feststellen, dass dieser nur eine untergeordnete Rolle spielt: Zwei Projekte, nämlich This Variation (2012) von Tino Sehgal und Disabled Theater (2012) von Jérôme Bel, stellen sich offensichtlich als Tanz dar. Beide finden sich abseits der Hauptschauplätze und somit nicht auf der zentralen Bühne der dOCUMENTA (13). In einigen wenigen weiteren Projekten, darunter die von Susan Hiller, Gabriel Lester, Chevdet Erek, Tarek Atoui und Alora & Calzadilla, ist Musik oder Rhythmus in tanzbarer Form nachweisbar. Dies erklärt möglicherweise, warum Tanz und Choreografie trotz ihrer prominenten Setzung als Titel der Ausstellung, in der bisherigen dOCUMENTA (13)-Forschung wenig beachtet werden. Neben seiner Erwähnung im Brief an einen Freund ist der Satz allerdings auch der Titel des zentralen Katalogaufsatzes von Carolyn Christov-Bakargiev, findet sich auf Flyern und im Eingangsbereich des Fridericianums: Nachdem Besucherinnen und Besucher das Gebäude betreten haben, stehen sie in einem leeren Raum, in dem es zieht und an dessen Wänden ein Text in deutscher und englischer Sprache angebracht ist, den man als Vorwort zur eigentlichen Ausstellung begreifen kann. Dieser setzt sich 20 | Ebd., S. 35. 21 | Ebd., S. 36. 22 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 120. 23 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 23f, BdB. S. 83f.
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Struktur der Vermittlung
aus Teilen des Aufsatzes von Carolyn Christov-Bakargiev und einigen Informationen über die Verortung der Ausstellung zusammen, die auch im vorhergehenden Abschnitt vor allem berücksichtigt wurden. Diesem Text ist, durch etwas vergrößerte und kursive Lettern hervorgehoben, derselbe Satz vorangestellt. Einen offenkundigen Bezug oder eine Erläuterung findet sich im restlichen Text nicht. Der Satz steht isoliert, so wie er auch im gesamten Kontext der dOCUMENTA (13) zunächst für sich zu stehen scheint. Die Anlage des Publikationsprojekt der Notizen wurde, wie bereits oben dargestellt, als Choreografie bezeichnet. Einen Hinweis darauf, wie der Tanz mit den Ordnungsdimensionen von Zeit, Raum und Diskurs zusammenzudenken ist, mag folgende Bemerkung Carolyn Christov-Bakargievs geben: »Der Tanz erdet das Subjekt buchstäblich in Hier und Jetzt und erinnert mich an die Verkörperung des Seins, die sich durch Training erreichen lässt. Gleichzeitig fördert der Tanz ein Hinausgehen der Imagination über das Hier und Jetzt und verweist auf einen ›anderen‹ Ort – irgendwo anders.«24 Auch der Position ›auf der Bühne‹ wurde zugeschrieben »eine lebhafte und lebendige Zeit des Hier und Jetzt«25 zu evozieren, womit eine räumliche und zeitliche Positionierung stattfindet – die als Beschreibung von Tanz gelten kann. Dem gegenüber steht eine »körperliche, psychische, sexuelle und auch kreative […] Unterdrückung und Maßregelung«26 – hier in Breitenau, möglicherweise aber auch in anderen ›normativen Situation‹, wie Ausstellungen (Oliver Marchart/Anna-Lena Wenzel) oder akademischer Textproduktion (Carolyn Christov-Bakargiev). Um Widerstand gegen die historisch konkrete Unterdrückung in Breitenau und anderen Erziehungsheimen zu formieren, arbeitete Ulrike Meinhof an dem Dokumentarfilm Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?, der erst 1994 erstmalig ausgestrahlt wurde.27 Dazu ihre Tochter, Bettina Röhl: »Bambule ist nicht nur der Name des Films, sondern Bambule war das Programm.«28 Im Deutschen steht Bambule für einen in Form von Krawallen geäußerten Protest besonders von Häftlingen oder ein äußerst ausgelassenes Treiben. Das Wort leitet sich über das Französische ab und bezeichnet ursprünglich einen Sklaventanz zu Trommelrhythmen.29 Aus Recherchen im Internet zu diesem Tanz leitet Carolyn Christov-Bakargiev den Titel der dOCUMENTA (13) ab.30 Aus den bisherigen Erkenntnissen zum Tanz im Allgemeinen und der Bambule im Besonderen lassen sich bereits einige Implikationen ableiten, die dieses Strukturmerkmal der dOCUMENTA (13) aufweisen könnte: Tanz bezieht sich direkt und unmittelbar auf den jeweiligen tanzenden Körper. Er ist eine Abfolge von Positionierungen in Raum und Zeit, die möglicherweise mit den Positionen der dOCUMENTA (13) vergleichbar sind. Je nach Choreografie bzw. Notation kann Tanz eine normative, autoritäre oder eine ungeordnete, widerständige Form annehmen, die über Grenzen hinausweist. Mit Blick auf die Bambule scheint sich die dOCUMENTA (13) selbst als unharmonische Choreografie zu verstehen oder zu kommunizieren. Die Syntax des Titels evoziert ein kumulatives Nebeneinander, das keine feste Ordnung vorgeben kann oder möchte.
24 | Ebd., S. 24, BdB. S. 84. 25 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 35. 26 | Ebd. 27 | Vgl. C. von Wedemeyer/B. Röhl: Bamboule, S. 4, BdB. S. 632. 28 | Ebd., S. 47. 29 | Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Bambule vom 24.10.2018. 30 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 23, BdB. S. 83.
Strukturen der dOCUMENTA (13)
Um dieser ersten Skizze einen größeren Resonanzraum zu verschaffen, muss der Blick erweitert und dem Tanzmotiv auf der dOCUMENTA (13) nachgespürt werden. Trotz seiner zunächst untergeordnet erscheinen Stellung ist es auf unterschiedliche Art und Weise in etlichen künstlerischen Projekten, Notizen und Zitaten auffindbar – mitunter marginal oder auch zufällig. Dadurch eröffnet sich ein assoziativer Bedeutungsraum um die Begriffe ›Tanz‹ und ›Choreografie‹. Gleichzeitig muss betont werden, dass sich aus dieser desperaten Sammlung, die nur wenig internen Rückhalt aufweist, keine gemeinsame Theorie zum Tanz auf der dOCUMENTA (13) formulieren lässt, sondern dieser sich eher als vielschichtig, konstellativ und rätselhaft darstellt: »Doch das Rätsel aktiviert alle Elemente und sorgt dafür, dass der Tanz nicht zum Stillstand kommt.«31 schreibt Chus Martínez und arbeitet eine Qualität des Zweifelns heraus, die nur in der (geistigen) Bewegung erhalten bleibt. Ihrer Ansicht nach sind Notizen die angemessene Form, sich solchen Phänomenen zu widmen, ohne sie durch die abschließende Beschreibung und Definition festzustellen: »Notizen sind ›vielleicht‹ Texte – nicht Fragmente, nicht in einer Position der Schwäche gegenüber einem Ganzen.«32 Im Folgenden werden daher eine lose Auswahl der gesammelten Indizien, Bilder und Zitate versammelt und mit kurzen Notizen zwar kontextualisiert, jedoch nicht auf eine These reduziert. Sie werden verstanden als »eine Reihe von Kunstwerken, Objekten, Fotografien und Dokumenten, die als programmatischer, traumähnlicher Ort anstelle eines Konzepts zusammengebracht wurden.«33
Notation: Tanz, Choreografie, Bewegung, Rhythmus, Widerstand Die erste öffentliche Erwähnung des Tanz-Satzes geht zurück in das Jahr 2009. Carolyn Christov-Bakargiev führt auf einer Vortragstour aus, dass die dOCUMENTA (13) kein Thema habe und dass das naheliegende Wortpaar ›Collapse/Recovery‹ (vgl. S. 159, 226) nicht als solches fungieren solle. Stattdessen habe sie einen Titel, der laut der Präsentationsfolie ›Der Tanz war sehr frenetish, auf brullend, gerasselt, clingelnd, verdreht, rollende und dauerte fur lange zeit‹ lautet. Carolyn Christov-Bakargiev freut sich darüber, Deutsch zu lernen, und befindet, dass sie lange Titel mag (vgl. S. 345). Er steht für sie in Zusammenhang mit ›traffic control‹ bzw. ›crowd control‹ (vgl. S. 272, 330): Es werden über 750.000 Besucherinnen und Besucher erwartet, die in nur 100 Tagen durch die Ausstellung geleitet werden müssen. Der Zusammenhang zwischen dem Titel und der Kontrolle von Massen wird nicht weiter ausgeführt und muss assoziativ geschlossen werden (vgl. S. 137).34 Publiziert wird der Satz in Carolyn Christov-Bakargievs Brief an einen Freund (vgl. S. 222). Er steht dort neben vielen anderen fragmentierten Gedanken (vgl. S. 320), so dass sich die Bedeutsamkeit eines einzelnen kaum abschätzen lässt. Das Lesen wird zu einer konstellierenden Pendelbewegung (vgl. S. 153) durch den Text (vgl. S. 13).
31 | C. Martínez: Wie eine Kaulquappe, S. 56. 32 | Ebd., S. 51. 33 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36. 34 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Lecture on dOCUMENTA (13), San Francisco 22.10.2009, https://www.youtube.com/watch?v=kzm-4-1pN_U vom 24.10.2018.
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Struktur der Vermittlung »Ich möchte Dir gern etwas mehr über die dOCUMENTA (13) erzählen und wie sie zu ihrem provisorischen [(vgl. S. 157)] Titel kam, einem Satz, den ich vor einiger Zeit niederschrieb. Auch wenn ich diesen Satz in schlechtem Deutsch formulierte, bin ich mir sicher, dass Du aufgrund der Art und Weise, wie sich das Englische in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren durch das Internet gewandelt und in eine Fülle unterschiedlicher Variationen vervielfacht und verformt hat, mein gebrochenes Deutsch nachsehen wirst. Der Satz lautet: Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.« 35
Nach kurzen Bemerkungen zur Burlesquetänzerin Dixie Evens (vgl. S. 198) und dem Kloster Breitenau – ohne an dieser Stelle auf Ulrike Meinhoff, das Filmprojekt Bamboule (vgl. S. 78) oder die choreografische Schauanordnung von Clemens von Wedemeyer (vgl. S. 325) zu verweisen – beschreibt Carolyn Christov-Bakargiev ihre Recherche im Internet zum Tanz Bamboule, und das dadurch der oben aufgeführte Satz angeregt wurde.36 Es handelt sich tatsächlich um eine – durchaus als nicht ausreichend nachgewiesenes Zitat zu bewertende – Übersetzung (vgl. S. 306) von der Webseite streetswing. com: »The Bamboula dance however was very frantic, roared, rattled, twanged, contorts and tumbles and lasted for quite awhile... A test of stamina if you will«37 (vgl. S. 258). Die Rückübersetzung ins Englische der dOCUMENTA (13) aus dem Jahr 2012 verliert nach und nach die Ähnlichkeit (vgl. S. 374) zu ihrem Ursprung: »The dance was very frenetic, lively, rattling, clanging, rolling, contorted, and lasted for a long time«38. Hat sich hier nur die Sprache ›vervielfacht und verformt‹ oder was zeigt sich noch in dieser Aneignung? In der syntaktischen Form des Satzes, die gewissermaßen auch der frenetischen Struktur des Tanzes entspricht, zeichnet sich ein Teil von Carolyn Christov-Bakargievs Intention ab: »Jener von Beschreibungen der Bamboule im Internet angeregte deutsche Satz stellte einen Versuch meinerseits dar, eine ebenso narrative wie fantasievolle Formulierung zu entwickeln, welche die Vorstellung einer Abfolge choreografierter Gesten und Bewegungen hervorruft und eine Reihe von Abläufen schildert, die im Gegensatz zu jeder Theorie und jedem Konzept stehen. Diese Formulierung sollte sich faktisch dem Memorieren und der Reduktion auf jene Gemeinplätze widersetzen [(vgl. S. 110)], welche die Sprache heute prägen.« 39
Eine vergleichbare Syntax, die zwar nicht direkt mit Tanz, wohl aber mit einem Lied in Verbindung gebracht wird, findet sich in der Notiz von Issa Samb, wie bereits deren Titel erahnen lässt: »ON THE ART OF RECORDING TRIVAL IDEAS, IN THE FORM OF A PROJECT OF PLACING, DISPLACING, AND REPLACING THE CONCEPT IN ITS ENVIRONMENT WITH A VIEW TO PRECIPITATING ITS FALL [...] ist ein Text, der sich wie ein langes, ohne Punkt und Komma verfasstes Lied liest. Der Stil ist elliptisch, dicht und kompakt, von Pausen, Reflexi35 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 23, BdB. S. 83. 36 | Vgl. ebd. 37 | http://www.streetswing.com/histmain/z3bmbla1.htm vom 24.10.2018. 38 | http://d13.documenta.de/#welcome vom 24.03.2017. 39 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 24, BdB. S. 84.
Strukturen der dOCUMENTA (13) onen, Referenzen und Zitaten, Erinnerungen und Erfindungen durchzogen – ein Stil, der die Abwesenheit eindeutiger Grenzen zwischen Dichtung, Pamphlet, Roman und Tagebuch widerspiegelt. Es ist eine Ansammlung realer Ereignisse und der Gedanken und Empfindungen, die diese auslösen. Diese sind scheinbar beziehungslos, und dennoch sind sie aus einem erkennbaren gemeinsamen Stoff gemacht: der Verpflichtung eines Künstlers gegenüber seiner unmittelbaren Umwelt.« 40
Es zeigt sich in etlichen Quellen der dOCUMENTA (13) die Annahme, dass sich die mit Poesie (vgl. S. 143) verbundene Praxis – diese »überschreitet das reine Denken bzw. materialisiert, was auch immer sie zu ihrem Objekt macht, und sei es eine Praxis reinen Denkens«41 – in einem Zwischenraum (vgl. S. 273, 318) der Transformation konstituiert und sich in unterschiedlichen Formen manifestiert, die teilweise ineinander fallen und in dem, was sie zeigen, multiple Autorschaft (vgl. S. 136, 259) aufweisen: »Es sind daher Notizen, die im Möglichkeitsraum der Transformation entstehen, wo Lied, Tanz und Zeichnung ineinander übergehen. Es sind Notizen, denen eher eine Kultur als ein einzelner Autor eingeschrieben ist, wo im Dreaming ein Geist zum Tier und ein Tier zum Menschen wird: ›So etwas ist das.‹« 42
Dieses ›ineinander übergehen‹ von Musizieren, körperlicher Bewegung und multipler Autorschaft zeigt sich exemplarisch auch in den musikalischen Performances von Tarek Atoui, die in Verbindung zu einer Reihe von Workshops stehen (vgl. S. 312). »Ich verfolge daher nicht ein einzelnes Konzept, sondern beschäftige mich damit, vielfältige Materialien, Methoden und Erkenntnisse zu dirigieren und zu choreografieren. Die dOCUMENTA (13) besteht aus einer Reihe bereits stattfindender Akte und Gesten [(vgl. S. 73)] und aus einer Ausstellung, die vom 9. Juni 2012 an hundert Tage lang geöffnet sein wird« 43 (vgl. S. 225).
Mit dieser Formulierung wird die tänzerische Bewegung nicht nur im Raum, sondern vor allem auch in der Zeit ausgemacht. Es ließen sich in diesem Zusammenhang an die im Brain ausgestellten Objects of Destruction (1923-1965) von Man Ray (»Cut out the eye from a photograph of one who has ben loved but is seen no more. Attach the eye to the pendulum of a metronome and regulate the weight to suit the tempo desired. Keep going to the limit of endurance. With a hammer well-aimed, try to destroy at a single blow«44) (vgl. S. 135) oder The Refusal of Time (2012) von William Kentridge (vgl. S. 322) denken. Die Kunstwerke von Giuseppe Penone markieren als erste und letzte Setzung der dOCUMENTA (13) die Rahmung dieser ›Reihe von Abläufen‹ (vgl. S. 217) und finden sich auch auf dem Ausstellungsflyer – als charmanter Schnappschuss von Schafen auf der Wiese um Idee di Pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010) des ebenfalls an der dOCUMENTA (13) teilnehmenden Künstlers Gareth Moore.
40 | K. Kouoh/I. Samb: Issa Samb, S. 7f., BdB. S. 658. 41 | A. Avanessian: Das spekulative Ende, S. 59. 42 | S. Muecke: Butcher Joe, S. 22, BdB. S. 373. 43 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 24, BdB. S. 84. 44 | Man Ray zitiert nach C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 18, BdB. S. 304.
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Auch die Wiederholung der historischen Inszenierung der Plastiken von Julio González (vgl. S. 175) und der damit verbundene locational turn (»Die dOCUMENTA (13) ist in einer offenkundigen Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten angelegt«45) stellen die Frage, die schließlich zum Titel des umfangreichen Veranstaltungskalenders der dOCUMENTA (13) wird: Was/Wann? (vgl. S. 247, 265). »Zeit ist gleichermaßen das Problem wie der Rohstoff der documenta. Alle fünf Jahre stattfindend, zeichnet sich die documenta insbesondere durch ihr spezifisches Verhältnis zur Zeit beziehungsweise Zeitdauer aus, die im Gegensatz zur heutigen Geschwindigkeit und kurzen Aufmerksamkeitsspanne steht. Sie folgt einem langsameren Takt als die meisten der weltweit stattfindenden Biennalen und anderen Kunstgroßereignisse.« 46
Dies verdeutlicht eine Fotografie von Julia Moritz (vgl. S. 246, 290), Leiterin der Maybe Education, vor dem raumgreifenden, provisorischen Kalender dieses langsamen Prozesses. Diese findet sich in der Selbstdokumentation der dOCUMENTA (13), dem Logbuch.47 Dessen Etymologie kann über das englische ›log‹ (Holzscheit) als Rückverweis auf die beiden Baum-Arbeiten von Giuseppe Penone gelesen werden: »Es [das Logbuch] stellt eine Versuch dar, die zahlreichen Ereignisse und internen Abläufe zu dokumentieren, die die Entstehung des Projekts begleitet haben, und umfasst eine Auswahl von E-Mails [(vgl. S. 342)], die während der dreieinhalbjährigen Vorbereitungszeit geschrieben wurden, ebenso wie Bilder, die während dieser Zeit mit einem Smartphone [(vgl. S. 145, 327)] aufgenommen wurden. Es bietet einen partiellen, unvollständigen Einblick in die Entstehung der dOCUMENTA (13) […]. Es dokumentiert zudem die Suche nach einem gemeinsamen Denken [(vgl. S. 158)], das nicht unmittelbar ersichtlich ist und das im Raum des Propositionelen schwebt, ebenso wie die intensiven Reisetätigkeiten [(vgl. S. 219)], die das komplexe Objekt, zu dem die dOCUMENTA (13) geworden ist, schrittweise und auf vielfältige Weise geprägt haben.« 48
Denkbewegungen fordern komplexe Verfahren der Kartierung (vgl. S. 219), z.B. die im Brain ausgestellte Arbeit Hypothalamic Brainstorming (1962) von Gianfranco Baruchello, oder Notation ein, die gleichzeitig Nachvollziehbarkeit suggerieren und dennoch eher auf »›Gespenster‹ […] in den ›Zwischenräumen der Eintragungen‹«49 verweisen: »Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.«50 »Die Bedeutung der Wiederherstellung und Rekonstruktion kunsthistorischer Erzählungen als institutionelle Taktik der Kunst steht in einem proportionalen Verhältnis zu der Unmöglichkeit, eine komplexe Aussage über die Beziehung zwischen der zeitge-
45 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 35. 46 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 25, BdB. S. 84. 47 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 82. 48 | C. Christov-Bakargiev: Einführung, S. 9. 49 | M. Taussig: Feldforschungsnotizbücher, S. 13, BdB. S. 64. Eingeschlossene Zitate von W. Benjamin nicht nachgewiesen. 50 | W. Benjamin zitiert nach N. Doll/W. Benjamin: Walter Benjamin, S. 5, BdB. S. 337.
Strukturen der dOCUMENTA (13) nössischen Kunst und einer diskontinuierlichen Auffassung von Zeit zu formulieren, die sich in Rhythmen artikuliert und nicht als Dauer repräsentiert werden kann.« 51
Auch im Briefwechsel (vgl. S. 173) zwischen Ada Lovelace und Charles Babbage bindet sich der Wunsch nach Verständnis an die Notation: »Die verbesserte Form der Bernoulli-Anmerkung gefällt mir sehr gut, aber ich kann sie besser beurteilen, wenn ich das Diagramm und die Notation habe.«52 Gleichzeitig steht diese auch für Unvollständigkeit und Nicht-Wissen (vgl. S. 277): »Es gab nie eine Anmerkung G. Ich weiß nicht, warum ich H anstelle von G wählte & dadurch letzteren ebenbürtigen Buchstaben kränkte.«53 Im Gegensatz zur reinen Denkbewegung erdet der Tanz »das Subjekt buchstäblich in Hier und Jetzt (vgl. S. 76, 148) und erinnert [...] an die Verkörperung des Seins, die sich durch Training erreichen lässt. Gleichzeitig fördert der Tanz ein Hinausgehen der Imagination über das Hier und Jetzt und verweist auf einen ›anderen‹ Ort – irgendwo anders.«54 »Der Begriff ›Choreografie‹ (etymologisch die Notation der Bewegung einer Gruppe von Sängern oder Tänzern, die die Bühne betreten und wieder verlassen) wird in jüngster Zeit im Zusammenhang mit als harmonisch [(vgl. S. 154, 268)] empfundenen Beziehungen und gemeinsamer Partizipation verwendet. […] Die Choreografie der dOCUMENTA (13) hingegen ist unharmonisch und frenetisch; zugleich erzeugt sie jedoch durch alternative Allianzen und Verbindungen eine gewisse gemeinsame Verständigung über diese Lage. Das Auftreten von Bewegungen und Positionen an unterschiedlichen Orten suggeriert nicht, dass wir zusammen in Utopia tanzen.« 55
Diese Unharmonie könnte als Bekenntnis zur Vielstimmigkeit verstanden werden, das neben den Aussagen der Künstlerischen Leiterin auch die der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der Worldly Companions und ggf. auch die der Besucherinnen und Besucher einschließt (vgl. S. 263): »A REVOLUTIONARY DANCE OF THE MULTITUDE«56? Dies impliziert »Umkehrung, Exzentrik, unpassende Zusammenstellungen und eine Art von Profanierung. Vielfalt soll wirksam sein, aber nicht als Thema; es geht bei diesem Projekt nicht um Polyphonie.«57 Vor allem erschließt sich die frenetische Choreografie als Überforderung (vgl. S. 361) und als Fehlen einer Synthese: »Die dOCUMENTA (13) in Kassel ist bewusst unbequem und unvollständig; sie vermisst dringend – man muss bei jedem Schritt wissen, das etwas Grundlegendes unbekannt, unsichtbar und verloren gegangen ist – eine Erinnerung, eine ungelöste Frage, einen Zweifel. Das was in der Neutralität der Ausstellungsräume sichtbar ist und erlebt werden kann, findet einen Kontrapunkt in einem geisterhaften Anderen, an einem Ort, der als Schauplatz eines Experimentes [(vgl. S. 222, 294, 371)] dient […]« 58 51 | C. Martínez: Wie eine Kaulquappe, S. 57f. 52 | C. Babbage zitiert nach J. Krysa/A. Lovelace: Ada Lovelace, S. 7, BdB. S. 378. 53 | A. Lovelace zitiert nach ebd., S. 7f., BdB. S. 378. 54 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 24, BdB. S. 84. 55 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31. 56 | A. Anastas/R. Gabri: Ecce occupy, S. 21, BdB. S. 597. 57 | C. Martínez: Wie eine Kaulquappe, S. 59. 58 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36.
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Die dort installierte Arbeit Bambuswald (2012) von Judith Hopf kann als choreografische Anordnung beschrieben werden, die ›bei jedem Schritt‹ eine besondere Haltung abverlangt (vgl. S. 203). Auch die Aufzeichnungen von Ayreen Anastas und Rene Gabri, die für die dOCUMENTA (13) das Kollektiv AND AND AND (vgl. S. 266, 342) – auch hier fällt die Syntax auf – begründet haben, verlangen von Leserinnen und Lesern, sich auf eine Pendelbewegung, Wiederholungen und die Suche nach einer sinnvollen Reihenfolge einzulassen. Als beispielhaft kann die schriftliche Auseinandersetzung unter dem Titel La Danse. Le Corps, Le Capital gelesen werden.59 Dabei lenkt sich der Blick auch auf die Zwischenräume, die weitere Einschreibungen antizipieren. Die Zeichnungen von Mark Lombardi (vgl. S. 209) machen verborgene Verbindungen und Bewegungen deutlich und überführen diese in visuelle Netzwerke (vgl. S. 356), die an Notationen erinnern. Die Auswahl der Karteikarte Oil Companies / The Dance of The Sisters für eine Publikation der dOCUMENTA (13) erscheint innerhalb des hier umrissenen Kontext als kaum zufällig.60 »Ich erinnere mich, wie er [Mark Lombardi] mir erzählte, dass alle Informationen, die er hatte und als Material verwendete, öffentlich zugänglich und publiziert waren [(vgl. S. 221)], und dass seine Praxis und seine Bemühungen auf etwas abzielten, was wir heute als ›Tagging‹ [(vgl. S. 102, 157)] bezeichnen würden, und darauf, diese Informationen miteinander zu verknüpfen – wie eine Form des Webens, bei der Schreiben, Zeichnen, Archivieren und Denken simultan stattfinden und ein Gefühl von Freiheit und Emanzipation auslösen.« 61
Laut Carolyn Christov-Bakargiev ist auch die dOCUMENTA (13) nicht nur eine Ausstellung, sondern ein »Netzwerk mehrerer Ausstellungen […], die unaufhörlich abwechselnd in den Vorder- oder Hintergrund treten, manche sichtbar, manche unsichtbar und manche erst viele Jahre nach einem solchen Ereignis sichtbar.«62 Nicht sichtbar, aber durch andere, körpergebundene Sinne erfahrbar, sind die Tänzerinnen und Tänzer in This Variation (2012) von Tino Sehgal (vgl. S. 258, 282). Dass er für diese Installation »ausgerechnet auf Tanz und Gesang zurückgreift, ist kein Zufall, gilt doch der Gesang als die unstofflichste Form der Kunstproduktion, der Tanz als die ephemerste«63 (vgl. S. 353). Anordnungen im öffentlichen Raum wie bei Ida Applebroog (vgl. S. 278), Warwick Thornton oder die militärische Annäherung bei Maria Loboda (vgl. S. 195) erscheinen als Choreografien: »Diese Linie, die von demonstrierenden Körpern durch den öffentlichen Raum gezogen wird – ist sie nicht Spur einer mehr oder minder bewussten Choreographie (z.B. der Route des Demonstrationszuges)?«64 Ähnlich erscheinen die Besucherinnen und Besucher, die den Alter Bahnhof Video Walk (2012) von Janet Cardiff und George Bures Miller durchführen (vgl. S. 286, 323).
59 | Vgl. A. Anastas/R. Gabri: Ecce occupy, S. 21, BdB. S. 597. 60 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Mark Lombardi, S. 13, BdB. S. 503. 61 | Ebd., S. 6, BdB. S. 501. 62 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 19, BdB. S. 81f. 63 | S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 127. 64 | O. Marchart: Protest, Tanz, Körper, S. 104.
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Daran schließen sich die Bewegungen der etwa zehntausend (vgl. S. 290) durchgeführten dTOURS an, in denen Kolonnen auf Umwegen begleitet wurden.65 (»What difference does it make who is speaking?«66) Eine davon testet die Ausdauer (vgl. S. 386): »Welche Effekte stellen sich ein, wenn die Wahrnehmung ermüdet? Wenn die Augen müde werden, trübt sich dann auch die Sicht? Und was würde es bedeuten, wenn das Denken nicht auf dem Fuße folgt, sondern gerade mit den Füßen gedacht wird?«67 In dieser Verbindung lässt sich auch vermittlerisches Potential ausmachen: »›Mit dem Kopf tanzen und mit den Beinen denken‹ integriert ein körperliches und leibliches Dasein. Bilddenken meint, dass Sinnliches und Leibliches als dem Begrifflichen vorausliegend zu denken sind.«68 Der durch Bewegung erzeugten Narration steht mit Threeing (2012) von Paul Ryan eine Praxis gegenüber, die über Regeln und Notationen eine Emanzipation von Geschichtenerzählern (vgl. S. 133, 197, 246) ermöglichen soll: »Ein Kulturhistoriker hat mir einmal erklärt, dass die Ursprünge des Yoga in eine Zeit fallen, als man der Geschichtenerzähler überdrüssig war. Die Yogis dachten sich eine Methode aus, um sich den Geschichten zu entziehen – nämlich den Verzicht auf einen linearen Handlungsstrang. Gehe in dich und entwickle genügend Bewusstsein, Stärke und Disziplin, um dich nicht von Geschichtenerzählern beeinflussen zu lassen. Das lässt sich durchaus mit ›Threeing‹ vergleichen, einer nicht-narrativen Praxis, die einen davor schützt, auf die Erzählungen der ›Medien‹ hereinzufallen. Anders als Yoga jedoch ist ›Threeing‹ eine gesellschaftliche und keine Individuelle Übung.« 69
Gesellschaftliche Prozesse, in Form von Gastfreundschaft und Höflichkeit untersuchen auch Ana Prvacki und Irina Aristarkhova (vgl. S. 257). Sie machen deutlich, dass man wie auf einer Bühne agiert: »Es ist ein Tanz, den wir allzeit aufführen. Also fahren wir fort, ihn zu vervollkommnen, zu überdenken, uns unserer Fauxpas zu erinnern und immer besser darin zu werden, andere zu begrüßen, willkommen zu heißen und zu Gast zu haben«70 (vgl. S. 273). Vom Verinnerlichen durch ständige Wiederholung spricht auch Stephen Muecke: »Er wurde immer gegen drei Uhr morgens wach und sang. Sang die Zeilen des Liedes wieder und wieder, bis er sie sich merken konnte, vermute ich.«71 Seine Notiz umfasst darüber hinaus auch Zeichnungen von Tanzenden. Mit der Situation ›auf der Bühne‹ der dOCUMENTA (13) zu stehen, musste sich vor der Eröffnung besonders Carolyn Christov-Bakargiev auseinandersetzen. Sie nutzte diese Position für eine ablenkende Inszenierung (vgl. S. 220), indem sie statt über Kunst über Erdbeeren, Hunde und Schmetterlinge nachdachte: »Ich spiele eine Rolle, ich bin ein Subjekt im Akt der Wiederaufführung.«72
65 | Vgl. http://d13.documenta.de/de/#de vom 24.03.2017. 66 | M. Foucault zitiert nach einem Brief von AND AND AND abgedruckt in F. Berardi: trans versal, S. 28, BdB. 657. 67 | documenta: Was/Wann, S. 15. 68 | P. Bianchi/G. Dirmoser: Die Ausstellung als Dialograum, S. 83. 69 | P. Ryan: Zwei ist keine Zahl, S. 19, BdB. S. 144. 70 | A. Prvacki/I. Aristarkhova: Das Begrüßungskomitee berichtet, S. 15, BdB. S. 326. 71 | S. Muecke: Butcher Joe, S. 15, BdB. S. 373. 72 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 35.
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»In Schmetterlingen mit ihrem Tanz von Blüte zu Blüte mag man eine Metapher für Freiheit erkennen, hier aber sind sie […] an ihre Nahrungsquelle gebunden […].«73 Nicht nur den Schmetterlingen in The Lover (2012) von Kristina Buch (vgl. S. 183, 223) wird die Praxis des Tanzens zugeschrieben, sondern unter anderem auch Photonen bei Anton Zeilinger (vgl. S. 209, 277) und Engeln bei Lawrence Weiner (vgl. S. 144, 338): »Es wird der Versuch unternommen, das menschliche Denken nicht hierarchisch über die Fähigkeiten anderer Spezies und Dinge zu stellen, zu denken oder Wissen zu produzieren. Das heißt nicht, dass wir immer in der Lage sind, Zugang zu diesem anderen Wissen zu erlangen, auch wenn Wissenschaftler, und insbesondere Quantenphysiker, dies durchaus versuchen – beispielsweise, wie Photonen zusammen tanzen und denken.« 74 »THE QUESTION IS NOT HOW MANY ANGELS CAN DANCE ON A PINHEAD BUT THE WONDERMENT THAT SO MANY CAN DANCE AT THE SAME PLACE AT THE SAME TIME & IN FACT INTERFERE SO LITTLE WITH EACH OTHER« 75
Lawrence Weiner wirft mit der obigen Bemerkung zum Brain auch die Frage nach Relation (vgl. S. 31, 91, 155) auf: »Die dOCUMENTA (13) ist vielmehr ein Raum der Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, ein Ort des Übergangs und des Durchgangs zwischen Orten und an Orten, ein politischer Raum, an dem die polis nicht nur von menschlicher Handlungsmacht begrenzt wird, ein Raum des Rückhalts und des Engagements, ein verletzlicher Raum, ein gefährdeter, aber auch umsorgter Raum.« 76
Einen solchen Raum eröffnet möglicherweise ebenfalls das Czechoslovak Radio 1968 (1969) von Tamás St.Turba. Auch – und gerade – weil es keine Musik spielt. Es steht für eine »Selbstermächtigung des tanzenden Subjekts als ein sprechendes und mithin erzählendes, das besonders aus der eigenen Biographie und dem mit ihr je verbundenen Gefühlshaushalt schöpft« 77, wie sie auch in Disabled Theater (2012) von Jérôme Bel zu beobachten ist. Durch die Exposition ›auf der Bühne‹ den tanzenden Körper dem Blick der Anderen auszusetzen, bedeutet dennoch eine besondere Verletzlichkeit, die aber auch eine Aufforderung impliziert: »Das Publikum muß langsam bereit werden zu akzeptieren, daß von ihm selbst ähnliche tägige [tätige? TP] Hervorbringung von Aussagen gefordert sind, wie sie die Aussagen der Künstler darstellen [(vgl. S. 155)]. Das heißt nicht, daß das Publikum nun etwa auch zu malen oder zu bauen hätte wie die Künstler; nicht äußerliche Ähnlichkeit der Hervorbringung von Publikum und Künstlern ist gefordert, sondern Entsprechun-
73 | E. Scharrer: Kristina Buch, S. 50. 74 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31ff. 75 | documenta: Das Logbuch, S. 55. 76 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 45. 77 | S. Foellmer: Choreographie des Erzählens, S. 57.
Strukturen der dOCUMENTA (13) gen in der Struktur der Gedankenführung, in der Verbindlichkeit eingeführter Spielregeln, im Zwang zur Äußerung u.v.a.m.« 78
Eine solche ›Entsprechung in der Struktur der Gedankenführung‹ wurde auch zur documenta 12 mit Metaphern der Bewegung als Migration der Form (vgl. S. 109, 137) und des Tanzes eingefordert. Hier wird ›Platz‹ (vgl. S. 255, 369) zur notwendigen Bedingung – man denke an I Need Some Meaning I Can Memorize (The Invisible Pull) (2012) von Ryan Gander (vgl. S. 177, 275) – um Position (vgl. S. 140) einzunehmen und zu tanzen: »Es reicht durchaus schon eine präzise tänzerische Geste und die BesucherInnen können gar nicht anders, als sich bewegen zu lassen, zu interagieren, die eigene Position wahrzunehmen, die Bewegungen der TänzerInnen im Ausstellungsraum aufzunehmen. […] documenta 12 lässt Platz, damit sich der/die Einzelne in der Ausstellung bewegen und eine Haltung dazu einnehmen kann.« 79
Obwohl eine Skizze oder Mindmap des Gefüges der dOCUMENTA (13) (vgl. Abb. 2, S. 136) deutliche Zentren aufweist, lässt sich durch den Tanz an ein archipelisches Ausstellungssystem (vgl. S. 139, 228) denken: »Glissant bezeichnete seine Utopie als ein ›Zittern‹ oder ›Beben‹, weil sie über feste Denksysteme hinausgeht und sich dem Ungewissen aussetzt.«80 In dieser Perspektive lassen sich Konzeptverweigerung (vgl. S. 23, 110), Skeptizismus (vgl. S. 63, 220) und das Vielleicht (vgl. S. 246) einordnen: »Der Tanz, den das Vielleicht eröffnet, ist also weniger ein Streben nach Leere, sondern kann eher als eine Reise betrachtet werden«81. Über die im Logbuch nachvollziehbar gemachte Reise von Carolyn Christov-Bakargiev schließt sich die Frage nach der jeweils eigenen Reise zur und durch die dOCUMENTA (13) an (vgl. S. 63, 271). »While watching a great dance film, I witnessed a dancer enter a painting. Taking into account that human bodies cannot do this, was that movement metaphorical or symbolic or oneiric? It was none of these. [...] Consequently, since it happened and since normal human bodies cannot enter paintings, the question becomes: what kind of body is produced by dance and can do what I just witnessed, enter a painting? It is a subtle body with different characteristics than the physical one.« 82
Ebenso wie der Status des tanzenden Körpers – zumal wenn es sich um einen Kollektivkörper unterschiedlichster Akteure handelt – ungewiss bleibt, ist unklar, wie Tanz eigentlich gelesen, vollzogen, beschrieben, dokumentiert und analysiert werden soll (vgl. S. 89): »Was der Tanz zu sehen gibt, ist die Bewegung der medialen Übertragung in der Bewegung selbst. Aber ist der Tanz deshalb ein Medium? Und was wird übertragen? Energie in Bewegung? Bewegung in den Raum? Musik in den Körper? Körper in ein Bild? Choreographie in Tanz?«83 Ohne dessen Charakteristika abschließend festlegen
78 | B. Brock: Besucherschule zur d6, S. 33. 79 | documenta 12 Vermittlungs-Team: Die Ausstellung als Medium, S. 2. 80 | E. Glissant/H.U. Obrist: Le 21ème siècle, S. 11, BdB. S. 294. 81 | C. Martínez: Wie eine Kaulquappe, S. 48. 82 | J. Toufic: The subtle dancer, o.S. 83 | K. Röttger: Die Frage nach dem Medium, S. 60.
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Struktur der Vermittlung
zu können, stellt sich Tanz vor allem als Aufforderung (vgl. S. 178, 221) dar: »Let’s dance!«84 (vgl. S, 212); oder: »I’ll just keep on […] till I get it right«85 (vgl. S. 5). Die Choreografie der dOCUMENTA (13) erscheint als ein komplexes Gefüge, welches sich über räumliche (vgl. S. 74, 352), zeitliche (vgl. S. 73, 246, 308) und diskursive (vgl. S. 77, 157) Dimensionen erstreckt, sich in seiner Widerständigkeit nicht auf einen bestimmten Rhythmus reduzieren lässt, sondern selbst in Bewegung ist und in Bewegung versetzt, und eine kollektive Praxis der fortwährenden Einübung aller Tänzerinnen und Tänzer einschließt. Ebenso vielschichtig sind die Ausprägungen ihrer assoziativen Notationen.
84 | Notiz auf einer Wand in der Installation ohne Titel im ehemaligen Elisabeth Krankenhaus von Abul Qasem Foushanji. 85 | Till I Get It Right (1972) von Tammy Wynette, Textbearbeitung entspricht ’Til I Get It Right (amended) (2012) von Ceal Floyer. Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 63.
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Choreografisches Denken und Notation durch Anordnungen
Im zeitgenössischen Tanz sind seit den 1960er Jahren parallel zu einer stetigen Erweiterung des Kunstbegriffes nicht nur die Möglichkeiten der Bewegung, sondern auch das Verständnis von dem, was als Notation für eine einzelne Bewegung oder eine komplexe Choreografie gelten kann, neu verhandelt worden. Diese Notationen sind nicht mehr notwendigerweise an Schrift gebunden, sondern auch Anordnungen von Objekten als Konstellationen im Raum, eröffnen eine (wenn auch nicht unbegrenzte) Vielfalt von Handlungsoptionen: »Die Architektur des Ausstellungsraums wird dabei ebenso einbezogen, wie dieses ›Raum-Schreiben‹ dynamische Konstellationen zwischen Objekten, Erfahrungsräumen und Betrachtern entstehen lässt.«1 Kirsten Maar spricht von choreografischen ›An-Ordnungen‹ und verbindet so die Konnotationen von Ordnung als Organisation und Anordnung als Handlungsanweisung oder sogar Befehl (engl. ›order‹). Es wird deutlich, dass trotz der subjektiven Freiheit der Bewegungen der Besucherinnen und Besucher bereits ein räumlicher Text, eine ›Vor-Schrift‹, gegeben ist, der diese Bewegungen antizipiert, organisiert und harmonisiert, d.h. choreografiert.2 »Der zentrale Unterschied zur linearen Schrift dürfte sein, dass der nichtlineare Text mehrdimensional ist, d.h. sich als Gleichzeitigkeit verschiedener Impulse entfaltet und dabei weniger auf ein eindeutiges Sinnzentrum hin, sondern strahlenförmig strukturiert ist.«3 Tanz ist dabei, vergleichbar mit Performances oder Happenings, eine äußerst flüchtige Kunstform, die sich ihrer Dokumentation insofern widersetzt, als dass sich die leibliche Ko-Präsenz der Agierenden und der anderen anwesenden Personen, leibgebundene Sinneseindrücke und die Einmaligkeit eines nicht wiederholbaren Ereignisses nicht festhalten lassen.4 »Der Versuch, dem Verlust durch die Notation beizukommen und mittels dieser ›Fest-Stellung‹ eine Dauerhaftigkeit […] zu begründen, beruhte selbst auf der Über-
1 | K. Maar: Choreographische An-Ordnungen, S. 79. 2 | Vgl. ebd. 3 | P. Stein: Schriftkultur, S. 29f. 4 | Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 63f.
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Struktur der Vermittlung zeugung, dass nur aufgrund seiner Fixierung eine Interpretation des choreographischen ›Gegenstandes‹ oder ›Werkes‹ überhaupt möglich sei.« 5
Kirsten Maar versteht Notationen hingegen als bewegliche, dynamische Archive, die insofern nicht als Festschreibungen zu verstehen sind, da sie durch jede tänzerische Aktualisierung neu interpretiert werden müssen.6 Auch Kati Röttger plädiert dafür, »das begriffsgeschichtlich vorgeprägte (westliche) Verständnis von Choreographie als Aufschreibesystem von Bewegung (und die damit einhergehende Anbindung an Notation und Verschriftlichung) weiter zu fassen.«7 Sie beschreibt Notation als Vermittlungsobjekt, das sich nicht in der Speicherung und Weitergabe von Informationen erschöpft, sondern selbst prozesshaft strukturiert ist und Bewegungen aktiviert.8 Tanz und Choreografie können darüber hinaus als ›intermediale Konstellationen‹ verstanden werden.9 Sie sind nicht an ein bestimmtes Medium zu ihrer Realisation gebunden, sondern können mannigfaltig auf den Körper einwirken. Kerstin Evert beschreibt unterschiedliche choreografische Projekte, die die Differenz von Bühne und Zuschauerraum aufgeben, Besucherinnen und Besucher involvieren und sich daher auf Bewegungsabläufe konzentrieren, die keine Professionalität im Bereich Tanz erfordern. Diese Projekte »sind spezifische Ansätze künstlerischer Vermittlung, die auf einen persönlichen Kontakt zwischen Tanzschaffenden und Publikum zielen und versuchen, gemeinsame Erlebnisse und damit auch ein anderes Verständnis für die künstlerische Arbeit zu schaffen.«10 Es wird also die These vertreten, dass körperlicher Nachvollzug ein anderes Vermittlungs- und Verständnispotential hat, als rein visueller. Daraus leiten Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann und Kirsten Maar ein Choreografisches Denken ab: »Sie [Choreografien] konstituieren medial ein Wissen aus und in Bewegung, das sich von einem an Texten orientierten Denken in (Alphabet-)Schrift und auch von einem visuellen Denken in Bildern unterscheidet. Notationen sind zugleich Verzeichnung choreographischen Denkens – wie sie dieses, von ihrer spezifischen Zeichenhaftigkeit aus, stets aufs Neue als Entwurf ermöglichen. In ihnen wird ein Körperwissen gespeichert, dem der Choreograph durch seine Arbeit zur Sichtbarkeit verhilft; und ihre Lektüre ermöglicht nicht nur, eine Spur dieser Sichtbarkeit im medialen Archiv aufzusuchen, sondern diese wird selbst Teil des choreopgraphischen Prozesses, der nicht nur diese oder jene Aufführung nach ihrer Aufzeichnung durch den Choreologen rekonstruiert, sondern ein Denken generiert, das, der Abstraktionsleistung der Notation zum Trotz, des Körpers notwendig bedarf.« 11
Dies findet seinen Widerhall in der Künstlerischen Forschung, die als vielschichtige Praxis sprachliche und materielle Äußerungen mit Diskursen auf unterschiedlichen Ebenen verknüpft: »Sie praktiziert die Theoriebildung durch Performativität oder doing 5 | K. Maar: Notation und Archiv, S. 184. 6 | Vgl. ebd., S. 186. 7 | K. Röttger: Die Frage nach dem Medium, S. 57f. 8 | Vgl. ebd. 9 | Vgl. M.-L. Angerer/Y. Hardt/A.-C. Weber: Disziplinen im Paartanz, S. 204. 10 | K. Evert: Gemeinsam tanzen, S. 41. 11 | G. Brandstetter/F. Hofmann/K. Maar: Einleitung, S. 17.
Choreografisches Denken und Notation durch Anordnungen
theory und trägt damit […] zur Veränderung unseres Verständnisses von Forschung und Erkenntnisgewinn bei.«12 Choreografie als vorgelagerte »Kunst den ›Raum zu schreiben‹«13, im Gegensatz zum nachträglichen Versuch der Festschreibung, ist an diesen Strategien der Performativität ausgerichtet. Sie stellt durch »eine spezifische Art des Zusammenwirkens von Körpertechnik, Adressierung und Involvierung des Betrachters einen Raum zur Interaktion zwischen den Tänzern, Relationalität zwischen Tänzern und Zuschauern und schließlich der Aushandlung von Öffentlichkeit oder sogar Gemeinschaft«14 her. Für die weitere Kontextualisierung des Begriffs ›Choreografie‹ soll im Folgenden kurz auf räumliche Konstellationen, relationale Verhältnisse und den Status von Gemeinschaft eingegangen werden. Kirsten Maar weist darauf hin, dass sich im Falle einer Aufführung der vorgelagerte künstlerische Prozess, die Konzeption und das Ausprobieren der Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer entziehen.15 Dies verschiebt sich teilweise, wenn diese direkt mit der Notation konfrontiert sind und durch die (eigene) Umsetzung in Tanz Zeugenschaft oder Teilhabe erhalten. Susanne Foellmer beschreibt räumliche Notationen, wie das Mobiliar auf einer Bühne, als ein »Stilleben variierender Konstellationen«16, welche die Bewegungen der Tanzenden, ggf. inklusive des Publikums, bestimmten. Sybille Krämer führt aus, dass »[t]opologische Relationen, die von räumlichen Verhältnissen wie oben/unten, rechts/ links, zentral/peripher als Darstellungsmittel Gebrauch machen, […] die Aufgabe [haben], nicht nur Sachverhalte zu kommunizieren, sondern auch einen ›Denk- und Anschauungsraum ‹ zu eröffnen, in welchem mit diesen Sachverhalten kombinierend und explorierend umgegangen werden kann.« 17
Räumliche Anordnungen, auch in Ausstellungen, können somit als »Architekturen des Wissens, als organisierte Erinnerung«18 gelesen werden, durch deren Choreografie sich im Raum Bewegende eine Erzählung durch Relation erschließen können.19 Auch Nicolas Bourriaud nutzt eine choreografische Metapher, um seine Vorstellung einer Ausstellung zu formulieren: »This is the precise nature of the contemporary art exhibition in the arena of representational commerce: it creates free areas, and time spans whose rhythm contrasts with those structuring everyday life, and it encourages an inter-human commerce that differs from the ›communication zones‹ that are imposed upon us.« 20
12 | E. Bippus: Ästhetisierung von künstlerischer Forschung, S. 105. 13 | K. Maar: Unheimliche Verbindungen, S. 166. 14 | Ebd. 15 | Vgl. K. Maar: Notationen und Archiv, S. 199. 16 | S. Foellmer: Choreographie des Erzählens, S. 65. 17 | S. Krämer: Notationen, S. 29f. 18 | K. Maar: Notation und Archiv, S. 183. 19 | Vgl. S. Foellmer: Choreographie des Erzählens, S. 57. 20 | N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 16.
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Struktur der Vermittlung
Er arbeitet heraus, dass selbst abstrakte Informationen verinnerlicht werden können, sofern sie in Relation zum Körper stehen: »[T]he beholder contributes his whole body, complete with its history and behaviour, and no longer an abstract physical presence.«21 Begreift man den Körper als das Medium der Wahrnehmung, muss dieser »als erste und zentrale Vermittlungsinstanz medialer Übertragungen gelten, da er Wahrnehmungsweisen, Darstellungsweisen, Erfahrungsweisen und Handlungsweisen bedingt«22 und somit den Vermittlungen anderer Medien vorgeschaltet ist und durch diese bedingt wird. Coosje van Bruggen fordert Flexibilität innerhalb der räumlichen Struktur von Ausstellungen, damit diese »dem nicht im voraus absehbaren Rhythmus der Kunst gerecht werden können, die doch aus sich selbst heraus Bewegung schafft und den Raum [...] definiert«23. Sie zitiert in diesem Zusammenhang William Carlos Williams, der über Dynamiken des Gedichts nachdenkt: »So ist ein Gedicht robust durch keine Qualität, die es von einem logischen Bericht von Ereignissen borgt, oder von diesen Ereignissen selber, sondern einzig durch die gezügelte Kraft, die vielleicht viele gebrochene Dinge in einen Tanz hineinzieht, der ihnen ein pralles Sein verleiht.«24 Aufgabe einer Ausstellung ist es demnach, ihre Elemente zu choreografieren und ihnen einen Bewegungsraum zu lassen, so dass diese tanzen können. Choreografien zielen durch ihre Notwendigkeit der Aktualisierung auf Veränderung der Rahmungen ab, auf die Schaffung möglicher Verhandlungsräume.25 Claudia Jeschke weist in diesem Zusammenhang erneut auf die Schwierigkeit einer Notation als Dokumentation und Festschreibung hin: »Als (unendliche) Systeme haben Notationen für Produzenten und Rezipienten unendliche Möglichkeiten der Produktion und Interpretation. Werden Notationen jedoch in einen Text überführt, […] werden sie endlich.«26 Während das Konzept der Publikumsadressierung von Wolfgang Kemp noch den ›Betrachter im Bild‹ thematisierte, postulieren Sigrid Schade und Dorothee Richter in ihrem Forschungsbericht zu Ausstellungs-Displays den ›Betrachter in der Ausstellung‹ und fragen nach »der Art und Weise, wie eine Ausstellung das Publikum bzw. ein bestimmtes Publikum und dessen Bildung, Kenntnisse, Erinnerungen etc. anspricht.«27 Entscheidend ist aber auch, dass Ausstellungen ihre Subjekte selbst mit erzeugen, gleichsam formen. Diese Fragestellungen lassen aus der Kuratorischen Praxis Rückbindungen an ein Choreografisches Denken zu bzw. legitimieren es, auch von Ausstellungen, die sich selbst nicht thematisch an Tanz und Choreografie orientieren, als choreografierte Orte zu sprechen und sie als solche zu analysieren. Da die Notation – und damit der choreografisch gedachte Ausstellungsraum – zwischen »(Auf-)Zeichnung als Dokumentation und Konzeption – als Entwurf – schwankt, markiert sie selbstreflexiv ihre relationale Position zwischen Werk und Performance, zwischen Bild/Text und Körper/Bewegung.«28 Das Potential zur Transformation liegt somit in der Aktualisierung durch die Besucherinnen und Besucher: »In 21 | Ebd., S. 59. 22 | K. Röttger: Die Frage nach dem Medium, S. 59. 23 | C. van Bruggen: Im Nebelschleier, S. XII. 24 | W.C. Williams zitiert nach ebd. 25 | Vgl. K. Maar: Paradigmen des Realistischen, S. 136. 26 | C. Jeschke: Tanz-Notate, S. 59. 27 | S. Schade/D. Richter: Ausstellungs-Displays, S. 59. 28 | G. Brandstetter/F. Hofmann/K. Maar: Einleitung, S. 14.
Choreografisches Denken und Notation durch Anordnungen
dieser Kopplung von Anweisung und räumlicher Anordnung werden Verhandlungsräume eröffnet, in denen Prozesse ermöglicht werden, die sich im Spannungsfeld von Konzept und Ausführung positionieren lassen.«29 Es stellt sich die Frage, zu welchem Anteil Besucherinnen und Besucher diese Anweisungen (bewusst oder unbewusst) befolgen oder ihre Rolle als interpretierende Ko-Autorinnen bzw. Autoren einnehmen und möglicherweise eine eigenständige Haltung innerhalb der und in Bezug auf die Ausstellung entwickeln. Dazu bedarf es einer Wahrnehmung und Markierung der choreografischen ›An-Ordnungen‹, um einer unbewussten Eingliederung und kritiklosen Entsprechung entgegenzuwirken.30 Vergleichbar mit dem Diskurs um Vermittlungskunst gibt es auch im Tanz Bestrebungen, das Verhältnis zwischen Produzenten und Rezipienten aufzubrechen, und das Ergebnis als Prozess der Relation dieser Akteuere zu verstehen.31 Choreografien stellen selbst keine Dinge, Elemente oder Sachverhalte dar, sondern Relationen zwischen diesen Elementen und den Rezipierenden.32 Dabei stellt Susanne Foellmer die »Selbstermächtigung des tanzenden Subjekts als ein sprechendes und mithin erzählendes, das besonders aus der eigenen Biographie und dem mit ihr je verbundenen Gefühlshaushalt schöpft«33 heraus. Gelingt diese Selbstermächtigung, provozieren Choreografien laut Kati Röttger »eine Konstellation von Perspektiven«34. Dass Tanz Gemeinschaft produzieren kann, ist offensichtlich. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die Tänzerinnen und Tänzer ihre Rolle im System der Choreografie reflektieren und ob diese sich selbst positionieren – hier verstanden nach Oliver Marchart als antagonistische Stellungnahme, als bewusstes Einnehmen einer politischen Position.35 Juliane Rebentisch führt diese Problematik aus, wenn sie feststellt, dass nichts unpolitischer sei als das ›Lob der Gemeinschaft‹, ohne nach deren Qualität zu fragen.36 Oliver Marchart zeigt auf, dass Ausstellungen grundsätzlich nicht darauf ausgerichtet sind, Vielstimmigkeit oder echten Diskurs zu produzieren, sondern ihre eigene Position zu vermitteln, ggf. zu reproduzieren und so Besucherinnen und Besucher einzugliedern. Dazu bieten sich Gemeinschaft stiftende Strategien an – dementsprechend versteht er Choreografie als Disziplinierungsmaßnahme: »Nach wie vor geht es um die Disziplinierung des Blicks, aber auch des Sprechens bzw. Zuhörens. Nach wie vor geht es um die Disziplinierung der Gruppe gegenüber dem Objekt […]. Ansonsten droht Chaos, unmoderierte Konversationen könnten ausbrechen, die Blicke könnten ungelenk umherzuwandern beginnen.«37 Dem gegenüber setzt Oliver Marchart sich aber auch mit Tanz im öffentlichen Raum als einer Protestform auseinander, bei der der menschliche Körper als Medium des Protestes verstanden wird. Er beschreibt auch Spuren unbewusster Bewegungen im
29 | K. Maar: Choreographische An-Ordnungen, S. 80. 30 | Vgl. K. Röttger: Die Frage nach dem Medium, S. 61. 31 | Vgl. C. Jeschke: Tanz-Notate, S. 60. 32 | Vgl. S. Krämer: Notationen, S. 37. 33 | S. Foellmer: Choreographie des Erzählens, S. 57. 34 | K. Röttger: Die Frage nach dem Medium, S. 76. 35 | Vgl. O. Marchart: There is a Crack, S. 342. 36 | Vgl. J. Rebentisch zitiert nach D. Laleg: Das Potential des Ästhetischen, S. 31. 37 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 79.
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Struktur der Vermittlung
Raum als Choreografie.38 Es ließe sich fragen, wie die Spuren der Körper zu lesen und zu bewerten sind, die einer – potentiell kritischen – Choreografie folgen, selbst wenn sie dies weder bewusst noch intentional tun. Z.B. der Anordnung der Standorte einer Ausstellung innerhalb des öffentlichen Raumes, ihrer jeweiligen räumlichen Struktur, ihrer Inszenierungen, aber auch der Routen, die durch Kunstvermittlerinnen und -vermittlern generiert werden, oder jenen Effekten, die sich im Laufe der Zeit etablieren, wie das Wissen der Besucherinnen und Besucher um eine gewisse Situation innerhalb der Ausstellung oder die Bildung von Schlangen vor besonders populären Werken. »The exhibition may have turned into a film set, but who comes to act in it? How do the actors and extras make their way across it, and in the midst of what kind of scenery? One day, somebody ought to write the history of art using the peoples who pass through it, and the symbolic/practical structures which make it possible to accommodate them. What human flow, governed by what forms, thus passes into art forms?« 39
Nach Oliver Marchart wird in diesen Fällen »die Passage zur Politik im engeren Sinne nicht vollzogen«40. Es bedarf dazu einem Bewusstsein der eigenen Rolle innerhalb der Aktualisierung der Choreografie und das Einnehmen einer Position. Diese macht Oliver Marchart, wie oben angerissen, im Antagonismus aus, allerdings eröffnet er – an anderer Stelle in Bezug auf Vermittlung, was weitere Formen der Aktualisierung antizipiert – auch eine affirmative Möglichkeit der Positionierung, die an gewisse Bedingungen geknüpft ist.41 Hendrik Folkerts stellt dar, inwiefern der Körper der Tanzenden selbst zum Träger von Geschichte und eines Kollektivgedächtnisses wird. Er plädiert dafür, den Körper selbst als Archiv dieser Praktiken anzuerkennen: »Under this new understanding of the archive as including the corporeal, the body is no longer the object on which a choreographic notational device is projected. The flesh becomes the score, the muscle, and the tissue – the languages through wich a work is interpreted, transmitted, embodied, and then performed.«42
38 | Vgl. O. Marchart: Protest, Tanz, Körper, S. 102ff. 39 | N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 74. 40 | O. Marchart: Protest, Tanz, Körper, S. 107. 41 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 42 | H. Folkerts: Keeping Score, S. 167.
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Die Choreografie der dOCUMENTA (13)
Die Aussagen Carolyn Christov-Bakargievs, dass die dOCUMENTA (13) von ihr choreografiert wurde, eine unharmonische Choreografie darstellt und weitere Choreografien, wie die Anlage der Notizen, enthält, begründen die Annahme einer die Dimensionen Zeit, Raum und Diskurs einschließenden Struktur, die die dOCUMENTA (13) in ihrer Gesamtheit zwar nicht ordnet, aber dennoch Relationen zwischen den einzelnen Elementen herstellt. Diese Choreografie ist deutlich verschieden von einem Thema – welches die gegebene Ausstellung nicht bedient – oder einem Konzept. Die dOCUMENTA (13) wird somit als begehbare Ereignisstruktur verstanden – ein Begriff, der das ursprüngliche, verworfene Konzept von Harald Szeemann zur documenta 5 bezeichnet – und stellt trotz innerer Disparatheit einen Verbund dar. Die Autorschaft dieses Kobstruktes scheint deutlich von Carolyn Christov-Bakargiev auszugehen. Doch diese betont: »The curator is only one voice among the many that create the web or constellation of the exhibition – if indeed it will be an exhibition.«1 Die Choreografie ist dabei in mehrerer Hinsicht widerständig: Zum einen wird die Hierarchisierung von Diskurs gegenüber der körperlichen Ausführung innerhalb dieser Choreografie durch die Notwendigkeit der Improvisation und durch in sich widersprüchliche Aspekte, die nicht gleichzeitig oder gleichwertig aktualisiert werden können, unterlaufen.2 Durch den Umfang der Ausstellung und die Menge an Veranstaltungen war es räumlich und zeitlich unmöglich, den gesamten Text zu aktualisieren. Somit trägt die Choreografie zu einer Kritik logozentrischen Denkens bei.3 Zum anderen kann die Erfahrung der Teilhabe nicht oder nur unzureichend in Worten ausgedrückt und verstanden werden, sie muss selbst erlebt sein.4 Sie lässt sich nicht abschließend beschreiben, »man kann sie nur sehen, nachvollziehen, erleben, in der direkten Konfrontation mit dem realen Ereignis rekonstruieren und neu erfinden.«5 Sie entzieht sich der Verwertung, auch in akademischer Textproduktion. Schließlich ist bei einer solch komplexen Choreografie die Frage nach Autorschaft nicht abschließend zu klären, da sie aus einem kollektivem Prozess erwächst.
1 | C. Christov-Bakargiev: Lecture on dOCUMENTA (13), San Francisco 22.10.2009, https://www. youtube.com/watch?v=kzm-4-1pN_U vom 24.10.2018. Transkription TP. 2 | Vgl. K. Maar: Choreographische An-Ordnungen, S. 82. 3 | Vgl. G. Brandstetter/F. Hofmann/K. Maar: Einleitung, S. 17. 4 | Vgl. S. Matthias: Groove Relations, S. 52. 5 | J. Hoet: Eine Einführung, S. 21.
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Struktur der Vermittlung
Es stellt sich schließlich die Frage nach dem Status der Choreografie zwischen dokumentierender Notation eines vorher durchgeführten Tanzes oder aktivierender ›An-Ordnung‹ vor bzw. während eines Tanzes. Der Titel Der Tanz war sehr frenetisch, rege rasselnd klingend, rollend verdreht und dauerte eine lange Zeit steht im Präteritum und drückt damit im Deutschen vergangene, abgeschlossene Ereignisse aus. Damit wäre die Beschreibung der Ausstellung dOCUMENTA (13) als Dokumentation der vorgelagerten tänzerischen Reisebewegungen, Diskussionen und künstlerischen Prozessen eine naheliegende. Auch Rene Gabri befindet: »The dance was long, it was violent, tumultuous … but it has come to a halt …«6 Tatsächlich aber ist die Ausstellung laut Carolyn Christov-Bakargiev nur eine Geste unter vielen in einer ›Reihe von Abläufen‹ und stellt sich nur in Teilen als statisch dar, während parallel weitere Bewegungen, vor allem in Form von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der dOCUMENTA (13) initiierten Kunstwerken und Programmen (Performances, Workshops, Seminare, Filmproduktionen und -vorführungen, Spaziergänge, Lesekreise, Experimente etc.) stattfinden.7 Das Präteritum wird im Deutschen darüber hinaus aber auch als übliches Erzähltempus von literarischen Texten genutzt und drückt dort die Gegenwart der Erzählung aus. Diese wird durch die Aktualisierung zur Gegenwart der Leserinnen und Leser oder – im Fall des räumlichen Textes der Choreografie – der Tänzerinnen und Tänzer. Somit wird die Choreografie innerhalb dieser Untersuchung in einem ›Dazwischen‹ verortet: Sie ist gleichzeitig Notation eines weitestgehend abgeschlossenen Tanzes, der sich z.T. über Notizen und Logbuch nachvollziehen lässt, und Anlass, dessen Bewegungen wieder aufzunehmen, fortzuführen und neu zu interpretieren. Dies lässt die Choreografie als ein Kontinuum erscheinen, in das Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterschiedlicher Art eintreten und wieder austreten und dadurch potentiell Autorschaft übernehmen. Der vorliegende Text versteht sich ebenfalls als Aktualisierung der Choreografie und hat somit selbst geringfügigen Anteil am Tanz der dOCUMENTA (13). Auch Schreiben ist Bewegung, wenn auch nicht frenetische. An die Behauptung der Möglichkeit der Aktualisierung bindet sich notwendig eine Untersuchung, ob sich die Choreografie normativ und autoritär manifestiert oder als offen und veränderbar. Die hergestellte Gemeinschaft birgt das Potential, ein idealistisches Bild zu vermitteln und die autoritären Züge und die darin enthaltenen Konflikte auszublenden. »Im gemeinsamen Tanzen entsteht ein (temporäres) Zusammengehörigkeitsgefühl. Es macht Spaß und kann ekstatische Emotionen hervorrufen.«8 Kerstin Evert bezeichnet die vereinnahmenden Qualitäten des Tanzes als »das Einfallstor für eine Vereinnahmung durch politische Ideologien«9. Gleichzeitig weist sie aber auch darauf hin, dass Tanzen als »Indikator und Auslöser gesellschaftlicher Umbrüche und Proteste«10 angesehen werden kann – wie es bei der Bamboule der Fall war. »Gemeinsames Tanzen besitzt also nicht nur nur affirmative, sondern auch subversive Potentiale, die Gesellschaft nicht nur reflektieren, sondern unterlaufen können. Gemeinsames Tanzen ist nicht nur als mögliches Instrument politischer Manipulation, sondern auch als politische Protestform zu untersuchen«11. 6 | R. Gabri zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 63f. 7 | Vgl. documenta: Was/Wann, S. 5. 8 | K. Evert: Gemeinsam tanzen, S. 37. 9 | Ebd., S. 40. 10 | Ebd., S. 48. 11 | Ebd.
Die Choreografie der dOCUMENTA (13)
Oliver Marchart weist darauf hin, dass man die »Momente der Freude […] nicht gering schätzen [sollte]. Die heutigen Formen radikaldemokratischen Protests kommen kaum noch ohne diese Freude aus, die sich der tristen Behauptung einer alternativlosen politischen Wirklichkeit entgegensetzt.«12 Mit Bezug auf Jérôme Sans verlangt er aber von einer politischen Geste (die sich als tänzerischer Protest oder auch als Ausstellung manifestieren kann) eine angreifbare Positionierung:13 »An exhibition is a place for debate, not just a public display. The French word for it, exposition, connotes taking a position, a theoretical position; it is a mutual commitment on the part of all those participating in it.«14 Inwiefern die dOCUMENTA (13) diesem Anspruch entspricht, ist eine Fragestellung, die sich durch die folgenden Teile der Untersuchung zieht. Carolyn Christov-Bakargiev beschreibt die Choreografie in einer Form, die hier auch als Anspruch bewertet wird: »Der Begriff ›Choreografie‹ […] wird in jüngster Zeit im Zusammenhang mit als harmonisch empfundenen Beziehungen und gemeinsamer Partizipation verwendet. In der choreografischen Imagination der 1990er Jahre waren Vorstellungen von Selbst-Choreografie und Improvisation vorherrschend – gemeinsam zu tanzen, um zu neuen Formen der Übereinkunft und zu einer demokratischen Ästhetik zu gelangen. […] Die Choreografie der dOCUMENTA (13) hingegen ist unharmonisch und frenetisch; zugleich erzeugt sie jedoch durch alternative Allianzen und Verbindungen eine gewisse gemeinsame Verständigung über diese Lage. Das Auftreten von Bewegungen und Positionen an unterschiedlichen Orten suggeriert nicht, dass wir gemeinsam in Utopia tanzen;« 15
12 | O. Marchart: Protest, Tanz, Körper, S. 108. 13 | Vgl. O. Marchart: There is a Crack, S. 342. 14 | J. Sans zitiert nach ebd. 15 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31.
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gegenstand der vermittlung »es geht nicht um irgendetwas.«
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Beteuerungen von Konzeptlosigkeit
»Im Erdgeschoss des Fridericianums […] ist die Rotunde mit Glas verschlossen. Sie enthält eine Reihe von Kunstwerken, Objekten, Fotografien und Dokumenten, die als programmatischer, traumähnlicher Ort anstelle eines Konzepts zusammengebracht wurden. Sie werden vorübergehend in diesem ›Brain‹ der dOCUMENTA (13) zusammengehalten, nicht, um auf eine Geschichte oder ein Archiv zu verweisen, sondern als eine Gruppe von Elementen, die an widersprüchliche Verhältnisse und engagierte Positionen des In-und-mit-der-Welt-Seins erinnern – indem sie Ethik, Begehren, Angst, Hoffnung, Zorn, Entrüstung und Trauer an den Zuständen von Hoffnung, Rückzug, Belagerung und Bühne messen.« C arolyn Christov-Bakargiev: D er Tanz war sehr frenetisch »Ich verfolge daher nicht ein einzelnes Konzept, sondern beschäftige mich damit, vielfältige Materialien, Methoden und Erkenntnisse zu dirigieren und zu choreografieren. Die dOCUMENTA (13) besteht aus einer Reihe bereits stattfindender Akte und Gesten und aus einer Ausstellung, die vom 9. Juni 2012 an hundert Tage lang geöffnet sein wird.« C arolyn Christov-Bakargiev: B rief an einen Freund »Ich hasse es, wenn ich so etwas lese wie: ›Bei der dOCUMENTA (13) geht es um Zusammenbruch und Wiederaufbau.‹ Das ist ein Klischee. Es geht in dieser Ausstellung nicht um die Geschichte von Kassel, es geht nicht um ›Zusammenbruch und Wiederaufbau‹. Es geht nicht um irgendetwas. Das Wort ›um‹ ist nicht richtig.« 1 C arolyn Christov-Bakargiev im Interview
Nach Oliver Marchart, Harald Kimpel und Daniel Buren stellt sich die Institution documenta auch selbst als Metakunstwerk aus. Harald Kimpel hat weiterhin herausgearbeitet, dass die documenta nicht (ausschließlich) eine Kunstausstellung ist, sondern 1 | C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 268.
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Gegenstand der Vermittlung
(auch) eine Theorieausstellung. Er definiert die ›Theorieausstellung‹ als verschieden von der ›Kunstausstellung‹, so dass beide Typen zwar räumlich, aber nicht inhaltlich in eins fallen.2 Ihre Theorie wäre sowohl zu vermittelnder Inhalt als auch Ordnungsprinzip für die durch sie ausgestellten Kunstwerke. Diese Lesart wird durch die Kunstkritik und Kunstwissenschaft immer wieder dadurch affirmiert und reproduziert, dass die verschiedenen documenta-Ausstellungen auf ein Konzept oder wenige Begriffe heruntergebrochen werden. Harald Kimpel bietet z.B. in seiner Überschau einzelne Schlagworte für die documenta-Ausstellungen 1-11 an: Vergangenheitsbewältigung (1), Weltsprache (2), Tautologie (3), americana (4), Sehschule (5), Medialisierung (6), Musealisierung (7), Utopieverlust (8), Chaos (9), Retroperspektive (10) sowie Entortung (11).3 Obwohl er in den so überschriebenen Kapiteln viele weitere Begriffe und kenntnisreiche Erläuterungen liefert, zeigt sich in dieser Festlegung doch der deutliche Wunsch, die disparaten Gesamtausstellungen auf ein handliches Format zu bringen. Dem entgegen lässt sich Carolyn Christov-Bakargievs Formulierung, es handle sich bei der dOCUMENTA (13) um »mehr als eine Ausstellung«4 interpretieren. Doch was kann damit gemeint sein, dass sie »keine Ausstellung im üblichen Sinne«5 ist, sondern eine ›Geistesverfassung‹ bzw. ein ›Geisteszustand‹?6 Dieses Konstrukt bezeichnet Carolyn Christov-Bakargiev als Gegenentwurf zur Reduktion auf einfache Begriffe und fordert eine »Art Widerstand gegen die intellektuelle Tradition, die meistens die Tradition von Männern ist: Sich mit sehr klaren Thesen und Konzepten zu identifizieren. Dagegen wehren sich Frauen. Sie kreieren Momente des Zögerns und des Zweifelns.«7 Harald Kimpel formuliert selbst Vorbehalte gegen dieses Vorgehen, wenn er einräumt, dass die früheren Ausgaben der documenta »mit steigendem Publikumserfolg der Ausstellungsreihe den Charakter mythischer Geschehnisse mit einigen wenigen standardisierten Funktionszuweisungen anzunehmen drohen«8. Widerstand kann entsprechend der Definition von David Joselit als »(menschliche) Gewalt jenseits und gegen reduktive – und somit repressive – Verfahren der Bildeinhegung (›Wir können uns nicht repräsentieren. Man kann uns nicht repräsentieren‹)«9 verstanden werden. Zu ergänzen wären hier Verfahren der Begriffseinhegung. »Obwohl sie sich vordergründig der Repräsentation widmet [...], könnte auch die Kunst sich der Einhegung von Bildern [und Begriffen, TP] als Kapital widersetzen.«10 Als Gegenstrategie schlägt Peter Osborne eine spekulative Poetik vor, die »auf den ersten Blick wie ein apolitischer und antihumanistischer Nihilismus erscheinen mag [...]. Explizit gegen die offizielle Ästhetik gerichtet […], zielt ein solcher spekulativ-materi-
2 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 80. 3 | Vgl. H. Kimpel: Die Überschau, S. 5. 4 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 17, BdB. S. 81. 5 | Ebd. 6 | Beide Begriffe entsprechen in den englischen Versionen der jeweiligen Texte der Formu lierung ‚state of mind‘. Innerhalb der vorliegenden Arbeit wird die Übersetzung Geistes zustand verwendet, da sie den späteren Publikationen entspricht. Vgl. ebd., Englisch: S. 5, Deutsch: S. 17, BdB. S. 81. Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31. 7 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 8 | H. Kimpel: Mythos und Wahrheit, S. 82. 9 | D. Joselit: Gegen Repräsentation, S. 101. 10 | Ebd.
Beteuerungen von Konzeptlosigkeit
alistischer Inhumanismus allerdings darauf ab, den Ort und den Status von Vernunft […] in Subjekten zu erkunden.«11 Was bedeutet diese Form des Widerstandes für die zu vermittelnden Inhalte einer Ausstellung? Carolyn Christov-Bakargiev betonte in etlicher Interviews im Vorfeld der Ausstellung, dass sie kein Konzept, ein Nicht-Konzept oder schließlich ein »no-concept-concept«12 verfolge und setzt sich damit zunächst deutlich von den eher theorielastigen Ausstellungen der documenta X und Documenta11 ab und erinnert mehr an die DOCUMENTA IX unter der Leitung von Jan Hoet, der ebenfalls kein Konzept auswies.13 Carolyn Christov-Bakargievs will anerkennen, dass es viele gültige Wahrheiten gibt und somit auch viele gültige Konzepte für eine documenta. Legte man sich aber auf eine bestimmte Wahl fest, wüsste man, »dass sie auch teilweise und unvermeidlich ›falsch‹ sein wird.«14 Die Alternative für Carolyn Christov-Bakargiev ist es, keine Wahl zu treffen, kein Konzept zu verfolgen und damit den ›Raum des Propositionalen‹ zu eröffnen, somit statt einer Darstellung des Hauptgedankens (Proposition) die mit diesem verbundenen Prozesse zu thematisieren.15 Passend zu dieser Terminologie bietet sie in der Ausstellung anstelle eines Konzeptes das sogenannte Brain an. Konzentriert man sich auf einen oder wenige (möglicherweise durchaus zentrale) Begriffe, reduziert man das System auf diesen Aspekt, verkennt dessen Komplexität. Thomas Erne stellt fest, dass niemand Carolyn Christov-Bakargiev ernst nahm, »als sie von einem Konzept der Konzeptlosigkeit sprach.«16 Dies zeigt sich sowohl in den spöttischen Zuschreibungen wie »Madame Maybe«17 oder »Lady Gaga der Kunst«18, aber auch darin, dass Kritikerinnen und Kritiker immer wieder von einem Konzept sprachen, sogar, wenn selbiges im vorherigen Satz noch negiert wurde: »Sie habe kein Konzept, beteuerte die documenta-Leiterin. Ja, sie hielt sich alle Möglichkeiten offen, um so umso besser ihr Konzept umsetzen zu können. Ein Beleg dafür war das von ihr in der Rotunde des Fridericianums eingerichtete ›Brain‹ (Gehirn), das wie ein Vorwort zur Gesamtausstellung angelegt war. Wer sich mit ihr auf die Ausstellung vorbereiten wollte, musste sich auf einen breiten Diskurs einlassen, dessen Basis die Publikationsreihe ›100 Notizen – 100 Gedanken‹ war.« 19 »Das Konzept der dOCUMENTA (13) war noch radikaler auf die documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev zugeschnitten als bei Catherine David (documenta X). […] Es war eine hochpolitische und zugleich äußerst sinnliche Ausstellung. Das Konzept basierte auf einer komplexen Auseinandersetzung mit den für die Gesellschaft wichtigen Fragen zur Kunst und Philosophie, zum Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau und zur Frage nach der gegenseitigen Befruchtung von Kunst und Wissenschaft.« 20 11 | A. Avanessian: Das spekulative Ende, S. 57. 12 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 13 | Vgl. J. Hoet: Eine Einführung, S. 19. 14 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 37. 15 | Vgl. ebd. 16 | T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 9. 17 | D. Boese: Schluss mit vielleicht, o.S. 18 | B. Fraschke/W. Fritsch/M. Lohr: Lady Gaga der documenta, o.S. 19 | D. Schwarze: Meilensteine, S. 206. 20 | D. Schwarze: Mehr als eine Kunstausstellung, S. 55.
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Gegenstand der Vermittlung »Streng hat auch die Kuratorin der dOCUMENTA (13) ihr Konzept verfolgt. Kein Künstler, den sie einlud, kam an einem Besuch des Klosters Breitenau vorbei. An diesem Ort sollten die Künstler mit den Traumata der deutschen Geschichte in einer ganz konkreten Situation vor den Toren Kassels konfrontiert werden. Trauma und die Überlebenspotentiale der Kunst waren zwei zentrale Kategorien für Carolyn Christov-Bakargievs Ausstellungskonzept. An Strenge und Konsequenz fehlte es also auch der Leiterin der dOCUMENTA (13) nicht.« 21
Es ist eines der Anliegen dieser Untersuchung, die Rede von der Konzeptlosigkeit ernst zu nehmen, ohne dadurch zu behaupten, die dOCUMENTA (13) hätte keine Themaenoder keine Ansichten, die Künstlerische Leitung keine Methode. Die Konzeptlosigkeit der dOCUMENTA (13) unterscheidet sich von einer impliziten, aber nicht kommunizierten Konzeption, da sich explizit geäußert wurde: »Eher ist es ein Wagnis, wie diese Documenta auf die griffige Doktrin verzichtet, wie sie so gar keine These kennt, die sie bebildern wollte. Was ja keineswegs heißt, dass sie keine eigene Sicht hätte, dass sie nicht aus Nachdenken entstanden wäre.«22 Es stellt sich somit eher die Frage, welchen Wert dieses Wagnis hatte und was den Geisteszustand qualitativ von einem Konzept unterscheidet. Genau diese Qualität wird verfehlt, wenn zwischen der Absicht der Künstlerischen Leiterin und der Aneignung des Publikums unterschieden wird: »Aber was die Kuratorin mit der dOCUMENTA (13) wollte und was die Kritiker an dieser Absicht für gelungen oder verfehlt hielten, beherrscht nicht die Rezeption der Documenta. Die intentio recta, die Absicht der Kuratorin, und die intentio obliqua, die Aneignung der Ausstellung durch Besucher sind nicht deckungsgleich, mitunter liegen Welten dazwischen.«23 Diese ›Welten‹ sollen als vorläufige Definition dessen dienen, was der Geisteszustand umfassen könnte. Carolyn Christov-Bakargiev spricht selbst von einem ›Netzwerk mehrerer Ausstellungen‹, das sich nicht nur aus der Polyphonie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern auch aus dem heterogenen Publikum ergibt.24 Es stellt sich die Frage, ob der Geisteszustand sich tatsächlich von einer Theorie oder einem Konzept unterscheidet oder ob es sich stattdessen um einen Begriff handelt, der selbiges meint und dies gleichzeitig verbergen soll. Um dies zu beurteilen, wird im Folgenden zunächst der Begriff des Konzeptes und dessen Ablehnung innerhalb der documenta-Geschichte aufgearbeitet. Die Rotunde des Fridericianums gilt als programmatischer Ort einer jeden documenta und wurde zur dOCUMENTA (13) mit einem eigenen Ausstellungsensemble unter dem Titel Brain bespielt. Dieses Brain wird daher nach einem historischen Überblick der Inszenierungen in der Rotunde zu den vorangegangenen documenta-Ausstellungen analysiert, um zu Thesen zum Geisteszustand zu gelangen.
21 | T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 7. 22 | H.-J. Müller: Ende der Geheimnisse, o.S. 23 | T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 6. 24 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 19, BdB. S. 81.
Beteuerungen von Konzeptlosigkeit
Konzepte zwischen Fetischisierung und Ablehnung Die ersten drei documenta-Ausstellungen wurden von Arnold Bode als Präsentationen kunstgeschichtlich abgesicherter Werke mit Schwerpunkt auf den Avantgarden der Moderne konzipiert. Dies wird zur documenta 4 (1968) aufgegeben, um stattdessen die aktuelle zeitgenössische Kunst zu präsentieren.25 Der Fokus liegt bei dieser durch den documenta-Rat verantworteten Ausgabe auf amerikanischer Pop-Art. Es wurde kritisiert, dass andere Strömungen – insbesondere aus den Bereichen Performance, Happening und Fluxus – nicht ausreichend vertreten seien. Dieses Desiderat wird in den ausformulierten Konzepten zur documenta 5 aufgegriffen. Allerdings wandeln sich diese und werden schließlich von Harald Szeemann selbst abgelehnt, so dass die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler mit dem ursprünglich theoretischen Konzept nur noch wenig zu tun haben.26 Bazon Brock reflektiert die Debatten um das Konzept bzw. Thema kritisch, indem er darauf hinweist, dass der Konzeptgedanke keine Besonderheit der documenta 5 war, sondern jede Ausstellung notwendigerweise Konzepte haben müsse: »Die Grundannahme der documenta 5 (›Befragung der Realität – Bildwelten heute‹) war das heilige Thema ›Thematische Ausstellung‹. Sie geht von der Beobachtung aus, daß jede Ausstellung, die nicht dem Prinzip des Basars folgt, sondern mehr oder weniger gezielt Künstler und Werke wählt, bereits durch das Auswählen thematisch ist. In diesem Sinne kann es keine nicht-thematische Ausstellung geben, wenn Auswahlkriterien für das Zustandekommen einer Ausstellung herangezogen werden […] Der eigentliche Kern der Auseinandersetzung unter den Ausstellungsrealisatoren bezog sich darauf, ob das Thema der documenta 5 explizit ausgesprochen werden muß oder ob es implizit und unausgesprochen bleiben darf.« 27
Somit handelt es sich laut Bazon Brock nicht um eine tatsächliche Neuerung, sondern nur um die Entscheidung der Ausstellungsmacher, das Thema der documenta 5 explizit, eindeutig und in schriftlicher Form vorzugeben. Durch diese Sichtbarmachung wurden sie im Vergleich zu den übrigen documenta-Konzeptionen angreifbar.28 Das Entscheidende bei einem Thema oder Konzept sei aber nicht dessen explizite Nennung, sondern die Verbindlichkeit einer solchen Vorgabe für die Präsentation der Ausstellung selbst.29 Diese Verbindlichkeit wird entweder aus der »vorhandenen künstlerischen Produktion abgeleitet«30 oder »unabhängig vom schon vorliegenden Material formuliert«31. »Im ersten Fall drücken die ausgestellten Werke das Thema durch den gegenseitigen Bezug aufeinander selbst aus (Dominanz des ausgestellten Materials). Im zweiten Fall
25 | Vgl. V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 341. 26 | Vgl. ebd., S. 345. 27 | B. Brock: Grundannahmen der d 5, S. 27. 28 | Vgl. ebd. 29 | Vgl. ebd., S. 29. 30 | Konzept zur documenta 5 von J.C. Amman, B. Brock und H. Szeemann von 1971 zitiert nach B. Brock: Grundannahmen der d 5, S. 31-39, hier: S. 31. 31 | Ebd.
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Gegenstand der Vermittlung leistet die Ausstellung eine Übersetzung des Themas in den Anschauungsbereich des Materials (Dominanz des durch das Material veranschaulichten Zusammenhangs).« 32
An dieser Unterscheidung begründet sich schließlich, ob die Vorwürfe gegenüber den Kuratorinnen und Kuratoren, sie würden mit ihren Themen und Konzepten künstlerische Werke vereinnahmen, gerechtfertigt sind.33 Gleichzeitig arbeitet Bazon Brock auch heraus, dass die an Ausstellungen herangetragenen Anforderungen ein Paradox bilden: »Im übrigen wiederhole ich die dutzendemal vorgetragenen Idiotien: ›Das Publikum wird von den Werken vollständig allein gelassen ‹, tönt die Kunstkritik; kaum versucht aber jemand, dem Publikum Hilfestellungen zu geben, dann nennt dieselbe Kritik dieses Bemühen einen unerlaubten Versuch der Einflußnahme und Manipulation. ›Die Werke sprechen für sich selbst‹, schnarren die Künstler hochmütig jedem ins Gesicht, der nicht glaubt, daß aus jedem Kunstwerk der heilige Geist persönlich spräche. Wenn dann die Werke doch nicht von selbst sprechen und als ›nichtssagend‹ empfunden werden, beeilen sich die gleichen Künstler zu betonen, daß man eben viel Vorkenntnis brauche, damit die Bilder von selbst sprächen.« 34
Manfred Schneckenburger, Künstlerischer Leiter der documenta 6 und documenta 8, bezeichnet das öffentliche Verlangen nach einem Konzept als ›Fetisch‹ und ›Überbleibsel‹ der documenta 5.35 Dies ist umso erstaunlicher, als dass deren Konzept zunächst eher kritisch rezipiert wurde: »Es war seinerzeit ja nicht so, daß die documenta 5, wie dies aus heutiger Sicht erscheint, positiv bewertet wurde. (Die ersten positiven Reaktionen kamen erst 3 1/2 Jahre nach der documenta.) Im Gegenteil. Mit Ausnahme der französischen Presse wurde das Konzept der documenta 5 und die Ausstellung von den Journalisten mehr oder weniger niedergemacht. Die damalige Kritik hat den Anspruch, das Thema der documenta explizit zu machen, als eine Art Präpotenz, als ein ›Theoretisieren‹ verstanden. Der allgemeine Tenor der Kritik hob insbesondere darauf ab, daß die künstlerischen Arbeiten nurmehr Illustrationen eines Themas sein, und daß Werke durch den thematischen Rahmen, in den sie gestellt wurden, entweiht und entwürdigt und damit nur noch als Dokumentations- und Argumentationshilfe für das Thema mißbraucht würden.« 36
Im Wissen um diese Ambivalenz formuliert Manfred Schneckenburger eine Abgrenzung der documenta 6 zum Konzeptgedanken: »[E]in Konzept musste her, auf alle Fälle und um jeden Preis. Die langwierige Konzeptdebatte um die vorige documenta hatte der Kasseler Ausstellung ihre Unschuld geraubt. Ein Zugzwang war entstanden, den jeder Provinzredakteur in beharrliche 32 | Ebd., S. 32. 33 | Vgl. D. Buren: Ausstellung einer Ausstellung, S. 17/29. 34 | B. Brock: Besucherschule d7, S. 3. 35 | Vgl. M. Schneckenburger: Die documenta, S. 89. 36 | B. Brock: Grundannahmen der d 5, S. 28.
Beteuerungen von Konzeptlosigkeit Forderungen ummünzen konnte. […] Die ›Mediendocumenta‹ wurde zu einem ambivalenten Schlagwort, das nach wie vor in Richtung der technischen Bildmedien verstanden wurde, während viele Kritiker den Wandel von den alten Gattungen zu Medien weder akzeptierten noch nachvollzogen.« 37
Während auch Arnold Bode in einem Vorwort zum Katalog der documenta 6 den Findungsprozess eines Konzeptes beschreibt (»Die kleinen Arbeitsgruppen finden sich zusammen, planen, irren[,] gehen zurück, schreiben ein neues Konzept – reisen – suchen und finden, was sie meinen!«38), wird sich bereits zur documenta 7 und documenta 8 davon deutlich abgegrenzt: »Das Diktum, keinerlei Thematisierung zuzulassen, kommt bei der documenta 7 voll zu tragen. Was bleibt, ist den autonomen Anspruch des Werks als Kunstwerk gegenüber jeder anderen Art von menschlichem Werkschaffen abzugrenzen.« 39 »Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wollte man die von fünf verschiedenen Menschen getroffene Auswahl aus völlig unterschiedlichen Kunstrichtungen in einen einzigen geistigen Entwurf zwängen. Daher haben sich die Organisatoren in Anlehnung an Adornos Aufsatz ohne Leitbild; Anstelle einer Vorrede von vornherein zur Richtschnur gemacht, daß es nicht nach vorgefassten Ideen gehen sollte. [...] Aber wenn der Ausschluß von Leitbildern und Normen sich nicht als ein absichtlicher behauptet, dann könnte das Fehlen eines Konzepts ebenso leicht zur völligen Verwirrung beitragen.« 40 »Nach dem Konzepteifer [der documenta 6] von 1977, der eigentlich eine Hypothek und ein großer Druck gewesen war, wollte ich dieses Mal [zur documenta 8] jede vorschnelle Festlegung vermeiden. Erst sichten, prüfen, dann Konsequenzen erwägen ... So blieb zunächst vieles offen. Um die Namen habe ich dagegen nie ein Geheimnis gemacht. Insofern stand in der Presse zu Recht, die Vorbereitung dieser documenta verlaufe so transparent wie kaum einmal zuvor. Nur, mit einem raschen ›Konzept‹ wollte ich mich nicht noch einmal unter Zugzwang setzen. [...] Dann zeigte sich aber etwas, worauf wir insgeheim lange gehofft, ja vertraut hatten: die Namen ergaben eine Richtung und schließlich ein Profil.« 41
Rudi Fuchs äußert sich mehrfach kritisch zum Konzept und wirft ebenso wie Manfred Schneckenburger der Kritik vor, ein solches als explizite Vorabinformation einzufordern: »[W]ährend wir uns mit Künstlern darüber auseinandersetzten, wie ihre Arbeiten am besten gezeigt werden könnten [...], fingen vor allem deutsche Kritiker an, nach unserem Konzept zu fragen. Andauernd wollten sie wissen, wie die Ausstellung aussehen würde. [...] Für manche war es geradezu eine Pflichtverletzung, dass wir kein Konzept
37 | M. Schneckenburger: Die documenta, S. 92. 38 | A. Bode: Vorwort, S. 15. Die im Text verwendeten Umbrüche wurden nicht übernommen. 39 | B. Brock: Grundannahmen der d 5, S. 30. 40 | C. van Bruggen: Im Nebelschleier, S. XI. 41 | M. Schneckenburger: Die documenta, S. 100.
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Gegenstand der Vermittlung hatten. [...] um eine ernstzunehmende Ausstellung zu machen, wollten wir uns Zeit nehmen und nichts überstürzen.« 42
Unter diesen Umständen erscheint es nur folgerichtig, wenn Jan Hoet die DOCUMENTA IX schließlich als »bewusste und persönliche Stellungnahme zu unserer Zeit«43 konzipiert und klar kommuniziert, dass er kein Konzept habe. Die Ausstellung wird die bis dahin populärste documenta, doch sie verliert laut Harald Kimpel endgültig ihren normativen Anspruch und er sieht dadurch die Institution als ganze gefährdet: »Damit aber hat die Kasseler Instanz ihre autoritäre Mitte verloren; sie entledigt sich ihrer umstrittensten, aber historisch relevantesten Aufgabe, die bislang ihren besonderen Charakter ausgemacht hat, zu einem Zeitpunkt, an dem die Kunstszene sie nötiger als bisher zu haben scheint. Konnte Haftmann zur d3 auf die Frage nach einer Definition von Kunst wenigstens mit der Tautologie ›Kunst ist, was bedeutende Künstler machen‹ aufwarten, hat Hoet 1992 auf die selbe Frage nur noch das Bekenntnis parat: ›was Kunst ist, weiß ich nicht‹.« 44
Tatsächlich zeigt sich mit Blick auf Harald Szeemann, Manfred Schneckenburger und Rudi Fuchs, dass die von Harald Kimpel beschriebene Aufgabe schon länger nicht mehr dem Anspruch der jeweiligen Künstlerischen Leiter entsprach, sondern eine Forderung von außen darstellt. »Der Forderung nach einer objektiven Bilanzierung begegnet er [Jan Hoet] mit einer extrem subjektiven Perspektive«45 – eine Feststellung, die sich schließlich auf alle anderen documenta-Ausstellungen inklusive der von Arnold Bode verantworteten, wenn auch möglicherweise nicht auf deren Selbstverständnis, übertragen ließe. Jan Hoet stellt seine Bedenken, ein Konzept zu formulieren, innerhalb des Kataloges deutlich dar und formuliert gleichzeitig seinen Anspruch, das Thema der Ausstellung aus der Kunst heraus zu entwickeln und eben nicht aus einem normativen Verständnis heraus durchzusetzen: »Ich weiß, daß es noch immer viele geben wird, die, was immer ich auch schreibe, nicht als das lesen werden, was es ist – eine Reflexion –, sondern als das, was es niemals sein will – eine Konzeption. Ein Konzept in dem Sinne, daß es am Anfang stünde, daß es den Ausgangspunkt bildete und der Ursprung für jede weitere Überlegung sei. Doch der Ursprung war für mich immer nur die Kunst, die Künstler und ihre Arbeiten, die Notwendigkeiten, die einen Ort gesucht und geschaffen haben.« 46
Eine weitere Wende stellen die folgenden beiden documenta-Ausstellungen dar, die jeweils mit einem umfangreichen theoretischen Überbau argumentieren und einen Gegenpol in der Konzeptdebatte auszumachen scheinen. Dennoch hat auch Catherine David diesen Überbau zunächst nicht kommuniziert und damit innerhalb der Medien einen Verdacht erregt: »Insbesondere aber das anhaltende Schweigen der Leiterin zu 42 | R. Fuchs: documenta 7, S. 99. 43 | J. Hoet zitiert nach H. Kimpel: Die Überschau, S. 115. 44 | H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 218. 45 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 115. 46 | J. Hoet: Eine Einführung, S. 19.
Beteuerungen von Konzeptlosigkeit
Konzept und Namen läßt den Verdacht des Scheiterns aufkommen. […] Dabei ist die zurückhaltende Informationspolitik wohlbegründet: Sie soll ein ›Arbeiten ohne Mediendruck‹ für Organisation und Künstler möglich machen.«47 Die Documenta11 weitet sich schließlich räumlich und zeitlich aus und begründet damit ein Vorgehen, das von allen folgenden Ausgaben in unterschiedlicher Intensität verfolgt wurde. Dadurch verkürzt sich die Phase des Schweigens in der öffentlichen Wahrnehmung, auch wenn nicht unbedingt explizit Konzepte kommuniziert wurden. Zur documenta 12 formulierten Roger Buergel und Ruth Noack mit Migration der Form eine kuratorische Methode, die als Konzept gelesen werden könnte. Aber sie grenzen sich von einem solchen Verständnis ab, indem sie der documenta ›Formlosigkeit‹ zuschreiben: »In der Regel haben Ausstellungen ein Thema, oder sie gelten einer Künstlerpersönlichkeit, einer Epoche, einem Phänomen. Die Formlosigkeit der documenta verbietet einen solchen Zugang. […] Macht man documenta, das heißt eine Ausstellung ohne Form, so begibt man sich in ein Kraftfeld. Die Faszination, die sie ausübt, aber auch die medialen Erwartungen an diese Ausstellung sind enorm hoch, nicht zuletzt deshalb, weil Menschen mit radikaler Formlosigkeit schlecht umgehen können. Sie fühlen sich herausgefordert und wollen etwas identifizieren. […] Selbstverständlich sind uns bestimmte Künstlerinnen und Künstler wichtig, selbstverständlich treiben uns Konzepte um, und selbstverständlich hat Kunst auch eine lokale Geschichte. Interessant wird eine Ausstellung aber erst dann, wenn man sich von diesen Krücken des Vorverständnisses befreit und auf eine Ebene gelangt, auf der die Kunst ihre eigenen Netze spinnen kann. Das ist die eigentlich ästhetische Ebene; hier erweist sich die Ausstellung als Medium und kann hoffen, das Publikum in ihr kompositorisches Tun einzubeziehen.« 48
Auch zur documenta 12 zeigt sich, dass die Ansprüche nicht den ›medialen Erwartungen‹ gerecht wurden, die schließlich in der Nachbetrachtung mit denen der journalistischen und wissenschaftlichen Kritik korrelierten. Die ursprünglich als dekonstruktive Methode konzipierte Migration der Form, die alternative Sichtweisen begünstigen und ›das Publikum in ihr kompositorisches Tun‹ einbeziehen sollte, wurde als autoritär und elitär aufgefasst.49 Es zeigt sich, dass in der Geschichte der documenta immer wieder eine Ablehnung von Konzepten stattfand. Harald Kimpel stellt zur Begründung vor allem die organisatorischen und pragmatischen Gründe in den Vordergrund: »Wo keine Konzepte ausgegeben werden, müssen keine zurückgenommen werden, wo keine Erwartungshaltungen erzeugt sind, können keine enttäuscht werden und ein Messen des Fertigen am vorab Publizierten – allzu oft das Hindernis für eine vorurteilsfreie Beurteilung des Geleisteten – ist ausgeschlossen.«50 Ganz ähnlich beschreibt Bazon Brock die Risiken eines fixierten Konzepts: »Sie [die Ausstellungsmacher] befürchten, daß Ausstellungen durch solche Festlegungen angreifbarer werden, größere Anforderungen auf Begründung nach sich ziehen 47 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 129. 48 | R.M. Buergel/R. Noack: Vorwort, S. 11f. 49 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 37ff. 50 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 105.
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Gegenstand der Vermittlung und Veränderungen der ursprünglichen Konzeption, die sich gegebenenfalls aus dem zeitlichen Abstand zwischen Ideenformulierung und Realisierung der Ausstellung ergeben, kaum noch zulassen. Der Ausstellungsmacher ist damit zugleich verpflichtet, jede Änderung und Weiterentwicklung (und sei sie noch so klein) den beteiligten Künstlern wie auch anderen kunstöffentlichen Instanzen und Personen gegenüber zu begründen. Wenn ein Ausstellungsrealisator dagegen das Thema, die Konzeption der Ausstellung, die Künstlerauswahl nicht explizit veröffentlicht, dann kann er sich in Auseinandersetzungen, die größere Ausstellungen grundsätzlich nach sich ziehen, viel leichter aus der Affäre ziehen.« 51
Der Vorwurf, sich ›aus der Affäre ziehen‹ zu wollen oder den Erwartungen einer documenta nicht gerecht zu werden, zeigt, dass beide Autoren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die explizite Benennung von Konzepten fordern. Konzeptlosigkeit wird bestenfalls als Sicherheitsnetz der Ausstellungsmacher verstanden, schlimmstenfalls als deren Unfähigkeit, ein solches zu formulieren oder durchzusetzen. Es muss allerdings auch gefragt werden, welche inhaltlichen, politischen oder sogar konzeptionellen Gründe es dafür geben könnte, kein Konzept auszuweisen oder dieses zu verleugnen – zumal wenn, wie im Fall der dOCUMENTA (13), durchaus Erwartungshaltungen produziert, umfangreich im Vorfeld publiziert und etliche Künstlerinnen und Künstler sowie zum Teil sogar bestimmte Werke vor der Eröffnung bekannt gemacht wurden. Tatsächlich zeichnet sich die dOCUMENTA (13) durch eine umfassende (wenn auch bei weitem nicht absolute) Informationspolitik aus: Wichtige Themen und Begriffe wie der Tanz, der Skeptizismus, der Nicht-Logozentrismus und auch der zu Grunde liegende Kunstbegriff sind vor der Eröffnung bekannt gemacht worden. Selbst Konflikte wurden kommuniziert. All dies wird durch die Formel des Nicht-Konzepts und die assoziative Sprache der Künstlerischen Leiterin bloß verschleiert. Dennoch, mit Rückgriff auf Arnold Bode: »wer sehen will, kann sehen!«52 Carolyn Christov-Bakargiev stellt deutlich die Vorteile von Konzeptlosigkeit heraus und macht auch in Abgrenzung zur DOCUMENTA IX deutlich, dass sie trotzdem Themen und politische Anliegen hat, die in der Ausstellung zum Tragen kommen: »Hoets documenta war vielleicht nicht so sensibel für die politischen Fragen der damaligen Zeit: den Fall der Mauer, die Krise Europas. Ich versuche mich mehr mit den Problemen der Welt im Großen auseinanderzusetzen. Trotzdem mochte ich, dass sie kein so strenges Konzept hatte, dann kommen die Kunstwerke besser zur Geltung.« 53
Obwohl eine deutliche Analogie zur DOCUMENTA IX besteht, macht Carolyn Christov-Bakargiev deutlich, dass ›der Verzicht auf ein theoretisch ausgefeiltes Konzept [...] eine Form des Widerstands gegen den Wissenskapitalismus‹ ist und damit auch die ›intellektuelle Tradition [...] von Männern‹ ablehnt, sich ›mit sehr klaren Thesen und Konzepten zu identifizieren‹.54 Diese Verweigerungshaltung zeigt sich insbesondere in Vorträgen, wenn sie große Teile ihres Manuskriptes, welches meistens im Wesentlichen ihrem Einführungstext im Buch der Bücher entsprach, überspringt und dies auch 51 | B. Brock: Grundannahmen der d 5, S. 27. 52 | A. Bode: Vorwort, S. 15. 53 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 54 | Vgl. ebd.
Beteuerungen von Konzeptlosigkeit
durch ein wiederholtes ›skip‹ beim Umblättern der Seiten deutlich markiert.55 Da dieser Text auch außerhalb der Vorträge verfügbar ist, wird dadurch kein Wissen vorenthalten, es wird nur nicht explizit vermittelt. Carolyn Christov-Bakargiev erwartet von ihren Zuhören zumindest in Teilen, sich selbst dieses Wissen anzueignen. Die 100 Notizen, beziehungsweise das Buch der Bücher, in das diese überführt werden, bezeichnet Carolyn Christov-Bakargiev in einem Interview, in dem es um ihre Ablehnung einer Veröffentlichung der Künstlerliste geht, als den Schlüssel, sich die Welt der documenta zu erschließen.56 Neben den politischen Gründen für die Ablehnung eines Konzeptes zeigt sich in Abgrenzung zu Catherine David noch eine kategoriale Unterscheidung: »Ich bewundere Catherine David sehr. Sie brachte 1997 das Diskursive zurück. […] Damit will ich nicht brechen. Aber ich bin mehr an Formen des intuitiven Wissens interessiert. Das steckt hinter der Formel von dem Konzept, kein Konzept zu haben.«57 Thomas Erne spricht von einer »theoretische[n] Leerstelle«58 hinter den Aussagen und Texten Carolyn Christov-Bakargievs und den Katalogen der dOCUMENTA (13): »Sie erzeugt darin keine begriffliche Klarheit, sondern einen anregenden Fluxus, ein poetisches Schweben in einem dichten Netz von Assoziationen, mit dem Ziel, das begriffliche Denken im Genuss des Metaphorischen zu entgrenzen.«59 Es stellt sich also so dar, dass es nur zum Teil die Künstlerischen Leiterinnen und Leiter sind, die ihre Konzepte zum Metakunstwerk erheben und stattdessen vor allem verschiedene außenstehende Gruppierungen dies befördern. Jede documenta ist in einem komplexen Vermittlungsgefüge verortet, das eher einfache Schlagworte als komplexe Denkgebäude reproduziert. Dennoch führt die Annahme einer Autorschaft, ebenso wie die Signatur eines Kunstwerkes, zu einer höheren Wirtschaftlichkeit des Produkts documenta bei gleichzeitiger Schmälerung der Polyphonie.60 Gleichzeitig weist Thomas Erne darauf hin, dass das stets steigende Besucherinteresse nur bedingt etwas mit kuratorischen Konzepten oder der theoretischen Erschließung der Ausstellung zu tun habe und somit eine Verknüpfung zwischen der konzeptionellen und der wirtschaftlichen Ebene nur bedingt sinnvoll sei.61
55 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: To be here and not there, to be there, and not here, Embodiment and a locational turn in dOCUMENTA (13), Frankfurt am Main 13.12.2012. 56 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/T. Lindemann: Keine documenta-Künstlerliste, o.S. 57 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 58 | T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 9. 59 | Ebd. 60 | Vgl. N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 93. 61 | Vgl. T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 6.
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Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
Um sich den Konzeptionen der jeweiligen documenta-Ausstellungen anzunähern, wird in der Forschungsliteratur immer wieder eine symbolische Funktion der in der zentralen Rotunde im Fridericianum ausgestellten Arbeiten angenommen. Volker Rattemeyer und Renate Petzinger formulierten und untersuchten zur documenta 8 die These eines ›pars pro toto‹ der Rotunde.1 Während in diesem Text der baulichen Struktur und den damit verbundenen und zugeschriebenen Funktionen – die Rotunde »ist zugleich auch Ort der Kommunikation, des Sehens und des Gesehen-werdens«2 – große Bedeutung zugemessen wird, soll in dieser Auseinandersetzung mit der ›pars pro toto‹-These allerdings ein deutlicher Fokus auf die präsentierten künstlerischen Arbeiten in ihrer Stellvertreterfunktion vorgenommen werden. Dadurch wird die »Legende, von der Rotunde aus sei ›schon immer‹ in exemplarischer Weise in die Ausstellung eingeführt worden, sie sei ›schon immer‹ zentraler Ort für die Präsentation besonders wichtiger Arbeiten gewesen«3, kritisch überprüft. Denn unabhängig von ihrem baulichen Zustand erweist sie sich als symbolhafter Raum, dessen Nutzung und Rezeption, auch seit der DOCUMENTA IX, reflektiert werden muss, um seine Manifestation zur dOCUMENTA (13) zu kontextualisieren. Dabei wird sich im Folgenden nicht vorrangig auf den gesamten Baukörper der Rotunde bezogen, sondern vor allem auf die dem Haupteingang gegenüberliegende Situation im Erdgeschoss und anderen, von denen angenommen werden kann, dass sie der These genügen. Die behauptete Verdichtung eines großen Ganzen in einer oder wenigen künstlerischen Positionen als kuratorische Geste wird in einem historischen Exkurs zur Annäherung nachgegangen, um das Potential der Rotunde als kleines Format für die dOCUMENTA (13) einzuordnen. Dass die Inszenierung des Brains im Bewusstsein der zentralen Rolle der Rotunde innerhalb der Rezeptionsgeschichte der Ausstellungsreihe und in Bezug darauf gewählt wurde, zeigt sich unter anderem in dem durch das Team der dOCUMENTA (13) zusammengestellten Portfolio Die Rotunde des Museum Fridericianum während der documenta 1 (1955) bis 12 (2007), welches Grundrisse und Fotografien aller vorherigen Ausgaben – sofern verfügbar – versammelt.4 1 | Vgl. V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto. 2 | Ebd., S. 335. 3 | Ebd., S. 342. 4 | Vgl. documenta archiv, Bibliothek: documenta E 2011.
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Gegenstand der Vermittlung
Die mythische Anfangszeit Betrat man zur ersten documenta das Fridericianum, blickte man über den Eingangsraum, der als Vorspann mit Künstlerportraits genutzt wurde, hinweg durch einen Torbogen in die Rotunde hinein. Der Blick wurde erwidert durch die leicht überlebensgroße Figur Die Kniende (1911) von Wilhelm Lehmbruck. Harald Kimpel interpretiert, dass an »zentraler Stelle […] der auch den weiteren Ausstellungsverlauf bestimmende Sinneswandel einer ganzen Gesellschaft manifest werden«5 sollte. Denn dieselbe Figur wurde, wie Arbeiten eines Großteils der an der ersten documenta teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler auch, in der Ausstellung Entartete Kunst (1937) durch die Nationalsozialisten präsentiert und diffamiert. Die Präsentationsweise der Entarteten Kunst stellt sich als wenig kontemplativ oder ästhetisch, sondern als auf eine These hin verdichtet dar. Eine gänzlich andere Wirkung wurde auf der ersten documenta beabsichtigt: Besucherinnen und Besucher näherten sich über etwa 15 Meter der Figur in Demutshaltung an, die durch einen weiß getünchten Torbogen gerahmt und durch eine weiße Wand dahinter isoliert war. Erst in der relativen Intimität der Rotunde im direkten körperlichen Bezug wurde deutlich, dass diese Figur – unterstützt durch einen zusätzlichen Sockel – größer als man selbst ist, auf einen hinabblickt, man sich möglicherweise selbst in eine Demutshaltung begeben sollte. »Ihre Zartheit, die Reinheit, der Wohllaut im Ablauf der Bewegung machen betroffen.«6 Und erst hier werden weitere, kleinere Arbeiten von Wilhelm Lehmbruck, sowie Malereien Oskar Schlemmers, die ins Obergeschoss führen, sichtbar. »Symbolhaft bringt bereits im Eingangstreppenhaus die ›Knieende‹ in ihrem beseelten Emporsteigen und die Bildwelt Oskar Schlemmers den Aufbruch in neue Räume zum Ausdruck. Dieser Aufbruch in ein wesenhaft Anderes erscheint das Kennzeichen der Ausstellung.«7 Diese Abfolge der Rezeption – auch bei variierender Interpretation – ist durch die bewusste Nutzung der Architektur als Schauanordnung ebenso vorgeschrieben, wie eine direkte und intime Beziehung zwischen Betrachterinnen und Betrachtern und dem Werk. »Mit der liebevollen Präsentation der Werke von Lehmbruck, Schlemmer und Klee […] weist die Rotunde dieser ersten documenta auf ihr Thema hin: Europäische Kunst der ersten 50 Jahre dieses Jahrhunderts.«8 Harald Kimpel macht neben diesem Thema drei Hauptaufgaben aus, die sich die Macher der documenta gestellt haben: Diese sind ›Nachholbedarf der Deutschen‹, eine ›kulturelle Wiedergutmachung‹ sowie eine ›Standortbestimmung‹.9 Letztere Aufgabe lässt sich in der Rotunde möglicherweise nur in Ansätzen ablesen, die Aspekte der ›Wiedergutmachung‹ und des ›Nachholbedarfs‹ dafür umso deutlicher. Die Figur wird als Kniefall der documenta-Macher vor den Künstlern der Moderne verstanden. Einer Moderne, die vielleicht demütig ihre Bedeutung einfordert, sich allerdings nicht mehr dem Publikum unterordnen muss – wohlgemerkt aber dennoch der Illustration einer These der Ausstellungsmacher Arnold Bode und Werner Haftmann. Allerdings wählen diese sicherlich auch in Abgrenzung zur Präsentationsweise der Nationalsozialisten eine stark ästhetisierende und auratisieren-
5 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 20. 6 | D. Schmidt zitiert nach H. Kimpel/K. Stengel: documenta, S. 22. 7 | K. Albrecht zitiert nach ebd., S. 24. 8 | V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 338. 9 | Vgl. H. Kimpel: Die Überschau, S. 19ff.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
de Inszenierungsstrategie, anhand derer sich die These nachvollziehen lässt, ohne sie aufgezwungen zu bekommen. Gleichzeitig weisen Volker Rattemeyer und Renate Petzinger aber auch darauf hin, dass die in der Rotunde ausgestellten Künstler innerhalb der Philosophie der ersten documenta keine zentrale Position einnehmen, sondern nur als Stellvertreter der zu rehabilitierenden Moderne gelten können und die Kniende nur wegen ihrer exponierten Lage als Schlüsselwerk angesehen wird.10 Die besondere Stellung dieses Übergangsraums innerhalb der Rezeption ist somit in weiten Teilen der documenta-Forschung zuzuschreiben und erweckt den Eindruck einer Tautologie. Die zentrale These der II. documenta ist die Abstraktion als Weltsprache: Als herausragende Hauptvertreter werden Jackson Pollock, Nicolas de Staël und Wols vorgestellt, denen jeweils eine große Werkschau eingeräumt wird. In der Rotunde finden sich allerdings Arbeiten von Zoltan Kerneny und Sam Francis sowie mehrere Wandteppiche. »Die Kunstwerke in der Rotunde stehen zu dieser These [der Abstraktion als Weltsprache] zwar nicht im Gegensatz, stellen in ihrer Gesamtheit aber auch keinen sonderlich nachdrücklichen Beleg für sie dar.«11 Stattdessen wird festgestellt, dass die ganze II. documenta die Illustration einer These sei, in der die Rotunde nur als Übergang fungiere. Über die Bestückung der Rotunde zur documenta III sind nur wenige und kaum aussagekräftige schriftliche oder fotografische Zeugnisse erhalten.12 Das Urteil von Wolfgang Christlieb macht zumindest deutlich, dass der Nachvollzug einer These im Gegensatz zur II. documenta schwer fiel: »[D]as Durcheinander ist beachtlich, man vermisst eine ausgleichende Ruhe, es fehlen Fermaten und Generalpausen, Haltepunkte im engen Getriebe und Geschiebe, eine Orientierung ist fast unmöglich. Überhaupt ist das so groß angekündigte Programm ›Das Kunstwerk im Raum‹ total ins Wasser gefallen; kein Mensch, dem es nicht gesagt wurde, würde merken, daß derartiges beabsichtigt war.« 13
Im Gegensatz zur ersten documenta, bei der die ›pars pro toto‹-These recht nachvollziehbare Ergebnisse liefert, ist sie für die beiden folgenden Ausstellungen somit kaum anwendbar.
Begründung einer Legende Mit ihrer vierten Ausgabe vollzieht »die documenta die Wende von einer kunsthistorisch argumentierenden Qualitätsparade zur Aktualitätenschau«14 und der Fokus verschiebt sich deutlich gen USA mit einem Schwerpunkt auf Pop Art und einer Vielzahl weiterer Stilrichtungen. Entgegen der Thesen Werner Haftmanns zu den ersten documenta-Ausstellungen führen deren Arbeiten den Gegenstand zurück in die Bildwelten. Trotz dieser inhaltlichen und visuellen Prägnanz machen die amerikanischen Teil10 | Vgl. V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 338. 11 | Ebd. 12 | Vgl. H. Kimpel/K. Stengel: documenta III, S. 11. 13 | W. Christlieb zitiert nach ebd., S. 112. 14 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 56.
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nehmer tatsächlich weniger als 50% der Ausstellung aus und sind weit weniger als zur II. documenta oder documenta III.15 Dennoch: »Angesichts solch optischer Dominanz prägt das Feuilleton das Schlagwort von der ›americana‹«16. Die Arbeit Fire Slide (1967) von James Rosenquist in der Rotunde kann als typische Vertreterin der amerikanischen Pop Art gelten. In dieser »spektakulären und bei den Besuchern der documenta 4 unauslöschlich in der Erinnerung haften gebliebenen Inszenierung«17 sehen Volker Rattemeyer und Renate Petzinger die Legende um die Rotunde begründet. Dem Überformat James Rosenquists sind zehn Cardinal Numbers (1966) von Robert Indiana und vier Bilder von Ruprecht Geiger entgegengesetzt. »Der Komplex der im Fridericianum ausgebreiteten Malerei ist vor allem durch den Superlativ des Formats bestimmt, die Eintracht formaler Rezepte und die ›Gongschläge‹ starker Farben.«18 Oder poetischer: »Gewalt ist der Auftakt im Halbrund, da schwindelt’s einen im Treppenaufgang…«19 Deutlich zeigt sich, dass sowohl die Zuschreibung eines Schlagwortes wie ›americana‹ durch das Feuilleton – tradiert durch die Kunstwissenschaft – als auch die Betrachtung des Ausschnitts der Rotunde weite und wichtige Teile der Ausstellung ausschließt. Zwar lässt sich eindeutig eine Stellvertreterfunktion der Arbeiten für diesen Aspekt ausmachen – dass sich allerdings Rückschlüsse auf ein übergeordnetes Konzept oder Thema einer documenta ziehen lassen, ist schon in diesem Gründungsmoment der Legende mehr als fraglich: Die documenta 4 selbst versäumt es nämlich, ein solches zu entwickeln oder zu präsentieren. Stattdessen werden Künstlerauswahl und inszenatorische Entscheidungen innerhalb eines documenta-Rates so weit demokratisiert, dass sich die Ausstellung als Nebeneinander verschiedener Bereiche darstellt, die nach Harald Kimpel ihre ideologische Stringenz und formale Überzeugungskraft verloren habe.20 Diese Problematik führt zu einem Strukturwechsel zur documenta 5, der bis heute Bestand hat: Die documenta wird hauptverantwortlich von einer wechselnden Person und deren gewählten Team entworfen und umgesetzt, einer »Autorität, die mit sachlicher Kompetenz und administrativen Befugnissen jenseits der Zwänge zum Taktieren und Paktieren der […] Weltkunstausstellung Profil verleihen soll.«21 Harald Szeemann liefert tatsächlich Konzepte, die sich in weiten Teilen als Gegenkonzepte zur bisherigen Tradition der documenta lesen lassen: Zunächst formuliert er eine Ereignisstruktur, schließlich eine Themenausstellung unter dem Titel Befragung der Realität – Bildwelten heute. Diese zeigt neben Alltagsgegenständen, Titelseiten des Spiegels und einer Abteilung mit Bildnerei der Geisteskranken auch Arte Povera, Prozesskunst und künstlerische Einzelpositionen, die als Individuelle Mythologien, eine Begriffsschöpfung Harald Szeemanns, gekennzeichnet sind. Volker Rattemeyer und Renate Petzinger befinden: »Eine Rotunde, […] in deren Künstlerauswahl, Werkauswahl, Rauminszenierungen und präzisen Problemlösungen ein gutes Stück von der Philosophie der gesamten documenta 5 sichtbar wird.«22 ›Ein 15 | Vgl. ebd., S. 60. 16 | Ebd. 17 | V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 342. 18 | R.-G. Dienst zitiert nach H. Kimpel/K. Stengel: 4. documenta, S. 36ff. 19 | G. Jappe zitiert nach ebd., S. 36. 20 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 64. 21 | Ebd., S. 67. 22 | V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 347.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
gutes Stück‹ an Bezügen zum Konzept lässt sich in der Tat vor allem an dem Iglu (1972) von Mario Merz aufzeigen, allerdings macht diese Formulierung auch deutlich, dass andere Teile der Ausstellung nicht repräsentiert werden.
Die Botschaften Einzelner Nach Volker Rattemeyer und Renate Petzinger besitzt die Rotunde der documenta 6 bzw. die dort ausgestellte Honigpumpe am Arbeitsplatz (1974-77) von Joseph Beuys im Gegensatz zu den Arbeiten der beiden vorangegangenen Ausstellungen keine besondere Schlüsselposition für das Konzept, sondern es handle sich um »die Botschaft eines großen Einzelnen, der über die eigentliche Philosophie der Ausstellung hinausweist.«23 Wie bereits weiter oben skizziert, sah sich Manfred Schneckenburger genötigt, ein Konzept zu formulieren, das schließlich unter dem Titel Kunst und Medien – Materialien zur documenta 6 gefasst wurde: «[G]anz sicher war die Grundidee des Konzeptes, richtig verstanden, eine Idee der medienkritischen 70er und nicht der medienbegeisterten 60er Jahre. Sie hat sich, obwohl oft kritisiert, als eine brauchbare Perspektive für Auswahl und Ordnung der documenta 6 erwiesen und eine Gliederung ermöglicht«24. Obwohl Fotografie und Film eine größere Wichtigkeit haben als bei vorherigen documenta-Ausstellungen, bezieht sich das sogenannte ›Medienkonzept‹ weniger auf Kommunikationsmedien, sondern eine inhärente Untersuchung, was das eigene künstlerische Medium leisten kann. Besonders deutlich wird dies durch den Katalogbeitrag Malerei als Thema der Malerei: »Durch eine solche Betrachtungsweise wird natürlich kein neuer Trend in der Malerei ausgerufen. Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Darin manifestiert sich vielmehr der Versuch einer Standortbeschreibung zeitgenössischer Malerei.«25 Möglicherweise lässt sich eine solche Standortbestimmung durch die bereits angeführten Arbeiten für die Skulptur leisten. Als exemplarisch sollte aber das Documenta-Raumobjekt (1977) von Hans Peter Reuter gelten, das sich im Umgang der Rotunde fand und eine optische Verlängerung des Raumes durch die Malerei evozierte: »Wie häufig, wenn zwei verschiedene Dinge eine Verbindung eingehen, gibt jedes einen Teil seiner individuellen Eigenschaften auf. Der Raum wird durch den Glanz und die Spiegelungen entmaterialisiert. Er erfährt durch das Bild eine Fortführung, die der Realität nicht entspricht und ihn dadurch verändert. Das Bild erhält durch den direkten Bezug auf den konkreten Raum einen Realitätscharakter, den es als Tafelbild allein nie erreicht hätte.« 26
Bazon Brock spricht den Betrachterinnen und Betrachtern des Raums die Aufgabe zu, »selber herauszufinden, was denn nun der Unterschied zwischen 2-dimensionalem Bild und 3-dimensionalem Raum sei«27 und dadurch in den Mediendiskurs der documenta 6 einzusteigen. Für Manfred Schneckenburger ist es allerdings ein anderer 23 | Ebd., S. 350. 24 | M. Schneckenburger: Vorwort, S. 17. 25 | K. Honnef/E. Weiss: Malerei als Thema, S. 45. 26 | H.-P. Reuter: Documenta-Raumobjekt, S. 122. 27 | B. Brock: Besucherschule d6, 1977, S. 125.
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Raum, der das Konzept verdeutlicht und den er als ›Nervenzentrum‹ und ›Schaltstelle‹ der documenta 6 bezeichnet.28 Viele Arbeiten oder Ausstellungsensembles können somit herangezogen werden, um sich dem Medienkonzept anzunähern. Zur documenta 7 gibt es erneut eine Auseinandersetzung mit der Frage nach einem Thema der Ausstellung. Der Künstlerische Leiter Rudi Fuchs reflektiert diese innerhalb des Katalogtextes: »Wir erwägten natürlich, der Ausstellung einen Titel zu geben. Eine Erzählung sollte einen Titel haben, damit man weiß, was einen erwartet. Zudem würde ein Titel die Ausstellung vom Gewöhnlichen absetzen, würde ihr einen ureigenen Charakter verleihen. Aber wir fanden keinen. […] Wir haben einen Teppich gewoben. Der Vergleich ist besonders angemessen, da eine Ausstellung zu machen keine intellektuelle Aufgabe ist – und dies gilt insbesondere für die unsrige. Es ist vielmehr ein Handwerk. Und eben darum, weil wir keine nervöse Ausstellung wollten, sondern eine, die der Würde der Kunst gerecht wird, mußten wir Bedingungen der Ruhe schaffen. […] Auch ohne ein theoretisches Gerüst ändert sich nichts daran, daß man für so eine umfangreiche Ausstellung den Raum der Hauptgebäude auf die eine oder andere Weise gliedern muß.« 29
In der Rotunde sind Vier Jahreszeiten (1981) von Hanne Darboven und Hase (1982) von Barry Flanagan ausgestellt. Bazon Brocks Beschreibung der Rezeptionshaltung deutet möglicherweise einen Webvorgang an, vor allem aber steht sie im Gegensatz zu den Absichten der Ausstellungsmacher, Nervosität zu vermeiden und Ruhe zu evozieren: »Locker schlendernd das Halbrund entlang, versuchen wir herauszufinden, welche Beziehungen zwischen den vielen hübsch gerahmten Einzelblättern bestehen mag. Außer der durchgehenden Nummerierung vermögen wir keinen Zusammenhang zu entdecken, obwohl wir wie der Flanagansche Hase von links nach rechts und von rechts nach links die Passagen absolvieren. Am Anfang und Ende und am Ende und Anfang ruft uns unser Kulturbewußtsein immer nur zu: ›Ich bin schon da, die Künstlerin Hanne Darboven.‹ Der verehrungs- und unterwerfungswillige Liebhaber der schönen Künste bietet sein geschichtliches Wissen auf, um der Sache etwas abzugewinnen.« 30
Tatsächlich scheint es nach Bazon Brock schwierig, dem Ensemble etwas anderes als eine Regung des ›Kulturbewusstseins‹ abzugewinnen. Gleichzeitig zeigt sich hieran, dass vorformulierte Themen bestenfalls ›Angebote‹ (Bazon Brock), gegebenenfalls aber auch ›Krücken‹ (Roger Buergel) darstellen: Das Vorgehen von Bazon Brocks Besucherschule zur documenta 7 orientiert sich an der Bewegung des Flaneurs: »Im Gehen sehen […] Im Sehen verstehen […] Im Verstehen weggehen«31. Dazu passt die oben wiedergegebene Beschreibung. Es ließe sich aber ebenso argumentieren, dass der Hase im Sprung festgestellt ist. Anhand der Nummerierung der Blätter von Vier Jahreszeiten lässt sich zweifelsfrei nachvollziehen, dass die Leserichtung vertikal ist und somit kein wiederholtes Entlanglaufen erforderlich ist, sondern eher ein kontemplatives Schlendern. Beides Umschreibungen, die eher zu Rudi Fuchs Absichten passen. Es lässt sich 28 | Vgl. M. Schneckenburger: Die documenta, S. 92. 29 | R. Fuchs: Vorwort, S. XIII. 30 | B. Brock: Besucherschule d7, S. 54. 31 | Ebd., Titelblatt.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
somit sowohl für als auch gegen eine besondere Stellung der Rotunde innerhalb des Ausstellungszusammenhangs argumentieren. Die Vorbereitung zur documenta 8 erfolgt nach der Neubesetzung der Künstlerischen Leitung mit Manfred Schneckenburger in relativer Ruhe, es werden keine Konzepte im Vorfeld bekannt gegeben. Der Künstlerische Leiter liefert keine größeren Theoriezusammenhänge, dennoch zeigt sich, dass die eigentliche Ausstellung sich sowohl auf Kunst mit zeitgenössisch-politischen Anspruch konzentriert als auch durch einige Kernthesen zusammengehalten wird.32 Das Fridericianum beherbergt »hauptsächlich solche Arbeiten, in denen der Verlust positiver Utopien zum Ausdruck kommt. Krieg, Unterdrückung, Gewalt, individuelle und kollektive Gefährdung sind die schwergewichtigen Themen«33. Hans Haakes Arbeit Kontinuität (1987) in der Rotunde kann als politisch argumentierender Appell verstanden werden und als stellvertretend für die Arbeiten im Fridericianum und mit ihnen dem postulierten ›Utopieverlust‹ gelten. Sie steht aber, wie Harald Kimpel herausarbeitet, im »Gegensatz zur Orangerie, deren Nutzung den eher heiteren, spielerischen Charakter der Architektur und ihrer historischen Umgebung betonen soll«34 und in bestenfalls lockeren Bezug zu den Arbeiten im urbanen Raum, die einen weiteren Schwerpunkt der documenta 8 ausmachen. Die Inszenierungen von Joseph Beuys, Hanne Darboven und Hans Haacke machen deutlich, dass die Rotunde als gleichzeitig exponierter und dennoch in sich geschlossener Ausstellungsort regelmäßig für ›Höhepunkte‹ einer documenta-Ausstellung genutzt wird. Der »Schlußpunkt in der Geschichte des Treppenhauses«35 als konzeptueller Ort wird aber nicht dadurch gesetzt, dass diese ›Höhepunkte‹ nicht mehr zu übertreffen wären, sondern dadurch, dass sich die ›pars pro toto«-These bereits im Moment ihrer Veröffentlichung zur documenta 8 kaum zu halten vermag. Umso erstaunlicher ist, dass sie seit dem dennoch fortlaufend reproduziert und durch einige der folgenden documenta-Ausstellungen aufgegriffen und nutzbar gemacht wurde.
Ort der Erinnerung Dies zeigt sich bereits, wenn Jan Hoet, Künstlerischer Leiter der DOCUMENTA IX, einräumt, dass »das Publikum die Gewohnheit hat, tatsächlich im Fridericianum anzufangen.«36 Auch erfährt bei ihm die Rotunde als Erinnerungsort für herausragende Inszenierungen besondere Aufmerksamkeit: »Wenn man ins Fridericianum kommt, hat man zunächst den Raum von Bruce Nauman in der Mitte […]. Dahinter haben haben wir den Brunnen von Marisa Merz neben dem Barock-Ritual von Michael Buthe. Dieser ›Bauch‹, die Rotunde des Fridericianums, ist schon eine wunderbar schöne Architektur: wir erinnern uns der Arbeiten von Rosenquist in der documenta 4, der von Mario Merz in der documenta 5 und der documenta 6 mit der Honigpumpe von Beuys. Für mich war die Honigpumpe die eindrucksvollste 32 | Vgl. H. Kimpel: Die Überschau, S. 105f. 33 | Ebd., S. 108. 34 | Ebd. 35 | V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 352. 36 | J. Hoet: documenta als Motor, S. 220.
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Gegenstand der Vermittlung Arbeit an diesem Ort. Sie hat die Verbindung zwischen Keller und Erde und Himmel geschaffen. Und auch ich wollte das Bild von Erde und Himmel dort realisieren durch bestimmte Künstler, die damit umgehen können. Wie Marisa Merz: In ihrer Arbeit sind Erde und Himmel und auch die Blumen, das Wasser. Die Honigpumpe gab den Geruch des durchlaufenden Honigs und das plätschernde Geräusch. Die aktuelle Komposition mit verschiedenen Künstlern geschah mit dem Verlangen, diese Honigpumpe zurückzubringen, als Substanz. Und ohne den Künstlern ein Programm vorzulegen, haben sie realisiert, was intuitiv in meiner Erwartung lag […].« 37
Herausgestellt werden vor allem Gewohnheit, Erwartungshaltung und Erinnerung des Publikums in Bezug auf Rotunde und Fridericianum. Jan Hoet versucht, durch eine ›Komposition‹ die ›Substanz‹ einer vergangenen Installation zurückzuholen, womit – zumindest in seiner Erläuterung – sowohl der Mythos Beuys als auch der Mythos Rotunde reproduziert werden. Ob ein Rückschluss auf dieses Anliegen in der Inszenierung der ausgestellten Arbeiten möglich ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Eine Verdichtung auf ein Konzept oder Thema der DOCUMENTA IX oder eine besondere Schlüsselposition lassen sich jedoch nicht ablesen. Zwar ließen sich durchaus Bezüge zu dem nachträglich formulierten Motto der Körperlichkeit und den Arbeiten in der Rotunde spannen, aber in der Regel werden dafür zwei eindeutigere Positionen herangezogen: Bruce Naumans Anthro/Socio (1991), auf der Homepage der documenta sogar als ›Leitmotiv‹ der DOCUMENTA IX bezeichnet, sowie die Tapete Ants (1992) von Peter Kogler.38 Das »Foyer im Fridericianum [wird] nicht als einladende Empfangssituation [gestaltet], sondern als Barriere. Die Eingangshalle ist beinahe vollständig blockiert durch einen Kubus, der (außer einem Durchlass zu Bruce Naumans Video-Installation) nur enge seitliche Umgänge zuläßt, allseitig ausgeschlagen mit Peter Koglers Ameisentapete.«39 Besucherinnen und Besuchern wird durch diese Architektur eine Art des Gehens diktiert, sie sind gezwungen, sich an Entgegenkommenden vorbeizudrängen. Auch innerhalb des Kubus werden sie bedrängt, wenn auch audio-visuell. Nachdem diese Eingangssituation überwunden war, dürfte in der Rotunde eher ein Gefühl von Freiheit oder Ruhe vorgeherrscht haben, vielleicht auch die Möglichkeit zu verweilen und die dort ausgestellten Arbeiten oder das bisher Erlebte mit anderen Besucherinnen und Besuchern zu diskutieren. Im Vergleich zu dem physisch angreifenden Entree des Fridericianums ist es bemerkenswert, dass Jan Hoet zu Beginn der DOCUMENTA IX einen eher kontemplativen Ort vorschlägt: die Klanginstallation Three to One (1992) von Max Neuhaus im AOK-Gebäude. Von dort habe man einen Überblick über die Orte der ganzen DOCUMENTA IX und wäre aus der Ausstellung, die unter und um einen rotiert, entrückt.40 Der Zwehrenturm des Fridericianums beherbergt ein Ausstellungsensemble mit Arbeiten von Jacques-Louis David, Paul Gauguin, Alberto Giacometti, James Ensor, Barnett Newman, Joseph Beuys, René Daniels und James Lee Byars, das als Collective Memory bezeichnet wird:
37 | Ebd., S. 249. 38 | Vgl. http://www.documenta.de/de/retrospective/documenta_ix vom 24.10.2018. 39 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 118. 40 | Vgl. J. Hoet: documenta als Motor, S. 220.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹ »Anhand der exemplarisch ausgewählten Exponate soll er [der Besucher] nachvollziehen können, wie die Kuratoren diese Ausstellung angelegt haben, welche Fragen sie sich stellten, welche Referenzen herangezogen, auch wie sie die Arbeiten in eine dafür erdachte Architektur platziert haben.« 41
Dieser Nachvollzug entspricht der ›pars pro toto‹-These, wenn auch an einem anderen, dafür explizit ausgewiesenen Ort. Die DOCUMENTA IX bzw. ihr Künstlerischer Leiter weisen somit durchaus Orte und Werke aus, sich der Ausstellung anzunähern und die kuratorische Konzeption nachzuvollziehen. Andere Arbeiten oder Inszenierungen, die möglicherweise Rückschlüsse auf Motive der Ausstellungsmacher zulassen, sind allerdings in der Forschung und Kritik präsenter. Die Rotunde wird von Jan Hoet zunächst ausschließlich als Ort für herausragende Inszenierungen betrachtet und er versucht eine solche, die Honigpumpe am Arbeitsplatz von Joseph Beuys zur documenta 6, durch unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler zu referieren und sich dadurch ggf. auch in die Tradition dieses Ortes einzureihen. Diese Tradition meint allerdings ausschließlich die erinnerungswürdigen Inszenierungen und nicht deren angenommene Funktion als Schlüssel für die übrige Ausstellung. Dazu waren weder die Arbeit von Joseph Beuys noch die Verbindung von Michael Buthe, Marisa Merz, Louise Bourgeois und anderen geeignet. Im Vorfeld zur DOCUMENTA IX gibt es allerdings noch eine weitere Inszenierung in der Rotunde, die möglicherweise eher als Schlüssel für eine bestimmte Lesart der Ausstellung nutzbar ist: Jan Hoet lässt sich dort für eine offizielle Fotografie rauchend und in legerer Pose auf einem Hocker sitzend aus der Froschperspektive ablichten.42 Sein Gesicht ist in der Bildmitte, er blickt ernst und einnehmend in die Kamera. Die Bögen der Rotunde drehen sich um ihn, die Fenster scheinen durch Wandführung und Perspektive zu kippen. Jan Hoet ist nicht nur Mittelpunkt, sondern auch Ruhepunkt, gibt Halt. Wie kein Künstlerischer Leiter vor ihm hat er sich selbst als Medienobjekt inszeniert, seine documenta als subjektiv gekennzeichnet und dadurch seine Sichtweise in den Mittelpunkt gerückt – eine Strategie, von der sich die Künstlerische Leiterin der documenta X deutlich abgrenzt, die aber spätestens durch Carolyn Christov-Bakargiev wieder aufgegriffen und verstärkt wird.
Tautologie oder alternative Sichtweisen? Zur documenta X wird die Rotunde für ein Statement genutzt, das, wenn auch nicht unbedingt zur Bebilderung der These der gesamten Ausstellung verwendbar, für den Nachvollzug der kuratorischen Methode Catherine Davids geeignet ist: »Die letzte documenta des Jahrhunderts mußte sich – ohne in den modischen Trend zur Jubiläumsfeier zu verfallen – die Aufgabe stellen, einen kritischen Blick auf die Geschichte, auf die jüngste Nachkriegsvergangenheit zu werfen und auf das, was davon die Kultur und die zeitgenössische Kunst umtreibt.« 43
41 | C. Herstatt: Collective Memory, S. 65. 42 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 214. 43 | C. David: Vorwort, S. 9.
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Der hier vorgeschlagene Sichtweisenwechsel – durch den Blick auf die Vergangenheit Perspektiven für das Zeitgenössische zu generieren – wird unter dem Schlagwort ›Retroperspektive‹ gefasst. Die Ausstellungsgestaltung wird von Amine Haase als ›Lehrstück mit Vermittlungsmethode‹ bzw. als ›Wandzeitung‹ bezeichnet: »Wo das ›Lesen‹ einer Ausstellung nahe gelegt wird und Bilder wegen ihrer Nachdenklichkeit, nicht aber wegen ihrer Schönheit gezeigt werden, da kann es nicht besonders lustvoll zugehen.«44 Die Rotunde mit Fotografien, Zeichnungen und Modellen des Architekten Aldo van Eyck entspricht dieser Beschreibung. Dieser verweist darauf, dass die Inszenierung in der Rotunde den Wünschen Catherine Davids entspricht.45 Diese liefert auch einen Interpretationsvorschlag für diesen Teil ihrer ›Wandzeitung‹, indem sie »die Durchbrechung der Zwänge eines dogmatischen und reduzierten Modernismus durch das kritische Aufgreifen von poetischen formalen und räumlichen Lösungen aus den Beständen der klassischen und der nicht westlichen Architektur bei Aldo van Eyck«46 postuliert. Entscheidend ist die Aussage Amine Haases, dass die documenta X trotz expliziten Vermittlungsinhalten keiner Überredungsstrategie bedarf, sondern selbst zum Nachvollzug auffordert und dadurch auch alternative Sichtweisen zulässt – was zumindest laut der Interpretation Catherine Davids in der Inszenierung Aldo van Eycks angelegt ist. Eine weitere Reproduktion der ›pars pro toto‹-These, wenn auch in abgeschwächter Form, findet sich bei Thomas Wulffen zur Documenta11: »Den Besucher der […] Documenta empfängt beim Eintritt in das Fridericianum ein leerer Raum. Was zu früheren Documenta[-Ausstellungen] zum Aushängeschild der jeweiligen Kuratoren wurde, bleibt hier leer. Unter der besonderen Perspektive der Documenta 11 aber ist diese Leere auch ein klug gewähltes Bild: Das Zentrum ist leer, achte auf die Peripherie.« 47
Er bezieht sich damit auf die Verlagerung bzw. Ausdehnung der Documenta11, die neben der Ausstellung in Kassel aus vier Tagungen bestand und damit einen entscheidenen Punkt des Konzeptes von Okwui Enwezor. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel auch, wie sehr die Kunstkritik die ›pars pro toto‹-These aufrecht erhält, da Thomas Wulffens Beschreibung des Eingangsbereichs bzw. der Rotunde als ›leer‹ stark interpretatorisch geprägt, wenn nicht schlicht falsch ist: Über drei Etagen hinweg werden etwa 4000 Seiten mit Notaten des Kontrabasssolo, opus 45 (1998-2000) von Hanne Darboven präsentiert, welche die Künstlerin mit einem Kristallschädel im Zentrum der Rotunde in Verbindung setzt. Der Katalogtext liefert Kontexte zu Künstlerin und Werk, aber weder eine Interpretation noch eine Verknüpfung mit den Themen der Documenta11. Auffällig ist der Hinweis, dass Hanne Darboven bereits mit Einzelwerken auf den documenta-Ausstellungen 5, 6 und 7 vertreten war und jetzt »die gesamte Bandbreite ihres Schaffens«48 präsentiert wird. Auch Katja Hoffmann formuliert in Bezug auf Volker Rattemeyer und Renate Petzinger, dass die Rotunde zur Documenta11 »mit großer kuratorischer Bewusstheit«49 44 | A. Haase: Ausstellung als Wandzeitung, S. 80. 45 | Vgl. D. Schwerdle: documenta X, S. 152. 46 | C. David: Vorwort, S. 10. 47 | T. Wulffen: Das leere Zentrum, S. 79. 48 | A. Nollert: Hanne Darboven, S. 58. 49 | K. Hoffmann: Ausstellungen als Wissensordnungen, S. 209.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
genutzt wurde und sieht zentrale Punkte des Ausstellungskonzeptes in Hanne Darbovens Werk: »[…] so etwa einen Modernismus-kritischen Diskurs im Hinblick auf den Werkbegriff und den Status des Originals, der nicht mehr allein an die Materialität des Objekts, sondern auch an mediale Qualitäten der künstlerischen Arbeit gebunden war. Andererseits unterstreicht die Auswahl Darbovens einen bewussten Umgang mit den historisch gewachsenen, ungleichen Geschlechterverhältnissen, die sich nicht zuletzt auch in der Documenta-Geschichte niederschlagen. Mit der prominenten Ausstellung von Darboven im Treppenhaus des Fridericianums konterkarierte die elfte Kasseler Kunstschau die noch auf den ersten Documenta-Ausstellungen praktizierte Engführung des Kunstbegriffs auf ein europäisches und zugleich auch männliches Künstlersubjekt. Die Ausstellungsinszenierung ging folglich mit der kanonischen Geschichtsschreibung einer westlichen Kunstgeschichte, die vorwiegend männliche Künstler ins Blickfeld rückte, sehr bewusst um.« 50
In diesem Zitat wird deutlich, dass Katja Hoffmann nicht die Thesen der Ausstellung aus dem Werk entwickelt hat, sondern selbige zur Interpretation dessen herangezogen hat und daher einem Fehlschluss erliegt. Möglicherweise lässt sich dieser Vorwurf für die meisten Interpretationen der jeweiligen Arbeiten in der Rotunde wiederholen, angefangen bei Wilhelm Lehmbruck auf der ersten documenta. Dem ist zu entgegnen, dass kritisch überprüft werden muss, ob die jeweilige Interpretation im Werk und dessen Inszenierung angelegt ist, was sich, ohne eine Deckungsgleichheit zu behaupten, bei Wilhelm Lehmbruck zeigen lässt. Die von Katja Hoffmann angeführten ›Geschlechterverhältnisse‹ sind aber weder im Kontrabaßsolo, opus 45 noch in dessen Präsentation referiert. Mit Blick auf die fast identische Präsentation zur documenta 7 wird die Interpretation einer Kritik am ›männlichen Künstlersubjekt‹ der früheren documenta-Ausstellungen unhaltbar – und das, obwohl diese Themen zweifelsfrei durch die Documenta11 behandelt wurden. Thomas Wulffen formuliert das Gefühl, dass viele Werke der Documenta11 sich nicht über den Zugriff des Postkolonialismus, ein weiteres wichtiges Schlagwort der Ausstellung, verstehen lassen: »[Z]uweilen scheint es, als hätten die Kuratoren Angst bekommen vor ihrer eigenen Courage. Denn wie wollen, wie sollen wir ›Kontrabasssolo‹ oder die ›1 Million Years‹ von On Kawara auf dem Hintergrund des postkolonialen Subtexts wahrnehmen?«51 Dieses Gefühl resultiert weniger aus einer Inkonsequenz innerhalb des Teams der Kuratoren, als daraus, dass diese sich genau gegen einen solchen reduzierenden Zugriff zu erwehren suchten: »Vor allem und im Wesentlichen ist sie [die Documenta11] jedoch eine Bilderstrecke, dargeboten in Form einer Ausstellungsanordnung musealen Zuschnitts. Gerade im Räumlichen der Säle, in den möglichen Wegen, zu denen sie anstiften, liegt der alphabetische Schlüssel der Documenta11. […] Wenn also für die Enzyklopädie der Documenta11 eine Form möglich und vorstellbar ist, so ist es vielleicht die einer Ausstellung, in der alle Pfade sich unaufhörlich verzweigen.« 52 50 | Ebd. 51 | T. Wulffen: Das leere Zentrum, S. 81. 52 | C. Basualdo: Die Enzyklopädie von Babel, S. 58ff.
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Mit dem Bild einer Enzyklopädie wird den Besucherinnen und Besuchern scheinbar eine verfügbare Sammlung überprüfbaren und vermittelbaren Wissens angeboten. Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass sich zwischen den Positionen Wege ›ermöglichen‹ und ›unaufhörlich verzweigen‹ – somit ein Verständnis der gesamten Ausstellung nicht möglich ist und eine Annäherung nur über das Durchlaufen der gesamten Enzyklopädie – inklusive ihrer theoretischen Positionen der Plattformen 1-4. Okwui Enwezor formuliert: »Das grundlegende Prinzip unseres Projektes ist: es ist schwierig, aber nicht unergründlich.«53 Um die Komplexität der Documenta11 zugänglicher zu machen bietet Angelika Nollert die Begriffe ›Raum‹, ›Gesellschaft‹, ›Sprache‹ und ›Geschichte‹ als ordnende Schlüsselbegriffe an.54 Hanne Darbovens Arbeit ist nach Angelika Nollert der Kategorie ›Sprache‹ zuzuordnen: »In der zeitgenössischen Kunst wird die traditionelle Gestalt des Bildes vielfach von der Sprache des Wortes begleitet oder gar durch sie ersetzt. Hierbei kann die Sprache wie das Bild ihren Ausdruck auf einer optischen Ebene finden oder aber auch gegensätzlich dazu auf einer akustischen Ebene. Dies bedeutet einen völligen Wandel in der Form der Rezeption und im letzteren Fall auch in der Materialität des Objekts. Die Möglichkeit auch über die Gestalt von Buchstaben Stimmungen oder Bedeutungen zu erfahren, erweitert das an sich sachliche Zeichen um einen visuellen Wert und macht es gleichzeitig zu einem individuellen Ausdrucksmittel. Das geschriebene Wort vermittelt so nicht allein seine Botschaft über das Entschlüsseln semantischer Einheiten, sondern auch über das Erscheinungsbild. Die Übersetzung von Schriftzeichen in eine Lautsprache bedeutet zunächst nichts anderes als die Transformation in ein anderes Medium. Die ursprünglich zweidimensionale Wirklichkeitsform der Schrift verwandelt sich dabei über Klang zu einer unsichtbaren Skulptur. […] Akustisch erfahrbare Zeichensysteme werden ebenfalls von Hanne Darboven (*1941 in München) entwickelt. Ihre Schreibbilder von (erlebter) Geschichte und Zeitabläufen sind Notationssysteme, die neben Zahlenkodierungen von Daten auch Worttexte, Diagramme und Fotografien aufnehmen. Durch die Transkription der Zahlen in Notensysteme werden die Zeichen aber auch als Musik erfahrbar. Bei deren Realisation erfährt die strenge Rhythmik, die bereits anhand des Visuellen deutlich wird, im komplexen Zusammenklang der Töne ihre finale Steigerung.« 55
Das Verhältnis von Kunst und Sprache kann somit sowohl ein reduktives als auch ein poetisches sein. In der Arbeit von Hanne Darboven ließe sich eine Schnittstelle beider ausmachen: »Eine individuelle Sprache der Musik wird in lesbaren und, wenn man will, entzifferbaren Zeichen ausgedrückt. Man kann sich auf eine Verständigungsebene einigen.«56 Somit wäre auch aus dieser Inszenierung der Rotunde eher ein kuratorischer Anspruch – das Herstellen von Netzwerken, die singuläre Ansichten mit potentiell unendlichen Dialogpartnern verbinden und dadurch sich überlagernde Bedeutungen generieren – als denn das Konzept oder Thema der Documenta11 ablesbar:
53 | O. Enwezor/A. Haase: Kunst als Teil, S. 84. 54 | Vgl. A. Nollert: Realitäten der künstlerischen Imagination, S. 122. 55 | Ebd., S. 125. 56 | A. Haase: Keine Zukunft ohne Vergangenheit, S. 56.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹ »Die Poetik dieser Ausstellung besteht nicht darin, dass man einfach eine Verschmelzung von Poetik und Politik vornimmt. Vielmehr handelt es sich um eine Poetik der Mehrung und Vielfalt, um maßvoll eingreifende kuratorische Entscheidungen, die an die Intelligenz und Tatkraft der Künstler appelliert, damit sie uns über andere Kunsttraditionen berichten, über neue Horizonte und Arbeitsmöglichkeiten, Produktionskontexte, Verschaltungen des Künstlerischen mit dem Diskursiven.« 57
Die documenta 12 greift in ihren Präsentationen nicht nur auf tradierte Museumsgestaltung und Arnold Bodes Stil und Inszenierungen der frühen documenta-Ausstellungen zurück, sie konstruiert darüber hinaus eine besondere Rotundensituation, indem eine geschwungene Treppe vom Erdgeschoss in den ersten Stock eingebaut wird. Auf dem Treppenabsatz hängt eine Reproduktion von Angelus Novus (1920) von Paul Klee. Insbesondere die Interpretation dieses Werkes von Walter Benjamin lässt sich durchaus als wenig subtilen Hinweis auf die geforderte Betrachtungsweise auf die gesamte Ausstellung lesen: Formen, die in der Regel getrennt betrachtet werden, fallen aus einer bestimmten Perspektive in eins, werden vergleichbar.58 Die unter der Treppe liegende Situation der Rotunde ist durch dunkelrot gestrichene Wände und die mit halbdurchsichtigen weißen Kunststoffvorhängen verdunkelten Fenster in ein Dämmerlicht getaucht. Die zwischen den Fenstern als Reihe installierten Monitore von Harun Farockis Deep Play (2007) treten in ihrer Leuchtkraft deutlich hervor. Betrachterinnen und Betrachter können sich auf Bänken niederlassen, die sich in Form und Stoffbezug am Halbrund der Rotunde und dem grauen Teppichboden orientieren, und das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft von 2006 über 12 verschiedenen Perspektiven verfolgen. »Man sieht den ›Clean Feed‹, das Ausgangsmaterial der Fernsehanstalten, je einzelne Spieler beider Mannschaften, aber auch computergenerierte Abstraktion des Spielflusses.«59 Der Arbeit wird im Katalogtext von Diedrich Diederichsen trotz ihres zunächst analytischen Erscheinens auch und vor allem ein ästhetischer, ja kontemplativer Wert beigemessen: »Diese [Bilder] vermitteln uns die Erkenntnis, dass das intelligente, spontane Einzelentscheidungen wie spielkulturelle Gewohnheiten und taktische Ideen absorbierende Netz aus Bezügen zwischen Ballführenden, passenden, den Ball annehmenden und laufenden Spielern, bezogen auf die Größe des Spielfeldes, ungefähr der Vielfalt von Konstellations- und Bewegungsmöglichkeiten entspricht, die ein gewöhnlicher Schwarm Guppys in einem mittelständigen Aquarium bietet. […] Das Spiel wird aber nicht nur klassifiziert, gewichtet und in andere Systeme transferiert […], wir erleben auch die majestätische Ruhe des zwei Stunden über dem Olympiastadion zu Ende gehenden Sommertages.« 60
Abstrahiert man vom Gegenstand ›Fußball‹ bleiben ein ›Netz aus Bezügen‹ unterschiedlicher, selbstständiger Akteure und eine (begrenzte) ›Vielfalt von Konstellations57 | O. Enwezor/A. Haase: Kunst als Teil, S. 85. 58 | Vgl. W. Benjamin: Begriff der Geschichte, S. 597f. Vgl. E. Jacir/S. Buck-Morss: Gift of the Past, S. 29ff., BdB. S92f. 59 | D. Diederichsen: Deep Play, S. 242. 60 | Ebd.
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und Bewegungsmöglichkeiten‹ dieser. Diese können analytisch ›klassifiziert, gewichtet und in andere Systeme transferiert‹ werden oder (wenigstens in Teilen) ästhetisch rezipiert werden – was Diedrich Diederichsen zu favorisieren scheint. Dies lässt sich mit der Sprache von Roger M. Buergel und Ruth Noack vergleichen: »Indem man Formen (und weniger zunächst Inhalte) verkettet, lassen sich neue Verknüpfungen und Kontakte zwischen Arbeiten herstellen, Korrespondenzen wie auch Unterschiede sichtbar machen und dabei auch Bedeutungen anders verteilen. Eine Form ist eigenständig und nimmt gleichzeitig doch immer wieder neue Gestalt in unterschiedlichen lokalen Kontexten an.« 61
Die Installation in der Rotunde ist also durchaus geeignet, sich den Themen und Methoden der documenta 12 anzunähern, allerdings ist auch hier eine begriffliche Verkettung von kuratorischer Setzung und der Migration der Form zu kurz gedacht. Tatsächlich fordert der über zweistündige Mehrkanal-Loop von den Betrachterinnen und Betrachtern eine Haltung ein, die weder analytische Betrachtungsweisen noch Großkunstausstellungen im Allgemeinen zulassen: einen kontemplativ-ästhetischen Rezeptionsmodus. Darüber lässt sich zwar schreiben, aber nur als ›Krücke des Vorverständnisses‹. Die Befähigung, diesen Modus einzunehmen und sich auf die Ausstellung einzulassen, sieht Ruth Noack eher beim Laienpublikum als bei Expertinnen und Experten, da Nicht-Wissen als Kapital mitgebracht wurde: »Während ein Teil des Fachpublikums zwar verstand, dass die Ausstellung teilweise auf historische belegbare Formenschicksale einging, sich aber an den ihrer Meinung nach falschen oder irreführenden Werkkonstellationen abarbeitete, schien ein anderer Teil des Publikums gerade deren spekulativen Charakter zu schätzen. […] Dass ihnen der Zugang zur Poetik der Ausstellung teilweise leichter fiel, hatte vielschichtige Gründe[.]« 62
Eine häufige Kritik an der documenta 12 ist, dass sie eben keine freie Interpretation befördert, sondern zum Nachvollzug der kuratorischen Setzungen, insbesondere in den Konstellationen (kulturell, historisch oder inhaltlich) nicht zusammengehöriger Objekte, auffordere. Eben dies trifft auch auf die erfolgte Beschreibung und Analyse der Rotunde und Deep Play zu. Ruth Noack ist sich dieser Schwierigkeit bewusst, weist aber darauf hin, dass es zum einen viele Konstellationen gab, mit denen keine kuratorische Aussage verbunden sei, und zum anderen die Betrachterinnen und Betrachter die Fähigkeit hätten, alternative Sichtweisen einzunehmen – selbst an Orten, die starke kuratorische Setzungen darstellten. Sie kritisiert ihrerseits den hegemonialen Diskurs, der sich auf gewisse Aspekte der documenta 12 konzentriert und damit stärker Interpretationen verankert habe, als sie und Roger M. Buergel durch ihre Art der Präsentation.63 Somit stellt sich abschließend die Frage, ob die Positionierung von Deep Play in der Rotunde und die Interpretation dieser Arbeit im Katalog ein Zugeständnis an die Kritik und Forschung war, welche an diesem Ort einen Schlüssel zum Konzept der 61 | C. Mörsch: Kunstvermittlung, S. 366. Glossar ohne Nachweis der Autorschaft. 62 | R. Noack: Die Ausstellung als Medium, S. 335. 63 | Vgl. R.M. Buergel/O. Enwezor/D. Joselit/R. Noack: documenta 12, Migration of Form, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015.
Die Rotunde des Fridericianums als ›pars pro toto‹
Ausstellung erwartet? Diese Interpretation stünde dem Anspruch, dass ›man sich von diesen Krücken des Vorverständnisses befreit und auf eine Ebene gelangt, auf der die Kunst ihre eigenen Netze spinnen kann‹ entgegen. Oder ob es sich dabei erneut um eine tautologische Betrachtung handelt, die jedes Werk innerhalb der Rotunde zum Schlüssel zum Verständnis der Ausstellung ernennt, welcher wiederum tatsächlich in der Lage ist, als solcher zu fungieren, da alle Werke der Ausstellung unter gewissen kuratorischen Kriterien ausgewählt wurden und sich dies an vielen auch nachvollziehen lässt? Auffällig jedoch ist, dass die Inszenierungen der documenta X, Documenta11, documenta 12 und mit Einschränkung auch die der DOCUMENTA IX jeweils als eine Aufforderung zum Sichtweisenwechsel, zur Anerkennung alternativer Wahrheiten und poetischer Netzwerke gelesen werden können, die als direkte Antwort auf die ›pars pro toto‹-These fungieren können.
Mythos und Legende – und doch eine Tradition Es zeigt sich, dass die in der Rotunde ausgestellten Arbeiten häufig nicht direkt als Schlüsselpositionen zu einem Thema oder Konzept angesehen werden können, sondern bloß stellvertretend für deren Argumentationen nutzbar gemacht werden. Dennoch hat bereits die Inszenierung zur ersten documenta gezeigt, »wie dieser von der Verkehrsfläche her strategisch bedeutsame Ort im Museum Fridericianum für einen visuellen Einstieg in ein documenta Thema«64 fungieren kann. Der Begriff des ›Einstiegs‹ erscheint hier unscharf, da der Einstieg bereits vorher gegeben wurde – z.B. zur ersten documenta mit dem Vorspann der Künstlerportraits oder zur DOCUMENTA IX mit Bruce Nauman. Umschreibungen wie ›kreisen um‹ (Treppenhaus) oder ›verdichten‹ wären zu bevorzugen. Bereits zur documenta 2 muss eingeräumt werden, dass die Rotunde nicht als Auftakt in das Thema genutzt wurde und die dort präsentierten Arbeiten für die Themen der Ausstellung nicht von herausragender Bedeutung sind.65 Eine Diagnose, die sich in den meisten folgenden Ausgaben wiederholen wird. »Erst zur documenta 4 wird die Rotunde des Museums Fridericianum auch zu jenem symbolhaft-auratischen Raum, als der sie in der Geschichtsschreibung angeblich schon immer existiert haben soll.«66 Die Inszenierung von Fireslide (1967) von James Rosenquist lässt sich ebenso wie Iglu (1972) von Mario Merz zur documenta 5 als exemplarisches Beispiel für Thema bzw. Konzept der jeweiligen Ausstellung nutzen – die oben angeführte Tautologie bereits mitgedacht. Gleichzeitig verschiebt sich mit diesen beiden Ausgaben bereits der Fokus der documenta von einer vermeintlich objektiven Qualitätsschau zu einem subjektiv-orientierten Ausschnitt des aktuellen Zeitgeschehens. Die Stärke und Prägnanz der ausgestellten Positionen begründet sich daher eher in ihrer Außergewöhnlichkeit und als Statement, weniger als Schlüsselposition für die jeweiligen Konzepte. Dies wird zur documenta 6 noch deutlicher: Zwar ist die Honigpumpe am Arbeitsplatz (1974-1977) von Joseph Beuys eines der spektakulärsten und meist diskutierten Werke, aber sie muss eher als »Botschaft eines großen Einzelnen [verstanden werden], der über die eigentliche Philosophie der Ausstellung hinaus64 | V. Rattemeyer/R. Petzinger: Pars pro toto, S. 338. 65 | Vgl. ebd. 66 | Ebd., S. 342.
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weist.«67 Ähnlich verhält es sich mit den Arbeiten von Hanne Darboven zur documenta 7 und Documenta11 und Hans Haake zur documenta 8. »Die Legende, von der Rotunde aus sei ›schon immer‹ in exemplarischer Weise in die Ausstellung eingeführt worden, sie sei ›schon immer‹ zentraler Ort für die Präsentation besonders wichtiger Arbeiten gewesen«68 muss als Ergebnis der hier vorgenommenen Zusammenstellung der Inszenierungen der unterschiedlichen documenta-Ausstellungen deutlich als Legende mit geringem Wahrheitsgehalt bewertet werden. Gleichzeitig ist wichtig zu betonen, dass sie als solche existiert und sowohl kunsthistorisch als auch in der Rezeption von Besucherinnen und Besuchern sowie der Kritik tradiert wird. Obwohl die potentiell skeptischen Begriffe des ›Mythos‹ und der ›Legende‹ beide aus dem Text von Volker Rattemeyer und Renate Petzinger stammen, affirmieren die Autoren deren Implikationen dennoch in ihrem Fazit, welches begründete Zweifel an der These oder Ausnahmen weglässt: »Bereits in der Rotunde wird dabei ein Bild der Ausstellungsphilosophie der documenta und ihrer visuellen Erscheinung gegeben. Die documenta 1 nutzt beispielsweise die Rotunde, um in das Thema einzuführen«69 oder wählt für diesen Ort Arbeiten »die Schlüsselfunktionen haben und zugleich durch ihre Präsentation erheblich zum Mythos der documenta […] beitragen.«70 Ob die Verdichtung der angenommenen Konzepte in der Rotunde nun bewusste kuratorische Setzung, tautologische Interpretation oder doch bloß Mythos ist, muss an dieser Stelle nicht abschließend für jede documenta-Ausstellung diskutiert werden. Es hat sich aber gezeigt, dass innerhalb der Rezeptionsgeschichte der documenta die Rotunde als kleines Format fest verankert ist. In dieser Zugriffsart lassen sich Charakteristika des von Carolyn Christov-Bakargiev kritisierten und abgelehnten kognitiven Kapitalismus nachweisen, gegen welchen sie Widerstand ergreifen möchte.71 Der Katalog der dOCUMENTA (13) bezeichnet die Rotunde als »assoziative[n] Raum der Forschung, indem anstelle eines Konzepts eine Reihe von Kunstwerken, Objekten und Dokumenten versammelt sind«72 und schreibt sich somit durch das Ausstellungsensemble Brain bewusst in die ›pars pro toto‹-Legende ein. Welche Hinweise das Brain auf den Geisteszustand der dOCUMENTA (13) geben kann, und ob es trotzdem als widerständige Setzung gelten kann, wird im Folgenden untersucht.
67 | Ebd., S. 349. 68 | Ebd., S. 342. 69 | Ebd., S. 357. 70 | Ebd. 71 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 72 | documenta: Das Begleitbuch, S. 24.
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Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
Auch in dieser Untersuchung soll die Rotunde des Fridericianums, und somit das Ausstellungsensemble Brain, welches »eine Reihe von Kunstwerken, Objekten, Fotografien und Dokumenten [enthält], die als programmatischer, traumähnlicher Ort anstelle eines Konzepts zusammengebracht wurden«1, als Einstieg in den Geisteszustand der dOCUMENTA (13) nutzbar gemacht werden. Dies negiert weder die kritischen Annäherungen des vorherigen Kapitels an die ›pars pro toto‹-These noch die Ambition der dOCUMENTA (13) zur Verweigerung gegenüber einer Reduktion von Wissen, sondern nimmt die Anerkennung der Ausstellungsmacher des Rotunden-Mythos an und fragt, welche, möglicherweise auch subversiven, Potentiale an diesem am deutlichsten ausgewiesenen Ort des Kuratierens tatsächlich zu finden sind.2 Auch die Lesart der Kunstkritik und -wissenschaft, die das Brain, ein angenommenes Konzept und die Künstlerische Leiterin nahezu gleichsetzen, soll damit berücksichtigt und kritisch hinterfragt werden. Es stellt z.B. Dirk Schwarze fest, dass sich so »direkt wie keine documenta-Leitung vor ihr […] Carolyn Christov-Bakargiev in die Gestaltung der Ausstellung selbst ein[brachte]. Das wie eine begehbare Vitrine gestaltete ›Brain‹ (Gehirn, Herz) in der Rotunde war ihr Bild gewordenes Konzept.«3 Die Präsentationsform der Vitrine entstammt der viktorianischen Zeit und impliziert »eine Fetischisierung des gezähmten Objekts«4: »Doch die – oft in fernen Ländern gesammelten – exotischen und fetischisierten Gegenstände erinnern auch noch an eine weitere Tradition der Zurschaustellung: an die Präsentation von Kriegsbeute.«5 In der Tat spielen Vitrinen im Brain eine entscheidende Rolle. Ob dadurch ebenfalls eine Fetischisierung von Beute vollzogen wurde, ist eine der Leitfragen des folgenden Kapitels.
1 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36. 2 | Vgl. C. Menke/S. Leeb/S. Beckstette: Reflektieren/Transzendieren, S. 85. 3 | D. Schwarze: Mehr als eine Kunstausstellung, S. 55f. 4 | J. Barry: Dissidente Räume, S. 79. 5 | Ebd.
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Abb. 1: Das Brain der dOCUMENTA (13).
Holger Liebs bezeichnet das Brain als assoziative Collage.6 Wolfgang Ulrich vergleicht das Brain mit einer Wunderkammer: »Und wie diese ehedem den Anspruch besaß, ein Abbild der gesamten Welt zu bieten und gleichberechtigt zu vereinen, was aus Kunst und Natur an Besonderem existiert, wurden auch hier Naturprodukte und Artefakte, sowie Dinge unterschiedlichster Zeiten, Kulturen und Funktionen zusammengebracht. Relikte aus dem Prager Frühling und ein technisches Werkstück von Konrad Zuse, Ateliergegenstände von Giorgio Morandi und Eva Brauns Parfüm, im libanesischen Bürgerkrieg zerstörte Museumsexponate und eine Zeichnung aus dem Vietnamkrieg: das alles war zu einem allumspannenden Gleichheitssystem zusammengefügt.« 7
Auch Werner Seppmann kritisiert, die privaten Gegenstände von Adolf Hitler seien unkommentiert ausgestellt.8 Michael Hübl vergleicht es mit einer Illustrierten, in der Disparates unkritisch nebeneinander steht.9 Interessant ist, dass das Schlagwort der ›Omnipotenzphantasie‹, das Hübl sowohl als Titel seines Textes als auch als Vorwurf gegenüber Carolyn Christov-Bakargiev verwendet, von eben dieser als Abgrenzung gegenüber solchen Inszenierungsstrategien gewählt wurde: »[V]iele Ausstellungen und vor allem die Messen basieren heute auf dem YouTube-Prinzip. Dort klickt man sich von einem Video zum nächsten, alles ist ständig verfügbar, so gut wie nichts hat etwas mit dem anderen zu tun. Es ist eine Erfahrung der Omnipotenz und zugleich eine Erfahrung der Beliebigkeit. Gerne würde ich dazu ein Gegenmodell entwickeln.« 10 6 | Vgl. H. Liebs: Es war Mord, S. 51. 7 | W. Ullrich: Skurril statt skeptisch, S. 11. 8 | Vgl. W. Seppmann: Mechanismen ideologische Formierung, S. 104. 9 | Vgl. M. Hübl: Omnipotenzphantasie, S. 30f. 10 | C. Christov-Bakargiev/H. Rauterberg: Kassel ist Australien, o.S.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
Ob dies gelungen ist, soll die folgende Analyse zeigen, die keinen Versuch darstellt, das Brain komplett zu erfassen: Sie konzentriert sich auf eine Auswahl von Aspekten, während andere vernachlässigt werden. Diese Auswahl begründet sich über das Potential, sich den Strategien und Praktiken dieses Ausstellungsensembles und des Geisteszustandes anzunähern, ohne alle möglichen Themenbereiche gleichwertig zu behandeln. So wird im Folgenden z.B. weder auf die Beiträge von Gustav Metzger, Kai Althoff und Horacio Larrain Barros eingegangen, die sich möglicherweise unter künstlerischer Verweigerung subsumieren lassen, noch auf Sloshed Ballot & Anonymous Loan (2011) von Tamara Henderson, welches Hinweise auf den nicht-logozentrischen Objektbegriff der dOCUMENTA (13) liefern könnte und eine Annäherung an die Arbeiten von Sam Durant, Giuseppe Penone und Tamás St. Turba ermöglicht. Die folgenden Unterkapitel bauen nicht streng analytisch aufeinander auf, sondern verstehen sich als essayistische Einblicke in das Brain. Deren Systematik begründet sich auch in Antizipation der Ergebnisse dieser Untersuchung.
Definieren und implizieren Die Bezeichnung Brain steht selbst für eine kleine, wenn auch hochkomplexe Form, die das Denken, Emotionen und Erinnern eines Individuums umfasst – in der Terminologie der dOCUMENTA (13) ließe sich der Begriff des Geisteszustandes anführen. Ob es sich bei diesem Individuum um Carolyn Christov-Bakargiev als Künstlerische Leiterin handelt oder um eine nicht näher spezifizierte Person, um die dOCUMENTA (13) als Ausstellungsorganismus im Gesamten oder sogar alle documenta-Ausstellungen, ist nicht eindeutig bestimmbar. In jedem Fall müsste sich der Geisteszustand sowohl im Brain in kuratorischen Setzungen niederschlagen und – sofern man der ›pars pro toto‹-These folgt – auch durch selbiges repräsentiert werden. Die konnotative Nähe von Geisteszustand und Brain legt dies ebenfalls nahe. Andere Bezeichnungen und Umschreibungen dieses Ortes, die während der Vorbereitung zur Ausstellung diskutiert wurden, verweisen ebenfalls auf die Kleinheit dieses Ortes sowie andere Implikationen, auf die im Folgenden schlagwortartig eingegangen wird: ›Core‹ wird von Eva Scharrer als weniger anthropozentrische Alternative vorgeschlagen, die die Position im Mittelpunkt der dOCUMENTA (13) herausstellt und im deutschen als ›Kern‹ synonym mit ›Samen‹, also einer kleinen Verdichtung der gesamten Erbmasse eines Organismus ist.11 ›The Puzzle‹ als eine Versammlung einzelner Fragmente, bei der den Besucherinnen und Besuchern die Zusammenstellung und das endgültige Bild zunächst unklar bleiben. Diese Variante wird fallengelassen, da die Exponate innerhalb eines Puzzles instrumentalisiert würden und nicht mehr für sich selbst stünden.12 Das ›Puzzle‹ bietet sich als Analogie zu Daniel Burens Ausstellung einer Ausstellung an, bei dem den einzelnen Farbtupfen des Gemäldes ›Ausstellung‹ in etwa so viel Bedeutungsgehalt wie den Puzzleteilen zugestanden wird. Die Formulierung taucht schließlich im einführenden Katalogtext zum Brain wieder auf, in dem es als ›Miniatur-Puzzle‹ bezeichnet wird.13 Obwohl dieser Name fallen gelassen wird, stellt Carolyn Christov-Bakargiev 11 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 87. 12 | Vgl. ebd. 13 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 24.
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fest: »But it is a puzzle. There is an order but the viewers don’t know immediatly how the pieces come together.«14 ›The Riddle‹ in Kontrast zu Ludwig Wittgensteins Schlussfolgerung: »Das Rätsel gibt es nicht.«15 Dieser sagt, wenn es unmöglich sei, eine Antwort in Worte zu fassen, ließe sich auch nicht die dazu gehörige Frage formulieren. Ist es hingegen möglich, die Antwort zu formulieren, ist das Rätsel als solches nicht existent. In der Rotunde finde sich – so Rene Gabri – möglicherweise aber doch ein Rätsel. Da sich die Semantik dieses Ausstellungsensembles – sei es nun die Frage oder deren Antwort – allerdings nicht aus Worten, sondern Dingen zusammenfügt, ist davon auszugehen, dass das Pendant zwar möglicherweise nicht in Worte fassbar ist, aber sich dennoch auflösen kann.16 Schließlich ist die Textstelle bei Ludwig Wittgenstein auch eine Kritik am Skeptizismus, so dass dieser Bezug für die dOCUMENTA (13) in Bezug die eigene Position nicht günstig gewesen wäre. Dieser kurze Einblick in den Findungsprozess, der durch den dritten Band des Kataloges Das Logbuch ermöglicht wird, macht einerseits deutlich, dass Carolyn Christov-Bakargiev zwar die Leitung inne hat, aber gleichzeitig den Diskurs sucht, andererseits, dass die dOCUMENTA (13) nicht ein komplett ausformuliertes Konzept umgesetzt hat, sondern dieses – zumindest in Teilen – entwickelt und verschoben wurde. Die ideale Lösung war innerhalb dieses Prozesses nicht immer offensichtlich: »Oh boy, what do we call it?«17 Raimundas Malašaukas, einer der Agenten im Team von Carolyn Christov-Bakargiev, macht dennoch deutlich, wie die Struktur dieser Teamarbeit ist: »Als Agent für die documenta ist man in erster Linie Teil eines für Carolyn [Christov-Bakargiev] konzipierten Gefüges. Und ich glaube, sie weiß sehr genau, aus welchen Gründen sie die Leute in ihr Team berufen hat. Es gibt dabei keine horizontale Struktur; sie ist alles andere als eine ›offene‹ Kuratorin.«18 Zurückblickend stellte Carolyn Christov-Bakargiev klar, dass für sie das Brain kein Archiv ist, sondern ein ›Kompost‹.19 Ein Archiv versammle zwar unterschiedliche Dinge an einem Ort, aber es kategorisiere diese gleichzeitig und trenne sie dadurch sowohl räumlich als auch in ihrer Bedeutung voneinander. Dadurch wird, wie Manfred Sommer es formuliert, das Einzelding vernichtet – erneut ist ein direkter Bezug zu Daniel Buren möglich.20 Die Bezeichnung ›Kompost‹ bezieht sich vermutlich auch auf die Arbeit Untilled (2011-2012) von Pierre Huyghe. Ein Kompost hingegen ermögliche den Kontakt und die Beweglichkeit der Dinge und habe dadurch das Potential, neues hervorzubringen – womit wieder der Bezug zum Samen hergestellt wird. In diese Form der Interaktion treten auch Besucherinnen und Besucher ein, die in Bezug auf den Kompost als Prosumer, also Mitautorinnen und -autoren, gelten sollen, sogar selbst als Material bezeichnet wurden.21 Sie stellt außerdem klar, dass sie den Namen Brain 14 | documenta: Das Logbuch, S. 87. 15 | L. Wittgenstein: tractato logico-philosophicus, Abs. 6.5. 16 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 87f. 17 | Ebd. 18 | R. Malašaukas/N. Setari: Im Gespräch, S. 284. 19 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Buch/K. Barad/G. Pollock/T. Sehgal: dOCUMENTA (13), Spec ulative Fabulations, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015. 20 | Vgl. M. Sommer: Sammeln, S. 236. 21 | Vgl. P. Weibel: User Art, S. 1ff.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
geradezu ironisch nutzt: »ich glaube, dass das Gehirn sehr chaotisch und voller Widersprüche ist. Es handelt sich also um ein sehr volles, chaotisches Gehirn.«22 Die Möglichkeit der Bewegung der Dinge und der Besucher zwischen ihnen, aber vor allem auch deren Vielstimmigkeit stellt Michael Lüthy in der Terminologie Carolyn Christov-Bakargievs mit der Umschreibung einer ›frenetischen Choreografie‹ heraus. Bei dieser bliebe unklar, was Ursache und was Wirkung ist. Er bezeichnet dieses Ausstellungsensemble als eine ›neue Art des Denkens‹, die den Geisteszustand selbst hervorbringen solle, bzw. den Besucherinnen und Besuchern erlaube, in die Choreografie einzutreten.23 Für den Nachvollzug dieser ›Art des Denkens‹ bietet sich das Brain als assoziativer Raum, besonders an, da sich hier nicht nur »die zahlreichen Stränge der dOCUMENTA (13) [verknüpfen]«24, sondern sich durch die Kleinheit und (vorläufige) Abgeschlossenheit des Ortes eine besondere Konzentration ermöglicht.
Geschichten erzählen Die Forderung, das an sich statische Ausstellungsensemble Brain als transformativ und beweglich zu verstehen, das nicht nur unterschiedliche Bedeutungsebenen zulässt, sondern auch neue generiert, bedarf als Grundannahme ein aktiv agierendes Gegenüber, welches nicht ausschließlich monadisch interpretiert, sondern in Dialog mit den Exponaten und anderen Rezipierenden tritt. Louis Martin stellt den besonderen Stellenwert der Sprache für einen solchen Vorgang heraus: »Die Wahrnehmung der Kunst bedurfte des gesprochen Wortes, um ein soziales Ereignis zu werden«25. Dem gegenüber steht eine Sprachlosigkeit, die Carolyn Christov-Bakargiev Kunstwerken zuschreibt, die sie als ›traumatisiert‹ versteht: »Solche Arbeiten sind sprachlose und benommene Zeugen von Konflikten, traumatisierte Subjekte, die unfähig sind, ihre Geschichte zu erzählen.«26 Sie macht diese Vorstellung innerhalb ihres Aufsatzes Über die Zerstörung von Kunst – oder Konflikt und Kunst, oder Trauma und die Kunst des Heilens am Beispiel von Walid Raad deutlich, dessen Arbeiten nur über durch den Künstler selbst durchgeführte Vorträge und Führungen zur Sprache gelangten. Sie stellt fest, dass simple Lösungen innerhalb von »Verflechtungen widersprüchlicher Elemente«27 nicht existieren: »Die Kunst ist ein gekerbter Raum, und sie ermöglicht es, im Reich der Mehrdeutigkeit und der Widersprüche, im Raum der Opazität in der Schwebe zu bleiben und zu verharren.«28 Passend zu diesem Statement bietet sie auch keine Lösung innerhalb des Aufsatzes an, sondern richtet eine Aufforderung an die Leserin bzw. den Leser: »Vielleicht können wir uns gemeinsam einige Bilder ansehen, die ich für dich zusammengestellt
22 | C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 268. 23 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Buch/K. Barad/G. Pollock/T. Sehgal: dOCUMENTA (13), Spe culative Fabulations, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015. 24 | documenta: Das Begleitbuch, S. 24. 25 | L. Marin zitiert nach D. von Hantelmann: Notizen zur Ausstellung, S. 13, BdB. S. 587. 26 | C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 14f., BdB. S. 303. 27 | Ebd., S. 16, BdB. S. 303. 28 | Ebd.
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habe.«29 Es folgen acht kurze Text-Bild-Gefüge, die teilweise auf Objekte, die sich im Brain befinden, eingehen, z.B.: »Below left is an image of Lee Miller in Adolf Hitler’s bathtub in his Munich apartment on Prinzregentenplatz, taken during the afternoon of April 30, 1945. At the suggestion of David E. Sherman, a photographer for Life magazine, she was traveling through Germany as an embedded photographer with U.S. Troops for Vogue magazine, and spent the morning at Dachau concentration camp near Munich. She stayed in the apartment for several nights with Sherman, perhaps her lover at the time, who also shot this picture. The photograph appears to have been staged by Miller and speaks about the role of art in relation to world events or politics. It is a ›traumatized,‹ [sic!] silent photograph that suggests the impossibility of speech after what she had seen at Dachau that morning. The same day the picture was taken, Hitler committed suicide in his Berlin bunker. On a symbolic and also bodily level Miller takes his place, creates a substitution; in part she becomes the victimizer, washing herself of his crimes. It is a ›mythic‹ photograph-as if she were attempting to cleanse humanity of his sins. Miller was aware of the fact that Hitler was interested in art and had taken painting classes. On the table to the right of the image there is a porcelain figurine in the realist-nationalist neo-classical style of Germany and Italy in the 1930s and early 1940s, designed by Rudolf Kaesbach and produced as an edition by Rosenthal in 1936 with the title Die Ausschauende. Inspired by the Venus de Milo, as well as by Renoir’s La Baigneuse (1870), the figure’s arm is raised. Miller also raises her arm slightly, holding a washcloth. […] Hitler is himself portrayed in the upper portion of the photograph, in what looks like a media or press image […]. The object/device on the table beside the little sculpture is probably a small device for calling servants. However, its shape alludes to that of a camera, and therefore to the device that permits the obscenity of photography’s detached power over life, a feeling akin to survivor syndrome that Miller may have felt in Dachau that morning with her camera. Her dirty boots lie at the foot of the tub and, on the nearby chair, her small watch is placed on top of the clothes she presumably wore to the camp. Time has stopped. It is a photo of the camps, but indirect, without the literality of body horror.« 30
Auffällig ist, wie sich innerhalb dieses Textes Bildbeschreibung und (kunst-)historisches Wissen mit Assoziationen und der Erzählung privater Geschichten kreuzen. Möglicherweise ist der mehrmalige Verweis auf Zeitschriften und Illustrierte auch als Hinweis auf deren Verfahren der Montage von historischen Ereignissen und persönlichen Erlebnissen zu verstehen, welche Michael Hübl als das ›Prinzip Illustrierte‹ kritisiert: »Aha! Ray, Miller, Hitler – welch subtiler Zusammenhang, dürfte es manchem dämmern. Gleiche Epoche, gleiches Karma? Alles nur Menschen mit ihren Schwächen, vom Zeitgeist umflort? Wer weiß, zu welchen Trugschlüssen das sensationslüsterne Arrangement im ›Brain‹ der d 13 führt: Die Zusammenstellung ist ausreichend will29 | Ebd. 30 | Ebd., S. 20f., BdB. S. 305.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain kürlich und oberflächlich und erlaubt somit jeder und jedem, sich eine eigene Sicht zusammenzubasteln.« 31
Michael Hübl führt innerhalb dieser kurzen Passage mit Sensationslust, Willkür und Oberflächlichkeit Kriterien ein, die es erlauben, das Brain und seine Kritik zu bewerten. An dieser Stelle aber interessanter ist der Begriff des ›Trugschlusses‹: Fragt man ausschließlich nach historisch belegbaren Zusammenhängen und kunsthistorischen Entwicklungslinien, wird schnell offenbar, dass das Brain kein produktives Anschauungsmaterial liefert. Dieser Blickwinkel wird zwar – wie das oben stehende Zitat von Carolyn Christov-Bakargiev belegt – nicht abgelehnt, aber es wird gleichzeitig nach einem Möglichkeitsraum für weitere Erzählungen und Assoziationen gesucht, deren Wert man anerkennen muss, um das subversive Potential des Brains zu nutzen. Das folgende Zitat, welches aus einem Interview innerhalb des Brain stammt, macht noch deutlicher, dass Carolyn Christov-Bakargiev die einzelnen Positionen zwar in einen Zusammenhang bringt, diese aber nicht kausal miteinander verknüpft: »Hier sehen Sie die Fotografien von Lee Miller, der Freundin von Man Ray. Ihr Auge ist das Auge im Metronom von Man Ray, er hat an dem Pendel des Metronom ein aus einer Fotografie ausgeschnittenes Auge seiner Geliebten befestigt. Hier die legendären Fotos von Lee Miller, sitzend in Hitlers Badewanne. Ich muss mich jetzt konzentrieren, also werde ich zu reden aufhören. Da sind Morandis Flaschen und dort die Baktrischen Prinzessinen. Sind sie nicht schön? Und dann die wunderbare Zeichnung aus dem Jahr 1969 von einer Vietkong-Künstlerin namens Vu Giang Huong (1930-2011). Sie war im Dschungel und ist letztes Jahr gestorben und hat zur Zeit des amerikanischen Vietnamkrieges das Alltagsleben des Vietcong dargestellt. Hier ist das Landschaftsbild von Mohammad Yusuf Asefi. Er ist überhaupt kein außergewöhnlicher Künstler, aber dennoch eine wichtige Figur, insofern er das Risiko auf sich nahm und in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren vorgab, figurative Gemälde zu restaurieren, indem er die Gestalten von Tieren und Menschen in der Nationalgalerie von Kabul mit Aquarellfarben übermalte. Auf diese Weise konnte er mehr als achtzig Gemälde vor der Zerstörung retten. Hier haben Sie eines seiner Gemälde. Dass ich es zeige, hat weniger mit der Wertschätzung seiner Malerei zu tun, als damit, dass ich auf die Geschichte eines engagierten Menschen hinweisen möchte.« 32
Folgt man der These, dass Kunstwerke mitunter jemanden benötigen, der ihnen zu Sprache verhilft, stellt sich im Brain Carolyn Christov-Bakargiev deutlich als Sprechende dar. Gleichzeitig ist auffällig, dass ihre Erzählungen zum Brain selbst fragmentarisch bleiben, sich nur für einen Bruchteil der Objekte Erzählungen der Sprecherin finden. Ein Hinweis auf ihre eigentliche Sprecherposition findet sich aber möglicherweise im letzten Teil des Titels des bereits zitierten Aufsatz: Trauma und die Kunst des Heilens. Der Begriff ›Kurator‹ leitet sich vom lateinischen ›curare‹ (heilen) ab. Dadurch, dass Carolyn Christov-Bakargiev Objekte zusammengestellt hat, hat sie die Grundlage für Erzählungen geschaffen und dadurch eventuell zur ›Heilung‹ dieser beigetragen. Die wenigen ausformulierten Erzählungen können so eher als Anleitung verstanden werden, wie Besucherinnen und Besucher mit dem Material im Brain umgehen können. 31 | M. Hübl: Eine Omnipotenzphantasie, S. 30. 32 | C. Christov-Bakargiev/H.-N. Jocks: Erzählen als Wille, S. 375.
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»Was dabei erscheint, sind die verdrängten Anteile offizieller Geschichtsschreibung, ›minor stories‹, die Überreste, die aus dem Raster dominanter Perspektiven herausfallen. Einander überlappende, multiple Blickpunkte ersetzen die Identifikationsangebote konventioneller Erzählformen.«33
Abb. 2: Mindmap von Carolyn Christov-Bakargiev.
Carolyn Christov-Bakargiev legt in einer Mind-Map aus dem Jahre 2010 bereits den Gedanken an, dass Geschichte über das Erzählen von Geschichten und Poesie zu fassen sei und die Geschichten aus 1001 Nacht als Struktur dafür dienen könnten (vgl. Abb. 2). Durch die ›Kraft der Imagination‹ könne so dem Negativen und der Zerstörung Widerstand geleistet werden.34 Um dies zu gewährleisten, muss auch die dominante Erzählung Carolyn Christov-Bakargievs so weit wie möglich zurücktreten, was durch das Fragmentarische selbiger bereits angelegt ist, und aktiv zurückgedrängt werden. Letzteres ist die Aufgabe der jeweiligen Besucherinnen und Besucher sowie der Kunstwissenschaft. Diese müssen, um Carolyn Christov-Bakargiev alternative Mikrogeschichten entgegenzustellen, selbst erzählen, sich durch den ›Virus‹ der Narration anstecken lassen. Obwohl deren Position als Sprecherin stark ist, räumt sie selbst ein, dass ihre Erzählung nur eine mögliche Deutung ist: »Auch das Geschichtenerzählen verläuft unidirektional, bekennt sich allerdings offen dazu, nur eine Deutung oder Verhandlung der Geschichte, eine Möglichkeit von vielen zu sein. Das Erzählen verneint seine faktische Autorität schon aufgrund des Charakters seiner erklärten Fiktionalität.«35 Das Verhältnis von Fiktion und Erzählen einerseits und Fakten bzw. Information andererseits wird durch die Künstlerische Leiterin zu Gunsten ersterer bewertet: 33 | C. Ruhm: Produktion unsicherer Zeichen, S. 261. 34 | Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 32f. 35 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 29f., BdB. S. 86.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain »The storyteller is so much stronger […] than any kind of facts on the Internet […]. You can always find other facts […]; when you put a thousand facts in front of people it depends on which facts you choose, you can therefore create history completly by pulling out certain facts and leaving out others. The facts do not give us any sense of truth that can be used for the flourishing of life in the planet. But the storyteller, the possibility of witness […] and the story of witness is so much more truthful, so far the witness is able to tell the story.« 36
Carolyn Christov-Bakargiev macht im Folgenden allerdings auch deutlich, dass die Macht des Erzählenden missbraucht werden und dies zu schrecklichen Erzählungen führen könne.37 Der Vorteil des Konstrukts einer Erzählung im Raum besteht neben der Zeugenschaft somit vor allem in der Kennzeichnung einer Inszenierung, die selbige kritisierbar macht.
Konstellieren und assoziieren Sowohl die Formulierung ›einander überlappender, multipler Blickpunkte‹, als auch die damit verbundene Kritik erinnern an das Verfahren der Konstellation, welches Roger M. Buergel und Ruth Noack unter dem Schlagwort Migration der Form für die documenta 12 angewendet haben. Dieses setzt heterogene Objekte in Beziehung, um gemeinsame Merkmale herauszuarbeiten, und betont dabei insbesondere den Standpunkt desjenigen, der die Konstellation beschreibt.38 Ausstellungsensembles als Konstellation zu betrachten, schließt somit das Subjekt der Analyse gleichwertig zu den Autorinnen und Autoren mit ein und beinhaltet somit auch die Möglichkeit der Diskrepanz beider Erzählungen. Jacques Rancière sieht in der Konstellation von heterogenen Objekten die Möglichkeit eines Schocks, welcher die Welt, die sich hinter den Dingen verbirgt, offenlegt.39 Er spricht in diesem Zusammenhang von der Kategorie des Mysteriums, welches unterschiedliche Elemente in Relation zueinander setzt und dadurch ein détournement anstößt: er verwendet das Bild von Tanzschritten.40 Auch Nicolas Bourriaud stellt fest, dass sich in künstlerischen Praxen keine Formen (geschlossene Strukturen, die eine Welt darstellen) zeigen, sondern Formationen: »Unlike an object that is closed in on itself by the intervention of a style and a signature, present-day art shows that form only exists in the encounter and in the dynamic relationship enjoyed by an artistic proposition with other formations, artistic or otherwise. There are no forms in nature, in the wild state, as it is our gaze that creates these, by cutting them out in the depth of the visible. Forms are developed, one from another. […] A work of art has a quality that sets it apart from other things produced by human activities. This quality is its (relative) social transparency. If a work of art is successful, it will invariably sets sights beyond its mere presence in space: it will be 36 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 127. 37 | Vgl. ebd. 38 | Vgl. S. Autsch/C. Öhlschläger: Schauanordnungen des Kleinen, S. 93. 39 | Vgl. J. Rancière: Problems and Transformations, S. 87. 40 | Vgl. ebd.
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Gegenstand der Vermittlung open to dialogue, discussion, and that form of inter-human negotiation that Marcel Duchamp called ›the coefficient of art‹, which is a temporal process, being played out here and now.« 41
Eine mögliche Konstellation innerhalb des Brains, zu der es Interpretationen von Carolyn Christov-Bakargiev gibt, soll im Folgenden kurz umrissen werden: Auf einer in den Raum eingezogenen Wand hängen sechs Gemälde von Giorgio Morandi aus den Jahren 1936 bis 1958 (vgl. Abb. 1, S. 130). Dahinter zunächst nicht einsehbar befindet sich eine Vitrine mit verschiedenen privaten Gegenständen aus Adolf Hitlers Badezimmer. Dem gegenüber, auf der Rückseite der Wand, hängen 27 Fotografien von Lee Miller und David E. Sherman. Einige davon zeigen Lee Miller in Adolf Hitlers Badewanne, nachdem sie als Kriegsfotografin den Tag im KZ Dachau verbracht hat. Carolyn Christov-Bakargiev sieht in dieser Fotografie ein ›indirektes Bild der Lager‹, in dem Miller auf symbolischer wie auch auf einer körperlichen Ebene an Adolf Hitlers Stelle tritt, eine Ersatzfigur darstellt, sich selbst von seinen Verbrechen rein wäscht.42 Innerhalb dieser Lesart sind in der Vitrine die Gegenstände das Täters zu sehen, diesen gegenüber einen künstlerischen Akt der Katharsis und des Widerstandes. Michael Hübl hat herausgestellt, dass dieser (vermeintliche) Zusammenhang leicht herzustellen sei.43 In Bezug auf Giorgio Morandi stellt Carolyn Christov-Bakargiev heraus, dass dieser sich im Angesicht von Nationalsozialismus und Faschismus in sein Atelier zurückzog, die Welt ausblendete und sein Akt des Widerstandes – das Malen der immer gleichen Flaschen – ein stiller sei, der dennoch »Machtverhältnisse durcheinander bringen kann, obwohl man sich machtlos fühlt.«44 Und: »Diese Stillleben von Morandi stellen eine Form der Subversion durch Normalität dar«45 in Kontexten, die entgegen diesem Normalzustand positioniert sind. Diese Deutung entspricht denen der Fotografien auf der anderen Seite der Wand. Die Wand stellt eine Unterscheidung zwischen direkter Konfrontation (Lee Miller) und Rückzug (Giorgio Morandi) dar. Im Brain finden sich neben den Malereien auch die abgebildeten Gefäße in direkter Nachbarschaft zu Tongefäßen von Julia Isidrez und Juana Marta Rodas. Das Beispiel einer kuratorischen Erzählung, die den Blick hinter eine Wand erfordert, macht deutlich, wie fraglich es ist, ob es Besucherinnen und Besuchern möglich ist, die konstellativ angelegten Narrative des Brains nachzuvollziehen. Gerade diese Verständnis-Barriere besitzt allerdings selbst transformatives Potential: Wie bereits angedeutet, folgt der Versuch zum Nachvollzug streng dem Text, den Carolyn Christov-Bakargiev angelegt hat. Dadurch werden die ausgestellten Objekte zu ›aus-gestellten‹ Objekten, verlieren ihr Potential zur frenetischen Choreografie der Mikrogeschichten.46 In diesem Rezeptionsmodus verhalten sich Besucherinnen und Besucher nicht auf eine Weise, die sie zu Prosumern macht, sondern sie sind Rezipienten auf die passivste mögliche Weise. Sie verweigern die Möglichkeiten, den Text der Ausstellung quer oder neu zu lesen. Die Choreografie der Ausstellugsgestaltung wäre in diesem Fall autoritär gelesen, gäbe einen deutlichen Rhythmus an. Dorothea von Hantelmann stellt 41 | N. Bourriaud : Relational Aesthetics, S. 41. 42 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 21, BdB. S. 306. Übersetzung TP. 43 | Vgl. M. Hübl: Eine Omnipotenzphantasie, S. 30. 44 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach L.B. Larsen: Giorgio Morandi, S. 100. 45 | C. Christov-Bakargiev: Die surrealistische Wende, S. 299. 46 | Vgl. D. von Hantelmann: Notizen zur Ausstellung, S. 12, BdB. S. 587.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
fest: »Ausstellungen sind kulturelle Formate, Dispositive, die auf der Gegenüberstellung eines denkenden, erkennenden Subjekt und eines erfahrenen, erkannten Objekt basieren. Ihr Paradigma ist das der Autonomie, gerade nicht das der Assoziation. Das präsentierte Objekt ist ein ausgestelltes, d.h. ein aus seinen ursprünglichen Kontexten (oder Netzwerken) herausgelöstes Werk.«47 Obwohl sich das Brain konstellativ betrachten lässt, spricht der Katalog von einem ›assoziativen Raum der Forschung‹. Der Begriff der Assoziation unterscheidet sich von dem der Konstellation dadurch, dass nicht nur der Betrachtende die Position wechselt, sondern auch das zu Betrachtende beweglich ist. Auch wenn in der Konzeption des Brains Phasen der Bewegung und des Assoziierens stattgefunden haben, haben sich die Exponate schließlich zu relativ starren Konstellationen, wie der eben nachgezeichneten, verfestigt. Sie wurden zu etwas, das innerhalb seiner Bewegung festgehalten, ›aus-gestellt‹ wird. Dorothea von Hantelmann arbeitet in Bezug auf Bruno Latour heraus, dass nicht gefragt werden muss ob, sondern wie die Elemente zusammengesetzt sind und dass es entscheidend sei, dass diese auch anders zusammengesetzt sein könnten.48 Bruno Latour bezeichnet dies als ›Komposition‹: »Even if the word [...] is a bit too long and windy, what is nice is that it underlines that things have to be put together (Latin component) while retaining their heterogeneity. Also, it is connected with composure; it has clear roots in art, painting, music, theater, dance and thus is associated with choreography and scenography; it is not too far from ›compromise‹ and ›compromising‹, retaining a certain diplomatic and prudential flavour. Speaking of flavour, it carries with it the pungent but ecologically correct smell of ›compost‹, itself due to the active ›de-composition‹ of many invisible agents [...]. Above all, a composition can fail and thus retains what is most important in the notion of constructivism [...]. It thus draws attention away from the irrelevant difference between what is constructed and what is not constructed, toward the crucial difference between what is well or badly constructed, well or badly composed.« 49
Konstellation, Komposition und Choreografie werden als Gegenbegriffe zur Kritik verstanden, die dekonstruktiv vorgeht. Sie sind »darauf ausgerichtet, Wege zu finden, um die von der Kritik aufgebrochenen Bindungen bewusst neu zu verknüpfen: ein Regelwerk zu entwickeln, das gut funktioniert, sowie eine Assoziation zu entwickeln, die [...] [F]ragen verhandeln kann.«50 Gelingt dies, wäre Édouard Glissants Ideal eines Museum als Archipel umgesetzt, welches als Gegenmodell zu einer dominanten Sprecherposition zu verstehen ist: »Dementsprechend hätte es keine vereinheitlichende Synthese gegeben, sondern ein Beziehungsnetz verschiedener Traditionen und Perspektiven. Nicht vorher festzustehende Erkenntnisse sollten illustriert werden, sondern das Museum sollte ein aktives Laboratorium sein«51. Die Künstlergruppe Group Material spricht von einer Partizipation des Publikums durch Interpretation: »We are not interested in making definitive evaluations or declarative statements, but in creating situations
47 | D. von Hantelmann: Die documenta, S. 149. 48 | Vgl. ebd., S. 147. 49 | B. Latour zitiert nach ebd., S. 146f. 50 | Ebd., S. 147. 51 | E. Glissant/H.U. Obrist: Le 21ème siècle, S. 10, BdB. S. 294.
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that offer our chosen subject as a complex and open ended issue. We encourage greater audience participation through interpretation.«52 Oliver Marchart findet überraschenderweise gerade in einer deutlichen Sprecherposition die Möglichkeit, über Konflikt ins Gespräch zu kommen, und verweist auf Jérôme Sans’ Analyse des Wortes Exposition: »An exhibition is a place for debate, not just a public display. The french word for it, exposition, connotes taking a position, a theoretical position; it is a mutual commitment on the part of all those participating in it.«53 Ruth Noack beschreibt die Hängungen der documenta 12 als Konstellationen, »die sich historisch, genealogisch, biografisch, formanalytisch, mal spielerisch, mal spekulativ, mal kunsthistorisch zwingend begründen lassen. Keine neue Kanonbildung, eher eine Kosmologie von Mikroerzählungen auf unterschiedlicher Ebene war intendiert.«54 Dies erinnert deutlich an Carolyn Christov-Bakargievs intendierte »Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden Maßstäben«55. Es zeigt sich, dass eine Vielzahl von Begriffen nicht trennscharf und teilweise konkurrierend verwendet werden. Die genutzten Metaphern führen zu weiteren Schwierigkeiten. Dennoch wird in allen Fällen eine bestimmte Art umschrieben, Ausstellungen zu machen (Konstellation, Choreografie). Durch das Medium selbst droht allerdings eine Verfestigung des Ausgestellten, es bedarf somit eines aktiv eingreifenden Gegenübers, das ebenfalls daran interessiert ist, die Dinge in Bewegung zu halten (Assoziation). Die hier vorgeschlagene Unterscheidung von Konstellation und Assoziation ist vergleichbar mit Michel de Certeaus Unterscheidung von Raum und Ort, bei der der Ort eine Konstellation aus festen Punkten zueinander ist. Raum hingegen ist geprägt durch die Variablen von Zeit und Bewegung, eine Aktualisierung durch handelnde Subjekte.56 »[D]er Raum [ist] ein Ort, mit dem man etwas macht.«57 Assoziation ist somit eine Verkettung von Einheiten, die aus unterschiedlichen (menschlichen und nicht-menschlichen) Elementen besteht, statt auf kategoriale Unterschiede zu bestehen und vorgefundene Strukturen absolut zu setzen.58 Gerade die starke Sprechposition von Carolyn Christov-Bakargiev erlaubt es, sich ebenfalls als Sprecherin oder Sprecher zu positionieren, ihr zuzustimmen, ihr zu widersprechen und eigene Geschichten zu erzählen. Sich selbst zu assoziieren. Für diese Analyse des Brains soll im Folgenden also assoziiert werden. Das heißt nicht, die vorgeschlagenen »Denk-Displays«59 zu negieren, sondern die Denkbewegung wieder aufzunehmen, um die Objekte und vorgeschlagenen Konstellationen in neue Zusammenhänge zu bringen – untereinander und mit Dingen außerhalb des Haupttextes, um so zu den Mikrogeschichten außerhalb der dominanten Erzählung des Brains zu gelangen.
52 | Group Material: Democracy, S. 3. 53 | J. Sans zitiert nach O. Marchart: There is a Crack, S. 344. 54 | R. Noack: Die Ausstellung als Medium, S. 338. 55 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36. 56 | Vgl. M. de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 218. 57 | Ebd. 58 | Vgl. D. von Hantelmann: Die documenta, S. 145. 59 | M. Babias: Kunst in der Arena der Politik, S. 21.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
Abb. 3: Vitrine im Brain mit dem Palettmesser von Etel Adnan und Objekten, die im libanesischen Bürgerkrieg zerstört wurden.
In einer der Vitrinen (vgl. Abb. 3) befinden sich drei Objekte, die in der bisherigen Rezeption des Brains wenig Beachtung fanden: ein Palettmesser von Etel Adnan, einer aus Beirut stammenden Künstlerin, und zwei Objekte aus dem Nationalmuseum in Beirut. Diese Zusammenstellung scheint über den Ursprungsort eine kategoriale Gemeinsamkeit der Objekte nahezulegen. Mögliche Irritationen, wie die Tatsache, dass die Künstlerin seit den 1950er Jahren in den USA lebt, werden zunächst ausgeblendet und sind der Präsentation weder explizit noch implizit zu entnehmen. Aus dem Katalog zu den anderen beiden Objekten: »Das Nationalmuseum in Beirut befindet sich dort, wo während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) die Front verlief. Durch Artilleriebeschuss, Bombardierungen und Überschwemmungen, denen das Museum im Laufe der 1980er Jahre immer wieder ausgesetzt war, wurden viele archäologische Gegenstände irreparabel beschädigt. Zwei Gegenstände, die jetzt die Katalognummern 13630 und 28108 tragen, entstanden, als Objekte, die sich nebeneinander befanden, schmolzen und miteinander verschweißt wurden. Nummer 13630 ist eine Mischung aus Metall-, Elfenbein-, Glas-, und Terracottateilen, die zufällig nebeneinander lagen, als in einem Lagerraum ein Feuer ausbrach. Wie Ann-Marie Afeiche, Kuratorin am Nationalmuseum, sagt, ist es ›schwierig […] die verbrannten Objekte […] mit Sicherheit zu identifizieren.« 60
Die vergebenen Katalognummern zeugen von dem Wunsch nach Klassifikation der Objekte, der Rückführung in ein System. Gleichzeitig zeugt ihre Existenz davon, dass Dinge auch im Museum mitunter nur zufällig nebeneinander liegen, verschmelzen sie dadurch jedoch zu einer Einheit – auch einer Sinn-Einheit – sind sie schwierig zu identifizieren. Vor allem sind in diesem Fall die Einzeldinge wortwörtlich vernichtet. Die Kuratorin des Nationalmuseums betont aber die Zufälligkeit dieser Einheit. 60 | L.B. Larsen: Objekte, S. 102.
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Das dritte Objekt ist leichter zu identifizieren. Es ist selbst kein Kunstwerk, sondern ein Werkzeug, das auf den Prozess der Arbeit, die Künstlerin und das Werk verweist. Die Werke Etel Adnans, die zum Teil mit diesem Palettmesser hergestellt wurden, finden sich außerhalb des Brains in der documenta-Halle. Um das Palettmesser an dem einen Ort und die Malereien an dem anderen in Verbindung bringen zu können, ist eine räumliche Bewegung ebenso erforderlich, wie die Lektüre der Metatexte. Dennoch ermöglicht dies nicht, die Malereien Etel Adnans intellektuell zu erschließen. Sie schreibt: »Abstrakte Kunst entsprach dem poetischen Ausdruck; ich brauchte keine Wörter, sondern konnte Farben und Linien verwenden. Ich musste nicht einer sprachlich orientierten Kultur angehören, sondern einer offenen Ausdrucksform.«61 Die beschriebene Vitrine kann somit als Appell verstanden werden, den gegebenen Text als fluide, mitunter zufällig zu lesen, Dinge miteinander zu assoziieren, die manchmal – zufällig oder intendiert – nah und manchmal fern zueinander sind. Sie eröffnet den Möglichkeitsraum offenerer Ausdrucksformen und bietet an, kleine Narrative – sprich: Mikrogeschichten – zu entwickeln und sich selbst, möglicherweise über das Palettmesser, das man in die Hand nehmen könnte, zu assoziieren. Dabei besteht immer auch das Risiko, dass diese Erzählungen sich – zumindest in der eigenen Vorstellung – verfestigen und dadurch die Objekte sowie das gesamte Objekt-Gefüge ›aus-gestellt‹ werden.
(De-)Lokalisieren In seiner Absichtserklärung von 1969 legt Lawrence Weiner unter anderem fest, dass seine Werke sowohl von ihm selbst, einer anderen Person oder auch gar nicht angefertigt werden müssen. Sie existieren auch ohne Verwirklichung bereits vollständig in ihrer Konzeption.62 Für die dOCUMENTA (13) entwickelte er THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF (2012), über dessen Verwirklichung Eva Scharrer im Begleitbuch schreibt: »Weiners Arbeit […] ist der Glaswand eingeschrieben, die die Rotunde im Fridericianum – sie gilt als das ›Herz‹ aller documenta-Ausstellungen und beherbergt nun die Sektion ›Brain‹ – abschirmt.«63 Statt einer Beschreibung oder Analyse der tatsächlichen Arbeit verweist Eva Scharrer direkt auf deren Platzierung, die mit den Assoziationen, die die Arbeit selbst auslösen kann, korreliert: »[Sie] deutet auf eine Stellung im Zusammenhang einer konzentrischen Struktur hin. Konzentrizität ist ein geschlossenes System: Es gibt – anders als bei einer ins Unendliche offenen Spirale – keine Öffnung. ›Die Mitte von der Mitte von der Mitte von‹ könnte der Ort sein, den man einnimmt, wenn man auf den Kreis blickt, der einem auf einer Karte anzeigt: ›Sie sind hier‹, oder ein ins Wasser geworfener Stein, wenn die konzentrischen Wellen auf der Wasseroberfläche die Stelle anzeigen, an der er untergegangen ist.« 64
61 | E. Adnan zitiert nach E. Scharrer: Etel Adnan, S. 180. 62 | Vgl. L. Weiner: Absichtserklärung, S. 22. 63 | E. Scharrer: Lawrence Weiner, S. 132. 64 | Ebd.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
Als weiterer Hinweis auf die enge Verbindung zwischen dem Text und seiner Platzierung kann die Materialangabe in der Werklegende verstanden werden, da diese nicht etwa ›weiße Klebefolie auf Glas‹ lautet, sondern »SPRACHE UND DAS MATERIAL, AUF DAS VERWIESEN WIRD«65. Zur Sprache: Manifestiert sich die Sprache als geschriebener Text anstatt als gesprochene Laute, wird, wie für die Arbeiten von Lawrence Weiner üblich, dieser komplett in Großbuchstaben und im Regelfall in einer eigenen Schriftart wiedergegeben. Auch die Anordnung dieses Textes folgt, vergleichbar mit konkreter Poesie, in leichten Variationen einem gleichbleibendem Schema: als Dreizeiler mit leicht ansteigender Zeilenführung, welche die Dreiteilung auch sichtbar werden lässt, wenn die Teile nicht untereinander, sondern, wie in dem hier näher betrachteten Fall, nebeneinander gesetzt werden. Darüber hinaus visualisiert das ansteigende Textbild sowohl einen sonst nicht in Schrift sichtbaren Satzakzent, als auch einen semantischen Cliffhanger. Das eine nähere Erläuterung einfordernde Satzfragment ›the middle of‹ eröffnet durch seine Valenz eine Leerstelle, die durch die Wiederholung des Fragmentes zugunsten einer neuen – oder bloß verschobenen – Leerstelle gefüllt wird. Das Fragment wird dreifach aneinandergereiht, allerdings ist eine Fortsetzung ad infinitum vorstellbar, da die dritte Wiederholung ebenfalls auf ›of‹ endet – also wieder eine Valenz aufweist – und auch nicht durch einen Punkt oder etwas Vergleichbares abgeschlossen wird. Lawrence Weiner spricht sich selbst gegen eine unendliche Lesart aus, allerdings drückt er auch eine Ungewissheit über die endgültige Form des Werkes aus, da man noch nicht weiß, was es ist und wo es endet.66 Unabhängig vom Satzbau weist das Wort ›middle‹ von sich aus bereits eine Valenz auf, da immer gefragt werden muss, welche Mitte gemeint ist – wobei die Angabe mit jeder Wiederholung nicht genauer, sondern allgemeiner wird und somit die Frage nach der Spezifikation der Mitte an Interesse verliert und die tatsächliche Mitte, das heißt die konkret gegebene Verortung, in den Fokus rückt. Zum Material: Gemeint ist nicht das, woraus der physische Text besteht, sondern das, worauf er verweist. Das ist wie oben gezeigt, sowohl ein Bezugssystem, auf welches durch die Valenzen verwiesen wird, als auch eine konkrete Verortung. Beides ist austauschbar, ohne das Kunstwerk als solches zu verändern – obwohl die jeweiligen Interpretationen stark voneinander abweichen können. Während das Bezugssystem nicht unmittelbar ersichtlich ist, wird der Ort durch die Platzierung des Werkes bestimmt. Dieses Ungleichgewicht wird auch im Katalogtext von Eva Scharrer deutlich, die den Ort der Arbeit – die Glaswand, die die Rotunde im Fridericianum abschirmt – direkt benennt, während mit allen documenta-Ausstellungen ein mögliches Bezugssystem zwar vorgeschlagen, aber nicht absolut gesetzt wird.67 Die Platzierung auf einer Glaswand hat zur Folge, dass die Arbeit sowohl von vorne (aus dem Brain hinaus) als auch von hinten (aus dem abgedunkelten Durchgangsraum ins Brain hinein) betrachtet werden kann. Vorne und Hinten definieren hier gleichsam ein Innen und Außen. Diese Mehrseitigkeit der Arbeit und die entscheidende Bedeutung ihrer Platzierung machen nachvollziehbar, warum sie von Lawrence Weiner als Skulptur bezeichnet wird.68 Diese 65 | documenta: Das Buch der Bücher, S. 768. 66 | Vgl. L. Weiner: Conversations between Artists and Agents: Lawrence Weiner, Kassel 07.06.2012. 67 | Vgl. E. Scharrer: Lawrence Weiner, S. 132. 68 | Vgl. L. Weiner: Conversations between Artists and Agents: Lawrence Weiner, Kassel 07.06.2012.
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Interpretation der Arbeit als Festschreibung der Rotunde als Mittelpunkt der documenta erscheint trivial. Und zwar sowohl aus kunsthistorischer Sicht, die diesen Ort häufig als programmatisch versteht, als auch aus dem Blickwinkel der dOCUMENTA (13), die explizit kommunizierte, dass sie dort ihr Brain installierte. Auch wenn die Bezugssysteme der Mitte durchspielbar bleiben (documenta, Kunstwelt, Kassel, usw.), ändert sich an dieser Interpretation wenig. Weder im Begleitbuch, dem Buch der Bücher (Drucklegung: 5. April 2012 sowie 27. April 2012)69, noch in frühen Versionen der Broschüre Karten / Teilnehmer findet sich ein Hinweis darauf, dass eine weitere Manifestation der Arbeit auf der dOCUMENTA (13) zu finden ist, allerdings lassen bereits frühe Ausstellungspläne der Karlsaue darauf schließen, dass eine solche am Marmorbad in der Karlsaue geplant war.70 Die endgültige Positionierung ist somit scheinbar recht kurzfristig vor der Eröffnung beschlossen worden und findet sich an der Seitenwand des sogenannten Hugenottenhauses, welches ein künstlerisches Projekt von Theater Gates beherbergte. Während die Bezugssysteme vermutlich ähnlich bleiben, ist die Verortung eine dem Brain völlig gegenläufige. Weder für die Geschichte noch für die Programmatik der Ausstellung handelt es sich um einen bedeutenden Ort, es ist kein Teil eines Museums oder wurde bereits traditionell als ein kunstnaher Ort genutzt, im Gegenteil: Es handelt sich laut des Einführungstextes von Carolyn Christov-Bakargiev im Fridericianum um einen vergessenen Ort, ein leerstehendes Gebäude, dass ohne die Zuschreibungen der dOCUMENTA (13) weder von den Bürgerinnen und Bürgern Kassels noch den internationalen Kunstinteressierten beachtet worden wäre. An diesem marginalisierten Ort findet sich eine vierfache Manifestation der Arbeit: zwei Mal in Schwarz, zwei Mal in Rot. Dies ließe sich sowohl als eine längere Reihung von ›the middle of‹ – und somit eine Zunahme von Bezugsebenen – als auch eine mehrfache Emphase der hier verorteten Mitte interpretieren. Verliert bereits durch das nochmalige Auftreten der Arbeit die Mitte im Fridericianum ihr Alleinstellungsmerkmal, wird sie nun zu Gunsten einer anderen Mitte selbst marginalisiert. Sowohl durch die Eigenschaft der Arbeit, sich an jedem Ort manifestieren zu können, als auch der Auswahl der beiden tatsächlichen Orte, die diametral gegensätzliche Topoi markieren, lässt sich der Mittelpunkt der dOCUMENTA (13) je nach Standpunkt beliebig verschieben. Dies muss nicht nur für topografische Orte in und außerhalb von Kassel gelten, sondern auch für geistige Standpunkte und Sichtweisen. Die zunächst als trivial angenommene Interpretation der Manifestation in der Rotunde wurde durch eine werkimmanente Verknüpfung mit anderen Manifestationen in ein komplexes Netzwerk überführt. Doch gerade die Einfachheit, mit der sich die Arbeit zunächst erschließen lässt, ermöglicht die Irritation und Erkenntnis über ihre tiefere Bedeutung. Diese Arbeit stellt darüber hinaus eine Besonderheit dar, da sie nicht (nur) eine Aussage im Sinne der Ausstellung trifft, für die sie ausgesucht wurde, sondern etwas über die Ausstellung selbst aussagt, somit selbst als Metatext vermittelnd tätig wird. Lawrence Weiner bestätigt diese Lesart, als er im Gespräch feststellt, dass er trotz der zentralen Positionierung seiner Arbeit nur einer von vielen Engeln sei, die auf einem Nadelkopf
69 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 535. Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 769. 70 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »MEPP_d13 SFWC_1«: Masterplan Karlsaue vom 20/12/2011.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
tanzen müssten.71 Sowohl durch ihre Positionierung im Fridericianum auf der Grenze zum Brain als auch ihre Verdopplung verweist THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF gleichzeitig auf den Betrachterstandpunkt sowie auf Mechanismen des Ein- und Ausschlusses. Als einen weiteren Verweis im Brain auf die Strategie der (De-)Lokalisierung ließen sich auch die Objekte und Skizzen in Bezug auf das Gegen-Denkmal Aschrottbrunnen (1987) von Horst Hoheisel lesen. Nicht nur verweisen sie ebenfalls auf einen Ort außerhalb des Brain, sondern auch auf eine künstlerische Position Kassels, die ursprünglich außerhalb der documenta existiert und nun über das bindungsfreudige Konstrukt des Geisteszustandes mit dieser assoziiert wird.
Relationen herstellen 72 Die im Brain prominent präsentierten Baktrischen Prinzessinnen lassen mannigfaltige Bezüge zu, z.B. zu den großen Bamiyan-Buddhas, welche 2001 durch die Taliban gesprengt wurden.73 Gerade durch ihre Kleinheit war es möglich, die fragilen Figuren vor Zerstörung und Verlust zu bewahren. Über die Bemerkung Carolyn Christov-Bakargievs, dass die Größe der im Brain ausgestellten Baktrischen Prinzessinnen in etwa den heutigen Smartphones entsprächen, lassen sich andere Dinge und Kunstwerke, die in der Hand gehalten werden und sich z.T. auch außerhalb des Brains finden, assoziieren.74 Dies stellt sich als besonders fruchtbar heraus, wenn diese selbst Schauanordnung sind, die die Relation zwischen Besucherinnen und Besuchern und Dingen, hier insbesondere Smartphones, hinterfragen. Der Alter Bahnhof Video Walk (2012) von Janet Cardiff & Georges Bures Miller wurde vor Ort am alten Kasseler Hauptbahnhof über ein Smartphone und speziellen binaurale Kopfhörer rezipiert.75 Der Ort der Vorführung – zu Beginn eine bestimmte Bank in der Bahnhofshalle – ist öffentlich. Nur ein Ausschnitt des Sichtfeldes wird durch das in der Hand gehaltene Display eingenommen, könnte als privater Raum angesehen werden. Dort zeigt sich allerdings ebenfalls der Bahnhof, der von eben dieser Bank aus aufgenommen wurde. »Als RezipientIn ertappt man sich [...] immer wieder dabei, peinlichst genau die Perspektive Janet Cardiffs treffen zu wollen und [… das] Wiedergabegerät verwandelt sich in der Handhabe schleichend zur Kamera. So gesehen versucht man interaktiv zu jener einen, objektiven Realität zurückzukehren.«76 Damit ist die beim Film üblicherweise hauptsächlich aufnehmende Haltung bereits durch einen der Schauanordnung immanenten Auftrag gebrochen. Auch die Position des Sitzens wird schnell durch eine sprachliche Aufforderung aufgelöst, den auf dem Display zu sehenden Musikern zu folgen.77 So beginnt man, auf 71 | Vgl. L. Weiner: Conversations between Artists and Agents: Lawrence Weiner, Kassel 07.06.2012. 72 | Der folgende Abschnitt enthält überarbeitete Passagen eines bereits publizierten Aufsatzes. Vgl. T. Pickartz: Instructions and Advice. 73 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 27, BdB. S. 309. 74 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/H.-N. Jock: Erzählen als Wille, S. 369. 75 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sOkQE7m31Pw vom 24.10.2018. 76 | K. Baumgartner/M. Weinberger: Alter Bahnhof Videowalk, S. 22. 77 | Vgl. ebd., S. 21.
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den Spuren der namenlosen Unbekannten, die hier als Janet bezeichnet wird, wandelnd, den einen Raum zu durchschreiten, während man gleichzeitig zwei sich ähnelnde Räume visuell und auditiv wahrnimmt, diese sich überlagern und durchmischen. Für Alter Bahnhof Video Walk werden Themen wie Abschied, Vergänglichkeit, Abwesenheit und Trauer anhand des vorgefundenen Ortes neu verhandelt.78 Besonders eindrücklich ist der Besuch auf einem heute unscheinbaren Gleis, während Janet berichtet, dass hier die Züge warteten, in denen Kasseler Juden in die Arbeits- und Vernichtungslager deportiert wurden. Immer wieder richtet sich Janet direkt an die Rezipierenden und hält so die scheinbar persönliche Verbindung aufrecht. Da man direkt angesprochen wird, positioniert man sich selbst nicht bloß als abstrakte Seh-Instanz, losgelöst vom Objekt der Wahrnehmung, sondern fühlt sich gleichzeitig als Teil des Wahrgenommenen.79 Dazu den Weg des Auditiven zu nutzen, scheint eine erfolgreiche Strategie zu sein, wie Pamela Scorzin herausstellt: »die Augen vor einer Inszenierung oder Szenographie kann man schließlich leicht verschließen, die Ohren aber umso viel schwerer. Tatsächlich beginnen die Ohren nun auch zu sehen.«80 Gleiches gilt für das Begreifen durch die Hände, das Abschreiten durch die Füße und andere Formen der relational-partizipativen Wahrnehmung. »[D]as Erfassen von Räumlichkeiten [ist] nicht auf die Tätigkeit der Augen begrenzt, denken wir nur an die Ohren, die räumliche Tiefe hörbar machen, oder an die tastende Hand, die räumliche Verhältnisse erschließen kann«81. Analog zu Roland Barthes Idee, das Kleine müsse mit einem Blick zu erfassen sein, scheint es dadurch, dass es klein ist, in die Hand genommen, mitgenommen, erfasst und begriffen werden kann, schnell und einfach anzueignen zu sein – trotz einer möglichen Komplexität, die dem Ding zu eigen ist.82 Schaut man sich Alter Bahnhof Video Walk losgelöst vom Ort an oder entschließt man sich, diesen nicht zu aktualisieren, z.B. indem man sich einen stillen Sitzplatz sucht, wird das Werk selbst gar nicht erst konstituiert. »Der Rezipient ist kein Betrachter oder Zuschauer, der ein künstlerisches Artefakt oder eine Aufführung aus sicherer Distanz betrachtet, vielmehr bringt er den künstlerischen Prozess, durch seine physische Partizipation, überhaupt erst hervor.«83 Gehen (wie auch andere Handlungsweisen) als künstlerische Praktik zielt nicht auf die Schaffung beständiger Werke ab, sondern auf Erfahrung. Das »Herstellen von Relationen, das Wieder-Finden und Neu-Erfinden der Beziehung zwischen Subjekt und Raum in einer veränderten soziokulturellen Lebenswirklichkeit steht im Zentrum [...] jener ästhetischen Prozesse, die so flüchtig sind, wie der Akt des Geschehens selbst.«84 Obwohl der Film auf dem Display des Smartphones unveränderlich und wiederholbar ist, ist es die entstandene Beziehung zwischen Subjekt, Raum und Kunstwerk, die das Kunstwerk in der Relation erst konstituiert. Rabih Mroué beschäftigt sich in seiner Werkreihe The Fall of a Hair (2012), die aus einem Vortrag, Fotografien, Filmen und Objekten besteht, mit dem Sterben syrischer Protestierender, die ihren eigenen Tod aufnahmen, während sie versuchten, die Krisensituation mit ihren Smartphones zu dokumentieren. Rabih Mroué bietet damit 78 | Vgl. R. Fischer: Walking Artists, S. 258. 79 | Vgl. D. Zyman: At the Edge, S. 13. 80 | P.C. Scorzin: Metaszenografie, S. 309. 81 | S. Krämer: Notationen, S. 30. 82 | Vgl. R. Barthes: Vorbereitung zum Roman, S. 128. 83 | R. Fischer: Walking Artists, S. 254. 84 | Ebd., S. 289f.
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»einen […] begeh- und erfahrbaren Denkraum«85 an, verbindet die visuelle Erfahrung von Tod und Sterben mit dem körperlichen Empfinden der Rezipierenden. Er macht sich das Primat des Fühlens, des Selbst-Erlebens, über das bloße Sehen zu nutze. Er sagt: »Ich möchte keine Beobachter, kein Publikum, das kommt, um sich zu entspannen oder sich identifiziert in diesem Raum. Ich will, dass die Zuschauer engagiert sind, involviert, dass sie sich mit dem, was sie sehen als Realität auseinandersetzen. Mit dem Raum und dem Jetzt.«86 Mit einer zunächst scheinbar völlig harmlos wirkenden Schauanordnung ermöglicht Rabih Mroué auch den Besuchern der Ausstellung in Relation mit dem Werk zu treten. Auf einem Tisch liegen unter dem Titel Thicker than Water einige Daumenkinos bereit, die Filme beinhalten, die den Tod des Aufnehmenden dokumentieren. In diesem Fall ist es nicht nur so, dass die Teilnahme des Rezipienten das Werk erst vollständig macht, wie bei Alter Bahnhof Video Walk, sondern der Film tatsächlich erst abläuft, wenn man ihn körperlich aktiviert. Die spielerische Unbedarftheit der Rezipierenden bricht Rabih Mroué allerdings damit, dass die Daumenkinos auf Stempelkissen liegen und die Finger der Nutzer schmutzig machen, man hat – zumindest metaphorisch – selbst Blut an seinen Fingern. Dadurch wird deutlich, dass man in dieser Choreografie nicht etwa als Stellvertreter der Opfer, somit der Leidtragenden fungiert, sondern in die Rolle der Täterinnen und Täter gelangt, die unbedarft das Dispositiv genutzt und dabei zuvor Ungeahntes angerichtet hat: Durch die Aktivierung des Daumenkinos, lösen Rezipienten als Prosumer den tödlichen Schuss immer wieder aus, sorgen immer wieder dafür, dass innerhalb der Narration ein Leben ausgelöscht wird. Dies ist nach Rabih Mroué »ein szenografisches Konzept, dessen Schock die nachhaltigere, weil nicht tödliche oder traumatisch lähmende, kathartische Wirkung entfaltet.«87 Bei The Fall of a Hair / Thicker Than Water zeigt sich deutlich, dass die vermeintlichen Prosumer nur in der Lage sind, hervorzubringen, was bereits in der Arbeit angelegt ist. Es bleibt, was Erika Fischer-Lichte als Merkmale des Films herausstellt: Die Inhalte sind unveränderlich, nur in der Erfahrung derjenigen, die die Arbeit aktiv rezipieren, und eventuell derjenigen, die diese Rezipierenden beobachten, gibt es Möglichkeiten der Veränderung. Diese zeigt sich aber in keinem der Beispiele in einer Transformation des Dargestellten, sondern in einer Umpositionierung der Rezipierenden. Es sollte somit stets kritisch hinterfragt werden, ob die Möglichkeit, in Ausstellungen zu partizipieren, also auch den Film im Gehen zu sehen oder ihn erst durch eine Bewegung zum Laufen zu bringen, tatsächlich eine kritische Haltung in Bezug auf die dominanten Wahrnehmungssysteme des Kinos und der Ausstellung einzunehmen ermöglicht.88 Überwindet man die Euphorie, die mit dem Begriff Prosumer einhergeht, lässt sich eher von einem Scripted Space – also einem choreografierten Bewegungsraum – sprechen, der seine machtvolle Autorität und seine manipulativen Tendenzen hinter interaktiven Special Effects verbirgt.89 Rezipierende sind dazu aufgefordert, mitzutanzen, und nicht dazu, neue Choreografien innerhalb des Displays zu entwickeln. Das Ergebnis dieser Tänze ist stets unausweichlich, dennoch ermöglicht es die physische 85 | P.C. Scorzin: Shooting Ourselves to Death, S. 44. 86 | R. Mroué/L. Saneh/H. Waldmann/F. Raddaz/K. Tiedemann: Keine Angst vor Repräsen tation, S. 96. 87 | Ebd. 88 | Vgl. M. Nash: Bildende Kunst und Kino, S. 131. 89 | Vgl. P.C. Scorzin: Metaszenografie, S. 308.
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Involviertheit der Teilnehmer, das Dargestellte erlebbar und mitfühlbar zu machen – sich in Relation zu setzen. Über Blind Ambition (2012) von Hassan Khan (»Das HD-Video wurde mit einem Samsung Galaxy SII Mobiltelefon aufgenommen«90) und den im Brain ausgestellten Film von Ahmed Basiony wird der Bezug zwischen Smartphones und dem Arabischen Frühling hergestellt. Ahmet »Basiony erlag am 28. Januar [2011] den Schussverletzungen, die ihm Scharfschützen der ägyptischen Polizeikräfte auf dem [Tahrir-]Platz zugefügt hatten.«91 Die Beispiele zeigen, dass Dinge, die in die Hand genommen werden können, eine besondere Relation herstellen und im Falle der Baktrischen Prinzessinnen auch eine Fürsorge ermöglichen, die größeren Objekten nur schwierig erhalten können. »So entsteht ein (Ver-)Handlungsraum, der wie eine theatralische Situation in ein spezifisches Raum-Zeit-Kontinuum eingebunden ist. Das ›Dabei-Sein‹ im ›Hier und Jetzt‹ wird maßgeblich.«92 Durch das kleine Bild (sowohl in relativer Größe als auch der Datenmenge) auf dem Display des Smartphones wird das Dargestellte zwar über ein Medium vermittelt, zugleich aber über das Display körperlich an den Rezipienten rückgebunden. So lassen sich komplexe Sujets (Arabischer Frühling, Deportation im Dritten Reich) den Besucherinnen und Besuchern direkt an die Hand geben und Kontakt herstellen. »[D]as ›visuelle Begreifen‹ [ist], kein intellektueller, kritischer, sondern ein intuitiver Vorgang‹«93. Auch hier zeigt sich, dass das Medium Ausstellung eine solche Bezugnahme zwar einfordern kann, aber nur im seltensten Fall begünstigt: Es finden sich im Brain zwar etliche Dinge, die man in die Hand nehmen könnte, der tatsächliche Vollzug ist aber durch Vitrinen und Aufsichtspersonal ausgeschlossen. Die körperliche Bezugnahme existiert hier nur auf einer imaginären Ebene. Dies gilt auch für das Katalog-Objekt von Judith Barry, welches explizit für die Hand der Besucherinnen und Besucher konzipiert ist und das System des Brains vermitteln soll.
Modellieren und Miniaturisieren Das Brain wird im Begleitbuch unter anderem als ›Miniatur-Puzzle einer Ausstellung‹ bezeichnet.94 Wenn es sich um eine Miniatur handelt, muss zunächst festgehalten werden, dass diese im Maßstab 1:1 ausgeführt ist und die Miniaturisierung daher nicht über Verkleinerung, sondern Reduktion (weniger Exponate als die gesamte Ausstellung) und räumliche Verdichtung argumentiert. Dieser Miniatur wird Stellvertretercharakter für die dOCUMENTA (13) zugesprochen und soll daher hier vor allem nach ihrem Potential als Modell befragt werden: »Die Logik eines Modells definiert die Bestimmung des Gegenstandes, von dem oder für den es ein Modell ist. Doch bedarf das Modell einer konkreten Form, also eines Mediums durch das es in Erscheinung tritt und durch das es vermittelt wird.«95 Dazu sollen im Folgenden die Potentiale von Miniaturen bzw. Modellen als Schauanordnungen skizziert werden, um sie dann mit 90 | documenta: Das Buch der Bücher, S. 742. 91 | documenta: Das Begleitbuch, S. 33. 92 | A. Nollert: Performative Installation, S. 22. 93 | H. Kimpel: Die Überschau, S. 25. 94 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 24. 95 | I. Reichle/S. Siegel/A. Spelten: Die Wirklichkeit visueller Modelle, S. 12.
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drei Ausstellungsmodellen, die gleichzeitig Miniaturen sind, abzugleichen und die daraus gewonnen Thesen auf das Brain zu übertragen. Walter Grasskamp definiert unterschiedliche Typen von Modellen und stellt das Ingenieurmodell dem Bastlermodell gegenüber. Während ersteres der Visualisierung einer Planung, z.B. eines noch nicht errichteten Gebäudes, dient und mit dessen Verwirklichung seinen Zweck verliert, versucht das Bastlermodell große Zusammenhänge zu transformieren und dadurch handhabbar zu machen.96 Damit konzentriert er sich auf gebaute Schauanordnungen, die auch hier im Vordergrund stehen werden. Jutta Ströter-Bender stellt die Überblicksfunktion von Modellen in den Vordergrund, die Reduktion auf das Wesentliche, eine konzentrierte Verdichtung von Weltbildern, Vorstellungen, Utopien und Hierarchien. Als Funktionen des Modells arbeitet sie vor allem Erinnerungskultur und deren Vermittlung heraus. Mit der Beachtung von u.a. Sichthöhe, Perspektivwechseln und Beleuchtung legt sie besonderen Augenmerk auf die Inszenierung und Ausstellungsdidaktik und deren Beitrag zur intendierten Wirkung eines Modells.97 Modelle sind nicht Abbilder der in ihnen dargestellten Sachverhalte, sondern stellen die Intention der Autorinnen und Autoren dar. Sie legen Deutungen nahe und schließen andere Deutungen aus.98 Aber auch Rezipientinnen und Rezipienten verschaffen Modelle eine Vorteilsposition, da das verkleinerte Objekt beherrscht werden kann. Es besteht die Möglichkeit, innerhalb des Modells und durch das Modell selbst schöpferisch tätig zu werden.99 Ingeborg Reichele, Stefen Siegel und Achim Spelten verstehen Modelle ebenfalls nicht als Abbilder, sondern als Werkzeuge, mit einem Teil der Wirklichkeit zu verfahren: »Entscheidenden Wert gewinnen visuelle Modelle, da sie unüberschaubare Zusammenhänge in eine endliche Menge von Elementen gliedern und so Komplexität reduzieren helfen. Anhand von Modellen versuchen wir nicht allein die Wirklichkeit zu gliedern, vielmehr beschreiben wir mit Modellen diese Wirklichkeit als eine aus Teilen zusammengesetzte. Modelle sind daher nicht Beschreibungen oder Darstellungen von etwas, sondern sie stellen uns die Bausteine, mit deren Hilfe wir etwas beschreiben oder darstellen, zur Verfügung. Sie sind Werkzeuge für eine Beschreibung, ohne selbst eine Beschreibung sein zu müssen.« 100
Mt diesen Werkzeugen lassen sich Dinge bearbeiten und manipulieren, Sachverhalte und Verfahrensweisen voraussagen. »Anhand von Modellen wird daher nicht allein etwas bereits Bekanntes beschrieben. Mit ihnen konstruieren wir vielmehr eine bestimmte Wirklichkeit: die Wirklichkeit des Modells.«101 Das Entscheidende dieser Modell-Wirklichkeit ist, dass sie als veränderbar begriffen wird:
96 | Vgl. W. Grasskamp: Sentimentale Modelle, S. 54. 97 | Vgl. J. Ströter-Bender: Materialität und ästhetische Präsenz, S. 213ff. 98 | Vgl. I. Reichle/S. Siegel/A. Spelten: Die Wirklichkeit visueller Modelle, S. 12. 99 | Vgl. M. Hartung: Das Modell in Kunst, S. 26. 100 | I. Reichle/S. Siegel/A. Spelten: Die Wirklichkeit visueller Modelle, S. 12. 101 | Ebd., S. 11.
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Gegenstand der Vermittlung »Am anschaulichen Modell können Verfahrens- und Verwendungsweisen erprobt und manipuliert werden, die am Objekt selbst nicht möglich sind. In bestimmten Handlungen können Modelle die Rolle eines Ersatzobjektes einnehmen und so über den Umweg von Ersatzhandlungen ein Verständnis vom Objekt selbst vermitteln. So wird z.B. das Architekturmodell verschoben, korrigiert und verworfen: Handlungen, die als Ersatz für das Verschieben, Korrigieren und Verwerfen des tatsächlichen Bauwerks gelten müssen. [...] Das Architekturmodell ist daher alles andere als ein statisches Vorbild für ein zukünftiges Gebäude. Es verkörpert vielmehr ein Wissen über dessen Veränderbarkeit, hält Alternativen bereit und unterliegt einer fortlaufenden Transformation.« 102
Damit wird deutlich, dass auch scheinbar abgeschlossene Modelle, z.B. Architekturmodelle aber auch Ausstellungsdisplays, als Bastlermodelle verstanden werden können und deren Transformationspotential sowohl auf Seiten der Autorinnen und Autoren als auch der Rezipientinnen und Rezipienten des Modells betont werden muss. Sabiene Autsch wendet sich zunächst der voyeuristischen Haltung der Rezipierenden zu und weist auf die wechselseitige Beziehung zwischen Miniatur und Betrachterinnen und Betrachtern hin. Sie verweise auf ein großes Ganzes, welches die Miniatur in ihrer Qualität zwar nicht erreichen könne, dafür aber Aspekte nachvollziehbar, die erst durch diese Reduktion sichtbar werden. Darin »kann eine signifikante Eigenschaft der miniaturisierten [… M]odelle gesehen werden, die in der Ermöglichung von Transformation zu sehen ist.«103 Durch Modelle werden somit nicht nur Sachverhalte vermittelt, man erwirbt durch Basteln und Transformation vor allem ein »Handlungswissen, eine Fähigkeit, mit dem modellierten Gegenstand richtig umzugehen.« 104 Die dOCUMENTA (13) bietet neben anderen Arbeiten, die sich als Miniatur ausdeuten ließen, zwei konkrete Ausstellungsminiaturen an: Scratching on Things I Could Disavow: Section 139: The Atlas Group (1989-2004) (2008-heute) von Walid Raad und Museum of Hypothetical Lifetimes (2011) von Pedro Reyes. Erstere könnte für das Brain auch inhaltlich Relevanz aufweisen, da es wie bereits erwähnt, von Carolyn Christov-Bakargiev als Beispiel für traumatisierte Kunstwerke herangezogen wird: »Traumatisierte Kunstwerke scheinen sich im Stand-by-Modus zu befinden; sie sind stumm, der Sichtbarkeit und dem Diskurs entzogen [...] wie Walid Raads ›geschrumpfte‹ Retrospektive von Miniaturen seiner früheren Arbeiten in dem winzigen Modell eines Ausstellungsraums, [...] ›einem unermesslichen Desaster entzogen‹, wie Jalal Toufic diesbezüglich formulierte [...]. Solche Arbeiten sind sprachlose und benommene Zeugen von Konflikten, traumatisierte Subjekte, die unfähig sind, ihre Geschichte zu erzählen.« 105
Innerhalb Walid Raads Narration handelt es sich nicht um eine Miniatur, sondern die Anfertigung eines originären Ausstellungsraumes in der angemessenen Größe für die darin ausgestellte (sich selbst miniaturisierte) Kunst.106 Das Objekt kann trotz seiner 102 | Ebd., S. 11f. 103 | S. Autsch: Große Künstler, S. 244. 104 | I. Reichle/S. Siegel/A. Spelten: Die Wirklichkeit visueller Modelle, S. 12. 105 | C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 14, BdB. S. 302f. 106 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RA WA« (Walid Raad), Faltblatt »Scrat ching on Things I Could Disavow«.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
makellosen Ausführung als Bastlermodell verstanden werden, das die Möglichkeit bietet, nach dem Grund der behaupteten Transformation zu fragen. Es stellt somit weniger ein Ideal als eine angebliche Notwendigkeit dar. Walid Raad schreibt seinen Werken Handlungsmacht zu, auf die er als Künstler ebenso wie die Besucherinnen und Besucher nur reagieren kann. Der erhaltene Überblick ist nur scheinbar ein von Macht geprägter. Tatsächlich verweigern sich die Kunstwerke der Wahrnehmung des voyeuristischen Blickes. Ihre Verkleinerung macht sie nicht handhabbar, sondern ist so weit vorgeschritten, dass sie dem Diskurs entzogen sind. Besucherinnen und Besucher, deren Anliegen es ist, nicht nur Kunstwerke zu betrachten, könnten auf diese Miniatur mit einer forschenden Haltung reagieren, die Erzählung des Künstlers ebenso kritisch hinterfragen, wie den Entstehungsprozess der Miniatur und der darin ausgestellten Werke. Pedro Reyes stellt in seinem SANATORIUM (2012) mehrere künstlerische Therapien zur Verfügung, die auf »durch den Patienten selbst vorgenommene Korrekturen seiner Denkweise«107 abzielen. Darunter das Museum of Hypothetical Lifetimes, ein Modell einer Ausstellungsarchitektur, das mit unterschiedlichsten Objekten bestückt werden kann. Die Projektskizze dieser Therapie spezifiziert, dass die Räume unterschiedliche Bereiche des Lebens repräsentieren und die Besucherinnen und Besucher die Objekte nutzen sollen, um diese mit Attributen und Geschichten in Verbindung zu stellen. Dadurch sollen sie ihre Vorstellungen visualisieren und artikulieren.108 Auch wenn dieses Modell als Ideal und Repräsentation verstanden werden soll, stellt sich der Umgang mit selbigem als Prozess des Bastelns und der Transformation heraus. Es ist ein Werkzeug, das eigene Leben durch Verkleinerung zu überblicken, handhabbar zu machen und gleichzeitig durch Basteln zu visualisieren. Besucherinnen und Besucher übernehmen gleichzeitig Autorschaft und Interpretation des bestückten Modells, welches explizit auch Wünsche und Phantasien abbildet. Die Therapeutin bzw. der Therapeut fungiert als Spielleiter und Mäeutiker: Die Transformation soll nicht vordergründig innerhalb des Modells geleistet werden (welches nach jeder Sitzung in seinen Ausgangszustand rückgeführt wurde), sondern als Korrekturen in der Denkweise der Besucherinnen und Besucher selbst. Walid Raad und Pedro Reyes präsentieren Miniaturmodelle von Ausstellungsarchitekturen, die erst in ihrer spezifischen Dimension das jeweils Intendierte auszudrücken vermögen. Die Verkleinerung der Exponate innerhalb dieser Architekturen, kann als Abwertung bei Walid Raad oder Abschwächung bei Pedro Reyes verstanden werden. Das Kleine tritt auf als das Verfügbare, aber dadurch auch Marginale und möglicherweise Schwache. Gleichzeitig bietet die Schauanordnung der Miniatur Potentiale, die eine Vergrößerung nicht steigern kann oder verliert, insbesondere in Bezug auf die Vermittlung der Intentionen der Künstler und die Möglichkeit der Transformation durch die Rezipierenden. Das dritte Ausstellungsmodell ist eine Miniatur des Brains aus dem Büro der Künstlerischen Leiterin. Auf der im Logbuch veröffentlichten Fotografie (vgl. Abb. 4) ist deutlich die Architektur der Rotunde und auch ein Platzhalter für die Glaswand, die das Brain vom restlichen Fridericianum abtrennt, auszumachen. Die Exponate sind lose konzentrisch um den Brennpunkt der Rotunde angeordnet und erlauben dadurch 107 | E. Scharrer: Pedro Reyes, S. 292. 108 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RE PE« (Pedro Reyes): Project outline by Pedro Reyes.
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einen hohen Grad an Überblick sowohl aus dem Außenbereich als auch von innerhalb der Schauanordnung. Kein Objekt erlangt einen besonderen Stellenwert innerhalb dieser Darstellung. Die im tatsächlichen Brain eingezogene Wand zwischen Giorgio Morandi und Lee Miller ist hier nicht dargestellt. Dadurch und durch die lose Anordnung der Displays ist ein ebenso hoher Grad an Beweglichkeit gewährleistet. Es lassen sich drei Kategorien von Exponaten ausmachen: An den Außenwänden hängen in einer nicht differenzierenden Reihung zweidimensionale Darstellungen, möglicherweise durch die Bögen der Fenster zu Sequenzen gruppiert. Auf der Fläche befinden sich Objekte, zum Teil in Vitrinen, aber auch auf dem Boden liegend. Es scheint, als seien die verschiedenen Objekte nach ihren Bedürfnissen (Bildträger, Schutz, Sichtbarkeit) und nicht nach inhaltlichen Kriterien strukturiert. Schließlich findet sich innerhalb der Miniatur noch die Darstellung einer Person. Sie fungiert einerseits als Maßstab und betont die Möglichkeit der körperlichen Bezugnahme: Die Bilder hängen ausschließlich auf Augenhöhe, kleine Objekte (ca. in der Größe einer Hand bis hin des Kopfes der Figur) liegen in Griff- oder Blickhöhe in den Vitrinen, größere Objekte (ca. der Torso der Figur) liegen frei im Raum. Es gibt in diesem Modell mit Ausnahme der Architektur nichts, das wesentlich größer als die Figur wäre. Andererseits fungiert die Figur auch als Platzhalter und Stellvertreter für die Rezipierenden. Die Dinge im Brain sind sich nicht selbst überlassen. Die Figur nimmt einen bestimmten Standpunkt ein, allerdings nimmt sie nicht direkt Bezug zu einem der Displays. Dadurch werden neben dem zentralen Überblick eine beliebige Positionierung (Konstellation) und freie Rezeptionsreihenfolgen nahegelegt (Assoziation).
Abb. 4: Ein Modell für das Brain im Büro der Künstlerischen Leiterin.
In der Aufsicht des Modells wird deutlich, dass THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF im Brain nicht nur in etwa eine mögliche Mitte angibt, sondern exakt im Mittelpunkt der konzentrischen Anordnung der Vitrinen und Exponate im Raum liegt. Durch die halbkreisförmige Struktur erscheint die angedeutete Glaswand als Spiegelachse. Sollte diese Deutung zutreffen, müsste sich auf beiden Seiten dieser Achse eine Vergleichbarkeit von Bild und Abbild feststellen lassen. Da es sich offensichtlich nicht um eine exakte räumliche Verdoppelung handelt, wird hier davon aus-
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain
gegangen, dass es der Geisteszustand ist, der auf beiden Seiten gleich erscheint und beide Erscheinungsformen gleichartig erfasst werden können. Amine Haase notiert, dass Carolyn Christov-Bakargiev das Brain als Spiegel ihres Gehirns bezeichnet habe.109 Obwohl sich (zumindest in der Fotografie) keine Minaturisierung eindeutig einem Exponat im Brain zuordnen lässt und das Modell nicht den realen räumlichen Bedingungen entspricht, erscheint es viel weniger als Bastler- oder Künstlermodell, sondern vermittelt eine Idealvorstellung. Die hier angelegte Didaktik und Inszenierung lassen sich auch im Brain ablesen, allerdings sind sie durch Notwendigkeiten von Versicherung, Logistik und Raum abgeschwächt. Darüber hinaus geht in der Architektur des Fridericianums das Gefühl von Macht und Überblick verloren, so dass sich das Brain zwar möglicherweise zum Nachvollzug des Geisteszustandes anbietet, die eigentliche Methode dieses Nachvollzuges aber durch den Kontext weniger deutlich wird. Modelle bewegen sich zwischen den Tendenzen, Inhalte zu vereinfachen und zu vermitteln einerseits und anderseits Handlungswissen zur Verfügung zu stellen und als Werkzeuge zu fungieren. Die Arbeit von Walid Raad und das Modell von Carolyn Christov-Bakargiev zeigen dabei deutlich, dass die Reduktion es unmöglich machen kann, die Dinge zu erkennen. Das Brain selbst vermeidet diese Reduktion, indem es Exponate versammelt, die zwar durch eine gewisse Kleinheit gekennzeichnet sind, aber dennoch nicht miniaturisiert wurden. Es ist eine Verdichtung unterschiedlicher Elemente innerhalb eines relativ kleinen Raumes. Tatsächlich finden sich auf der gesamten übrigen dOCUMENTA (13) fast nie mehr als zwei künstlerische Positionen in einem direkten räumlichen Zusammenhang. Die Vermittlungsleistung besteht nicht in einer Vereinfachung der dargestellten Kontexte, sondern darin, über das exemplarische Einzelobjekt Aufmerksamkeit zu generieren und Zugänge anzubieten. Während sich am Modell das transformative Potential der Schauanordnung idealtypisch nachvollziehen lässt, ist der eigentliche Vollzug dieser Praxis nur innerhalb des Mediums Ausstellung und in Relation zu den tatsächlichen Exponaten möglich. Dabei ist es entscheidend, dass das Brain zwar als Vitrine funktionieren kann, aber nicht als solche genutzt wird, sondern Besucherinnen und Besucher eintreten, sich assoziieren, Zusammenhänge herstellen, den Ort als Labor begreifen können. Das Brain ist dabei genau so vielfältig und verwirrend wie die ganze Ausstellung und kann nicht im Sinne der ›pars pro toto‹-These genutzt werden, um sich diese zu erschließen. Stattdessen stellt sich das ›Miniatur-Puzzle einer Ausstellung‹ als Modellraum dar, in dem Besucherinnen und Besucher Handlungswissen erlangen und erproben können, um dies in Folge auf andere Bereiche der Ausstellung zu übertragen.
Choreografieren und frenetisch tanzen Die Begriffe ›Choreografie‹ und ›frenetischer Tanz‹ sind zwar konnotativ verknüpft, implizieren aber unterschiedliche Strukturen von Autorschaft und Handlungsmacht. Dass sie beide von der dOCUMENTA (13) genutzt werden, etabliert möglicherweise bereits die Bewegung, in der sich auch das Ausstellungsdisplay des Brains verorten lässt: Es stellt sich abschließend betrachtet einerseits als, obwohl normativ inszeniertes, dennoch offenes Raumgefüge dar, das sich nicht auf ein Zentrum verdichten lässt, keine eindeutige Narration oder Klassifizierung aufweist, sondern sich in einer assoziativen 109 | Vgl. A. Haase: Im bewusstseinserweiternden Biotop, S. 45.
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Pendelbewegung befindet – zumindest wenn es gelingt, den Scripted Space der dominanten Erzählung Carolyn Christov-Bakargievs zu transformieren: »It’s all about storytelling and poetry, obsessions and surrealism.«110 Andererseits sind es anscheinend die Besucherinnen und Besucher, die transformiert werden sollen, um zu einer ›neuen Art des Denkens‹ zu gelangen und gleichsam in die Choreografie eingegliedert werden sollen. Dies erinnert an politische Inszenierungen von Kollektivität und hallt sowohl im Begriff der ›Omnipotenzphantasie‹ als auch der Behauptung wieder, das Brain entspräche in seinen Argumentationsstrategien einer auf Skandale ausgerichteten Illustrierten. Mit starkem symbolischen Kapital aufgeladen und durch Glaswände, Vitrinen und Beleuchtung auratisiert erscheinen die Exponate des Brains mitunter wie Fetische, Beutestücke und historische Absolutät. Akzeptiert man die Choreografie und den daraus resultierenden Tanz allerdings als ›frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und […] eine lange Zeit [andauernd]‹, und das hieße das Brain als Labor, Modell und Positionsbestimmung, dessen Aussagen ›in der Schwebe bleiben‹, dessen Sprache keine Trugschlüsse postuliert, da sie nicht-logozentrisch und assoziativ strukturiert ist und dessen Autorin nicht Interpretation vor- und festschreibt, sondern veränderbare Geschichten erzählt, nur vormacht, wie sie mit dem Material umgeht, so verändert sich auch die Bewertung der Transformation der Besucherinnen und Besucher: Sie sollen nicht in eine gleichgeschaltete Choreografie eingegliedert, sondern stattdessen befähigt und motiviert werden, aus einer solchen auszutreten und eigene, ›frenetische, rege, rasselnde, klingende, rollende, verdrehte‹ Bewegungen in den Tanz einzubringen. Die Verantwortung, den Tanz so zu erhalten, wurde von Carolyn Christov-Bakargiev somit abgegeben. Damit wurde durch das Ausstellungsdisplay Brain, als Kommunikations-, Vermittlungs- und Interaktionsebene, dem veränderten Verhältnis von Objekt und Betrachterinnen und Betrachtern Rechnung getragen.111 Die Choreografie der dOCUMENTA (13) verweist somit weniger darauf, inhaltlich auf einer Linie zu sein, sondern auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Künstlerische Leiterin, die Künstlerinnen und Künstler, weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der dOCUMENTA (13) und – zumindest potentiell – auch deren Besucherinnen und Besucher eint: »Oft verhindert ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe oder das Fehlen einer gemeinsamen Identität mit den KünstlerInnen bzw. InitiatorenInnen einen echten partizipatorischen Effekt.«112 Sabeth Buchmann beschreibt die »fröhliche Grundstimmung«113 des Publikums der dOCUMENTA (13), die zwar das Zusammengehörigkeitsgefühl begünstige, gleichzeitig aber möglicherweise kritische Kontexte verdecke. Carolyn Christov-Bakargiev betont in Bezug auf ›happy atmosphere‹ ihre Abneigung gegen den Begriff der Atmosphäre, sieht aber einen Wert in dem subjektiven Gefühl: »So the word ›happy‹ is more interesting to me than the word ›atmosphere‹, because ›atmosphere‹ is the description of something outside the subject, and ›happy‹ is the perspective of the subject, inside an experience or an activity. […] I think what you call atmosphere is really just a chirality (like a chorus), a chirality of people feeling happy. 110 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 121. 111 | Vgl. E.M. Stadler: Body Display, S. 154f. 112 | S. Milevska: Partizipatorische Kunst, o.S. 113 | S. Buchmann: (Kunst-)Kritik, S. 128.
Strategien und Praktiken zur dOCUMENTA (13): Das Brain You are walking down this little paths, you encounter the paths of the others and they look happy, and you look happy.« 114
Sie verbindet hier die Stimmung direkt mit der Choreografie. Beat Wyss beschreibt die dOCUMENTA (13) »als Ort ›kollektiven und anonymen Gemurmels‹, der gemeinsamen Anwesenheit. Statt Programm ist Prozess angesagt, statt Bescheid Wissen eine Kultur des sokratischen Verlernens von Urteilen.«115 Schon Bazon Brock weist in Bezug auf seine ebenfalls autoritär auftretende Besucherschule hin, dass weder Vermittlerinnen und Vermittler noch die Ausstellungsgestaltung (und durch sie die Künstlerischen Leiterinnen und Leiter) »den Zusammenhang, in dem die vielen Ausstellungsobjekte stehen können, einfach vorgeben können. Wir können nur vormachen, wie jemand […] durch eigene Aussagen und Handlungen den Zusammenhang für sich selbst herstellt.«116 Darüber hinaus sei es den Besucherinnen und Besuchern freigestellt, dieses Angebot zu nutzen. Bazon Brock fordert von diesen deutlich Mitautorschaft: »Das Publikum muß langsam bereit werden zu akzeptieren, daß von ihm selbst ähnliche tägige [tätige? TP] Hervorbringungen von Aussagen gefordert sind, wie sie die Aussagen der Künstler darstellen. […] nicht äußerliche Ähnlichkeit der Hervorbringung von Publikum und Künstlern ist gefordert, sondern Entsprechungen in der Struktur der Gedankenführung, in der Verbindlichkeit eingeführter Spielregeln, im Zwang zur Äußerung u.v.a.m.« 117
Eine Aussage, die sich ohne weiteres auch auf die übergeordnete Äußerung der Künstlerischen Leitung einer documenta übertragen lässt, da Bazon Brock innerhalb seiner Besucherschule öfter die Argumentationsebenen zwischen Einzelwerk und Ausstellungskonzeption wechselt. Das Brain kann selbst als eine Art Besucherschule verstanden werden, die als begehbares Modell konzipiert ist und dadurch ein Handlungswissen verfügbar macht, das sich auf die restliche Ausstellung übertragen lässt. Insbesondere durch den Fokus auf Objekte in handhabbarer Größe, auf Fragmente, Reste, Zerstörtes oder Unvollständiges geraten minor stories und »Mikrostrukturen des Alltags«118 in den Blick. Trotz der Musealisierung in Vitrinen wird eine körperliche Beziehung zumindest evoziert. Die Objekte im Brain werden daher hier nach Nicolas Bourriaud als relational verstanden, obwohl sie weder real-körperliche Interaktion noch Partizipation ermöglichen, sondern nur in der Generierung von Bedeutung über Interpretation und Narration. Die präsentierten Objekte sind Artefakte, die eher an ein Naturkunde- als an ein Technikmuseum erinnern, sind Kunstwerke, die sich selten an Neuen Medien orientieren, sondern über Materialität, physische Präsenz und Verfügbarkeit eine unmittelbarere ›Wissensproduktion und -vermittlung‹ anstreben und dadurch Handlungswissen generieren. So lässt sich das Archiv als Kompost begreifen. 114 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 125f. 115 | B. Wyss: Die Kunst, S. 620. Eingeschlossenes Zitat von C. Christov-Bakargiev nicht nachgewiesen. 116 | B. Brock: Besucherschule zur d6, S. 34. 117 | Ebd., S. 33. 118 | S. Autsch/C. Öhlschläger: Schauanordnungen des Kleinen, S. 97.
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Gegenstand der Vermittlung
Sabiene Autsch und Claudia Öhlschläger formulieren mit Bezugnahme auf Sybille Krämer, dass künstlerische und kuratorische Handlungen – sammeln, stellen, legen, anordnen – als leibgebundene Handlungen verstanden werden können, als Praktiken der Inbezugnahme eines produzierenden Subjekts mit einem oder mehreren Objekten und Texten.119 Sie fragen, »inwiefern die Hand des Produzenten nicht nur die Anordnungen, sondern auch den Wahrnehmungsprozess von Anordnungen und somit das Auge des Rezipienten beeinflusst.«120 Eine Frage, die hier um die Hand der Rezipientinnen und Rezipienten erweitert wurde, die zwar nicht die Ausstellung umordnen können, aber genau dies assoziativ bastelnd leisten sollen. Auch wenn es erscheint, dass sich so »direkt wie keine documenta-Leitung vor ihr Carolyn Christov-Bakargiev […] in die Gestaltung der Ausstellung selbst ein[brachte]«121, dient diese starke Selbstdarstellung unter den skizzierten Bedingungen vor allem als Positionsbestimmung, die Konflikt evoziert und einfordert. Außerdem wird die Ausstellung dOCUMENTA (13) und die Institution documenta durch die Personifizierung angreifbar gemacht. Die Vorwürfe der Sensationslust, Willkür und Oberflächlichkeit lassen sich innerhalb dieses Models nicht völlig von der Hand weisen; tatsächlich lässt sich dem Ausstellungsdisplay nicht entnehmen, ob es sich um eine skandalöse oder feinfühlig-informierte Präsentationsform handelt. Es obliegt gleichzeitig den Rezipientinnen und Rezipienten, nicht schnell skandalöse ›Trugschlüsse‹ zu ziehen (»Aha! Ray, Miller, Hitler – […] Gleiche Epoche, gleiches Karma«122), sondern sich möglichst intensiv mit den Geschichten im Brain auseinanderzusetzen. An dieser Stelle findet auch die Kippbewegung zwischen dem Vorwurf der ›Omnipotenzphantasie‹ und der Erfahrung von »Omnipotenz und […] Beliebigkeit«123, von der sich Carolyn Christov-Bakargiev abgrenzen möchte, statt: Es ist eine Frage, die alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Tanzes gemeinsam verhandeln müssen. Das »Gegenmodell«124 des Brains stellt sich zwar oberflächlich betrachtet als ähnlich dar, transformiert aber die eigene Position durch die Aufforderung zu Teilhabe und Partizipation. Eine Aufforderung zum frenetischen Tanz in einem choreografierten Raum.
119 | Vgl. ebd., S. 92. 120 | Ebd. 121 | D. Schwarze: Mehr als eine Kunstausstellung, S. 55. 122 | M. Hübl: Eine Omnipotenzphantasie, S. 30. 123 | C. Christov-Bakargiev/H. Rauterberg: Kassel ist Australien, o.S. 124 | Ebd.
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dOCUMENTA (13): Ein Geisteszustand
»Am Ende Ihres Besuch [im Brain] kommen Sie zu dem Schluss, dass es kein Konzept gibt, dafür aber immer wieder Elemente, die wie Schlüssel in dieser provisorischen Ansammlung fungieren.«1 Carolyn Christov-Bakargiev antizipiert damit einen Schluss, der scheinbar nicht von vielen Besucherinnen und Besuchern gezogen wurde. Zu auratisch erschien das Display, zu bedeutsam die Exponate, zu autoritär die Künstlerische Leiterin, als dass es nahegelegen hätte, dieses Gefüge als ›provisorisch‹ und damit unfertig, skizzenhaft und vor allem veränderbar anzunehmen. Dabei hat diese Sichtweise entscheidenden Einfluss auf die Bewertung dessen, was statt eines Konzept angenommen wird: den Geisteszustand. Dieser unterscheidet sich hauptsächlich dadurch von einem Konzept, dass er sich nicht auf wenige Schlagworte oder Thesen reduzieren lassen will und veränderbar erscheint: »Anders als feststehende Aussagen sind Gedanken stets Variationen: Eine Notiz ist eine Spur, ein Wort, eine Zeichnung, die unversehens zum Teil des Denkens wird und sich in eine Idee verwandelt.«2 Die Reduktion auf Begriffe stellt sich auch bei den vorherigen documenta-Ausstellungen als problematisch dar, allerdings ist es Teil des Anliegens der dOCUMENTA (13), genau diesen Prozess zu antizipieren und zu thematisieren. Dennoch wurde eine solche Reduktion in fast allen Kritiken vollzogen. Zum einen, weil es unmöglich ist, die Gesamtheit aller Aspekte einer solchen Großkunstausstellung zu erfassen und nachzuzeichnen, zum anderen aber auch aus einem Bedürfnis heraus, Unverständliches handhabbar zu machen. Eines der am häufigsten aufgegriffenen Schlagworte ist das der ›Ökologie‹ bzw. des ›Ökofeminismus‹ und Carolyn Christov-Bakargiev wies darauf hin, dass sich z.B. das ebenso stark rezipierte Projekt von Tino Sehgal darunter nicht fassen ließe, und dass dadurch es gleichzeitig aus der dOCUMENTA (13) ausgeschlossen, wie diese in ihrer Vielfalt beschränkt werde.3 Georg Imdahl weist darauf hin, dass jede Großausstellung einen »›Eyecatcher‹ [hat], der sich mit folgerichtiger Notwendigkeit, in alle medialen Kanäle versendet«4. Arbeiten, die sich nicht abbilden lassen, wie die von Tino Sehgal, haben trotz des Po-
1 | C. Christov-Bakargiev/H.-N. Jocks: Erzählen als Wille, S. 375. 2 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 26, BdB. S. 85. 3 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Buch/K. Barad/G. Pollock/T. Sehgal: dOCUMENTA (13), Spec ulative Fabulations, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015. 4 | G. Imdahl: Großausstellung und Hyperimage, S. 103.
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Gegenstand der Vermittlung
tentials als Exempel für die Ausstellungskonzeption zu dienen nicht das Potential zum ›Eyecatcher‹ zu werden. Es erscheint vielversprechender, nach dem zu fragen, was Carolyn Christov-Bakargiev anbietet, als danach zu suchen, was immer wieder – mehr oder minder glaubhaft – negiert wurde: »Ich denke, wir leben in einer Wikipedia-Gesellschaft, in der alle eine Meinung und ein Konzept haben, das sie ständig auf ihre Facebook-Seite hochladen. Ich glaube an die Notwendigkeit, das Nichtkonzept in den Vordergrund zu stellen. Das Nichtkonzept ist ein Konzept. Es ist ein bisschen Zen. Es ähnelt der Bedeutung der Stille zwischen den Tönen. Anstatt einen Ton anzuschlagen, möchte ich, dass wir uns gewissermaßen auf die Stille in der Musik konzentrieren. Diese Stille öffnet einen Raum für Reflexion, für Erwartungen, für Liebe. Ich meine Liebe im philosophischen Sinne, in dem Sinne, in dem Philosophie die Liebe zur Weisheit ist. Ich öffne Räume, damit dies stattfinden kann. Bei der dOCUMENTA (13) gibt es viele Stimmen: Für mich geht es bei dem ›Nichtkonzept‹ darum, den Raum des Engagements zu öffnen: Engagement ist eine Haltung, kein Konzept.« 5
Die ›Stille zwischen den Tönen‹ leugnet die Töne nicht, sondern fordert nur eine veränderte Form der Wahrnehmung. So ist es gleichzeitig möglich, dass eine Ausstellung Themen wie ›Ökofeminismus‹ behandelt und doch von sich behauptet (und von den Besucherinnen und Besuchern fordert) in einem undefinierten ›Dazwischen‹ zu agieren. Dies lässt sich auf Überlegungen aus der Kunstvermittlung übertragen: Eva Sturm plädiert dafür, die Aufgabe der Kunstvermittlung nicht als Wissenstransfer zu definieren, sondern »spezifische Räume herzustellen, in denen sich vielleicht etwas ereignet, das mit den jeweiligen Menschen, die mit Kunst zu tun haben, und mit den jeweiligen künstlerischen Arbeiten zu tun hat.«6 Und weiter: »Räume zu schaffen, in denen Uneinigkeit und Unverstandensein kultiviert werden können, in denen noch nicht alles fixiert und in Hierarchien eingeordnet ist.«7 Eine solche Haltung steht nicht konträr zu Wissen und Themen, sie begnügt sich nur nicht damit, selbige als Vermittlung zu transferieren, sondern fordert Teilhabe an deren Generierung. Chus Martínez umreißt die Prinzipien der auf der dOCUMENTA (13) angewendeten Kuratorischen Praxis: »Sie bestehen darin, dass wir Künstler einladen, um sich dann von ihnen leiten zu lassen. Die Künstler kamen und sahen sich die Orte an. Nachdem sie studiert hatten, was möglich ist, machten sie Vorschläge. Der Leitfaden […] ist, dass man voll und ganz auf die Energie der Künstler setzt.«8 Damit ist – sicherlich idealisiert – einer der Räume skizziert, in denen durch ein bestimmtes kuratorisches Vorgehen, etwas generiert wurde, das als ein gemeinsames Denken verstanden werden kann, aber nicht zwingend eine Gleichschaltung darstellt, sondern ›Uneinigkeit und Unverstandensein‹ kultivieren kann. Peter Gallisson versteht den Geisteszustand als Denkstil nach Ludwig Fleck, somit ein gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommen. Das interdisziplinäre Denkkollektiv der dOCUMENTA 5 | C. Christoph-Bakargiev/T. Haberl: Im Gespräch, S. 266. 6 | C. Mörsch/E. Sturm: Vermittlung – Performance – Widerstreit, S. 1. 7 | Ebd., S. 4. 8 | Ebd.
dOCUMENTA (13): Ein Geisteszustand
(13) wird durch die künstlerischen, kuratorischen, wissenschaftlichen und privaten Äußerungen der einzelnen Teile des Kollektives – die durchaus auch anderen Kollektiven angehören und unterschiedliche Denkstile kollidieren lassen – innerhalb der Ausstellung geprägt.9 So verstanden stellt sich der Geisteszustand nicht mehr als ein von wenigen Autoritäten formuliertes Konzept dar, sondern als etwas, dass durch einen Prozess von Erfahrungen, Kollisionen und Allianzen geformt wurde, eine Konstellation äußerst disparater Teile: »[W]hat I see in it [dOCUMENTA (13)] is an overwhelming sense of complexity, wealth and richness, the co-presence of opposites and the idea that whatever concept you have is limiting if you close it. So you have to create this universe of a constellation of questions.«10 Der Geisteszustand kann als Projekt im Sinne von Christian Boltanski und Ève Chiapello beschrieben werden, eine »Welt die aus unzähligen temporären Verknüpfungen über soziale, berufliche, räumliche oder kulturelle Distanz hinweg besteht. In Projektform lassen sich Kontakte in solchen Netzwerken ansammeln. Das Projekt wird zur modellhaften, netzwerkförmigen Ordnungsstruktur der gesamten Gesellschaft.«11 Der Begriff ›Welt‹ erinnert außerdem an Nicolas Bourriauds Definition eines Kunstwerkes: »A coherent unit, a structure (independent entity of inner dependencies) which shows the typical features of a world.«12 Es stellt sich somit die Frage, ob Carolyn Christov-Bakargiev »Themen gesetzt hat, die von den Künstlern geradezu illustriert wurden: Ökologie, Feminismus, der Kassel/Kabul Konnex, Wissenschaft und künstlerische Forschung«13 oder ob dieser Eindruck daraus resultiert, dass sie sich von ihnen hat ›leiten lassen‹ und ein gemeinsamer Geisteszustand entstanden ist. Ein weitere interessante Metapher bietet Marta Jecu an, wenn auch in Bezug auf andere künstlerische Projekte: »How can a work dealing with destruction, absence, contingency, transformation, and constant change be defined according to its virtuality? […] How do we describe a painting that transforms into architecture, then becomes performance, slides into sculpture, is reframed by drawing, and finally ceases to be visible altogether? We could call it a ruin.«14 Sie versteht eine solche ›Ruine‹ als ›Mentales Bild‹ (Paul Virilio).15 Es wäre somit eventuell möglich, das Wortpaar ›Zusammenbruch/Wiederaufbau‹ nicht als Thema oder Konzept, sondern als die minimale Notation der Choreografie zu begreifen. Ein weiterer Raum des Engagements bzw. einer potentiellen Uneinigkeit eröffnet sich in Auseinandersetzung mit der Manifestation des Geisteszustandes (Denkstil, Konstellation, Projekt, Modell, Ruine) als Ausstellung: Dort können Besucherinnen und Besucher diesen nachvollziehen, ggf. verinnerlichen und annehmen oder, zumindest über den Diskurs, geringfügig verändern und auch kritisieren. Dies bedeutet, dass auch nach Eröffnung der Ausstellung der Geisteszustand beweglich bleibt, weiterhin in Denkkollektiven gearbeitet, temporäre Verknüpfungen gelegt und an Modellen gebastelt wird. Viele Setzungen, allen voran das Brain, streben danach »eine intuitive Herangehensweise zu bezeugen, die eher taktil ist und mehr auf Verkörperung als auf 9 | Vgl. P. Galison: Exhibitions: Where Thought Collectives Collide, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 17.07.2015. 10 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 121. 11 | O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 29. 12 | N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 19. 13 | M.-C. von Busse: Sie hält alle Fäden in der Hand, o.S. 14 | M. Jecu: Concepts Are Mental Images, S. 1. 15 | Vgl. ebd.
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Gegenstand der Vermittlung
Projektion beruht, und die versucht, Dinge und Orte mit bescheidener Extravaganz und sogar mit Humor sprechen zu lassen und sie auf verschiedenartige Weisen, die nur teilweise vorgezeichnet sind, miteinander zu verbinden.«16 Dies stellt einen Rückbezug auf Orte und Gesten dar, die einen direkten Bezug zur eigenen Wahrnehmung und Lebenswelt aufweisen und dadurch unmittelbarer erfasst werden können: »[B]ei den Teilnehmern und Besuchern der dOCUMENTA (13) wird nicht das Gefühl geweckt, überall gleichzeitig zu sein und das Leben simultan und gemeinsam in synchronisierter Form zu erleben«17, sondern sich bewusst mit einem Kunstwerk an einem Ort zu befinden und somit eine direkte Relation mit dem Werk einzugehen. Durch die Exponate soll »eine Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden Maßstäben, die die lokale Geschichte und Wirklichkeit eines Ortes mit der Welt verbinden«18 stattfinden. Dabei ist es wichtig, diese Geschichten, inklusive der von Carolyn Christov-Bakargiev, beweglich zu halten, wie Andrea Viliani über afghanische Erzähltraditionen verdeutlicht: »They said that if we record these fairytales in order to protect them, we actually destroy them, because we define and determine them, freezing their constant evolution in time and space, mouth to mouth, century after century.«19 Dieser Fixierung gegenüber stehen die Verfahren des ›ansteckenden Erzählens‹, dass sich wie ein Virus überträgt und in der Regel an ein erzählendes Subjekt gebunden ist.20 Aktive Partizipation der Betrachterinnen und Betrachter von Kunst muss also nicht notwendigerweise eine physische Relation durch interaktive Displays o.ä. bedeuten, sondern kann ebenso durch die Aktivierung von Gefühl und Verstand erfolgen, was Graham Black als ein ›mind-on‹ statt ›hands-on‹ bezeichnet.21 Oder didaktischer formuliert: Besucherinnen und »Besucher lernen am besten, wenn es eine Mischung gibt aus: handeln, denken, beobachten, lesen, zuhören, fantasieren, mit anderen interagieren (Personal und Besucher), diskutieren, Eindrücke gedanklich verarbeiten.«22 Partizipation bedeutet, »dass eine Ausstellung nicht ›abgeschlossen‹ gegenüber den Besuchern sein sollte. Ein Ausstellungsprojekt sollte unterschiedliche Standpunkte widerspiegeln und den Besuchern Möglichkeiten zur Verfügung stellen, den präsentierten Inhalt zu hinterfragen.«23 Carolyn Christov-Bakargiev beschreibt das Kollektiv der Besucherinnen und Besucher wie folgt: »[I]n my view of what the exhibition is from the perspective of the visitors, […] is really the constitution of a constellation within which a certain number of subjectivities can feel themselves as subjects, not as subjected. Encountering a form of a selfhood within the ›we ‹ which is a ›we ‹ that is sharing, it is a ›we ‹ of the commons, of sharing knowledge and intimacies of this experience.« 24
16 | C. Christov-Bakargiev: Einführung, S. 9. 17 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31. 18 | Ebd., S. 36. 19 | A. Viliani zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 2. 20 | Vgl. T. Düllo: Ansteckendes Erzählen, S. 36. 21 | Vgl. G. Black: The Engaging Museum, S. 185. 22 | M. Ziese: Kuratoren und Besucher, S. 86. 23 | Ebd. 24 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 126.
dOCUMENTA (13): Ein Geisteszustand
Anna-Lena Wenzel fragt nach Gegenmodellen zu normativen Situationen, welche Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellung leiten, Wege und Zusammenhänge vorgeben und auch die Wahrnehmung steuern. Dabei geht die Forderung nach nicht-normativen Ausstellungen eben nicht in der Ablehnung von Kuratorischer Praxis oder einem übergeordneten Thema auf, sondern geht der Frage nach, inwiefern eben diese einen Grenzraum etablieren können, »in dem ästhetische Erfahrung als unabschließbare Bewegung der Annäherung, Aushandlung und Übersetzung«25 angelegt sind, in dem emanzipierte Betrachterinnen und Betrachter Denkbewegung vollziehen können.26 Anna-Lena Wenzel charakterisiert Offenheit innerhalb von kuratorischen Setzungen in Bezug auf Giles Deleuze und Félix Guattari als eine ›Strategie des Fragestellens‹: »Die beiden Philosophen geben in ihren Schriften keine Lösungen oder Antworten, sondern unternehmen ›Wucherungen‹ von Fragestellungen, die jede Form von Festschreibung und Sinnsetzung unterlaufen. Indem sich die Kuratoren [der documenta 12] an dieser Strategie orientierten, wurde den Momenten des Nicht-Determinierten, des Nicht-Kontrollierten oder des Nicht-Verstehens Raum gegeben. Auf diese Weise wird Eindeutigkeit vermieden und dem damit einhergehenden Verschwinden von Komplexität entgegengewirkt.« 27
Relevant ist, dass das Nicht-Verstehen potentiell eine doppelte Autonomie konstituiert: die des Kunstwerks und die der Betrachterinnen und Betrachter.28 Obwohl die dOCUMENTA (13) ähnliche Ambitionen für ihre Ausstellungskomposition formuliert, wie die documenta 12, machte sich die negative Kritik hier fast ausschließlich an der Figur der Künstlerischen Leiterin fest, während die Auswahl und Präsentation im Gegensatz zur vorherigen Ausgabe weitestgehend gelobt wurden. Möglicherweise lässt sich ein subversives Potential auratisch-affirmativer Präsentationsweisen ausmachen, das wirkmächtiger ist als solche, die offen didaktisch-kritisch argumentieren – unabhängig von den jeweiligen Inhalten. Der Prozess dieser unabgeschlossenen Denk-Bewegung wurde auch von der dOCUMENTA (13) nicht nur im Vorfeld der Ausstellung vollzogen, wie es zu verschiedenen Themen im Logbuch nachvollziehbar gemacht wird, sondern zumindest auch im Laufe der selbigen, was auch eine Fortsetzung darüber hinaus anklingen lässt. In Folge dessen wurde auch das Kuratorische Statement zum Abschluss noch einmal überarbeitet: »And now we add that an exhibition could be thought of as a pre-reflexive consciousness, a qualitative duration of consciousness without itself. A bliss able to go beyond the aporias of the subject and the object–an experience of life no longer dependent on the first, nor submitted to the latter. Art is ceaselessly posed in life. And this indefinite life posed in art allows us to grasp the lived and living, to understand life as carried by the events, and by the singularities actualized in subject/objects. Art does not just come after life, but rather it offers the immensity of a temporality constitu-
25 | A.-L. Wenzel: Ausstellungen und normiertes Besucherverhalten, o.S. 26 | Vgl. ebd. 27 | Ebd. 28 | Vgl. G. Brandstetter: Written on Water, S. 125.
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Gegenstand der Vermittlung ting spaces where one sees the event yet to come in the absolute of an immediate consciousness.« 29
Der Geisteszustand stellt sich somit als andauernde »Suche nach einem gemeinsamen Denken [dar], das nicht unmittelbar ersichtlich ist und das im Raum des Propositionelen schwebt, […] die das komplexe Objekt, zu dem die dOCUMENTA (13) geworden ist, schrittweise und auf vielfältige Weise geprägt«30 hat. Der Begriff ›Geisteszustand‹, der zunächst als ein Spezifikum der dOCUMENTA (13) erscheint, blickt tatsächlich auf eine gewisse Tradition vergleichbarer Begriffe und Äußerungen in der Geschichte der documenta und ihrer Rezeption zurück und erscheint dadurch weniger singulär: Schon bei der Namensfindung hat anscheinend die Annahme eine Rolle gespielt, dass das lateinische Wort ›documentum‹ die Worte ›docere‹ (lehren) und ›mens‹ (Geist) in sich trage und dieser Ziel und Anspruch der Ausstellung somit gut wiedergebe.31 Zur documenta 6 wird ein zentraler Ausstellungsbereich als ›Nervenzentrum‹ bezeichnet.32 Jan Hoet spricht von einer »Idee der Institution«33, der er damit gleichsam eine Personifizierung zuspricht. Auf der Documenta11 weist die Rotunde zum ersten mal Charakteristika eines Brain auf: Nicht nur wird durch das Kontrabasssolo, opus 45 (1998-2000) von Hanne Darboven eine große Menge individueller Informationen präsentiert, sondern durch den zentral positionierten Schädel direkt mit dem menschlichen Körper und dessen Gehirn in Verbindung gebracht. Die Koppelung von Informationen und veränderbaren Strukturen wird auch durch Carlos Basualdo zum Ausdruck gebracht: »Wenn also für die Enzyklopädie der Documenta11 eine Form möglich und vorstellbar ist, so ist es vielleicht die einer Ausstellung, in der alle Pfade sich unaufhörlich verzweigen«34 – und dadurch immer neue Abfolgen und Bedeutungen generieren können. Christoph Lange schreibt dem Fridericianum selbst einen anhaftenden ›Geist‹, ein ›kollektives Gedächtnis‹ zu.35 Er arbeitet im Folgenden allerdings heraus, dass insbesondere in den Ereignissen, »die gewöhnlich unter ›Rahmenprogramm‹, also ›ferner liefen‹ abgehandelt werden, und die deshalb im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert sind«36, der Geist der documenta, »der Kern der Sache, [… sich] fast stärker manifestiert als in der Ausstellung selbst«37. Dies begründet sich zunächst in dem Vortragsprogramm 100 Tage – 100 Gäste der documenta X und wird sowohl durch die sich unaufhörlich verzweigenden Pfade und Plattformen der Documenta11, die Formlosigkeit der documenta 12 und die überbordende Choreografie der dOCUMENTA (13) fortgesetzt. Schließlich ist es Aufgabe der Kunstwissenschaft, das Denken und Wirken der dOCUMENTA (13) zu tradieren und bewusst damit umzugehen, dass durch jede Fixierung ein bestimmtes, reduziertes Bild des Geisteszustandes reproduziert wird. Dies betrifft auch die vorliegende Untersuchung, die weder den Anspruch hat, noch vorgibt, die gesamte Ausstellung und deren Geisteszustand zu erfassen, sondern sich mit den 29 | http://d13.documenta.de/?m=n&L=0#welcome vom 24.03.2017. 30 | C. Christov-Bakargiev: Einführung, S. 9. 31 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 182. 32 | Vgl. M. Schneckenburger: Die documenta, S. 92. 33 | J. Hoet: Eine Einführung, S. 19. 34 | C. Basualdo: Die Enzyklopädie von Babel, S. 61. 35 | Vgl. C. Lange: Fridericianum als Gedächtnisort, S. 67. 36 | Ebd., S. 74. 37 | Ebd.
dOCUMENTA (13): Ein Geisteszustand
Teilen und Aspekten auseinanderzusetzen, die ›Engagement‹ oder sogar ›Liebe‹ beim Autor evoziert haben und durch dessen Denkstil ein Bild zu zeichnen, was die dOCUMENTA (13) gewesen sein könnte. In Anlehnung an Armen Avanessian wird hier für eine ›poetische Methode‹ plädiert, die der wissenschaftlichen Struktur und den unterschiedlichen Methoden der Bricolage übergeordnet sein soll.38 Diese zeichnet sich durch ein ›thinking through doing‹ aus und der Annahme, »dass jedes Objekt, mit dem sie [die Poetik] in Berührung kommt, eben dadurch eine Veränderung erfährt.«39 »Eine Kunst- oder Literaturtheorie (oder Geisteswissenschaft insgesamt), die dieser Einsicht in die Notwendigkeit manipulativer Abduktion folgt, lässt das spekulative Potential des untersuchten Materials zur Geltung kommen (statt sich vorrangig um ›Intention‹ zu kümmern oder Einzelwerken ›gerecht‹ werden zu wollen) und verändert die Urteilskriterien bzw. unsere beurteilenden Vermögen materiell (statt sich melanchonisch damit zu begnügen, sie nur wahrnehmbar zu machen). Während Ästhetik die Trennung von (Künstler- oder Wissenschaftler-)Subjekt auf der einen und (Kunst- oder Erkenntnis-)Objekt auf der anderen Seite betreibt und mittels des korrelationistischen Mythos einer zwischen beiden sich ereignenden Erfahrung zementiert, geht es Poetik um deren spekulative Transformation.« 40
So versteht sich diese Arbeit nicht nur als analytische Untersuchung des Geisteszustandes, sondern als Beitrag zu selbigem. Dieser Beitrag wird – ebenso wie alle anderen Äußerungen zur dOCUMENTA (13) – einige Aspekte affirmieren, manche auch kritisieren und zu viele übersehen und dadurch weiter marginalisieren. Durch eine subjektive Spurensicherung sollen möglichst vielfältige Begriffe und Hypothesen generiert werden. Um den ›Geist‹ der dOCUMENTA (13) fassen zu können, sollen im Folgenden neben stark rezipierten künstlerischen Positionen auch immer wieder solche Projekte und Setzungen betrachtet werden, die peripher erscheinen und weniger Beachtung erfuhren. Dazu zählt auch und vor allem das umfangreiche Rahmenprogramm der Maybe Education and Public Programs.
38 | Vgl. A. Avanessian: Das spekulative Ende. 39 | Ebd., S. 61. 40 | Ebd., S. 63.
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Kuratorische Praxis »Mehr als eine Ausstellung und gleichzeitig keine Ausstellung.«
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Vier Analysen aus vier Positionen
»Deine Intuition trügt dich nicht. Die dOCUMENTA (13) ist meiner Ansicht nach mehr als eine Ausstellung und gleichzeitig keine Ausstellung im üblichen Sinne – sie ist eine Geistesverfassung. Ihre DNA unterscheidet sich von der anderer internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst insbesondere dadurch, dass sie nicht aus den Handelsmessen oder Weltausstellungen des kolonialen 19. Jahrhunderts hervorging, welche die Wunder der Welt in die alten europäischen Zentren trugen. Vielmehr ging die documenta nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem lokalen Trauma hervor, in dem sich gleichermaßen Zusammenbruch und Neubeginn manifestiert.« C arolyn Christov-Bakargiev: B rief an einen Freund »Jede dieser Positionen ist ein Zustand, ein Geisteszustand, und steht in einer spezifischen Beziehung zur Zeit: Während der Rückzug die Zeit aufhebt, erzeugt das Auf-der-Bühne-Sein eine lebhafte und lebendige Zeit des Hier und Jetzt, die kontinuierliche Gegenwart; während die Hoffnung durch das Gefühl eines Versprechens – das Gefühl einer Zeit, die sich eröffnet und nicht endet – die Zeit freisetzt, verdichtet das Gefühl des Belagerungszustandes die Zeit bis zu einem Punkt, an dem es jenseits der Elemente des Lebens, die eng an uns gebunden sind, keinen Raum mehr gibt.« C arolyn Christov-Bakargiev: D er Tanz war sehr frenetisch
Carolyn Christov-Bakargiev macht vier Positionen aus, die ein Subjekt, insbesondere Künstlerinnen und Künstler, einnehmen kann. Diese beschreiben zwar nicht alle möglichen Positionierungen, sind aber für das Projekt der dOCUMENTA (13) von besonderer Bedeutung: Der Position ›auf der Bühne‹, die die Frage des Ausstellens von Kunst und die Beziehung von Ausstellung zum Publikum stellt und somit auch den Status der dOCUMENTA (13) selbst hinterfragt, ist zur Verortung Kassel als zentrale Bühne des Kunstfeldes zugewiesen.1 Doch auch wenn die ganze Stadt als Bühne fungieren soll und fungiert, nimmt das Fridericianum eine besondere Rolle ein: Als dem 1 | Vgl. ebd., S. 35.
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Kuratorische Praxis
Ausstellungsort, der konstant seit der ersten documenta genutzt wurde, wird es von vielen Besucherinnen und Besuchern als der Hauptausstellungsort verstanden, der auf jeden Fall besucht werden sollte, im Idealfall als erstes. Durch verschiedene Setzungen der Institution wird diese Deutung unterstützt, dazu zählt nicht nur das zentrale Ausstellungsensemble Brain, sondern auch ein einführender Wandtext der Künstlerischen Leiterin im Entree des Gebäudes, sowie das zeremonielle Abschließen des Fridericianums am Ende der einhundert Tage. Auch wenn Christoph Menke feststellt, dass die dOCUMENTA (13) unterschiedliche Erfahrungen und Kunstbegriffe nahelegt, je nachdem, an welchem Ausstellungsort man den Rundgang beginnt, soll das Fridericianum hier als möglicher Beginn der Rezeption der Aufführung dOCUMENTA (13) angenommen und deshalb in diesem Kapitel zunächst ausführlich die Eingangssituation des Gebäudes und des vorgelagerten Friedrichsplatzes untersuchen werden.2 Besucherinnen und Besucher nehmen natürlich zunächst den Außenraum wahr, dennoch wird das Erdgeschoss des Fridericianums zuerst analysiert, um die ›auf der Bühne‹ gewonnen Erkenntnisse auf den Vorplatz, der unter verschiedenen Perspektiven als ›unter Belagerung‹ erscheint, übertragen zu können. Anschließend werden weitere Ausstellungszusammenhänge der dOCUMENTA (13) umrissen, um verschiedene Strategien und Ausstellungssprachen zu beleuchten, die sich mit den anderen Positionen ›auf dem Rückzug‹ und ›Zustand der Hoffnung‹ in Verbindung denken lassen. Diese Auflistung folgt der Annahme, dass sich diese Positionen in den Setzungen der Künstlerischen Leiterin ebenfalls ablesen ließen. Die Zuordnung gewisser Ausstellungsbereiche stellt keine Gleichsetzung mit diesen Positionen dar, sondern zeigt nur entsprechende Tendenzen auf, da auch die vier Positionen synchron existieren und sich verschränken.3 Diese Ausstellungsanalysen werden ergänzt durch eine Darstellung der dOCUMENTA (13) als Reise und der damit verbundenen kuratorischen Strategien. Abschließend soll bewertet werden, ob Carolyn Christov-Bakargievs Kuratorische Praxis eine affirmierende Vermittlungsposition einnimmt. Dies bedeutet einerseits, dass sie das Konzept bzw. in diesem Fall den Geisteszustand bejaht (wovon auszugehen ist), aber vor allem auch, ob ihre Methode, ihre Äußerungen, die Auswahl und Präsentation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und weitere Setzungen den im Geisteszustand manifestierten Kriterien und Ansprüchen selbst genügen.
2 | Vgl. C. Menke/S. Leeb/S. Beckstette: Reflektieren/Transzendieren, S. 109. 3 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 35.
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Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums
In dem zu beschreibenden Ausstellungsensemble befinden sich verschiedene Exponate bzw. Exponatgruppen sowie kuratorische Setzungen, die als singuläre Ereignisse zu verstehen sind und deren Deutungen und Wechselwirkungen im Folgenden untersucht werden. Sieben dieser Ereignisse lassen sich relativ deutlich voneinander abgrenzen, wobei Para- oder Metatexte, die sich direkt auf ein Projekt beziehen, unter diesem subsummiert sind:
Abb. 5: Ausstellungsplan: Fridericianum, Erdgeschoss.
(1) (2) (3) (4)
Text von Carolyn Christov-Bakargiev Vitrine mit Brief von Kai Althoff Soundinstallation ’Til I Get it Right (2005) von Ceal Floyer Vitrine mit Plastiken von Julio González: Tête plate (1930), Danseuse à la marguerite (1937), Homme gothique (1937) (5) Gerahmte Installationsansicht der Plastiken von Julio González auf der II. documenta eines unbekannten Fotografen (6) Zeichnung ohne Titel (2011) von Amjad Ghannam
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Kuratorische Praxis
(7) Dokumentarfilm Picasso in Palestine (2012) von Khaled Hourani und Rashid Masharew Außerdem finden räumlich übergreifend und für den uninformierten Betrachter auch inhaltlich nicht klar voneinander abzugrenzen zwei weitere Ereignisse statt: (8) Ein Windzug, der als I Need Some Meaning I Can Memorize (The Invisible Pull) (2012) von Ryan Gander identifiziert werden kann (9) Die auffällige Leere der Räume Diese neun Ereignisse fügen sich nicht ohne weiteres in einen zeitlichen oder kausalen Zusammenhang, der als Narrativ gelesen werden kann. Erst durch die Erzähl- bzw. Wahrnehmungsreihenfolge kristallisiert sich eine mögliche Plotstruktur heraus. Nach dem Entree (1) müssen sich Besucherinnen und Besucher für einen der beiden Flügel (bzw. die anderen Bereiche des Fridericianums) entscheiden. Kai Althoff und Ceal Floyer (2, 3) sowie Julio González und Khaled Hourani (4, 5, 6, 7) werden somit als enger verbunden wahrgenommen. Ständig wahrnehmbar und gleichzeitig weniger präsent, da visuell nicht greifbar, sind die raumübergreifenden Ereignisse (8, 9).
Entree: Initiierende Setzungen (1, 9) Im Entree ist zunächst kein Ausstellungsobjekt zu sehen, was diesem einen Durchgangscharakter verleiht. An den Wänden zu den Seitenflügeln befindet sich jeweils ein Wandtext in drei Spalten – links auf Deutsch, rechts der selbe Text auf Englisch. Aus dem Raum heraus führen vier Torbögen, wobei die Räume dahinter unterschiedlich stark beleuchtet sind: Geradeaus geht es jeweils zu den Treppen und Aufzügen, die in weitere Ausstellungsbereiche führen, und zu der Rotunde des Fridericianums, die das Brain beherbergt. Dieser Bereich liegt in einem Dämmerlicht und ist somit – im Gegensatz zu beiden Seitenflügeln – aus dem Entree schlecht einsehbar. Bereits aus dieser Position ist sichtbar, dass beide Flügel weitestgehend leergeräumt sind, etwaige Zwischenwände entfernt wurden und die Decken nicht verkleidet sind. Durch große Fenster fällt natürliches Licht, welches durch das von Neonröhren ergänzt wird und die Räume gleichmäßig ausleuchtet. Diese Lichtsituation führt dazu, dass das Entree und die Seitenflügel als Einheit wahrgenommen werden können, die sich von dem Anderen, im Dämmerlicht befindlichen, abgrenzt. Auf diese – zunächst angenommene – Einheit bezieht sich dieser Teil der Untersuchung. Steht man in einem der Torbögen zu den Seitenflügeln, wird im Engpass ein starker Luftzug spürbar, der durch das gesamte Ensemble im Untergeschoss zieht und auch bereits beim Betreten des Gebäudes wahrgenommen werden kann. Dieser ist je nach Position im Raum und klimatischen Bedingungen unterschiedlich stark und wird auch von verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen, bis hin zur Nicht-Wahrnehmung oder zumindest einer Unmöglichkeit der Artikulation von etwas Wahrgenommenen. Der Wandtext (1) von Carolyn Christov-Bakargiev ist in drei Blöcke aufgeteilt: einem vorangestellten Titel oder Motto, dem Hauptteil, der mit einer Signatur endet, sowie nachgestellten Danksagungen. Der erste Block grenzt sich im Schriftbild deutlich von den anderen beiden ab. Die Lettern sind etwa doppelt so hoch, kursiv und besitzen Serifen: ›Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und
Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums
dauerte eine lange Zeit‹. Es könnte sich sowohl um den Titel des Textes, aber auch um ein vorangestelltes Motto oder ein Zitat handeln. Die Reihung der Adjektive erscheint beliebig, austauschbar und im Gegensatz zum Hauptteil der Textes – auch verstärkt durch die Serifenschrift – eher lyrisch als erläuternd. Dies könnte dazu führen, dass diesem ersten Block weniger Aufmerksamkeit zukommt. Diese Marginalisierung wird verstärkt, da Tanz im restlichen Text nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird, so dass sich nicht ohne weiteres Bezüge zum Hauptteil und zur Ausstellung in ihrer Gesamtheit herstellen lassen. Der Hauptteil setzt sich zu weiten Teilen aus Absätzen des Katalogtextes unter dem gleichen Titel und dem kuratorischen Statement zusammen. An dieser Stelle werden nur die Hauptthesen aufgeführt und durch für diesen Text spezifische Aspekte ergänzt: Es gibt ein ›Rätsel der Kunst‹, das darin besteht, ›dass wir nicht wissen, was sie ist‹. Sie lässt sich sowohl positiv als auch negativ definieren, sowie durch das, ›woran sie scheitert‹. Die dOCUMENTA (13) beschäftigt sich aber nicht explizit mit Kunst, sondern mit einer Vielzahl von Dingen, unter anderem ›künstlerischer Forschung‹. Diese Dinge können das sein, was wir Kunst nennen, müssen es aber nicht. Sie befinden sich in einer Verbindung mit Politischem in einem Feld verschiedener Formen von Wissen und Wissenschaft. Der Text spricht von einer ›ganzheitlichen und nicht-logozentrischen Vision‹, welche die dOCUMENTA (13) mit allen ›Produzenten der Welt‹ teilt und ›die dem beharrlichen Glauben an wirtschaftliches Wachstum skeptisch gegenübersteht‹. Der vierte Absatz nennt und erläutert die vier Positionen, in denen sich die Ausstellung artikuliert und die Orte, auf die sie sich beziehen, sowie deren jeweils ›spezifischen Beziehung zur Zeit‹: Unter Belagerung – Kabul; Auf dem Rückzug – Banff; Im Zustand der Hoffnung – Kairo/Alexandria; Auf der Bühne – Kassel; Die Kernaussage lautet, dass die Kasseler Ausstellung ›sich intensiv mit einem Ort [beschäftigt], gleichzeitig stellt sie aber auch einen Polylog mit anderen Orten her‹, sie ist ›in einer offenkundigen Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten angelegt‹ und auch ›Künstler, Kunstwerke und Ereignisse nehmen diese vier Positionen gleichzeitig ein‹. Der fünfte Absatz befasst sich ebenfalls mit einer Verortung, indem er die Ausstellungsorte in Kassel benennt, wobei zwischen ›Museumsräume[n] und White Cubes‹ (Fridericianum, documenta-Halle, Neue Galerie) und ›einer Vielzahl anderer Räume‹ (Ottoneum, Orangerie, Karlsaue, Hauptbahnhof und Orte, abseits der Hauptschauplätze) unterschieden wird. Diese Orte repräsentieren ›unterschiedliche physische, psychologische, historische und kulturelle Bereiche und Realitäten‹. Der abschließende Absatz stellt fest, dass die dOCUMENTA (13) ›eine räumliche oder, genauer gesagt, ›standortbezogene‹ Wende (locational turn) vollzieht, indem sie die Bedeutung eines physischen Ortes betont, jedoch gleichzeitig auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt‹. Es folgt als eine Signatur der Name der Autorin: ›Carolyn Christov-Bakargiev‹. Die letzen beiden, sehr kurzen Absätze sind Danksagungen an verschiedene Personengruppen, die allerdings nicht von der Autorin in Person ausgesprochen werden, sondern von der dOCUMENTA (13) als Gesamtinstitution. Auch wenn die drei Teile des Textes sehr unterschiedlich sind, zeichnen sie sich alle durch Reihungen und Aufzählungen aus, so dass sie trotz der relativen Kürze des Textes über eine hohe Informationsdichte verfügen. Der Hauptteil versammelt außerdem komplexe Thesen und Begriffe, die sicherlich ein mehrmaliges Lesen erfordern. Die Vermutung liegt nahe, dass viele Besucherinnen und Besucher den Wandtext nicht gelesen haben, bevor sie die Ausstellung selbst durchschritten haben und falls doch, sich nicht die Zeit genommen haben, seine Thesen herauszuarbeiten und sich zu ver-
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Kuratorische Praxis
gegenwärtigen, bzw. dies, ohne andere Primärtexte der dOCUMENTA (13) zu kennen, auch kaum möglich ist. Obwohl offensichtlich als initiierende Setzung intendiert, muss eingeräumt werden, dass er sein Potential sicherlich bei einem Großteil des Publikums nicht entfaltet hat. Somit zeigt sich bereits an dieser Stelle eine mögliche Diskrepanz zwischen einem durch das Medium Ausstellung potentiell vermittelbaren Geisteszustand und den tatsächlich durch die Besucherinnen und Besucher decodierten Inhalten. Dennoch lassen sich aus diesem Text einige für das Verständnis der Ausstellung nützliche Begriffe generieren, wobei sich die wenigsten ohne weiteres Vorwissen in ihrem ganzen Bedeutungsumfang erfassen lassen. Als zweite initiierende Setzung kann sicherlich die Leere des gesamten Ausstellungsensembles (9) angesehen werden, die so augenfällig ist, dass sie als etwas Abwesendes wahrgenommen wird und im Gegensatz zu vielen anderen Exponaten und auch dem Einführungstext von Carolyn Christov-Bakargiev von vielen Besucherinnen und Besuchern spontan benannt und bewertet wurde. Interessanterweise ließ bei Personen, die durch Zeitungsartikel o.ä. über das Kunstwerk von Ryan Gander (8) informiert waren, die Beobachtung der Leere zugunsten einer wissenden Übereinkunft nach, während uninformierte Besucher trotz Wahrnehmung und Kenntnisnahme des Windzuges die Ausstellungsräume eher weiterhin als leer bezeichneten. Auf konnotativer Ebene lassen sich zwei entgegengesetzte Tendenzen ausmachen: Leere steht für Mangel (an Ideen, an zeigenswerter Kunst), sie enttäuscht, da man erwartet hat, etwas (anderes) zu sehen. Auf der anderen Seite ermöglicht Leere freie Bewegung, durchatmen, die wenigen Exponate werden aufgewertet, möglicherweise sogar übersteigert wahrgenommen, der Fokus verschiebt sich auch auf andere Inhalte, wie z.B. die anderen Besucher oder das Ausstellungsgebäude an sich. Beide Tendenzen schließen sich gegenseitig weitestgehend aus und sind somit von der betrachtenden Person abhängig. Sie kamen in etwa gleich häufig zur Artikulation und sollen auch hier als gleichwertig verstanden werden. Die Ereignisse (8, 9) begleiten die Besucher im gesamten Erdgeschoss, werden hier aber erst nach der Analyse der anderen Ereignisse näher betrachtet.
Linker Seitenflügel: Verweigerung und Scheitern (2, 3) Im linken Seitenraum ist nichts zu sehen außer einer Vitrine, die sich im hinteren Drittel auf der Mittelachse befindet. Die Vitrine ist etwa hüfthoch, von oben einsehbar und bietet Platz für fünf handgeschriebene Bögen Papier, einen Briefumschlag und ein Schild. Durch die Größe des Raumes (ca. 350 m²) ist neben der Anwesenheit der Vitrine vor allem die Abwesenheit anderer Objekte im Raum augenfällig. Der Raum wirkt leer, stark ästhetisiert und auratisch. Aus dem Raum heraus führen zwei Durchgänge: aus dem rechten dringt Musik, die auch im Hauptraum hörbar ist, der Raum dahinter ist etwas weniger hell erleuchtet. Durch den linken Durchgang ist zunächst nichts Auffälliges zu erkennen. Folgt man der Musik, betritt man durch einen kurzen Durchgang, an dessen Wand ein Titelschild (›Ceal Floyer »`Til I Get It Right« (2005)‹) befestigt ist, ein Kabinett von etwa 16 m² mit opaken Fenstern. In diesem Raum befinden sich Lautsprecher, die weiß gehalten sind, so dass sie mit den Wänden eine optische Einheit eingehen, ohne direkt versteckt zu sein. In einer sehr präsenten, aber nicht unangenehmen Lautstärke läuft ein gesungenes Musikstück. Der Raum muss durch den Eingang wieder verlassen werden, so dass man durch den Hauptraum zum zweiten oben erwähnten
Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums
Durchgang gelangt, bei dessen Durchschreiten der ebenfalls bereits erwähnte Luftzug wieder stark spürbar ist. Der angrenzende Raum wirkt weniger imposant, In eine der Wände ist bündig eine ebenfalls weiße Tür eingelassen, die an eine Tapetentür erinnert und nicht zum Ausstellungsparcours gehört, sondern praktischen Nutzen erfüllt (Notausgang, Personal). In diesem Raum ist nichts ausgestellt. In der Vitrine (2) liegen fünf Bögen handbeschriebenes Papier und ein Briefumschlag gemeinsam mit einem Paratext in Form des üblichen Titelschildes der dOCUMENTA (13). Die Vitrine konnotiert sowohl eine gewisse Wertigkeit der darin präsentierten Objekte, als auch die Notwendigkeit diese vor Beschädigung oder Diebstahl zu schützen. Der Aspekt der Wertigkeit wird durch das Vorhandensein des Paratextes und die singuläre Inszenierung im Raum verstärkt, so dass Besucherinnen und Besucher schließen können, dass es sich um ein Exponat handelt, das neben eines potentiellen materiellen Wertes auch für die Ausstellung zentrale Bedeutung hat. Der Paratext ähnelt zwar den Titelschildern der Ausstellung, entspricht ihnen inhaltlich und formal allerdings nicht: ›Ein Brief von Kai Althoff an Carolyn Christov-Bakargiev, 24. Mai 2011. Ausgestellt von Carolyn Christov-Bakargiev mit Erlaubnis des Künstlers.‹ Während Titelschilder mit Werklegende in Kunstausstellungen im Regelfall als Anzeichen dafür verstanden werden können, dass es sich bei dem benachbarten Objekt um ein Kunstwerk handelt, erläutert dieser Paratext, dass es sich bei diesem Exponat um etwas – einen Brief – handelt, das zwar von einem Künstler verfasst wurde, aber anscheinend selbst kein Kunstwerk ist. Diese kategorisierende Form des Paratextes findet sich sonst eher in natur-historischen Museen und Ausstellungen. Auch das Begleitbuch gibt einen Hinweis auf den Sonderstatus dieses Exponats: Im Raumplan des Fridericianums ist kein Exponat an dieser Stelle vermerkt. Kai Althoff wird im gesamten Katalog nicht erwähnt. Er ist somit kein teilnehmender Künstler der dOCUMENTA (13). Dennoch findet sich im Brain eine kleinformatige Malerei des Künstlers, im Raumplan mit einem leeren Pfeil markiert. Der Briefumschlag trägt als Absender die Adresse des Künstlers, was die Authentizität des Präsentierten erheblich erhöht. Später wurde der Umschlag herumgedreht, so dass nicht mehr die Anschrift des Absenders lesbar ist, sondern die Empfängerin ohne Anschrift: ›Carolyn Christov-Bakargiev‹. Dies schmälert die Wirkung der Authentizität, dient aber der Privatsphäre des Künstlers. Die Formulierung ›Erlaubnis‹ im Paratext deutet darauf hin, dass der Brief nicht für eine öffentliche Zurschaustellung gedacht war, möglicherweise sogar vertraulich behandelt werden sollte. Dies korreliert auch mit dem Inhalt: Kai Althoff teilt Carolyn Christov-Bakargiev mit, dass er sich, entgegen seiner vorherigen Zusage, entschieden hat, nicht an der dOCUMENTA (13) teilzunehmen. Er entschuldigt sich dafür, falls dies Unannehmlichkeiten verursachen würde und verspricht niemandem davon zu erzählen, dass er eingeladen war. Als Begründungen gibt er an, bei zu vielen anderen Projekten zugesagt zu haben und die Sorge zu haben, den Vorstellungen von Carolyn Christov-Bakargiev nicht entsprechen zu können. Ständig wird parallel – zumindest unterschwellig – Ereignis (3) wahrgenommen. Das Musikstück von Ceal Floyer dringt durch weite Teile des linken Seitenflügels, wobei die Quelle der Geräusche im Kabinett auszumachen ist. Der von einer Frauenstimme, möglicherweise die der Künstlerin, gesungene Text lautet ›I’ll just keep on / ›till I get it right‹, also in etwa ›ich werde einfach weiter machen, bis ich es richtig mache‹, der sich unablässig wiederholt und selbst keine Information darüber gibt, was genau gelingen soll. Womit allerdings fortgefahren wird, ist die Wiederholung der beiden Textzeilen,
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eine Gesangsstunde oder Probe könnte assoziiert werden, bei der eine besonders heikle Stelle immer wieder gesungen wird. Allerdings ist der Fehler oder Makel nur durch ein Vorwissen feststellbar, auf das die Ausstellung selbst keinerlei Hinweise liefert. Das Begleitbuch stellt den Bezug jedoch her: Die Künstlerin bezieht sich auf das Stück ’Til I Get It Right (1972) von Tammy Wynette.1 Dort heißt es allerdings: ›I’ll just keep on / fallin’ in love with you / till I get it right‹, somit scheitert die Künstlerin mindestens daran, den Refrain korrekt wiederzugeben, möglicherweise aber auch an anderen Dingen. Vergegenwärtigt man sich, dass sich dieses Scheitern und Wiederversuchen über einhundert Tage erfolglos wiederholt, könnten sehr negative Konnotationen aufgeführt werden. Diese korrelieren allerdings nicht mit der heiteren Melodie und Stimmfarbe der Sängerin, ebenso wenig mit dem Raumgefühl. Auch die meisten Besucherinnen und Besucher schienen sich an diesem Ort wohl zu fühlen, verweilten, einige tanzten sogar. Versucht man diese positive Atmosphäre auf die Deutung des Kunstwerkes zu übertragen, verlagert sich der Fokus auf die Einstellung der Sängerin, immer weiter zu machen, selbst wenn das Scheitern möglicherweise vorprogrammiert ist. Der Versuch bekommt seinen eigenen Wert, möglicherweise seine eigene Schönheit, denn obwohl der Text von Tammy Wynette objektiv falsch wiedergegeben wird, funktioniert die Version von Ceal Floyer ebenso. Tatsächlich lässt sich der Gesang auch als Kommentar zu Kai Althoffs Position, sowie der gesamten Ausstellung lesen. Die Arbeit stammt von 2005, wurde also nicht als Kommentar angefertigt, aber möglicherweise als solcher positioniert. Der Begriff des Scheiterns, stammt aus dem Metatext von Carolyn Christov-Bakargiev, denn die Kunst ›wird sogar durch das definiert, woran sie scheitert.‹ Auch hier verliert die Kunst nicht an Wert oder Bedeutung durch ihr Scheitern – der Versuch kann genau so als Kunst bezeichnet werden.
Rechter Seitenflügel: Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten (4-7) Der rechte Seitenflügel ist ähnlich dem linken aufgebaut: auch hier findet man sich in einem annähernd leeren Raum, an dessen Wand eine Vitrine steht, neben der eine gerahmte Fotografie hängt. Die Vitrine beinhaltet drei Plastiken, die ein Titelschild als Arbeiten von Julio González ausweist. Die Fotografie zeigt zwei Personen vor einem schwarzen Ausstellungsdisplay, auf dem sich die gleichen Plastiken, teilweise verdeckt durch die Personen, befinden. Im Gegensatz zum linken Flügel gibt es nur einen Durchgang, der in einen weiteren L-förmigen Raum führt, der ebenfalls einen Einbau und eine unauffällige Tür aufweist. Ein weiterer Durchgang führt aus diesem Raum in das der linken Gebäudeseite entsprechende Kabinett, welches wie der Raum davor keine Fenster aufweist und relativ dunkel ist. In diesem Raum befindet sich eine kleine gerahmte Zeichnung und in einer Nische, die durch einen ehemaligen Durchbruch zum Hauptraum gebildet wird, ein Flachbildfernseher, auf dem Nachrichtensendungen in verschiedenen Sprachen gezeigt werden, die augenscheinlich alle ein bestimmtes Gemälde betreffen. Neben dem Eingang befindet sich außerdem noch eine ausführliche Texttafel, die die hier gezeigten Objekte kontextualisiert, aber aufgrund ihrer Positionierung den meisten Besucherinnen und Besuchern erst beim Verlassen des Kabinetts 1 | Vgl. E. Scharrer: Ceal Floyer, S. 62.
Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums
auffallen dürfte. Dieser Bereich der Ausstellung weist durch die Positionierung der Exponate im Hauptraum an einer Wand und dem architektonischen Umstand, dass die restlichen Räume der Reihe nach zu begehen sind, eine linearere Leserichtung auf, was auch im Besucherstrom deutlich abzulesen ist, der in vertrauter Leserichtung zunächst auf die Vitrine (4), dann auf die Fotografie (5) und am Ende der Räume auf die verschiedenen Exponate von Khaled Hourani (6) trifft. Die drei Arbeiten von Julio González sind die ersten sichtbaren Objekte, die auch als Kunstwerke definiert sind, und erlangen durch die sie umgebene Abwesenheit von Exponaten eine besondere Stofflichkeit. Gleichzeitig sind sie durch das Glas der Vitrine nicht nur geschützt, sondern gleichsam auch entrückt. Sie sind zwar körperlich anwesend, allerdings körperlich nicht erfahrbar. Dies wird verstärkt, da diese Objekte, die von sich aus zum allseitigen Betrachten auffordern, an einer Wand präsentiert sind und somit fast wie ein Tafelbild von einer Hauptseite betrachtet werden. Obwohl es so erscheint, dass die angenommene Erwartung der Besucherinnen und Besucher, Kunst zu sehen, hier endlich bestätigt wird, tritt gleichzeitig eine gewisse Enttäuschung dieser Erwartung ein, da die Arbeiten alle zwischen 1930 und 1937 entstanden sind und somit die Kunst kaum als zeitgenössisch beschrieben werden kann. Folgt man der Leserichtung, gelangt man zu einer gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografie, die zwei Menschen – eine Frau und einen Mann – zeigt, die dieselben Arbeiten von Julio González betrachten. Die rechte Plastik ist fast vollständig von der männlichen Person verdeckt. Vergleicht man das tatsächliche Display und die Fotografie, stellt man fest, dass es sich nicht nur um die selben Arbeiten handelt, sondern diese auch exakt identisch präsentiert sind. Dennoch gibt es Unterschiede: Auf der Fotografie sind die Exponate nicht durch eine Glashaube geschützt und es scheint, als ob das Ausstellungsdisplay weiter an der Wand entlang führt. Eine letzte und dennoch augenfällige Andersartigkeit ist die Mode der Personen auf dem Foto, die sich der Mitte des 20. Jahrhunderts zuordnen lässt. Ein Schild schließlich informiert nicht nur über die Titel der drei Plastiken, sondern auch über den Hintergrund der Fotografie: Ein unbekannter Fotograf nahm die Situation auf der II. documenta auf. Dabei handelt es sich nicht um einen typischen Installation-Shot. Tatsächlich scheinen die Kunstwerke gar nicht das Motiv zu sein, sondern vielmehr die Personen im Vordergrund. Durch das Bild und das Titelschild lässt sich somit erschließen, dass es sich bei diesem Ausstellungsdisplay nicht bloß um drei Exponate von Julio González handelt, sondern diese gewissermaßen eine Wiederholung von etwas bereits Geschehenem darstellen. Tatsächlich ist die Präsentation eine quasi-theatralische Inszenierung, die erfahrbar macht, was 1959 sich an eben dieser Stelle befand. Auch ohne sich den Einführungstext aus dem Entree zu erinnern, ist es also möglich, eine ›Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten‹ festzustellen. Man könnte von einer manifestierten Erinnerung sprechen, die natürlich nicht die Erinnerung der heutigen Betrachterinnen und Betrachter ist, aber durch ihre Wiederholung gleichsam genau dazu wird. Die dOCUMENTA (13) positioniert sich damit sowohl ›standortbezogen‹, da ›sie die Bedeutung eines physischen Ortes betont, jedoch gleichzeitig auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt‹, als auch ganz deutlich historisch: Die dOCUMENTA (13) ist kein singuläres Ereignis, sondern erkennt ihre eigene Geschichte an und verweist explizit auf diese. Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, kann man sich ganz von dem Display lösen und den restlichen, leeren Raum betrachten. Die
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augenfällige Leere bietet sich jetzt als Einschreibfläche für weitere, eigene Erinnerungen und Vorstellungen an: Was hat sich hier befunden? Was könnte sich hier befinden? Dem Display wurde im Laufe der einhundert Tage eine weitere, erläuternde Texttafel beigefügt, die die Verbindung der Exponate mit dem leeren Umraum nahe legt: ›González skulpturales Werk ist als ›Zeichen im Raum‹ bezeichnet worden: ein skelettartiger Kubismus, bei dem Linie, Gleichgewicht und Abwesenheit nicht weniger bedeutsam sind als Masse.‹ Außerdem eröffnet dieser Metatext noch politische Bezüge, die sich nicht direkt aus dem Display ableiten lassen, aber aufgrund der Entstehungsund Ausstellungsdaten nachvollzogen werden können: ›Im heutigen Zusammenhang auf González zurückzukommen bedeutet, die Trauerarbeit wiederaufzunehmen, die die documenta in der Kunst- und Kulturgeschichte nach den weltweiten Zerstörungen und während des Wiederaufbaus Deutschlands geleistet hat.‹ Eine – wenn auch unauffällige – Besonderheit des Textes ist die Formulierung ›Auf der dOCUMENTA (13) bewohnen González‘ Werke einen geschichtlich-politischen Raum‹, die den Objekten mit ›bewohnen‹ ein Verb zuspricht, das sonst im Zusammenhang mit handelnden Subjekten verwendet wird. Die Werke werden hier selbst als Entitäten, als ›Produzenten der Welt‹, verstanden. Diese These der dOCUMENTA (13) wird aber an anderer Stelle, z.B. auf dem Friedrichsplatz, deutlicher zur Diskussion gestellt. Die Decodierung dieses Displays könnte die Sicht auf das gesamte Ausstellungsensemble entscheidend geprägt haben, wobei es tatsächlich weniger erforderlich ist, die Kunstwerke zu analysieren, als denn ihre Präsentation und den Zusammenhang von Werken, Display, Fotografie und Umraum. Wird dieser Zusammenhang nicht hergestellt, stehen andere Interpretationen im Vordergrund, wie eine übersteigerte Bedeutsamkeit der einzelnen Position in einem repräsentativen Raum. Dieses Display ist ein gutes Beispiel für die potentielle ›Vernichtung‹ von Kunstwerken durch kuratorische Erzählungen, da die Arbeiten zwar als das betrachtet werden können, was sie sind, sie aber gleichzeitig zur Illustration eines Gedankengangs der Ausstellungsmacher genutzt werden. Folgt man dem einzig möglichen Weg in das diesseitige Kabinett, wird man mit einer zunächst konträren Präsentation konfrontiert. Der Raum ist in einem Dämmerlicht gehalten, wirkt eng. Der Charakter des Gebäudes, der Besucherinnen und Besucher bisher ständig begleitet hat, tritt hier in den Hintergrund. Ein Flachbildfernseher in einer Nische zur Linken zeigt Nachrichtensendungen in verschiedenen Sprachen und ein dezenter Spot erleuchtet eine etwa postkartengroße, gerahmte Zeichnung an der rechten Wand. Diese Zeichnung zeigt eine stark abstrahierte, kubistische Figur, die mit einer erhobenen Schere einen Stacheldraht durchtrennt. Der Stil lässt sich relativ eindeutig mit Pablo Picasso assoziieren. Im Gegensatz zu dem wirtschaftlichen und ideellen Wert, mit dem dieser Künstler verbunden ist, irritiert die Präsentation im einfachen Holzrahmen, der direkt, scheinbar schutzlos, an die Wand gebracht wurde. Verstärkt wird diese Irritation durch den Fernseher, der nicht nur verhindert, dass in dem dunklen Kabinett eine möglicherweise erhabene Atmosphäre entsteht, sondern auch dazu auffordert, dem Werk den Rücken zuzukehren. Die dort zu sehenden Nachrichtensendungen zeigen den Transport und eine museale Präsentation des Werkes Buste de femme (1943) von Pablo Picasso, bei der das Werk von zwei Soldaten flankiert wird. Aufgrund der Untertitelungen lassen sich die Sendungen den Niederlanden, Israel und Palestina und möglicherweise weiteren Ländern zuordnen. Laut der Beschilderung handelt es sich um den Dokumentarfilm Picasso in Palestine (2012) von Khaled Hourani und
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Rashid Masharew. Das Medium Fernseher entspricht in dieser Präsentation seiner Bezeichnung: Man sieht in die Ferne. Buste de femme ist an diesem Ort zu dieser Zeit nicht verfügbar, wird dem Besucher nur als Surrogat vermittelt. Wendet man sich erneut der Zeichnung zu, wird deutlich, dass sie nach dem Picasso-Gemälde entstanden ist, aber die den Stacheldraht durchtrennende Schere hinzugefügt wurde. Als drittes Objekt befindet sich ein Text im Raum, der die Hintergründe der beiden anderen Exponate erläutert. Auf Bemühungen von Khaled Hourani, Künstler und Leiter der International Academy of Art Palestine (IAAP), wurde im Juni 2011 zum ersten mal ein Werk von Pablo Picasso in Palestina gezeigt. Buste de femme wurde aus dem Eindhovener Van Abbemuseum entliehen und unter großem organisatorischem Aufwand in Ramallah ausgestellt. Es gab des weiteren eine Begleitausstellung in Ostjerusalem. Die Zeichnung stammt von Amjad Ghannam, der zum Zeitpunkt der Ausstellung als politischer Gefangener inhaftiert war. Viele dieser Informationen lassen sich sicherlich auch aus dem Film gewinnen, sofern man den jeweiligen Landessprachen mächtig ist. Neben den Fragen, die die Aktion und deren Dokumente selbst aufwerfen, fügt sich die Präsentation in den Zusammenhang der dOCUMENTA (13). Auch an dieser Stelle geht es ebenso wie bei den Plastiken von Julio González um die Ab- und Anwesenheit gewisser Kunstwerke an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit. Während den Besucherinnen und Besuchern zuvor ein zeitlich vergangenes Objektensemble wieder verfügbar gemacht wurde, ist Buste de femme direkt und zumindest während der Ausstellung in Palestina aus der relativen Nähe Eindhovens entzogen und anderen Menschen, an einem anderen Ort, verfügbar gemacht. Dies verweist auf die im Einführungstext betonte Relevanz von Standort und Perspektive.
Leere R äume: Etwas, woran ich mich erinnern kann (8, 9) Bereits in den vorangegangenen Abschnitten wurden der scheinbaren Leere der Ausstellungsräume immer wieder neue Bedeutungsebenen zugeschrieben, doch auch wenn diese von Besucherinnen und Besuchern nicht komplett vollzogen wurden, wird beim Durchschreiten der Torbögen und in den L-förmigen Räumen eine körperliche Erfahrung gemacht worden sein: wenn dieser Umstand nicht bereits zuvor bekannt gewesen ist, sollten Besucher jetzt in der Lage sein, die leeren Räume (9) und einen von diesen verschieden starken Luftzug (8) differenziert wahrzunehmen. Während zu Beginn des Ausstellungszeitraumes kein gesonderter Hinweis auf den Windzug in den Ausstellungsräumen zu finden war, wurde später in beiden Flügeln ein Titelschild angebracht, welches auf eine Installation von Ryan Gander mit dem Titel I Need Some Meaning I Can Memorize (The Invisible Pull) (2012) verweist. Im Katalog und verschiedenen Ausstellungsplänen war die Arbeit von Anfang an verzeichnet. Die anzunehmenden Erwartungen von Besucherinnen und Besuchern einer Kunstausstellung, Kunst zu sehen, die nach Möglichkeit als aktuell oder zeitgenössisch zu klassifizieren ist, werden im Erdgeschoss des Fridericianums weitestgehend frustriert. Die beiden auditiv (3) bzw. audio-visuell (6, 7) wahrnehmbaren Positionen sind jeweils in Kabinette zurückgezogen und entwickeln auch keine Präsenz, die weitläufigen Räume zu füllen. Gleiches gilt für die Dokumente (2, 5) und die historischen Arbeiten (4). Dadurch verschiebt sich die Wahrnehmung auf die Architektur des Gebäudes und die Entscheidung, diese weitestgehend leer zu lassen. Möglicherweise wird auch die Institution do-
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cumenta ›in den Blick genommen‹, die die Architektur nutzt und für diese Setzung verantwortlich ist. Jana Scholze stellt fest, dass »[...] Neutralität und Objektivität [von Ausstellungen und deren Autorinnen und Autoren] von vielen Besuchern vorausgesetzt [werden], was zu kritikloser Glaubwürdigkeit der Ausstellungsinhalte führen kann und die Gefahr von Mythosbildung und ideologischer Beeinflussung birgt.«2 Eine Inblicknahme dieser Positionen, wie sie das Erdgeschoss des Fridericianums provoziert, könnte insbesondere durch die anzunehmende persönliche ›Enttäuschung‹ dazu führen, diese Neutralität und Objektivität in Frage zu stellen: »Ausstellungen sind aber [...] weder in Bezug auf ihre Inhalte noch auf ihre gesellschaftliche Position neutrale Präsentationen. Als Ort der gesellschaftlichen Erinnerung intendieren sie, Annäherungen an Vergangenes, Fremdes, Unbekanntes zu gestalten und Sensibilisierungen gegenüber dem Eigenen und Gegenwärtigen auszulösen.«3 Es ist notwendig, diese Abwesenheit nicht ausschließlich als Mangel zu begreifen, sondern als bewusste Setzung zu identifizieren, für die Wände in das Erdgeschoss eingezogen wurden, um die inszenierte Leere nicht mit Arbeiten von Michael Rakowitz, Alexander Tarakhovsky und Salvador Dali zu konfrontieren. Diese Setzung kann decodiert oder durch die umliegenden Positionen als ein Sinnbild für Verweigerung, Scheitern und den locational turn gelesen werden. Dies kann darüber hinaus als Aufforderung an die Besucherinnen und Besucher verstanden werden, sich durch Handlungen und Diskurs in diese Räume einzuschreiben. Ähnliches lässt sich durch die Arbeit I Need Some Meaning I Can Memorize (The Invisible Pull) initiieren und bewusst machen: Tatsächlich ist das Fridericianum nicht wirklich leer, sondern durch eine mehrere Räume überspannende Installation beherrscht. Diese bricht gleichzeitig mit den Erwartungen und löst sie dennoch ein. Ein Kunstwerk wird körperlich erfahrbar gemacht, es verursacht mitunter Unwohlsein oder sorgt für willkommene Erfrischung. Es ist anzunehmen, dass die Leere im Fridericianum und die Installation in Erinnerung geblieben sind (›I can memorize‹), dennoch werden Besucherinnen und Besucher mit einem Bedürfnis (›I need some meaning‹) konfrontiert, das nicht direkt befriedigt wird, sondern zur eigenständigen Suche innerhalb des Ausstellungsensembles auffordert. Dass dieses allerdings durchaus zu decodieren und nicht enigmatisch oder leer ist, wurde durch die bisherige Analyse gezeigt.
Die homodiegetische Erzählerin (1, 2, 5, 9) Carolyn Christov-Bakargiev nimmt neben ihrer extrem präsenten Rolle als Künstlerische Leiterin dieser documenta eine weitere ständig präsente Rolle ein: als Erzählerin der Ausstellung. Da Erzähler und Autoren in der Narratologie nicht identisch sind, ist diese Feststellung durchaus nicht selbstverständlich. Heike Buschmann arbeitet sehr plausibel heraus, dass Leserinnen und Leser einer Erzählung immer Beziehungen zu den verschiedenen Akteuren dieser Erzählung eingehen, insbesondere zum Erzähler. Das Erzählte wird somit nie unvermittelt wahrgenommen, sondern nur durch das
2 | J. Scholze: Zeichenlesen in Ausstellungen, S. 142. 3 | Ebd.
Auf der Bühne: Das Erdgeschoss des Fridericianums
Beobachtungs- und Wahrnehmungsvermögen des Erzählers.4 Übertragen auf Ausstellungen bringt sie sowohl Beispiele für heterodiegetisch Erzählende, die zum Teil auch nicht direkt im Kontext der Ausstellung auftreten, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Exponate katalogisieren und somit auch auf deren Präsentation Einfluss nehmen, als auch insbesondere homodiegetisch Erzählende, die als Teil der Museumspädagogik durch die Ausstellung führen können.5 Es wird allerdings explizit darauf hingewiesen, dass diese in erster Linie in natur- und kulturhistorischen Museen auftreten. »Kunstmuseen hingegen arbeiten mit einer anderen Form des Aufbaus, indem sie z.B. nicht durchgängig Charaktere, Ereignisse, Plotzusammenhänge oder Spannungsbögen verwenden.«6 Dem ist im Allgemeinen sicherlich zuzustimmen, dennoch verhält es sich auf der dOCUMENTA (13), insbesondere im Fridericianum, anders: Es ist klar, dass jede Ausstellung von einer oder mehreren Personen konstruiert wurde und somit auch gewissermaßen erzählt wird. Neben den Künstlerinnen und Künstlern sind etliche weitere Akteure dafür verantwortlich zu entscheiden, was auf welche Art präsentiert wird. All diese Autorinnen und Autoren sind auch potentielle Erzähler, allerdings nicht Teil der erzählten Welt und somit in jedem Fall heterodiegetisch. Diese Andersartigkeit zur Erzählung könnte dazu führen, dass Besucherinnen und Besucher diese Instanz kaum oder gar nicht wahrnehmen und somit das Gefühl haben, direkt einem Sachverhalt gegenüber zu stehen. Für die documenta gilt dies durch den Personenkult, der um die jeweilige Künstlerische Leitung gemacht wird, weniger als für viele andere Kunstausstellungen. Die Autorinnen und Autoren sind – zumindest repräsentiert durch die Künstlerische Leitung – den meisten Besucherinnen und Besuchern präsent: Carolyn Christov-Bakargiev stand vor und während der Ausstellung nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch als Person im Mittelpunkt des feuilletonistischen Interesses. Ihre Thesen wurden kritisch bis zynisch kommentiert, so dass sowohl die Fachpresse als auch ein Großteil der Besucherinnen und Besucher anhand der Ausstellung überprüfen wollten, ob die Künstlerische Leiterin und ihr Team an diesen Positionen festhielten. Diese Präsenz der heterodiegetischen Erzählerin bzw. des Erzählers hat sowohl negative als auch positive Folgen für Ausstellung und Besuchende: Es besteht die Gefahr, dass die eigentliche Erzählung – also die Kunstwerke und deren Zusammenstellung – zu Gunsten der Erzählenden in den Hintergrund gerückt werden. Gleichzeitig wird eine kritische Positionierung gegenüber dem Gezeigten ermöglicht, indem es als subjektive Auswahl einer bestimmten Person oder Gruppe gekennzeichnet wird. Trotz dieses besonderen Fokus auf die heterodiegetischen Erzählerinnen und Erzähler einer documenta, stellen sie, da notwendige Bedingung einer Erzählung, keine Besonderheit dar. Anders verhält es sich mit der homodiegetischen Erzählerin der dOCUMENTA (13): Bereits im Entree des Fridericianums treffen Besucherinnen und Besucher nicht direkt auf eine erzählende Figur, allerdings finden sich dort die bereits oben erwähnten Wandtexte, deren Autorin durch eine Signatur deutlich ausgewiesen ist: Carolyn Christov-Bakargiev. In den beiden Seitenflügeln befinden sich die Vitrinen mit Kai Althoffs Brief und den Plastiken von Julio González. Der Brief ist nicht nur an Carolyn Christov-Bakargiev gerichtet, sondern wurde laut Beschilderung auch von ihr 4 | Vgl. H. Buschmann: Erzähltheorie als Museumsanalyse, S. 151f. 5 | Vgl. ebd., S. 154. 6 | Ebd., S. 150.
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Kuratorische Praxis
ausgestellt. Der Autor des Briefes, Kai Althoff, hat lediglich die Genehmigung erteilt. Sie wird hier sowohl durch den Inhalt des Briefes als auch ihren Umgang damit selbst zum Teil der erzählten Geschichte und ist somit mehr als bloß Autorin oder heterodiegetische Erzählerin. Ähnlich verhält es sich mit den Plastiken von Julio González, deren Anwesenheit über das von Carolyn Christov-Bakargiev gefundene Foto begründet wird. Carolyn Christov-Bakargiev ist nicht nur eine Autorin der dOCUMENTA (13), sondern gleichzeitig deren homodiegetische Ich-Erzählerin. Diese ist zwar nicht in allen Ausstellungsbereichen explizit präsentiert, aber vor allem im Fridericianum sind ihre Interpretationen und Geschichten allgegenwärtig. Entgegen dem ersten Eindruck einer stark auratischen, ästhetischen Ausstellungssprache zeigt sich, dass das Ensemble im Erdgeschoss fast didaktisch aufgebaut ist. Zentrale Thesen der dOCUMENTA (13) werden skizziert, vor allem aber eine deutliche Sprecherposition etabliert. Dies kann sicherlich kritisiert werden, aber es steht fest, dass je mehr das sprechende Subjekt erkennbar wird, umso mehr ist es dem Publikum auch möglich, Stellung zu beziehen.7 Die deutliche Betonung der Ausstellungsarchitektur, der Ausstellungsorganisation (Kai Althoff) und der Institutionsgeschichte (Julio González), sowie das dominante Auftreten Carolyn Christov-Bakargievs können als Sichtbarmachung der Institution verstanden werden und als Versuch, »die scheinbare Neutralität des Ausstellungsraums selbst bedrohlich zu machen.«8 Sie nutzt die ›Bühne‹ somit nicht nur, um zentrale Thesen zu illustrieren oder Kunstwerke zu präsentieren, sondern positioniert sich selbst als Institution und deren Aushängeschild, die Künstlerische Leitung, in Personalunion Carolyn Christov-Bakargievs, die gleichzeitig noch zur homodiegetischen Erzählerin dessen wird, was ›auf der Bühne‹ präsentiert wird: die Kunst, der Geisteszustand und sie selbst.
7 | Vgl. R. Muttenthaler/R. Wonisch: Gesten des Zeigens, S. 40. 8 | J. Barry: Dissidente Räume, S. 82.
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Unter Belagerung: Der Friedrichsplatz
Kassel selbst erscheint zur Zeit der documenta alle fünf Jahre gewissermaßen ›unter Belagerung‹. Kreuzungspunkt der Besucherströme, der Kritik und außenstehender Akteure stellt der Friedrichsplatz dar, der durch die jeweiligen documenta-Ausstellungen unterschiedlich genutzt und in deren Ausstellungsensemble eingebunden war. Durch die offene Fläche lässt sich keine bestimmte Reihenfolge der Ereignisse dieses Ausstellungsgefüges festschreiben. Die hier vorgenommene Nummerierung bezieht sich auf Themengruppen und antizipiert bereits die folgende Analyse. Außerdem führt die Offenheit dazu, dass neben den intendierten Setzungen der dOCUMENTA (13) eine Vielzahl anderer Ereignisse wahrgenommen werden können und auch die komplette Organisationsstruktur, etliche temporäre Lokale, der Buchladen und das Stadtgeschehen Teil der Konstellation werden. Daher werden in diesem Kapitel neben drei künstlerischen Positionen (1, 2, 3) der dOCUMENTA (13) auch drei Ereignisse besprochen, die gewissermaßen von Außen hinzu gekommen sind, wobei natürlich eine unzählbare Summe weiterer Ereignisse mitgedacht werden müssen:
Abb. 6: Ausstellungsplan: Friedrichsplatz.
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(1) Metallquader The Weight of Uncertainty (2012) von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg (2) Hochgarten The Lover (2012) von Kristina Buch (3) Imaginäre Pyramide Ontem, areias movediças (Yesterday, quicksands) (2012) von Renata Lucas (4) Vertical Earth Kilometer (1977) von Walther de Maria zur documenta 6 (5) Mann im Turm (2012) von Stephan Balkenhol (6) Occupy-Lager vor dem Fridericianum (dOCCUPY) Der Vollständigkeit halber sollen an dieser Stelle noch weitere intendierte Setzungen aufgeführt werden, die durch das offene Arrangement der Exponate sicherlich mitrezipiert werden, aber hier nicht betrachtet werden, sowie die auf dem Platz verbliebenen Werke vorheriger documenta-Ausstellungen: (7) Soundinstallation Kaufhaus Incidentals – Music for Department Stores (2012) von Gabriel Lester (8) Schaufenster mit Kleidung und Objekten von Seth Price und Tim Hamilton (9) Fernseher an verschiedenen Orten mit Videos von Ana Prvacki (10) Die Fremden (1992) von Thomas Schütte (11) Zwei der 7000 Eichen (1982-1987) von Joseph Beuys Da das Kunstwerk von Stephan Balkenhol und dessen Verhältnis zur dOCUMENTA (13) (möglicherweise auch eine Form der gegenseitigen ›Belagerung‹) stark diskutiert wurde und auch in der Presse viel Aufmerksamkeit erfahren hat, soll es, nachdem die Setzungen (1-4) besprochen wurden, zunächst für sich selbst beschrieben und gedeutet werden, um es dann in Bezug zu der durch die dOCUMENTA (13) angelegten Konstellation auf dem Friedrichsplatz zu setzen.
Erste Eindrücke (1-3) Überblickt man den Friedrichsplatz, bleibt das Auge zunächst an keinem spezifischen Objekt hängen. Es kann keine auffällige künstlerische Setzung der dOCUMENTA (13) ausgemacht werden. Der Platz wirkt trotz der lebhaften Atmosphäre vernachlässigt und leer. Dies könnte als Prolepse der Leere im Erdgeschoss des Fridericianums gedeutet werden. Erinnert man sich an den Friedrichsplatz vergangener documenta-Ausstellungen, wird hier mit der Erwartung der Besucherinnen und Besucher gebrochen. Es könnte sogar Enttäuschung hervorgerufen werden. Dass diese durchaus intendiert ist, deutet Carolyn Christov-Bakargiev an: »Ich habe keine spektakuläre Inszenierung vor dem Fridericianum. Dort wird nur ein Buchladen stehen.«1 Entgegen dieses ersten Eindruckes lassen sich bei genauerer Betrachtung einige Setzungen ausmachen: Ein rostiger Metallquader (1) mit den Abmessungen 96 x 69 x 69 cm liegt auf einer langen Seite und im Verhältnis zu der Architektur des Platzes schief direkt auf der Wiese vor dem Fridericianum. Er erinnert möglicherweise an einen Sockel, doch fehlt das zu präsentierende Objekt. Seine Größe entspricht nicht den 1 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S.
Unter Belagerung: Der Friedrichsplatz
Sehgewohnheiten für Kunst im öffentlichen Raum, da er zu klein erscheint, als dass er für sich bestehen könnte. Ansonsten ist an dem Objekt nichts abzulesen. Es erscheint in sich gekehrt und möglicherweise sogar belanglos. Einige Meter abseits, am Hauptweg, ist auf einem Pfahl ein Titelschild angebracht, welches das Objekt als The Weight of Uncertainty (2012) von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg ausweist. Es kann somit als Kunstwerk identifiziert werden. Neben dem Titel und den oben genannten Maßen wird auch das Gewicht des Objektes mit 3600 kg angegeben. Der Aspekt des Gewichtes lässt sich ohne Weiteres mit dem Metallquader assoziativ in Verbindung bringen, ebenso die im Titel angeführte ›Ungewissheit‹. Gleichzeitig muss aber festgestellt werden, dass der Titel zwar Hinweise auf die Intention des Objekts geben kann, aber nicht über seine minimalen ästhetischen Qualitäten hinwegtäuscht. Etwas abseits, auf dem durch die Straße abgetrennten Teil des Friedrichplatzes vor der documenta-Halle, befindet sich eine etwas auffälligere Installation (2), die ebenfalls durch ein Titelschild als ein Werk der dOCUMENTA (13) ausgewiesen ist: The Lover (2012) von Kristina Buch. Zu sehen ist ein auf Stützen stehender Container aus einem Modulsystem mit den ungefähren Maßen von 700 x 700 x 300 cm. Dieser enthält einen Hochgarten, der aus verschiedenen Pflanzen, u.a. Brennnesseln und Disteln, gebildet wird, die gemeinhin eher als Unkraut bezeichnet werden. Bei näherer Betrachtung lassen sich auch die in Deutschland üblichen Insekten wiederfinden. Auch dieses Objekt erscheint uneinsehbar, fast abwehrend: Die Höhe des Containers und die Pflanzen sorgen dafür, dass Betrachterinnen und Betrachter nicht erkennen können, was sich inmitten des Biotops abspielt. Auch in diesem Fall lässt der Titel The Lover gewisse Assoziationen zu, die aber nicht zu einem Verständnis der Installation führen. Ebenso wie das Werk von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg besitzt auch dieses wenig ästhetische Qualität, die zur näheren Betrachtung einlädt. Nach dieser ersten Kartierung des Platzes konnten Besucherinnen und Besucher zwei Objekte als Kunstwerke der dOCUMENTA (13) identifizieren. Beide erschließen sich aber ohne weitere Informationen nicht umfänglich. Eine dritte Arbeit, Ontem, areias mevediças (Yesterday, quicksands) (2012) von Renata Lucas (3), wurde mit höchster Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen – es sei denn, es wurde zufällig versucht, sich mit einem Mobilgerät mit dem ungeschützten W-LAN Yesterday Quicksands zu verbinden. Dies hätte zur Folge, dass den Nutzerinnen und Nutzern eine kurze Animation eines nicht zu identifizierenden, eigenartig geformten Raumes, der in gelbliches Zwielicht getaucht ist, präsentiert wurde. Weitere Aspekte dieser Arbeit ließen sich in verschiedenen Kellerräumen unter dem Friedrichsplatz finden, diese sind allerdings zunächst nicht offensichtlich. Gleiches gilt für die Arbeiten von Gabriel Lester und Seth Price (7, 8), die sich in das Erscheinungsbild eines Kaufhauses am Friedrichsplatz einfügen. Eine Interpretation der drei Einzelpositionen, die direkt auf dem Friedrichsplatz verortet sind, als auch deren Zusammenhang im Kontext der dOCUMENTA (13) ist ohne externe Informationen nicht oder nur in Teilen möglich. Eine Unzugänglichkeit oder möglicherweise sogar Verweigerung kann festgehalten werden. Es werden für die folgenden Analysen somit sowohl die Katalogtexte als auch andere Ausstellungsbereiche hinzugezogen, die Besucherinnen und Besucher erst nach und nach mit den Objekten auf dem Friedrichsplatz verknüpfen können.
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Nicht-Logozentrismus und Nicht-Anthropozentrismus (1, 2) Sowohl The Weight of Uncertainty als auch The Lover treten noch an anderer Stelle der Ausstellung in Erscheinung: In der documenta-Halle befindet sich direkt am Eingang ein Regalbrett mit Glashaube von Kristina Buch. Im ersten Geschoss des Fridericianums finden sich ganz am Ende des linken Traktes vier Schriftstücke auf etwa hüfthohen Säulen und ein Videofilm, die sich auf das Projekt von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg beziehen. Das Regalbrett in der documenta-Halle stellt sich deutlich als Ausstellungsdisplay dar und forciert gemeinsam mit den Vitrinen-Tischen, die die Arbeiten von Gustav Metzger enthalten, eine zwar hindurchschlendernde aber dennoch entdeckend-forschende Haltung der Besucherinnen und Besucher. Beide Displays sind auf die Blickhöhe erwachsener menschlicher Rezipierender ausgerichtet und erinnern an Präsentationsformen kultur- und naturhistorischer Ausstellungen. Zumindest im Falle von Kristina Buch wird dieser Eindruck durch den Inhalt des Displays bestärkt: Unter der Glashaube finden sich leere Schmetterlingspuppen auf kleine Nadeln aufgespießt. Diese können sicherlich durch viele Besucherinnen und Besucher als solche identifiziert werden. Da sich weder im Gegenstand noch in dessen Präsentationsform etwas genuin Künstlerisches ausmachen lässt, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei diesen Objekten um Dokumente oder Überreste handelt. Möglicherweise gelingt es auch, diese mit dem Hochgarten, der durch die Glasarchitektur der Halle sichtbar bleibt, zu verbinden. Das Prozesshafte dieser Präsentation – die Künstlerin fügt regelmäßig weitere Puppen hinzu – ist wahrscheinlich für die meisten Besucherinnen und Besucher nicht wahrnehmbar, aber zumindest die Zeilenführung der Puppen und der freie Raum verweisen auf ein ›Weiterschreiben‹. Auch wenn durch die Verknüpfung beider Aspekte der Arbeit ein Fokus auf die Insekten innerhalb des Biotops gelenkt werden könnte, scheint ein Blick in den Katalog notwendig, sich der Intention der Künstlerin anzunähern: »Auf einem erhöhten Podium pflanzte sie [Kristina Buch] eine Vegetation an, die ideale Nahrungsbedingungen für heimische Tagfalterarten bietet […]. Vor und während der Ausstellung werden Hunderte gezüchteter Tagfalter aus ihren Puppen schlüpfen und die Gelegenheit haben, die Blumeninsel zu bevölkern. Als symbolische Geste der Wiederherstellung, der die Möglichkeit des Scheiterns schon innewohnt, erstattet die Arbeit dem Land ein absurd kleines Bruchstück des biologischen Reichtums zurück, den es einmal besaß. In Schmetterlingen mit ihrem Tanz von Blüte zu Blüte mag man eine Metapher für Freiheit erkennen, hier aber sind sie […] an ihre Nahrungsquelle gebunden […].« 2
Alle aus der eigenen Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse lassen sich mit diesem Text in Verbindung bringen. Und auch wenn sich das Konzept nachvollziehen lässt, macht die Arbeit die initiierten Vorgänge selbst nicht wirklich sichtbar. Insbesondere das Ausbleiben von sichtbaren Schmetterlingen führte mitunter zu Enttäuschung. Der Raum im Fridericianum zu Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg wirkt im Gegensatz zu annähernd der gesamten restlichen Ausstellung eng, vollgestellt und gewissermaßen provisorisch. Es handelt sich darüber hinaus um einen Durchgangsraum 2 | E. Scharrer: Kristina Buch, S. 50.
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zum hinteren Treppenhaus, was diesen Eindruck verstärkt. Der Fernseher ist so positioniert, dass das Video nur aus einer Raumecke gut betrachtet werden kann. Es besteht aus verschiedenen Sequenzen, doch der Hauptteil zeigt zwei Männer, die Künstler, die sich in körperliche Beziehung mit einem eingezäunten Objekt bringen, es beklettern, auf ihm liegen, beim Versuch es zu bewegen. Bei den Schriftstücken handelt es sich um einen Brief an den Herausgeber der Tageszeitung Diario Norte von Vitorio Tomassone, einen Artikel vom 6. Januar 2012 betreffend; einen Brief von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg an Carolyn Christov-Bakargiev vom 13.01.2012; einen Brief an den Gouverneur der Provinz Chaco, Jorge Milton Capitanich, vom 8. Februar 2012; sowie einen undatierten Kommentar von Etel Adnan das gesamte Projekt betreffend. Diese authentischen Dokumente ermöglichen als Überreste, gemeinsam mit dem Katalogtext – der als einziger Text in diesem Band datiert ist, und zwar auf den 26. Januar 2012 – das ursprüngliche Projekt, den Transfer des Meteoriten El Chaco von Argentinien nach Kassel für die Dauer der Ausstellung, kennenzulernen und zu erfahren, warum es nicht verwirklicht werden konnte.3 Der Raum war in der ursprünglichen Konzeption der Ausstellung nicht oder nicht in dieser Form vorgesehen. Auf Ausstellungsplänen vom 20.01.2012 findet sich an dieser Stelle die Arbeit von Phinthong Pratchaya und im gegenüberliegenden Flügel, in dem diese schließlich zu finden war, die Arbeit von Simryn Gil, welche am Bahnhof ausgestellt wurde.4 Dies erklärt den engen und provisorischen Charakter zumindest teilweise, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, die Schriftstücke platzökonomischer und auch ästhetischer zu präsentieren – es ist somit anzunehmen, dass auch das Provisorische dieser Präsentation deutlich gemacht werden sollte. Obwohl sich sowohl das Projekt als auch sein Scheitern anhand verschiedener Quellen nachvollziehen lassen, findet sich kein direkter Verweis auf das Objekt auf dem Friedrichsplatz, wohl aber auf dessen Positionierung, allerdings noch den Meteoriten betreffend: »El Chaco en Kassel wird auf dem Friedrichsplatz neben ikonischen Werken wie dem Vertical Earth Kilometer, den Walter De Maria 1977 für die documenta 6 schuf, und den ersten und letzten für Joseph Beuys’ 7000 Eichen (1983 – 1987) gepflanzten Bäumen aufgestellt. Beide Orte, das Campo der Cielo und der Friedrichsplatz, sind zu Pilgerzielen und Orten der Spekulation geworden, der eine wegen seiner außergewöhnlichen Fundstücke, der andere wegen des Kulturereignis documenta.« 5
Die oben angenommene Erwartungshaltung der Besucherinnen und Besucher wird hier sowohl antizipiert als auch versucht zu bedienen: der Friedrichsplatz wird als Pilgerstätte der Kunstwelt verstanden, an der sich bereits ikonische Werke befinden und die durch ein weiteres Objekt ergänzt werden soll. Weiter heißt es: »Das Erscheinen dieses kosmischen ›Already-Made‹ auf dem Friedrichsplatz bildet ein Zeitparadox, das an den rätselhaften Monolithen in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968) erinnert, stellt jedoch keine Nachricht aus der Zukunft, sondern ein 3 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 60. 4 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »sfwc additional reading material«: FRIDER ICIANUM / 2nd floor / state 20/01/2012. 5 | E. Scharrer: Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg, S. 60.
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Kuratorische Praxis Überbleibsel von der Geburt unseres Sonnensystems dar. Als schiere Verkörperung von Masse und Schwere besteht der Meteorit als Anachronismus in der entmaterialisierten und digitalisierten Welt von heute fort.« 6
Da sich das Objekt neben seinem kosmischen Alter, das es zum ›Already-Made‹ macht, insbesondere durch seine Masse und Schwere auszeichnet, ist zumindest eine Parallele zu The Weight of Uncertainty feststellbar, wenn auch keine Entsprechung, da der Meteorit selbst 37 Tonnen wiegt. Auf der Retrospektive-Homepage der documenta findet sich der Hinweis, das es sich dabei um die Different zweier historischer Messungen des Gewichts des Meteoriten handelt.7 Details zu diesen Messungen finden sich nicht in publizierter Form, wurden aber z.B. über die Worldly Companions sprachlich reproduziert. Die von der dOCUMENTA (13) intendierten Konnotationen dieses Steins finden sich neben den bereits aufgezählten Quellen auch in dem Aufsatz von Carolyn Christov-Bakargiev im Buch der Bücher. Das Objekt sei gleichzeitig nicht von dieser Welt und Teil von ihr, es stehe konträr zur aktuellen Digitalisierung und Entkörperung. Die Autorin fragt, was der Meteorit als Produzent der Welt über das Projekt und dessen Scheitern denke, und ob er gerne nach Kassel gekommen wäre. Für den Menschen, der ihn betrachtet, sei er in seiner Andersartigkeit gleichzeitig unbegreiflich als auch betrachtenswert.8 Unabhängig davon, ob man dem Meteorit Handlungsmacht bzw. das Vermögen zu Denken zuspricht oder nicht, sind die angeführten Kontexte und Fragen nachvollziehbar. Auch die Aspekte der Versammlung und der Pilgerstätte werden in diesem Text erneut aufgegriffen. Das tatsächlich ausgestellte Objekt hingegen kann diese Ambition kaum einlösen. Es fungiert, obwohl trotzdem ein eigenständiges Kunstwerk, als Platzhalter und Denkmal für das eigentliche Vorhaben. Ist man sich dieses Umstandes bewusst, ergibt auch die fahrig wirkende Positionierung einen Sinn. Bemerkenswert ist, dass hier praktisch umgesetzt ist, was bei den Setzungen im Erdgeschoss des Fridericianums theoretisch entwickelt wurde: Kunst definiert sich auch durch das, woran sie scheitert, und verliert dadurch nicht an Qualität. Obwohl Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg ihr Projekt nicht verwirklichen konnten, sind sie nicht aus der Ausstellung ausgeschieden, sondern wurden nach wie vor am vorgesehenen Ort präsentiert. Die Hintergründe dieser beiden Kunstwerke zu ergründen bedarf neben der bloßen Betrachtung auch Nachforschungen. Bei Kristina Buch genügt ein Blick in den Katalog, bei Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg sind umfangreichere Recherchen notwendig, während gleichzeitig ihr Objekt noch weniger ästhetische Qualitäten aufweist. Dies führte möglicherweise auch zu einem Ikonoklasmus gegen Ende der Ausstellung: The Weight of Uncertainty wurde mit Farbe überschüttet. Beide Kunstwerke können mit den Begriffen ›nicht-logozentrisch‹ und ›nicht-anthropozentrisch‹ aus dem Kuratorischen Statement in Verbindung gebracht werden.9 Sie verweigern sich in mehrfacher Weise einem rationalen Zugang vor allem aber dadurch, dass beide Projekte ein Scheitern mitdenken und über die Wahrnehmung des Men6 | Ebd. 7 | Vgl. https://www.documenta.de/de/retrospective/documenta_13 vom 24.10.2018. 8 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 30. 9 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »sfwc additional reading material«: dOCUMENTA (13) Artistic Director Statement. Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 4.
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schen hinausweisen. Sie lassen sich somit als Beispiele für das dritte Schlagwort aus dem Kuratorischen Statement fassen: ›Ökofeminismus‹, als dem Bestreben, die Agenda des Feminismus auf das gesamte Ökosystem auszuweiten.10 Somit ist es möglicherweise auch nur folgerichtig, dass Menschen, die sich durchaus berechtigt als die Adressaten der Ausstellung verstehen, wenig direkte Ansprache durch die Objekte erfahren. Die daraus folgende Frustration ist in Kritiken hinreichend beschrieben worden, allerdings wird es zu selten geleistet, daraus ein Erkenntnispotential abzuleiten.
Fiktive Monumente (3, 4) Ontem, areias movediças (Yesterday, quicksands) von Renata Lucas (4) entzieht sich, wie oben dargestellt, völlig der unmittelbaren Wahrnehmung und lässt sich nur durch Beobachtungen in anderen Ausstellungsbereichen oder durch den Katalog erfahrbar machen. An vier verschiedenen unterirdischen Orten – dem Keller des Fridericianums, der Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz, dem Keller des Wohnhauses der Brüder Grimm (nicht besuchbar) und der Schreibwarenabteilung der Galeria Kaufhof – finden sich Fragmente einer Architektur in Gussbeton, welche die Ecken einer Pyramide darstellen sollen, die sich imaginär über den gesamten Platz erhebt, das Begleitbuch spricht von einem ›fiktiven Monument‹ und stellt den Bezug zu Vertical Earth Kilometer (1977) von Walter De Maria her.11 Während es sich bei der historischen Arbeit um eine Strecke in den Boden handelt, von der nur ein Endpunkt unmittelbar wahrnehmbar ist, stellt die andere ein Volumen im Raum über dem Platz dar, dessen Masse aber im Raum der Imagination verbleiben. Somit ließe sich behaupten, dass der Friedrichsplatz entgegen der eigenen Wahrnehmung nicht leer und ungenutzt ist, sondern tatsächlich eines der monumentalsten Kunstwerke einer documenta-Ausstellung beherberge. Durch die Form der Pyramide wird eine Machtarchitektur zitiert und in der hier auffindbaren Form gleichzeitig negiert, da ihre Repräsentationsfunktion nicht erfüllt wird: sie besteht als bloßes Gedankengebäude. Wie diese Arbeit widerspricht auch der gesamte Friedrichsplatz den ›Gesten des Zeigens‹ von Ausstellung und Ausstellen zugunsten einer großinszenierten Geste des Verbergens und der Verweigerung.12 Dies lässt sich ohne Weiteres auf The Lover und The Weight of Uncertainty übertragen. Die Konstellation läuft somit entgegen der tradierten Denkweisen von Ausstellungsmachern und deren Publikum. Die minimale Nutzung des Platzes ist nicht als verpasste Gelegenheit, sondern als bewusste Setzung und Positionierung zu verstehen, die durch Verweigerung auf die als ›Belagerung‹ interpretierbaren Erwartungen, die Carolyn Christov-Bakargiev als Zwänge kennzeichnet, reagiert.13
10 | Vgl. ebd. 11 | Vgl. E. Scharrer: Renata Lucas, S. 86. 12 | Vgl. R. Muttenthaler/R. Wonisch: Gesten des Zeigens. 13 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 270.
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Setzungen von Aussen (5,6) Neben den künstlerischen Positionen der dOCUMENTA (13) und anderer documenta-Ausstellungen gab es zwei prominente Setzungen, die jeweils auch ausführlich in der Presse behandelt, von der dOCUMENTA (13) bzw. ihrer Künstlerischen Leiterin jedoch sehr unterschiedlich aufgenommen wurden: Die Arbeit von Stephan Balkenhol (5) sowie ein mit Occupy Germany assoziiertes Zeltlager (6) vor dem Fridericianum.
Abb. 7: Blick über den Friedrichsplatz von The Weight of Uncertainty (2012) von Guilemo Faivovich & Nicolás Goldberg aus. Detail: Mann im Turm (2012) von Stephan Balkenhol.
Im oberen, offenen Teil des Glockenturms der Sankt Elisabeth Kirche ist auch vom Bodenniveau des gesamten Platzes und darüber hinaus eine scheinbar lebensgroße, menschliche Gestalt zu erkennen, die mit ausgebreiteten Armen auf einer goldenen Kugel steht (vgl. Abb. 7). Auszumachen sind dunkle Hosen und ein weißes Oberteil, mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine männliche Person. Nähere man sich der Figur an – was nicht ohne weiteres möglich ist – sähe man diese Beschreibung bestätigt und durch braune Haare, rote Lippen und blaue Augen, jeweils in ungebrochenen Farben, ergänzt. Außerdem zeigt sich auf der gesamten Figur eine auffällige Struktur, die an grobe Holzarbeit erinnert und evtl. als der Stil des Bildhauers Stephan Balkenhol identifiziert werden kann. Diese Details sind vom Grund allerdings nicht zu erkennen. Tatsächlich gibt es Berichte, dass die Figur für einen lebendigen Menschen gehalten wurde.14 Jedoch ist die Haltung auf der Kugel so gleichbleibend und ruhig, dass dies auch aus der Ferne auszuschließen ist. Ganz unbewegt ist die Figur allerdings nicht, sie dreht sich im Wind. Um dies zu gewährleisten wurde sie nicht, wie sonst üblich bei Stephan Balkenhol, in Holz gefertigt, sondern aus leichtem Metall. Die Oberflächenstruktur ist eine Imitation des künstlerischen Stils, der sich normalerweise aus der Bearbeitung des Holzes ergibt. 14 | Vgl. J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 351.
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Die ausgebreiteten Arme der Figur erinnern an ein Kreuz und könnten mit Bezug auf den Ort auf den gekreuzigten Jesus verweisen. Allerdings lässt die moderne Kleidung und das Fehlen eines Kreuzes diesen Bezug im Bereich der Andeutung. Die Haltung könnte ebenso sowohl als Willkommensgruß, als Barriere oder als Vorbereitung für einen Sprung in die Tiefe gelesen werden. Die Kugel, auf der die Figur steht, unterscheidet sich in Oberflächen- und Farbqualität und wird deshalb auch als etwas von der Figur verschiedenes identifiziert. Die goldene Farbe erinnert an einen Reichsapfel. Die Assoziation einer Weltkugel liegt nahe. Für die Interpretation entscheidend, wenn auch weniger offensichtlich wahrnehmbar, ist, dass sich über der Figur, auf der eigentlichen Turmspitze, dieses Ensemble wiederholt: Auf einer kleineren goldenen Kugel steht ein goldenes Kreuz. Auch wenn die Figur an sich keine direkten Bezüge zum Christentum aufweist, hat der Künstler durch diese Doppelung sein Werk in den Kontext der Religion gesetzt. Dies stellt bei dem Ort der Inszenierung keine größere Überraschung dar. Ob es sich bei der Figur tatsächlich um Jesus handeln soll oder ob sie einen oder sogar den Menschen im Allgemeinen darstellt, bleibt indifferent, allerdings kennzeichnen sowohl Mode als auch Physis die Figur als Mitteleuropäer der Jetztzeit oder näheren Vergangenheit, so dass sie hier als ein nicht näher bestimmbarer, männlicher Mensch gelten soll. An dieser Stelle ergeben sich für die weiterführende Interpretation zwei mögliche Richtungen. Erstens: Es handelt sich bei dem Kunstwerk in Bezug auf Kugel und Kreuz auf der Turmspitze um eine andere Darstellung, eine Interpretation oder einen Kommentar desselben Sachverhaltes, was zu Aussagen führen könnte wie, dass Jesus in jedem Menschen zugegen ist oder dass die Religion im Menschen ihre Vollendung findet. Zweitens: Es werden auf ähnliche Weise zwei unterschiedliche Sachverhalte dargestellt, die möglicherweise in einer hierarchischen Ordnung zueinander stehen. In diesem Fall könnte die Deutung lauten, dass der moderne Mensch sich selbst als seine Religion begreift, als Herrscher über die Welt, allerdings die Religion des Christentums mit dem zweiten Ensemble über dieser Weltsicht steht. Es handelt sich um ein »Zitat voller Klischees vom Christus in Rio de Janeiro bis hin – wer weiß wo? Monumental und hilflos, blicklos das Blickfeld beherrschend. Segnet er? Will er sich als Selbstmörder vom Turm stürzen? Umarmt er die Welt? Ist es ein Christus oder ein Jedermann? Ein Fallbeispiel? Eine Provokation? Was geschieht hier eigentlich?«15 Ohne zu einer endgültigen Interpretation gelangen zu müssen, zeigt sich, dass das Werk mit seiner direkten Umgebung eine Synthese eingeht und ohne weitere Kontexte, wie z.B. die zugehörige Ausstellung Stephan Balkenhols oder etwaige Metatexte zu konsultieren, sinnvoll gelesen werden kann. Bezüge zur dOCUMENTA (13) lassen sich textimmanent nicht finden. Der Streit zwischen der dOCUMENTA (13) und den Ausstellungsmachern der Sankt Elisabeth Kirche und die damit verbundene, erfolglose Forderung, die Figur aus dem Kirchturm zu entfernen, sowie das Gefühl der Bedrohung, welches Carolyn Christov-Bakargiev empfand, als sie die Figur sah, wurden im Vorfeld der Ausstellung weit und umfassend rezipiert.16 Es ist klarzustellen: »Traditionell hat die documenta die Hoheitsrechte über den Friedrichsplatz. Wer dort was darf und was nicht, entscheidet Frau Christov-Bakargiev.«17 Dennoch irritiert das Vorgehen und Carolyn Christov-Ba-
15 | E. Salmann: Der ausgestellte Mensch, S. 61. 16 | Vgl. B. Müller-Ulrich: Kunst als Bedrohung, o.S. 17 | H.J. Schweinsberg zitiert nach J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 351.
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kargiev sah sich stetiger und durchaus berechtigter Kritik ausgesetzt. Insbesondere dieser Vorfall führte zu Zuschreibungen wie ›Omnipotenzphantasie‹ und ›Fouls‹.18 Da es in dieser Untersuchung um die Decodierung von Ausstellungsinhalten geht, wird nicht weiter auf beiderseitige Vorwürfe sowie lokalpolitische Traditionen und Absprachen eingegangen, sondern der Konflikt ausschließlich durch die Interdependenz der Kunstwerke betrachtet. Wie gezeigt wurde, lässt sich die Figur von Stephan Balkenhol immanent auf eine Art und Weise interpretieren, die von der dOCUMENTA (13) losgelöst ist und daher keinen Konflikt direkt evoziert. Folgt man allerdings der Interpretation von Carolyn Christov-Bakargiev, erhebt sich dort ein Mensch, ein weißer Mann, nicht nur über eine vergoldete Weltkugel, sondern auch über die Kunstwerke der dOCUMENTA (13) auf dem Friedrichsplatz. Und somit insbesondere eben jenen, die eine deutliche Abkehr von einem logozentrischen und anthropozentrischen Weltbild propagieren sollen. Aus dem Blickwinkel der dOCUMENTA (13) und deren Ausstellungssprache, die Kunstwerke und deren Bedeutungen zu Metaerzählungen konstelliert, ist diese Verknüpfung allerdings ohne weiteres zu ziehen: »Also folgt der Besucher ihrem [Carolyn Christov-Bakargievs] vagabundierenden Geist und entdeckt, dass alles mit allem zusammenhängt. Eine Binsenweisheit, eine Entdeckung? Eine Assoziationsvorlage, eine Manipulation? […] Erstaunt ist man vor allem darüber, dass die Zusammenstellung optisch funktioniert. Zweifel kommen erst auf, wenn sich die Kunst im Rest der Wirklichkeit verliert.« 19
Amine Haase formuliert hier die Sorge, dass Kunst und Wirklichkeit innerhalb des Gefüges der dOCUMENTA (13) ununterscheidbar werden und gibt damit einen Hinweis, wie die als unproportional empfundene Reaktion Carolyn Christov-Bakargievs auf das Kunstwerk auszudeuten ist: Käme bei Besucherinnen und Besuchern der Eindruck auf, dass der Mann im Turm zu der durch die dOCUMENTA (13) angelegten Erzählung gehöre, wäre diese tatsächlich konträr zur intendierten Deutung zu lesen. Andererseits ist die Position einer nicht-logozentrischen, nicht-anthropozentrischen und ökofeministischen Ausstellung auch und vor allem durch die Unzugänglichkeit der drei besprochenen künstlerischen Arbeiten nur sehr schwierig zu decodieren. Somit stellt die Figur von Stephan Balkenhol – ebenso übrigens wie Die Fremden von Thomas Schütte (10) und das Denkmal von Landgraf Friedrich II. – einen einfacher zu fassenden Kontext und Exempel dar, von dem die anderen Arbeiten durch die Besucherinnen und Besucher abgrenzbar sind. Einzig und allein wichtig für diese Lesart ist das Wissen, dass es sich um Setzungen unterschiedlicher Autorinnen und Autoren handelt. Dieses wurde aber durch den medienwirksamen Konflikt den meisten Besucherinnen und Besuchern im Vorfeld vermittelt. Der Konflikt erfährt dadurch eine Neubewertung als Inszenierung der homodiegetischen Erzählerin Carolyn Christov-Bakargiev, die gleichzeitig als skandalöse Werbestrategie sowie Vermittlung der eigenen Position und Kennzeichnung der Choreografie fungiert: Es bedarf eines ›performativen Desasters‹, um einen Tanzenden unter anderen zu kennzeichnen bzw. zu entbergen.20 Als positive 18 | Vgl. M. Hübl: Eine Omnipotenzphantasie, S. 27. Vgl. H. Meister/G. Schneider: Fouls der documenta, S. 354. 19 | A. Haase: Im bewusstseinserweiternden Biotop, S. 44. 20 | Vgl. H.J. Wulff: Über das Ende, o.S.
Unter Belagerung: Der Friedrichsplatz
Kennzeichnung muss auch die Willkommensgeste verstanden werden, mit der Carolyn Christov-Bakargiev das provisorische Zeltlager (6) auf dem Platz begrüßt hat und damit der aggressiven Narration um ›Hoheitsrechte‹ eine versöhnlichere entgegenstellte – freilich mit der Occupy-Bewegung eine Position betreffend, die sich mit dem Geisteszustand der dOCUMENTA (13) verbinden lässt. Dadurch wurden die Okkupanten gewissermaßen selbst okkupiert, in das Bild der Ausstellung eingegliedert und dadurch in ihrem autonomen Potential geschwächt. Ob es sich bei der Arbeit Mann im Turm um einen Kommentar oder eine autonome Setzung handelt, müssen schließlich Stephan Balkenhol und die Verantwortlichen der Ausstellung in der Sankt Elisabeth Kirche entscheiden. In der ausführlichen Darstellung Um Anthropozentrik und Öffentlichkeit von Josef Meyer zu Schlochten, in der der Entscheidungsprozess und die Motive der katholischen Kirche nachgezeichnet werden, erscheint die Auswahl und Positionierung nicht als intendierter Kommentar – wohl aber als direktes Angebot an die Besucherinnen und Besucher der dOCUMENTA (13) für einen Ort der Ruhe und als Alternativprogramm zur Großausstellung. Sogar eine Kooperation wurde angestrebt, diese war aber von der documenta, scheinbar hauptsächlich durch Bernd Leifeld und weniger offensichtlich Carolyn Christov-Bakargiev, nicht erwünscht.21 In diesem Punkt waren beide Parteien nicht bereit, ihre Position zu verlassen, so dass das Angebot der Kirche zu einem – aus Sicht der dOCUMENTA (13) – störenden wurde. Die Figur ist nach Beendigung der dOCUMENTA (13) dauerhaft im Turm installiert worden. Für das Nicht-Zustandekommen der evangelischen Begleit-Ausstellung zu Gregor Schneider nennt Andreas Martin vielschichtige Gründe, von denen das Ansinnen der dOCUMENTA (13), den öffentlichen Aussenraum – über dessen Definition bei Stephan Balkenhol trickreich gestritten wird – ausschließlich selbst zu nutzen, weit nachvollziehbarer erscheint, als die Behauptung, es hätte Zensur stattgefunden. »Und schließlich standen auch Teile der Kirche nicht mit der Entschiedenheit hinter dem Künstler, die für derartige bedeutende Projekte notwendig wäre. Aber vermutlich gab es auch sachliche Gründe, etwa den Zweifel, ob man tatsächlich die indische Welt mit ihren Götterfiguren ins Gotteshaus der bilderlosen Konfession der Hugenotten tragen sollte, ohne auf die religiösen Vorstellungen der Reformierten Rücksicht zu nehmen.«22 Der Friedrichsplatz, gleichzeitig öffentlicher Raum und Hoheitsgebiet der documenta, bietet sich gerade aufgrund dieser Doppelung als Ort der ›Belagerung‹ an, ob nun als tatsächliches Zeltlager oder (vermeintlichem) Kommentar.
21 | Vgl. J. Meyer zu Schlochten: Anthropozentrik und Öffentlichkeit. 22 | A. Mertin: Zwischen Ikonographie und Autonomie, S. 59.
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Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
Die Position ›Auf dem Rückzug‹, die eigentlich mit der Klausur einiger Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Banff verbunden ist, lässt sich in Kassel besonders an drei Bereichen festmachen, die auch Carolyn Christov-Bakargiev von den üblichen ›Museumsräumen und White Cubes‹ abgrenzt: Erstens an ›kleinen Komponenten, die sich über die großartigen ausgedehnten Grünflächen der barocken Karlsaue verteilen‹, zweitens an ›einer Vielzahl anderer ›bürgerlicher‹ Räume verschiedenster Stellung abseits der Hauptorte‹, sowie an einem dritten Ort, der als anders und geisterhaft bezeichnet wird.1 Die ersten beiden Bereiche sind jeweils so weitläufig, dass sie in ihrer Erzähl- und Rezeptionsstruktur als völlig offen aufgefasst werden müssen. Für die Ausstellung in der Karlsaue hat Carolyn Christov-Bakargiev »eine besondere Regel aufgestellt, nämlich dass man von dem einen kleinen Haus kein anderes sehen kann. Man ist gewissermaßen immer verloren. Wenn man eine Arbeit und ein Kunstwerk sieht, kann man nicht im gleichen Atemzug sagen: ›Ah, und da ist das nächste.‹ Die Gesellschaft sagt uns, dass wir alle miteinander verbunden sind, aber das sind wir nicht. Das ist eine Lüge.« 2
Innerhalb der Ausstellungsorte abseits der Hauptschauplätze gibt es einige Ballungen, wobei hier zunächst eine ähnliche Logik wie in der Karlsaue angenommen wird. Auch auf die Gefahr hin, Verbindungen zu schaffen, die ›Trugschlüsse‹ oder ›Lügen‹ darstellen, werden einige exemplarische künstlerischen Positionen ausgewählt, die ein gemeinsames Narrativ bilden können. Dieses Vorgehen erhebt keinen Anspruch auf eine auch nur annähernd vollständige Analyse der gesamten Ausstellungsbereiche Karlsaue und abseits der Hauptschauplätze. Der dritte Bereich, die Gedenkstätte Breitenau, beherbergt nur ein Kunstwerk, tritt aber in verschiedenen anderen Abschnitten der Ausstellung immer wieder auf, so dass sich dadurch ein weiteres Narrativ bildet. Bereits diese Abkehr von räumlichen Strukturen, die Setzungen ordnen und festhalten, kann als Rückzug in eine ephemere oder entropische Ordnung verstanden werden, die sich innerhalb der Ausstellung nur spon-
1 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 36. 2 | C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 270.
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tan erschließen lässt, und bereits als wichtiges Strukturmerkmal der Position ›Auf dem Rückzug‹ verstanden werden muss:
Abb. 8: Ausstellungsplan: Ausgewählte Ausstellungsorte der dOCUMENTA (13) in Kassel.
Karlsaue: Einige kleine freistehende Gebäude (1) The Moral Exhibition House (2012) von Chiara Fumai (2) Hypnotic Show in the Reflection Room (2012) von Marcos Lutyens und Raimundas Malašaukas (3) HERE & THERE (2012) Anna Maria Maiolino im Gärtnerhaus (4) A place – near the buried canal (2011-2012) von Gareth Moore (5) Anatta Experiment (2012) von Lea Porsager (6) Village and Elsewhere: In this circumstance the sole object of attention should be the treachery of the moon (2012) von Araya Rasdjarmrearnsook (7) Subjects of Desire: Relics of Resistance (2012) von Ruth Robbins und Red Vaughan Tremmel Kaufhäuser: Im Kontext anderer Institutionen (8) Folklore U.S. (2012) von Seth Price (9) Kaufhaus Incidentals – Music for Department Stores (2012) von Gabriel Lester (10) Raum der Rhythmen (2010-2012) von Cevdet Erek (11) Ontem, areias movediças (Yesterday, quicksands) (2012) von Renata Lucas Kloster Breitenau: Das Gewissen der dOCUMENTA (13) (12) Videoinstallation Muster (Rushes) (2012) von Clemens von Wedemeyer (Hauptbahnhof) (13) The Workhouse. Room 2 (2012) von Ines Schaber und Avery F. Gordon (Handwerkskammer) (14) Plakate des Projekts The Disobedient (Reasons for Imprisonment) (2012) von Sanja Ivekovic (Öffentliche Orte) (15) Diavortrag Der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit – Eine lokale Studie über ein Verbrechen der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Methoden des Recherierens (1981/2012) von Gunnar Richter (Karlsaue)
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
(16) Spaziergänge mit Ines Schaber und Gunnar Richter von Kassel nach Breitenau (17) Masken (2012) von Judith Hopf (Brain) (18) Bambuswald (2012) von Judith Hopf (Gedenkstätte Breitenau)
K arlsaue: Einige kleine freistehende Gebäude (1-7) Im Vergleich zu früheren Nutzungen der Karlsaue durch die documenta fällt auf, dass auf der dOCUMENTA (13) die repräsentative Außenskulptur – wie z.B. 5600 Kubikmeter Paket (1968) von Christo zur documenta 4 – eine untergeordnete Rolle spielt: Mit den Arbeiten von Sam Durant und Anri Sala werden zwei der großen Sichtachsen des Parks besetzt, aber jeweils auch die Macht des Blicks thematisiert und in Teilen gebrochen. Apichatpong Weerasethakul und Song Dong entziehen ihre Arbeiten dem Blick oder der Betrachtbarkeit. Die Ausnahme zur Regel stellt Idee di pietra von Giuseppe Penone dar. Damit setzt sich in der Karlsaue die auf dem Friedrichsplatz angelegte Verweigerung von Repräsenation fort. Ebenfalls fortgesetzt und gleichsam im pseudo-natürlichen Kontext der Aue eingeschrieben wird die Untersuchung des Verhältnisses von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren: Tiere (Pierre Huyghe, Brian Jungen, Araya Rasdjarmrearnsook und Tue Greenford), Pflanzen (Korbiniansapfelbaum, Maria Loboda, Christian Phillip Müller, Giuseppe Penone und Song Dong) und andere natürliche Materialien (Massimo Bartolini, Jimmie Durham und Natasha Sadr Haghighian) spannen ein deutliches, aber nicht-lineares Narrativ. Auffällig ist, dass die Karlsaue darüber hinaus etliche künstlerische Projekte versammelt, die nicht zwingend oder nicht idealerweise im Außenraum eines Parks ausgestellt werden, darunter etliche Video-Projektionen, Arbeiten auf Papier, Dokumente, Malereien usw. Diese sind in den bereits erwähnten ›kleinen Häusern‹ untergebracht, die durch die dOCUMENTA (13) als Gegenkonzept zu repräsentativen Museumsbauten installiert wurden.3 Außerdem sollen die Häuser an jene der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità erinnern.4 Auf diese wird im Begleitbuch in Form eines Mottos für den Ausstellungsbereich Karlsaue verwiesen: »Einige kleine freistehende Gebäude mit künstlerischen Projekten, die Märchen der Gebrüder Grimm, Ästhetik und Politik und wie man getrennt zusammen sein kann. […] Ein Verweis auf den Monte Verità, eine kurzlebige Künstlerkolonie, die 1900 in der Nähe von Ascona gegründet wurde.«5 Keiner der mit der Künstlerkolonie verbundenen Künstlerinnen und Künstler spielt auf der an historischen Bezügen und Vereinnahmungen reichhaltigen dOCUMENTA (13) eine Rolle. Die Aktualisierung in der Karlsaue bezieht sich vielmehr auf das Modell der Gemeinschaft auf dem Monte Verità anstatt auf dessen Akteure. Diese zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass es keine personifizierte Leitung, keine Organisation oder Regelung gab, somit einem ›Bruch mit dem Bestehenden‹ (Erich Mühsam). Die Bewohnerinnen und Bewohner, ›Suchende sehr verschiedener Art‹ (Hermann Hesse), kamen und verließen die Kolonie nach eigenem Ermessen. Lea Porsager, die mit Anatta Experiment (2012) künstlerisch auf den Monte Verità Bezug nahm, bezeichnet diesen als Magnet für eine spirituelle Rebellion, der Anarchisten, Vertreter der Freien Liebe,
3 | Vgl. ebd. 4 | Vgl. E. Scharrer: Lea Porsager, S. 288. 5 | documenta: Das Begleitbuch, S. 232.
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Dadaisten, Theosophen, Psychoanalytiker und Okkultisten angezogen hat.6 Der Name Monte Verità bezieht sich nicht auf die Behauptung im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern das Bestreben, wahrhaftig leben und der Lüge und den Vorurteilen der Gesellschaft entsagen zu wollen.7 Die teils gegenläufigen Interessen und Ansichten machten eine besondere Qualität der Gemeinschaft aus, führten aber wahrscheinlich auch zu ihrer Auflösung.8 Trotz des Mottos im Begleitbuch finden sich kaum Erläuterungen, wie dieser Verweis auf den Monte Verità zu lesen ist. In einem Interview mit Dirk Schwarze verweist Carolyn Christov-Bakargiev auf das Ascona-Projekt Mammelle delle verità (1978) von Harald Szeemann und ihr Verständnis desselben: »Also besuchte ich den Monte Verità in der Nähe von Ascona, und dort sah ich all die Objekte, die er [Harald Szeemann] für diese Ausstellung erworben hatte. Da begriff ich, dass der Monte Verità wie ein Moment geistiger Freiheit war – das Gegenteil der documenta. Aber er war zugleich, wie die documenta, eine – wenn auch viel kleinere – Gruppe von Menschen, die zusammen auf einem Hügel leben.« 9
Die documenta wird hier im Umkehrschluss als eine Institution charakterisiert, die sich nicht durch geistige Freiheit auszeichnet. Bedenkt man die Handlungsmacht, mit der die Künstlerischen Leiterinnen und Leiter dieser Ausstellung ausgestattet sind, vergegenwärtigt diese Bewertung gleichzeitig stattfindende Zwänge, Grenzen und Traditionen, die nicht oder nur zum Teil öffentlich kommuniziert werden. Darunter fallen die von Oliver Marchart ausführlich analysierten hegemonialen Grabenkämpfe innerhalb der Institution, aber auch deren Wirken als wirtschaftliches Unternehmen, z.B. die Notwendigkeit eines Führungsbetriebes, oder deren Anspruch auf ›Hoheitsrecht‹ innerhalb der Außenwahrnehmung innerhalb der Stadt.10 Symbolisch am stärksten mit der Institution documenta verbunden ist das Fridericianum, welches auch im einleitenden Wandtext als Gegenmodell zur Karlsaue und den Orten abseits der Hauptschauplätze charakterisiert wird. Die Ergebnisse der Untersuchungen des Brains und des Erdgeschosses des Fridericianums sollen somit als Folie für das Verständnis der Struktur innerhalb der Karlsaue dienen. Im Gegensatz zu dem starken und nachvollziehbaren Narrativ im Erdgeschoss des Fridericianums stellt sich das Brain als polyvalent-assoziative Konstellation dar, die das Autorinsubjekt zwar voraussetzt, aber gleichzeitig alternative Sichtweisen und Assoziationen einfordert. Die Karlsaue wird insbesondere durch die Gräben und anderen Gewässer, aber auch durch Bepflanzung und Wegführung durchaus in mehrere Bereiche gegliedert und Kunstwerke befinden sich in relativer Nachbarschaft zueinander, es finden sich Ballungen und potentielle oder begünstigte Abfolgen. Dennoch muss eingeräumt werden, dass sich keine wirklichen Linearitäten oder thematischen Gruppierungen feststellen lassen. Jede Position lässt unterschiedliche Fortsetzungen des Ausstellungsparcours zu.
6 | Vgl. L. Porsager: Anatta Experiment, S. 48. 7 | Vgl. T. Blumann: Frei und inspiriert, S. 14. 8 | Vgl. R. Landmann: Ascona, S. 123. 9 | C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 270. 10 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld.
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
Mit Bezug zum Monte Verità und den Märchen der Brüder Grimm werden zwei Ansammlungen von Menschen bzw. Erzählungen referiert, die zwar zusammengehörig sind, aber nicht wesentlich untereinander verbunden erscheinen. Auch lassen sich bei beiden Referenzpunkten keine durchgehende Erzählerin bzw. Erzähler feststellen – anders als z.B. in den Geschichten aus 1001 Nacht. Es fällt parallel dazu auf, dass im Gegensatz zu den Setzungen im Fridericianum fast keine Arbeit der Karlsaue direkt mit einer Anekdote zu oder Erzählung von Carolyn Christov-Bakargiev verknüpft ist. Ausnahmen sind zum Teil die Arbeit von Giuseppe Penone und die Apfelbaumpflanzung mit Jimmie Durham. Die durch Carolyn Christov-Bakargiev formulierte Regel, die Projekte nicht untereinander in Verbindung zu setzen, trifft somit weitestgehend auch auf die Verbindung zu der Künstlerischen Leiterin und evtl. sogar der Institution documenta zu. Diejenigen künstlerischen Arbeiten, die sich direkt auf den Park als Ort beziehen oder mehr oder minder deutlich mit den Narrativen der Ausstellungshäuser (vor allem Ottoneum und Orangerie) verbunden sind, erscheinen unter diesem Gesichtspunkt als die schwächeren Beispiele für die Konzeption des Ausstellungsbereiches. Insbesondere die Arbeiten, die nicht in einen Park zu passen scheinen oder dort nicht optimal präsentiert sind, sollen zur Untersuchung dieser herangezogen werden. Zu letzteren zählt auch das Anatta Experiment von Lea Porsager, die ›Anatta‹ als »not self, not I, not mine«11 charakterisiert und als Überwindung der Individuellen Mythologien (Harald Szeemann) zugunsten einer kollektiven Praxis. Sie verweist außerdem auf den symbolischen Tod als Passage, die Suche nach dem Kosmos, Flammen und Eier.12 Das Experiment – eine einwöchige Klausur von Lea Porsager und sieben weiteren Personen auf dem Monte Vertità – erweckt durch Videodokumentationen und Textdokumente den Eindruck von Nachvollziehbarkeit. Auch die installative Arbeit auf dem Fußboden des Holzhauses wird durch Erläuterungstexte und Skizzen als eine Verschränkung des Inhaltsverzeichnisses von Harald Szeemanns Ausstellungskatalog (als ›Strukturmutter‹ bezeichnet) und Alice Baileys Cosmic Physical Index als nachvollziehbar charakterisiert, sie ist »a 7-leveled index built into the floor with a dada-head-cunt-flower appendix. Mutter was no longer a Goddess. She had become a grid, a matrix of cosmic fire-potential conducted by the coiling rays of – a geometrical-astronomical-cerebral-celestial monstrosity, impenetrable in her fervent mystery and pain – fully creepy in her absence. The all-too-long and moonless tunnel to the vertical realm. The human form un-done as a geometrical spectacle.« 13
Dieses Zitat macht, ebenso wie die obige Aufzählung der Motive, deutlich, dass die Nachvollziehbarkeit nur eine scheinbare ist. Tatsächlich schafft Lea Porsager eine eigene Mythologie, die nicht unbedingt als individuell nach Harald Szeemanns Verständnis zu denken ist, aber dennoch als in sich abgeschlossen und nicht voll erfassbar. Die Vorgänge des eigentlichen Experimentes und die Ergebnisse verbleiben in einer Sphäre des Unbekannten. Dieses Gefühl korrespondiert mit einer Notiz zu den Menschen vom Monte Verità von Harald Szeemann, auf die Carolyn Christov-Bakargiev in einem Vor11 | L. Porsager: Anatta Experiment, S. 48. 12 | Vgl. ebd., S. 48f. 13 | Ebd., S. 49.
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trag hinweist: »Why are they here? What could have happened? What is left? What is left?«14 Unter den anderen Positionen innerhalb der Karlsaue zeigt sich eine auffällige Häufung von Künstlerinnen und Künstlern, die entweder selbst eine vereinzelte Position außerhalb der Gesellschaft einnehmen oder solche Personen(-Gruppen) thematisieren: Besonders deutlich wird dies in den unterschiedlichen Performances von Chiara Fumai, in denen sie Frauen darstellt, die unterdrückt, bevormundet und als ›Freaks‹ ausgestellt wurden. Dadurch schreibt sie diesen gleichzeitig Handlungsmacht zu und verkehrt das Machtverhältnis. Die Künstlerin macht sich außerdem selbst angreifbar, indem sie diese Darstellungen nicht als Performances kennzeichnet, sondern davon spricht, die Geister dieser Frauen anzurufen und diese zu invokieren.15 Dadurch sollen diese nicht repräsentiert werden, sondern sich selbst präsentieren. Die Arbeit von Chiara Fumai steht zwar in Relation zur dOCUMENTA (13) und dem Ausstellungsensemble Karlsaue, scheint aber gleichzeitig topografisch an den Rand gedrängt. Interessant für diese Untersuchung ist, dass Chiara Fumai neben dem mit Brettern vernagelten Rückzugsort ganz am Rande der Karlsaue, das zu der öffentlichen Wahrnehmung der Akteurinnen als ›Freaks‹ passt, auch das Fridericianum als Bühne nutzte: »Indem sie diese sogenannten Missgeburten aus ihrer vormaligen ›Sklaverei‹ befreit, erlaubt Fumai es ihnen, für die Eröffnung der dOCUMENTA (13) das Fridericianum als symbolischen Ort in Besitz zu nehmen, und verleiht ihnen zum ersten Mal eine öffentliche Stimme. Diesmal sprechen sie laut und vernehmlich.«16 Das Foto dieser Performance, auf die weder innerhalb der theoretischen Texte noch in der Presse eingegangen wurde, ziert auch nach Abschluss der Ausstellung dauerhaft die Startseite der Homepage der dOCUMENTA (13). Hier wird, sicherlich vergleichbar mit Kunst ist überflüssig (1972) von Ben Vaultier oder VIELE FARBIGE DINGE NEBENEINANDER ANGEORDNET – BILDEN EINE REIHE VIELER FARBIGER DINGE (1982) von Lawrence Weiner, einer einzelnen Künstlerin eine Sprecherinnenrolle zugestanden, die sich über das Gebäude des Fridericianums und damit der Position der Institution documenta erhebt. Im Falle von Chiara Fumai erscheint dies besonders brisant, da sie nicht wie Ben Vaultier oder Lawrence Weiner als etablierte Künstlerin, sondern als eben jene Frauen (sic!) auftritt, die als ›Freaks‹ gekennzeichnet sind und kein Recht hatten, zu sprechen. Trotz der starken Positionierung, sowohl auf dem Dach des Fridericianums als auch auf der Startseite der dOCUMENTA (13), zeichnet sich die Rezeption der Performance durch Schweigen und Nicht-Beachtung aus. Die ›Freaks‹ scheinen durch den Diskurs erneut zum Schweigen gebracht und auf ihre Position ›auf dem Rückzug‹ verwiesen. Ein ähnliches Beispiel stellt die Burlesque-Ausstellung Subjects of Desire: Relics of Resistance (2012) von Ruth Robbins und Red Vaughan Tremmel (7) dar. Die Projekte von Anna Maria Maiolino (3), Gareth Moore (4) und Araya Rasdjarmrearnsook (5) zeugen eher von der mit dem Monte Verità verbundenen Gegenbewegung, sich selbst zurückzuziehen. Alle aufgeführten Projekte lassen sich, bis auf die Gemeinsamkeit der
14 | C. Christov-Bakargiev/G. Penone/M. Garcia Torres/L. Porsager/A. Heiss/P. Rigolo: Recon sidering Harald Szeemann, Getty Research Institute, Los Angeles 28.05.2015, https:// www.youtube.com/watch?v=HRQrpLApqRE vom 24.10.2018. 15 | Vgl. A. Viliani: Chiara Fumai, S. 258. Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »FU CH« (Chiara Fumai): MORAL EXHIBITION HOUSE. 16 | A. Viliani: Chiara Fumai, S. 258.
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
Ausgrenzung bzw. des Rückzuges, nicht auf eine gemeinsame These oder Narration reduzieren. Die Karlsaue kann somit als archipelisches Ausstellungssystem (Edouard Glissant) verstanden werden, das sich entgegen der möglicherweise kontinentalen Systeme Fridericianum, Hauptbahnhof und Neue Galerie behauptet.17 Das Ideal des Museums als Archipel wird von Edouard Glissant als prozessuales Laboratorium charakterisiert: »Dementsprechend hätte es keine vereinheitlichende Synthese gegeben, sondern ein Beziehungsnetz verschiedener Traditionen und Perspektiven. Nicht vorher festzustehende Erkenntnisse sollten illustriert werden, sondern das Museum sollte ein aktives Laboratorium sein.«18 Dies erinnert sowohl an das durch Lea Porsager durchgeführte Experiment als auch die Formulierung Carolyn Christov-Bakargievs, die ihre Kuratorische Praxis in Bezug auf die dOCUMENTA (13) als Experiment bezeichnete.19 Die Karlsaue wäre somit als prototypisch für den Anspruch der dOCUMENTA (13) zu lesen, die starken Narrative der Hauptausstellungsorte, die sich nicht nur aus einer ›Omnipotenzphantasie‹ von Carolyn Christov-Bakargiev ergeben, sondern auch aus institutionellen Zwängen, zu kreuzen und zu kontern. Diese Sichtweise lässt sich auf das gesamte Netzwerk von Ausstellungsorten übertragen: In dieser Betrachtung erscheinen die starken Setzungen einer Verdichtung, z.B. im Fridericianum, nicht mehr als übergeordnete, dominante Synthese, sondern eine Position (Insel) innerhalb des Archipels. Dieses begründet seinen Wert durch die Interdependenzen zwischen allen Positionen sowie der Unsicherheit, ob eine Synthese überhaupt möglich ist: »Why are they here? What could have happened? What is left? What is left?«20
K aufhäuser: Im Kontext anderer Institutionen (8-11)21 Auch andere Künstlerinnen und Künstler der dOCUMENTA (13) haben den musealen Schutzraum verlassen bzw. ihr Werk mit den Räumen von Kaufhäusern gleichsam mit einem neuen Raum, einem neuen Kontext, versehen, der die Rezeption des Werkes entschieden prägt: Seth Price bietet im Kaufhaus SinnLeffers die gemeinsam mit Tim Hamilton entwickelte Spring/Summer 2012 Collection aus seinem Werkkomplex Folklore U.S. zum Verkauf an (8). Gabriel Lesters Kaufhaus Incidentals (9) befindet sich ebenfalls im SinnLeffers, Cevdet Ereks Raum der Rhythmen im Kaufhaus C & A (10). Ontem, areias movediças (Yesterday, quicksands) von Renata Lucas u.a. im Kaufhaus Galeria Kaufhof (11). Gabriel Lesters Sound-Installation geht nicht nur eine Beziehung mit dem Kaufhaus und seinen Waren ein, sondern auch mit der künstlerischen Arbeit von Seth Price am selben Ort. Er lässt Stummfilmmusik zum Thema ›Gedanken‹ in der Verkaufsausstellung laufen, »um so die Konsumatmosphäre zu untergraben und eine Stimmung 17 | Vgl. E. Glissant/H.U. Obrist: Le 21ème siècle, S. 9, BdB. S. 294. 18 | Ebd., S. 10, BdB. S. 294. 19 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/C. Naphegyi: Transkriptionen eines Interviews, S. 272. 20 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/G. Penone/M. Garcia Torres/L. Porsager/A. Heiss/P. Rigolo: Recon sidering Harald Szeemann, Getty Research Institute, Los Angeles 28.05.2015, https:// www.youtube.com/watch?v=HRQrpLApqRE vom 24.10.2018. 21 | Der folgende Absatz enthält überarbeitete Passagen eines bereits publizierten Auf satzes. Vgl. T. Pickartz: Aus der Deckung gehen.
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der Besinnung zu schaffen, die das Kaufhaus für die Dauer der dOCUMENTA (13) in einen Ort verwandeln soll, in dem der Besucher zum Nachdenken angeregt wird.«22 Die Musik ist dabei üblicher Kaufhausmusik so ähnlich, dass sie kaum als verschieden zu erkennen ist, nicht irritiert und bestenfalls unterschwellig wahrgenommen wird. Unterstellt man ihr aber tatsächlich die intendierte Wirkung – Menschen zum Nachdenken anzuregen – wäre sie gerade in dieser Unauffälligkeit besonders wirkmächtig. Auch wenn Gabriel Lester keine weiteren Hinweise darauf gibt, worüber nachgedacht werden soll, ist eine konsum- und institutionskritische Ausrichtung der Arbeit anzunehmen, die nicht nur die regulären Kunden des Kaufhauses betrifft, sondern eben auch die potentiellen Käufer der Stücke von Seth Price. Gabriel Lester kehrt somit die Beziehung der Präsentation um: seine Arbeit wird nicht in einem Kaufhaus präsentiert, sondern sie präsentiert und inszeniert das Kaufhaus, dessen Waren und dessen Kundinnen und Kunden. Die Arbeit von Cevdet Erek unternimmt keinen Versuch, sich in ihre nicht-museale Umgebung wahrnehmungstechnisch einzugliedern oder sich in ihr zu tarnen, sondern präsentiert sich offen als etwas Andersartiges. In einer durch das Kaufhaus C & A zugänglichen ehemaligen Verkaufshalle treffen Besucherinnen und Besucher auf eine Mixed-Media-Installation, die insbesondere durch ihre akustischen Rhythmen eine körperlich spürbare Atmosphäre schafft, der man sich kaum entziehen kann und die in einen besonderen Wahrnehmungsmodus überführt. Die optischen und akustischen Sequenzen beziehen sich auf verschiedene lokale Umstände (z.B. die Anzahl und Verteilung der Fenster) und Ordnungssysteme (z.B. die 100 Tage der documenta, alle 5 Jahre), so dass die Arbeit trotz ihrer offensichtlichen Andersartigkeit als ortspezifisch gelten kann.23 Insbesondere das Aufgreifen der roten Reduziert-Schilder des Kaufhauses zu einer rhythmischen Reihung – ›ReReReReReReReReReduziert‹ – stellt einen deutlichen Ortsbezug her, der wahrscheinlich erst beim Verlassen des Kunstwerkes und beim Wiedereintritt in das eigentliche Kaufhaus wirklich deutlich wird: Aus der leicht erhöhten Position einer Rampe kann der Verkaufsraum überblickt werden und es fallen unzählige der roten Schilder ins Auge, die vermutlich zuvor übersehen oder nicht weiter beachtet wurden. Im Aspekt der Wahrnehmungsverschiebung sind sich die Arbeiten von Cevdet Erek und Gabriel Lester somit sehr ähnlich. Beide befähigen – oder drängen – Betrachterinnen und Betrachter dazu, die Umgebung bewusster wahrzunehmen. Renata Lucas’ künstlerisches Projekt erstreckt sich über verschiedene Kellerräume rund um den Friedrichsplatz, unter anderem dem des Museum Fridericianum und dem der Galeria Kaufhof, ließe also ebenfalls einen Vergleich der Kontexte zu. Die architektonischen Gussbetonelemente besitzen eine enorme Präsenz und Autonomie, so dass sie in jedem Raum deutlich als Fremdkörper hervortreten und auch keine wirkliche Verschmelzung der Bedeutungsebenen wie bei Gabriel Lester stattfindet. Das eigentliche Kunstwerk stellt etwas Unsichtbares dar, eine Fiktion, das erst durch im Wissen um das Werk wahrgenommen werden kann. Das Verhältnis von Kunstwerk, Ausstellungsort und -design wird von Judith Barry innerhalb ihrer theoretischen Schriften untersucht. Sie unterscheidet zwischen einem theatralischen und einem diesen entgegengesetzten ideologischen Pol. Am deutlichen ist die Theatralik an Dioramen in Naturkundemuseen ablesbar, die in den dargestell22 | E. Scharrer: Gabriel Lester, S. 272. 23 | Vgl. E. Scharrer: Chevdet Erek, S. 424.
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
ten Kontext versetzen sollen, so dass »zugleich machtvolles Beherrschtwerden und gläubige Hingabe verspürt«24 werden. Ein ideologisches Ausstellungsdesign passt sich absolut den Vorstellungen und Anforderungen eines Künstlers an und versucht auch den Betrachter in diese Ideologie einzugliedern. Judith Barry nennt als Beispiel den Demonstrations-Raum von El Lisitzky, in dem er konstruktivistische Arbeiten in einer ebenfalls konstruktivistischen Architektur präsentierte, die Besucherinnen und Besucher aufforderte, aktiv in diese einzugreifen, um die Exponate betrachten zu können.25 Für den Ausstellungskontext der Arbeiten von Seth Price und Tim Hamilton, Cevdet Erek, Gabriel Lester und Renata Lucas ist bemerkenswert, dass Judith Barry die Präsentationsformen in Ladengeschäften als den Gipfel des Ausstellungsdesigns bezeichnet, da dort die Theatralik und die Ideologie der Inszenierung zusammenfallen und Betrachterinnen und Betrachter sich gleichzeitig dem Dargestellten hingeben und der kapitalistischen Ideologie der Warenwirtschaft folgen sollen.26 Jürgen Raap bezeichnet dies als das »Kalkül der Kaufhausmanager: wenn jemand sich im Tiefgeschoss der Galeria Kaufhof die Pyramide der Künstlerin Renata Lucas anschaut oder bei C & A in einem leeren Raum neben der Abteilung mit Kinderkleidung der Klanginstallation von Cevdet Erek lauscht, dann kauft er dort vielleicht auch noch einen Regenschirm oder eine Windjacke.«27 Was aus Sicht der Kaufhausmanager sicher sinnvoll erscheint, korreliert jedoch nicht mit dem dezidiert kapitalismuskritischen Geisteszustand der dOCUMENTA (13). Das könnte durchaus in Staunen versetzen, wenn nicht bereits nach kurzer Beschäftigung mit den jeweiligen Arbeiten eine ebenfalls deutlich kritische Tendenz sichtbar wäre, die das komplexe Verhältnis von Kunstausstellung und Kommerz deutlich herausstellt. Alle hier vorgestellten Arbeiten gehen mit dem Kontext des Kaufhauses eine wechselseitige Beziehung ein, die gleichzeitig eine Vereinnahmung bedeutet und daher auch in der Lage ist, über den Ort selbst eine Aussage zu treffen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das angesprochene Kalkül der Kaufhausmanager eine interessante Gratwanderung zwischen Werbeeffekt und Kritikfähigkeit. Aber auch das Potential des Entbergens von Machtverhältnissen erhält eine noch höhere Brisanz als im musealen Kontext – zumal durch den eventuellen Kauf eines Kleidungsstück von Seth Price das hegemoniale System bestätigt wird. Dennoch werden dadurch potentiell den Betrachterinnen und Betrachtern – vor allem durch handelnde Teilnahme am Werk – auch gesellschaftliche Prozesse und Verhältnisse vermittelt, wodurch Strukturen der politischen Repression, der Ideologie und der Macht aufgedeckt werden können.28 Einen ähnlichen Komplex stellen die Arbeiten von Gerard Byrne, Tino Sehgal, Lawrence Weiner und Theaster Gates im Hotel Hessenland und dem angrenzenden Hugenottenhaus dar, die sich über die Architekturen direkt mit der Geschichte und Stadtstruktur Kassels in Verbindung setzen. Dabei werden beide Architekturen lose mit der documenta assoziiert, da das Hotel von Paul Bode, dem Bruder des documenta-Gründers, entworfen wurde und die Hugenotten in Person von Simon Louis du Ry für den Entwurf des Fridericianums verantwortlich sind.29 Eine dritte Verdichtung 24 | J. Barry: Dissidente Räume, S. 78. 25 | Ebd., S. 80. 26 | Vgl. ebd. 27 | J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 249f. 28 | Vgl. P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 72. 29 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 406.
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lässt sich mit Arbeiten von Adrian Villar Rojas, Allora & Calzadilla und Aman Mojadidi auf und unter dem Weinberg ausmachen. Im Gegensatz zur Anlage der Exponate der Kalsaue finden sich abseits der Hauptschauplätze keine Individualisten, sondern mehr oder minder stark auf ihren Kontext bezogene Arbeiten, die dennoch ein ähnlich archipelisches Ausstellungsgefüge konstituieren und damit die dOCUMENTA (13) aus dem Status der Autonomie lösen, indem sie mit dem Stadtgefüge verknüpft wird.
Kloster Breitenau: Das Gewissen der dOCUMENTA (13) (12-18) Wie bereits weiter oben erwähnt, haben sämtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) die Gedenkstätte Breitenau besucht und wurden dadurch möglicherweise einem gemeinsamen Geisteszustand näher gebracht. »Der Besuch von Breitenau gehört zu dem Experiment, hundert neue Arbeiten zu haben, die nicht beliebig sind. Einige, wie die von Clemens von Wedemeyer oder Ines Schaber, sprechen die Breitenau-Frage direkt an. Es gibt auf der dOCUMENTA (13) drei oder vier solcher Arbeiten.«30 Tatsächlich lassen sich mindestens sieben voneinander getrennte Projekte ausmachen (12-18). Dies ist für Besucherinnen und Besucher der Ausstellung allerdings ohne Lektüre der Textquellen oder anderem Vorwissen nicht unmittelbar nachvollziehbar, da die Gedenkstätte nicht als Ausstellungsort der dOCUMENTA (13) verzeichnet ist. Ein Hinweis auf den besonderen Status von Breitenau findet sich auch auf dem zweisprachigen Übersichtsplan der Ausstellung, auf dem unter der Rubrik Abseits der Hauptschauplätze / Off the Main Sites eine nur auf Englisch abgedruckte Anmerkung zu finden ist: ›*A part of the artwork by Judith Hopf is located outside of the official dOCUMENTA (13) venues at the Breitenau Memorial, Guxhagen.‹31 »Das Kloster wurde zunächst in ein Gefängnis umgebaut, dann in ein Konzentrations- und Arbeitslager, später in Mädchenerziehungsheim und schließlich in eine offene psychiatrische Einrichtung.«32 Es wird in den unterschiedlichen Katalogtexten als »ein Ort, der in den letzten 150 Jahren tiefgreifenden institutionellen und architektonischen Veränderungen unterlag«33, als Ort der Inhaftierung »›schlechter‹ Arbeiter, Ausreißer, Häretiker, aufsässiger Frauen und Unangepasster [...], die sich weigerten gehorsam zu sein«34, die als »›arbeitsscheu‹«35 galten und deshalb Zwangsarbeit verrichten mussten, als Ort, an dem Menschen die »Erfahrung, überflüssig zu sein, [...] durch Terror aufgezwungen wurde«36, sowie als »Schauplatz eines Massenmordes, der am Ende des Zweiten Weltkrieges von der Gestapo und der SS [...] verübt worden war«37 beschrieben, wodurch den Besucherinnen und Besuchern in Rekurs auf bereits bekannte ähnliche Orte, zumindest ein Eindruck von dem ermöglicht wird, was sich dort ereignet hat. Breitenau im Besonderen und andere Machtinstitutionen im Allgemeinen, 30 | C. Christov-Bakargiev/C. Naphegyi: Transkriptionen eines Interviews, S. 272. 31 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »not izen«: Broschüre Karten/Teilnehmer. 32 | E. Scharrer: Clemens von Wedemeyer, S. 374. 33 | Ebd. 34 | L. Pietroiust: Ines Schaber mit Avery F. Gordon, S. 436. 35 | E. Scharrer: Sanja Ivekovic, S. 154. 36 | C. Martínez: Judith Hopf, S. 76. 37 | L. Pietroiusti: Gunnar Richter, S. 294.
Auf dem Rückzug: Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze
insbesondere Gefängnisse und Konzentrationslager, tauchen aber als Bezugspunkt in einigen künstlerischen Arbeiten auf und können dadurch möglicherweise doch als thematischer Aspekt und als ein real existenter Ort wahrgenommen werden. Breitenau konstituiert sich innerhalb der Ausstellung somit als gleichzeitig anwesend und abwesend, was auch durch die Intention Carolyn Christov-Bakargiev deutlich wird, einen Wunsch, eine Verhaltensweise zu formulieren, aber im Gegensatz zur Karlsaue keine ›Regel‹ aufzustellen: »Ich möchte nicht, dass Breitenau ein Ort ist, wo Besucher hinfahren, aber wenn sie es tun, können wir sie nicht aufhalten, weil es dort eine öffentliche Gedenkstätte gibt. Aber es leben Menschen dort, und es wäre störend. Es gibt so viel Kunst in Kassel, dass ich mir sicher bin, dass nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Besucher dort hinfahren wird. […] Das Gefühl einer räumlichen Verschiebung stellt die Idee des Zugangs infrage. […] Und eine Art, wie ich Zugang in Frage stelle, ist, dass es keine Regeln gibt wie: ›Sie können nicht nach Breitenau fahren.‹« 38
Ohne an dieser Stelle auf die unterschiedlichen Arbeiten, die sich auf Breitenau beziehen, im einzelnen einzugehen, zeigt sich, dass sie über die gesamte Ausstellungsfläche verteilt sind und noch stärker als die Werke in der Karlsaue oder abseits der Hauptschauplätze nicht als lineares Narrativ gelesen werden können, sondern zunächst als subliminales Netzwerk einzelner Ereignisse fungieren, welches als Gesamtheit nur eventuell zu einer bewussten Rezeption vordringt. Sie bilden eine schwer wahrzunehmende, aber durchaus vorhandene Konstellation. Des Weiteren ist Breitenau »als Ort den Arbeitsprozessen der dOCUMENTA (13) eingeschrieben, in denen es eine Art Phantombewusstsein darstellt«39. Möglicherweise lässt sich in Bezug auf das sehr präsent verortete Brain von Breitenau als dem Gewissen der dOCUMENTA (13) sprechen.40 Dieses Gewissen hat aufgrund seiner räumlichen Struktur in der Ausstellung die Eigenschaft, gleichzeitig annähernd unsichtbar – ›auf dem Rückzug‹ – und doch immer wieder präsent zu sein. Die gesamte Anlage entspricht dem von Carolyn Christov-Bakargiev postulierten locational turn, da der Standort der Ausstellung und deren Besucherinnen und Besuchern sowohl auf räumlicher als auch zeitlicher Ebene durch die Beschäftigung mit der Lokalgeschichte – die gleichzeitig Spiegel ähnlicher Ereignisse zu anderen Zeiten und anderen Orten ist – verhandelt wird. Dabei ist entscheidend, an welchem Ort Publikum und die offizielle Ausstellung eben nicht sind: in Breitenau selbst. Dennoch war es natürlich möglich, diesen Ort zu besuchen und es wurden sogar Spaziergänge von der Handwerkskammer in Kassel zur Gedenkstätte von Ines Schaber und Gunnar Richter angeboten.41 Diese vollziehen eine körperlich erfahrbare Annäherung, die auch auf zeitlicher Ebene nicht der Haltung durchschnittlicher Ausstellungsbesucherinnen und -besucher entspricht. Uta Lücking beschreibt ihre Erfahrungen in Breitenau und mit der Arbeit Bambuswald (2012) von Judith Hopf (18):
38 | C. Christov-Bakargiev/C. Naphegyi: Transkriptionen eines Interviews, S. 272f. 39 | C. Martínez: Judith Hopf, S. 76. 40 | Vgl. U. Lücking: Räume als Bereiche, S. 5. 41 | Vgl. documenta: Was/Wann, S. 122.
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Kuratorische Praxis »Breitenau, heute Gedenkstätte, ehemals Konzentations- und Arbeitserziehungslager, ist ein Grenzraum, der nur sehr behutsam betreten werden kann, der aber für das Verständnis der Quellen dieser documenta eine wesentliche Erfahrung darstellt. Den Akt des behutsamen Betretens vollzieht man, wenn man sich die Installation von Judith Hopf ansieht. In einem Saal mit alten knirschenden Holzdielen und hohen Decken, der im Zuge der Umgestaltung des gesamten Benediktinerklosters in der ehemaligen Klosterkirche neu entstand, verbinden mehrere schlanke Säulen den Boden mit der Decke. Die Säulen bestehen aus aufeinander gesetzten Trinkgläsern. […] Man kann um diese Säulen herum- oder zwischen ihnen hergehen. Es ist ein sehr unbehagliches, ängstliches Gehen. Der Holzboden bewegt sich und das Gehen scheint sich zum unsicheren Schwimmen zu verändern: es erzeugt Angst davor, die fragilen Glaselemente zu zerstören und suggeriert somit Verantwortung für die Installation bei Besucherinnen und Besuchern.« 42
Die von Uta Lücking formulierte Verantwortung zeigt sich schließlich in allen drei Ausstellungsbereichen, die hier unter der Position ›auf dem Rückzug‹ gefasst werden: Sie sind weitläufig oder schwierig zu erreichen, sie vermitteln sich weniger direkt und erfordern eine offene Haltung der Besucherinnen und Besucher. Gleichsam werden die Künstlerinnen und Künstler, sowie mitunter auch andere Menschen, zumindest teilweise vor der dOCUMENTA (13) als auch ihren Besucherinnen und Besuchern, beschützt um ›geistige Freiheit‹ bewahren zu können und nicht selbst ›unter Belagerung‹ zu gelangen.
42 | U. Lücking: Räume als Bereiche, S. 5.
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Im Zustand der Hoffnung: Kabul
Der Position ›unter Belagerung‹ wird von der dOCUMENTA (13) deren Engagement in Kabul und die daraus resultierende Ausstellung im Königinnen-Palast und Bagh-e Babur zugeordnet. Die Ausstellung, die als eine »Position der dOCUMENTA (13)«1 bezeichnet wird, fand vom 20.06.2012 bis zum 19.07.2012 statt und verzeichnete 27.000 Besucherinnen und Besucher.2 Auch wenn die jeweiligen Ausstellungsteile aufgrund der räumlichen Trennung nicht dem gesamten Publikum der dOCUMENTA (13) zugänglich waren, boten sich jeweils Zugänge und Einblicke an. Dies überführt die implizite Zugangsbeschränkung, die Carolyn Christov-Bakargiev für Breitenau angelegt hat, sowohl auf einen größeren Maßstab als auch in eine breitere Öffentlichkeit. Dies gilt für die Wahrnehmung Kabuls in Kassel, aber auch für die Besucherinnen und Besucher in Afghanistan. Dieses Kapitel wird sich daher hauptsächlich auf die Spuren beziehen, die das Engagement in Afghanistan in der Kasseler Ausstellung hinterlassen hat, sowie auf Fotografien. Damit rückt diese Analyse näher an der Bereich des Spekulativen heran, sofern Aussagen über die Ausstellung in Kabul getroffen werden. Gleichzeitig soll eine Wende vom Zustand der ›Belagerung‹ zu dem der ›Hoffnung‹ nachvollzogen werden. Im Begleitbuch findet sich ebenso wie zu den Ausstellungsbereichen in Kassel ein Raumplan. Darauf folgen Beschreibungen der Kunstwerke, die im Vergleich zu denen im Abschnitt, der sich auf Kassel bezieht, auf eine Seite verkürzt und nur in englischer Sprache verfügbar gemacht wurden.3 Obwohl alle Künstlerinnen und Künstler bis auf Zolaykha Sherzad ebenfalls in Kassel zu finden sind, scheint sich auf dem Raumplan des Königinnen-Palastes zunächst keines der in Kassel angelegten Narrative zu wiederholen. Dieser Eindruck spiegelt den Anspruch wieder, den Andrea Viliani, der für Kabul zuständige Agent der dOCUMENTA (13), formuliert: »Es ist übrigens nicht unser Plan, im Juni eine Ausstellung zu eröffnen, die jene in Kassel repliziert, sondern wir werden eine Ausstellung zeigen, deren Format sich im Kontext der Bedingungen, die wir während unserer Vorbereitungsreisen nach Afghanistan vorgefunden haben, entwickelt hat.«4 Eine nähere Analyse zeigt, dass aus den Kasseler Ausstellungsbereichen documenta-Halle, Ottoneum und Orangerie jeweils kein künstlerisches Projekt in Kabul ver1 | A. Viliani: Kabul-Bamiyan, S. 456. 2 | Vgl. https://www.documenta.de/de/retrospective/documenta_13 vom 24.10.2018. 3 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 464-491. 4 | A. Viliani/N. Setari: Im Gespräch, S. 282.
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treten ist. Diese Bereiche sind allerdings mit zwischen sieben und zwölf Künstlerinnen und Künstler auch die Hauptschauplätze, die die wenigsten Projekte versammeln. Auffälliger ist, dass der umfangreiche Bereich der Karlsaue mit 53 Künstlerinnen und Künstler mit nur zwei Entsprechungen in Kabul vertreten ist. Die Neue Galerie und der Hauptbahnhof mit 18 bzw. 16 Künstlerinnen und Künstler weisen jew. drei Parallelen zu Kabul auf. Abseits der Hauptschauplätze (inkl. Brüder Grimm-Museum und Untere Karlsstraße 14) finden sich 41 Künstlerinnen und Künstler, von denen sechs ebenfalls in Kabul sind. Alle bisher aufgezählten befinden sich weder in den Kasseler Ausstellungsräumen in direkter Nachbarschaft, noch scheinen sie sich ohne weiteres auf ein gemeinsames Thema festlegen zu lassen. Dies ist bei den vier von 40 ausgewählten Künstlerinnen und Künstler des Fridericianums und der kompletten Übernahme der acht Künstlerinnen und Künstler des ehemaligen Elisabeth Krankenhauses anders: Beide Gruppierungen lassen auch in Kassel deutliche Bezüge zu Kabul herstellen. Im Folgenden werden somit vor allem diese beiden Ausstellungsensembles betrachtet und mit einigen anderen Werken in Verbindung gebracht. Abschließend wird die Arbeit von Giuseppe Penone betrachtet. Dieser Ordnung entspricht die hier vorgeschlagene Nummerierung der Arbeiten. Der wiedergegebene Grundriss, der auch die nicht in diesem Kapitel behandelten Künstlerinnen und Künstler enthält, macht deutlich, dass diese Gruppierungen keiner Erzählabfolge oder Ballung in Kabul entsprechen, sondern dort verschränkt und in neue Zusammenhänge gebracht auftreten: (1) A Brief History of Collapses (2011-2012) von Mariam Ghani (Fridericianum) (2) Of what is, that it is; of what is not, that is not (2012) von Goshka Macuga (Fridericianum) (3) Filme und Objekte zu Alighiero Boettis One Hotel von Mario Garcia Torres (Fridericianum) (4) What Dust Will Rise? (2012) von Michael Rakowitz (Fridericianum) (5) c/o Jolyon (2012) und Fatigues (2012) von Tacita Dean (Fridericianum: Brain/ Abseits der Hauptschauplätze) (6) Momentary Monument IV (2012) von Lara Favaretto (Hauptbahnhof) (7) What We Have Overlooked (2011) von Lida Abdul (Elisabeth Krankenhaus) (8) Soundinstallation ohne Titel (2012) von Abul Qasem Foushanji (Elisabeth Krankenhaus) (9) Peraan-e-Tombaan (Hose und Hemd) (2012) von Jeanno Gaussi, sowie in Kassel: Family Stories (2011-2012) (Elisabeth Krankenhaus) (10) Gemälde ohne Titel (2012) von Zainab Haidary (Elisabeth Krankenhaus) (11) Teile der Serie Superpositional (2012) von Masood Kamandy (Elisabeth Krankenhaus) (12) Gaining and Losing (2012) von Rahraw Omarzad (Elisabeth Krankenhaus) (13) Hawa-a-Azad (Esprit Libre) (2012) und Chapan (2012) von Zolaykha Sherzad (Ausschließlich in Kabul) (14) Arbeiten von Mohsen Taasha (Elisabeth Krankenhaus) (15) Ghost War (2012) von Zalmaï (Elisabeth Krankenhaus) (16) Radici di pietra (2012) von Giuseppe Penone, sowie in Kassel: Idee di pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010) (Karlsaue)
Im Zustand der Hoffnung: Kabul
Abb. 9: Ausstellungsplan: Königinnen-Palast und Bagh-e Babur, Kabul.
Fridericianum: K abul und Quantenteleportation (1-6) Das Fridericianum beherbergt, wie in den Abschnitten zum Erdgeschoss und dem Brain gezeigt wurde, verschiedene Narrative, die teils geschlossen, teils mit offenen Enden erscheinen. Weitere ließen sich ausmachen. Aber der restliche Ausstellungsrundgang lässt unterschiedliche Wege zu und beinhaltet Schlaufen und Sackgassen, so dass diese sich weniger als lineare Narrative, sondern eher als verwobene Stränge unterschiedlicher Erzählungen darstellen. Einer dieser Stränge lässt sich, auch ohne Paratexte zu konsultieren, relativ leicht benennen: Kabul und Afghanistan.
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Die Videoarbeit A Brief History of Collapses (2011-2012) von Mariam Ghani (1) stellt dabei den deutlichsten Verweis dar: Die Zweikanal-Projektion auf nebeneinander aufgestellten, leicht zueinander geneigten Leinwänden stellt stilistisch vergleichbare Aufnahmen aus dem Fridericianum und dem Darulaman-Palast in Afghanistan gegenüber. Die Kamera fährt in wechselnder Perspektive durch die Architekturen, hin und wieder ist eine Frau zu sehen, die allerdings nie zu identifizieren ist und meist direkt aus dem Bild tritt. Während die eine Architektur den meisten Besucherinnen und Besuchern unbekannt sein dürfte, ist es leicht möglich, die Architektur des Fridericianums wiederzuerkennen. Beide Bildkanäle teilen sich eine Tonspur, auf der eine getragene, nur durch wenige Töne erzeugte Melodie und eine Frauenstimme zu hören sind: »The story or stories you’re about to hear may or may not be true. They may have happen long ago and far away – or quite close to where you stand today. Within the reach of present memories or before the precisions of recorded histories. […] So: There was once or perhaps there wasn’t a palace. The palace was a parliament or a museum, a library or a refuge, a ministry or a battleground. We can agree at least that it was and is a building. Or rather two buildings, constructed two centuries apart. We may imagine that one building echoes the other.« 5
Im weiteren Verlauf werden beide Gebäude eindeutig benannt, Teile ihrer Geschichte und den damit verbundenen Geschichten erzählt und assoziativ in Verbindung zueinander gesetzt. Außerdem werden immer wieder Verweise auf märchenhafte Erzähltraditionen eingeflochten. Im Vergleich beider Bildkanäle ist offensichtlich, dass es trotz der angenommenen ›Echos‹ einen grundlegenden Unterschied gibt: Zur Zeit der jeweiligen Aufnahme ist das Fridericianum ein repräsentativer Museumsbau, während der Darulaman-Palast in Trümmern liegt. Gerade darin soll sich aber zeigen, inwiefern die Gebäude ›ineinander widerhallen‹, auch wenn die Parallelen nicht unbedingt am selben Ort oder zur selben Zeit stattfinden: Die Stimme berichtet von der Bombardierung und Zerstörung des Fridericianums im Zweiten Weltkrieg und eröffnet durch die bestehende Parallelität eventuell Hoffnung für den Palast in Afghanistan. Einem ähnlichen Prinzip folgt die sich in direkter Nachbarschaft befindende Arbeit Of what is, that it is; of what is not, that is not 1 (2012) von Goshka Macuga (2). Ein Wandteppich, der das gesamte Halbrund der Rotunde im zweiten Obergeschoss einnimmt, zeigt eine weitestgehend fotorealistische, aber bei ausgiebiger Betrachtung surreal wirkende, Situation: In einer verschneiten Landschaft steht eine große Gruppe von Menschen, die für ein Foto zu posieren scheint oder aus einem anderem Grund hauptsächlich direkt in Richtung der Betrachterinnen und Betrachter blickt. Im Vordergrund befinden sich einige weitere Personen, am Boden liegende Körper, eine Kanone sowie eine übergroße, sich aufstellende Schlange. Der Hintergrund wird durch eine leicht erhöht liegende Ruine eingenommen. Dass es sich bei dieser um den Darulaman-Palast handelt, ist der Darstellung selbst nicht zu entnehmen. Möglicherweise wird dieser Bezug aber durch die Arbeit von Mariam Ghani hergestellt. Aber sowohl das Begleitbuch als auch eine vor Ort ausliegende Zeitung geben Auskunft über Motivik und Aufbau der Arbeit, so dass Bezüge dennoch leicht herzustellen ist. Es werden die realen Ereignisse referiert, die die Künstlerin fotografierte, aber auch der Umstand, dass sie diese zu ›Halbwahrheiten‹ collagiert hat. Darüber hinaus ent5 | https://vimeo.com/49916741 vom 24.10.2018. Transkription TP.
Im Zustand der Hoffnung: Kabul
halten beide Texte die Information, dass es einen zweiten Teppich gibt, der Bildwelten aus Kassel darstellt und in Kabul ausgestellt wird.6 Dieser zweite Teppich ist für die Kasseler Besucherinnen und Besucher nicht zugänglich. Es befindet sich zwar eine Abbildung im Kabul betreffenden Abschnitt des Begleitbuches, diese entspricht aber etwa einem Maßstab 1:100 und erlaubt keine Wahrnehmung der fotorealistischen Details.7 Das Werk ist – zumindest aus der Perspektive Kassels – ›verstummt‹, möglicherweise sogar ›traumatisiert‹ oder ›auf dem Rückzug‹.8 Auch wenn die Gegenüberstellung weniger direkt und nicht innerhalb der Arbeit kommuniziert ist, wirkt sie hier direkter auf die Besucherinnen und Besucher, die sich nicht in zuhörender Haltung eine Videoarbeit anschauen, sondern direkt davon betroffen sind, nur einen Teil der gesamten Arbeit rezipieren zu können. »Ich glaube, es geht in der Documenta vor allem darum, an einem bestimmten Ort zu sein und nicht noch woanders. […] Mit dieser wahren Gleichzeitigkeit einer Ausstellung, die real sowohl in Kassel als auch in Kairo [sic!] stattfindet, wollte ich deutlich machen, dass, wer hier ist, eben hier ist und nicht gleichzeitig woanders. Der Besucher hier wie dort soll diesen Mangel realisieren.«9
Der imaginierte und tatsächliche Dialog zwischen verschiedenen Manifestationen der Arbeit wird von Andrea Viliani mit dem Phänomen der Quantenteleportation in Verbindung gebracht.10 Dies gibt einen Hinweis darauf, in welche Narrative, neben dem offensichtlichem der Künstlerischen Forschung, die Laborsituation von Anton Zeilinger, ebenfalls im Fridericianum, durch die dOCUMENTA (13) eingebunden wird. Die Versuchsanordnungen Anton Zeilingers befinden sich zwischen vier künstlerischen Positionen, die gemeinsam als Narrativ zur Künstlerischen Forschung gelesen werden können. Nur zwei dieser fünf stehen in direktem kausalen Zusammenhang: Mario Garcia Torres und Alighiero Boetti (s.u.). Aber sowohl eines der Experimente Anton Zeilingers als auch die Zeichnungen von Mark Lombardi stellen zunächst unsichtbare Verbindungen zwischen unterschiedlichen Elementen dar: Die Linien in Mark Lombardis Zeichnungen repräsentieren Handlungen, symbolisieren Beziehungen und versuchen, das Geschehen der Zeit zu begreifen. Sie erzählen im Arrangieren von Informationen Geschichten, archivieren Gedanken.11 Die Verbindungen bei Anton Zeilinger sind weit weniger spekulativ, aber gleichzeitig noch schwieriger nachzuvollziehen: »Auf der komplexesten Ebene wird ein Experiment mit Photonenpaaren zu sehen sein, wo zwei verschränkte Photonen in zwei verschiedene Räume geschickt werden. Die instantane Verbindung der beiden bei der Messung wird dann direkt sichtbar, erfahrbar gemacht. Das Ergebnis dieses Experiments eröffnet ganz neue Formen der Telekommunikation und für eine Technologie zur sicheren Verschlüsselung von Daten.« 12 6 | Vgl. E. Scharrer/A. Viliani: Goshka Macuga, S. 88. Vgl. G. Macuga: half-truth, o.S. 7 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 481. 8 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 14, BdB. S. 302f. 9 | C. Christov-Bakargiev: Die surrealistische Wende, S. 298. 10 | Vgl. A. Viliani/N. Setari: Im Gespräch, S. 282. 11 | Vgl. F. Steinhofer: Lombardi Code, o.S. 12 | A. Kleinman: Anton Zeilinger, S. 134.
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Auch ohne das physikalische Experiment oder die damit verbundene Theorie nachzuvollziehen, wird die Grundannahme durch die Positionierung zweier Stationen in unterschiedlichen Ausstellungsräumen anschaulich vermittelt. Diese stehen in einer ›instantanen Verbindung‹, d.h. einer im genau gleichen Moment stattfindenden, gegenseitigen Fernwirkung. Was im Experiment nachgewiesen werden kann, soll also nach Andrea Viliani auf die Wirkungsweisen verschiedener künstlerischer Positionen assoziativ übertragen werden können. Dazu zählen neben den bereits genannten von Mariam Ghani und Goshka Macuga sicherlich auch c/o Jolyon (2012) von Tacita Dean (5) und Momentary Monument IV (2012) von Lara Favaretto (6), die eine ähnliche Verschränkungen von verdoppelten Kunstwerken in Kassel und Kabul vornehmen. Diese ist allerdings aus den jeweiligen Manifestationen selbst nicht ablesbar und muss Paratexten entnommen werden. Deutlich stellt der Werkkomplex von Mario Garcia Torres (3) eine Verbindung zu Kabul bzw. dem dort in den 1970er Jahren lebenden Künstler Alighiero Boetti dar. Mario Garcia Torres’ Künstlerische Forschung war Anlass für eine Reise des Künstlers und einiger Akteure der dOCUMENTA (13) nach Kabul, die zum Ausgangspunkt für das Engagement vor Ort wurde.13 Im Fridericianum zu sehen sind Dokumente und Filme, die teils von einer fiktiven, teils von wirklichen Reisen nach Kabul zeugen, sowie die Arbeit Mappa (1971) von Alighiero Boetti, die für die documenta 5 angefertigt, dort aber nicht ausgestellt wurde.14 Diese Forschung ist für die Besucherinnen und Besucher in weiten Teilen nachvollziehbar und wird im Diavortrag Have You Ever Seen the Snow? (2010) von Mario Garcia Torres in einem Kabinett vermittelt. Etwas abseits der Hauptrouten des Fridericianums findet sich schließlich die Arbeit What Dust Will Rise? (2012) von Michael Rakowitz (4). In ihr werden die Zerstörung des Fridericianums, die Zerstörung der Bamiyan-Buddhas und etliche weitere, mit Zerstörung in Zusammenhang stehende Ereignisse, verknüpft. Auf mehreren Tischen und in mehreren Vitrinenschränken finden sich durch kurze, handschriftliche Texte begleitete Objekte, die teils Fundstücke und teils angefertigt sind. Die jeweilige Referenz lässt sich durch die Paratexte sowie einen auf die Wand aufgebrachten Metatext auch hier ohne weiteres herstellen. Einen Großteil der Sammlung machen aus Bamiyan-Stein gefertigte Objekte aus, die verlorene Bücher darstellen – unter anderem Bände, die durch die Bombardierung des Fridericianums zerstört wurden.15 Auch wenn es sich bei dem Kabul-Narrativ der Kasseler Ausstellung nicht um ein räumlich geschlossenes handelt, sondern es sich über das Fridericianum und darüber hinaus verteilt, lassen sich die jeweiligen Positionen durch Besucherinnen und Besucher relativ leicht identifizieren. Somit kann angenommen werden, dass auch eine Verknüpfung mancher Positionen gelingt. In all diesen Arbeiten ist eine Doppelstruktur angelegt, die in unterschiedlicher Intensität eine Verschränkung oder Überlappung der Kontexte von Kassel/Deutschland und Kabul/Afghanistan evoziert. Dabei fällt auf, dass für das Fridericianum häufig auf die Zeitspanne nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und vor der Nutzung und teilweisen Instandsetzung durch die documenta verwiesen wird. Es wird keine absolute Gleichheit behauptet, wohl aber eine assoziative Vergleichbarkeit von Zeiten und Orten.
13 | Vgl. A. Viliani/N. Setari: Im Gespräch, S. 282. 14 | Vgl. E. Scharrer/A. Viliani: Mario Garcia Torres, S. 68. 15 | Vgl. E. Scharrer/A. Viliani: Michael Rakowitz, S. 110.
Im Zustand der Hoffnung: Kabul
Carolyn Christov-Bakargiev wollte es allerdings nicht bei diesem Vergleich belassen, da dies zu pessimistisch erschien, und führt ein Moment der ›Hoffnung‹ ein:16 »documenta started in the early 1950s in Kassel, Germany, after a terrible period of conflict, different and totally dissimilar to what has taken place in Afghanistan, but nonetheless in a moment of rebuilding a civil society«17 – diese Zeitspanne begründet für Carolyn Christov-Bakargiev den Geisteszustand der documenta und deren Verschiedenheit von anderen Großkunstausstellungen: »Die documenta ist ein Geisteszustand. Ihre Geschichte unterscheidet sich von der anderer internationaler Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vor allem dadurch, dass sie nicht aus den Handelsmessen oder Weltausstellungen der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts hervorging […]. Sie entstand vielmehr nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Trauma, in einem Raum, in dem Zusammenbruch und Wiederaufbau zum Ausdruck kamen. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, an dem die Kunst […] als internationale Sprache und als Welt gemeinsamer Ideale und Hoffnungen von größerer Bedeutung zu sein schien […].« 18
Kassel, welches 2012 in der Position der ›Bühne‹ verortet ist, war somit in dieser Zeit im ›Zustand der Hoffnung‹, dass Kunst zum Wiederaufbau, zur Arbeit am lokalen und globalen Trauma, etwas Entscheidendes beizutragen habe. Wenn Kassel und Kabul also als vergleichbar gedacht werden, ist damit der Anspruch an die dOCUMENTA (13) bzw. deren Hoffnung für Kabul skizziert. Zu dieser Vorstellung äußert sich auch Michael Rakowitz: »[W]hat could be more uncomfortable and unsettling to an all-too-comfortable art world than to rise the stakes again, as Arnold Bode did in the first decade after the Second World War, and ask how art might be enlisted in the service of rebuilding the culture of a devasted land and people? It is an incredibly problematic gesture and that is what makes it good and important.« 19
Dabei erscheint Kunst keine große Relevanz im Verhältnis zu den real-politischen Konflikten vor Ort haben zu können. Carolyn Christov-Bakargiev sieht aber gerade darin ihr subversives Potential: »Durch diese [Ausstellung] wird nicht nur ein bestimmtes Bild von Afghanistan und Kabul zerstört, sondern auch eine Realität. Sämtliche Betonmauern und auch der Stacheldraht, einfach alles, muss weg. Wenn man dies aber auf offizielle Weise versucht, kann es nicht funktionieren. Man muss es auf so so subtile wie subversive Weise zerstören. […] Ich glaube, Kunst kann etwas bewirken, verändern und bewegen. Und da es nicht so aussieht, dass die Kunst dies vermag, ist sie erlaubt. Da doch nur Kunst, wirkt sie nach außen ungefährlich.« 20
16 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Die surrealistische Wende, S. 298. 17 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 1. 18 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31. 19 | M. Rakowitz zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 3. 20 | C. Christov-Bakargiev: Die surrealistische Wende, S. 299f.
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Kuratorische Praxis
Ehemaliges Elisabeth Krankenhaus: Eine autonome Replik (7-15) In unmittelbarer Nachbarschaft zum Fridericianum, aber durch selbiges auch von allen anderen Verkehrswegen der Ausstellung abgeschnitten, liegt somit gleichermaßen im Zentrum und in der Peripherie des Ausstellungsgefüges in Kassel das ehemalige Elisabeth Krankenhaus, welches als temporärer Ausstellungsort der dOCUMENTA (13) genutzt wurde. Die Präsentation der Arbeiten unterscheidet sich deutlich dadurch von denen anderer Ausstellungsorte, dass weder eine museale Atmosphäre herrscht, noch die Arbeiten (mit einer Ausnahme) als mehr oder minder ortsspezifisch eine Synthese mit dem Ort bilden. Verwinkelte Durchgänge, Holzvertäfelungen und Fliesen, Fenster und technische Anlagen verweisen deutlich auf die Umnutzung des Ortes und lassen die Ausstellung gewissermaßen provisorisch wirken. Obwohl sich in einigen der hier ausgestellten Werke ähnliche Themen und Gedanken aufzeigen lassen, stellt sich dieser Ausstellungsbereich trotz seiner Abgeschlossenheit zunächst nicht als deutliches Narrativ dar und ist auch im Gegensatz zu den übrigen Ausstellungsorten nicht im Begleitbuch mit einem kurzen Motto oder Thema versehen. Dennoch handelt es sich um eine Themenausstellung, die für die dOCUMENTA (13) ungewöhnlich konkret und überprüfbar konzipiert ist: Alle hier ausgestellten Künstlerinnen und Künstler bzw. deren Familien stammen aus Afghanistan. Carolyn Christov-Bakargiev fasst diese Gruppierung als »international, Afghan and Afghan diaspora«21. Über das Kriterium der Herkunft ließen sich noch die Künstler Barmak Akram, Khadim Ali und Aman Mojadidi, die in anderen Ausstellungsbereichen untergebracht sind, assoziieren. Innerhalb des Ensembles im ehemaligen Elisabeth Krankenhaus finden sich sowohl Arbeiten bereits international erfolgreicher, als auch solche meist junger und unbekannter Künstlerinnen und Künstler. Letztere lassen sich als einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminare, die durch die dOCUMENTA (13) in Kabul abgehalten wurden, identifizieren und wurden durch eine Jury ausgewählt. Die Konzeption dieser Seminare lässt sich anhand des Begleitbuches und der Publikation The Afghan Seminars, welche in der Ausstellung ausliegt, nachvollziehen. Außerdem finden sich in der Ausstellung Videodokumentationen und Transkriptionen. Der Umfang dieser Dokumente ist so groß, dass sie eher für eine manifestierte Zeugenschaft stehen, statt für einen tatsächlichen Nachvollzug im Detail. Neben Carolyn Christov-Bakargiev und einigen Agenten haben vor allem Künstlerinnen und Künstler Vorträge gehalten und Workshops angeboten, darunter Francis Alÿs, Mario Garcia Torres, Goshka Macuga, Jeanno Gaussi, Aman Mojadidi, Natascha Sadr Haghighian, Barmak Akram, Jérôme Bel, Raimundas Malašaukas, Lara Favaretto, Giuseppe Penone, Adrian Villar Rojas, Masood Kamandy, Michael Rakowitz und Khadim Ali. Addiert man die Gruppe der Dozentinnen und Dozenten mit der der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminare in Kabul, erfasst man bis auf fünf Ausnahmen den Gesamtumfang der Ausstellung im Königinnen-Palast. Christoph Menke beschreibt, dass über den Verlauf der Seminare die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach und nach eine offene Diskussionskultur entwickelt und selbst Sprecherposition eingenommen hätten.22 Dies wird von einer Teilnehmerin, Zainab Haidary, ähnlich beschrieben: 21 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 1. 22 | Vgl. ebd., S. 2.
Im Zustand der Hoffnung: Kabul »Before participating in the seminar, I knew very little about documenta. […] During the seminar I began to ask more and more questions, which complicated my thinking. As the time passed, and with each new learning experience, I began to recognize that I am the only answer to some of my questions. […] In the documenta seminar I found myself able to relax, because there, in the seminar, I was never told: ›You should obey one role!‹ ›You should learn this thing!‹ ›You should obey this ideology.‹ There, no one tried to influence, or act authoritatively in the way information was provided.« 23
Michael Rakowitz gibt einen kurzen Abriss seines Seminars und macht eine Verschiebung innerhalb der dort angewendeten Pädagogik aus: »[M]y idea was to re-introduce the art of stone carving into the local Bamiyan community, as a recuperative act. I thought of the poetry that would be created amid the sweeping hills of Bamiyan, the empty spaces of the Buddha niches and young people making things. […] I collaborated with sculptor and restorer Bert Praxenthaler and Afghan sculptor Abbas Allah Dad on a seminar titled ›What Dust Will Rise?« held with local students in a cave close to a niche where the Western Buddha once stood. […] During the first three days, the students were almost all producing abstract works, having found inspiration in the images I showed them of works by Henry Moore and Eduardo Chillida, as well as Wolfgang Laib’s Milkstone. When Abbas Allah Dad arrived on the fourth day, he immediately began instructing the students on making their abstract works more realistic and representational. I thought this was brilliant and I welcomed this shift in pedagogy. Abbas has survived threats from the Taliban for his realistic work. The Buddhas met their end because they were representational and were ›un-Islamic.‹ In Afghanistan the real is the radical, while the abstract and the absurd are routine.« 24
Der Nachvollzug dieser Erkenntnis hat das Potential, die Wahrnehmung einiger Werke durch Besucherinnen und Besucher radikal zu verschieben – insbesondere die von Jeanno Gaussi (10), Mohsen Taasha (15) und Zalmaï (16), die stark figürlich argumentieren und dadurch sowohl den aktuellen zentraleuropäischen Sehgewohnheiten als auch der Bildsprache der restlichen dOCUMENTA (13) entgegen laufen. Innerhalb von Family Stories von Jeanno Gaussi wird auch inhaltlich auf eine solche Unlesbarkeit und den Versuch einer Vermittlung referiert: Die Künstlerin überließ einem Kabuler Schildermaler dreißig private Fotografien, »die ihr immer unklar und zusammenhanglos erschienen.«25 Der Maler »Sharif [Amin wird] zum Vermittler und Entschlüsselungshelfer, zu einem Forscher, der mögliche Spuren der Wahrheit ans Licht bringen kann.«26 Mit diesen Fragen nach Vermittelbarkeit und der Erstarkung von Kunsthandwerk ist in der Arbeit ein Feld abgesteckt, dass sich mit den theoretischen Überlegungen von Sabine B. Vogel zur Globalkunst deckt, in denen sie schließlich durch die Verknüpfung von globalen Zusammenhängen und lokalen Traditionen zum Kunstwort ›glokal‹ gelangt.27 23 | Z. Haidary zitiert nach ebd., S. 3. 24 | M. Rakowitz zitiert nach ebd. 25 | A. Viliani: Jeanno Gaussi, S. 386. 26 | Ebd. 27 | Vgl. S.B. Vogel: Globalkunst, S. 46.
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Kuratorische Praxis »Zeitgenössische Kunst ist transkulturell, transregional und vor allem nicht mehr der Diktatur der Moderne untergeordnet. Es herrscht kein Glauben an eine Einheit, an eine verbindliche Ästhetik, keine Forderung eines gemeinsamen formalen Nenners, sondern das Bewußtsein von Vielheiten. Statt von der einen, westlichen Moderne wird heute von vielen, regionalen Modernen gesprochen, statt nationale werden transnationale und transkulturelle Identitäten betont[.]« 28
Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Kunst heute veränderte Rezeptionsbedingungen hat und es nicht möglich ist, aus einer westlichen Vormachtstellung diese umfassend zu erfassen. Die Erkenntnis, nicht alles verstehen und wissen zu können, kann als Möglichkeit angesehen werden, fremdes Wissen anzuerkennen und als Anlass für Austausch zu nutzen. Ein solcher Austausch wurde durch die dOCUMENTA (13) in Kabul initiiert. Die Ergebnisse – u.a. Kunst – lassen sich weder unter einer westlichen, noch unter der Denkweise der Ausstellung subsumieren, sondern stellen ein manchmal sperriges oder sogar unverständliches Angebot dar, einen Dialog einzugehen. Die eingangs beschriebene Lokalisierung der Ausstellung in Kassel und die zum Rest der Ausstellung verschiedene Präsentationsweise, die zunächst einen abwertenden Charakter evozieren, müssen unter diesen Gesichtspunkten als Stärkung der Position verstanden werden: Obwohl Teil der dOCUMENTA (13), wird diese Ausstellung nicht subsummiert oder okkupiert, sondern existiert als möglichst eigenständige Gruppenausstellung, die weitestgehend eine Replik der Ausstellung in Kabul darstellt, in einem Off-Space. Zwar lässt sich das Engagement in Kabul zumindest in der durchweg positiven Eigendarstellung nachvollziehen, doch das dadurch entstehende Narrativ stellt im Gegensatz zu denen in anderen Ausstellungsbereichen einen weitestgehend entpersonalisierten Bericht dar und kann weder als assoziative Erzählung noch als Bebilderung einer These gelesen werden.
K abul: Rekonstruktion einer Re-Edukation (16) Chus Martínez stellt im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, der erzählt bekommen möchte, was er in Kabul verpasst habe, fest, dass es schwierig ist, »über eine vom Gegenüber ungesehene Ausstellung zu reden.«29 Diese Schwierigkeit potenziert sich im Falle der hier vorgenommenen Analyse dadurch, dass weder der Autor noch die meisten Leserinnen und Leser dieses Textes die Ausstellung in Kabul gesehen haben. Dass bereits darin eine der Hauptanliegen der dOCUMENTA (13) liegt, wurde bereits dargestellt. »[I]n what way Alexandria, Kairo, Kabul and Bamiyan were inside the atmosphere of Kassel. It wasn’t, it’s outside the atmosphere, it’s outside our planet, there is anything else outside the atmosphere.«30 Es wurde daher versucht, durch die Lektüre zweier Ausstellungsteile in Kassel zumindest zu Bruchstücken einer Rekonstruktion zu gelangen. Die meisten Arbeiten sind ebenso wie die in Kassel für diese Ausstellung konzipiert und auf die dortige Situation bezogen.31 Insbesondere die Arbeiten von Lida Abdul, Michael Rakowitz, Mariam 28 | Ebd., S. 47. 29 | C. Martínez: Man muss mit der Kunst, S. 306. Vgl. ebd., S. 304. 30 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 125. 31 | Vgl. C. Martínez: Man muss mit der Kunst, S. 304.
Im Zustand der Hoffnung: Kabul
Ghani und Goshka Macuga scheinen mit denen in Kassel vergleichbar oder identisch zu sein. Andere Arbeiten operieren zwar nach ähnlichen Prinzipien wie in Kassel, gelangen aber zu anderen, möglicherweise ortspezifischen, Ergebnissen, z.B. Adrain Villar Rojas und Lara Favaretto. Bemerkenswert ist, dass es mit Zolaykha Sherzad eine Künstlerin gibt, die nur in Kabul ausgestellt wird und somit dem Kasseler Publikum völlig unzugänglich bleibt. Chus Martínez berichtet, dass zunächst weder eine Idee oder Absicht mit der Reise nach Kabul verbunden gewesen sei: »Vielmehr gingen wir dem nach, was die Künstler wollten. Wenn man sich fragt, worin die Aufgabe eines Kurators besteht, so kann die Antwort nur lauten: Man folgt den Wünschen, den Ideen und Absichten der Künstler und versucht, deren Interessen durchzusetzen, und hilft ihnen dabei, ihre Ideen umzusetzen.«32 Auch das kuratorische Vorgehen und die die daraus resultierende Präsentation seien mit Kassel vergleichbar: »[B]eide Ausstellungen beruhen auf den selben Prinzipien. Sie bestehen darin, dass wir Künstler einladen, um sich dann von ihnen leiten zu lassen. Die Künstler kamen und sahen sich die Orte an. Nachdem sie studiert hatten, was möglich ist, machten sie Vorschläge. Der Leitfaden beider Ausstellungen ist, dass man voll und ganz auf die Energie der Künstler setzt.« 33
Damit umreißt Chus Martínez nachvollziehbar die Differenz zwischen kuratorischem Stil und Konzepten auf der einen Seite und einem gleichbleibenden Vorgehen unter Annahme eines gemeinsamen Geisteszustandes auf der anderen, die trotz gleicher Prinzipien zu eigenständigen Ausstellungssprachen führen können. Tatsächlich scheint in Kabul, ähnlich dem ehemaligen Elisabeth Krankenhaus, eine Ausstellungssprache vorzuherrschen, die das Einwirken der dOCUMENTA (13) weder verbirgt noch leugnet und dennoch als eigenständig gelesen werden kann. Dennoch liegt der Verdacht einer kolonialen Geste nahe, zu dem sich, erneut der Eigendarstellung des Projektes entnommen, Christoph Menke und Mario Garcia Torres äußern: »In response to the concern that documenta’s decision to go to these places–not only Kabul but also Cairo–could be perceived as a colonialist approach, my answer is that, in my view, other ways of inquiring into this matter should be taken into account. […] Taking the question to an extreme one could ask: is dOCUMENTA (13) in any way important for Afghanistan? I would reply probably not. However if you ask whether the activities of the seminar series, […] have a colonial or even an extra-terrestrial character, whether it is a kind of UFO in the country, then I would reply: not at all–and the reason is that the group of people we worked with did not perceive it like this.« 34 »In the case of Kabul, the question of making or stop making art because of the war comes up only before one goes there. […] Once there, you take a definitive side. Why would I, as an artist, stop doing something (thinking through art) just because I found myself in a specific situation like the one in Afghanistan? It is the fact that they are ac-
32 | Ebd., S. 306. 33 | Ebd. 34 | C. Menke zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 2.
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Kuratorische Praxis tually going through a war that gives even more sense; people there are not interested in war, war is a condition they are in, and this is a radical difference.« 35
Die entscheidende Hoffnung in Bezug auf dieses Projekt wird von Andrea Viliani formuliert, der als Agent die kuratorische Leitung der Kabuler Ausstellung innehatte: »Hopefully, dOCUMENTA (13) was listening, not just talking, to artists and art institutions in Afghanistan, without defining nor determining them to a unilateral, frozen interpretation, but commuting them to alive with all their potentialities.«36 Der Position ›Im Zustand der Hoffnung‹ wird allerdings mit Arnold Bodes documenta ein Kontext hinzugefügt, der in Bezug auf das Nachkriegstrauma mit Schlagworten wie ›Nachholbedarf‹ und ›Wiedergutmachung‹ auch eine klare edukative Geste beinhaltet.37 Nicht nur sollten die durch die Nationalsozialisten verfemten Künstlerinnen und Künstler durch die Ausstellung rehabilitiert werden, auch eine Re-Edukation des Publikums wurde angestrebt. Darüber hinaus wurde mit einem Vorspann der ›Wurzeln der Moderne‹ und einer Konzentration auf insbesondere deren abstrakten Vertreterinnen und Vertretern bereits die Agenda der ›Abstraktion als Weltsprache‹ vorbereitet.38 Eine solche Geste in Kabul zu wiederholen, insbesondere mit der Perspektive auf die unterschiedlichen lokalen Potentiale von Abstraktion und Realismus, könnte sich in der Tat als arrogant oder kolonialistisch darstellen. Unabhängig der Argumentation von Christoph Menke, dass es sich für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht so angefühlt habe, muss aber auch die tatsächliche Ausstellung betrachtet werden. Bis auf sehr wenige Ausnahmen wurden Künstlerinnen und Künstler gezeigt, die entweder in einer Beziehung zu Afghanistan stehen oder ausführlich in diesen Kontexten gearbeitet haben. Damit muss die Geste grundlegend nicht als Transfer von westlicher Kunst und Kunsttheorie zur Edukation – ein Vergleich mit Picasso in Palestine (2012) von Khaled Hourani liegt nahe – sondern als Aktivierung oder Unterstützung eigener Traditionen und Denkweisen verstanden werden. Sollte die lokale Bewertung des Engagements der dOCUMENTA (13) sich mit diesem Eindruck decken, so wäre dieses als erfolgreich zu bewerten. Eine Arbeit, die gewissermaßen von außen hinzugekommen ist, ist Radici di pietra (2012) von Giuseppe Penone (17, vgl. Abb. 10). Sie nimmt gemeinsam mit Idee di pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010) in Kassel einen besonderen Stellenwert ein, da es sich um das erste und letzte durch die dOCUMENTA (13) realisierte Kunstwerk handelt.39 Die Arbeit lässt deutliche Bezüge zum gesamten Œuvre von Giuseppe Penone, vor allem Continuerà a crescere tranne che in quel punto (1968), zu und entstammt somit deutlich einer mitteleuropäischen Traditionslinie. Zwar stellte Giuseppe Penone im Rahmen der Seminare seine Arbeit vor, es lassen sich jedoch keine Anzeichen für eine Kollaboration finden. In der Arbeit spiegelt sich das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Komponenten auch inhaltlich wieder: Eine vom Künstler gestaltete Marmorsäule wird mit einem im Kabuler Boden verwurzelten Baum in Beziehung gesetzt. Die Säule weist selbst eine an Wurzeln erinnernde Oberflächenstruktur auf 35 | M. Garcia Torres zitiert nach ebd. 36 | A. Viliani zitiert nach ebd. 37 | Vgl. H. Kimpel: Mythos und Wirklichkeit, S. 250f. 38 | Vgl. ebd., S. 262ff. 39 | Vgl. A. Viliani: Giuseppe Penone (II), S. 484.
Im Zustand der Hoffnung: Kabul
und soll im Laufe der Zeit das weitere Wachstum des Baumes beeinflussen. Dies könnte als Verletzung interpretiert werden. Tatsächlich handelt es sich maximal um eine Irritation, da weder die Oberfläche des Baumes penetriert wird, noch dessen generelles Wachstum bedroht ist. Ob der Baum die ›neue Wurzel‹ annimmt oder nicht, muss sich zeigen – oder ist es eigentlich der Marmor, der Energie aus dem Baum ziehen soll? Schließlich besteht die Möglichkeit, dass der Marmor, intendiert oder nicht, entfernt wird, bevor er ›bleibenden Eindruck hinterlässt‹. Im Kontext der dOCUMENTA (13) ermöglicht das Werk somit, ungeachtet seiner werkimmanenten Implikationen, als fragende Standortbestimmung gelesen zu werden. Die eigene Andersartigkeit wird weder geleugnet noch kaschiert, doch es wird der Zeit und den Menschen vor Ort überlassen, wie sich die Geste einschreiben wird.
Abb. 10: Radici di pietra (2012) von Giuseppe Penone im Bagh-e Babur, Kabul.
Diese Lesart lässt sich nicht nur für die Aktivitäten in Kabul, sondern für die gesamte dOCUMENTA (13) fruchtbar machen. Obwohl ihre historische Faktizität nicht zu leugnen ist, muss erst die Zeit zeigen, auf welche Weise ihr Geisteszustand in das kollektive Gedächtnis und die Verfassung der Gesellschaft einwirkt. Diese, ebenso wie die Institution documenta, entwickelt sich weiter und muss aus dieser zukünftigen Perspektive beurteilen, ob die Einwirkung der dOCUMENTA (13) eine skurrile Episode, eine Irritation oder eine produktive Verschiebung darstellt. Dass sich für dieses Bild ein Holzstamm anbietet, wird dadurch deutlich, dass sich der Begriff ›Logbuch‹, eine Dokumentation der Ereignisse einer gemeinsamen Reise, vom englischen ›log‹ (Holzscheit) ableitet und auf ein solches verweist, das früher zur Bestimmung der Geschwindigkeit von Schiffen genutzt wurde, wie Carolyn Christov-Bakargiev in ihrer Einführung zum Logbuch der dOCUMENTA (13) ausführt.40 Diesem Text sind Abbildungen beider Arbeiten von Giuseppe Penone beigefügt.
40 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Einführung, S. 9.
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Auf Reisen mit Carolyn Christov-Bakargiev: Inszenierung und Vorgehen
Die bisherige Untersuchung hat bereits gezeigt, dass die Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) nicht nur in ihrer Funktion viel Aufmerksamkeit erfährt, sondern sich auch selbst inszeniert und in das Erzählgefüge der Ausstellung einschreibt. Dazu Oliver Marchart: »Szeemanns kuratorische Hybris, als einzelner die Menschheit repräsentieren zu wollen, war nach der postkolonialen documenta von 2002 delegitimiert. […] Wenn man bei den documenta-Ausstellungen bleibt, dann hat diese Hybris sowohl bei der documenta 12 von Roger Buergel und Ruth Noack als auch bei der documenta 13 von Carolyn Christov-Bakargiev ein Comeback gefeiert. […] Erschreckend deutlich wird dies in dem in Briefform verfassten programmatischen Statement Christov-Bakargievs, in dem die Kuratorin von ihren Entdeckungsreisen rund um den Globus in einem literarischen Stil berichtet, der an Karl Mays Roman ›Durchs wilde Kurdistan‹ (1892) denken lässt. In manchen ihrer Vorträge im Vorlauf zur documenta untermalte Christov-Bakargiev ihren Bericht mit einer Diashow, in der sie mit allen möglichen Künstlerinnen und Gesprächspartnern von Helsinki über Brasilien bis Afghanistan posiert.« 1
Auch wenn die Beschreibung der Vorträge und des Brief an einen Freund korrekt sind, soll geprüft werden, ob Carolyn Christov-Bakargiev tatsächlich einer ›kuratorischen Hybris‹ erliegt und in kolonialistischer Manier ›die Menschheit repräsentieren‹ möchte. Oliver Marchart nennt als Bezugsfelder die Documenta11 und documenta 12. Die Selbstdarstellung Carolyn Christov-Bakargievs erinnert allerdings eher an Jan Hoet, der ebenfalls kein Konzept auswies und mit »Ich weiß nicht was Kunst ist.«2 einen Satz prägte, den sie immer wieder aufgriff. Dieser sah sich mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert und der Erfolg der DOCUMENTA IX wird hauptsächlich einer Verflachung und Kommerzialisierung zugeschrieben.3 Gänzlich konträr wurde das Auftreten Catherine Davids rezipiert, die sich nicht nur deutlich von Jan Hoet abgrenzte, sondern auch einen theoretisch-kritischen Diskurs in die documenta einführte, der schließlich zur Documenta11 die ›kuratorische Hybris delegitimierte‹. Im Vorfeld äußerte sie sich 1 | O. Marchart: Das Kuratorische Subjekt, S. 37. 2 | J. Hoet zitiert nach L. Jahre: Kuratoren und Kataloge, S. 55. 3 | Vgl. M. Babias: Vorwort, S. 10.
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Kuratorische Praxis
fast gar nicht zu ihren Plänen, was zu Sorgen ob des Gelingens der Ausstellung führte und einer Konzentration der Presse auf die (weibliche) Person der Kuratorin. »Ich glaube, dass das, was einigen wie ein Rückzug erschien vielmehr bedeutet, dass ich mich anders als mein Vorgänger verhalte. Denn zu den Aufgaben einer Intellektuellen gehört es nicht zwangsläufig, sich selbst auszustellen, sie sollte schlicht ihre Arbeit machen. Ich habe das nicht als Rückzug erlebt. Mit dem Zirkus um den Direktor bin ich nicht einverstanden, das ist deplaziert und schafft nur Verwirrung.‹« 4
Auch wenn Catherine David später einräumte, dass das Schweigen auch aus Angst heraus entstanden sei, das sie und ihr Team sich nicht sicher waren, ob sie ›etwas wirklich wichtiges oder Scheiße produzieren‹, eröffnet sie mit der Frage nach Verwirrung einen anderen Horizont.5 Sowohl Verwirrung als auch selbst verwirrt zu sein wurde Carolyn Christov-Bakargiev mehrfach vorgeworfen.6 Sie selbst spricht von Ablenkungen und Störungen, die aus pädagogischen und kommerziellen Überlegungen heraus entstehen und das Verhältnis zwischen Kunst und ihren Betrachterinnen und Betrachtern negativ beeinflusst.7 Das verwirrende und ablenkende Auftreten muss unter dieser Perspektive als konterkarierend und intendiert aufgefasst werden: Die Selbstinszenierung fungiert als Curating Curators und dient der Markierung der eigenen Person und des eigenen Standpunktes, um diese in den Diskurs einzubringen. Diese Strategie »richtete sich gezielt gegen Projekte, in denen KuratorInnen ›ihr kuratorisches Konzept als das eigentliche künstlerische Produkt und sich selbst als die eigentlichen Künstler verkaufen‹«8. Somit erscheint die documenta, eine Institution die seit Harald Szeemann der Figur des Künstlerischen Leiters eine unvergleichliche Rolle zuschreibt, als prädestiniert für solche kritischen Strategien des Kuratorischen. Carolyn Christov-Bakargiev positioniert sich in einem Raum zwischen einem gemeinsamen Projekt – der Choreografie – und der Ablehnung von Ablenkung, Störung und ›Hybris‹, da sie durchaus fordert, dass Kuratorinnen und Kuratoren einen Standpunkt einnehmen sollen: »Ich hoffe doch, dass jeder, der Kunst ausstellt, es mit der Absicht tut, dass seine Arbeit für das Publikum sinnvoll ist. Der sinnvollste Weg besteht nun darin, Überzeugungen, die wir haben, infrage zu stellen, also Fragen zu formulieren und nicht, Antworten zu geben.«9 Betrachtet man die Interviews der Kuratorin, fallen neben häufigen Hinweisen auf den Skeptizismus immer wieder (Rück-)Fragen und Widersprüche auf, die als ein Infragestellen der eigenen Aussagen gedeutet werden können. Maren Ziese stellt heraus, dass es unter heutigen Bedingungen progressiv sei, »den eigenen Standpunkt offen zu legen und eine vermeintlich ›neutrale Position‹ zu vermeiden«10 und zeigt damit eine Alternative zwischen den Polen auf. Oliver Marchart 4 | C. David/J. Müller/D. Rübel: Documenta des Übergangs, S. 131f. 5 | Vgl. C. David/J. Wang/J. Lu/L. Zheng Ning: documenta X: From the international to the global, Symposion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 17.07.2015. Übersetzung TP. 6 | Vgl. M. Lohr: Lady Gaga, o.S. 7 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/W. Eilenberger/A. de Botton: Warum Kunst?, o.S. 8 | B. von Bismarck: Curating, S. 110. Eingeschlossenes Zitat von S. Schade nicht nachgewiesen. 9 | C. Christov-Bakargiev/W. Eilenberger/A. de Botton: Warum Kunst?, o.S. 10 | M. Ziese: Kuratoren und Besucher, S. 89.
Auf Reisen mit Carolyn Christov-Bakargiev: Inszenierung und Vorgehen
unterscheidet zwischen ›geschäftsmäßiger‹ und ›kritischer‹ Vermittlung, fragt aber, ob es nicht sinnvoll sei, eine progressive, evtl. kanonverschiebende Ausstellung affirmativ zu vermitteln, d.h. hier unterstützend bzw. ›geschäftsmäßig‹.11 Es stellt sich somit die Frage, ob das Verhalten Carolyn Christov-Bakargievs, das auch als arrogant und elitär aufgefasst wurde, nicht selbst ein kritisches Potential kennzeichnet. Ihre Vorträge mit Reiseberichten gipfelten in der Pressekonferenz zur Eröffnung der dOCUMENTA (13): »Mehr als 15 Seiten Thesen hatte die amerikanisch-italienische Kuratorin vorbereitet. Offen blieb, ob sie tatsächlich vorhatte, ihren kompletten Essay vorzulesen. Am Mittwoch unterbrach sie sich immer wieder: ›Auslassen‹ oder ›Nein, das ist jetzt zu viel‹, sagte sie und blätterte weiter. Das Gelächter der Presse kommentierte sie mit den Worten: ›Das ist ernst, wir sind bei der documenta.‹« 12
Die hier beschriebene Inszenierung hält dem Publikum einen Spiegel vor: Es ist gekommen, um etwas über die Ausstellung zu erfahren, gleichzeitig erscheinen 15 Seiten zu viel. Reproduzierbare Schlagworte und Beispiele wurden in den Vorträgen nicht und in der Eröffnung kaum geliefert. Die Auslassungen können nicht als ein Vorenthalten von Wissen gedeutet werden, sondern sind eine durchaus pädagogische Aufforderung zum Selbststudium, da es sich bei dem vorgetragenen Text um den einleitenden Katalogbeitrag von Carolyn Christov-Bakargiev handelte, der mit der Eröffnung zugänglich war. Dass das Überspringen von Seiten nicht einer mangelhaften Vorbereitung, sondern einer Methode entspringt, wird deutlich, wenn man Vorträge von Ende 201213 oder 201514 zum Vergleich heranzieht. Schließlich kennzeichnete sie ihre Inszenierung und begründete ihre mediale Omnipräsenz damit, dass sie sich habe vor die Künstlerinnen und Künstler stellen wollen, damit diese in Ruhe arbeiten konnten.15 »[Ihre] Taktik im Vorfeld mit bewusst missverständlichen Interviews, minimaler Information, kurzen Provokationen und fragwürdigen Sprüchen, die Erwartungshaltung herunterzuschrauben und die negative Energie der Kritiker auf ihre Person und nicht auf die Künstler zu konzentrieren ist vollumfänglich aufgegangen.«16 Auch wenn Max Hollein in Bezug auf die erfolgreiche Taktik zuzustimmen ist, muss festgehalten werden, dass die Informationslage vor der Öffnung alles andere als minimal war: Neben den bereits umrissenen Vorträgen und Interviews wurde bereits 2010 ein Kunstwerk in Kassel installiert und ab 2011 das Publikationsprojekt 100 Notizen – 100 Gedanken veröffentlicht. Letztere fungieren als 11 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 12 | https://www.welt.de/newsticker/news3/article106428769/Eine-documenta-wie-eine Vorlesung.html vom 24.10.2018. 13 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: To be here, and not there, to be there, and not here, Embodi ment and a locational turn in dOCUMENTA (13), Frankfurt am Main 13.12.2012. 14 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/G. Penone/M. Garcia Torres/L. Porsager/A. Heiss/P. Rigolo: Recon sidering Harald Szeemann, Getty Research Institute, Los Angeles 28.05.2015, https:// www.youtube.com/watch?v=HRQrpLApqRE vom 24.10.2018. Vgl. C. Christov-Bakargiev/ K. Buch/K. Barad/G. Pollock/T. Sehgal: dOCUMENTA (13), Speculative Fabulations, Sym posion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015. 15 | Vgl. M.-C. von Busse: Sie hält alle Fäden in der Hand, o.S. 16 | M. Hollein zitiert nach M. Lohr: Lady Gaga, o.S.
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Kuratorische Praxis
Spuren, die mehr oder weniger deutlich direkt zu den Themen und Erzählsträngen der dOCUMENTA (13) führen.17 Diesen Spuren zu folgen, erfordert Zeit und Mühe auf Seiten der Leserinnen und Leser. Dies lässt sich an der Künstlerliste nachvollziehen.18 Deren Geheimhaltung gehört zu den Traditionen der documenta-Ausstellungen. Tatsächlich lassen sich allein mit Blick auf Titel und Autoren der 100 Notizen 36 auf der dOCUMENTA (13) ausstellende Künstlerinnen und Künstler ausmachen, die häufig auch schon direkt auf ihr Projekt Bezug nehmen.19 Carolyn Christov-Bakargiev benennt in Brief an einen Freund immer wieder Gesprächspartnerinnen und -partner beim Vornamen: Chus, Eduardo, Mika, Erkki, Perttu, Lars, Joasina, Alex, Andrea, Mario, Mick, Francis, Mariam, Kadim, Tom, Jolyon, Ajmal, Aman, Ashraf, Rahraw, Hetti, Cesare, Rosa, Warwick, Pierre, Sofia, Sunjung, Lívia, Koyo, Javier, Jane, Mike, Madelaine, Theaster, William, Peter, Marta, Donna, Kitty, Etel, Walid, Raimundas, Ruth, Jessica, Ryan, Gerard, Roman, Gabriel, Giuseppe, Nalini, Bettina, Susan, Emely, Anton, Christoph, Jalal, Mick, Vandana, Ian, Paul, Rene und Ayreen.20 Neben Mitgliedern des kuratorischen Teams und einigen Personen, die sich z.T. nicht zuordnen ließen, finden sich hier über 20 Namen, die sich – auch über die im Brief benannten Kontexte – als ausstellende Künstlerinnen und Künstler identifizieren lassen. Dies erfordert neben eigenständiger Forschung zumindest im Vorfeld der Ausstellung ein gewisses Maß an Spekulation und Ungewissheit, verdeutlicht aber, dass Carolyn Christov-Bakargiev aus der Künstlerliste kein Geheimnis gemacht, sondern tatsächlich relativ offen kommuniziert hat, mit wem sie arbeitet. Dies ist in diesem Umfang weder mit den vorgelagerten Plattformen der Documenta11 noch den magazines der documenta 12 vergleichbar, die zwar auch Künstlerinnen und Künstler benannten, sich aber verstärkt auf kuratorische, kunstwissenschaftliche und kunstjournalistische Diskurse bezogen. Ein weiteres ›Geheimnis‹, ein ›versteckter Ort‹ der dOCUMENTA (13) wird ebenfalls bereits in Brief an einen Freund gelüftet und in vier weiten Notizen direkt benannt: das Kloster Breitenau.21 Darüber hinaus ist ›Breitenau‹ neben Begriffen wie ›Kabul‹, ›Bamiyan‹, ›ecology‹, ›storytelling‹, ›poetry‹, ›SinnLeffers‹, ›Cascade‹ und Personen wie ›Lee Miller‹, ›Metzger‹, ›O. Fast‹, ›Penone‹, G. Macuga‹, ›Boetti‹, ›Simryn Gill‹ und ›González‹ in einer dem Brief vorgeschalteten Mindmap (vgl. Abb. 2, S. 136), die die Brücke zwischen dem Modellraum Brain und der choreografischen Denkbewegung Geisteszustand zu schlagen scheint, zu finden.22 Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer (außer Lawrence Weiner) haben Breitenau zur Vorbereitung besucht. Carolyn Christov-Bakargiev bezeichnet diesen Vorgang als ›eine Saat ausbringen‹.23 »Der Besuch von Breitenau gehört zu dem Experiment, hundert neue Arbeiten zu haben, die nicht beliebig sind«24, ohne dass sie zwingend einem gemeinsamen Thema unterstellt sind. Ebenso wie die Künstlerinnen und Künstler werden die Leserinnen und Leser mit Breitenau und anderen Fragmenten des Geisteszustandes in Berührung gebracht. Ob sie den Brief 17 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 26, BdB. S. 85. 18 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/T. Lindemann: Keine documenta-Künstlerliste, o.S. 19 | Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 9-13. 20 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, BdB. S. 80-87. 21 | Vgl. ebd., S. 23, BdB. S. 83. 22 | Vgl. ebd., S. 2f., BdB. S. 80. 23 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/C. Naphegyi: Transkriptionen eines Interviews, S. 272. 24 | Ebd.
Auf Reisen mit Carolyn Christov-Bakargiev: Inszenierung und Vorgehen
aus der Position Außenstehender lesen oder selbst in die bereits angelegte Choreografie unterschiedlicher Texte und Themenfelder eintreten, vielleicht sogar selbst zu Adressierten, also Freundinnen und Freunden, werden, ist offen. Relevant ist, dass der Prozess der Vorbereitung parallel in Teilen und später recht umfassend nachvollziehbar gemacht wurde und der Ausstellung damit der singuläre Status zugunsten eines andauernden Prozesses mit multipler Autorschaft genommen wird: »Das Aufzeichnen von Notizen umfasst Zeugenschaft, Zeichnen, Schreiben und diagrammatisches Denken; es ist spekulativ, bekundet einen vorläufigen Moment, einen Übergang, und dient als Gedächtnisstütze. Die Essays wurden von uns über einen Zeitraum von zwei Jahren in Auftrag gegeben und nach und nach veröffentlicht, so dass alle Autorinnen und Autoren lesen konnten, was bereits vorlag, bevor sie einen neuen Text verfassten und auf diese Weise eine kumulative Form des Schreibens schufen.« 25
Anna-Lena Wenzel arbeitet im Bezug auf die documenta 12 heraus, dass es nicht das Ziel sein sollte, sämtliche Bedeutungszusammenhänge eines kuratorischen Konzepts aufzulösen oder zu verschleiern, da dies in einem Empfinden von Chaos und Arroganz der Ausstellungsmacher münden könne. Vielmehr gehe es verstärkt darum, die eigenen Mechanismen transparenter zu machen und Anknüpfungspunkte zu bieten, um so die vorhandenen Strukturen zu dynamisieren und Betrachterinnen und Betrachter in Bewegung zu versetzen.26 Genau dies wird durch das kuratorische Vorgehen von Carolyn Christov-Bakargiev immer wieder intendiert und innerhalb des Logbuches mit einer sicherlich gefilterten, aber dennoch unvergleichbaren Transparenz vollzogen. Carmen Mörsch stellt kritisch heraus, dass partizipapatorische Projekte – als solches die choreografische Gesamtanlage der dOCUMENTA (13) hier verstanden wird – eine Anpassungsleistung auf Seiten der übrigen Akteure impliziert. Diese begeben sich in den Bereich des Sichtbaren und werden damit durch die Initiatorinnen und Initiatoren kontrollierbar.27 Durch ihr extravagantes Vorgehen kehrt Carolyn Christov-Bakargiev diese Sichtbarkeit um und begibt sich damit selbst in das Feld einer (vermeintlichen) Kontrollierbarkeit oder Kritisierbarkeit. Diese Ambivalenz wird in folgendem Zitat deutlich: »Überhaupt sind noch nie so viele Werke eigens für eine documenta angefertigt worden oder erst in Kassel entstanden. Sie sind gerade deshalb wunderbar auf spezifische Räume bezogen. Die einmalig starke Position der künstlerischen Leiterin reizt auch zum Widerspruch. Der Karlsruher Professor Wolfgang Ulrich sieht als ›die ersten und größten Verlierer‹ die Künstler, die brav abgeliefert hätten, was ›CCB‹ gewünscht habe. Ihre Anliegen habe sie am besten mit jungen, eher unbekannten Künstlern durchsetzen können. Ulrich spricht deshalb von ›kuratorischer Selbstherrlichkeit‹« 28
Dem Vorwurf Wolfgang Ulrichs lässt sich evtl. mit Kristina Buch nachgehen, die die jüngste Künstlerin der Ausstellung und Schülerin von Rosemarie Trockel ist: In der Tat scheint The Lover (2012) ein Musterbeispiel für den stark rezipierten Erzählstrang 25 | C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 26 | Vgl. A.-L. Wenzel: Ausstellungen und normiertes Besucherverhalten, o.S. 27 | Vgl. C. Mörsch: Queering Kunstvermittlung, S. 32. 28 | M.-C. von Busse: Sie hält alle Fäden in der Hand, o.S.
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Kuratorische Praxis
der ökologischen Kunstwerke darzustellen. Mit Blick auf das bis dahin durchaus überschaubare Schaffen Kristina Buchs wird allerdings deutlich, dass sich die Arbeit nahtlos in frühere Projekte einreiht. Sie wird somit, anders als ihre Lehrerin, zwar in das starke Narrativ eingereiht, aber dies muss mit Blick auf die zentrale Positionierung und die umfangreiche Rezeption nicht zwingend als ein Verlieren bewertet werden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Mit Giuseppe Penone ist es hingegen ein sehr etablierter und erfahrener Künstler, der für eine der stärksten kuratorischen Setzungen Carolyn Christov-Bakargiev die eigentliche Autorschaft trägt: Am 21. Juni 2010 wird mit Idee di pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010) das erste Kunstwerk der Öffentlichkeit präsentiert und direkt über die Homepage, assoziativ über den Brief an einen Freund und später über das Begleitbuch, in das Erzählgefüge der dOCUMENTA (13) eingefügt: »This outdoor sculpture, the first artwork to be installed for dOCUMENTA (13), serves as both a totem and as a talisman, as the piece evokes, by way of prelude, a myriad of ideas that will play out as the greater exhibition unfolds. For example, the work functions to transform a nondescript site into an attractor for social interaction, thus questioning how a sense of place can be rendered.« 29 »Ich erinnere mich, wie Du mir vor einiger Zeit von einem Orangenbaum schriebst, der, mitten auf einem Feld am Rande einer modernen Stadt stehend, das ganze Jahr hindurch Früchte trug, und obwohl die Orangen von Jahr zu Jahr kleiner wurden, fällte niemand diesen Baum, so dass kein Unternehmer an dieser Stelle bauen konnte, was das Grundstück ebenso magisch auflud wie wertlos machte. Die [davon verschiedene] Geschichte, die ich auf einer Website las, während ich nach Inspiration für eine eigene suchte oder vielleicht auch nur meiner Verpflichtung auswich, eine von Grund auf neue Geschichte zu erfinden, handelte vom Beginn der Welt« 30 »[M]it der Einweihung dieses ersten Kunstwerks der dOCUMENTA (13) wurde zugleich die Geschichte der Plastiken im Außenraum, die für vergangene documenta-Ausstellungen geschaffen wurden, zelebriert und ein Symbol für das kollektive Gedächtnis und den Alltag der Kasseler gesetzt. […] In einem ausbalancierten Spiel von Gegensätzen, so der Künstler, ›zeigt der schwebende Stein die Erdschwere an, der das Pflanzenhafte sich entzieht. Der Bronzeguss entsteht durch die Schwerkraft und bedient sich der Struktur der pflanzlichen Welt, um die flüssige Bronze in die Gussform der Skulptur zu verteilen.‹« 31
Idee di pietra (Ideas of Stone) wird in einem Raum der Geschichte der documenta, unterschiedlicher Geschichten und der Imagination positioniert. Er verortet die dOCUMENTA (13) in Kassel, sie ›schlägt Wurzeln‹, und es ist sicherlich nicht ganz zufällig das Kunstwerk, das »durch bürgerschaftliches Engagement für Kassel gesichert«32 wurde. Damit wird dem Werk ein Rahmen gegeben, es wird in das Bild der kuratorischen 29 | http://d13.documenta.de/de/#/research/research/view/idee-di-pietra-inauguration june-21-2010 vom 24.03.2017. 30 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 16, BdB. S. 80. 31 | A. Viliani: Giuseppe Penone (I), S. 286. 32 | http://kassel.de/kultur/documenta/kunstwerke/objekte/19667/index.html vom 24.10.2018.
Auf Reisen mit Carolyn Christov-Bakargiev: Inszenierung und Vorgehen
Erzählung eingefügt. Auch wenn die Vorbereitung der Ausstellung und die damit verknüpfte Reise Carolyn Christov-Bakargievs bereits 2009 beginnt, kann mit der Präsentation von Idee di Pietra (Ideas of Stone) der Beginn der Erzählung dOCUMENTA (13) markiert werden. Es zeigt sich, dass der von Oliver Marchart kritisierte Reisetopos zwar durchaus kolonialistische Tendenzen aufweisen könnte, aber die Reise vor allem als das Sichtbarmachen eines »langsamen Prozesses«33 fungiert und Carolyn Christov-Bakargiev, obwohl zentrale Figur dieser Reise, deutlich macht, wie viele Menschen an dieser teilgenommen haben. »[To describe dOCUMENTA (13)] I would use the word ›journey‹ and ›adventure‹ – with 100, 150, 200 people.«34 »Die Vorbereitungen laufen nicht erst seit gestern. Viele Künstler, die es gewohnt sind, in kurzen Zeiträumen und unter Druck zu arbeiten, haben hier mit mir die Gelegenheit, über einen langen Zeitraum hinweg an ihren Projekten zu arbeiten, Ideen zu entwickeln und umzusetzen, sie auch umzuwerfen und neu zu denken – immer mit dem Blick auf das Jahr 2012.« 35
Die Rezipientinnen und Rezipienten treten über die Berichte der Kuratorin, die Notizen und Idee di pietra (Ideas of Stone) in eine zunächst lose, eigene Realität ein und beginnen sich emotional und kognitiv zu binden.36 Die Erzählung wird fortgesetzt über weitere Notizen, einen Hundekalender, unzählige Interviews und Vorträge sowie lokale Ereignisse und Skandale. In dieser Phase ist es dennoch immer wieder Carolyn Christov-Bakargiev, die deutlich im Mittelpunkt steht: »Ganz Kassel wird eine Bühne. Ich stehe auf dieser Bühne. Deshalb gebe ich Ihnen dieses Interview.«37 Mit der Eröffnung der Ausstellung ist die Reise weitestgehend beendet. Auch der Erzählmodus wechselt: Carolyn Christov-Bakargiev zieht sich als Sprecherin fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurück.38 Diese Rücknahme wurde aber durch die Kritik kaum wahrgenommen bzw. nicht als kuratorisches Vorgehen interpretiert, so dass das Bild eines dominanten Metatextes reproduziert wurde, statt mit dem Material neue und eigene Geschichten zu erzählen. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Inszenierungsstrategie Carolyn Christov-Bakargievs möglicherweise zu erfolgreich war bzw. sie daran scheiterte, die ›Bühne‹ wirklich für die Künstlerinnen und Künstler frei zu machen. Tatsächlich tritt Carolyn Christov-Bakargiev als homodiegetische Figur innerhalb der Ausstellung weiterhin auf. Hans J. Wulff weist darauf hin, dass Erzählungen nicht einfach enden, sondern in der Regel nach einem Höhepunkt die gesamte Narration gerahmt, ggf. moralisiert oder verallgemeinert werden und dies häufig mit einem Wechsel der Perspektive zusammenfällt.39 Diesen Kriterien entspricht der Wechsel zwischen Vorbereitungszeit/Reise und Ausstellung. Andererseits stellt die Ausstellung – zumindest aus Sicht der Besucherinnen und Besucher – den Höhepunkt der Dramaturgie dar und stellt eigene Anfänge der räumlichen Erzählung zur Verfügung. Möglicherweise findet mit den schwierig zu erreichenden Kunstwerken in Kassel und darüber hinaus 33 | C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 34 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 121. 35 | C. Christov-Bakargiev/T. Lindemann: Keine documenta-Künstlerliste, o.S. 36 | Vgl. H.J. Wulff: Über das Ende, o.S. 37 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 38 | Vgl. M. Lohr: Lady Gaga, o.S. 39 | Vgl. H.J. Wulff: Über das Ende, o.S.
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Kuratorische Praxis
auch ein räumliches Ende der Erzählung statt. Das zeitliche Ende der Erzählung könnte subjektiv im Moment des Verlassens der Ausstellung bzw. verallgemeinert mit derer Beendigung nach 100 Tagen angesetzt werden. Dieses Ende wird von der Institution documenta in eine Phase des Wartens und des ›Dazwischen‹ überführt, da zum Ende der Ausstellung vor dem Fridericianum eine Tafel mit dem Eröffnungsdatum der documenta 14 aufgestellt wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt endet die Fiktion der dOCUMENTA (13), die Alltagswelt tritt hervor. Hans J. Wulff legt dar, dass insbesondere Musik in filmischer Narration genutzt wird, um am Ende der Erzählung Betrachterinnen und Betrachter in einen Modus der Reflexivität und in eine neue Beziehung zum Text zu setzen.40 Im Falle der dOCUMENTA (13) scheint diese Funktion der durch die Choreografie potentiell eingeübte Geisteszustand zu übernehmen – je stärker man sich mit diesem im Laufe der Auseinandersetzung assoziiert hat, desto intensiver mag sich das Fragen der dOCUMENTA (13) durch das weitertanzende Individuum mit der Alltagswelt verknüpfen. Auch Carolyn Christov-Bakargiev trat nach der Ausstellung in eine Phase der relativen Stille und Reflexion ein, die gleichzeitig die Geschichte – zumindest aus ihrer Zeugenschaft heraus – zu Ende erzählt: Nach der dOCUMENTA (13) widmet sie sich zunächst einem ästhetisch-biologischen Forschungsprojekt mit Bienen an der Frankfurter Städelschule und forscht dann am Getty Reserach Center in Los Angeles zu Harald Szeemanns Ausstellung Mammelle delle verità (1978), die dieser nach der documenta 5 konzipierte und die Carolyn Christov-Bakargiev als Gegenmodell zur Institution documenta versteht.41 In einem Gespräch aus dem Jahre 2015 zieht sie schließlich Resümee und formuliert erstmalig ein Konzept, das zwar an das Wortpaar ›Zusammenbruch und Wiederaufbau‹ erinnert, welches als Motto der dOCUMENTA (13) stark rezipiert wurde, in den Publikationen allerdings eine untergeordnete Rolle spielt und auch von Carolyn Christov-Bakargiev als Thema abgelehnt wurde, aber dennoch allgemeinere und an das Individuum rückgebundene Implikationen trägt: »To make a long story short, after three years I understand that the real concept is this: Trying to understand the relationship between trauma and flourishing. […] You have this two movements: the movement that brought me to Kabul and doing an exhibition in Kabul which is about trauma of cultural objects, human cultures and people. On the other hand there is this interest in the flourishing of life, the so-called post-anthropocentric. I think it had an impact: if you look at the history of exhibitions after dOCUMENTA (13), you see both, but split.« 42
Dieser Moment des Historisierens der eigenen Leistung zeigt, dass die Choreografie der dOCUMENTA (13) nicht unendlich ist, sondern nur ›eine lange Zeit andauert‹, gleichzeitig ist mit dem Austreten aus dem Erzählgefüge von Carolyn Christov-Bakargiev nicht unbedingt der Tanz beendet, sofern es einen Überschuss gibt, »der jeder Beendigung widerspricht«43 – das wären alle weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Choreografie.
40 | Vgl. ebd. 41 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 270. 42 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 122f. 43 | C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14.
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Die Kehrseite der Affirmation
»Ich kann an dieser Stelle nur so viel sagen, dass sich einerseits eine Art Manierismus der Ausstellung herausgebildet hat, was mitunter zu einer Neutralisierung bestimmter Inhalte und zu einer Entbehrlichkeit oder Austauschbarkeit bestimmter Arbeiten führt. Andererseits ist die in einer Ausstellung verkörperte Eigenschaft des Sich-Versammelns, das Zelebrieren einer ›wirklichen‹ Begegnung, zu einem performativen Ritual geworden, das sich der atomisierten, molekularen Ordnung menschlicher Transaktionen im digitalen Zeitalter zu einem solchen Grad widersetzt, dass dieser überholte Gegenstand des 20. Jahrhunderts, die Ausstellung, bei seiner Verwandlung in einen nichtkommerzielen Ort intensiver Gemeinschaft zu neuem Leben erweckt wird.« C arolyn Christov-Bakargiev: B rief an einen Freund
Ziel dieses Kapitels war es, herauszufinden, inwiefern Carolyn Christov-Bakargiev durch ihre Kuratorische Praxis eine affirmative Position einnimmt. Es wurde antizipiert, dass sie ihr Nicht-Konzept bzw. den Geisteszustand affirmieren werde. Gleichzeitig standen jedoch ihre eigene Entsprechung zu dessen Forderungen und Ansprüchen sowie ihr Verhältnis zur Institution documenta, deren Aufgaben und Ansichten zu vermitteln Teil einer affirmierenden Vermittlung wären, auf dem Prüfstand. Festzuhalten ist, dass sie sowohl das symbolische Kapital als auch die autoritäre Sprecherposition eingenommen hat, die ihr durch die Rolle der Künstlerischen Leiterin zur Verfügung standen. Sie hat Traditionslinien der Institution gewürdigt und fortgesetzt – darunter auch die redundante ›pars pro toto‹-Legende. Gleichzeitig zeigt sich eine ›Tradition der Brüche‹, die von Catherine David und Okwui Enwezor angelegt wurde und zur dOCUMENTA (13) mit erneuter Radikalität umgesetzt wurde: Zum ersten Mal wurde das Zentrum nicht nur symbolisch, sondern real verlassen und ein Teil der Ausstellung nach Kabul verlegt. Darüber hinaus blieb der Repräsenationsbau des Fridericianums zumindest im Eingangsbereich als programmatische Geste annähernd leer. Mit den Notizen und dem Logbuch wurde eine Transparenz der zur Ausstellung führenden Prozesse erreicht, die in der bisherigen Geschichte der documenta-Ausstellungen einzigartig ist. Es wurde mehrfach der Vorwurf wiedergegeben, dass Künstlerinnen und Künstler das Konzept entweder affirmierten oder eingehegt wurden. Ohne diese problematische
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Kuratorische Praxis
Frage abschließend zu lösen, wurden zumindest einige Räume aufgezeigt, die durch die Kuratorische Praxis eröffnet wurden und die ermöglichten, sowohl vom Geisteszustand als auch der documenta Abstand zu halten. Dazu zählen vor allem die Karlsaue und Orte abseits der Hauptschauplätze. Andere Bereiche, vor allem das Fridericianum, stellten sich hingegen als didaktisch strukturiert und auf Reproduktion gewisser Aussagen angelegt dar. Doch selbst diese Bereiche sind nicht zwingend als normativ zu denken, wenn es den Besucherinnen und Besuchern gelingt, Carolyn Christov-Bakargiev als Sprecherin zu kennzeichnen und in einen Diskurs einzutreten. Um diese Vielstimmigkeit zu ermöglichen, wird die Sprecherposition der Künstlerischen Leiterin immer wieder markiert – was diese allerdings tatsächlich immer weiter affirmiert und gefestigt hat – und dadurch versucht, die vermeintliche Neutralität der Institution zu negieren. Selbst das ›performative Desaster‹ um die parallel stattfindende Ausstellung Stephan Balkenhols lässt sich unter diesem Gesichtspunkt kontextualisieren. So betrachtet werden die Aussagen und Setzungen der Künstlerischen Leiterin zu Vorschlägen: einem Vormachen, dem gefolgt oder widersprochen werden kann. Eine ähnliche Transparenz innerhalb der Schauanordnungen wurde durch die documenta 12 angestrebt, wobei die dOCUMENTA (13) im Gegensatz dazu – mit Ausnahme des Brains – fast allen künstlerischen Positionen einen eigenen Raum zugesteht und dadurch den Einzelwerken Raum lässt, trotz der übergeordneten Erzählung, für sich selbst zu wirken, ohne durch diese ›vernichtet‹ zu werden. Auch wenn sich starke kuratorische Setzungen und vermeintliche Schlüsselwerke ausmachen lassen, zeigt sich, dass die unterschiedlichen Bereiche der Ausstellung verschiedene Kunstbegriffe und Haltungen nahelegen. Das gesamte Ausstellungsgefüge erscheint als quasi archipelisches System, das mit dem Fridericianum zwar über ein vermeintliches Zentrum verfügt, sich aber nichtsdestotrotz nicht auf dessen Thesen reduzieren lässt. Während ein Blick auf dieses Zentrum zwangsläufig reduzierend ist, erscheint das gesamte Archipel verwirrend, verwickelt und überfordernd. Dies ist eine deutliche Widerstandsstrategie der dOCUMENTA (13), die gleichzeitig auch hofft, im Nicht-Verstehen einen Raum des Spekulativen zu eröffnen – auch für Besucherinnen und Besucher. Darin zeigt sich der Wunsch, die Institution zumindest in Teilen auch zu transformieren. Um dies zu gewährleisten, muss sie zunächst affirmiert, d.h. in ihren Bedürfnissen bedient werden. Es zeigt sich möglicherweise sowohl in dem autoritären Auftreten Carolyn Christov-Bakargievs als auch in der klassisch-auratischen Ausstellungssprache der Hauptausstellungsorte ein subversiv-kritisches Potential. Kuratorische Handlungen – sammeln, stellen, legen, anordnen – werden zumindest in der Imagination auch den Besucherinnen und Besuchern zugesprochen, teilweise sogar eingefordert. Die scheinbar unveränderliche Ausstellung wird zur Spur und Notiz, die Denkprozesse wiedergibt, aber in ihrem eigenständigen Charakter neue Denkprozesse bedingen soll. Die Anlage der dOCUMENTA (13) weist somit auch deutliche edukative Ansprüche auf und etabliert dadurch zunächst ein Gefälle zwischen Sprechenden und Zuhörenden. Es lassen sich aber immer wieder Bemühungen ausmachen, dieses Verhältnis zu dekonstruieren, mit dem Gegebenen zu arbeiten und in Alternativen zu denken: Ebenso wie sich Carolyn Christov-Bakargiev weigert, sich auf eine These festzulegen, Momente des Zögerns und Zweifelns konstruiert, und innerhalb ihrer Erzählungen ›Konstellationen von Fragen‹ formuliert, sollen auch die Besucherinnen und Besucher agieren, sich als Sprechende begreifen und konstituieren. Insbesondere das Erzählen von Geschichten bietet sich hierfür an, da es trotz der Unidirektionalität gleichzeitig immer auch durch
Die Kehrseite der Affirmation
Fiktionalität gekennzeichnet ist. Die Besucherinnen und Besucher sollen nicht nur räumlich (locational turn), sondern auch durch eine gewisse Haltung, ein Engagement in die Choreografie eintreten – ›thinking through doing‹ – und dadurch potentiell den Geisteszustand verinnerlichen. In dieser andauernden Forderung zur Dekonstruktion zeigt sich das eigentliche autoritäre Handeln Carolyn Christov-Bakargievs bzw. der dOCUMENTA (13), das deutlich affirmativ-reproduktiv ausgerichtet ist. Ebenso wie die Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) zwischen Affirmation und Dekonstruktion zu pendeln scheint, müssen die Rezipierenden eine Position einnehmen, die schließlich in einem Kollektiv Tanzender münden kann oder eben in der Ablehnung dieser Vereinnahmung. Hierbei spielen sicherlich die umfangreichen Rahmenprogramme der Abteilung Maybe Education, die in den folgenden Kapiteln behandelt werden, eine direktere Rolle als die bisher betrachteten Ausstellungsensembles.
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Kunstvermittlung »Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was wir tun?«
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Vorbemerkung zur Kennzeichnug des Plurals
»Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was wir tun? Diese Frage widerspricht den Möglichkeiten der Artikulation. Sie steht in einem paradoxen Verhältnis zur Vorstellung von Erklärung überhaupt. […] In erster Linie behauptet die eingangs gestellte Frage eine Aktivität: das Tun. Mehr noch: Die fragliche Aktivität ist die Grundform aller Aktivität. […] Zweitens verleiht das Tun der Frage ihren Rhythmus: Durch seine zweifache Wiederholung innerhalb des kurzen Eingangssatzes, nimmt es die Form einer Welle oder die Krümmung einer Spirale an, die nicht zu einem bestimmten Endpunkt führt, sondern ihn beinhaltet.« Julia M oritz: Epilog
Die skeptizistische Grundhaltung der dOCUMENTA (13) schlägt sich im Bereich der Kunstvermittlung bereits deutlich im Titel der Abteilung selbst nieder: Maybe Education and Public Programs. Julia Moritz, die Leiterin dieser Abteilung, macht deutlich, dass Nicht-Wissen nicht bedeuten soll, Information über oder Erfahrung mit den Kunstwerken und Theorien der dOCUMENTA (13) zurückzuweisen, sondern für die Maybe Education »ist Nichtwissen ein Mittel des Aussetzens all dessen, was wir als gewiss erachten, um so das Ungewisse in den Bereich unseres Tuns einzulassen – […] als eine Kraft, die das Denken in-formiert und disziplinäre Beschränkungen abschütteln kann.«1 Durch diese Haltung soll im Experiment etwas entstehen können, dass nur vielleicht Vermittlung ist, möglicherweise aber auch »eine Vorbemerkung zur Geschichte der Institution Kunstvermittlung«2. Daraus ergibt sich, dass die Maybe Education nicht Unwissen, sondern im Gegenteil ein fundiertes Wissen über die Kunst und deren Vermittlung voraussetzt, aber auch den Willen, ein Nicht-Wissen in Bezug auf diese zu praktizieren, um neues Wissen zu erlangen und bestehendes erneut zu erforschen. Das folgende Kapitel wird sich somit mit verschiedenen Formen des Wissens, dessen Vermittlung und dessen bewusster oder unbewusster Aussetzung beschäftigen müssen und danach fragen, wie sich diese zum Geisteszustand verhalten und wieder auf ihn einwirken. Es beginnt mit einem kurzem Nachvollzug der historischen Entwicklung der Besucherprogramme vorheriger documenta-Ausstellungen. Diese führt, möglicherweise auch durch ein Verlernen, zu einer Beschreibung und Analyse des Kon1 | J. Moritz: Epilog, S. 154. 2 | Ebd., S. 153.
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Kunstvermittlung
zepts und der Aktivitäten der Maybe Education. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hier die School for Worldly Companions, als Ausbildungs-Institution der Personen, die im Verlauf der einhundert Tage mit dem Publikum gearbeitet haben, einerseits und andererseits diese sogenannten Worldly Companions (deutsch: Weltgewandte Begleiterinnen und Begleiter) und die durch sie durchgeführten dTOURS (eine Wortverschmelzung aus der Eigenschreibweise der dreizehnten documenta und dem Wort ›Tour‹, die an das englische Wort ›detour‹ für ›Umweg‹ erinnern soll). Nur gestreift werden das Film- und Vortragsprogramm sowie eine Vielzahl von künstlerischen Projekten, die als Vermittlungskunst in Abgrenzung zu einer zumindest in Teilen dienstleistungsorientierten Kunstvermittlung in Form eines Führungsbetriebs behandelt werden. Diese Gewichtung ergibt sich auch aus der von Julia Moritz in Anlehnung an Hanna Arendt gestellten Frage nach einer Aktivität, die »einen aktiven Seinszustand voraus[setzt], die Verkörperung eines bestimmten Geschehens, das aktive Leben.«3 Ich selbst war als Worldy Companion Teil der Maybe Education, habe die genannte Ausbildung durchlaufen und dTOURS durchgeführt. Dabei habe ich die Prinzipien der Maybe Education und der dOCUMENTA (13) verkörpert und vielleicht auch nach ihnen gehandelt. Julia Moritz stellt fest, dass »die Empirie des Tuns unsere Gedankengänge antreibt.«4 Dennoch fand durch die dOCUMENTA (13) keine systematische empirische Erhebung über die Aktivitäten der Maybe Education statt, die fundierte Aussagen erlaubt. Dies wurde von Worldly Companions kritisiert, woraufhin in den letzten Tagen einige kurze Videointerviews geführt wurden, die für Forschungszwecke im documenta archiv verblieben. Diese sind zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Untersuchung bis zu deren Drucklegung nicht zugänglich. Eine vorläufige Sichtung der mit Notizen versehenen Gesprächsleitfäden bestätigt allerdings den obigen Befund.5 Die ›Empirie des Tuns‹ hingegen, die eine gewisse Nähe zur Choreografie konnotiert, wurde von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durch ihre Aktivitäten praktiziert und von einigen Worldly Companions mit jeweils eigenen Methoden und unterschiedlichen Fragestellungen fokussiert. Auch daraus ergibt sich ebenfalls keine strenge Systematik, wohl aber die Möglichkeit einer Erfahrungsgeschichte. Diese kann nicht den Anspruch erheben, darzustellen, was die Maybe Education war – Julia Moritz vergleicht ihre Erinnerungen mit Treibholz in einem weiten Ozean.6 Erinnerungen werden, wenn man sie teilt, zu Mikrogeschichten, die der offiziellen Geschichtsschreibung gegenüberstehen und weitere – auch gegenläufige – Mikrogeschichten mitdenken und einfordern. Hier wird daher die durch mich durchgeführte Vermittlungsarbeit reflektiert, teilweise ergänzt durch Aussagen anderer Worldly Companions, denn da »ist noch das Wort ›wir‹ in der Frage, es kennzeichnet einen Plural«7 (vgl. Abb. 11).
3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »MEPP dTOURS – WORLDLY COMPANIONS«: Notizen zu Videointerviews. 6 | Vgl. J. Moritz: Studio d(13), S. 100. 7 | J. Moritz: Epilog, S. 153.
Vorbemerkung zur Kennzeichnung des Plurals
Abb. 11: Flyer mit den Namen der Worldly Companions.
Dabei wird nicht ausschließlich eine Erfolgsgeschichte erzählt, sondern Wanda Wieczorek, Ayse Güleç und Carmen Mörsch gefolgt, die an Projekten der documenta 12 beteiligt waren und eine (selbst-)kritische Sichtweise einnehmen: »Besondere Aufmerksamkeit liegt auf dem, was schwierig war und nicht lief wie geplant – in der Annahme, dass sich gerade daraus Erkenntnisse für zukünftige Kooperationen herausarbeiten lassen.«8 Hier von Kooperation zu sprechen, macht deutlich, dass sich diese Überlegungen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen positionieren, die ein komplexes Machtgefüge bilden: die einzelnen Worldly Companions, die dOCUMENTA (13), die Abteilung Maybe Education sowie der mit der Organisation betreute Dienstleister Avantgarde Sales & Marketing Support GmbH. Dieser Umstand führte im Laufe der dOCUMENTA (13) zu Konflikten, die Parallelen mit vorherigen documenta-Ausstellungen aufweisen, und hier insbesondere deshalb mit aufgearbeitet werden, da sie Themen berühren, die strukturell und inhaltlich die Konzepte der Maybe Education sowie den Geisteszustand berühren. Natürlich ist damit aber auch die Hoffnung verbunden, einen Teil dazu beizutragen, dass diese Konflikte in Zukunft vermieden oder zumindest für alle Seiten produktiver verhandelt werden können. Auch in der eigenen Arbeit gab es Momente des Konflikts und des Scheiterns. Die größte Schwierigkeit bestand darin, den Besucherinnen und Besuchern das Konzept der Maybe Education nicht nur zu erläutern, um anschließend eine klassische Führung durchzuführen, sondern diese zu motivieren, zu aktivieren und mitunter auch zu autorisieren, an dieser Form von Vielleicht Vermittlung aktiv teilzunehmen. Dies ist nur selten umfassend gelungen. Obwohl auch das Scheitern in Vermittlungssituationen positiv ausgedeutet werden kann, fällt es nicht leicht, dies offen zu kommunizieren.9 8 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 4. 9 | Vgl. N. Landkammer: Doppelt die Hosen runterlassen, S. 79. Vgl. K. Nölle: Routinen haben, S. 178.
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Kunstvermittlung
Das Kapitel schließt mit einer Gegenüberstellung und Bewertung der strukturellen Anlage der Maybe Education und der durch die eigene Erfahrung gewonnen Erkenntnisse. Dies wird bemessen an dem Potential von Kunstvermittlung, eine kritische Praxis zu sein, die neben der Weitergabe von Wissen auch Machtstrukturen und Missstände innerhalb der eigenen Institution aufdeckt und kommuniziert sowie eine explizit subjektive Haltung einzunehmen vermag – ein Diktum, das auch für die Maybe Education grundlegend war.
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Von der Vermeidung der Didaktik zur Maybe Education
Trotz der klaren Absicht der ersten documenta, eine Gegenausstellung zur Entarteten Kunst zu sein und einer damit verbundenen deutlichen Vermittlungsabsicht, beschreibt Carmen Mörsch eher eine Verweigerung von Vermittlung: »Da der Bildungsgehalt unmittelbar in den Werken und der Art, wie sie präsentiert waren, verortet wurde und es zur Lektion gehörte, die Arbeiten gerade nicht zu erklären oder gar kritisch zu hinterfragen, spielte Vermittlungsarbeit im hier [von Carmen Mörsch] verwendeten Sinn […] kaum eine Rolle.«1 Wenn Arnold Bode daher als Kunstvermittler bezeichnet wird, so z.B. bei Juliane Gallo, wird damit auf sein Verfahren der Inszenierung verwiesen.2 Eine solche Betrachtung wird innerhalb dieser Arbeit der Perspektive der Kuratorischen Praxis zugerechnet, nicht aber als (Kunst-)Vermittlung im Sinne von personeller Arbeit mit dem Publikum verstanden. Dennoch gab es bereits zur ersten documenta nach Voranmeldung Führungen und weitere Programme.3 Allerdings gab es keine eigene Abteilung zur Vermittlung der Inhalte, so dass wahrscheinlich Arnold Bode und Werner Haftmann selbst die Konzeption übernahmen. Es scheint, dass Studierende von Arnold Bode die Führungen durchführten. Die Vermittlungspraxis ist als affirmativ gegenüber der Ausstellungskonzeption zu bewerten.4 Ebenfalls noch als Student fotografierte der spätere documenta-Künstler (1972, 1982, 1987 und 1997) Hans Haacke die II. documenta und dokumentierte dabei auch Führungen.5 Im Gegensatz zur ersten documenta werden diese Angebote allerdings nicht im Ausstellungsflyer aufgeführt. Gleiches gilt für die documenta III. Dort gab es das sogenannte Abendprogramm »in dem Lyriker unserer Tage aus ihren Werken lesen und Philosophen und Kunsthistoriker aus ihrer Sicht zu Fragen der modernen Kunst sprechen werden.«6 In einem breiteren Verständnis von Kunstvermittlung wird begonnen, die Werke nicht nur durch die Ausstellung zu inszenieren, sondern beide Instan-
1 | C. Mörsch: Am Kreuzungspunkt, S. 22. 2 | Vgl. J. Gallo: ErwartungsRaum, S. 155. 3 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »MEPP History of Guided tours and Edu cation documenta«: Flyer d1. 4 | Vgl. J. Gallo: ErwartungsRaum, S. 156. 5 | Vgl. W. Grasskamp: Hans Haacke, S. 79 u. 85. 6 | documenta archiv, Aktenarchiv: d3 Mappe 35: Abendprogramm.
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Kunstvermittlung
zen auch durch weitere Angebote zu kontextualisieren. Dennoch richten sich sowohl Ausstellung als auch Rahmenprogramm deutlich an ein Fachpublikum. Die documenta 4 bietet eine mehrfach stattfindende »documenta-führung für junge menschen [...] mit diskussionen an einem unkonventionellen ort«7 an. Ohne dies im Detail nachzuvollziehen, deuten sowohl der Ausdruck ›Diskussionen‹ als auch das Versprechen eines ›unkonventionellen Ortes‹ auf den Beginn einer möglichen Flexibilisierung der Führungsformate sowie der Erschließung neuer Zielgruppen hin. Ebenfalls zur documenta 4 begann Bazon Brock mit seiner Besucherschule, deren Konzept es vorsah »ein Thema zu entwickeln, anhand dessen den Besuchern eine Möglichkeit geboten werden soll, die Vielzahl der Exponate in einem unter vielen möglichen Zusammenhängen zu sehen, um dadurch die Orientierung, die Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeit der Besucher zu erhöhen.«8 Diese Themen unterschieden sich »mehr oder weniger von den ›offiziellen‹ Konzepten der Documenta-›Macher‹«9 – mit einer Ausnahme: Zur documenta 5 ist Bazon Brock mitverantwortlich für die Konzepte und deren Vermittlung und konzipierte das Audiovisuelle Vorwort (1972), eine Mehrkanal-Diaprojektion, welche im Erdgeschoss des Fridericianums aufgeführt wird. Dessen Beschreibung deutet ebenfalls auf affirmatives Vorgehen hin und ist auf ein philosophisch und ästhetisch gebildetes Fachpublikum ausgerichtet: »Im ›Audiovisuellen Vorwort‹ von Bazon Brock (Professor für Ästhetik in Hamburg) wird fast lehrmäßig in die Ausstellung eingeführt – anhand von 2000 kommentierten Dias. Brock bekannt durch seine eigenwillige Auslegung der Gegenwartsphänomene, beschwört einen neuen ›Bilderkrieg‹. Das ›Visuelle‹ bestimmt ja gewiss seit längerer Zeit unser Leben auf dominierende Art.« 10
Dennoch zeigt sich bei näherer Betrachtung ein kritisches oder auch dekonstruktives Potential dieser Schulungssituationen: Bazon Brock forderte immer wieder eine Professionalisierung des Publikums und dass dieses durch den Nachvollzug sowohl künstlerischer als auch kuratorischer Handlungsweisen selbst tätig wird.11 Damit markiert Bazon Brock eine Grenzzone zwischen allen drei in dieser Untersuchung angenommenen Perspektiven auf Vermittlung. Zu den folgenden documenta-Ausstellungen wurden ebenfalls Besucherschulen konzipiert, bis es zur DOCUMENTA IX zu einem Konflikt zwischen Bazon Brock und Jan Hoet kommt. Ebenfalls zur documenta 5, deren ursprüngliches Konzept von Harald Szeemann auch eine nicht realisierte thematische Ausstellung »zur Problematik der Vermittlung von Kunst (Kunstdidaktik und -pädagogik)«12 vorsah, äußerte Daniel Buren seine Kritik der Vernichtung von Kunst durch kuratorische Vereinnahmung.13 Joseph Beuys stellte die Arbeit Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Documenta V (1972) vor. Er nimmt damit einerseits Bezug auf Arnold Bodes Hoffnung einer (Re-)Edukation durch Kunst, eröffnet 7 | documenta archiv, Aktenarchiv: d4 Mappe 33: Rahmenveranstaltungen. 8 | documenta archiv, Aktenarchiv: d9 Mappe 112: documenta IX – Rahmenprogramm. 9 | B. Brock: Besucherschule d6, 1977, S. 109. 10 | documenta archiv, Mediensammlung: Ulrich Meister: Besser sehen durch documenta 5, in: Schaffhauser Nachrichten, 09.09.1972. 11 | Vgl. B. Brock: Besucherschule zur d6, S. 33. 12 | documenta archiv, Mediensammlung: Konzeption der documenta, Mainz, Oktober 1970. 13 | Vgl. D. Buren: Ausstellung einer Ausstellung, S. 17/29.
Von der Vermeidung der Didaktik zur Maybe Education
aber andererseits auch die Möglichkeit, dass ein geführter Ausstellungsrundgang mit persönlichem Gespräch ein wirksameres Werkzeug darstellt, als die kontemplative Betrachtung einer Inszenierung. Entgegen dieser richtungsweisenden künstlerischen Positionen stagnieren die Entwicklungen innerhalb der Kunstvermittlung: Zur documenta 7 schildert ein Bericht des documenta-Mitarbeiters Manfred Langlotz die Schwierigkeiten der Planung eines Führungsdienstes, da die Ausstellung selbst erst am Tag der Eröffnung fertig gestellt sei. Außerdem wird beklagt, dass es im Gegensatz zu Kassen, Bewachung und Information keine durchgängige Ansprechperson für den Führungsdienst gab. Auch wird in den Werbematerialien keine Kontaktadresse für interessierte Besucherinnen und Besucher angegeben. In dem Bericht wird angeregt, einen Sammlungsraum für Gruppen einzurichten, in dem die Führerinnen und Führer sich und ihr Konzept vorstellen können, um der Führung den Eindruck von Improvisation zu nehmen. Der Bericht fordert schließlich eine Professionalisierung des Führungsdienstes, die allerdings vor allem in institutionellen Bedingungen erfolgen soll und nicht auf Seiten der Vermittlerinnen und Vermittler. Trotz einer starken institutionellen Rückbindung und einer an den ›Zusammenhängen, Traditionen und Entwicklungen‹ orientierten Vermittlungspraxis wird angedeutet, dass Vermittlung sich nicht ›total‹ am Konzept der Künstlerischen Leitung orientieren muss.14 An der Menge der Missstände zeigt sich darüber hinaus deutlich der marginale Status von Kunstvermittlung auf den bisherigen documenta-Ausstellungen. Die Führungen der documenta 8 und DOCUMENTA IX werden durch die Gesamthochschule Kassel durchgeführt und sind nach Carmen Mörsch als affirmierende Wissensvermittlung konzipiert. Somit umfasst auch die Ausbildung der Vermittlerinnen und Vermittler vor allem Informationen zu den einzelnen künstlerischen Positionen.15 Die Eigendarstellung der DOCUMENTA IX lässt hingegen zunächst offenere und dialogorientierte Formate vermuten, die sich zumindest potentiell auch an einem dekonstruktiven Diskurs orientieren könnten. Allerdings findet sich am Ende eine deutliche Ausschlussformel, die bestehende Machtverhältnisse verfestigt: »Führungen im Rahmen einer derart komplexen Ausstellung wie der DOCUMENTA IX können nur exemplarischen Charakter haben, dennoch leisten sie einen wichtigen Beitrag bei der Vermittlung zentraler Aspekte der Gegenwartskunst. Diese Vermittlung soll nicht nur in Form von Vorträgen vor einer Gruppe, mit der man durch die Ausstellung läuft, stattfinden, sondern sie ist auch gerade Dialog, Gespräch mit dem Besucher. Dessen Fragen und Zweifel gegenüber dem Kunstanspruch mancher Werke, dessen eigene Wahrnehmung und Kritik sind wesentlicher Bestandteil der Führungen. Das Motto der Einstellung des Führungsteams gegenüber dem Besucher könnte heißen: Nicht jeder, der Schwierigkeiten im Umgang mit Gegenwartskunst hat, ist amusischer Banause, der belehrt werden muß.« 16
Zur documenta X wird hinter dem Fridericianum ein Büro für geführte Touren und den Besucherservice eingerichtet, welches mit einer kleinen Bar auch den Treffpunkt 14 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: d7 Mappe 44c: d7 – Erfahrungsbericht von Manfred Langlotz. 15 | Vgl. C. Mörsch: Am Kreuzungspunkt, S. 22. 16 | documenta archiv, Aktenarchiv: d9 Mappe 28: Pressemappe.
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für die Besuchergruppen darstellt. Dennoch steht Catherine David der traditionellen Kunstvermittlung kritisch gegenüber und vertritt damit den Geist der Zeit: »Kunstvermittler scheinen als Akteure im ansonsten expandierenden Kunstbetrieb eher an Bedeutung zu verlieren. Sie sind bei Kuratoren und Ausstellungsmachern wenig beliebt und müssen ihre Tätigkeit meistens auf die Arbeit mit Kindern beschränken. Die Kunst kann für sich selbst sprechen. Kunstvermittlung versperrt die freie Sicht auf das Kunstwerk und entzaubert, so die Argumentation gegen die Vermittler. Die ständig steigenden Besucherzahlen scheinen die Überflüssigkeit der Kunstvermittlung zu bestätigen. Die Zeiten, wo Museumspädagogik Schwellenängste abbauen sollte, sind vorbei.« 17
Birgit Mandel stellt fest, dass Kunstvermittlung scheinbar auf reproduktive Praktiken reduziert wird. Auch Carmen Mörsch beschreibt das umfangreiche Angebot als hauptsächlich affirmativ und reproduktiv, was bei einer Ausstellung, die dafür bekannt ist, den kritischen Diskurs in die Institution einzuführen, zumindest erstaunlich ist.18 Diese Erwartungen löst die documenta X hingegen über ihre Vortragsreihe 100 Tage – 100 Gäste ein, die statt der Führungen als zentrales Vermittlungsinstrument der Ausstellung gelten muss. Während der theoretische Diskurs mit den Plattformen 1-4 auf der Documenta11 verfestigt wird, setzt sich das Misstrauen gegenüber Kunstvermittlung fort. Die Lösung wird in einer Verschränkung beider Ebenen gesucht, die als Professionalisierung, jetzt auf Seiten der Vermittlerinnen und Vermittler, verstanden wird: »Die ›kanonische‹ Verschiebung auf der Achse education oder Kunstvermittlung, die von der d11 signalisiert wird, besteht also nicht in der Erfindung neuer, möglichst avantgardistischer Führungsformate, sondern im bislang wohl einmaligen Umfang und in der Intensität der Ausbildung der guides. Die Ausbildung hatte sich ja bewusst nicht auf die bloße Vorstellung der Biografien und Werkgeschichten der teilnehmenden Künstler und Künstlerinnen beschränkt, sondern unter anderem die Institutionsgeschichte der D11 und die Biennalisierung des Kunstfelds, Problemstellungen der Cultural Studies und Postcolonial Studies oder Fragen der politischen Theorie und Demokratietheorie miteinbezogen.« 19
Oliver Marchart versteht die Vermittlerinnen und Vermittler der Documenta11 als ›Scharnier‹ zwischen der Ausstellung und »einem Problemzusammenhang, der ungleich umfänglicher ist, als man es ursprünglich von einer Kunstausstellung erwartet hätte […], d.h. zwischen dem Kasseler Kunstevent D11 und der D11 als einem analytisch-politisch-künstlerischen Projekt, dessen inhaltliche wie geografische Dimensionen weit über Kassel hinausreichen.«20 Als Teil dieses Projektes fällt den sogenannten Guides trotz der kritischen Perspektive der Documenta11 die affirmativ-reproduktive Aufgabe zu, die vermeintlich kritischen Inhalte der Ausstellung zu transportieren.
17 | B. Mandel: Wege zum mündigen Kunstrezipienten, S. 66f. 18 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 23. 19 | O. Marchart: Die Institution spricht, S. 53f. 20 | Ebd., S. 54.
Von der Vermeidung der Didaktik zur Maybe Education
Mit der Documenta11 beginnt eine ausführlichere Reflexion der Vermittlungsangebote, die sich auch in Publikationen abzeichnet – möglicherweise geht dies auch mit einer Professionalisierung der Angebote selbst einher.21 Gleichzeitig werden dadurch die blinden Flecken dieser Reflexion ebenfalls deutlicher: Weder als Publikation noch im documenta archiv lassen sich die Ausbildung der Guides, die damit verbundene Vortragsreihe thinking and doing documenta, das education project, bei dem neun internationale Stipendiatinnen und Stipendiaten die Vermittlungsarbeit begleiteten, oder die Arbeit der Guides umfassend nachvollziehen. Diesem Desiderat wird zur documenta 12 begegnet, indem das Vermittlungsprogramm durch eine kollektive Forschung der Vermittlerinnen und Vermittler unter Carmen Mörsch begleitet wird.22 Der Kunstvermittlung wird im Rahmen der documenta 12 eine Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegengebracht, die bis dahin in der Geschichte dieser Ausstellungsreihe, aber auch im deutschsprachigen Raum generell, unüblich ist. Laut des Abschlussberichtes wurde das Vermittlungskonzept von Besucherinnen und Besuchern überwiegend positiv aufgenommen.23 Das Verständnis dieser Vermittlung war weder das eines angehängten Teils der Institution, noch ausschließlich das einer einträglichen Dienstleistung.24 Stattdessen wurde eine richtungsweisende Neudefinition von Kunstvermittlung vorgenommen, die sich vor allem in einem Sichtweisenwechsel ausdrückt, die (eigene) Vermittlungspraxis zu reflektieren und zu thematisieren, um dadurch auch dekonstruktive Strategien nutzbar zu machen: »Die 70 Kunstvermittlerinnen sollen nicht als Expertinnen auftreten, die den Werken festgelegte Bedeutungen zuschreiben und deren Lesart vorgeben. Vielmehr sollen sie als moderierende Instanz die Auseinandersetzung mit der Kunst anregen und die Besucherinnen dazu ermutigen, eigene Beziehungen zwischen sich und den Werken herzustellen. Es ist ein erklärtes Anliegen der Kunstvermittlung, mit lokalen Publika in Kontakt zu kommen, daraus experimentelle Vermittlungsformen zu entwickeln und das lokale Wissen in die Ausstellung zurückfließen zu lassen.« 25
Der documenta 12 Beirat war die erste systematische Zusammenarbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt, existierte aber nur bis zum Ende der documenta 12. Dennoch wünschten sich dessen Mitglieder eine Fortsetzung dieser Organisationsstruktur, welche aber nur informell gelang.26 Carmen Mörsch formuliert darüber hinaus die Hoffnung, »die documenta-Ausstellungen über 2007 hinaus zu einem Experimentierfeld für die Kunstvermittlung zu verwandeln: Kunstvermittlung sollte in Zukunft eine aus der documenta nicht mehr wegzudenkende Größe sein. Sie sollte von nun an mit der glei21 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld. 22 | Vgl. W. Wieczorek/C. Hummel/U. Schötker/A. Güleç/S. Parzefall: Kunstvermittlung. Vgl. C. Mörsch: Kunstvermittlung. 23 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: d12 Mappe 40: x:hibit: Abschlussbericht Besucher dienst & Merchandising documenta 12, Berlin 2008, S. 12f. 24 | Vgl. J. Gallo: ErwartungsRaum, S. 163. 25 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 19. 26 | Vgl. ebd., S. 3f.
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Kunstvermittlung chen Genauigkeit, Spezifität und Komplexität, im Austausch mit dem lokalen Kontext und in relativer Autonomie realisiert werden- wie ihr Gegenstand, die Ausstellung.« 27
27 | C. Mörsch: Am Kreuzungspunkt, S. 27.
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Konzeption und Struktur der Maybe Education
Tatsächlich stellt Juliane Gallo fest, dass das Vermittlungsprogramm der dOCUMENTA (13) eine konsequente Weiterentwicklung des der documenta 12 sei.1 Dies ist sicherlich in Teilen richtig, zunächst muss aber auf einen Bruch in der Entwicklungslinie hingewiesen werden: Grundsätzlich wollte Carolyn Christov-Bakargiev kein Vermittlungsprogramm anbieten. Dieses kam nur aufgrund von Druck aus der Geschäftsführung überhaupt zustande.2 Sie kritisiert, dass Kunstvermittlerinnen und -vermittler in ihrer erklärenden Funktion dem Publikum gegenüber höher gestellt sind und es wäre zu bevorzugen, wenn Besucherinnen und Besucher einfach in die Ausstellung gingen und eigene Erfahrungen machen.3 Es wurde daher überlegt, Angebote unter den Namen Non-Education oder Anti-Education zu machen.4 Dieser Ausgangspunkt macht sowohl die Fortsetzung einer progessiv-kritischen Tradition der Vermittlung auf der documenta als auch den versuchten Bruch deutlich: Während zur documenta 12 versucht wurde, durch eine Stärkung der Vermittlung selbige zu befragen, wird sie sie durch die dOCUMENTA (13) selbst in Frage gestellt. Die Konzeption der Maybe Education geht aus diesem Prozess hervor, um die unterschiedlichen konzeptionellen, politischen und ökonomischen Interessen zu vereinen.5 Im documenta archiv findet sich in den Ordnern der dOCUMENTA (13) ein Interview zur Kunstvermittlung ohne Angabe von Datum und Gesprächspartnern, allerdings lässt sich aus den Inhalten auf ein Gespräch zwischen der Künstlerin Lucia Pietroiusti, die 1992 Künstlerführungen über die Dächer und durch Diensträume der Serpentine Gallery gemacht hat, und Carolyn Christov-Bakargiev schließen. Darin wird die Funktion von Kunstvermittlung in erster Linie darin gesehen, Menschen an Kunst heranzuführen. Dies ereignet sich nicht unbedingt bereits spontan durch die Kunst selbst. Die documenta 12 habe den Anspruch entwickelt, dass sich das Publikum selbst erziehen könne. Dadurch solle auch die Institution geschwächt werden. Für die dOCUMENTA (13) wird der Ausdruck ›Education‹ entschieden abgelehnt, da er dieselbe Etymologie wie ›duce‹ (Führer) habe. Dieser Begriff solle nicht verwendet werden, 1 | Vgl. J. Gallo: ErwartungsRaum, S. 164. 2 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 4.8.2012). 3 | Vgl. K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 4 | Vgl. ebd. 5 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 24f.
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stattdessen ›Public Programs‹, um damit den schulischen und erzieherischen Aspekt ausklammern. Es solle auf der dOCUMENTA (13) nicht erzogen, sondern der Horizont erweitert werden. Neben diesen Bemühungen wird aber auch auf den Wert von Stille und Kontemplation verwiesen. Nicht jedes Werk müsse kommentiert oder erläutert werden. Es wird behauptet, dass die Qualität der Vermittlungsprogramme zunähme, wenn die jeweiligen Kuratorinnen und Kuratoren intervenieren und sich nicht ausschließlich Expertinnen und Experten der Vermittlung darum kümmern. Das Risiko besteht allerdings auch darin, das bestehende Machtgefüge weiter zu verfestigen. Es wird befunden, dass die besten Programme Künstlerinnen und Künstler entwickeln: Sie können auch ›Dummes‹ sagen, wiederholen aber nicht das, was in Lehrbüchern steht. Sie erfänden Dinge, die dazu beitragen, anders zu denken und zu empfinden.6 Dies betont die Qualität eigenständiger Denkprozesse und Aussagen, die anderen Gruppen damit zumindest in Teilen abgesprochen werden. Die Skepsis gegenüber der Vermittlung begründet Carolyn Christov-Bakargiev aber auch von der Kunst aus und greift damit auf das selbe Argument wie Daniel Buren, der allerdings Kuratorinnen und Kuratoren kritisierte, zurück: »Durch diese pädagogische/kommerzielle Wende stellen sie eine Vielzahl scheinbarer Hilfestellungen zur Verfügung, die aber gar nicht notwendigerweise hilfreich sind, wenn man von einer Art autonomer Druckwelle ausgeht, die mit der Sinnlichkeit und Intellektualität eines Kunstwerks zusammenhängt, und die sich in der Beziehung mit dem Betrachter auch ohne einen derartigen Rahmen einstellen kann. Ich befürworte die Reduzierung des Rahmens und nicht seinen Ausbau. Man muss die Stördaten, die uns umgeben, loswerden.« 7
Entgegen der Aussagen, dass die Vermittlungsprogramme erst relativ spät konzipiert werden und daher weniger stark mit den Inhalten der Ausstellung verwoben sind bzw. Einfluss darauf ausüben könnten, spricht bereits im Jahr 2009 der Künstler Rene Gabri die Frage nach Vermittlung (›education‹, ›pedagogy‹) in Bezug auf die dOCUMENTA (13) in einer E-Mail an Carolyn Christov-Bakargiev an: »As for the question of education and pedagogy, it is a critical question and could be central to documenta itself, both in its sense as lesson and warning [›sense‹ und ›warning‹ bezieht sich auf Herleitungen des Namens ›documenta‹, TP] But ever since the gesture of making Manifesta a school, I have felt a creeping suspicion that something sincere (i.e., the proliferation of independent / self-organized learning situations) was being capitalized upon a very foolish and stylized manner. For instance, what they were intending to produce was in my mind, not very different from normal educational models (i.e., application process, ›invited‹ applicants, paid instructors, etc…).« 8
In ihrer Antwort räumt Carolyn Christov-Bakargiev grundsätzlich die Wichtigkeit dieser Überlegungen ein, äußert aber dennoch ihre Skepsis gegenüber Vermittlung (›pedagogy‹), vor allem in Bezug auf ihre potentiell ökonomische Ausrichtung: 6 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »MEPP Research«: Interview zur Kunstvermitt lung ohne Datum/Personen. 7 | C. Christov-Bakargiev/W. Eilenberger/A. de Botton: Warum Kunst?, o.S. 8 | R. Gabri zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 17.
Konzeption und Struktur der Maybe Education »I agree the question of pedagogy is essential to life in its broadest terms. But, as you seem to say also, it has been capitalized upon a part of the art world tremendously over the last years, suggesting the ›school‹ provide reform to and substitute the model of the ›exhibition ‹ – and it has become cliché in my view. If however it were part of or alongside the ›exhibition‹ as a part of its broader articulation, then I think it would be interesting. As long as it is not ›communicated‹ as something special. I always fear communicating anything as ›special‹.« 9
Die Formulierungen ›part of the exhibition‹ und ›not something special‹ lassen einen gewissen Interpretationsspielraum zu, der allerdings eher als eine Stärkung von Vermittlung verstanden werden sollte. Bezieht man dies auf die umfangreichen Public Programs der dOCUMENTA (13), trifft die Beschreibung weitestgehend zu. Möglicherweise deutet diese Formulierung auch ein Konzept für die personelle Vermittlung an, welches Rene Gabri in einem persönlichen Gespräch umriss: Diese hätte nicht über einen Führungsbetrieb erfolgen sollen, sondern die Vermittlerinnen und Vermittler sollten sich frei in der Ausstellung bewegen, diese bevölkern und frei ansprechbar sein. Das Konzept hätte ein hohes persönliches Engagement vorausgesetzt, vor allem aber hätte es nicht den Regeln des Wettbewerbs und der Vermarktung entsprochen. Dies seien auch die Hauptgründe dafür, dieses in dieser Form nicht weiter zu verfolgen. Die nächste im Logbuch dokumentierte E-Mail zu diesem Thema ist auf den 29.08.2011 datiert und somit etwa zwei Jahre später und etwa neun Monate vor der Eröffnung der Ausstellung. Darin drückt Rene Gabri erneut die Hoffnung aus, horizontale Strukturen zu etablieren und (physischen und/oder inhaltlichen?) Platz innerhalb der Ausstellung zu lassen. Insbesondere über den Aufgriff der Tanz-Metapher schwingt eventuell auch eine Kritik an Carolyn Christov-Bakargiev mit: »The dance was long, it was violent, tumultuous… but it has come to a halt… Let’s actually leave some space and support for considering this with others who are artists and who are equally of and in the world at large not just the world of art. I just don’t want to be caught feeling that we did not argue sufficiently for this position, or articulate clearly enough the motives. And I don’t want us (all of us working on d13) to miss the chance to give space in this documenta, for direct collective horizontal processes to unfold that invite an explicit and public reconsideration of our shared world in this critical time. […] We just want to be clear about what we are imagining, needing, and where our own aspirations are for this. They are big, they involve big things, but in this case, it’s just mostly bodies in space and lots and lots of human energy directed toward reconsidering what we do and how we think and live (in these interesting times).« 10
Sowohl Rene Gabri als auch Carolyn Christov-Bakargiev sprechen von der Idee, das kritische Denken, möglicherweise sogar den Geisteszustand, über die Beteiligung Kasseler Bürgerinnen und Bürger sich wie ein ›Virus‹ in Kassel verbreiten zu lassen (»inserting that as a virus into kassel«11). Dieser Gedanke findet sich in der Notiz des Critical Art Ensembles wieder, die in Bezug auf den Arabischen Frühling von einer ›Ansteckungskraft der Demokratie‹ spre9 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach ebd. 10 | R. Gabri zitiert nach ebd., S. 63f. 11 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach ebd., S. 78.
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chen: »Ein Virus verfügt über ein Höchstmaß an Reproduzierbarkeit […]. Schließlich wollen wir, dass unsere Bilder viral und unsere Produkte ansteckend sind und dass sich unsere Politik auf andere überträgt«12. Hierauf basiert auch der Gegenentwurf zur Ausbildung von Vermittlerinnen und Vermittlern, der erneut auch ökonomisch argumentiert: »Wenn man bestimmte Mittel hat, die man normalerweise nutzen würde, um ›Ausstellungsführer auszubilden‹, warum sollte man sie nicht verwenden, um im Vorfeld der dOCUMENTA (13) ein Veranstaltungsprogramm aufzubauen, das die Stadt wirklich bereichert? Wie kann man eine umfassendere und nachhaltigere Wirkung auf den Ort ausüben, an dem diese Schule stattfindet? Dafür zu sorgen, dass zweihundert Personen aus Kassel mit den Künstlerinnen und Künstlern sprechen, sich aktiv an den Überlegungen zu gesellschaftlichen Fragen beteiligen und darüber nachdenken, wie sich der Prozess der dOCUMENTA (13) vervielfachen und ein Echo finden kann, ist für uns ein sehr ergiebiges Experiment.« 13
Nach Thomas Düllo liegt eine »ansteckende Narration dort vor, wo mittels eines Gebrauchs von Kollektivsymboliken […] eine Erfahrung und/oder ein Ereignis, die in bestimmter Weise soziale, kulturelle, wirtschaftliche, politische oder kommunikative Energien repräsentieren, vor anderen und für andere […] artikuliert, in erzählerische Form transformiert und ins Zirkulieren gebracht werden«14 – eine geradezu mustergültige Definition des Geisteszustandes und der hier intendierten Vorgehensweise. Aus diesen Vorannahmen gehen schließlich die sogenannte Maybe Education and Public Programs hervor, deren gesamte Konzeption und Programm laut deren Leiterin Julia Moritz innerhalb eines Jahres entwickelt wurde.15 Sie ist somit zunächst nicht als grundlegender Teil der dOCUMENTA (13) zu verstehen, sondern als zumindest organisatorisch untergeordneter, obwohl dies in der Konzeptskizze anders kommuniziert bzw. empfunden wird. Laut dieser verstehe sich die dOCUMENTA (13) als Gesamtheit, die alles in sich vereine und zu der nichts parallel liefe. Alles, genannt werden Touren, Gespräche, Workshops, Filme, Texte und Kunstwerke, bildet den Geisteszustand. Die Vermittlungsangebote sollen nicht als Zusatz zur Ausstellung verstanden werden, sondern seien gleichwertige Formen des Geschichtenerzählens. Keine solche Form, d.h. auch die Kunstwerke oder die Ausstellung, sei abgeschlossen, sondern alle sprächen zueinander.16 Julia Moritz beschreibt Maybe Education explizit als kritische und radikale Vermittlung, die sich mit Vorbehalten über die Bedeutung von Vermittlung innerhalb eines sich regelmäßig neu erfindenden Ausstellungsrahmens mischt.17 Das Vielleicht erfuhr eine besondere Beachtung und soll in seinen Bedeutungsfacetten hier umrissen werden: 12 | Critical Art Ensemble: Bedenken, S. 28, BdB. S. 425. 13 | A. Anastas/R. Gabri/N. Setari: Im Gespräch, S. 280. 14 | T. Düllo: Ansteckendes Erzählen, S. 31. 15 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 23. 16 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »Maybe Education projects: Communications dOCUMENTA (13)«: The Fragments and the Whole – concept for the Maybe Education and Public Programs of dOCUMENTA (13). 17 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 24.
Konzeption und Struktur der Maybe Education »Die Verwendung des Wortes ›vielleicht‹ in Bezug auf Vermittlung und öffentliche Veranstaltungsprogramme soll eine gewisse Beweglichkeit zum Ausdruck bringen, die den vielen verschiedenen Formen, in denen sich Wissen manifestieren kann, Rechnung trägt: in Materie, in Worten, in Erfahrung und im Leben. Dabei bedeutet ›vielleicht‹ keinen Mangel, auch keine Ernüchterung, sondern Widerstand gegen eine sich immer weiter verbreitende Ideologie, die nach effizienter Produktion von Gewissheit und Verwaltung des Wissens strebt. Der Moment des ›vielleicht‹ hingegen steht für eine Haltung der Skepsis, eine Form der Befragung, die sich einstweilen des Urteils enthält, um so Wege zu bahnen, auf denen sich unerwartete Erfahrungen und Bedeutung entfalten.« 18
In diesem Zitat greift Julia Moritz sowohl die tänzerische Bewegung als auch den Gedanken eines ›Virus‹ wieder auf. Vor allem kennzeichnet sie das Vielleicht aber als eine Form des Widerstandes gegenüber ›effizienter Produktion von Gewissheit‹ und positioniert die Maybe Education, und damit auch den als dTOURS bezeichneten Führungsdienst, deutlich entgegen wirtschaftlicher Interessen – auch solchen, die sich zunächst in der Ansammlung von Wissen oder Erkenntnis äußern. Diese fordern kurze, prägnante Informationen ein, die in Bezug auf Kunst häufig reduzierend sind: »Das ›Vielleicht‹ reflektiert die Tatsache, dass Wissen schwer zu formulieren und auf den Punkt zu bringen ist und dass Kunst und künstlerische Forschung oft jede Form von festgelegter Bedeutung zu vermeiden versuchen. Das ›Vielleicht‹ verweist, in einem positiven Sinn, auf das Fehlen von Gewissheit und allgemeinen Aussagen, die das Ganze repräsentieren. […] Es signalisiert die Unmöglichkeit, Kunst – oder irgendeine andere komplexe Form von Wissen – auf eine einzige Erklärung, Frage oder Thematik oder auf ein einziges Paradigma zu reduzieren.« 19
Jimmie Durham stellt fest, dass im Vielleicht nicht nur das Moment des Scheiterns, sondern auch des Weiterarbeitens enthalten ist.20 Obwohl die Maybe Education mit den Public Programs viele künstlerische Positionen enthalten, die im Sinne der Vermittlungskunst auch den Kunstbegriff in Frage stellen, ist hier eher eine Stärkung dessen durch eine Infragestellung von Erziehung und Bildung zu beobachten. Dementsprechend beschreibt Julia Moritz das Gesamtprogramm der Maybe Education als ›Ozean‹ durch den sie ›navigieren‹ musste und bezeichnet ihre Erinnerungen als ›treibholz-haft‹.21 Dieser ›Ozean‹ lässt sich in der Tat nur grob kartieren und stellt in seiner unüberblickbaren Struktur die wohl deutlichste Notation der frenetischen Choreografie dar. Im Folgenden wird die durch den Veranstaltungskalender Was/ Wann angebotene Strukturierung für die Aktivitäten in Kassel nachgezeichnet.22 Als Punkt 0, und damit entweder der übrigen Struktur vorgelagert oder deren Grundlage, wird der Besuch der Ausstellung bezeichnet, in den auch die ›dTOURS und die Weltgewandten Begleiterinnen und Begleiter‹, das ›Studio d(13) für Kids und Teens‹ sowie die Smartphone-App ›dMAPS‹ fallen – somit die auf Einzelpersonen ausgerichteten 18 | J. Moritz: Studio d(13), S. 102. 19 | dOCUMENTA (13)-Presseunterlagen zitiert nach S. Hossein: Vielleicht Vermittlung, S. 141. 20 | Vgl. J. Durham: Material, S. 19, BdB. S. 352. 21 | Vgl. J. Moritz: Studio d(13), S. 100. 22 | Vgl. documenta: Was/Wann, S. 4ff.
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Kunstvermittlung
Vermittlungsprogramme. Es folgen sieben weitere Kategorien: 1. ›Kongresse, Vorträge, Seminare‹ zu unterschiedlichen Themen, die im Maybe Center for Conviviality im Ständehaus abgehalten wurden und in der Regel mit einer dOCUMENTA (13)-Eintrittskarte besucht werden durften; 2. ›Lesekreis: 100 Notizen – 100 Gedanken‹ in dem an jedem der 100 Tage der dOCUMENTA (13) unterschiedliche Personen aus den Notizen vorlesen und sich zu ihnen äußern sollen; 3. ›Lyriklesungen‹ im Offenen Kanal Kassel; 4. ›Filme‹ in den Reihen ›Verbotenes und Populäres Kino‹, ›Künstler und Filmemacher‹ und ›Afghanistan‹ in den Kinos Bali und Gloria; 5. ›Einige von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der dOCUMENTA (13) initiierte Kunstwerke und Projekte‹: Tatsächlich knapp siebzig unterschiedliche Projekte, die teils Begleitveranstaltungen zu bestehenden Kunstwerken (z.B. Emily Jacir), teils besondere Manifestationen selbiger (z.B. Ida Applebroog) oder auch das eigentliche Kunstwerk (z.B. Theaster Gates, Lynn Foulkes) bezeichnen. Zunächst ist kein Kriterium erkennbar, diese Projekte nicht unter dem Punkt 0 ›Ausstellung‹ zu verzeichnen, einzig ihre situative und termingebundene Struktur; 6. ›Paper Mornings: Buchpräsentationen auf der dOCUMENTA (13)‹, auf denen Publikationen der dOCUMENTA (13) vorgestellt wurden; sowie unter 7. ›AND … AND … AND‹ eine Absichtserklärung und Konzepte der durch Rene Gabri und Ayreen Anastas initiierten Künstlergruppierung, die anscheinend von Punkt 5 verschieden ist. Es folgen kurze Darstellungen der Aktivitäten in Kairo, Kabul und Banff, die allerdings zur Zeit der Drucklegung keine Teilnahme mehr ermöglichten. Diese Skizze macht deutlich, inwiefern die Aktivitäten der Maybe Education tatsächlich »nicht parallel zur dOCUMENTA (13) [liefen], sondern […] ein wesentlicher Bestandteil von ihr [waren]. Alle Aktivitäten sollten das Publikum anregen nachzudenken, zuzuhören, Gespräche zu führen, zu lesen, die Ausstellung zu besuchen. Sie sollten als integraler Bestandteil des Kunsterlebnisses selbst wahrgenommen werden.«23 Dennoch zeigen sich innerhalb dieser Struktur auch Abstufungen und unterschiedliche Relevanzen, die sich insbesondere über das Kriterium der Teilhabe begründen. Während sich vor allem die Worldly Companions durch die dTOURS »um Integration des Publikums durch offene Formate und die Bearbeitung der Themen im Kasseler Zusammenhang bemühen, [finden sich] auf der anderen Seite stark am Kunstdiskurs orientierte Vorträge und Diskussionen, die oft frontal einen auf die Fachwelt ausgerichteten Anspruch verfolgen.«24 Die Kunstvermittlerinnen und -vermittler sind zuletzt in den Prozess der dOCUMENTA (13) eingetreten und konnten diesen im Vorfeld nicht und während ihrer Arbeit nur geringfügig beeinflussen. Dies korreliert direkt mit der skeptischen Haltung gegenüber einem Führungsbetrieb. Julia Moritz berichtet, dass ursprünglich die späteren Special-dTOURS (Hunde, Zeitzeugen, Ausdauer etc.) als der Kompromiss zwischen kuratorischem Anspruch und wirtschaftlichen Sachzwängen geplant waren. Allerdings erklärte sich der Dienstleister damit nicht einverstanden, so dass serviceorientierte, ortspezifische dTOURS eine ›zweite Familie‹ bildeten, die schließlich quantitativ weit überlag und somit auch die Menge an Worldly Companions bedingte.25 Der Begriff ›Worldly Companion‹ wurde als Markenname und inhaltsleer aufgenommen: Jürgen Raap bezeichnet ihn als ›kapriziös‹.26 Andreas Bauer befindet: »so 23 | J. Moritz: Studio d(13), S. 101. 24 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 21. 25 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 30. 26 | Vgl. J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 349.
Konzeption und Struktur der Maybe Education
heißen die klassischen Museumsführer auf documenta-Deutsch.«27 Carolyn Christov-Bakargiev leitet den Begriff ›Companion‹ über die lateinischen Worte ›cum‹ und ›panis‹ her als »a ›messmate‹ a friend with whom one shares or eats food (bread)«28 Der Begriff ›Worldly‹ stammt von Donna Haraway und bezeichnet eine Verbundenheit aller Macher von Welt, was explizit auch nicht-menschliche und nicht-belebte Entitäten einschließt.29 Für Carolyn Christov-Bakargiev ist allerdings entscheidend, dass Worldly Companions im Gegensatz zu nur Companions nicht nur mit ihrem jeweiligen Gegenüber, sondern mit der ganzen Welt über ihr jeweils eigenes Wissen verbunden sind.30 Vorbedingung für eine Einstellung als Worldly Companion war laut Ausschreibung ausschließlich das allgemeine Interesse an der documenta und an der Stadt Kassel. Der Auftrag an sie lautete, »ihre besonderen Eindrücke mit den Besucherinnen und Besuchern [zu] teilen«31. »Besonders aber suchen wir Personen, die ein Interesse an Kunst haben, auch wenn sie in diesem Bereich über keine professionelle Ausbildung verfügen. Wir wollen von verschiedenen anderen Wissensbereichen, Methoden und Anschauungen lernen, wie z.B. der Landwirtschaft, der Philosophie, den Sozialwissenschaften oder der Physik. Auf diese Weise wird das Team der ›Worldly Companions‹ unterschiedliche und unkonventionelle Perspektiven der dOCUMENTA (13) einbringen können.« 32
Eine (akademische) Vorkenntnis zeitgenössischer Kunst war ausdrücklich nicht notwendig, um als Worldly Companion tätig zu sein. Das Angebot adressierte gezielt Personen, die sich normalerweise als nicht zuständig für die Vermittlung von Kunst erachten und in der Regel auch nicht von der Institution als autorisierte Sprecherinnen und Sprecher eingesetzt werden.33 Dies stellt grundsätzlich ein dekonstruktives Potential dar. Dabei muss allerdings deutlich sein, dass bereits die Tatsache, dass sich die späteren Worldly Companions bei der dOCUMENTA (13) beworben haben, ein Interesse an Kunst voraussetzt, welches entsprechende Bildungshintergründe vermuten lässt. Somit ist das Konzept nur in Teilen inklusiv, da es nach wie vor diejenigen, die nicht von sich aus Kunstausstellungen besuchen, ausschließt. Dennoch liegt darin zum einen die Hoffnung begründet, auch auf Seiten des übrigen Publikums eine niedrige Schwelle zu bieten, andererseits aber auch die Möglichkeit, Experten und Expertinnen nicht mit der gewünschten Dienstleistung zu versorgen, was deutlich kanonisches Wissen in Frage stellt. Dass dieses Konzept Personen bevorzugt, die über keine kunsthistorische oder -pädagogische Ausbildung verfügten, um unkonventionelle Perspektiven auf die Kunst zu ermöglichen, wurde von Seiten professioneller Vermittlerinnen und Vermittler scharf kritisiert.34 Joshua Raphael Weitzel sieht diese Kritik durch den Verdacht der Befangen27 | A. Bauer: Weltgewandt in Kassel, o.S. 28 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 63. 29 | Vgl. ebd. 30 | Vgl. ebd. 31 | http://d13.documenta.de/de/#/de/no_cache/arbeiten/offene-ausschreibung/?sword_ list%5B%5D=ausschreibung vom 24.03.2017. 32 | Ebd. 33 | Vgl. W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 6. 34 | Vgl. W. Trunk: In Aufbruchstimmung, o.S.
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Kunstvermittlung
heit als zumindest fragwürdig an, da sie sich nur in Teilen auf das Konzept selbst beziehe.35 Julia Moritz weist diese Kritik, möglicherweise vorschnell, allgemein zurück.36 Tatsächlich zeigt ein Abgleich mit der tatsächlichen Zusammensetzung der Gruppe der Worldly Companions, dass diese Vorgehensweise weder konzeptionell durchgehalten werden konnte, noch den Ansprüchen des Dienstleisters (und vermeintlich des Publikums) standgehalten hätte: »I said I cannot exclude professional art educators, because I would not exclude anybody really, right. It would be like saying ok, and please no black people, you know. So I felt like we can’t be like an exclusive department of education. Anyway, this is not what I want, this is not what I stand for, so agreed to some sort of like a ten per cent.« 37
Mit etwa zehn Prozent professionellen Kunstvermittlerinnen und -vermittlern muss die Frage gestellt werden, inwiefern das kommunizierte Verständnis von Worldly Companions nicht vor allem als Marketingstrategie zu bewerten ist oder es doch die angestrebte Vielstimmigkeit einlösen kann: »Eine Vielstimmigkeit unterschiedlicher Positionalitäten und ProtagonistInnen, bei der gleichzeitig und vor allem die Erfahrung der Begrenztheit und der Grenzhaftigkeit der Stimme möglich wird. Die das Schweigen als Form der Artikulation würdigt. Wo Widersprüchlichkeiten, Wiederholungen, Unterbrechungen und Überlegungen und vor allem deutlich unterschiedliche SprecherInnenweisen und -positionen wuchern können. Wo Machtverhältnisse nicht nur benannt, sondern auf der Ebene der Repräsentation bearbeitet werden können.« 38
Diese Vielstimmigkeit als Konversationsform zwischen Künstlerinnen und Künstlern einerseits und Vertreterinnen und Vertretern anderer Wissensformen andererseits innerhalb der Kunstwelt zu etablieren, war eine Folge der documenta X und Documenta11, sowie anderer künstlerischer Strömungen der 1990er Jahre.39 Irit Rogoff unterscheidet zwischen einer Betrachtung der Struktur als solcher und des dadurch entstandenen Wissens: »But did we put any value on what was actually being said? Or, did we privilege the coming-together of people in space and trust that formats and substances would emerge from these?«40 Diese Unterscheidung wird auch für die Untersuchung des Projekte Worldly Companions und Maybe Education von Bedeutung sein.
35 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 34. 36 | Vgl. J. Moritz: Studio d(13), S. 104f. 37 | J. Moritz zitiert nach J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 28. 38 | C. Mörsch/E. Sturm: Vermittlung – Performance – Widerstreit, S. 5. Die Autorinnen beziehen sich auf A. Youngblood Jackson: »Rhizovocality«, in: International Journal of Qualitative Studies in Education 16/5 (2003), S. 693-710. 39 | Vgl. I. Rogoff: Turning, o.S. 40 | Ebd.
Konzeption und Struktur der Maybe Education
School for Worldly Companions Die zur Documenta11 angelegte Struktur der Ausbildung als durch eine Vortragsreihe begleitete Blockseminare wurde zur dOCUMENTA (13) grundsätzlich beibehalten. Auch aufgrund der intensiven Ausbildung stellt Oliver Marchart fest, dass die Gruppe derjenigen, die die Vermittlung der Documenta11 konzipierten, weder in der Lage waren, noch es als ihre Aufgabe ansahen, die Logistik eines Führungsbetriebs zu übernehmen. Man entschied sich zu einer Trennung, die diese Aufgaben an einen Dienstleister abzugeben, aber die inhaltliche Ausbildung der Vermittlerinnen und Vermittler in der eigenen Verantwortung zu lassen – eine Trennung, die nach wie vor Bestand hat.41 Die Konzeption und Inhalte der School for Worldly Companions scheinen nahezu keine Planungsphase durchlaufen zu haben, sondern entstehen annähernd parallel zu ihrer Durchführung, werden mehrfach umstrukturiert und ergänzt. Dies beginnt bei der Ernennung des Direktors dieser Schule: Der Kunstkritiker und Kurator Jacob Schillinger umreißt in einer E-Mail an Carolyn Christov-Bakargiev etwa einen Monat vor der ersten Sitzung seine grundlegenden Vorstellungen dieser Institution. Zunächst möchte er sich von den pragmatischen Fragen weitestgehend distanzieren, damit diese nicht die Zeit verbrauchen, die er lieber nutzen möchte, um Räume für kritisches Denken, Neugier und Diskussion zu eröffnen. Er findet ein Tiefenstudium ausgewählter Texte wichtiger als einen Überblick über die Breite zu gewährleisten. Dadurch möchte er die Worldly Companions befähigen, wirklich mit den Besucherinnen und Besuchern über die Kunstwerke zu sprechen, statt auswendig Gelerntes zu wiederholen.42 Carolyn Christov-Bakargiev stimmt ihm inhaltlich zu, weist aber darauf hin, dass auch das Training der Worldly Companions geleistet werden müsse. Sie führt auch die wirtschaftlichen und organisatorischen Bedürfnisse an, die als ›reality check‹ berücksichtigt werden müssen. Sie ergänzt die Überlegungen mit dem für sie wichtigen Aspekt, dass die Worldly Companions nicht über Kunst sprechen sollen, sondern ihr spezielles Wissen hinzufügen sollen. Wie das zu trainieren sei, weiß sie nicht und überlässt es der Vorstellung Jacob Schillingers.43 Auch wenn das Projekt bereits relativ klar definiert zu sein scheint, fordert Jakob Schillinger für seine Rolle und die School for Worldly Companions relative Autonomie bei der Konzeption des Schulungsprogramms und dessen Inhalten. Er und Carolyn Christov-Bakargiev sind sich in diesem Punkt einig, auch wenn von beiden gewisse Mitglieder der Maybe Education Group als Beratende genannt werden. Dies ist insofern interessant, als dass Jacob Schillinger selbst erst zu diesem Zeitpunkt in das Team der dOCUMENTA (13) einzutreten scheint und daher nur ein recht oberflächliches Verständnis davon haben kann, was die dOCUMENTA (13) darstellt (Nicht-Konzept, Choreografie, Geisteszustand). Tatsächlich weist er selbst darauf hin, die Struktur der School for Worldly Companions von der Maybe Education Group, insbesondere Julia Moritz und Cesare Pietroiusti, geerbt zu haben.44 Carolyn Christov-Bakargiev garantiert ihm diese Autonomie auch mit der Feststellung, dass zumindest sie zu beschäftigt sei, um sich einzumischen.45 41 | Vgl. O. Marchart: Die Institution spricht, S. 52. 42 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 78. 43 | Vgl. ebd. 44 | Vgl. Maybe Education Group: 10. Sitzung/3. öffentliche Sitzung, Kassel 05.09.2012. 45 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 78
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Kunstvermittlung
Es finden schließlich fünf mehrtägige Schulungswochenenden mit etwa neunzig Zeitstunden Programm sowie einem Treffen für einen Probelauf statt. In Bezug auf ein Informationsblatt für die Tutorinnen und Tutoren der School for Worldly Companions, welches Joshua Raphael Weitzel im documenta archiv gefunden hat, arbeitet er deren Ziele heraus: »This rationale was not only to prepare the Worldly Companions for their job, but also to create a space for discussion about social contexts of art. The school was not only orientated towards reaching formulated goals of education, but also towards enabling further education, which is defined on the sheet as wide field of complex relationships and experiences.«46 Joshua Raphael Weitzel stellt dar, dass diese Zielvorstellung den Worldly Companions nicht bekannt war und dass die School for Worldly Companions, zumal innerhalb der Architektur und Institution einer Hochschule, eher tradierte unidirektionale Wissensvermittlung suggerierte.47 Ein unter einem Pseudonym geführter Worldly Companion beziffert gegenüber dem Kunstforum International die Vorbereitungszeit innerhalb der School for Worldly Companions und in Eigenverantwortung auf rund 250 Stunden.48 In der Tat nahm das Selbststudium der Projektvorschläge der Künstlerinnen und Künstler auch deshalb viel Zeit in Anspruch, da diese Inhalte nur peripher innerhalb der School for Worldly Companions zur Sprache kamen. Neben den Abendvorträgen hatten nur wenige Künstlerinnen und Künstler Zeit für die Arbeit mit den Worldly Companions, gleiches gilt für die kuratorische Abteilung und insbesondere Carolyn Christov-Bakargiev. Auffallend ist außerdem, dass innerhalb dieses Schulungsprogramms eben jene Akteure nahezu gänzlich fehlten, deren Aufgabenfeld die Worldly Companions abdecken sollten: die Kunstvermittlerinnen und Kunstvermittler. Hier wurden »wesentliche Wissensformen, emanzipatorische Diskurse und jahrelange Erfahrung einfach außer Acht gelassen«49. Erst zur vierten Sitzung Ende April 2012 wurde Nora Sternfeld als einzige Vertreterin dieser Gruppierung zu einem einstündigen Vortrag geladen, der unter dem Titel Geschichte der Kunstvermittlung diese Diskurse abdecken sollte. Versteht man Kunstvermittlung als über Pädagogik hinausgehend und mit den Diskursen der Vermittlungskunst verschränkt – was die Maybe Education tut – wird die Absurdität dieser Gewichtung innerhalb der Ausbildung noch deutlicher. Eine ähnliche Kritik verzeichnet auch Carmen Mörsch zur Ausbildung der Vermittlerinnen und Vermittler der documenta 12, verdeutlicht aber in der Gegenüberstellung vor allem die Brisanz innerhalb der School for Worldly Companions: »Die Arbeit an Methoden kam jedoch, so die Beurteilung einiger Vermittlerinnen an einem abschließenden Plenum, gegenüber der konzeptionell-reflexiven Arbeit zu kurz. Zu letzterer wurden u.a. mit Pierangelo Maset, Karin Schneider, Nora Sternfeld und Eva Sturm vier ProtagonistInnen aus der Praxis und Theoriebildung der Kunstvermittlung zu Vorträgen und Workshops eingeladen.« 50
Es muss allerdings nicht nur kritisch hinterfragt werden, was die Worldly Companions wirklich während ihrer Ausbildung lernten, sondern auch, was es bedeutet, Personen 46 | J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 34. 47 | Vgl. ebd. 48 | J. Raap: Reges Zusatz-Vermittlungsgeschäft, S. 349. 49 | B. Jaschke/N. Sternfeld: Ein educational turn in der Vermittlung, S. 14. 50 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 27, Fn. 81.
Konzeption und Struktur der Maybe Education
unterschiedlicher Wissensbereiche zu versammeln, aber dieses Wissen nicht als ausreichend zu verstehen, sondern diese überhaupt einer Schulung zu unterziehen. Zumal vor allem ein kulturwissenschaftlich-kritisches Wissen vermittelt wurde, statt, wie in den Schülerinnen und Schülern angelegt, wirklich unterschiedliche Wissensbereiche abzudecken oder das über die Ausschreibung gemeinsame Nicht-Wissen im Bereich der Vermittlung zu thematisieren. Die School for Worldly Companions stellt unter dieser Perspektive eine Bruchstelle zwischen der allgemein als kritisch und dekonstruktiv einzuordnenden Maybe Education und der Durchführung des Führungsbetriebs durch die Worldly Companions dar. Dass die Umsetzung nicht den Erwartungen entsprach, zeigte sich schon während der dTOUR-Proben vor leeren Ausstellungswänden und in der Karlsaue. Julia Moritz übte kollektive Kritik und empfand das Vorgehen als zu affirmativ und zu wenig dekonstruktiv. Dies steht im Widerspruch zu einer durch Jacob Schillinger formulierten Festschreibung der Ausrichtung der Worldly Companions laut der keine Formulierungen oder Rhetoriken wiederholt werden sollen, sondern durch die eigene Auseinandersetzung mit dem Material zu einer eigenen Position gefunden werden solle und diese Emanzipierung in der Arbeit mit den Besucherinnen und Besuchern multiplizieren.51 Das diese Festschreibung nicht von allen Worldly Companions bedient wurde oder werden konnte, sondern ein klassischer Führungsstil vorherrschte, ließ sich in der Durchführung beobachten.52 Besonders deutlich formuliert Werner Seppmann seine Kritik: »Auch im Sommer 2012 waren auf dem Documenta-Gelände immer wieder von den offiziellen Ausstellungsbegleitern Verweise auf die ›antifaschistische Tradition‹ der Documenta zu hören; sie plapperten mechanisch nach, was ihnen in den Vorbereitungsseminaren vermittelt worden war.«53 Wie bereits erwähnt, fand keine systematische Evaluation oder Dokumentation der durchgeführten dTOURS statt, so dass sich keine qualitativen Aussagen machen lassen, sondern nur über eigene Beobachtungen Eindrücke vermittelt werden können. Dennoch soll im Folgenden nach strukturellen Gründen gefragt werden, die die Differenz zwischen Anspruch und Realisation begründen können und über eine Kritik der School for Worldly Companions hinausweisen, da sie auf das generelle Verständnis der dOCUMENTA (13) als Choreografie abzielen.
51 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: empty dTOUR + Buchungstransparenz + diverses (E-Mail vom 05.04.2012). 52 | Vgl. K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 53 | W. Seppmann: Mechanismen ideologischer Formierung, S. 82.
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Choreografie als delegierte Performance
Die Maybe Education kann auf dreifache Art als in die Choreografie eingeschrieben verstanden werden: Erstens als konzeptionelle Unruhe durch die Positionierung im Vielleicht, zweitens als umfassende in die Ausstellung dOCUMENTA (13) eingeschriebene Ereignisstruktur und drittens als die Aktualisierung der in den Ausstellungsbereichen angelegten Notation durch die Worldly Companions. Zu erstens: Julia Moritz hofft über die Aktivitäten der Maybe Education »die mit anderen Choreografien verbundene Einschüchterung [zu] verlernen – sowie den Belagerungszustand von Bewusstsein überhaupt«1 – dazu bedarf es einer Ermutigung (oder auch Autorisation) zur geistigen Beweglichkeit, die sich im Vielleicht ausdrücken soll. Andererseits sollte aber auch die Choreografie flexibel sein, ›Platz lassen‹, zumindest wenn sie diese Beweglichkeit befördern und nicht selbst Einschüchterung verursachen möchte. Rene Gabri äußert deutliche Zweifel, ob die Choreografie der dOCUMENTA (13) diesen Ansprüchen genügen kann: »The dance was long, it was violent, tumultuous … but it has come to a halt … Let’s actually leave some space and support for considering this with others who are artists and who are equally of and in the world at large not just the world of art.«2 Sowohl die physische Ausstellung als auch der intellektuelle Überbau Geisteszustand haben sich im Laufe ihrer Entwicklung verfestigt und lassen wenig Raum für ein Vielleicht. Dies gilt auch und vor allem für die Arbeit der Worldly Companions, die weniger eine skeptizistische, d.h. Wissen in Frage stellende, als denn eine unsichere, d.h. nicht über ausreichend Handlungs- und Sachwissen verfügende Position einnehmen mussten. Der Tanz, der durch dieses Vielleicht ausgelöst wurde, zeichnete sich durch das Bemühen aus, unterschiedlichen Ansprüchen genügen zu wollen. Zu zweitens: Die Verknüpfung von Tätigkeit und dem Programm der Maybe Education, welche Julia Moritz leistet, zeigt deutlich dessen Verständnis als choreografische Struktur, lässt aber auch Schlüsse über den Status der Handelnden innerhalb dieser zu: »Zweitens verleiht das Tun der Frage [Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was wir tun?] ihren Rhythmus: Durch seine zweifache Wiederholung innerhalb des kurzen Eingangssatzes, nimmt es die Form einer Welle oder die Krümmung einer Spirale an, die nicht zu einem bestimmten Endpunkt führt, sondern ihn beinhaltet. So ist auch der Rhythmus, der ein ›Programm‹ ausmacht, eine Reihe semi-intuitiver Momente, in denen Aktivität 1 | J. Moritz: Epilog, S. 154. 2 | R. Gabri zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 63f.
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Kunstvermittlung andauert und wiederkehrt und dabei Spuren hinterlässt in den größeren Formationen von Aktivität.« 3
Die Choreografie bezieht sich deutlich nicht ausschließlich auf eine bestimmte Gruppe von Personen, sondern schließt alle ein, die innerhalb ihrer Strukturen handeln. Dieses Handeln ist nicht zielgerichtet, sondern ›beinhaltet‹ sein Ziel und kann sowohl intentional als auch ›semi-intuitiv‹ erfolgen. Das Handeln der oder des Einzelnen ›hinterlässt Spuren in den größeren Formationen von Aktivität‹ – dies kann je nach Maßstab die kollektive Arbeit der Maybe Education, den Geisteszustand oder auch die Welt außerhalb der dOCUMENTA (13) referieren. Dadurch wird das bewusste und auch unbewusste Handeln aller Akteure zu einer kollektiven Praxis erklärt, die wiederum auf das Handeln und sein Subjekt rückwirkt. Zu drittens: Gleiches gilt auch für das Handeln innerhalb der räumlichen Strukturen, die durch die Ausstellungsorte und die Positionierung der darin gezeigten Objekte als Notation verstanden werden können. Deniz Sözen untersucht das »Körperliche in der Vermittlung – bis hin zur Verkörperung einer Ausstellung«4 und eröffnet dabei einen Bedeutungshorizont zwischen Performativität, körperlicher Belastung und dem Einstehen für eine Sache. Sie beschreibt die Ausstellung als Bühne und beruft sich auf Carol Duncan: »I propose to treat this ensemble like a script or score – or better, a dramatic field. That is, I see the totality of the museum as stage setting that prompts visitors to enact a performance of some kind«5 Dass eine solche Lesart im Falle der dOCUMENTA (13) angebracht erscheint, ist durch deren Verwendung der damit verbundenen Terminologie naheliegend. Deniz Sözen formuliert eine Hoffnung für ihre Arbeit als Kunstvermittlerin: »Wir können eine vorgegebene Choreografie niemals gänzlich unterlaufen, aber wir können mit ihr spielen; wir können sie variieren.«6 Dazu ist es allerdings zwingend notwendig, die jeweilige Choreografie als solche zu erkennen, lesen zu können und über die Fähigkeit diese zu variieren zu verfügen – d.h. es bedarf einer mehrfachen Professionalisierung. »[Es stellt] sich damit die Frage, warum geglaubt wurde, dass kunstfernere Berufe besser für die Vermittlung geeignet seien, als in dem Gebiet professionell Tätige; zumal die ›authentischen‹ BegleiterInnen in einer extrem kurzen Schulungszeit von wenigen Wochen dann doch mit einem philosophischen Kanon (u.a. Judith Butler, Theodor W. Adorno) konfrontiert wurden, was als Hinweis gedeutet werden kann, dass Authentizität und Wohnort offenkundig dann doch nicht als ausreichend genug eingeschätzt worden sind, um über Kunstwerke zu sprechen und die ›Eindrücke zu teilen‹. Es bleibt unklar, warum kunsthistorisch, künstlerisch und/oder pädagogisch ausgebildete Personen diese Fähigkeit aberkannt worden ist, ebenso, wie die Möglichkeit Kunstwerke authentisch zu vermitteln. Tatsächlich scheint so eine Einstellung etabliert worden zu sein, die eine unpräzise Vorstellung von VermittlerInnen verstetigt, wonach diese als ExpertInnen den Zugang zu Kunstwerken grundsätzlich verunmöglichen. Anstatt hier
3 | J. Moritz: Epilog, S. 153. 4 | D. Sözen: Das Tänzerische, S. 35. 5 | C. Duncan zitiert nach ebd., S. 36. 6 | Ebd., S. 45.
Choreografie als delegierte Performance allerdings VermittlerInnen weiter zu qualifizieren, wurde offensichtlich versucht, mit einer werbewirksamen Idee die bereits in einem Arbeitsfeld Tätigen auszutauschen.« 7
Unter den hier umrissenen Perspektiven wird offensichtlich, dass die Maybe Education einer der relevantesten Berührungspunkte zwischen dem subjektiven Erleben der Choreografie und darüber des Geisteszustandes ist. Dies gilt insbesondere für die Worldly Companions, nicht nur, weil sie direkt an dieser Schnittstelle agierten, sondern auch weil sie durch die Einwirkung einiger Künstlerinnen und Künstler in einen besonderen Status versetzt wurden: Dies waren zunächst Ayreen Anastas und Rene Gabri, beide Mitglieder der mit der Konzeption der Maybe Education betrauten Maybe Education Group, die auf dem ersten Schulungswochenende wortwörtlich mit den Worldly Companions das Brot brachen, welches sie selbst gebacken hatten. In Bezug auf Carolyn Christov-Bakargiev Herleitung von ›Companion‹ als »a ›messmate‹ a friend with whom one shares or eats food (bread)«8 wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Vorgangs zu (Worldly) Companions. Mehr noch: Das Brot war als Produkt eines durch eine Künstlerin und einen Künstler durchgeführten Vorgangs möglicherweise selbst als Kunstwerk zu verstehen, welches konsumiert und verinnerlicht wurde und in Form von Nährstoffen auch im Körper verblieb. Diese Betrachtungsweise erinnert an den ›Virus‹, der sich in Kassel ausbreiten soll, und greift dem Geisteszustand vor. Deutlicher auf eine edukative Einwirkung ausgerichtet ist das Projekt von Ana Prvacki, welches ebenfalls als ›Virus‹ wirkt und auch dessen Reproduktion antizipiert: Die Ausbildung und Anwendung von Höflichkeit. Diese bedarf einer ethischen Entwicklung, die auf Entscheidungen aufbaut, wie man sich seinem Gegenüber gegenüber zu verhalten hat.9 »Doch können Benimmregeln ansteckend wirken? In anderen Worten, können habituelle Begrüßungen eine dauerhafte Praxis der Gastfreundschaft sichern?«10 Es werden auch die Risiken dieses Projektes angerissen, vor allem die Sorge, dass Höflichkeit als Kunstwerk eben künstlich und berechnend sei. Dies würde echte Gastfreundschaft zunichte machen. Außerdem zeige sich, dass Freundlichkeit auch eine Strategie totalitärer Systeme sei.11 »Das ist wahrscheinlich der Grund für unseren Argwohn, wenn wir mit einem Lächeln und Anerkennung begrüßt würden. Was könnte die lächelnde Person, die uns die Tür aufhält, möglicherweise von uns wollen?«12 In der Notiz Das Begrüßungskomitee berichtet… finden sich kurze Informationen zu Personen, die mit der Thematik der Höflichkeit und des sozialen Miteinanders assoziiert werden. Darunter findet sich auch bei Rirkrit Tiravanija ein Hinweis auf die Relationale Ästhetik: Rirkrit Tiravanija »schuf Projekte, in deren Mittelpunkt Geselligkeit und soziales Miteinander standen. Was würde mit der Relationalen Ästhetik passieren, wenn ein Publikum an Sozialangst leidet?«13 Durch die Einwirkung Ana Prvackis – möglicherweise unterstützt durch ein Performance-Training – werden die Worldly Companions in ein künstlerisches Projekt der Höflichkeit eingegliedert, das sich selbst in Beziehung zur Relationalen Ästhetik versteht. 7 | W. Trunk: In Aufbruchstimmung, o.S. 8 | C. Christov-Bakargiev zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 63. 9 | Vgl. A. Prvacki/I. Aristarkhova: Das Begrüßungskomitee, S. 14, BdB. S. 325. 10 | Ebd., S. 17, BdB. S. 326. 11 | Vgl. ebd., S. 19, BdB. S. 327. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 8, BdB. S. 329.
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Kunstvermittlung
Diese Perspektivierung auf den Führungsbetrieb einer Ausstellung als Kunstwerk erscheint euphorisch, tatsächlich ermöglicht sie aber eine kritische Untersuchung im Vergleich zu partizipatorischen Projekten und aktuellen Entwicklungen in der Performancekunst: Claire Bishop untersucht performative Projekte, unter anderem von Tino Sehgal, die sie als Hybride zwischen Skulptur und Video beschreibt, die sich durch die ständige Wiederholung gegebener Anordnungen ergibt und die sie als ›Endurance-Art‹ bezeichnet: »Diese Mischform scheint notwendig geworden zu sein, um Performances zu einem Format der Dauer zu verhelfen, welches sich wiederum aus ihrer Anpassung an die Zeitstruktur der Ausstellung ergibt.«14 Sie kommt in Bezug auf Private Moment (2015) von Davis Levine zu einer interessanten Erkenntnis: »Je länger ich mir Private Moment ansah, desto mehr schien es mir um die Arbeit, die Ausdauer und Unsichtbarkeit der Performer zu gehen. Schlenderte man weiter durch den Park, verschwand die Performance im Hintergrund und wurde zum Teil des Ambiente, das sie für die meisten Besucher des Central Park ohnehin war.«15 Diese Beschreibung lässt sich mit der Aufgabe der Worldly Companions und deren Wirkung innerhalb der Ausstellung durchaus vergleichen. Claire Bishop zeichnet die Entwicklungen dieser ›deligierten Performances‹ und das ›Prinzip der Ereignis-Partitur‹ nach, die sich innerhalb einer Erlebnisökonomie vor allem Gruppierungen von Laien bedienten, die eine ›authentische gesellschaftliche Gruppe repräsentierten‹.16 Diese Formulierungen sind an die Terminologie der dOCUMENTA (13) direkt anschlussfähig. »Es hat sich eine ganze Unterklasse von Darstellern entwickelt, die sich auf die Umsetzung outgesourcter Performances anderer Künstler spezialisiert hat und in der mit Verträgen gearbeitet wird, die zwar nicht ganz komplett auf Zuruf funktionieren, aber doch in jedem Fall kurzfristig sind und keinerlei Sozialleistungen abdecken. […] Wurden deligierte Performances heftig dafür kritisiert, gesellschaftliche Gruppen zu Objekten zu machen (mit dem Hauptkritikpunkt, dass die Künstler es versäumten, den Darstellern eine ›Stimme‹ zu geben), setzen sich die jüngsten Formen zeitgenössischer Performance hingegen eher dem Vorwurf aus, die persönlichen Geschichten und sprachlichen Kapazitäten der Beteiligten auszubeuten.« 17
Die Worldly Companions und deren jeweils eigenen Wissensgebiete lassen sich somit ohne Weiteres als Material verstehen, durch die sich ein groß angelegtes relationales Kunstprojekt manifestiert. Allerdings gehören sie nicht der ›Unterklasse von Darstellern an‹, die sich auf solche Projekte spezialisiert hat. Diese Ansicht lässt sich über eine Arbeit von Tino Sehgal verdeutlichen: This is Exchange (2003) nimmt deutlich Bezug auf kunstvermittlerische Tätigkeit und deren Personal. Die Besucherinnen und Besucher werden von einem weiblichen Interpreter direkt angesprochen: »Dies ist ein Kunstwerk von Tino Sehgal und heißt This is Exchange. Das Werk ist ein Angebot, das ich Ihnen machen möchte. Sie können einen Teil ihres Eintrittgeldes zurückbekommen, wenn Sie mir ihre Meinung zum Thema Marktwirtschaft sagen und sich auf
14 | C. Bishop: Black Box, S. 1. 15 | Ebd. 16 | Vgl. ebd., S. 2. 17 | Ebd.
Choreografie als delegierte Performance
ein Gespräch einlassen. Möchten Sie das Angebot annehmen?«18 Im Falle der Worldly Companions wäre – ebenso wie bei Tino Sehgal – die Kunstvermittlung weder Zweck noch Methode, sondern gewissermaßen nur Inszenierung, um subversiv ein anderes Anliegen, den Geisteszustand, zu reproduzieren. Dabei liegt die Subversion allerdings nicht auf Seiten der Interpreter, sondern auf der der Choreografierenden: Die Autorschaft dieses Projekts ist multipel, schließt möglicherweise über die Choreografie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) ein, lässt sich aber vor allem deutlich zu den Anliegen Carolyn Christov-Bakargievs, Widerstand zu leisten, zurückverfolgen. »Für einen solchen Austausch auf Basis einer multiplen Autorschaft Formen zu entwickeln, gehört in den Aufgabenbereich […] einer Kunstvermittlung, die sich nicht in Dienstleistung und Transport von vordefinierten Inhalten erschöpft, sondern die beteiligten Positionen dieser multiplen Autorschaft in einen offenen Dialog bringt.«19 Dies erfordert offensichtlich eine gewisse Professionalisierung. Es müssen, wenn man dieses Projekt als Kunstwerk betrachtet, ein Großteil der positiven Assoziationen der Begriffe ›Partizipation‹ und ›Relationaler Ästhetik‹ abgelehnt werden, da die beteiligten Personen nicht umfassend darüber Kenntnis erhalten, dass sie Werkzeuge einer – wenn auch nur leicht – verschobenen Agenda sind und somit eben nicht eigenständig handeln, sondern eine deligierte Performance innerhalb eines Scripted Space vollziehen. Gerade in diesem Zusammenhang wird die relative Unbedarftheit, die mit der mangelnden Erfahrung einhergeht, zum kritischen Faktor: die offensichtlichen organisatorischen und persönlichen Konflikte wurden für viele Worldly Companions erst im Laufe des Experiments deutlich. Dies beschreibt auch Sumiko Morino in Bezug auf die School of Worldly Companions: »Bei der Schulung schwang bei – ich würde sagen – Laien im Umgang mit Gruppen die Erwartung mit, dass man Leuten in zwei Stunden etwas Lebensveränderndes, etwas Revolutionäres mitgeben kann. Aber das ist natürlich illusorisch.«20 Sie beschreibt die Vorbereitung als nicht ausreichend und das ganze Projekt als ›Sozial-Experiment‹.21 Diese Formulierung impliziert auch, dass die Probandinnen und Probanden des Experiments nicht vollumfänglich darüber informiert sind: »Was bedeutet es, Leuten die Illusionen zu vermitteln, dazuzugehören und sich gleichzeitig die Entscheidung vorzubehalten, wie weit das Dazugehören geht? Diese Fragen werden umso virulenter, je leichter instrumentalisierbar die zur Partizipation Eingeladenen sind. Je weniger diese über die vom Museum akkumulierten Kapitalsorten und deren Nutzungsmöglichkeiten wissen, je mehr ihnen also ein bürgerlicher Bildungshintergrund fehlt, desto weniger kann davon ausgegangen werden, dass sich Partizipation im Sinne von Mitbestimmung und Mitgestaltung quasi von selbst einstellt. Je mehr seitens der Museen postuliert wird, sie sei ein Ort ›für alle‹, desto weniger ist es möglich, Ungleichheiten explizit zu benennen; bewusst mit Ihnen um- und gegen sie anzugehen. Das berühmte ›für alle‹ stellt auf diese Weise Ungleichheit her, anstatt sie zu beseitigen.« 22 18 | Text von This is Exchange (2003) von Tino Sehgal zitiert nach K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 19 | B. Florenz: Multiple Autorschaft und Kunstvermittlung, S. 25. 20 | A. Bauer: Weltgewandt in Kassel, o.S. 21 | Ebd. 22 | C. Mörsch: Mehr Werte, S. 10f.
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Kunstvermittlung
Es treffen in diesem Zusammenhang nicht nur verschiedene persönliche Perspektiven und Bildungsgrade aufeinander, sondern »auch unterschiedliche Weltsichten, Prioritäten, Kommunikationsroutinen und ästhetische Wahrnehmung. Vor allem aber handelt es sich in der Regel um eine Allianz zwischen ungleichen Partnerinnen, die über unterschiedlich viel Macht in getrennten gesellschaftlichen Sphären verfügen.«23 Dieses Machtgefälle ist bei dem Verhältnis zwischen dOCUMENTA (13), dem Dienstleister Avantgarde und den Personen, die als Worldly Companions tätig wurden, ein besonders deutlich zu Gunsten der Institutionen verlagertes, da die Worldly Companions im Vorfeld keine gemeinsame Gruppierung darstellten, sondern erst durch die dOCUMENTA (13) geformt wurden. Christian Kravagna stellt in Bezug auf Partizipation im Rahmen von Kunst fest, dass das Scheitern der angestrebten Demokratisierung bereits durch die »Autorisierung des Laien durch den Künstler vorgezeichnet ist«24, eine Beobachtung die – trotz des entschiedenen Vermeiden des Begriffs der ›Laien-Vermittler‹ zugunsten von Worldly Companion – nahtlos auf die Maybe Education übertragbar ist. Diese in der Struktur angelegten Konflikte erhalten im Falle der dOCUMENTA (13) im Vergleich zu anderen Ausstellungen zusätzliche Brisanz, da sie sich genau in den inhaltlichen Ebenen ereigneten, die innerhalb des Geisteszustand kritisiert werden.
23 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 3. 24 | C. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 32.
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Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung
Die Überschrift dieses Abschnitts verweist direkt auf den Untertitel der durch Carmen Mörsch herausgegebenen Begleitforschung zur documenta 12.1 Sie beschreibt damit ein Spannungsverhältnis, durch dass sich Kunstvermittlung generell auszeichnet, da sie explizit auf eine Arbeit für und mit dem Publikum ausgerichtet ist und – ohne diese Position abzulehnen – durch eine kritische Praxis ergänzt wird, die die Institution, die eigene Rolle sowie Verfahren und Ziele dieser Arbeit in Frage stellt. Nur in diesem ›Dazwischen‹ kann sie ihr volles Potential entfalten. Darüber hinaus verweist dieser Titel aber auch auf ein Spannungsfeld, das nicht zwingend bestehen müsste, aber dennoch der Normalzustand zu sein scheint: Hier ist es die Differenz zwischen den eigenen Anliegen, denen der Institution und den strukturellen Bedingungen innerhalb selbiger. Kunstvermittlung braucht physische und intellektuelle Freiräume, weitere Ressourcen und Befugnisse, die in der Regel nur in Teilen zur Verfügung stehen. Sie ist darüber hinaus trotz eines hohen Maß an Idealismus in finanzielle Strukturen eingebunden. Der bereits zitierte Bericht von Manfred Langlotz zur documenta 7 zeigt verschiedene Missstände auf, die durch eine Professionalisierung auf Seiten der documenta reduziert werden sollten: mangelhafte Vorbereitung, keine Ansprechperson, keine Kontaktadresse, zu große Gruppen, kein eigener Raum.2 Diese Professionalisierung wird durch die documenta X und Documenta11 deutlich vorangetrieben, was sich insbesondere in einer umfangreichen Ausbildungsphase und der Zusammenarbeit mit einem Dienstleister für die Organisation ausdrückt. Diese neue Konstellation scheint allerdings wenige der bestehenden Missstände zu korrigieren und stattdessen neue zu produzieren. Die Vermittlerinnen und Vermittler der Documenta11 schildern in einer E-Mail an den damaligen Dienstleister eine Reihe von Konflikten: Das Honorar von 37 Euro die Stunde wird in Bezug auf die umfangreiche Vorbereitung, ausgefallene und überbuchte Touren, zu viele eingestellte Guides, mangelhaftes Marketing und fehlenden Versicherungsschutz als zu gering eingestuft. Es werden Fremdführungen und Personen zugelassen, die die Ausbildung zum Guide nicht absolviert haben. Es sei deutlich, dass das gesamte wirtschaftliche Risiko bei den Guides liegt. Darüber hinaus seien Rechnungen nicht fristgerecht bezahlt worden. 1 | Vgl. C. Mörsch: Kunstvermittlung. 2 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: d7 Mappe 44c: d7 – Erfahrungsbericht von Manfred Langlotz.
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Kunstvermittlung
Es wird das Fehlen von Arbeitsräumen und das Ausbleiben vereinbarter Treffen der Guides mit der Organisation angemahnt. Abschließend wird fehlende Transparenz bemängelt.3 Zur documenta 12 konnte keine entsprechend scharfe Kritik aufgefunden werden. Viele der aufgeführten Punkte lassen sich allerdings dennoch aus verschiedenen Beiträgen der Begleitforschung herauslesen. Zwei Aspekte scheinen wesentlich dafür zu sein, dass es zu keinem größeren Konflikt kam: Eine gewisse finanzielle Sicherheit aufgrund des überschaubaren Teams von 70 Vermittlerinnen und Vermittlern sowie eines garantierten Mindestverdienstes einerseits und umfangreiche Kommunikation untereinander andererseits.4 Dennoch gab es auch zur documenta 12 eine Ablehnung des Dienstleisters, die allerdings auf Seiten der Künstlerischen Leitung verortet war. Ruth Noack äußert sich zu einer Diskussion über die Organisation Vermitlung der documenta 14 auf Facebook: »Da steckt ganz viel System dahinter und wenig Handlungsspielraum von Adam [Szymczyk] und Sepake Angiama. Das ist die Rache der CEO’s die ansonsten nicht viel zu sagen haben. Bei der Zeit wo diese Dinge entschieden werden, bist Du schon erschöpft und zermürbt und es gibt scheinbar keinen anderen Ausweg. Wir wollten damals auf der d12 Führungen umsonst machen und die Guides ordentlich anstellen. Und NICHT mit xhibit [sic!] arbeiten. (Die kamen dann durch die Hintertür doch, weil sie die Buchungssoftware hatten.) Das hätte nicht weniger oder mehr gekostet, aber Vorauskasse der Institution erfordert. Ging bis zu Hortensia Voelkers [sic!], die den Antrag kurzfristig ablehnte und dann wieder runter. Carmen Mörsch und Ullrich Schotter [sic!] haben allerdings ihre Leute selbst ausgesucht. So viel mehr Guides als früher gibt es allerdings, weil die Besucher_innenzahl auch deutlich gestiegen ist.« 5
Unabhängig von dem hier geschilderten Konzept und der Darstellung der Gründe für dessen Nicht-Erfüllung wird deutlich, dass finanzielle Überlegungen dazu führen, dass gewisse professionalisierte Strukturen auch entgegen dem Willen der Künstlerischen Leitung durchgesetzt werden. Ähnlich scheint es bei der dOCUMENTA (13) gewesen zu sein.6 Es wurde an der Trennung zwischen inhaltlicher und organisatorischer Betreuung festgehalten und ein anderer Dienstleister beauftragt. Im Wissen um die Probleme vergangener documenta-Ausstellungen wurde die Hoffnung geäußert, dass dieser von der dOCUMENTA (13) lernen könnte, gleichsam vom Geisteszustand ›infiziert‹ werden würde.7 Julia Moritz greift das gleiche Argument wie Oliver Marchart zur Documenta11 auf, dass die Maybe Education nicht in der Lage gewesen wäre, die Logistik zu 3 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: d12 Mappe 169: Schreiben der Guides an Johannes Krug (Geschäftsführer x:hibit), Okwui Enwezor, Bernd Leifeld, Markus Müller mit Unter schriftenliste (E-Mail vom 05.08.2002). 4 | Vgl. K. Nölle: Routine haben, S. 177. 5 | Öffentlicher Kommentar von R. Noack auf Facebook vom 30.01.2017. 6 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 04.08.2012). 7 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEG MEPP«: Minutes: Maybe Education Group, 7th Meeting.
Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung
übernehmen.8 Tatsächlich wäre dies natürlich zu leisten, sofern man selbst entsprechendes Personal einstellt, d.h. als Institution in Vorkasse geht. Die ersten öffentlichen Konflikte während der Ausstellung kreisen um die Punkte Gehalt und Auslastung, welche sich durch einen Fehler im Buchungssystem für einige Worldly Companions verschärfen, da sie nicht gebucht wurden.9 »Jetzt werden Klagen laut, dass es nicht genug Arbeit für die Besucherführer gibt. Einige hatten sich darauf verlassen, mit den Führungen im Sommer ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Pro Führung gibt es 70 EUR. Wie die HNA aus zuverlässiger Quelle erfuhr, gibt es besonders für die Führer, die Kulturbahnhof und Aue bedienen, nicht genug Nachfrage. Deshalb wurden Betroffene umgeschult, um auch Gruppen im Fridericianum führen zu können. Zu Beginn wurden die Besucherbegleiter gefragt, wie viele Führungen pro Woche sie machen möchten: zwei, fünf oder zwölf. Bei denjenigen, die so viel arbeiten wollten wie möglich, bleibt die tatsächliche Auslastung offenbar häufig um 50 Prozent unter der Erwartung. ›Viele haben mit mehr gerechnet‹, sagt ein Insider. Eine Zusage einer bestimmten Minimalauslastung habe es allerdings nicht gegeben. ›Das finanzielle Risiko wird komplett auf die Worldly Companions abgewälzt‹, sagt der Mitarbeiter aus dem documenta-Umfeld. Öffentlich traut sich keiner der Besucherführer Tacheles zu reden – offenbar aus Sorge, dann keine Aufträge mehr zu bekommen. Auf Anfrage heißt es aus der documenta-Pressestelle, die Führungen ›erfreuen sich äußerster Beliebtheit‹.« 10
Der Umstand, dass es für die Worldly Companions kein Außen für ihre kritische Position gab, wirkte zunächst verunsichernd, zumal berechtigte Sorgen um wirtschaftliche und sanktionierende Folgen bestanden. Diese Position ist für kritische Kunstvermittlung allerdings genuin und es ist notwendig, die eigene kritische Praxis voranzutreiben, auch wenn sie gegen oder quer zu Institutionen verläuft. Dennoch muss zunächst betont werden, dass mit 35 Euro die Stunde sich die Situation gegenüber der Documenta11 und ohne garantiertes Mindesteinkommen gegenüber der documenta 12 verschlechtert hat. Inflation und steigende Gehälter innerhalb einer Dekade werden darüber hinaus außer Acht gelassen. Besondere Brisanz erhält diese Stagnation, wenn man sie mit der Anzahl unter Vertrag genommener Vermittlerinnen und Vermittlern vergleicht: Ursprünglich sollten zur dOCUMENTA (13) 100 Worldly Companions eingestellt werden.11 Beruft man sich, wie Ruth Noack in obigem Kommentar, auf die Besucherzahlen der documenta 12 und den Eindruck der damaligen Kunstvermittlerinnen und -vermittler, überbelastet gewesen zu sein, erscheint diese Zielvorstellung äußerst angemessen (85 Personen bei gleichbleibendem Verhältnis zur Besucherzahl). Tatsächlich angestellt wurden über 180 Worldly Companions, somit etwa doppelt so viele, wie angekündigt und rechnerisch benötigt. Eine Auslastung von 50% erscheint in Bezug auf Planungssicherheit intendiert. Dies resultiert einerseits aus Schwierigkeiten 8 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 04.08.2012). 9 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 36. 10 | K. Rudolph: Kunst-Führer wollen mehr, o.S. 11 | Vgl. http://d13.documenta.de/de/#/de/no_cache/arbeiten/offene-ausschreibung/?sword_ list%5B%5D=ausschreibung vom 24.03.2017.
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Kunstvermittlung
der Maybe Education, interessante Bewerberinnen und Bewerber abzulehnen, andererseits aber auch auf Drängen von Avantgarde.12 Dieser Überschuss ist schon während der School of Worldly Companions sowohl für einige Worldly Companions als auch die Maybe Education Group absehbar. Er wird allerdings möglichst wenig kommentiert bzw. kommuniziert, um Panik unter den Worldly Companions zu vermeiden.13 Zu diesem Zeitpunkt sind etwa 1000 dTOURS verkauft und damit 15% von dem, was laut Avantgarde verkauft werden muss, um wirtschaftlich zu sein. Julia Moritz befindet, dass dringend Werbung für nicht-ortsgebundene dTOURS nötig sei, da diese für die Maybe Education ›absolut entscheidend‹ sind.14 Es werden erneut mangelnde Transparenz, andere Organisationsformen und ein Basiseinkommen diskutiert. Diese werden allerdings nicht durchgesetzt und die Worldly Companions trotz eines gegenteiligen Anspruchs nicht umfassend eingebunden und über die zu diesem Zeitpunkt schwachen Buchungen nicht informiert.15 Das hier umrissene finanzielle Risiko traf nicht alle Worldly Companions gleich, sondern wurde nach Darstellung von Julia Moritz durch den Dienstleister zugunsten der kunstwissenschaftlich und kunstvermittlerisch ausgebildeten Personen verlagert.16 Dies führte nicht nur zu einer finanziellen und strukturellen Benachteiligung Einzelner, sondern verhält sich auch direkt konträr zu Konzept der Maybe Education: »Because of course there was critique and there was frustration and there were professional visitors, who just didn’t want to talk to the car mechanic or the psychiatrist or the geologist, who were fantastic people, but of course, you know there was a big risk in a certain frustration evolved to that the company [Avantgarde] didn’t always want to take. […], which mainly contributed to the impression that after all there was a considerable number of tours being done by professionally trained people.« 17
Die wirtschaftliche Situation verknüpfte sich im Laufe der dOCUMENTA (13) mit einer steigenden Frustration in Bezug auf die erwartete Arbeitshaltung einerseits und die fehlende Kommunikation mit Mitgliedern der dOCUMENTA (13) anderseits. Ein geplantes Treffen der School for Worldly Companions während der Ausstellungszeit fand nicht statt und auch sonst waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Maybe Education kaum ansprechbar, da sie mit anderen Projekten ausgelastet waren. Weiterhin kritisiert wurden das Fernbleiben Carolyn Christov-Bakargievs bei ihrer geplanten Ansprache zu Ausstellungsbeginn, die Nichtnennung der Worldly Companions in den offiziellen Publikationen der dOCUMENTA (13) sowie eine als ablehnend aufgenommene Äuße-
12 | Persönliche Kommunikation mit J. Moritz. Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEG MEPP«: Minutes: Maybe Education Group, 7th Meeting. 13 | Vgl. ebd. 14 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »Maybe Education projects: Communications dOCUMENTA (13)«: Julia Moritz: urgent: communication needs dtours (E-Mail vom 22.03.2012). 15 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEG MEPP«: Minutes: Maybe Education Group, 7th Meeting. 16 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 29. 17 | J. Moritz zitiert nach ebd.
Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung
rung Carolyn Christov-Bakargievs zur Maybe Education.18 Diese Kritikpunkte greifen direkt ineinander. Zunächst muss festgehalten werden, dass zur documenta 12 die Vermittlerinnen und Vermittler im Katalog aufgeführt wurden.19 Dies ist sicherlich nicht üblich und drückt auch deren besondere Anerkennung aus. Zur dOCUMENTA (13) werden im Buch der Bücher, im Logbuch, im Begleitbuch und im Kalender der Maybe Education Was/Wann jeweils über mehrere Seiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, inkl. Praktikumsstellen, Sicherheitspersonal und Gartenmanagement, verzeichnet.20 Die Nicht-Nennung in Was/Wann ist besonders augenfällig, da es sich um die offizielle Publikation der Maybe Education handelt und sich vor und nach der Nennung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fünf linierte Seiten für Notizen befinden. »Diese selektive Auswahl der namentlich genannten Mitarbeiter/innen wurde damit argumentiert, dass einige in der dOCUMENTA (13)-Struktur nicht oder kaum bezahlt wurden. Die mangelnde finanzielle Entlohnung wurde mit dem symbolischen Kapital der namentlichen Nennung in den Katalogen aufgewogen. Da die Kunstvermittler/ innen für ihre Arbeit bezahlt wurden, schien eine Nennung nicht mehr notwendig. Das symbolische Kapital blieb ihnen verwehrt.« 21
Es entstand in dieser Situation der Eindruck, dass unterschiedliche Gruppierungen (insbesondere Praktikantenstellen, Aufsichtspersonal und studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Kunstprojekte) gegeneinander ausgespielt werden sollten, und die Einwände der Worldly Companions, dass ihre Bezahlung nicht den Umständen angemessen sei, nicht angenommen wurden. Zur Schlichtung dieses Aspektes wurden Flyer mit den Namen aller Worldly Companions produziert (vgl. Abb. 8, S. 235) und konnten in den letzten Tagen der dOCUMENTA (13) an Besucherinnen und Besucher verteilt werden. Im Gegensatz zur documenta 12, die ihre Vermittlungsabteilung und den documenta-Beirat in der documenta-Halle positionierte und damit innerhalb der äußerlich wahrgenommenen Struktur der Ausstellung, stellte die dOCUMENTA (13) mit dem Ständehaus ein eigenes Gebäude dafür zur Verfügung. Dies kann sowohl als Stärkung der Position verstanden werden, als auch als Marginalisierung: Da es sich außerhalb der Hauptschauplätze befand, gab es neben der dort stattfindenden Veranstaltungen kaum eine Präsentationsfläche für die Anliegen der Maybe Education und die der einzelnen Worldly Companions. In Anbetracht dieser Irritation forderten die Worldly Companions ein umfangreiches Bekenntnis der Künstlerischen Leitung zu ihrer Arbeit und Anerkennung als Teil der Ausstellung und sahen sich durch eine Aussage von Carolyn Christov-Bakargiev während einer öffentlichen Veranstaltung der Maybe Education in ihrem Gefühl einer zweitrangigen Behandlung bestätigt. Im Zuge dieses Gespräches sagte Carolyn Chris-
18 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 04.08.2012). 19 | Vgl. documenta: documenta 12, S. 400. 20 | Vgl. documenta: Das Buch der Bücher, S. 800-804. Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 305 310. Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 522-525. Vgl. documenta: Was/Wann, S. 457-459. 21 | F. Bäckmann/S. Hossein: Wie kann ich, S. 184f.
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Kunstvermittlung
tov-Bakargiev, dass die dTOURS nicht Teil der Ausstellung seien. Sie stellte dar, dass sie von Beginn an gegen Führungen durch die Ausstellung war und diesem Service nur auf Drängen der Geschäftsleitung zustimmte. Diese Aussagen wurden in Folge von Julia Moritz und Jakob Schillinger relativiert. Carolyn Christov-Bakargiev lehne nicht das Konzept der Worldly Companions ab. Das Konzept wurde entwickelt um sich gegen einen herkömmlichen Führungsbetrieb von Museen oder anderen Ausstellungsformaten zu wenden. Was sie interessiere, sei das Zusammentreffen ›of different knowledges‹. Rene Gabri und Ayreen Anastas brachten daraufhin noch einmal ihren schon vor zwei Jahren, bei der Konzeption der dTOURS eingebrachten Vorschlag auf, eine selbstorganisierte Kooperative zu gründen. Dieser Vorschlag wurde nie weiter verfolgt.22 Ob Carolyn Christov-Bakargiev tatsächlich nur klassische Führungsbetriebe oder doch auch die Arbeit der Worldly Companions ablehnte, konnte zunächst nicht geklärt werden. Allerdings fand durch den plötzlich offen ausgetragenen Konflikt zwischen den Worldly Companions, Carolyn Christov-Bakargiev und dem Dienstleister eine Dynamisierung statt, die Öffentlichkeit produzierte: »Wo Konflikt, oder genauer: Antagonismus ist, dort ist Öffentlichkeit, und wo er verschwindet, verschwindet Öffentlichkeit mit ihm. […] Erst in dem Moment, in dem ein Konflikt ausgetragen wird, entsteht über dessen Austragung eine Öffentlichkeit, in der verschiedene Positionen aufeinanderprallen und gerade so in Kontakt treten.«23 Durch diesen Konflikt hat sich in der Gruppierung der Worldly Companions ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Politisierung eingestellt, die nicht durch die School for Worldly Companions oder das gemeinsame Arbeiten produziert werden konnten. Dies rechtfertigt nicht die Missstände, gibt ihnen aber die Möglichkeit als politisch, kritisch und daher wertig verstanden zu werden. In Folge stellten einige Worldly Companions Kontakt zu Ayreen Anastas und Rene Gabri her und es wurde ein Commoning in der Turnhalle von AND AND AND abgehalten. Darunter wird von AND AND AND ein Treffen mit dem Bestreben verstanden, »Fragen, die in unterschiedlichen Teilen der Welt auftauchen, miteinander zu verknüpfen und zu verweben und sie während der Ausstellungsdauer in Kassel zu aktivieren. Diese Fragen entstehen nicht einfach im luftleeren Raum. Sie entstehen in der Region, vor Ort, und in manchen Fällen müssen die Samen erst gesät werden, damit sich daraus Ideen entwicklen und Beziehungen entstehen können, damit eine Ebene der Beständigkeit wachsen kann. Dies soll in einem nicht-autoritären und nicht-auktorialen Raum erfolgen, der nicht durch das Wirken einer Künstlerin, eines Künstlers oder eines einzelnen entstehen kann.« 24
Während diesen Commonings wurden die Missstände erneut besprochen und nach Lösungen gesucht. Auf dem ersten Treffen entstand die Konzeption eines Streiks, der sich nach und nach zu Aktionstagen ausformte. Auf einem zweiten Treffen, welches auch über den Verteiler der Maybe Education angekündigt wurde und an dem Carolyn
22 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 04.08.2012). 23 | O. Marchart: There is a Crack, S. 342. 24 | documenta: Was/Wann, S. 135.
Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung
Christov-Bakargiev teilnahm, um ihre Sicht darzulegten, wurden diese Planungen konkretisiert: Unter dem Titel Tag der Alternativen sollten verschiedene Aktivitäten die gemeinsamen Anliegen vermitteln. Zunächst wurde beschlossen, alle gebuchten dTOURS ordnungsgemäß durchzuführen und somit von einem eigentlichen Streik abzusehen und stattdessen zusätzliche und unentgeltliche dTOURS durchzuführen: »Dies kann als ein Akt der Großzügigkeit verstanden werden aber ebenso als eine Überspitzung von Strukturen der (Selbst-)ausbeutung. Es kann als eine Aktion verstanden werden, die den Markt mit einer Angebotsschwemme verstören möchte.«25 Darüber hinaus wurden etliche von konkreten dTOURS unabhängige Initiativen geplant: Diskussionen über die Maybe Education und kritische Kunstvermittlung im Allgemeinen; Thematisierung von Arbeit in prekären Bedingungen und Solidarisierung mit anderen Gruppen, vor allem den Service-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, dem Aufsichtspersonal und den Studierenden, die im SANATORIUM (2012) von Pedro Reyes arbeiteten und tatsächlich streikten (Auch dabei ging es zum einen um unbezahltes Arbeiten, zum anderen um die tatsächliche Konfrontation mit psychischen Erkrankungen. Das Gebäude wurde geschlossen und mit Protestschildern versehen: ›WE WILL $AFE ¥OU‹ , ›ART IS AN EXAMPLE FOR CAPITALISM‹ oder ›WORKWORKWORKWORKWORKWORKWORKWORKWORK…‹ 26); Kooperationen mit Occupy Germany bzw. dOCCUPY, der Kulturfabrik Salzmann, dem Offenen Kanal Kassel, dem Aktionsbündnis Rüstungsindustrie und verschiedenen anderen Vereinen; Durchführung eines Workshops zur Erarbeitung von Methoden, diese Themen während der dTOURS an bestimmten Kunstwerken zu thematisieren, und eine daran anschließende, selbstorganisierte Schulung, die für alle Worldly Companions offen stehen sollte; Schließlich wurde die Bildung eines Vereins oder ähnlichen Zusammenschlusses beschlossen, um das Wissen über die ›institutionelle Amnesie‹ zwischen zwei documenta-Ausstellungen zu bewahren. Es wurde ein Flugblatt entworfen, welches versucht, die Situation aus Sicht der beteiligten Worldly Companions darzustellen: »Die uns vermittelten Konzeptionen erwiesen sich als wenig praxistauglich. Die Companions wurden vielmehr in einen hektischen, wenig innovativen Tourenbetrieb eingespannt, der ganz nach Effizienzkriterien organisiert ist. Zu große Gruppen werden in möglichst schnellem Rhythmus durch vorgegebene Orte geführt. Besonders befremdet uns dabei, dass die dOCUMENTA selbst nicht an ihre Ideen zu glauben scheint. Die Ausstellung zelebriert fröhliche Kapitalismuskritik, Künstler aus der Occupy-Bewegung werden eingeladen. Globale Ungerechtigkeit wird angeprangert, ein alternatives Währungssystem propagiert (Time Bank). Da mutet es absurd an, dass auf der anderen Seite gerade die dTOURS der dOCUMENTA wie beliebige kapitalistische Wirtschaftsgüter angepriesen, vermarktet, verkauft und abgewickelt werden. Wir Companions werden in diesem Prozess zu austauschbaren Dienstleistern, die funktionieren, sich verfügbar halten müssen, keinerlei Anspruch auf Beschäftigung oder gar soziale Absicherung haben. Anonyme Dispositionstools im Internet teilen uns Touren zu – oder auch nicht. Viele Touren werden nur wenige Stunden vorher verteilt – wer nicht ständig per Handy erreichbar ist, hat keine Chance.« 27
25 | E-Mail: Zusammenfassung und Kommentar, Autorschaft bekannt. Privater Bestand TP. 26 | Vgl. F. Bäckmann/S. Hossein: Wie kann ich, S. 182f. 27 | Flugblatt: Aufstand der Begleiter, Autorschaft bekannt. Privater Bestand TP.
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Kunstvermittlung
Es wurde besonderer Wert darauf gelegt, darzulegen, warum diese an sich nicht unübliche Situation auf der dOCUMENTA (13) als besonders kritisch zu bewerten sei: »Verantwortlich dafür ist der Umstand, dass man ausgerechnet eine Vermarktungsagentur mit der Durchführung der dTOURS betraut hat, die sonst für Konzerne wie BMW, Porsche, Nike und Pall Mall arbeitet. Kein Wunder, dass dieser Dienstleister die Touren so rentabel und effizient wie möglich gestaltet – und sich dabei nicht um hehre Ansprüche schert. So wurden statt der ursprünglich vorgesehenen 100 Companions über 170 verpflichtet – um über eine genügende Reserve zu verfügen. Verträge wurden ausgehändigt, die uns sämtliche Risiken überlassen: kein Mindestlohn, keine Garantie, auch nur eine einzige Tour gestalten zu können, keinerlei Sozialleistungen. Die Companions treten dabei als scheinselbständige Unternehmer auf. Solche bösen ›Formalitäten‹ überließ die idealistische dOCUMENTA dabei ganz dem kapitalistischen Dienstleister. Das Ergebnis ist, dass die meisten Companions nur halb so viele Touren durchführen können, wie ihnen ursprünglich (natürlich unverbindlich) zugesagt wurden. […] Wirklich tragisch aber ist, dass die kapitalistische Gestaltung auch die Inhalte und den Ablauf der Touren bestimmt. Dabei bleibt von den ursprünglichen Ideen nicht viel übrig – die Touren werden zu klassischen ›Führungen‹ durch überfüllte Ausstellungsorte. Um diese möglichst rentabel zu gestalten, werden sie grundsätzlich mit 17 Besuchern (im wahrsten Sinne) durchgeführt. […] Dies torpediert das Konzept, persönliche Perspektiven auszutauschen, sich die Kunst gemeinsam zu erschließen.« 28
Die Worldly Companions bekennen sich sowohl mit der Konzeption des Tag der Alternativen als auch mit diesem Flugblatt deutlich zu den Leitlinien der Maybe Education und der dOCUMENTA (13) und richten ihre Kritik vor allem gegen den Dienstleister. Darin werden sie sowohl von Carolyn Christov-Bakargiev als auch Julia Moritz bekräftigt, die die Zusammenarbeit als großen Fehler beschreiben. Julia Moritz bestätigte die Schwierigkeit der Zusammenarbeit mit dem Dienstleister, merkte allerdings an, dass die Logistik der dTOURS von Seiten der dOCUMENTA (13) nicht möglich gewesen sei.29 Diese Solidarisierung stellt sich, obwohl sicherlich authentisch, auch als erfolgreiche Befriedungsstrategie dar und leitet die teilweise destruktiven Energien in ein für die Institution dOCUMENTA (13) produktives Engagement der Worldly Companions um. Mit Blick zurück auf die Zielsetzung der School for Worldly Companions, einen Raum der kritischen Diskussion zu etablieren, und die Tatsache, dass die wirtschaftliche Situation möglichst wenig thematisiert wurde, um Panik unter den Worldly Companions zu vermeiden, und stattdessen in mehrfacher Hinsicht an einem Gefühl des harmonischen Miteinander gearbeitet wurde, muss das Verhalten der Institutionen Maybe Education und dOCUMENTA (13) zumindest als Fahrlässigkeit bewertet werden – möglicherweise aber auch als vorsätzliche Unterlassung. Es war die bewusst produzierte ›fröhliche Grundstimmung‹, die das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Worldly Companions und zur dOCUMENTA (13) begünstigte, gleichzeitig aber
28 | Ebd. 29 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »d(13) MEPP_dTOURS SFWC_CONCEPT (+ PRINTED MATERIAL)«: Jakob Schillinger: Memo zum MEG Meeting/zur Gesprächsrunde am Mittwoch (E-Mail vom 04.08.2012).
Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung
kritische Kontexte verdeckte und die Betroffenen motiviert hielt.30 Diese Motivation schwand in Konfrontation mit der Realität eines Führungsbetriebes und dem Gefühl der Nicht-Anerkennung sukzessive und führte schließlich zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Konzept: »Oft verhindert ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe oder das Fehlen einer gemeinsamen Identität mit den KünstlerInnen bzw. InitiatorenInnen einen echten partizipatorischen Effekt.«31 Erst im Moment des Konflikts entstand ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich über eine gemeinsame politische Agenda definierte, mit der die Worldly Companions Position bezogen. Dieser Konflikt kam allerdings auch wieder zum Erliegen – und mit ihm verschwand die öffentliche Bewegung.32 Ob dies aufgrund einer Kapitulation, der Solidarisierung und damit einhergehenden Harmonisierung, dem bevorstehenden Ende der dOCUMENTA (13) oder an mangelndem Engagement lag, lässt sich nicht nachvollziehen: Das dritte Commoning war von erneuten Grundsatzdiskussionen gekennzeichnet, es fanden sich unter den anwesenden 16 Worldly Companions nur noch drei, die bereit waren, aktiv einzutreten.33 Dennoch ist das zeitweise Zustandekommen von Konflikt, vor allem in Anbetracht der sich abzeichnenden Tradition innerhalb der documenta-Geschichte und darüber hinaus, als wertvoll anzusehen.
30 | Vgl. S. Buchmann: (Kunst-)Kritik, S. 128. 31 | S. Milevska: Partizipatorische Kunst, o.S. 32 | Vgl. O. Marchart: There is a Crack, S. 243. 33 | Vgl. E-Mail: Aktuelle Infos zum Commoning, Autorschaft bekannt. Privater Bestand TP.
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Erfahrungsgeschichte
Den folgenden Abschnitt als Erfahrungsgeschichte zu bezeichnen, stellt weniger einen Wechsel der Perspektive dar, die im Umfang der gesamten vorliegenden Untersuchung auf eigene Erfahrungen zurückgreift, als denn einen Wechsel des untersuchten Gegenstandes. Nach der Darstellung der Entwicklung und Strukturen der Maybe Education und einer Vertiefung im Bereich der personellen Vermittlung durch die Worldly Companions soll dem gegenüber die Mikrogeschichte meiner eigenen Praxis gestellt werden. Diese kann weder stellvertretend noch als vorbildlich für die Maybe Education angesehen werden, sondern versteht sich als Teil einer Vielstimmigkeit, die die Überlegungen und Erlebnisse aller Worldly Companions und anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) einschließt. Diese werden teilweise, sofern publiziert, auch aufgegriffen. Diese Vorgehensweise begründet sich nicht nur aus einer sich langsam abzeichnenden Methodik der Untersuchung von Vermittlungspraxis, sondern auch aus der Konzeption der Maybe Education selbst, die die persönliche Perspektive ihrer Vermittlerinnen und Vermittler in das Zentrum rückte und damit gegen eine große Erzählung anarbeitete. Sowohl in meinen konzeptionellen Überlegungen eigener dTOURS im Vorfeld als auch in der Nachbetrachtung spielt diese Pendelbewegung eine entscheidende Rolle. Und auch wenn die Kunstwerke Anlass und Hauptinhalt der dTOURS sein sollten und waren, stellten sich einige der aus meiner Sicht interessantesten Situationen vor allem durch eine Offenlegung oder Veränderung der Strukturen der Institution und eingenommenen Rollen von Worldly Companion und Besucherinnen und Besuchern ein. Diese Fragestellungen bewegen sich deutlich innerhalb des dekonstruktiven Diskurses der Kunstvermittlung nach Carmen Mörsch. Es zeigte sich aber auch, dass eine strikt dekonstruktive Vermittlungspraxis weder im Rahmen eines professionellen Führungsbetriebs, noch der eigenen Energiereserven zu leisten war. Im Folgenden wird auf verschiedene Fragestellungen aus diesem Komplex und in Bezug auf einzelne Situationen innerhalb meiner dTOURS und Kunstwerke eingegangen.
Hinführung zur Realness Trotz der Ambition der Maybe Education, dass sich dTOURS nicht nur begrifflich, sondern vor allem auch in der Praxis von Ausstellungsführungen unterscheiden sollten, ist unzweifelbar, dass die Worldly Companions auf vielfältige Art und Weise führen mussten. Damit ist weniger eine bestimmte Route von einem Kunstwerk zum nächsten
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gemeint, als vielmehr die Organisation innerhalb des Ausstellungsbetriebes: Kontrolle von Eintrittskarten und dTOUR-Buchungen, Kontrolle von Gepäck und dessen Lagerung, das Auffinden bestimmter Örtlichkeiten wie Zugangspunkte oder Toiletten, Verantwortung gegenüber den Kunstwerken etc. Eine solche Doppelung innerhalb der Beziehungsstruktur führt zu Schwierigkeiten: Wie kann erwartet werden, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer dTOUR frei sprechen, wenn ein vermeintlich gleichberechtigtes Mitglied nicht nur über Handlungswissen verfügt, sondern dieses auch anwenden bzw. Fehlverhalten korrigieren muss? Dies verschärft sich in Konstellationen, in denen andere Machtstrukturen bestehen und auch eingehalten werden sollen, z.B. bei Schulgruppen in Begleitung von ihren Lehrerinnen und Lehrern. In der besonderen Positionierung der Worldly Companions, die in der Presse mehrfach als ›Laien‹ bezeichnet wurden, verschärfte sich dieser Konflikt insbesondere bei Besucherinnen und Besuchern, die sich selbst als mit Expertenwissen oder Autorität ausgestattet ansahen. Um dem zu begegnen, erschien es durchaus notwendig, das eigene Wissen offenzulegen und mitunter auch als symbolisches Kapital einzusetzen. Der Wunsch, beide Erwartungspole zu befriedigen, schloss sich für mich an den als unmöglich gekennzeichneten »Wunsch nach unmittelbarer Vermittlung«1 von Alexander Henschel an: Er formuliert Ansprüche für seine Vermittlung auf der documenta 12, die vorsehen, dass Besucherinnen und Besucher das Gefühl haben, aktiv mitwirken zu können. Diese sollen ihn als Vermittler weder als affirmierendes Sprachrohr der Ausstellungsmacher, noch als in seinem Denken festgelegt, sondern das gemeinsame Gespräch über die Kunst als authentisch empfinden. Er schlägt in Anlehnung an Nanna Lüth vor, den aus der Drag-Szene stammenden Begriff der ›Realness‹, der dort eine »glaubwürdige Darstellung von stereotypischer Weiblichkeit«2 statt einer Behauptung faktischer Weiblichkeit bezeichnet, zu verwenden: »Realness setzt eine aktive Auseinandersetzung mit Rollenzuschreibungen voraus und ist Resultat eines Verfahrens der visuellen und gestischen Aneignung.«3 Alexander Henschel begreift die documenta als Bühne, die alles, was auf ihr geschieht, zur Aufführung macht, inklusive der Führungen. Um innerhalb dieser Inszenierung ›Realness‹ zu erreichen, muss diese Inszenierung transparent gemacht, d.h. markiert werden.4 Dies gilt für unterschiedliche Sprechakte innerhalb der Vermittlung, z.B. Zitate der Katalogtexte, kurze auswendig gelernte Passagen oder wiederholt erzählte Anekdoten. Gleiches gilt aber auch für die Vermittlung selbst: Sie ist eingebunden in einen weiten Komplex aus Sachzwängen und fremden Ambitionen. Innerhalb meiner Vermittlungspraxis wechselte ich innerhalb einer jeden dTOUR mehrfach die Rollen: Vor der offiziellen Uhrzeit trat ich bereits informell an Besucherinnen und Besucher heran, von denen ich wusste oder annahm, dass sie meine folgende dTOUR gebucht hatten. Wenn die Gruppe vollständig und vorbereitet war, markierte ich diesen Moment, indem ich die Gruppe zusammenrief und aufforderte mir zu folgen: Ich führte die Besucherinnen und Besucher zunächst zügig weg von den Treffpunkten an den Shops. Erst in dieser ruhigeren Atmosphäre begann ich, mich und das Konzept der Worldly Companions vorzustellen. Das Ansinnen einer dTOUR, 1 | Vgl. A. Henschel: Der – unmögliche – Wunsch. 2 | N. Lüth: queens of kunstvermittlung, S. 66. 3 | Ebd. 4 | Vgl. A. Henschel: Der – unmögliche – Wunsch, S. 163.
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nicht Führung, sondern begleiteter Umweg zu sein, konnte ich durch die Markierung des geführten Weges vom Treffpunkt durch dessen Benennung ebenso vorbringen, wie meine eigenen Anliegen. Ich sprach offen an, dass sich die Erwartungen der jeweiligen Besucherinnen und Besucher möglicherweise von meinen unterscheiden könnten und dass die angestrebte Vermittlungsform nur gelingen könne, wenn wir weitestgehend ähnliche Vorstellungen und Erwartungen an diese hätten. Häufig fiel es auch Besucherinnen und Besuchern, die während der eigentlichen dTOUR sehr still waren, in diesem Zwischenraum leicht, auf Fragen zum Vorwissen und Erwartungen zu antworten und auf kleine Scherze innerhalb meiner Einführung gelöst zu reagieren, so dass innerhalb weniger Minuten ein Setting umrissen werden konnte, wie wir die restliche dTOUR gemeinsam gestalten wollten. Darin legte ich auch die Möglichkeit offen, dass sich das gemeinsame Gefüge während der dTOUR verschieben könnte, sofern dies notwendig erschien. Ab diesem Punkt versuchte ich, so weit wie möglich meine Rolle als Worldly Companion zu spielen, dabei aber eine ›Realness‹ zu wahren, da deutlich gemacht worden war, dass es sich um einen gemeinsamen Versuch handelte, der ein ›so tun als ob‹ voraussetzt und ein Pendeln zwischen den Rollen für mich und ebenso die Besucherinnen und Besucher möglich macht. Im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass weniger die physisch-realen Sachzwänge ein ›als ob‹ erforderten, sondern die angelernten Verhaltensweisen der Besucherinnen und Besucher (und auch meine eigenen) in Bezug auf diese. Dies wurde auch deutlich an der Erläuterung des Konzepts der Worldly Companions, welche häufig eher ertragen wurde, um dann in Folge eine übliche Führung zu erwarten und einzufordern. In der Karlsaue bot sich mit The Worldly House (2012) von Tue Greenford theoretisch die Gelegenheit, sich dem Konzept unabhängig von seiner Übersetzung in einen Führungsbetrieb anzunähern, allerdings bot sich das Archiv aufgrund seiner Lage sowie Struktur nicht als Teil einer dTOUR an. Einige andere Arbeiten in der Aue stellten aber auch Mensch-Tier-Verhältnisse zur Disposition, von denen sich vor allem Untilled (2011-2012) von Pierre Huyghe und Dog Run (2012) von Brian Jungen für ein vergleichendes Sehen anboten. Während bei der ersten Arbeit die Hunde (und alle anderen Entitäten) einfach vor Ort waren, zeigte sich bei Dog Run eine bezeichnende Handlungsstruktur: Der Platz war für Hunde konzipiert und menschliche Besucherinnen und Besucher waren nur in Begleitung ihrer tierischen Companions zugelassen. Ich lenkte den Blick auf das Verhalten der Menschen, die die Bauten als Hindernisse identifizierten und mit ihren Hunden Kunststücke einstudierten. Niemand schien bereit, sich auf die Sichtweise und Handlungsweisen des Hundes einzulassen. Diese entsprachen nicht den angelernten Erwartungen. Daraus ließ sich gegen Ende der dTOUR ein Impuls formulieren und auf das Worldly House, das in relativer Nähe lag, verweisen.
Dienstleistung und deren Verweigerung Trotz meines Versuchs, die organisatorischen Aufgaben von den vermittlerischen – und den damit jeweils verbundenen Rollen – zu trennen, ist offensichtlich, dass ich als Dienstleister vor allem den Kundinnen und Kunden gegenüber in einer Bringschuld war. Diese hatten für ein Produkt gezahlt, das trotz des Markennamens dTOUR in der Regel als geführter Ausstellungsrundgang verstanden wurde, und erwarteten die entsprechende Leistung. In dieser Perspektive erscheint eine grundlegende Nichtent-
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sprechung den Erwartungen gegenüber wenig zielführend, da sie im Zweifelsfall zu Reklamationen geführt hätte (und wohl auch in einigen Fällen hat). Dass diese Erwartungen mitunter vollkommen konträr zu den Ansprüchen der Maybe Education bzw. der einzelnen Worldly Companions waren, verdeutlicht Anne-Kathrin Auel: »Gerade freue ich mich, dass das dTOUR-Konzept aufgeht, weil die Teilnehmer von Beginn an diskutieren. Da fragt ein Besucher genervt: ›geht das jetzt so weiter? Ich möchte lieber eine schöne Führung von Ihnen haben!‹«5 Zu meiner Überraschung waren meine Gäste meist eher erfreut, dass sie es mit einem Kunstwissenschaftler zu tun hatten, empfanden mein Nicht-Entsprechen des Konzepts nicht als Schwäche, sondern als Stärke und äußerten dies auch regelmäßig.6 Obwohl ich diese Meinung nicht teilte, brachte sie mir zunächst einen Vorteil in Form eines Vertrauensvorschuss: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen berichteten mir davon, dass ihren Ansichten häufig widersprochen oder ihre Kompetenz offen in Frage gestellt wurde – etwas, was ich nie erleben musste. Diesen Vorschuss machte ich mir zunutze, bediente teilweise die daraus resultierenden Erwartungen, brach sie allerdings auch. Dazu gehörte vor allem auch ein freundliches und service-orientiertes Auftreten. Meine Gegenüber wurden in ihren Bedürfnissen ernstgenommen und unterstützt, auch wenn dies meinen eigenen Anliegen entgegenlief: z.B. das Beenden eines Rundgangs an einem schönen Restaurant. Glücklicherweise bot sich zumindest in der Karlsaue eine Lokalität in direkter Nachbarschaft zu meinen favorisierten Kunstwerken an, die sich sämtlich in der Peripherie der Karlsaue befanden und im Rahmen einer dTOUR kaum zu erreichen schienen. Dies wurde verstärkt, indem durch die Organisation der Anspruch an die Worldly Companions formuliert wurde, die Kundinnen und Kunden durch das weitläufige Gelände zu führen (sic!) und in den vorderen Bereich der Karlswiese oder in die jeweiligen Ausstellungshäuser zurück zu begleiten, was die potentielle Reichweite einer dTOUR durch den Rückweg annähernd halbierte. Es wurde dadurch in jeder einzelnen dTOUR in der Karlsaue notwendig, zwischen eigener Ambition und geforderter Dienstleistung abzuwägen. Während ich die Erwartungen an meine Dienstleisterfunktion versuchte zu erfüllen und durch meinen Beruf legitimiert erschien, war es mir eher möglich, subversive und kritische Strategien in meine dTOURS einzubauen. Ich gehe davon aus, dass mir das weniger erfolgreich geglückt wäre, wenn ich diese als meine Anliegen direkt offen gelegt hätte. Dies lässt sich an den ersten Eindrücken innerhalb des Fridericianums nachvollziehen. Dort schloss ich die Einleitung mit dem Hinweis, dass ich die Gruppe nun durch eine komplizierte Einlasssituation in das Gebäude führen würde und es dann losginge, was zu einer sowohl sprachlichen als auch performativen Markierung führte. Direkt nach dem Betreten folgte das erste irritierende Moment: Wir standen vor dem Brain, betraten es jedoch nicht, und ich verwies auf die dort installierte Arbeit von Lawrence Weiner, welche wir aus unserer Position nur von hinten bzw. spiegelverkehrt sehen konnten. Wir waren somit gerade nicht an dem Ort, der laut Katalogtext durch einen Punkt mit ›Sie sind hier‹ markiert ist, sondern ein kleines Stück entrückt. Den Grad der Frustration darüber überließ ich den einzelnen Besucherinnen und Besuchern und erläuterte die organisatorischen Zwänge nur, wenn ich explizit darauf angesprochen wurde. 5 | A.-K. Auel: Blümchen und Berlusconi, o.S. 6 | Vgl. S. Fürstenberg: Vom doppelten Hoserunterlassen, S. 145f.
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Im Folgenden versuchte ich ganz gezielt wenig visuellen bzw. künstlerischen Input zu geben, um wirklich über die Räume und die Erwartungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieses Gebäude und die dOCUMENTA (13) zu sprechen. Auffällig war, das dies besser mit Gruppen umzusetzen war, die nicht über Ryan Ganders Arbeit informiert waren, da diese sich wirklich damit auseinandersetzen mussten, dass ich ihnen ›nichts‹ zeigte, während (oberflächlich) informierte Besucherinnen und Besucher eher entspannt blieben und meist beiläufig erwähnten, dass die Räume nicht leer seien. In dieser Situation der visuellen und inhaltlichen Deprivation konnte ich bald feststellen, wie bereit die Gruppe dazu war, zu diskutieren oder Umwege zu gehen oder ob eher eine Konsumhaltung bestand. Enttäuschung scheint einer der sichersten Indikatoren dafür zu sein, was eigentlich erwartet wurde, da sehr viel differenzierter Wünsche geäußert wurden, als in meiner Einführung.7 Über die Plastiken von Julio González und I Need Some Meaning I Can Memorize (The Invisible Pull) von Ryan Gander ließ sich dies produktiv wenden. Je nach Gruppe ließen sich die annähernd leeren Räume anschließend als Möglichkeits- oder Erinnerungsraum, als Freiraum, Schonraum, aber auch als Machtraum thematisieren, was schließlich zu sehr lebhaften Diskussionen führte, die der zuvor wahrgenommenen Deprivation das gab, was Ryan Gander mit seinem Titel einfordert: Bedeutung. Anne-Kathrin Auel hingegen erlebt, wie das eigene Narrativ durch einen Besucher gewendet werden kann: »Einen älteren Besucher erinnert der Raum, in dem der Wind weht, an eine Gaskammer. Dieser Assoziation halte ich entgegen, dass die kahlen Wände eher den musealen ›White Cube‹ (weißer Würfel) repräsentieren. Er fragt: Kann es denn in Deutschland noch ein neutrales Weiß geben?«8 Die Schwierigkeit in dieser Situation ist es, als Worldly Companion zu erkennen, dass der eigene Pfad möglicherweise verlassen wird und statt zurückzuführen, sich selbst mit der Unsicherheit auseinander zu setzen, den neuen Weg zumindest in Teilen mitzugehen. Die Vermutung liegt nahe, dass wir alle immer wieder solche Situationen übersehen oder bewusst gegengesteuert haben. Hier zeigt sich die Wichtigkeit, nicht nur im Vorfeld auszubilden, sondern auch die Durchführung einer ständigen (Selbst-)Beobachtung und Analyse zu unterziehen, um solche Situationen zu markieren und zu reflektieren. Erst dadurch wird es möglich, den Reflex zu verlernen und bewusst zu entscheiden, ob man in der gegebenen Situation gegensteuern oder zulassen möchte. Während die Form der Verweigerung durch die Präsentation von möglichst wenig Kunst in das Narrativ meiner dTOUR eingebaut war und in ihrer Intensität variiert werden konnte, zeigten sich andere Situationen, in denen ich den Anforderungen nicht entsprechen wollte, die weit größeres Konfliktpotential hatten: Forderte jemand fortwährend kunsthistorische Daten oder die ›korrekte Bedeutung‹ zog ich demonstrativ das Begleitbuch aus der Tasche und las daraus vor; teilweise vergab ich diese Aufgabe auch an die Person, welche die Fakten einforderte. Dadurch wollte ich deutlich machen, dass die geforderten Angaben zwar ihren Wert haben und auch verfügbar waren, aber sich in der konkreten Situation der dTOUR etwas anderes ereignen könnte, was nicht im Katalog nachzulesen ist. Diese Verweigerung widersprach vor allem den Erwartungen an den Kunstwissenschaftler, der Nicht-Wissen einräumte oder Wissen verweigerte.
7 | Vgl. S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 140. 8 | A.-K. Auel: Blümchen und Berlusconi, o.S.
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Eine weitere Weigerung ergab sich teils aus Notwendigkeit, teils aus persönlichen Vorlieben und Abneigungen: einige Werke konnte oder wollte ich nicht besprechen. Wurden diese allerdings explizit gewünscht (Idee di pietra von Giuseppe Penone) oder lagen neben meiner Route (The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures (2012) von Kader Attia) musste ich mich entweder fügen oder rechtfertigen. Während ich meistens, vor allem in der Karlsaue, die schiere Masse und damit die Notwendigkeit einer Auswahl anführen konnte, gab es Gruppen, mit denen ein Gespräch über meine Rolle und den Konflikt zwischen affirmativer und kritischer Vermittlung möglich war. In diesen Fällen legte ich meine jeweiligen Gründe offen dar und bot an, die Gruppe zwar zu begleiten, aber die Sprecherposition vorläufig abzulegen. Damit lenkte ich natürlich den Blick dennoch auf meine Kritikpunkte, hoffte aber durch die Markierung als von der eigentlichen dTOUR verschieden, meine Meinung angreifbar zu machen und alternative Ansichten eher zuzulassen. Dabei war insbesondere die Verweigerung gegenüber Giuseppe Penones Arbeit produktiv, da sie sich hier nicht aus der Arbeit begründete, sondern daraus, das die entsprechenden Besucherinnen und Besucher das Objekt sehen wollten, das sowohl ihnen bereits bekannt war als auch relativ leicht zu finden war. Schließlich gab es eine Situation, in der ich die dTOUR beinahe abgebrochen hätte und dafür sowohl eine autoritär-administrative Position einnahm, als auch das symbolische Kapital eines autorisierten Sprechers der dOCUMENTA (13) ausnutzte: In den letzten Tagen der Ausstellung wurde mir eine Gruppe zugeteilt, die einforderte, möglichst effektiv durch die Ausstellungsräume des Fridericianums geführt zu werden und von mir die wichtigsten Fakten zu erhalten. Fragen von mir wurden ignoriert oder unterbunden, so dass ich in einen Monolog verfiel. Vor dem Brief von Kai Althoff beschwerte sich ein Besucher, der nicht zu meiner Gruppe gehörte, dass ich ruhig sein solle, da er den Brief lesen wolle. Von der ›fröhlichen Grundstimmung‹ der dOCUMENTA (13) war in dieser Situation nichts zu spüren. Daraufhin wechselte ich mit der Gruppe in eine Ecke des Raumes. Unvermittelt ertönte ein lautes Bohrgeräusch aus der oberen Etage und es rieselte Putz auf uns, woraufhin mich eine Teilnehmerin beschimpfte. Es kamen also etliche Faktoren zusammen, die eine für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer – mich eingeschlossen – angenehme dTOUR unmöglich machten. Daraufhin teilte ich der Gruppe mit, dass ich, obwohl es sie vorher nicht interessiert hätte, das Konzept der dTOURS und der Worldly Companions an dieser Stelle noch einmal erläutern würde. Dabei interpretierte ich die Freiheiten möglicherweise weiter, als sie das eigentliche Konzept fasste und ignorierte völlig die wirtschaftlichen Interessen, indem ich behauptete, ich könne die dTOUR so gestalten, wie es mir gefiele. Mir wäre sehr bewusst, dass jede und jeder Einzelne gewisse Erwartungen und Bedürfnisse habe, aber das träfe auch auf mich zu. Da meine Erwartungen allerdings nicht erfüllt seien, sähe ich nur noch zwei Möglichkeiten: ein gemeinsames Arbeiten an der Situation oder der Abbruch – von dem ich behauptete, dass auch dieser institutionell abgesichert sei, ohne mir dessen sicher zu sein. Während dieser Rede war deutlich ablesbar, das Gefühle wie Aggression, Entrüstung und Erschütterung von Mitgliedern der Gruppe durchlaufen wurden. Diese – vollkommen ernst gemeinte – Androhung von Strafe war eine Disziplinierungsmaßnahme. Eigenartigerweise führte die Konfliktsituation nicht nur dazu, dass einzelne Mitglieder der Gruppe formulierten, dass es sie freuen würde, wenn wir fortsetzten, sondern auch, dass sich die Gruppenstruktur grundlegend verschob: Es wurde über Bedürfnisse gesprochen, diese respektiert, es entstand ein übergeordneter Dialog,
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der sich teilweise in moderierte Gespräche über Kunstwerke übertrug. Die Disziplinierung führte somit tatsächlich zu einem Entsprechen meiner Wünsche, aber nicht zu einem Verhalten, welches man in autoritären Situationen erwarten würde. Gegen Ende der gemeinsamen Zeit entschied ich, die dTOUR in eben jenem Raum enden zu lassen und sprach über mein Verständnis von ’Til I Get it Right (2012) von Ceal Floyer. Dies erlaubte mir räumlich und inhaltlich auf die vorangegangene Situation zu verweisen und meine Freude darüber zu äußern, dass wir die dTOUR gemeinsam erfolgreich beendet hätten. Diese Freude wurde mir gespiegelt. Auch wenn möglicherweise auch finanzielle Aspekte eine Rolle gespielt haben, dass Mitglieder der Gruppe die dTOUR fortsetzen wollten, stellte sich diese Situation als Dekonstruktion von Rollen und institutionellen Mechanismen in der Nachbetrachtung als produktiv und erkenntnisreich dar.
Nicht-Wissen markieren Die bereits erwähnte Herausstellung von Nicht-Wissen war mir ein wichtiges Anliegen. Auch wenn zunächst mit dem Eingestehen von Wissenslücken eine Schwäche assoziiert werden mag, gab mir der offensive Umgang damit Sicherheit. Dies lässt sich an der Zwischenposition nachzeichnen: In einer meiner ersten dTOURS wurde ich gebeten, etwas zum Projekt Time/Bank zu sagen. Ich wiederholte die mir bekannten Fakten, hatte aber bis dahin weder persönliche Erfahrung gesammelt, noch zu den Hintergründen recherchiert. Es stellte sich heraus, dass derjenige, der mich gefragt hatte, sehr viel besser informiert war und in Folge mein Wissen und damit meine Autorität permanent in Frage stellte. Eine Situation, die sich vielleicht hätte nutzbar machen lassen, was mir aber nicht gelang und von seiner Seite auch nicht intendiert war. Daher entschied ich mich, solche Wissenslücken nicht über Diskurs verschleiern zu wollen oder gar die jeweiligen Projekte zu meiden, sondern offensiv darauf hinzudeuten und um Unterstützung zu bitten bzw. auf Wissende hinzuweisen. Im Fridericianum boten sich dafür vor allem die Quantenexperimente von Anton Zeilinger an, in der Karlsaue Many Readers of 1 Event (2012) von Doug Ashford. Während es in erstem Fall vor allem um ein Wissensgebiet ging, in dem ich keine Expertise habe, boten mir im zweiten Fall die abstrakten Gemälde in Kombination mit Fotografien von Personen keinen wirklichen Zugang. Dies zu markieren schien mir regelmäßig Sympathie einzubringen, da es auch als Kritik am Werk und der Ausstellung verstanden wurde und ich dadurch möglicherweise weniger affirmativ erschien. Tatsächlich folgten der Bitte, mir die Arbeiten zu erklären, faszinierende Assoziationen und Vorschläge, so dass ich im Laufe der dOCUMENTA (13) zwar immer noch behaupten konnte, nicht sicher zu wissen, wie die Arbeiten zu verstehen sind, aber den jeweils neuen Aussagen ältere gegenüberstellen konnte und so ›Viele Leser eines Ereignisses‹ zusammenführte. Damit wurde sicherlich nur in Teilen die Arbeit von Doug Ashford vermittelt, wohl aber eine gleichberechtigte Gesprächskultur innerhalb unserer Gruppierung und darüber hinaus etabliert.
Die persönliche Perspektive Während der School of Worldly Companions wurde großer Wert auf die Reflexion der persönlichen Perspektive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bezug auf ihre je-
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weiligen dTOURS gelegt, die sich vor allen an deren Berufen und vergleichbaren Professionen festmachte: »Wie würde ein Gärtner eine dTOUR durch die vielen Kunstwerke in der Karlsaue gestalten? Wie würde sich ein ehemaliger Richter Fragen zu Realität und Zeit im Fridericianum annähern? Und welche Beziehung findet eine Mathematikstudentin zu den verschiedenen Technologien in der Orangerie?«9 Dies ließe sich, zumal mit Blick auf die offenkundige Entprofessionalisierung bzw. Laienkultur in Bezug auf Kunstvermittlung, durchaus kritisch hinterfragen: Wenn es keiner Expertise in Vermittlung oder Kunstwissenschaft bedarf, um über Kunst zu sprechen, welchen besonderen Wert haben dann die Ansichten eines Gärtners, Richters oder einer Mathematikstudentin im Vergleich zu denen anderer Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einer dTOUR in Bezug auf deren Fachgebiete innerhalb der Ausstellung? Es sollte »vorwiegend nicht-künstlerisches Wissen […] mit einem Kommentar und einer Diskussion über Kunst«10 verbunden werden. Das Potential einer solchen Begegnung auf Augenhöhe mit Besucherinnen und Besuchern sowie den Kunstwerken wurde durch die vorgeschobene Professionalisierung der Worldly Companions als Gärtner, Richter, Mathematikstudentinnen u.a. zumindest verschleiert, möglicherweise auch gemindert. Als Kunstwissenschaftler mit dem Schwerpunkt auf Vermittlung empfand ich meine Profession in Bezug auf das Konzept außerdem als wenig interessant und möglicherweise kontraproduktiv, da ich als Experte für Kunst und die Theorie ihrer Vermittlung angesehen werden konnte. Ich nahm mir deshalb vor, viele Kunstwerke wirklich von meiner Person und weniger von meinem Beruf aus zu betrachten und diese private Sichtweise auch zu teilen. Besonders lebhaft in Erinnerung blieb mir in diesem Zusammenhang die Arbeit I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS (19692011) von Ida Applebroog. Obwohl zunächst nicht Teil meiner geplanten dTOUR, ließ sich die Arbeit nur selten passieren, da die Gruppe sich häufig auflöste und einzelne Mitglieder zurückblieben, um die Arbeit länger zu betrachten. Ich baute deshalb eine kurze Pause für mich ein, indem ich sagte, dass man sich im Raum umschauen solle, um sich dann wieder bei mir zu sammeln und von dem Vorgefundenen zu berichten – somit also die Sprecherolle zunächst zu pausieren und dann zugunsten den Berichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer abzulegen. Dabei zeigte sich, dass viele Besucherinnen und Besucher die Motive so ansprechend fanden, dass sie die ausgelegten Poster mitnehmen wollten – eine Vorstellung, die Unbehagen bei mir auslöste, da es sich um Skizzen und Notate aus dem privaten Archiv der Künstlerin handelte.11 Das Besondere dieses komplexen Werkes ist aus meiner Sicht somit nicht innerhalb der Motive und Texte an sich zu finden, sondern in der Tatsache, dass diese Fragmente der privaten Geschichte der Künstlerin als Ausstellung und Performance öffentlich gemacht wurden und der Willkür der Besucherinnen und Besucher, diese herunterzureißen oder mitzunehmen, ausgesetzt sind.12 Ich begann deshalb, nach der eigenständigen Erkundung des Raumes einen Auszug aus einem privaten Brief von mir vorzulesen. Dann sprach ich darüber, wie es sich anfühlt, dieses mir unangenehme Schriftstück mit anderen, mir fremden Menschen, zu teilen, um erst dann einen erneuten Blick in den Ausstellungsraum zu richten. Mir wurde mehrfach gespiegelt, dass diese Sequenz sehr eindrucks9 | documenta: Was/Wann, S. 12. 10 | Ebd. 11 | Vgl. E. Scharrer: Ida Applebroog, S. 36. 12 | Ebd.
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voll gewesen sei und dass sich dadurch die Sichtweise auf Ida Applebroogs Arbeit verschoben hätte – mitunter soweit, dass die Souvenirs doch zurückgelassen wurden. Meine Perspektive als Privatperson, statt als Kunstexperte, die ich nach und nach auf immer mehr Kunstwerke übertrug, ermöglichte mir somit einen dekonstruktiven Bruch: Entgegen der Erwartungen der Besucherinnen und Besucher näherte ich mich nicht vorwiegend über Fachwissen den Werken an, sondern über persönliche Anekdoten und Meinungen. Dies führte nur selten zu Unmut und oft dazu, dass sich auch meine Gesprächspartner am Dialog beteiligten – wenigstens in Bruchstücken. An den ersten Tagen der dOCUMENTA (13) war an solche Momente kaum zu denken: zu neu war die Situation für mich und auch viele der Werke waren mir entweder noch recht unbekannt oder ich schätzte sie als wenig interessant für meine dTOURS ein. Direkt meine erste dTOUR allerdings stellte meine persönliche Perspektive – auch als Kunstwissenschaftler – in den Mittelpunkt. Angekündigt war eine Gruppe von Studierenden. Das Besondere war, dass diese aufgrund des Arbeitsauftrags, sich die Führungspraxis der dOCUMENTA (13) anzusehen, den Blick umkehrten und direkt auf meine Person und die Konzepte der dTOURS und Worldly Companions richteten. Der damalige Student Lukas Rehm verfasste einen Bericht zu dieser dTOUR, der im Blog der Ludwig-Maximilian-Universität München zur dOCUMENTA (13) veröffentlicht wurde.13 Thema dieser dTOUR waren neben einigen wenigen Werken (tatsächlich die quantitativ kürzeste dTOUR, die ich in der Karlsaue durchführte) mein Anstellungsverhältnis, meine Ausbildung zum Worldly Companion und meine Sicht auf die Ausstellung. Außerdem wurde meine Performance inklusive ihrer Fehler und Schwächen dokumentiert: »Er bezog sich in seinen Schilderungen immer wieder auf die Leiterin der Dokumenta [sic!] Christov-Bakargiev als Stifterin einer Linie, die durch die Instanzen nach unten weitervermittelt wurde. Auch die Termini Führer und Führung sollten eigentlich zu Gunsten der Begriffe ›Worldly Companion‹ und ›dTOUR‹ vermieden werden, was für Tim Pickartz selbst nicht zu leisten war.«14 Auch wenn es mir im Laufe der dOCUMENTA (13) gelang, die Terminologie zu verwenden, bleibt es mitunter fraglich, ob es sich tatsächlich um dem Konzept entsprechende dTOURS oder nicht doch um klassische Führungen handelte. Bereits damals äußerte ich eine vergleichbare Kritik, die ebenfalls in dem Artikel dokumentiert wurde: »Er selbst empfand die Ansätze für die dTOUR als sehr interessant, aber in der Praxis nicht umsetzbar, da es unmöglich scheint, aus den Rollen Ausstellungsführer und interessierte Ausstellungsbesucher, die mehr über bestimmte Werke wissen wollen, auszusteigen.«15 Diese Darstellung erschien mir zu radikal, so dass ich die Kommentarfunktion für eine Antwort nutzte: »[…] Ich halte das Konzept der dTOUR sehr wohl für durchführbar und auch für sehr wichtig und zeitgemäß. Aber: es stimmt, dass ich es für sehr schwierig umzusetzen halte. Das liegt zum einen an uns [Worldly] Companions, die Strategien erlernen müssen und auch den Mut und die Kraft diese ein- und umzusetzen, vor allem aber auch an der Erwartungshaltung des Publikums. Gerade heute wurde ich aufgefordert, keine Fra-
13 | Vgl. L. Rehm: Touren der d(13), o.S. 14 | Ebd. 15 | Ebd.
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Kunstvermittlung gen zu stellen, sondern mein ›Standardprogramm‹ abzuspulen. Sollte ich bei diesem Kunden (!) Kraft investieren oder Erwartungen erfüllen?« 16
Besonders schmeichelhaft erschien mir das Fazit, welches Lukas Rehm aus unserer gemeinsamen dTOUR zog, da es mein Nicht-Wissen nicht nur als Schwäche, sondern auch als Methode beschreibt: »Zum Teil begegnet der uninformierte Besucher künstlerischen Arbeiten auf Augenhöhe mit dem Worldly Companion, da dieser im Vorfeld entweder keine Gelegenheit hatte sich Wissen anzueignen, es absichtlich unterließ, oder es absichtlich zurückhält.«17 Meine Profession als Kunstwissenschaftler als eigenen Blickwinkel auf die Werke der Ausstellung zu beziehen, hätte weder dem Konzept der Worldly Companions entsprochen noch ermöglicht, meine Sprecherrolle zugunsten eines Dialogs auf Augenhöhe zu dekonstruieren – dies gelang nur durch die dekonstruktive Leistung der Gruppe, die den Blick umkehrte. Ich bediente mich daher in Abgrenzung der Subjektivität als einer Perspektive, die zwar jeweils einzigartig ist, aber von jedem anderen ebenso eingenommen werden kann, ohne dabei unmittelbar einen Gleichklang zu produzieren. Stattdessen werden plurale Sichtweisen eröffnet, die das Potential bergen, zu einer intersubjektiven Betrachtung zu gelangen. Diese schließen das Wissen der Worldly Companions oder der Besucherinnen und Besucher um Kunstgeschichte, die Intention der Künstlerin bzw. des Künstlers oder die Zusammenhänge innerhalb der Ausstellung nicht aus, sondern verknüpfen diese sowohl mit subjektiven Erfahrungen als auch der Möglichkeit zur Diskussion. Diese Umkehrung des Blickes blieb einzigartig und es stand in vielen dTOURS die Frage im Vordergund, wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer überhaupt aktiviert werden können, sich nicht nur auf konkrete Fragen zu äußern, sondern sich tatsächlich einzubringen. Barbara Campaner nutzt die Erkenntnis, dass jede Form von Vermittlung performativ sei und Kunstvermittlerinnen und -vermittler immer auf einer Bühne stehen, um Verständnis dafür zu generieren, dass andere nicht auf die selbe Weise performen können oder wollen: »We could also call this framework choregraphy, every dancer performs a role. At the start of an art mediation situation, the roles are clearly allocated.«18 Diesen Umstand habe ich durch eine Thematisierung der Rollen und die Behauptung deren potentieller Flexibilität zu Beginn einer dTOUR in der Regel markiert. Barbara Campaner schlägt im Folgenden vor, die Rollen in einer spielerischen Situation zu variieren, indem über ein Losverfahren neue Rollen zugeschrieben werden. »The game makes it possible to think about the work from various perspectives and to discuss it accordingly.«19 Interessant ist, dass sie die Rollen vor allem an Berufen festmacht: »the artist, the curator, my mother, the gallerist, my teacher, the politician, the fruit vendor, the doctor, the fashion designer […].«20 Dieser Vorschlag erscheint nicht nur aufgrund seiner spielerischen Struktur, sondern eben auch durch die Ähnlichkeit zur Konzeption der Worldly Companions zunächst vielversprechend. Gleichzeitig betont die dOCUMENTA (13) die Unmöglichkeit,
16 | T. Pickartz zitiert nach ebd. 17 | Ebd. 18 | B. Campaner: Let’s dance!?, S. 2. 19 | Ebd. 20 | Ebd.
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über das Wissen anderer zu verfügen.21 Dies lässt es gerade notwendig erscheinen, nicht aus einer bestimmten Rolle heraus zu betrachten und zu sprechen, sondern Diversität durch persönliche Sichtweisen herzustellen und dementsprechend Personen einzustellen, die die Rollen nicht spielen, sondern tatsächlich verkörpern. Es gab dabei durchaus produktive Momente, in denen sich das Sprechen aus der eigenen Rolle – in der Regel verstanden als Beruf – auch auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner dTOURS ausweitete, z.B. im Gespräch über die Zeichnungen von über 400 Apfelsorten mit leitenden Angestellten des Saatgutherstellers Monsanto. Auch in anderen Kontexten machte ich ähnliche Erfahrungen: »Entsprechende Rollenspiele führen allerdings zu eher ernüchternden Ergebnissen: Wir Expertinnen und Experten der Kunstvermittlung wissen weder, was irgendjemand anderes über Kunst denkt, noch sind wir dazu in der Lage, so zu denken und zu argumentieren, wie es die Expertinnen und Experten anderer Berufsgruppen können. […] Es zeigt sich, dass z.B. ein Gärtner einzigartige Blickwinkel auf eine Installation eröffnen kann, die größtenteils aus giftigen Pflanzen besteht, aber ebenso, dass diese nicht-künstlerischen Expertinnen und Experten zu vielen Arbeiten aus ihrem spezifischen Blickwinkel wenig oder nichts zu sagen wissen – sie sind in diesem Rollenspiel genau so auf ihren eigenen Standpunkt zurückgeworfen.« 22
Z äsuren und Brüche in der Affirmation Die wenigsten Personen, die an meinen dTOURS teilnahmen, waren wirklich uninformierte Besucherinnen und Besucher, wie es Lukas Rehm formulierte. Dennoch ging das Vorwissen selten über die durch die Kunstkritik gekrönten Highlights und die durch die Presse verbreiteten Anekdoten hinaus, so dass ich eher von oberflächlich informierten Besucherinnen und Besuchern ausging. Die Vermutung liegt nahe, dass die wirklich nicht informierten Personengruppen von der dOCUMENTA (13) sowieso fernblieben und die gut informierten Expertinnen und Experten oft auf das Angebot einer Begleitung verzichteten. Damit wird vor allem durch die Gruppen, die keine dTOUR besuchten, aber für diese laut Konzept durchaus Zielgruppe waren, ein angenommenes Wissensgefälle zwischen Begleitenden und und Begleiteten ex negativo etabliert. Es war auffällig, wie oft die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eben genau die Dinge sehen wollten, die schon bekannt waren und nickend zuhören wollten, wie ich die üblichen Kurzerklärungen referierte. Diese Einstellung war besonders stark in Bezug auf das Fridericianum, welches bereits als solches gesondertes Interesse hervorrief. In diesem Wissen konzipierte ich meine dortige dTOUR so, dass das Gebäude verlassen wurde, um sich mit dem Friedrichsplatz oder Orten abseits der Hauptschauplätze auseinander zu setzen. Je früher mir das – teilweise in Überredungsarbeit – gelang, desto zufriedener war ich mit mir. Diese Zäsur fand innerhalb der Routine bei der Arbeit von Goshka Macuga statt. Dort lenkte ich das Gespräch deutlich auf den Umstand, dass die dOCUMENTA (13) nicht komplett zu erfassen sei. Dies führte trotz der unglaublichen Menge von Eindrücken tatsächlich häufig zu Enttäuschung. Ich versuchte diesen Umstand und die 21 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 30f. 22 | Pickartz: Ich bin kein Maler, S. 3.
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damit verbundene Haltung der dOCUMENTA (13) allerdings positiv zu bewerten und zu affirmieren: Wenn man nicht alles sehen kann, hat man weniger Druck und kann frei wählen, was man wirklich sehen will. Damit arbeitete ich zumindest in Teilen auch gegen den besonderen Status des Fridericianums an und kennzeichnete es als den Ort, von dem wir bereits genug gesehen hätten und uns anderen Bereichen zuwenden sollten. Gegen die häufig formulierte Annahme, die Besucherinnen und Besucher sollten in einer dTOUR entscheiden, wo es hingeht und dabei von einem Worldly Companion begleitet werden, arbeitete ich bewusst an. Auch wenn ich versuchte, auf besondere Interessen oder Themen einzugehen, stellte sich auch darin eine gewisse Routine ein, die mitunter einem standardisierten Rundgang ähnelte. Allerdings traf dies auch auf die vermeintlich spontanen Ziele der meisten Gruppen zu. Mir erschien daher eine gegenseitige Unterbrechung der jeweiligen Routinen als zielführendste Strategie. Es gab eine Gruppe von Schülerinnen, die nicht sehr begeistert schienen, dem Willen ihrer Betreuerinnen zu entsprechen und den sonnigen Septembertag in dem altehrwürdigen Gebäude zu verbringen. Hier wurde ich mit konträren Vorstellungen konfrontiert. Um das gegebene Machtgefüge zu respektieren, brachte ich bei den Betreuerinnen meinen Vorschlag, eine dTOUR abseits des Fridericianums zu machen, nur im Stillen vor. Dieser wurde abgelehnt. Die dTOUR verlief als monologisierende Führung vor einem abgelenkten Publikum. Nach etwa einer Dreiviertelstunde fragte ich die Betreuerinnen erneut, diesmal stimmten sie zu. Ohne die oben umrissene Herleitung über die künstlerischen Arbeiten sagte ich den Schülerinnen offen, dass mich diese Form der Führung so sehr langweile, wie es auch bei ihnen den Anschein machte, und das wir deshalb jetzt an zwei meiner Lieblingsorte der dOCUMENTA (13) gehen würden. Ich stellte das diesmal nicht zur Disposition, sondern teilte diesen Entschluss mit und verschob die bisherige Situation dadurch: Während ich zuvor versuchte, einen klaren Bildungsauftrag möglichst unautoritär zu erfüllen, legte ich nun den Ausbruch daraus schlicht fest. Auf dem Weg zum Raum der Rhythmen von Cevdet Erek brach ich den Führungsmonolog fast vollständig ab und kündigte nur an, dass dies der Ort ist, an den ich mich zurückziehe, wenn ich Ruhe vom Ausstellungstumult brauche. Wir betraten den Raum, in dem es so laut ist, dass eine sprachliche Führung unmöglich ist, über den Seiteneingang und ich begnügte mich damit für einige Zeit durch den Raum zu flanieren und vereinzelt Schülerinnen auf Schilder, Objekte oder andere Auffälligkeiten hinzuweisen. Ohne erklärenden Kommentar verließen wir die Räume schließlich durch den C & A und es passierte hinter mir das, was ich im ersten Teil der dTOUR erfolglos versucht hatte: Die Schülerinnen sprachen miteinander über die Reduziert-Schilder, die sowohl in der Installation als auch im Kaufhaus zu sehen waren. Als sie mich danach fragten, bestätigte ich diese Beobachtung, aber vermied es, ihnen die Arbeit zu erläutern, sondern führte nur aus, was ich eingangs sagte: Dass eben der lärmende Rhythmus mir ermöglichte, zur Ruhe zu kommen, weil man dort weder miteinander reden noch nachdenken könne. Auf dem Weg zum Hugenottenhaus blieb das Gespräch der Schülerinnen zumindest zum Teil bei dem Kunstwerk. Dort angekommen, sagte ich, dass auch an diesem Ort keine Erklärungen von mir kämen, sondern dass es etwas zu erleben gäbe. Mit der Aufforderung mir zu folgen, ging ich selbstbewusst (weil routiniert) in die Schwärze des Raumes von Tino Sehgal. Die Schülerinnen brauchten natürlich etwas länger, hatten Unsicherheiten zu überwinden, machten teilweise mehrere Versuche, sich der Situation zu stellen. Wir verbrachten etwa eine halbe Stunde im Hinterhof, in der die Schülerinnen vereinzelt immer wieder in den Raum gingen, so dass ich die Gruppe verlassen musste, bevor wir noch gemeinsam in die Räu-
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me innerhalb des Gebäudes gehen konnten. Als ich die Gruppe verließ, war die Stimmung gelöst, mir wurde sowohl von den Betreuerinnen als auch einigen Schülerinnen gedankt. Als ich ging, drängten die ersten bereits in die Räume des Hugenottenhauses. Während dieser dTOUR wurde annähernd kein Wissen über Werke und Ausstellung vermittelt, zuerst aus Desinteresse auf der einen Seite, dann aufgrund Unterlassung auf der anderen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass vielleicht Maybe Education stattgefunden hatte: Ein Ausstellungsbesuch kann, muss aber nicht langweilig und anstrengend sein. Wenn man sich auf diese Dinge einlässt, können sie sogar Spaß machen. Einmal zwang mich der Umstand, dass einer meiner Gäste im Rollstuhl saß, kurzfristig – da nicht zuvor angekündigt – zum Abweichen von meiner vertrauten Route. Während es im zentralen Treppenhaus des Fridericianums noch benutzbare Aufzüge gab, standen jene am Ende der Seitenflügel nicht zur Verfügung. Der Zwehrenturm ist insgesamt nicht barrierefrei zugänglich. Ich schwankte – auch aus Unsicherheit und dem Versuch einer political correctness – ob und in welcher Form ich diese Einschränkung thematisieren und als Inhalt in die dTOUR mit einbringen sollte. Ich entschied mich zunächst dagegen. Der gemeinsame Wechsel zwischen Erdgeschoss und erster Etage wurde rein organisatorisch thematisiert. Am Ende des Seitenflügels allerdings musste ich ansprechen, dass wir verschiedene Bereiche (neben dem gesamten Zwehrenturm auch die Räume von Michael Rakowitz), die mir zentral erscheinen, nicht oder nicht gemeinsam würden besuchen können. Die Gruppe entschied, ohne meine Begleitung in den Raum von Michael Rakowitz zu gehen, um sich dann gemeinsam wieder in der zweiten Etage bei den Arbeiten von Lynn Foulkes zu treffen. Dies bedeutete, dass ich mit einer Person den Seitenflügel ein zweites Mal durchqueren musste, um dann in der dritten Etage quasi kommentarlos an den Werken vorbei zur restlichen Gruppe zu gelangen – also einen tatsächlichen Umweg zu nehmen. Es stellte sich aber heraus, dass dieser Umweg auch eine sehr günstige Konstellation zwischen Begleiter und Begleitetem ermöglichte: das Gespräch zu zweit, welches sich – sicherlich auch aus Gewöhnung des Rollstuhlfahrers an solche Einschränkungen – nicht um die mangelhafte Barrierefreiheit drehte, sondern um die Aufbauten von Anton Zeilinger, zu denen er einige Kommentare hatte, die er zuvor nicht angebracht hatte. Möglicherweise handelte es sich dabei seinerseits um eine Methode der Gesprächsführung und wir tauschten zumindest zeitweise die Rollen von Begleiter und Begleitetem. Dennoch bot diese Situation die Möglichkeit, sich aufeinander einzulassen und für mich, die autorisierte und autoritäre Sprecherrolle ein Stück weit abzubauen. Dieses einmal etablierte Verhältnis blieb im Verlauf der weiteren dTOUR bestehen und weitete sich langsam auf immer größere Teile der Gruppe aus, so dass wir gegen Ende ein Gespräch führten, in dem ich nur noch eine organisatorische Sonderrolle spielte. In dieser Situation begleitete ich tatsächlich Personen, die selbständig über Kunst sprachen. Es zeigte sich öfter, dass ein kurzes Gespräch unter vier Augen – und sei es nur die unauffällige Frage nach der nächsten Toilette – zu einem entspannterem Umgang und darüber zu einer produktiveren Gesprächssituation führte. Je weiter unten in der Sprech-Hierarchie der Gruppe das gegenüber war, umso eher ließ sich ein gemeinsames Gespräch etablieren. Ein Grund für mich, auch in Gruppen von hauptsächlich Erwachsenen auf Zwischenrufe von Kindern zu reagieren. Nicht weil diese besondere Erklärung benötigten, sondern weil diese weniger gehemmt fragten oder kommentieren und die Erwachsenen ebenfalls ins Gespräch einstiegen, wenn sie merkten, dass die Zwischenrufe der Kinder ernstgenommen wurden und auch noch zur Erschließung der Kunstwerke hilfreich waren.
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Routinen verlassen: Ausdauer-dTOUR und Nacht-dTOUR Neben den ortsgebundenen dTOURS gab es verschiedene Angebote, mit einem besonderen Blick durch die Ausstellung zu gehen, die jeweils auch bestimmte Worldly Companions benötigten: Zeitzeugen für eine dTOUR, die sich mit den Spuren vergangener documenta-Ausstellungen im Stadtbild beschäftigte, Mitglieder des kuratorischen Teams mit der Ankündigung, Geheimnisse der dOCUMENTA (13) zu erfahren, oder Hunde, um »den Fokus auf das Menschliche in Frage zu stellen, und eine radikale Form des Denkens vorzuschlagen, das gemeinsam mit anderen Tieren geschieht.«23 Eine vierte Variante reizte mich von Anfang an (und war auch die einzige, für die ich geeignet war): Die Ausdauer-dTOUR. »Welche Effekte stellen sich ein, wenn die Wahrnehmung ermüdet? Wenn die Augen müde werden, trübt sich dann auch die Sicht? Und was würde es bedeuten, wenn das Denken nicht auf dem Fuße folgt, sondern gerade mit den Füßen gedacht wird? Bei dieser 10-Stunden-Non-Stop-dTOUR finden Sie heraus, in welchem Maße die Körperlichkeit eines solch ausgedehnten Ausflugs die Wahrnehmung verändert und dabei zu einem Abenteuer wird.« 24
Die durchgeführte Ausdauer-dTOUR dauerte nach Vorgabe 10 Stunden, wobei die Gruppe eine Mittagspause von etwa einer Stunde einlegte. Wir starteten – ebenfalls eine feste Vorgabe – am Treffpunkt Hauptbahnhof und besuchten die Ausstellungsorte Hauptbahnhof, Spohrstraße, Untere Karlsstraße, Fridericianum, Friedrichstraße, Weinberg mit Bunker, Karlsaue und Orangerie und legten dabei etwa acht Kilometer im Außenraum zurück. Der Besuch des Fridericianums fiel kürzer aus, als von mir geplant, da die Gruppe die Mittagspause einforderte. Zwischen Weinberg und Karlsaue passierten wir die Neue Galerie, die wir allerdings nicht betraten, da die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich zu erschöpft dazu fühlten. Ich wählte daher in der Karlsaue bewusst einige Arbeiten, die relativ ruhig und kontemplativ wirken. Den Abschluss bildeten einige Positionen in der Orangerie, die meines Erachtens Aufmerksamkeit einfordern, um die Fragestellung nach Ausdauer und Wahrnehmung anzugehen. Diese Route ergab sich teils aus den Umständen (z.B. Vorgabe des Startpunkts), meinen persönlichen Stärken (Fridericianum und Umfeld, Karlsaue) und Vorlieben (Abseits der Hauptschauplätze), aber auch aus weiteren Anliegen, die im Folgenden umrissen werden. Der Beginn der dTOUR am Hauptbahnhof war weit außerhalb meiner Komfortzone. Nicht nur war ich für diesen Bereich nicht geschult worden, auch in der privaten Betrachtung blieben mir insbesondere in diesem Ausstellungsbereich einige der Werke unverständlich oder missfielen mir sogar. Statt diese zu meiden, entschloss ich mich zur Konfrontation und wählte als Start meiner dTOUR das Gebäude mit der Ausstellung The End of Summer (2012) von Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer, welche mir zwar auf emotionaler und ästhetischer Ebene sehr zusagte, zu der ich mich aber außerstande sah, etwas zu erklären oder zu erläutern. Ich konnte kein Wissen weitergeben. Da es sich bei diesem Projekt um eine in sich geschlossene Narration in Form einer Ausstellung handelte, galt sie für mich sinnbildlich für die gesamte dO23 | documenta: Was/Wann, S. 14. 24 | Ebd., S. 15.
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CUMENTA (13). Meine Unsicherheit und mit ihr die Notwendigkeit eines gemeinsam forschenden Dialogs kommunizierte ich direkt zu Beginn der dTOUR und hatte das Glück, dass die Gruppe auch ohne größere Bemühungen dazu bereit war, entsprechend zu agieren. Es folgten die Arbeiten von Michael Portnoy, István Csákány, Haegue Yang, William Kentridge und Rabih Mroué, zu welchen ich nur wenige Fakten lieferte und um so mehr Fragen, die tatsächlich gemeinsam von der Gruppe diskutiert wurden. Dieser Prolog dauerte etwa zwei Stunden, somit die Dauer einer regulären dTOUR. Mit sieben betrachteten Positionen und einer durchschnittlichen Verweildauer von über einer Viertelstunde zeigt sich, dass eine intensive Auseinandersetzung nicht unbedingt Experten-Wissen benötigt, sofern der Wille vorhanden ist, gemeinsam Wissen und Meinung zu produzieren. Da es mir wichtig war, zentrale Aspekte des Geisteszustandes und der Kuratorischen Praxis zu thematisieren – auch um meinem Nicht-Wissen in Bezug auf einige Einzelkunstwerke eine offensichtlich über die Hintergründe informierte Position entgegenzustellen – nutzte ich entsprechende Passagen meiner Fridericianums-dTOUR und konnte beobachten, wie sich sowohl mein Sprechverhalten als auch die Reaktion der anderen auf mich veränderte. Die Rückkehr in meine Routinen sorgte tendentiell auch zu den tradierten Rollen von autorisiertem Sprecher und Zuhörenden. Dies versuchte ich in dieser Situation allerdings nicht wie sonst zu unterbrechen, sondern auf die Spitze zu treiben. Ich orientierte mich hier an dem Vortragsstil von Carolyn Christov-Bakargiev, die bei mehreren Gelegenheiten Teile ihres Beitrags zum Buch der Bücher als Vorlesung abhielt. Im Laufe des Vortrags begann sie in der Regel Passagen zu überspringen, indem sie Seite um Seite mit ›skip‹ kommentiert und weglegt. Eine Andeutung eines Mehr-Wissens und der Verweigerung, dieses zu teilen, die durchaus arrogant wirken kann. Es sollte durch ähnliches Vorgehen im Fridericianum deutlich werden, dass es viel zu wissen gibt und dass wir nur an der Oberfläche kratzen können. Trotz kleiner Regenschauer war der Tag weitestgehend sonnig und sehr warm, so dass insbesondere der Aufstieg am Weinberg und später an der Schönen Aussicht – beide außerdem in der zweiten Tageshälfte – tatsächlich körperlich anstrengend waren. Gegen Ende der dTOUR überquerten wir die Karlswiese hin zur Orangerie, wo die Gruppe zum ersten Mal sehr weit ausfaserte, da mittlerweile jeder im eigenen Schritttempo lief – eine gute Gelegenheit, um beiläufig über die Rhythmen und Bewegungen in den Arbeiten von Maria Loboda und Massimo Bartolini zu sprechen oder die Möglichkeit des Nichts-Tuns anhand des Doing Nothing Garden (2010-2012) von Song Dong. Als wir Punkt acht die Orangerie wieder verließen, legte ich meine Bemühungen, uns alle körperlich zu ermüden, offen und räumte ein, dass ich selbst sehr viel erschöpfter war, als ich versuchte zu wirken. Wir alle blickten noch einmal auf die verschiedenen Etappen der dTOUR zurück und kamen überein, dass die Erschöpfung zwar unsere Aufnahmefähigkeit verändert hatte, allerdings wir auch nach zehn Stunden noch willens waren, weiterhin Kunst zu erleben. Im Gegensatz zu den regulär angebundenen dTOURS, die sich zwar auf ein spezielles Areal oder Thema beschränkten, aber dennoch frei in der jeweiligen Ausgestaltung waren, wurden für die zu zwei Ereignissen angebotenen Nacht-dTOURS detaillierte Laufrouten mit Anmerkungen vorgegeben, die so konzipiert waren, dass jeweils zwei Gruppen konfliktfrei gleichzeitig starten konnten:
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Kunstvermittlung ›dTOUR 1 154: Natascha Sadr Haghighian – nur vorbeigehen, nicht klettern; 65: Chiara Fumai – sie wird von 21 bis 23 Uhr in ihrem Haus sein und um 21 und 22:30 Uhr je ca. eine halbe Stunde lang eine Performance machen (sprecht sie lieber direkt vor ihrer Performance nicht an, da sie eine Konzentrationsphase braucht); 150: Ruth Robins und Red Vaughan Tremmel; 76: Fiona Hall – Haus geschlossen, aber das Licht ist angeschaltet – ein Blick hinein lohnt sich!; 145: Araya Rasdjarmrearnsook; 123: Christian Philipp Müller – die Fähren sind beleuchtet, aus Sicherheitsgründen bitte aber nicht passieren; 99: Gabriel Lester; 37: Janet Cardiff & George Bures Miller; 53: Sam Durant – nur vorbeigehen, nicht klettern; 67 Ryan Gander; 147: Pedro Reyes – Studierende des Akademienetzwerkes werden im/am Haus sein, es finden aber keine Therapiesitzungen statt; 185: Apichatpong Weerasethakul; 174: Time/Bank – vor dem Haus wird von den Studierenden des Akademienetzwerkes ein Zombie-Abend stattfinden. Um 21 Uhr werden die Studierenden eine Konferenz zu Lars Bang Larsens Artikel Zombies of Immaterial Labor: The Modern Monster and the Death of Death veranstalten. Anschließend (ca. um 22 Uhr) wird ein Zombiefilm gezeigt; 152: Paul Ryan – es wird dort von 21 bis 23 Uhr eine Jam Session stattfinden; 101: Maria Loboda dTOUR 2 165: Song Dong; 101: Maria Loboda; 16: Tarek Atoui – er wird von 20 bis 22:30 Uhr an seinem Haus sein und spontan Performances machen; 152: Paul Ryan […]; 105 Marcos Lutyens – um 21 wird er eine 30-minütige Hypnose-Gruppensession machen. Anschließend ist er noch bis 23 Uhr dort, um über sein Projekt zu sprechen; 155: Anri Sala; 127 Shinro Ohtake; 53: Sam Durant […]; 37: Janet Cardiff & Georges Bures Miller; 67: Ryan Gander; 147: Pedro Reyes […]; 174: Time/Bank […]; 185: Apichatpong Weerasethakul; 152: Paul Ryan […]‹ 25
Sowohl die vorgenommene Auswahl und festgelegte Wegführung als auch die Tatsache, dass erst vor Ort festgelegt wurde, welche der beiden Routen absolviert werden sollte, machte eine eigenständige Vorbereitung annähernd obsolet. Gleichzeitig blieb unklar, wie strikt diese Routen zu befolgen waren: ›Die Gäste sind über die beiden Laufrouten nicht informiert. Sie bestimmen, wie bei einer normalen dTOUR auch, welche Werke sie ansteuern.‹ Abgesehen davon, dass es tatsächlich nur im Sinne eines ›Umweges‹ sinnvoll erscheint, verschlossene Ausstellungsgebäude und nicht illuminierte Objekte anzusteuern, wird in dieser Bemerkung offenbar, wie stark sich das Verständnis von dTOUR zwischen der Konzeption durch die Maybe Education und der Organisation ducrch den Dienstleister mitunter unterschied – die Worldly Companions wurden durch beide Parteien zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung positioniert.26 Ein näherer Blick auf die 21 ausgewählten Projekte offenbart, dass mindestens vier davon nicht in der vorgesehenen Weise nutzbar waren und die Begleiterinnen und Begleiter stattdessen deutlich administrative Aufgaben übernehmen sollten. Auch die Projekte von Gabriel Lester, das über den Entzug von Sichtachsen und die Modulation von Tageslicht argumentiert, und von Anri Sala, das sich vor allem über ein vergleichendes Sehen erschließt, stellen sich als wenig geeignet in diesem Kontext dar. Die 25 | Paraphrase einer E-Mail von D Klauer: Nacht dTOURS: Routen/Gast/Taschenlampe. Privater Bestand TP. Weitere Zitate in diesem Abschnitt ebd. 26 | Vgl. C. Mörsch: Kunstvermittlung.
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besondere Stärke des mit der Nacht-dTOUR verbundenen Angebotes liegt vor allem in den nicht-regulären Ereignissen bei Tarek Atoui, Time/Bank, Paul Ryan und Marcos Lutyens, die allerdings nicht zwingend eine Begleitung erfordern und in ihrer zeitlichen Struktur der Grundform des Rundgangs entgegenlaufen. Diese Einschränkungen führten dazu, dass ich von einer eigenständigen Konzeption absah und mich nicht gesondert auf dieses Format innerhalb einer Event-Struktur vorbereitete, sondern mir in der Rolle des führenden und überwachenden Dienstleisters genügte. Dadurch wurden zweierlei erkenntnisreiche Perspektiven eröffnet: Zum einen ließ ich der Gruppe die völlige Freiheit, da ich keine eigene Agenda verfolgte. Dies führte dazu, dass wir jeweils etwa zwanzig Minuten der Performance von Tarek Atoui beiwohnten und in der Installation von Janet Cardiff & Georges Bures Miller verweilten, ohne dass ich auf irgendeine Weise aktiv wurde. Dies eröffnet eine durchaus nicht triviale Achse zwischen einer vermeintlich unkritischen und reduktiven Haltung und einer durch die Gesamtkonzeption der Maybe Education angelegten Dekonstruktion der wissenden und führenden Sprecherrolle von Vermittlerinnen und Vermittlern. Zum anderen verschob sich meine Bewertung des Potentials der regulären dTOURS maßgeblich, obwohl sich dies in den folgenden zwei Wochen bis zum Ende der dOCUMENTA (13) nur marginal in der tatsächlichen Durchführung niederschlug. Während ich bis dahin die reibungslose Dienstleistung vor allem als Rahmung meiner Vermittlungspraxis begriff, musste ich auf der Nacht-dTOUR feststellen, dass eine unkritisch-eventhafte Vermittlung durchaus eine Involviertheit hervorrufen kann, die beachtlich und erfreulich ist, obwohl ich selbst in einer Rolle auftrat, die meinen Ansprüchen nicht genügte. Diese Erkenntnisse eröffneten mir in den letzten Wochen der dOCUMENTA (13) ein ständiges Pendeln zwischen unterschiedlichen Stilen und Rollenzuschreibungen, zwischen kapitulierender Dienstleistung und einer Umkehr des Blickes, die Besucherinnen und Besuchern den Spiegel vorhalten sollte.
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»Are we to take this idea of lesson seriously? What kind of lesson? What form could this lesson take? And how could the form of this lesson itself contain a political significance, without making of itself an object (sacred, fetishized …) or an end? As for the warning part of the signification, will sleep on it.« R ene Gabri: Mail an C arolyn Christov-Bakargiev
Auch wenn die Maybe Education nur vielleicht Vermittlung sein wollte, stellt sich abschließend die Frage, was man von dieser Lektion lernen konnte und welche politische Tragweite diese hat – und ob sie möglicherweise ebenfalls eine Warnung beinhaltet. Die Maybe Education soll daran gemessen werden, inwiefern sie als dekonstruktive Kunstvermittlung die Institution, die präsentierte Kunst und auch die Vermittlungssituation als solche kritisch hinterfragt. Darunter fällt vor allem das Verhältnis von durch die Institution autorisierten Sprecherinnen und Sprechern und solchen Personengruppen, die das Recht zur Mitsprache normalerweise erst einfordern müssen, aber im Falle der dOCUMENTA (13) gezielt angesprochen wurden.1 Dekonstruktion wird nicht als strikte Gegenposition zur Affirmation verstanden, sondern als Arbeiten mit dem Gegebenen, dem Denken in Alternativen und der Bereitschaft, Unvorhergesehenes zuzulassen. Die Struktur der Maybe Education ist breit und komplex. Verallgemeinernd lässt sich aber festhalten, dass ein Großteil der Aktivitäten insofern als dekonstruktiv gelten können, als dass ihre Inhalte und Fragestellungen progressiv waren, weniger aber ihre Methoden, die sich häufig an akademischen, unidirektionalen Formaten orientierten: Seminare, Vorträge und Filmvorführungen. Ausnahmen bilden teilweise die durch Künstlerinnen und Künstler initiierten und durch die Maybe Education kommunizierten Projekte. Schließlich war die personelle Vermittlung durch die Worldly Companions eindeutig als dekonstruktiv mit ausreichend Potential zu Kritik und Transformation angelegt, obwohl sich zeigt, dass die tatsächlich durchgeführten dTOURS weitestgehend dem affirmativ-reproduktiven Diskurs zuzurechnen waren: Reproduziert wurde allerdings nicht nur Wissen über Werke und Konzept der Ausstellung, sondern immer wieder auch das Konzept der Maybe Education – unabhängig von seiner Realisation. Obwohl die dTOURS nur ein Teilprojekt waren, wird der Erfolg der Maybe Education im Wesentlichen an deren Verkaufszahlen bemessen, während die breiten anderen 1 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 10.
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Programme und deren Inhalte in der Retrospektive wenig Beachtung erfahren: »Das Konzept der ›Worldly Companions‹ der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev ist ein Erfolg: Bisher haben rund 110 000 Besucher die Ausstellung mit einer geführten Tour besucht, über 9000 begleitete Rundgänge wurden bis zum heutigen Tag (28. August) gebucht.«2 – »Auch die Vielleicht Vermittlung und Andere Programme, sowie das dOCUMENTA (13) Filmprogramm konnten gerade in den Schlusswochen noch einmal bis auf den letzten Platz besetzte Säle verbuchen. Das Vermittlungsprogramm wird an diesem Sonntag mit fast 10.000 Rundgängen, begleitet von Weltgewandten Begleiterinnen und Begleitern, abschließen und damit einen Anstieg von fast 20% gegenüber 2007 notieren.«3 – »Selbst der riskante Versuch, Kasseler Bürger aus den verschiedensten Berufen und Altersgruppen dafür zu gewinnen und auszubilden, als ›Worldly Companions‹ Besuchergruppen durch die Ausstellung zu begleiten, funktionierte gut und trug zum entspannten Klima der Ausstellung bei.«4 Julia Moritz perspektiviert das Projekt innerhalb der Geschichte der documenta: »Das langfristige Anliegen der documenta, die Vermittlung ihrer jeweiligen Inhalte zum festen konzeptionellen Bestandteil des Gesamtunternehmens zu machen, ist meiner Ansicht nach mit der Vielleicht Vermittlung der dOCUMENTA (13) einen großen Schritt vorwärts gekommen und mag neue Impulse für die konzeptionelle Kreativität, aber auch für die konkrete Wagnis von Veranstaltungsprogrammen von Kunstinstitutionen gegeben haben.« 5
Dem ist in Bezug auf die umfangreichen Aktivitäten der Maybe Education sicherlich zuzustimmen. Im Folgenden umreißt Julia Moritz ein Unverständnis des Konzepts der Worldly Companions bei Kolleginnen und Kollegen der Kunstvermittlung, allerdings ohne auch auf die internen Spannungen einzugehen. Die von ersteren genannte Kritik weist Julia Moritz mit Hinweis auf eine zu kurze Vorbereitungszeit und daher mangelhafte ›Vermittlung an die Vermittler‹ und einer überraschenden Feststellung zurück: »Das Vermittlungsprofil der documenta ist auf die Rückendeckung durch bestimmte Kreise der Fachwelt der Kunstvermittler/innen nicht notwendigerweise angewiesen, beziehungsweise muss sich teilweise auch davon freisprechen.«6 Auch wenn progressive Veränderung und Experimente eine solche Haltung mitunter erfordern, erscheint diese Aussage eher als Absicherung der eigenen (d.h. von Julia Moritz, der Maybe Education, der dOCUMENTA (13) oder der documenta), in die Kritik geratenden Position. Statt stichhaltige Argumente zu liefern oder gar eigene Fehler einzugestehen, wird hier die Verantwortung gegenüber ›bestimmten Kreisen‹ abgelehnt und auf das Publikum verlagert: »Der Zuspruch durch die Besucher/innen hat erwiesen, dass auch – oder gar besonders – Wege außerhalb der vorweg abgesteckten Möglichkeiten auf Interesse und Engagement stoßen.«7 Diese Legitimierung wird erneut im Wesentlichen über verkaufte Touren und deren Bewertung abgesichert. 2 | https://www.hna.de/kultur/documenta/d13-bietet-kommenden-wochenende-erneut naechtliche-touren-2479556.html vom 24.10.2018. 3 | http://d13.documenta.de/de/#de vom 24.03.2017. 4 | D. Schwarze: Mehr als eine Kunstausstellung, S. 56. 5 | J. Moritz: Studio d(13), S. 104. 6 | Ebd., S. 104f. 7 | Ebd., S. 105.
Dekonstruktion als Arbeit mit dem Gegebenen
Die empirische Besuchererhebung durch Gerd-Michael Hellstern untersuchte in der Kategorie Zufriedenheit die Aspekte Auswahl der Künstler (90,8% zufrieden), Internationale Zusammensetzung (94,9%), Präsentation (90,4%), Atmosphäre (93,6%), Vermittlung von Bildung und Wissen (76,6%). Es wurde über eine separate Frage ein Gesamteindruck von 93,3% zufriedenen Besuchern ermittelt. Dieser Wert entspricht auch dem Mittel der Unterkategorien, ausgenommen dem Wert für Vermittlung von Bildung und Wissen, der deutlich nach unten ausschlägt.8 Dass bei der Frage nach Zufriedenheit eben der Aspekt der Vermittlung am Schlechtesten bewertet wurde, ist erstaunlich – zumal sich diese Einschätzung hauptsächlich auf die dTOURS beziehen wird, die explizit als Vermittlung wahrgenommen werden. Ein empfundener Mangel an Vermittlung träfe in diesem Fall auf eine undifferenzierte generelle Zufriedenheit mit der gesamten Ausstellung. Vermeidet man diese Relativierung der Zahlen, muss man dennoch konstatieren, dass etwa ein Viertel der Befragten unzufrieden in Bezug auf die Vermittlung waren. Dies ist bei einem so umfangreichen und ambitionierten Angebot an unterschiedlichen Formen von Vermittlung durch die dOCUMENTA (13) und Maybe Education bemerkenswert. Julia Moritz benennt als Ziel allerdings nicht zwingend Zufriedenheit der Besucherinnen und Besucher, sondern deren Irritation: »Diese hätten nicht das zu hören bekommen, was sie hören wollten, sondern ›etwas anderes gelernt‹«9. Diese Aussage unterstreicht erneut den dekonstruktiven Anspruch der Maybe Education, wenn auch nicht gegenüber der Institution dOCUMENTA (13), sondern gegenüber deren Publikum. Es stellt sich erneut die Frage nach dem Entscheidungsgrundsatz, nach dem eine affirmative oder dekonstruktive Vermittlung angebracht ist: Oliver Marchart macht dies an den zu vermittelnden Inhalten fest.10 Da er die Documenta11 vermeintlich als »ideologisch einwandfreie Ausstellung«11 ansieht, kann und muss die Vermittlung seiner Meinung nach als affirmative konzipiert werden. Carmen Mörsch zeigt sich ›verblüfft‹ von der Selbstverständlichkeit dieser Setzung und merkt an, dass eine Reflexion des Status der Vermittlung nicht geleistet wurde: »Dies betrifft u.a. die frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen der ›guides‹, ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten, ihren Status im Verhältnis zum übrigen Personal der documenta 11 oder, simpel genug, ihre Zugangsmöglichkeiten zur Ausstellung vor der Eröffnung.«12 Wer kann die Inhalte einer Ausstellung bewerten und entscheiden, wie vorzugehen ist? Wer die Position des Publikums? Sind an der Konzeption der Vermittlung der Ausstellung maßgeblich beteiligte Personen überhaupt berechtigt oder befähigt, diese zu bewerten und daraufhin eine Entscheidung zu treffen? Sind sie berechtigt oder befähigt, zu entscheiden, welche Position bei einer anderen Ausgabe angebracht wäre? Übertragen auf die dOCUMENTA (13) stellt sich die Frage, ob nur deshalb, weil die Maybe Education als gleichzeitig unterbrechende und kanonverschiebende Vermittlung konzipiert war, ihre Umsetzung auch unterbrechend oder kanonverschiebend war, sein konnte oder sein musste. Eine wirklich emanzipierte Vermittlung, und damit ist ein über alle einzelnen Vermittlerinnen und Vermittler geknüpftes, intersubjektives Gefüge gemeint, muss selbst entschei8 | Vgl. documenta archiv, Bibliothek: documenta F 2013: G.-M. Hellstein: Besuchererhebung dOCUMENTA (13), S. 22. 9 | J. Moritz zitiert nach K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 10 | Vgl. O. Machart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 11 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 23, Fn. 60. 12 | Ebd.
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den, unabhängig davon, wie sich deren Institution positioniert. Eine wirklich progressive Ausstellung dürfte sich somit nicht einfach als solche markieren und dennoch ihre Ansichten in die Vermittlerinnen und Vermittler reproduzieren, sondern diesen die eigenen Strukturen weitestgehend offen kommunizieren und einen erheblichen Teil der Ausbildung auf die Befähigung zur jeweiligen Entscheidung der einzelnen investieren. Es muss die einzelne Vermittlerin bzw. der einzelne Vermittler sein, der entscheidet, wie sie bzw. er sich zu dem Gegenstand seiner Vermittlung und in Bezug auf jede einzelne Situation mit Besucherinnen und Besuchern positioniert. In diesem Zusammenhang erscheint die Trennung zwischen ideologischer Schulung durch die documenta und logistischer Organisation durch einen Dienstleister geradezu als grundlegende Bedingung: Die Vermittlerinnen und Vermittler sind nicht wirtschaftlich von der dOCUMENTA (13) abhängig, könnten sie somit, ohne direkte Folgen befürchten zu müssen, kritisieren. Die Maybe Education hätte eine solche Haltung vermutlich durchaus zugelassen oder sogar befürwortet. Sie sind stattdessen in einem Dienstverhältnis mit einem Dienstleister, der mit Sicherheit keine politisch-progressive, sondern eine ökonomische Agenda verfolgt und auch von seinen Vertragspartnerinnen und -partnern einfordert – oder diese nicht mehr beauftragt. Dies ist nachvollziehbar und wirtschaftlich sinnvoll. Es ist die dOCUMENTA (13), die die Worldly Companions nicht nur in diesem Konflikt positioniert hat, sondern auch als von einem Dienstleister beauftragte, zum großen Teil niedrig qualifizierte Museumsführerinnen und -führer vom Produkt dOCUMENTA (13) überzeugt hat und diese zu Verkäuferinnen und Verkäufern desselben ausgebildet hat. Gleichzeitig wurde trotz der vertraglichen Realität immer wieder ein Zugehörigkeitsgefühl produziert, welches nur in geringem Umfang eingelöst werden konnte. Die Vermittlung – und bewusst ausgeschlossen werden hier die durch Künstlerinnen und Künstler initiierten Projekte, die der Abteilung Maybe Education zugerechnet wurden – trat erst spät in das Projekt dOCUMENTA (13) ein. Die Organisation begann etwa ein Jahr vor Ausstellungsbeginn, die Vermittlerinnen und Vermittler begannen ihre Schulung im Januar 2012.13 Selbst wenn sie sich in die Choreografie einreihen konnten, hatten sie wenig Möglichkeit, auf diese und den Geisteszustand produktiv einzuwirken. Dies kann durchaus positiv bewertet werden: Die Worldly Companions waren nicht genuiner Teil der Institution (weder wirtschaftlich noch ideologisch) und daher in ihrer Positionierung zu selbiger relativ frei. Gleichzeitig waren sie aufgrund der besonderen Anlage des Projekts Worldly Companions, nicht-professionelle Vermittlerinnen und Vermittler zu beauftragen, weniger befähigt, die Möglichkeit dieser Positionierung zu erkennen und ggf. selbige vorzunehmen. Es wäre naiv zu glauben, eine solche Befähigung hätte ohne Weiteres durch die School for Worldly Companions erlangt werden können, allerdings weist deren Lehrplan auch wenig Ambition in diese Richtung auf: Die Worldly Companions konnten nicht umfassend selber entscheiden, welches Wissen sie erlangen, da es ihnen nur zu einem recht begrenzten Umfang zur Verfügung stand und es kaum während der Schulungen besprochen wurde. Kontakt zum kuratorischen Team und einzelnen Künstlerinnen und Künstlern bestand, allerdings unter ständigem Zeitdruck und mit dem Hinweis, dass diese eigentlich anderes zu tun hätten. Das Wissen über die Künstlerinnen und Künstler eigneten sich die Worldly Companions im Selbststudium an. Laut Julia Moritz sollten sie »von den Kunstwerken 13 | Vgl. J.R. Weitzel: Maybe Education, S. 23.
Dekonstruktion als Arbeit mit dem Gegebenen
eine grobe Ahnung haben, etwas davon ›gehört haben‹«14. Das Ergebnis ist nicht Vielleicht-Wissen, also eine Infragestellung des eigenen Wissens, sondern partielles Wissen, welches tatsächlich Unwissen über den konkreten Gegenstand einschließt. Die Worldly Companions konnten aufgrund des beschränkten Zugangs nicht selber entscheiden, welches Wissen sie weitergeben: »Die dialogische, ›andere‹ Herangehensweise an Kunstvermittlung darf […] nicht zum Vorenthalten ›faktischen Wissens‹ führen, sondern sollte vielmehr danach fragen, welches Wissen als ›faktisch‹ und relevant bewertet wird, welche Interpretationen von wem als gültig erachtet werden und wie zugänglich dieses Wissen auch für Nicht-Akademikerinnen ist.«15 Diese Frage muss in jeder Vermittlungssituation neu verhandelt werden und bedarf deshalb eines möglichst umfangreichen Fundus an Wissen sowie der Methoden und Erfahrung, dieses zu bewerten und auch mit dem eigenen Unwissen umzugehen. Die Worldly Companions konnten nicht selber entscheiden, welche Methoden sie anwenden, da sie weder in unterschiedlichen Methoden noch in der Theorie der Kunstvermittlung ausreichend geschult wurden und auf ihr jeweils eigenes Handlungswissen zurückgeworfen waren. Katherina Perlongo und Hanna Dölle formulieren die Beobachtung, dass die Worldly Companions häufig in konventionelle Verhaltensmuster von Führungspersonal zurückfallen: »So fragt die Neurologin beispielsweise explizit Wissen im Ausstellungsraum ab, während der Förster den BesucherInnen genaue Blickrichtungen vorgibt.«16 Wenn statt bewusst gewähltem Nicht-Wissen Unsicherheit in Bezug auf den Gegenstand, vor allem aber auf das Setting und die Methoden der Vermittlung, vorherrscht, ist diese kein produktiver, sondern ein störender Faktor. Hier liegt der Rückgriff auf Routinen nahe, da sie Halt und Sicherheit bieten, d.h. auf das, was gewusst wird und bekannt ist.17 Der klassische Führungsstil wurde für viele Worldly Companions zur Alternative zu nicht erfolgreichen oder nicht beherrschten Methoden. Es zeigt sich, dass durch die dOCUMENTA (13) die zunächst konträr erscheinenden Bewegungen der Documenta11 und documenta 12 im Feld der Vermittlung zusammengeführt wurden: Die Maybe Education erklärte das Projekt als progressiv, vor allem darin, dass es experimentelle und dekonstruktive Elemente sowohl in der Ausstellung feststellte als auch in die eigene Konzeption einschrieb und nimmt daher eine hauptsächlich affirmierende Praxis ihrer Vermittlerinnen und Vermittler in Kauf. Diese wurden nicht in experimentellen Strategien geschult, sondern sind selbst das Experiment. Wiebke Trunk bezeichnet die programmatischen Texte der Maybe Education als Lippenbekenntnisse gegenüber den Tendenzen der kritischen Kunstvermittlung und wirft der Künstlerischen Leitung der dOCUMENTA (13) eine fehlende Haltung gegenüber der Kunstvermittlung vor. »Man kann sich angesichts dieser grundlegenden verwaltungstechnischen Defizite, nicht dem Verdacht entziehen, dass für die künstlerische Leitung und Geschäftsführung weniger die Qualität der Vermittlung oder die Zufriedenheit von MitarbeiterInnen im Mittelpunkt stand, sondern dass vielmehr die Orientierung an der Gewinnmaximierung dieser Leistungen Ausschlag gebend war. Es gab sogar Phasen, so [Sandra] 14 | J. Moritz zitiert nach K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 15 | S. Ortmann: Queere Aspekte, S. 276. 16 | K. Perlongo/H. Dölle: Vermittlung von der Kunst, o.S. 17 | Vgl. K. Nölle: Routine haben, S. 178.
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Kunstvermittlung Ortmann, in denen das Team daran dachte, zu streiken und stellte abschließend fest, dass die Kunstvermittlung während der d13 eher verhindert, als befördert worden ist.« 18
Auch wenn die Umsetzung des Projekts auch in der vorliegenden Untersuchung scharf kritisiert wird, stimmt sie nicht mit Wiebke Trunks Vorwurf des ›Lippenbekenntnis‹ überein: »Als Leiterin einer globalen Kunstschau lebt Christov-Bakargiev zwangsläufig in Widersprüchen: sie fordert ökologisches Handeln und jettet durch die Welt. Sie kritisiert den Kapitalismus und muss Sponsoren gewinnen.«19 Gleiches gilt auch für die Institution documenta und deren Abteilungen, wie sich im Bereich der Maybe Education deutlich zeigt: Obwohl die Mechanismen des Kreativen Kapitalismus innerhalb der Ausstellung und der School for Worldly Companions kritisch thematisiert wurden, bewegt sich eine Vermittlung von solchen Ausmaßen vermeintlich zwangsläufig selbst innerhalb solcher Systeme. Wenn es aber nicht möglich ist, diesen Widerspruch zu lösen, so wäre es Aufgabe einer wirklich kritischen Kunstvermittlung, diese Mechanismen offen zu legen. Gelingt dies nicht – Experimente schlagen mitunter fehl – muss dies allerdings offen benannt und mit der gegebenen Situation gearbeitet werden. Dies gilt für die Verantwortlichen ebenso wie für die Worldly Companions, vor allem die etwa zehn Prozent Expertinnen und Experten, die sich trotz oder auch gerade wegen des experimentellen Ansatzes auf das Projekt eingelassen haben. Trotz der Notwendigkeit des wissenschaftlichen Diskurses zeigt das Beispiel der Worldly Companions, dass die Betroffenen diesen mitunter nicht zwingend wahrnehmen. Daher ist neben einer wissenschaftlichen Dokumentation und Analyse auch eine nicht-wissenschaftliche Tradierung innerhalb der Strukturen der documenta-Ausstellungen notwendig. Das Fazit der documenta 12 Vermittlung, die selbiges über den documenta 12 Beirat beabsichtigte, ist ernüchternd und muss zur dOCUMENTA (13) wiederholt werden: »Doch schon steht die nächste documenta vor der Tür und der neuen künstlerischen Leitung wird – so will es die Tradition – der maximale Spielraum zur Gestaltung dieses Ereignisses eingeräumt. Dabei können ›Altlasten‹ aus vorherigen Ausstellungen nur stören und den künstlerischen Freiraum beschränken. […] Dabei fällt auf, dass die Ausstellung selbst nicht dem Prinzip der kuratorischen Freiheit unterliegt. Obwohl es für die Gegenwartskunst heute viele andere Darstellungsmöglichkeiten gibt, könnte sich eine künstlerische Leitung der documenta zwar gegen die Kunstvermittlung oder die lokale Anbindung, nicht aber gegen die Ausstellung selbst entscheiden – schon allein wegen der ökonomischen Relevanz für den Standort Kassel.« 20
Für eine Abschaffung der Ausstellung als kritische Geste sprach sich bereits Oliver Marchart zur Documenta11 aus.21 Die Bestrebungen von Okwui Enwezor und Carolyn Christov-Bakargiev, Teile der Ausstellung an andere Orte zu verlagern, muss als Kompromiss zwischen dieser Geste und den ökonomischen Interessen gewertet werden. Gleiches gilt – im Gegensatz zu der Behauptung im obigen Zitat – auch für die Kunstvermittlung: Obwohl Carolyn Christov-Bakargiev diese nicht haben wollte, wurde sie 18 | W. Trunk: In Aufbruchstimmung, o.S. 19 | B. Fraschke/W. Fritsch/M. Lohr: Lady Gaga der documenta, o.S. 20 | W. Wieczorek/A. Güleç/C. Mörsch: Von Kassel lernen, S. 57. 21 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 35.
Dekonstruktion als Arbeit mit dem Gegebenen
von der documenta aus wirtschaftlichen Gründen dazu angehalten. Die Anlage der Maybe Education ist ein Kompromiss innerhalb dieser Strukturen und als solcher muss sie angesehen, befragt und bewertet werden. Mit dieser Untersuchung ist nicht die Reproduktion oder Affirmation einer Kritik an der Maybe Education intendiert, sondern ein Impuls für ein produktives Arbeiten mit dem Gegebenen mit ungewissen Ausgang und Denken in Alternativen: Dekonstruktion – als Lehre, aber auch als Warnung. »Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was wir tun? Wir suchen und untersuchen, aber vor allem tun wir eines: Wir lassen nicht locker.« 22
Nachtrag: Wir lassen nicht locker Ist das so? Haben wir nicht lockergelassen? Wer ist dieses ›wir‹? Mit dem Ende der dOCUMENTA (13) zeigte sich, dass das durch die Institution neu geschaffene Kollektiv der Worldly Companions seinen internen Rückhalt verlor. Sicherlich, einige Bekanntschaften oder sogar Freundschaften überdauerten. Aber ebenso wie es schon während der dOCUMENTA (13) unmöglich schien, die vorhandenen kritischen Dynamiken ausreichend aufrecht zu erhalten, verloren sich die Forderungen und Ambitionen der Worldly Companions im Dazwischen zweier documenta-Ausstellungen. Kein Tag der Alternativen, kein Verein oder andersartige Körperschaft, die Wissen, Erfahrung und Denken zumindest auf lokaler Ebene, aber auch darüber hinaus, hätte tradieren können. War der ›Virus‹, mit dem Kassel ›infiziert‹ werden sollte, überstanden? Es geschah das, was geschehen musste: eine partielle institutionelle Amnesie. Mit der documenta 14 wurden nicht nur kuratorische und vermittlerische Achsen der vorherigen documenta-Ausstellungen fortgeführt, sondern wohl auch deren Fehlleistungen in Bezug auf die Kunstvermittlung und diejenigen Personen, die diese durchführen. Ob sich dies tatsächlich (ausschließlich) über ein Vergessen oder nicht doch auch Kalkül begründet, verbleibt im Raum des Spekulativen. Überhaupt ist dieser Nachtrag aus einer Perspektive von außen verfasst: die documenta 14 erlebte ich nur wenige Tage als Besucher, die Aktivitäten der aneducation als interessierter, aber nicht involvierter Beobachter. Ohne auf die Konzepte hinter aneducation und dem Chor oder die methodischen Bezüge zur Spaziergangswissenschaft vertiefend einzugehen, lässt sich auch von außen feststellen, dass diese ein kritisches, dekonstruktives und möglicherweise sogar transformatives Potential besitzen. Aus eigener Beobachtung und einem breiten Gemurmel scheint es allerdings so, dass dieses sich ebensowenig wie das der Maybe Education in die Realität eines Führungsdienstes überführt hat. Auch hier wurde wohl selten ver-lernt, als denn durch echtes oder gespieltes Unwissen frustriert. Dieser der Beurteilung der Maybe Education ähnliche (wahrscheinlich sogar noch kritischere) Beurteilung der Vermittlungsabteilung der documenta 14 gehen ähnliche organisatorische Strukturen voraus: Wieder wurde als vermeintliche Notwendigkeit mit einem Dienstleister zusammengearbeitet und dadurch die Choristen erneut zwischen der Ideologie einer documenta und den Interessen der Wirtschaft positioniert. Es wurde tatsächlich der selbe Dienstleister wie zur dOCUMENTA (13) engagiert. Dies 22 | J. Moritz: Epilog, S. 154.
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Kunstvermittlung
erscheint insofern sinnvoll, als dass dieser nicht nur das Feld bereits kennt, sondern auch seine organisatorischen Aufgaben zur dOCUMENTA (13) weitestgehend sehr gut erfüllt hat – unabhängig davon, dass die Zusammenarbeit von Carolyn Christov-Bakargiev, Julia Moritz und weiteren Mitgliedern der Maybe Education Group dezidiert als Fehler bezeichnet wurde. Haben sie sich hier geirrt? Wurde das Fazit vergessen oder schlicht ignoriert? Aus dieser Perspektive erscheint es arrogant, die Ambition zu äußern, ein Dienstleister solle vom kritischen Denken einer documenta lernen (möglicherweise sogar ›infiziert‹ werden), wenn die documenta nicht einmal von den eigenen Erfahrungen lernt. Über die Ausbildung der Choristen kann ich keine qualitativen Aussagen treffen. Aber wieder wurden Individuen in ein konzeptionell kritisches Kollektiv überführt, wieder scheint die Auseinandersetzung mit Diskursen der Vermittlung und den Kunstwerken in Konkurrenz zu dieser Eingliederung zu stehen. Dies lässt zumindest aufmerken. Und dennoch schreibe ich diesen Nachtrag nicht, um ein düsteres Bild zu zeichnen. Im Gegenteil: zur documenta 14 hat sich etwas ereignet, woran wir Worldly Companions gescheitert sind. Es scheint, als habe sich eine kritische Masse gebildet. Bereits während der documenta 14 entschließen sich einige Choristen unabhängig von ihrer Institution im Selbstverlag ihre Erfahrungen und Gedanken zu publizieren. Dating the Chorus erscheint in zwei Ausgaben und versteht sich als »nicht als geschlossenes Werk, sondern als erweiterbares und flexibles Archiv, welches dem Chorus die Möglichkeit gab, sich von einem Verständnis der Kunstvermittlung als reine Dienstleistung zu lösen und in einen kritischen Diskurs mit der eigenen Arbeit zu treten.«23 Dass diese Bewegung auch von innerhalb der Institution getragen wird, zeigt sich nicht nur dadurch, dass diese über die Homepage der documenta 14 kommuniziert wurde, sondern es diesmal auch wieder eine (wenn auch im Wesentlichen affirmative) offizielle Publikation zur Vermittlung gibt: aneducation – documenta 14. Auch nach Beendigung der documenta 14 kommt der Diskurs nicht zum Erliegen, auch wenn er sicherlich Teile seiner Dynamik einbüßt. Es etabliert sich eine Gruppe unter dem Namen doc14_workers: »Wir bilden ein Forum, um uns über Erfahrungen und Kritikpunkte unserer Arbeit auszutauschen. [...] Wir engagieren uns gegen die Individualisierung von Problemen, die struktureller Natur sind und uns alle betreffen können, und sind bestrebt Strategien zu entwickeln, um diese Anliegen kollektiv zu vertreten.«24 An der Kunsthochschule Kassel finden unregelmäßig Veranstaltungen unter dem Titel Vermittlung vermitteln statt, die oben genannte Akteure mit denen vorheriger documenta-Ausstellungen und darüber hinaus zusammenbringt. Auf der ersten dieser Veranstaltungen wurde ein umfangreicher Katalog an Forderungen formuliert, den ich hier wiedergeben möchte: »Forderungen – Nennen wir es Ausblick – Vermittlung von Anfang an als integraler Bestandteil der Ausstellung, Ausstellungskonzeption und -planung – Bildung eines Beirats: ein*e Sprecher*in der Vermittler*innen on the ground (ehem. Worldly Companions bzw. Chorist*innen) als Mitglied in allen Gremien der documenta, die Entscheidungen bzgl. Arbeitssituation und -bedingungen treffen (durchaus 23 | https://documenta-studien.de/dating-the-chorus-i-und-ii vom 25.01.2019. 24 | https://doc14workers.wordpress.com vom 25.01.2019.
Dekonstruktion als Arbeit mit dem Gegebenen auch für andere Arbeitsfelder der documenta erweiterbar zu denken: Aufbauteam, Aufsichtsteam ...) – UNABHÄNGIGE Mediation, die Vermittler*innen in Anspruch nehmen können – Konkrete Ansprechpartner*innen, Organigramm – Touren, Spaziergänge ... in voller Anerkennung als Kunstvermittlung (anstatt einer Serviceleistung auf Ebene des Merchandising) – Bereitstellung von Unterkünften und Infrastruktur (Information, Kommunikation, Austausch, Vorbereitung, Mobilität, Rekreation ...) für Vermittler*innen – Option, das Arbeitsverhältnis als Angestellte*r oder als freie*r Mitarbeiter*in wählen zu können – Vergütung von Vorbereitungszeit – Vergütung von Reisekosten – Kein Outsourcing der Vermittlung, weil dadurch strukturelle Verwerfungen in der Kommunikation zur künstlerischen Ebene der Ausstellung geschaffen werden, Unklarheiten bei Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zwangsläufig sind – Im documenta archiv eine Abteilung Archiv der ›Kunstvermittlung‹ einrichten, organisieren, pflegen und sowohl für die Öffentlichkeit zugänglich machen als auch bei der Ausbildung der Kunstvermittler*innen der documenta aktiv mit einbinden, um die Weiterentwicklung der Kunstvermittlung auf Grundlage der jüngsten Erkenntnisse (und im historischen Vergleich) zu unterstützen – Aufbau einer Interessenvertretung der Kunstvermittler*innen in der Bundesrepublik Deutschland. Ziel: Festigung des Berufsbilds, Aushandeln von (Muster-)Honoraren und Verträgen, Arbeitsbeschreibungen, verlässliche Regelungen für Besteuerung und Verbesserung im Zusammenhang mit Sozialabgaben (Aufnahme des Berufsbildes in den Katalog der KSK-Berufe)« 25
Die Forderungen leiten sich aus denen zur documenta 7, Documenta11, documenta 12 und dOCUMENTA (13) ab und sind perspektiviert auf die Zukunft nach der documenta 14. Es zeigt sich bis dato ein deutliches Gewicht zu Fragen der Organisation und Vergütung; Überlegungen zu Methoden und Diskursen der Kunstvermittlung müssen vertiefend folgen. Neu ist vor allem die mit den Forderungen verbundene Öffentlichkeit, die weniger aus den technischen Bedingungen als dem erlerntem Handlungswissen des Web 2.0 resultiert und in der Lage ist, sich auch in Antagonismus zu einer ›Hegemoniemaschine‹ wirkungsvoll zu manifestieren. Tatsächlich scheint es, als hätte Julia Moritz mit ihrer Behauptung recht behalten. Wir lassen nicht locker. Dieses ›wir‹ ist allerdings durchaus nicht deckungsgleich mit der Vermittlungsabteilung irgendeiner Kunstausstellung und kann es auch nicht sein. Wir sind all diejenigen, die Vermittlung denken und vollziehen. Wir haben Erfahrungen. Wir haben Wissen, auch um unser Nicht-Wissen. Und wir haben eine Stimme, mitunter viele Stimmen. Zum Abschluss dieses Nachtrags möchte ich das Bild des ›Virus‹ wieder aufgreifen: Die documenta-Ausstellungen und ihre ambitionierten Vermittlungskonzepte haben sowohl durch ihr kritisches Denken als auch ihr zum Teil zu kritisierendes Handeln Menschen in Kassel und darüber hinaus durchaus ›infiziert‹. Vielleicht ist die Zeit gekommen, dass dieser ›Virus‹ mutiert und an die Teile seines Wirtes zurückgetragen wird, die bisher immun erscheinen. Wir lassen nicht locker. 25 | https://documenta-studien.de/vermittlung-vermitteln-1--nennen-wir-es-arbeit-1 vom 25.01.2019.
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Vermittlungskunst »Und manchmal vermitteln sie sich lieber selbst!«
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Eine gemeinsame Arbeit am Projekt
»Liebe dOCUMENTA (13)-Besucherin, lieber dOCUMENTA (13)Besucher, wir schreiben, um Ihnen zu sagen, dass Künstlerinnen und Künstler in der Lage sind, ihre eigenen Fragen zu formulieren, ihre eigene Forschung betreiben und ein vielfältiges Publikum direkt ansprechen und einbeziehen können. Wir wollen festhalten, dass Künstlerinnen und Künstler nicht immer Vermittlung benötigen. Und manchmal vermitteln sie sich lieber selbst. Wir wollen ermöglichen, dass eine Vielfalt an Stimmen und Ansichten, die auf unterschiedlichen Arten von Neugier, Erkenntnis und Erfahrung beruhen, die Geschichte der heutigen Kunst sowie das, was Künstlerinnen und Künstler heutzutage beschäftigt, erzählen und verkörpern. Wir wollen die Fähigkeit der Künstlerinnen und Künstler, für sich selbst zu sprechen und ihre eigenen diskursiven Rahmen zu gestalten, zurückfordern. […]« AND AND AND: Kurze Absichtserklärung
Es zeigt sich nicht nur bei den Vertreterinnen und Vertretern der Vermittlungskunst um Marius Babias, sondern auch bei Künstlerinnen und Künstlern, die an einer documenta teilnehmen, eine Skepsis gegenüber hegemoniale Institutionen. Nach Marius Babias führe die DOCUMENTA IX die Kunst in die Unterhaltungsbranche.1 Der documenta X zumindest in Teilen die intellektuelle Analyse von zeitgenössischer Projektkunst zugestanden, was als Teilerfolg der Diskursverschiebung zu werten wäre.2 In Abgrenzung zur autonomen Objektkunst wurden dort Vorträge und Diskussion gleichwertig in die von Catherine David konzipierte Trias von Ausstellung, Buch und Vortragsreihe unter dem Titel 100 Tage – 100 Gäste eingeführt und somit ein erweiterter und politisierter Kunstbegriff praktiziert.3 Dennoch reicht dieses Zugeständnis Marius Babias nicht zu einer Versöhnung mit den Akteurinnen und Akteuren im Zentrum: »Fotografie und Video-Kunst sind zur zeitgeistigen Ersatz-Malerei aufgestiegen; […] Ironischerweise war es der Erfolg der High-Tech-Werte an den Börsen, der den Erfolg 1 | Vgl. M. Babias: Vorwort, S. 11. 2 | Vgl. S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 17. 3 | Vgl. ebd., S. 22.
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Vermittlungskunst der alten Medien beflügelte, die […] die documenta X […] mit einer nicht für möglich gehaltenen Penetranz dominierten. Besonders bitter ist, dass Catherine David ihren kritischen documenta-Diskurs 1997 ausgerechnet mit einem Overkill an fotografischen Arbeiten illustrierte. Aber auch die Documenta11 von Okwui Enwezor, der die Bildende Kunst in einen übergreifenden Diskurs zwischen Postkolonialismus und Globalisierung einbettete, kam nicht ohne Videokabinette aus.« 4
Eine etwas andere documenta-Geschichte zeichnet Oliver Marchart, der sich einerseits am kritischen Diskurs (in Herausgabe von Marius Babias) beteiligt, andererseits aber an der Konzeption einer Plattform sowie des Education Programms der Documenta11 beteiligt war: »Darüber hinaus kann der Apparat [der Dominanzkultur] zur progressiven Kanonverschiebung im Feld nutzbar gemacht werden. Manches wird dann sagbar und darstellbar, was vorher nicht sagbar war, anderes erscheint wiederum als nicht mehr sagbar oder muss hegemonial reformuliert werden, um sagbar zu bleiben. Das muss nicht plötzlich auftreten, sondern der Hegemonieverlust der Dominanzkultur kann schleichend geschehen. Dann nimmt er die Form sukzessiver Kanonverschiebungen an, wie sie auch an der documenta X und der Documenta11 zu beobachten sind. […] [W]ir sind heute Zeugen einer gegen-hegemonialen Verschiebung, welche die Institutionen der bürgerlichen Dominanzkultur selbst – zumindest manche von ihnen – erfasst hat. […] Mit der dX und der D11 verdichtete sich eine bereits latent vorhandene Kanonverschiebung symbolisch zu einem Bruch im Kunstfeld, der durchaus progressive Effekte hatte.« 5
Trotz dieser beachtlichen und nicht rückgängig zu machenden Verschiebungen kommt Oliver Marchart zu einem ähnlich ernüchternden Urteil wie Marius Babias, allerdings in Bezug auf die documenta 12: »Man könnte polemisch formulieren, dass die d12 dem Bildungskleinbürgertum wieder zu seinem Recht auf Kunstgenuss verhelfen wollte […]. Mit der d12 sollten Brüche und Verschiebungen, die von der dX und D11 ausgegangen waren, wieder in die bürgerliche Dominanzkultur rückgeführt, d. h. neutralisiert werden – und zwar durch Strategien wie Formalisierung, Ornamentalisierung, Dekontextualisierung, Enttheoretisierung und Okzidentalisierung der präsentierten Arbeiten. […] Die institutionellen Mittel, die vorher zur Kanonverschiebung entwendet wurden, werden nun dominanzkulturell eingesetzt, um alles Widerspenstige und Missliebige zu entschärfen. Gegen-hegemoniale Brüche werden geglättet und der hegemonialen Formation eingegliedert.« 6
Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, inwiefern einige der oben genannten Strategien von Roger M. Buergel und Ruth Noack als Dekonstruktion eines hegemonialen Experten-Diskurses konzipiert waren und ob diese gelungen ist oder nicht. Ebenso wenig interessiert eine abschließende Bewertung der Vermittlungsarbeit der documenta 12 oder der Zusammenarbeit mit dem documenta 12 Beirat – deren Anerkennung 4 | M. Babias: Zurückeroberung der Subjektivität, o.S. 5 | O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 10. 6 | Ebd., S. 12.
Eine gemeinsame Arbeit am Projekt
zeigt sich im Gebrauch der dort produzierten Forschungsliteratur. Stattdessen soll der Hinweis auf die bis heute anhaltenden massiven Anschuldigungen von Ausstellungsmachern und Kritikern gegenüber dem Künstlerischen Leiter der documenta 12 genügen, um eine Skepsis auszudrücken, ob sich hier nicht ein durchaus institutionalisierter Diskurs mit der Selbstwahrnehmung der Peripherie gegen eine z.T. gegenläufige Strömung schützt, die deshalb nicht als hegemonial oder dominant, als das Zentrum, gelten muss.7 Für diese Untersuchung wichtiger sind folgende Schlüsse aus Oliver Marcharts Abhandlung und der Auseinandersetzung mit Vermittlungskunst im Allgemeinen: Erstens: Es ist möglich, dass alternative Diskurse durch Künstlerinnen und Künstler, durch Kunstvermittlerinnen und -vermittler in Form von Dienstleistung als kritischer Praxis, durch Aktivistinnen und Aktivisten von außen oder andere Parteien in das Zentrum der hegemonialen Repräsentationskultur eingeschleust werden (Infiltration). Zweitens: Es ist sogar möglich, dass diese Akteure den Apparat übernehmen und transformieren, so dass dieser selbst eine gegen-hegemoniale Position einnimmt. In diesem Fall würden Künstlerinnen und Künstler, die Künstlerische Leitung und der gesamte Apparat gemeinsam am Projekt der politischen Kunst arbeiten (Transformation). Drittens: Innerhalb einer solchen gegen-hegemonialen Institution ist dekonstruktives Handeln zwar möglich, aber weniger notwendig, da die politisch-kritische Position durch affirmatives Handeln bestärkt und multipliziert werden kann. Dies gilt für alle unter dem ersten Punkt genannten Personengruppen. Dieser Zustand der gemeinsamen Arbeit am Projekt der politischen Kunst wäre wünschenswerter, als eine kritische Haltung innerhalb einer reaktionären Institution einnehmen zu müssen, da diese damit als Gegebenes ebenfalls affirmiert wird.8 Viertens: All diese Tendenzen können vom hegemonialen Diskurs aufgefangen und assimiliert werden, sie werden zu Auftragskritik im Sinne des zu kritisierenden Diskurses und somit zu ungewünschter Affirmation – »eine Falle, der sich kaum entgehen lässt, selbst wenn sie als solche erkannt wird.«9 Eine Untersuchung von institutionskritischen, politischen, edukativen und partizipativen Projekten, die hier unter Vermittlungskunst geführt werden, benötigt somit immer auch eine Untersuchung ihres Kontextes, d.h. der Institution. Erst durch deren Einordnung im Feld hegemonialer und gegen-hegemonialer Verschiebungen ist eine Bewertung unter den Kategorien von Affirmation, Dekonstruktion und Transformation sinnvoll möglich. Diese Untersuchung des Kontextes ist im Falle der dOCUMENTA (13) von besonderem Interesse, da sie in ihrem Vokabular sowohl die Themengebiete der Gegenkultur der 1990er Jahre, d.h. »›Institutionskritik‹, ›Political Correctness‹, ›Bio-‹ und ›Gentechnologie‹«10 etc. führt, als auch die als ›Small talk‹ und ›Verbannung der Kunst aus dem Leben‹ geschmähten Begriffe »›Intuition‹, ›Vibration‹ [und] ›Körper‹«11 Jan Hoets. Um 7 | Vgl. R.M. Buergel/O. Enwezor/D. Joselit/R. Noack: documenta 12, Migration of Form, Sym posion: documenta 1997-2017: Erweiterte Denkkollektive, Kassel 18.07.2015. 8 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 9 | S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 25. 10 | M. Babias: Vorwort, S. 25. 11 | Ebd., S. 13.
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Vermittlungskunst
das »Spannungsfeld von Unterhaltung und Unterrichtung, entertainment und education«12 auch aus der documenta-Geschichte heraus zu eröffnen, sollen zwei Zitate von Carolyn Christov-Bakargiev dienen: »I really, really loved his [Okwui Enwezors] dOCUMENTA 11, I loved Catherine Davids dOCUMENTA X, and I love Harald Szeemanns dOCUMENTA 5, although I didn’t see it, in 1972. I think those are the three that maybe I felt closest to. I was also very interested in the first ones who did the shift from a eurocentric exhibition to a more international perspective. I have respect for Arnold Bode, but the three I really feel in dialogue with are Catherines, Okwuis and Harald Szeemanns dOCUMENTA exhibitions. And I don’t want to continue the way that Catherine and Okwui did it, now in some conceptional paradigm of research-based art, because I do belive very much in storytelling and poetry, and I share that with Szeemann. It’s all about storytelling and poetry, obsessions and surrealism.« 13 »[D]ie [documenta 9] mochte ich sehr. […] Da gab es eine Menge gute Kunst. […] Hoets Documenta war vielleicht nicht so sensibel für die politischen Fragen der damaligen Zeit: den Fall der Mauer, die Krise Europas. Ich versuche mich mehr mit den Problemen der Welt im Großen auseinanderzusetzen. Trotzdem mochte ich, dass sie kein so strenges Konzept hatte. Dann kommen die Kunstwerke besser zur Geltung. Ich mag […] keine allzu direkte, explizit inhaltliche politische Kunst. Manchmal laufen dann all diese reichen Leute durch und sagen sich: Was bin ich cool! Und sie predigt oft nur zu den Bekehrten.« 14
Im Folgenden werden unter drei Fragestellungen, die sich aus denen des Diskurses um Vermittlungskunst ergeben und die lose aufeinander aufbauen, künstlerische Positionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) betrachtet. Dabei verschiebt sich der Fokus im Vergleich zur bisherigen Untersuchung deutlich von Ausstellungsensembles und deren Bezug zum Geisteszustand hin zur Betrachtung von Einzelwerken, deren Wirkung und Intention. Es wird außerdem untersucht, inwiefern diese Positionen »kritisch oder affirmativ, kritisch intendiert und affirmativ verwendet, oder in Affirmation umgeschlagene Kritik«15 sind. Eva Scharrer macht Projekte aus, die sie als ›Werkzeuge‹ bezeichnet, die es ermöglichen sollen »sich von größeren, vom Staat oder von Unternehmen kontrollierten Ökonomien unabhängig zu machen und statt ihrer eigenen Formen des Wirtschaftens zu schaffen.«16 Es stellt sich die Frage nach künstlerischen Projekten, denen es gelungen ist, sich gänzlich oder teilweise von der Ökonomie der dOCUMENTA (13) unabhängig zu machen.
12 | T. Holert: Empowering Entertainment, S. 189. 13 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 121. 14 | C. Christov-Bakargiev/I. Arend: Keine explizit politische Kunst, o.S. 15 | S. Germer: Unter Geiern, S. 90. 16 | E. Scharrer: Time/Bank, S. 310.
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Bildung einer kritischen Öffentlichkeit
Die Ausstellungsorte der dOCUMENTA (13) waren weit über die Stadt Kassel verteilt und fanden konzentriert auch in bisher nicht durch Ausstellungen genutzten Räumen des Alltags statt. Dies ist eine bewusste Ansprache auch jener Bürgerinnen und Bürger Kassels, die nicht die Ausstellung besuchten und der Versuch, sich mit dem Leben der Stadt in Verbindung zu setzen. Dieses Bemühen lässt sich mit dem Anspruch einiger Akteure des Vermittlungskunst-Diskurses, nicht nur das Publikum von Ausstellungen zu re-politisieren und durch Kunst eine »Ausbildung von Handlungs- oder Kritikfähigkeit«1 zu ermöglichen, sondern auch die Öffentlichkeit außerhalb der Ausstellungen in den kritischen Diskurs einzubeziehen, zusammenführen – auch wenn es vermutlich eher als Versuche der Eventkultur, neue Zielgruppen zu kolonisieren, gelesen wird. Diese Bemühungen reagieren darauf, dass die Produktionsbedingungen von institutionskritischen Künstlerinnen und Künstlern sich verändern, sofern diese nicht auf ein kritisches Publikum treffen, sondern nur auf das (vermeintlich unkritische) Publikum der kuratierten Großausstellungen bzw. uninformierter Bürgerinnen und Bürger.2 Da Partizipation nicht das eigentliche Anliegen ist, ist diese auch nicht zwingend notwendig, stattdessen geht es »um die Problematisierung oder Thematisierung von Partizipation oder Teilnahme«3 und somit um das Herstellen einer kritisch-reflektierenden Öffentlichkeit. »Die Aktivierung und Beteiligung des Publikums bezweckt die Transformation des Verhältnisses zwischen Produzenten und Rezipienten in dessen traditioneller Variante der Werk-Betrachter-Beziehung. […] Die Intention der Auflösung dieser Situation in eine Dynamik der Wechselseitigkeit entwickelt sich entlang einer Kritik der rein visuellen Erfahrung und zielt häufig auf die Aktivierung des Körpers als Voraussetzung von Beteiligungen.« 4
Über die ›Aktivierung des Körpers‹ soll die Brücke zurück zur Choreografie der dOCUMENTA (13) geschlagen werden. Im Folgenden werden Beispiele für künstlerische Projekte untersucht, die auf unterschiedliche Art, im Außen- oder Innenraum, mit oder ohne Partizipation, eine (kritische) Öffentlichkeit bilden wollen. 1 | BüroBert: Gegenöffentlichkeit, S. 30. 2 | Vgl. S. Germer: Unter Geiern, S. 91. 3 | J. Rebentisch zitiert nach D. Laleg: Das Potential des Ästhetischen, S. 31. 4 | C. Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 31.
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Vermittlungskunst
Vom Verschwinden des Konflikts im Aussenraum Auch wenn Oliver Marchart überzeugend argumentiert, dass sich Öffentlichkeit nicht grundlegend oder automatisch durch den allgemein zugänglichen Außenraum konstituiert, lohnt sich ein Blick auf diejenigen Positionen der dOCUMENTA (13), die sich nicht nur in diesem positionieren, sondern ihn auch thematisieren.5 Dies sind vor allem I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS (19692011) von Ida Applebroog, ex libris (2010-2012) von Emily Jacir und The Disobedient (Reasons for Imprisonment) (2012) von Sanja Iveković. Alle drei Beispiele finden sich gleichzeitig auch innerhalb der Ausstellungsgebäude des Fridericianums bzw. der Neuen Galerie. Vor allem die Projekte von Sanja Iveković und Emily Jacir unterscheiden sich in ihrer jeweiligen Manifestation deutlich: Während innerhalb der Ausstellungshäuser jeweils serielle Präsentationen von Stofftieren bzw. Fotografien präsentiert werden, die in sich geschlossen erscheinen und Besucherinnen und Besucher nicht direkt adressieren, zeigen sie sich im Außenraum als deutliche Ansprachen in Form von Plakaten. Die weißen Plakate von Emily Jacir fallen in Abgrenzung zu üblichen Werbeplakaten direkt ins Auge, konfrontieren Betrachterinnen und Betrachter aber mit einem (doppelten) Unverständnis: Zunächst kann die arabische Schrift innerhalb Deutschlands nur von einem Bruchteil der Personen, die sich mit dem Plakat konfrontiert sehen, gelesen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der englische Text, der zwar mit lateinischen Lettern zugänglicher erscheint, aber immer noch nicht die gesamte Öffentlichkeit adressiert, eine Übersetzung des anderen Textes darstellt: ›To a dear friend and great research historian Omar Effendi il Barghouti. A gift of respect and appreciation from the author Aref il Aref‹. Doch selbst wenn man ein Verständnis eines oder beider Texte annimmt, bleibt deren Kontext im Bereich des Spekulativen. Möglicherweise lässt sich über den Aufbau sowie die Schlagworte ›gift‹ und ›author‹ bzw. deren arabischen Entsprechungeneine Buchwidmung assoziieren. Die beiden auszumachenden Namen beziehen sich zwar nicht auf in Deutschland bekannte Personen, lassen sich aber über eine oberflächliche Webrecherche mit zwei Personen verbinden, die in Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina stehen. Somit ist es mit minimaler Mühe möglich, den historischen Bezug auszumachen, mit dem sich das Projekt von Emily Jacir tatsächlich auseinandersetzt: »Jacir hat sich den Zwehrenturm als Standort für die Ausstellung ihres eigenen Denkmals für die etwa 30.000 Bücher, die 1948 von Israel bei Plünderungen aus palästinensischen Wohnungen, Bibliotheken und Institutionen entwendet wurden, ausgesucht; 6.000 dieser Bücher befinden sich heute in der Jüdischen Nationalbibliothek in West-Jerusalem, wo sie im Katalog unter dem Kürzel ›A.P.‹ (Abandoned Property, also herrenloses Gut) erfasst sind. Im Laufe ihrer zahlreichen Besuche fotografierte Jacir diese Bücher mit ihrem Mobiltelefon. […] Durch eingehende Erkundung, Auswahl, und Katalogisierung hat Jacir ein Verzeichnis der Bruchstücke und Spuren geschaffen, die sie fand.« 6
5 | Vgl. O. Marchart: Protest, Tanz, Körper, S. 102f. 6 | E. Scharrer: Emily Jacir, S. 80.
Bildung einer kritischen Öffentlichkeit
Die Methode der Handy-Fotografie gibt einen Hinweis darauf, dass dieses Projekt ohne Genehmigung in der Nationalbibliothek durchgeführt wurde und erhebliches Konfliktpotential beinhaltet. Um ein vorzeitiges Bekanntwerden zu verhindern, war das Projekt bis zur Eröffnung der dOCUMENTA (13) sogar den Worldly Companions unbekannt.7 Gleichzeitig fordert der Werkkomplex ex libris ein Bekannt- und Öffentlich-Werden geradezu ein. Dennoch verweisen sowohl die Plakate als auch die Installation der Fotografien im Zwehrenturm in ihrer Erscheinung nicht direkt auf diesen Konflikt, sondern treten zurückhaltend und stark ästhetisiert auf. Sie drängen sich nicht auf und erschließen sich erst über intensive Auseinandersetzung und die Paratexte. Trotz der partiellen Positionierung im öffentlich zugänglichen Raum konstituiert sich die in diesem Werk angelegte Öffentlichkeit über einen öffentlich zu führenden Diskurs. Die Plakate von Sanja Iveković entsprechen eher den Sehgewohnheiten von Werbeplakaten im Außenraum, verweisen aber durch den Gelbton auf die durch die dOCUMENTA (13) eingesetzte Signalfarbe. Entgegen den Plakaten von Emily Jacir versammeln sie viele Informationen, die sich aber ohne weiteres erschließen lassen: Es werden Gründe für eine Hafteinweisung aufgezählt, z.B. ›wer seinen Arbeitsplatz verlassen und sich umhergetrieben hat‹, ›weil er gegen die staatspolizeilichen Auflagen, sich nicht mehr auf dem Gebiet der Astrologie zu betätigen, verstoßen hat‹, ›weil er geistig stark beschränkt ist‹, oder ›wegen Faulheit und fortgesetzten nächtlichen Herumtreibens‹.8 Sowohl über Sprache als auch über den Teil des Werkes, der sich in der Neuen Galerie befindet, lässt sich eine Verbindung zum nationalsozialistischen Regime konstruieren. Suzana Milevska ordnet diese Vorgehensweise insofern als affirmativ ein, als dass durch eine in den Archiven der Gedenkstätte Breitenau durchgeführte Forschung Fakten generiert wurden, die unkommentiert präsentiert werden.9 Die Aufgabe des Kommentars und der möglicherweise kritischen Wendung ist somit den Leserinnen und Lesern des Plakates überlassen. »Im Allgemeinen wird Kunst im ›Außenraum‹ heute an der konzeptiven Stellung des Publikums gemessen. Eine gute Arbeit, so der Konsens, muß ihr Gegenüber als werkkonstituierenden Faktor einkalkulieren, als Partner gewissermaßen.«10 Dieser Aspekt ist bei den Arbeiten von Sanja Ivekovic und Emily Jacir zumindest angelegt. Mithin zeigt evtl. schon die Tatsache, dass die musealen Präsentationen von The Disobedient (The Revolutionaries) und ex libris weit stärker rezipiert wurden, ein Verschwinden oder Nicht-Zustandekommen des öffentlichen Diskurses. Hans Haacke formuliert als Resümee zu einem seiner Projekte im Außenraum: »Ein komplexes Plakat mit verhältnismäßig kleinteiligen Elementen geht deshalb im visuellen Gewimmel leicht unter. In den Medien gab es wenig Resonanz. Die von mir erhoffte Debatte blieb aus. Das Beispiel demonstriert, dass massenhafte Verbreitung
7 | Es findet sich im Schulungsmaterial der School for Worldly Companions keine Information bis auf den Namen der Künstlerin und den Ausstellungsort im Zwehrenturm. Vgl. docu menta archiv, Aktenarchiv: Ordner »MEPP_d13 SFWC_1«. 8 | documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »IV SA« (Sanja Iveković): Entwurf des Plakats The Disobedient (reasons for Imprisonment) (2012). 9 | Vgl. S. Milevska: Gedächtnisverlust, S. 249. 10 | S. Rollig: Projektorientierte Kunst, S. 18.
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Vermittlungskunst im flächendeckend von Werbung okkupierten ›öffentlichen Raum‹ kein Garant für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs ist.« 11
Die Arbeit von Ida Applebroog im Fridericianum ist eine komplexe Text-Bild-Collage, die sich über den gesamten Ausstellungsraum und darüber hinaus ausdehnt. Eine dieser Verlängerungen fand als inszenierte Kundgebungen durch am Körper getragene Klappschilder durch Gruppen ›surrealistischer Demonstranten‹ im Außenraum statt.12 Die Botschaften dieser Schilder sind zwar durchaus absurd-poetisch, aber dennoch einfach zu erfassen, z.B. ›I will masturbate later darling‹ oder ›How big is a normal penis?‹. Die Künstlerin begeht hier einen doppelten Tabubruch: einerseits thematisiert sie öffentlich sexuelle Themen und assoziiert sie mit Personen auf eine Art, die unangebracht erscheint, Scham auslösen kann, andererseits – dies muss den Paratexten entnommen werden – veröffentlicht sie in der gesamten Arbeit I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS private Notizen und Tagebucheinträge und perforiert dadurch ihre eigene Privatsphäre.13 Auch auf die Demonstration blieben kritische Reaktionen weitestgehend aus, was darauf hindeutet, dass die durch die drei Künstlerinnen angesprochenen Themen (Kriegsbeute, Staatsgewalt und individuelle sexuelle Gewalt) im Rahmen einer Großkunstausstellung nicht ausreichend provozieren konnten, um einen Diskurs auszulösen. Dies muss nicht zwingend auf ein unpolitisches und unemphatisches Publikum hinweisen, sondern zeigt auch, dass der inszenatorische Rahmen der Kunst in Abgrenzung zum eigentlichen Leben das Potential zum Konflikt – und damit zu einer kritischen Auseinandersetzung – schmälern kann.14 Oliver Marchart definiert Öffentlichkeit als den Moment des Konfliktes und stellt fest, dass diese wieder verschwindet, wenn Konflikte nicht stattfinden oder gelöst werden.15 Mit Blick auf die Konflikte um Stephan Balkenhol sowie Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg wird diese Definition gut nachvollziehbar. Beide lösten einen öffentlichen Diskurs über Eigentum, Tradition, Autorschaft und die Fähigkeit verschiedener Gruppen, als Sprechende wahrgenommen zu werden, aus, obwohl diese Prozesse nicht grundsätzlich in den Arbeiten angelegt waren, sondern durch diese nur bedingt wurden. Es zeigt sich, dass Öffentlichkeit weder geplant, noch hergestellt werden kann, sondern sie sich ereignet. Dies hat direkt Konsequenzen für kritisch-künstlerische Positionen, die auch in den drei bisher untersuchten Arbeiten aufscheinen: Statt offen in einen Konflikt einzutreten, der im Rahmen der Kunstausstellung geschwächt wird, wird sich affirmativen Strategien wie Verniedlichung (Stofftiere bei Sanja Iveković), Ästhetisierung (Emily Jacir) und dem aus der Relational Art entlehntem Souvenir (Plakate und Abreißzettel bei Ida Applebroog) bedient, die Besucherinnen und Besucher einbinden und die Auseinandersetzung mit den darin verhandelten Themen in einen Raum der weiteren Auseinandersetzung verlagern.
11 | H. Haacke: OffenSichtlich, S. 225. 12 | Vgl. E. Scharrer: Ida Applebroog, S. 36. 13 | Vgl. ebd. 14 | Vgl. O. Marchart: There is a Crack, S. 343. 15 | Vgl. ebd., S. 342.
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Inblicknahme der Institution Mit dem Ottoneum und der Orangerie wurden zwei Institutionen durch die dOCUMENTA (13) als Ausstellungsfläche genutzt, die selbst Museen mit eigenen Sammlungen sind. In beiden Häusern wurden Räume geschaffen, die an die Präsentationsweisen von Kunstausstellungen angelehnt sind, während andere in ihrer üblichen Präsentationsform verbleiben und Positionen der dOCUMENTA (13) beherbergen. Insbesondere das Erdgeschoss des Ottoneums wurde weitestgehend transformiert und nur der Eingangsbereich des Museums, über den man auch die eigene Sammlung im ersten Stockwerk erreicht, erinnert an die Eigenständigkeit der Institution. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es als intendierte Setzung, dass das bodentiefe Fenster im Raum mit dem Projekt von Claire Pentecost als Hintereingang und Verbindung zu dem von AND AND AND genutzten Garten, der sich zu den üblichen Routen der dOCUMENTA (13) hin öffnet, dient. Die im Erdgeschoss versammelten Projekte behandeln »Fragen zu Saatgut und der Erzeugung von Erde, Leben, Nahrungsmitteln, Kunst, Geschichten, Intra-Aktion und In-der-welt-Sein«16 und begründen mit diesen Themen einen Erzählstrang, der sich in die Karlsaue verlängert. Hier zeigt sich die Strategie des ›mimetischen Kuratierens‹ besonders deutlich, da die Projekte zwar thematisch zum Naturkundemuseum passen, mit diesem allerdings nicht interagieren. Anders verhält es sich mit Xylotheque Kassel (2011-2012) von Mark Dion. Das Projekt arbeitet mit den Beständen des Naturkundemuseums und stellt für eine von Carl Schildbach von 1771 bis 1799 angelegte Holzbibliothek ein neues Display zur Verfügung und ergänzt diese um sechs neue Bände.17 »Indem sie den wissenschaftlichen Methoden und Klassifikationssystemen der Archäologie, Biologie, Biochemie, Ethnografie, Museologie oder Ornithologie nachspürt, bleibt Dions Herangehensweise an Wissenschaft und die herrschende Kultur skeptisch, spielerisch und anti-auktorial; sie führt Methoden aus anderen Feldern ein, um sich der Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Ökosystemen in Kultur, Politik und Natur anzunehmen.« 18
Marius Babias betont, dass Mark Dions Arbeit wissenschaftlich keinen Sinn ergibt, weil sie keine Erkenntnisse bringt und vermittelt.19 Dem ist in Bezug auf die in der Arbeit verhandelten Fragen um die Sammlung und Klassifikation von unterschiedlichen Bäumen zuzustimmen, gleichzeitig thematisiert sie die Displays der naturhistorischer Sammlungen als Narrative der hegemonialen Kultur.20 »Diese Orte produzieren und vertreiben die offizielle Version der Geschichte. Durch die Analyse der Meistererzählungen und Erzähltechniken der Präsentation dieser Institutionen wird die darunterliegende Ideologie erkennbar.«21 Dies wurde im Ottoneum wie folgt angestrebt:
16 | documenta: Das Begleitbuch, S. 200. 17 | Vgl. E. Scharrer: Mark Dion, S. 204. 18 | Ebd. 19 | Vgl. M. Babias/U.M. Bauer: Interview, S. 213. 20 | Vgl. H. Draxler: Ambivalenz und Aktualisierung, S. 86. 21 | M. Dion: Unbetiteltes Statement, S. 112.
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Vermittlungskunst »Die Bibliothek besteht aus einem sechseckigen Eichenholzkabinett […], in das eigens dafür angefertigte Regale eingebaut sind. Auf den Außenseiten befinden sich fünf Intarsientafeln, die jeweils das Bild eines Baumes zeigen; gleich heraldischen Emblemen stehen sie für Afrika, Asien, Ozeanien und Nord- und Südamerika, während Europa, Ursprungsort und Heimat der Sammlung, den Eingang bildet.« 22
Es findet innerhalb des Displays keine simple Zuordnung der Bände zu den Kontinenten statt, sondern es sind die Besucherinnen und Besucher, die hier im Moment des Eintretens klassifiziert werden. Ihr durch die Kultureinrichtung gelenkter Blick ist ein europäischer – und zwar unabhängig von der eigenen Nationalität. Das Display ist aus Eichenholz gefertigt. Dies ist »ein Verweis auf die kunsthistorische Bedeutung, die dieser Baum durch Joseph Beuys’ Anpflanzung von 7.000 Eichen für die documentas [sic!] 7 und 8 in den Jahren 1982 bis 1987 für Kassel gewann«23. Über das Material, bzw. die darüber verwiesene historische Position, wird nicht nur das Naturkundemuseum Ottoneum sondern auch die documenta, und mit ihr das Kunstmuseum, referenziert und auch deren Blick und Blickführung als europäisch gekennzeichnet. Beide Institutionen müssen, um diese Kritik zu formulieren, zunächst auch affirmiert werden: »Bei der Suche nach einem besseren Verständnis des Museums mußte ich manchmal selbst zum Museum mutieren und Aufgaben wie Sammeln, Archivieren, Klassifizieren, Ordnen, Konservieren und Präsentieren übernehmen«24. Hier ist es der Künstler, der sich transformiert und mit ihm die Besucherinnen und Besucher. Erkennen diese die besondere Konstitution ihrer Blicke, können sie die Sammlung des Naturkundemuseums aus einem Blick zweiter Ordnung betrachten. Ähnlich argumentiert Clocked Perspektive (2012) von Anri Sala: Während die eigentliche Installation am Ende des Hirschgrabens in der Karlsaue installiert wurde, findet sich in der Orangerie an der im Raumplan angegebenen Stelle statt einer Arbeit von Anri Sala ein Teleskop der ständigen Sammlung des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts, durch das die über einen Kilometer entfernte Arbeit betrachtet werden kann. »Salas Arbeit für die dOCUMENTA (13) ist von einem 1825 von G. Ulbricht geschaffenen Gemälde aus der Sammlung des Astronomisch-Physikalischen Kabinetts in der Orangerie angeregt – einer Landschaft mit Schloss, deren Besonderheit in einer mechanischen Uhr besteht, die in die Fassade eingelassen ist. Das Uhrwerk verbirgt sich hinter der Leinwand; die Zeiger, bewegliche und skulpturale Elemente auf der Oberfläche des Gemäldes geben die richtige Zeit an. Während man das Gebäude aus einer Seitenansicht erkennt ist das Zifferblatt der Uhr en face gemalt, so dass ein Bruch in der Perspektive entsteht.« 25
Einen ähnlichen ›Bruch in der Perspektive‹ erleben Betrachterinnen und Betrachter im Vergleich zwischen dem Blick durch das Teleskop und der Inblicknahme der Installation vor Ort: Erschien diese zunächst perspektivisch verkürzt, zeigt sich, dass sie tatsächlich ebenfalls en face betrachtet wurde und die Verkürzung optisch in der Gestaltung des Objekts angelegt ist. Durch diese Arbeit wird sowohl der Sammlungsbe22 | E. Scharrer: Mark Dion, S. 204. 23 | Ebd. 24 | M. Dion: Unbetiteltes Statement, S. 112. 25 | E. Scharrer: Anri Sala, S. 302.
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stand als auch dessen wissenschaftlichen Methoden zunächst affirmiert, um erst in der weiteren Auseinandersetzung zu einem transformativen Potential zu gelangen. Dieses manifestiert sich erneut nicht innerhalb der Institution, sondern über die Betrachtung der Besucherinnen und Besucher, die in den Diskurs eingeführt werden. Unter diesen Gesichtspunkten bietet sich ein Rückblick auf jene künstlerischen Arbeiten an, die in klassisch-kunsthistorischen Ausstellungsarchitekturen positioniert sind und diese und deren Institutionen thematisieren: Hierzu bietet sich das Fridericianum, dessen Geschichte und Architektur an. Diese werden durch Mariam Ghani und Michael Rakowitz direkt aufgegriffen. Beide Arbeiten ermöglichen eine Inblicknahme des Kontextes, allerdings ohne diesen zu provozieren. Die Leere im Erdgeschoss und der Einbau von Renata Lucas hingegen kehren den Blick deutlich auf das vorhandene Gebäude – letztere ermöglicht sogar ein vergleichendes Sehen durch weitere Manifestationen im halb-öffentlichen Raum. Durch die Präsentationen von Kai Althof und Julio González, in direktem Bezug zu Khaled Hourani, im Erdgeschoss, den Dokumenten zu dem Projekt von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg und evtl. auch der Arbeit von Lawrence Weiner werden Geschichte und Verfahrensweisen der Institution documenta direkt referenziert. Bisher vor allem als deutlich affirmierende Setzungen interpretiert, zeigt sich in Bezug zu künstlerischen Arbeiten im Kontext anderer Ausstellungsinstitutionen ein Potential, auch in der Kunstausstellung einen ›Bruch in der Perspektive‹ zu erzeugen und Besucherinnen und Besuchern ihren eigenen Standpunkt innerhalb der Konstellation einer europäischen Großkunstausstellung bewusst werden zu lassen. Dies fordert »eine kritische Öffentlichkeit als notwendiges Komplement und eigentlichen (gewissermaßen hinter dem Rücken des Auftraggebers angesprochenen) Adressaten voraus.«26 Während die Arbeiten von Mark Dion und Anri Sala gewissermaßen durch die Institution documenta assimiliert und als Bezugnahme zu den Strategien der Vermittlungskunst erscheinen, wäre in einer bewusst kritischen Ausrichtung der Arbeiten im Fridericianum ein subversiv-transformatives Anliegen der Künstlerinnen und Künstler in Komplizenschaft mit der Künstlerischen Leitung zu postulieren. Es lohnt sich, an dieser Stelle das oben genannte Zitat von Mark Dion zu wiederholen: »Welcher Ort wäre besser geeignet, die Verschiebung der Vorstellung von der Natur [oder Kultur, TP] penibel zu erforschen, als jene didaktische Einrichtung, deren Auftrag es ist, einem breiten Publikum die Wissenschaft vom Leben zu erklären. Diese Orte produzieren und vertreiben die offizielle Version der Geschichte. Durch die Analyse der Meistererzählungen und Erzähltechniken der Präsentation dieser Institutionen wird die darunterliegende Ideologie erkennbar.« 27
Aufforderung zur und Verhinderung von Öffentlichkeit Auf der dOCUMENTA (13) finden sich nicht nur solche künstlerischen Projekte, die Konflikt thematisieren oder Kritik äußern möchten, um Öffentlichkeit zu generieren, sondern darüber hinaus auch solche, die edukativ auf gewisse Personengruppen einwirken wollen oder diesen die Möglichkeit bieten, selbst aktiv zu werden, z.B. commoning in kassel and other proposals towards cultures of common(s), revocation, and 26 | S. Germer: Unter Geiern, S. 89. 27 | M. Dion: Unbetiteltes Statement, S. 112.
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non-capitalist life (2010-2012) von AND AND AND, A Public Misery Message: A Temporary Monument to Global Economic Inequality (2012) und Winning Hearts and Minds (2012) von Critical Art Ensemble aber auch das gesamte Engagement der dOCUMENTA (13) in Kabul. Der Katalogtext zum Critical Art Ensemble macht bereits die potentielle Doppelbödigkeit solcher Bemühungen deutlich: »Passend zur Ungerechtigkeit des kurzlebigen Denkmals stellt das Critical Art Ensemble außerdem einen partizipativen ›offenen Raum‹ innerhalb der Ausstellung zur Verfügung, der es allen ermöglicht, im Rahmen der dOCUMENTA (13) Kunst zu zeigen, eine Rede zu halten oder eine Vorstellung darzubieten, wenngleich keine offizielle Einladung ausgesprochen und keine finanzielle oder sonstige Unterstützung geleistet wird. Um zu verdeutlichen, dass diese Einbeziehung potenziell aller eine Beteiligung zweiter Klasse darstellt, ist der Raum mit Verkehrshindernissen aus Beton ausstaffiert und am Rand des Kunstfestivals angeordnet[.]« 28
In beiden Arbeiten des Critical Art Ensembles wird deutlich, dass es nicht um eine Ausräumung von Ungleichheiten geht, sondern um deren Aufzeigen durch partielle Affirmation selbiger. Es wird partizipierenden Besucherinnen und Besuchern überlassen, dies zu entbergen oder ihre Position als ›zweitklassig‹ selbst zu reproduzieren. Ähnlich verhält es sich mit dem Projekt der 60 wrd/min art critic (ab 2005) von Lori Waxman, wobei dieses durch das persönliche Engagement der Kritikerin, die im Laufe der Ausstellung intellektuelle Akkordarbeit leistete, weniger denunzierend wirkt. Ähnlich wirken die Projekte von AND AND AND oder Tarek Atoui, der unter dem Titel La Lutherie (2012) Workshops für Schülerinnen und Schüler anbot und sein eigenes künstlerisches Schaffen um sozial-edukative Aspekte erweiterte: »The Lab Space is becomming a space for discussing, imagining and building instruments of all kinds of natures. Therefore, Tarek Atoui will be using the Lab Space to start developing his project and will share his work process with the students and the participants in this lab. Through this approach the artist wants to create a work dynamic where a complex relationship will be born between his artistic and educational practicies in the sense that they will both echo, feedback and nourish each other.« 29 »important: no one should be excluded – therefore it is necessary that teachers don’t make a pre-selection of pupils who are allowed or seemingly fitting to participate, personal motivation important.« 30
Tarek Atoui formuliert in der an Kasseler Pädagoginnen und Pädagogen gerichteten Notiz seinen Wunsch, niemanden auszuschließen, der unpassend erscheint. Wichtig sei die persönliche Motivation, sich einzubringen, die aber offensichtlich trotzdem eines durch Dritte bereitgestellten Rahmens bedarf. Während die Arbeiten der beiden vorherigen Abschnitte während der gesamten Ausstellungszeit rezipierbar waren, zeigt sich bei den hier verhandelten künstlerischen Projekten die Notwendigkeit einer An28 | A. Kleinman: Critical Art Ensemble, S. 338. 29 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »AT TA« (Tarek Atoui): Proposal von Tarek Atoui: The Lab Space. 30 | Ebd.
Bildung einer kritischen Öffentlichkeit
wesenheit und Teilhabe zu einem bestimmten Zeitpunkt oder auch über die Dauer der Ausstellung hinaus und fordern daher sowohl die eigene Motivation als auch die leibliche Anwesenheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die von Dora Garcia initiierte Talk-Show KLAU MICH: Radicalism in Society Meets Experiment on TV (2012) ermöglicht zwar eine Rezeption der einzelnen Folgen über Fernseh- und Internetübertragung, ist aber deutlich auf eine Aktivierung des anwesenden Publikums ausgelegt. »Die Klau Mich Show hat ihre eigenen Rituale entwickelt: die Mitglieder des Theater Chaosium, die am Anfang über die Bühne auf die Plätze für das professionelle Publikum (Chor und Jury) gehen, die reißerische Ansage der Gäste, der kleine Dialog mit der Show-Stewardess Tabu oder die vom Theater Chaosium moderierten Übergänge, das bunte Finale. Beim Sehen von nur einer Folge erzeugen sie Irritationen […], in Serie machen sie den Charme der Show aus.« 31
Das Anliegen einer aktiven Beteiligung des Publikums wird in jeder Ausgabe der Show deutlich geäußert und gleichzeitig durch die Beteiligung des Theater Chaosium die Schwierigkeit einer solchen antizipiert. Das ›professionelle Publikum‹ stellt Fragen, beteiligt sich an Inszenierungen und Gesang, applaudiert an den gewünschten Stellen. Das anwesende nicht-professionelle Publikum muss selbst entscheiden, ob es in einer stillen Rolle verbleibt oder ebenfalls am Prozess teilhat und so die vierte Wand durchbricht. Dazu der Moderator von KLAU MICH, Jan Mech: »Für all diejenigen, die nicht mit der Theatertheorie vertraut sind: Die vierte Wand ist eine imaginäre Wand. Sie trennt die Zuschauer von den Schauspielern, Fiktion von Realität, Kunst und Theater vom wirklichen Leben. Die vierte Wand gibt es jetzt und hier. Sie ist zwischen mir und Ihnen und wir können sie verorten. Sie ist ungefähr hier. Es geht über die ganze Breite (he draws an imaginary wall all along the stage). Aber es gibt noch eine weitere vierte Wand, die uns alle – Sie, mich, unser professionelles Publikum – von den Zuschauern im Fernsehen trennt. Diese vierte Wand ist ungefähr hier (He places his hand on the lens of the camera). Und wir haben eine dritte vierte Wand, die uns alle, die Fernsehkamera mit eingeschlossen, vom World Wide Web trennt (He points to the webcam at the balcony).« 32
Nicht nur wird hier eine Unterscheidung zwischen Realität und Inszenierung angesprochen, sondern auch die leibliche Ko-Präsenz aller Anwesenden von den Sphären jenseits vermittelnder Medien abgegrenzt.33 Erst durch diese Ko-Präsenz ist eine Partizipation überhaupt möglich. Dies verdeutlicht, das es sich bei KLAU MICH vor allem um eine Performance und nicht um eine TV-Show handelt. Joachim Scharloch, einer der Gäste, beschreibt seinen Eindruck einer Interaktion zwischen Jan Mech und einer nicht-professionellen Zuschauerin:
31 | J. Scharloth: Die Klau Mich Show, o.S. 32 | J. Mech/R. Langhans/J. Miriam Zinn/J. Scharloth: KLAU MICH SHOW, Kassel 22.06.2012. Transkription entnommen von: http://dieklaumichshow.org/transcriptions/46DE.pdf vom 24.10.2018. 33 | Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 63f.
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Vermittlungskunst »Dieser Frage [nach dem Körper] wollte der Showmaster näher kommen, indem er eine Zuschauerin bat, sich so weit zu entblößen, wie es ihrer Meinung nach Scham und Anstand zuließen. Als Jessica Miriam Zinn den Moderator aufforderte, es der Zuschauerin gleich zu tun, entkleidete auch er sich. Der performative Effekt seiner partiellen Nacktheit war jedoch ein diskursiver Kontrollverlust, der erst nach Wiederanlegen der Hose überwunden wurde. So lieferte die Show selbst einen Beleg für die (de)konstruktive Kraft von (Anti-)Ritualen, mithin dafür, dass das Durchbrechen von Ritualen das Potenzial hat, Ordnung ins Wanken zu bringen.« 34
Zu Beginn einer anderen Episode spielt Jan Mech die Rolle des frustrierten Moderators, der sich verweigert die Sendung zu moderieren, da es ihm seit fünf Sendungen nicht gelungen sei, das Publikum mit einzubinden: »Ich möchte beweisen, dass das Publikum auch Autor dieser Arbeit ist, ich möchte, dass das Publikum aufhört passiv zu sein, erstarrt, ein ausdrucksloser Klumpen... Ich möchte dass sie aktive Interpreten in diesem Stück sind. […] Wissen Sie wie anstrengend das ist, immer so vierte Wände einzureißen? […] Eins würde ich doch noch sagen wollen, nämlich, dass es viel mehr Spaß macht, amüsiert und auch mehr vermittelt, mitzumachen anstatt nur passiv zu sein.« 35
Es entwickelt sich eine durch Akteure der KLAU MICH SHOW angeleitete und durch das professionelle Publikum unterstützte Interaktion aller Zuschauer im Raum, die schließlich den Moderator aus seiner Lethargie befreit. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich fast alle Personen auf der Bühne, der Zuschauerraum ist fast leer. Jan Mech scheint in dieser Situation zunächst euphorisch, um sie dann radikal abzubrechen: »Now we had enough audience participation. Will you please leave the stage? We are doing a TV show, please.«36 Die Besucherinnen und Besucher folgen dieser Anweisung bereitwillig und nehmen ihre Plätze wieder ein. Der Gegensatz zwischen Zuschauenden und Mitwirkenden, die Etablierung der vierten Wand, wird wieder hergestellt. Wichtiger aber ist, dass nicht nur die Partizipation angeleitet und motiviert wurde, sondern auch der Aufforderung, diese zu unterlassen, Folge geleistet wurde. Auch in diesem Projekt steht die Problematisierung oder Thematisierung von Partizipation im Vordergrund.37 Allerdings ist es hier weniger die Institution, die Partizipation verhindert oder als ›zweitklassige‹ Scheinmöglichkeit anbietet, sondern es sind scheinbar die Zuschauerinnen und Zuschauer, die nicht partizipieren wollen oder können, keine eigene Agenda haben, Konsumentinnen und Konsumenten sind. Partizipatorische Projekte fordern eine Anpassungsleistung und zwingen diejenigen in den Bereich des Sichtbaren, die es gewohnt sind, Zuschauende und Zuhörende zu sein, und machen sie damit kontrollierbar.38 Carmen Mörsch arbeitet das mit institutionellen Partizipationsstrategien verbundene Machtgefüge deutlich heraus:
34 | J. Scharloth: Die Klau Mich Show, o.S. 35 | J. Mech/A. Proll/K. Stern: KLAU MICH SHOW. Radical art and politics, Kassel 07.09.2012. Transkription TP. 36 | Ebd. 37 | Vgl. D. Laleg: Das Potential des Ästhetischen, S. 31. 38 | Vgl. C. Mörsch: Queering Kunstvermittlung, S. 32.
Bildung einer kritischen Öffentlichkeit »Was bedeutet es, Leuten die Illusionen zu vermitteln, dazuzugehören und sich gleichzeitig die Entscheidung vorzubehalten, wie weit das Dazugehören geht? Diese Fragen werden umso virulenter, je leichter instrumentalisierbar die zur Partizipation Eingeladenen sind. Je weniger diese über die vom Museum akkumulierten Kapitalsorten und deren Nutzungsmöglichkeiten wissen, je mehr ihnen also ein bürgerlicher Bildungshintergrund fehlt, desto weniger kann davon ausgegangen werden, dass sich Partizipation im Sinne von Mitbestimmung und Mitgestaltung quasi von selbst einstellt. Je mehr seitens der Museen postuliert wird, sie sei ein Ort ›für alle‹, desto weniger ist es möglich, Ungleichheiten explizit zu benennen; bewusst mit Ihnen um- und gegen sie anzugehen. Das berühmte ›für alle‹ stellt auf diese Weise Ungleichheit her, anstatt sie zu beseitigen.« 39
Das obige Beispiel zeigt, dass diese Aussage nicht nur auf adressierte Randgruppen zutrifft, sondern auch auf aus eigenem Antrieb erschiene Besucherinnen und Besucher einer Kunstausstellung. Abschließend stellt es sich so dar, dass tatsächlich eine kritische Öffentlichkeit weder schlicht angenommen, noch geplant, noch konstruiert werden kann, so dass eine Re-Politisierung aus Sicht der Vermittlungskunst erforderlich erscheint. Dieser Anspruch wird grundsätzlich gesamtgesellschaftlich gedacht, doch bezieht sich im Wissen um die mannigfaltigen Schwierigkeiten partizipatorischer Projekte im politischen, sozialen und öffentlichen Raum, vor allem auf eine Einwirkung derer, die Kunstausstellungen von sich aus besuchen – wozu, trotz gegenteiligem Anspruch, auch fast alle bisher genannten Projekte zählen.40
39 | C. Mörsch: Mehr Werte, S. 10f. 40 | Vgl. M. Babias/A. Könnike: Kunst des Öffentlichen.
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Re-Politisierung des Ausstellungspublikums
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Die im vorherigen Abschnitt behandelten Schwierigkeiten, Dritte zur Partizipation oder Interaktion zu motivieren, die ihnen »gesellschaftliche Prozesse und Verhältnisse vermittelt, wobei Strukturen der politischen Repression, der Ideologie und der Macht aufgedeckt werden«2, potenzieren sich innerhalb einer Großkunstausstellung, insofern große Teile des Publikums nicht explizit aufgrund eines bestimmten Projektes kommen, sondern die Ausstellung in ihrer Gesamtheit als Flaneure durchschreiten wollen. Um nicht nur das bereits explizit interessierte Publikum zu erreichen, stellt sich neben den zu vermittelnden politischen Inhalten – und auch gerade durch diese – die Frage nach Aufmerksamkeitsökonomie. Neben einem vermeintlichen Mangel an ästhetischen Reizen fordert die Auseinandersetzung mit solchen Projekten auch ein umfangreicheres zeitliches Engagement der Besucherinnen und Besucher ein. Beispielhaft für solche Projekte können AIDS Timeline (1989-1990) von Group Material (Doug Ashford und Julie Ault) neben der Manifestation als Ausstellung auch in der Reihe 100 Notizen – 100 Gedanken durch die dOCUMENTA (13) herausgegeben, oder Time/Bank (2009-fortlaufend) von e-flux (Julieta Aranda und Anton Vidokle) gelten. Beide stellen umfangreiche Archive zur Verfügung, die komplexe Sachverhalte vermitteln. Dennoch setzen sie eher ein politisiertes Publikum voraus, als ein solches erst zu konstituieren. Tatsächlich wirken sie häufig eher unnahbar und erfordern das Engagement bereits bevor Besucherinnen und Besucher mit den politischen Inhalten in Berührung kommen.3 Daher werden in den folgenden Abschnitten solche Arbeiten betrachtet, die eine besondere Ansprache gegenüber dem Publikum formulieren und dieses dadurch motivieren, für das jeweilige Projekt Aufmerksamkeit aufzubringen. Dazu wird eine Konzentration auf Filme und andere Formate mit einer bestimmten Dauer (d.h. einem Anfang und Ende, Rhythmus und Choreografie) vorgenommen, wie Vorträgen oder Workshops. Diese Terminologie ergibt sich nicht nur aus der Verwendung selbiger durch die dOCUMENTA (13), sondern auch durch eine tatsächlich stattfindende Bewegung innerhalb vieler der Projekte. Von Interesse ist allerdings, dass die Tendenz zur Bewegung, zu einer aktiven Körperlichkeit diesen Formaten nicht obligatorisch zu eigen ist: innerhalb derer Schau1 | Dieses Kapitel enthält überarbeitete und erweiterte Passagen, die bereits publiziert wurden. Vgl. T. Pickartz: Instructions and Advice. 2 | P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 72. 3 | Vgl. ebd., S. 71.
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und Höranordnungen »bewegt sich der Zuschauer traditionell nicht von der Stelle und genießt, wenn er nicht gerade den Anfang […] verpasst hat, die Gewissheit, dass er am Ende alles gesehen haben wird, was er sehen muss, um das Werk zu verstehen.«4 Insbesondere Video-Installationen in Ausstellungen können bei den Betrachtenden eine Angst wecken, die Gesamtheit nicht erfassen zu können – beziehungsweise befinden sie sich in einem Rezeptionsmodus des Umherwandelns (und somit bereits in Bewegung), der dem Medium nicht zuträglich ist. Dafür bietet das Dispositiv Kino keine adäquate, befriedigende Lösung.5 Die Berücksichtigung dieses Umstandes macht einen beachtlichen Teil künstlerischer und kuratorischer Arbeit in Bezug auf Film und andere zeitliche Formate aus: »in Hinblick darauf, wie eine Arbeit wirkt, welche Konzentration sie bei den Betrachterinnen und Betrachtern zulässt, welche Umgebung sie für die individuelle und kollektive Rezeption schafft.«6 Die in diesem Abschnitt vorgestellten Beispiele – obwohl zunächst an sich klassisch-lineare, nicht-interaktive Formate – versuchen jeweils durch unterschiedliche Ausstellungs- bzw. Präsentationsdispositive, die flanierenden Ausstellungsbesucherinnen und -besucher nicht nur intensiv auf emotionaler Ebene zu erreichen, sondern sie auch auf weiteren Ebenen zu aktivieren und dadurch noch stärker in das Geschehen zu involvieren. Dabei spielt choreografierte Bewegung eine entscheidende Rolle. Lynne Cooke sieht bereits in dem Umstand, dass die Betrachtenden von Filmen in Ausstellungen ihren eigenen Platz wählen, ihren Blickwinkel bestimmen, die Möglichkeit einer Bewusstwerdung der eigene Aktivität. Filminstallationen seien »weit von dem klassischen, passiven Kinoerlebnis entfernt, bei dem der Zuschauer, eingesponnen in den Kokon des verdunkelten Raums, traditionell jedes Bewusstsein von sich verliert und zu einem völlig versunkenen, entkörperten Beobachter wird.«7 Ein wirkliches, aktives Eintreten des Körpers in das Filmgeschehen ist im Kino und in Ausstellungen in der Regel allerdings nicht vorgesehen. Körperlichkeit, bestehend aus der »leibliche[n] Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern«8, wie sie nach Erika Fischer-Lichte für das Dispositiv der Performance kennzeichnend ist, ist für das Medium Film somit nicht festzustellen: »Filmvorführung ist nicht einmalig, sondern wiederholbar. Der projizierte Film kann unverändert immer neu rezipiert werden. Die Reaktion des Publikums hat keinen direkten Einfluss auf den vorgeführten Film. […] Diese Intensität [der Performance] entsteht, wenn Film nicht mehr nur als erzählendes Medium begriffen wird, sondern die Grenze überschreitet, die sichere Membran der Leinwand sprengt und sich über den Zuschauer ergießt, diesen konfrontiert wie ein performativer Akt.«9 Auch Dorothea von Hantelmann sieht Film grundsätzlich als »eine abgeschlossene, auszustellende Entität und gerade kein Algorithmus, der immer wieder neu aufgeführt wird, keine lebendige, sich stetig weiter entwickelnde Assoziation«10 auf Basis einer Choreografie. Fokus dieses Abschnittes sind die Methoden der Zuschaueraktivierung und Partizipation und nur zweitrangig die Anliegen der einzelnen Projekte, die nicht immer ge4 | M. Nash: Bildende Kunst und Kino, S. 129. 5 | Ebd. 6 | T. Holert: Empowering Entertainment, S. 197. 7 | L. Cooke zitiert nach M. Nash: Bildende Kunst und Kino, S. 129. 8 | E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 63f. 9 | M. Stiglegger: Haptische Bilder, S. 42ff. 10 | D. von Hantelmann: Die documenta, S. 152.
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nuin politisch motiviert sind. In den Beispielen erfolgt eine besondere Interaktion mit den Rezipierenden, die sie zu einem Teil der Arbeit werden lässt, zu Mitautorinnen und Mitautoren, oder sogar Mittäterinnen und Mittätern. Es soll allerdings auch aufgezeigt werden, dass diese Teilhabe in der Regel nicht offen ist, sondern innerhalb gewisser Choreografien stattfindet, in denen agiert und sich bewegt wird. Die hier vorgestellten Formate gehen aber zumindest potentiell über die Form des bloßen Mit-Fühlens hinaus, indem sie versuchen, die Zuschauerinnen und Zuschauer selbst zum Teil des Werkes werden zu lassen.
Vortrag, Führung und Spaziergang: Das Publikum aktivieren Bereits im Titel des Projektes von Gunnar Richter ist eine Konzentration auf historische Forschung ablesbar: Der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit – Eine lokale Studie über ein Verbrechen der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Methoden des Recherchierens (1981/2012). Nach Ansicht von Thomas Erne »hatte die Dia-Arbeit von Gunnar Richter über die Gedenkstätte Breitenau wenig von Kunst, aber viel von einem umständlichen und bemühten Geschichtsunterricht.«11 Diese Gegenüberstellung bereitet mit dem erweiterten Kunstbegriff der dOCUMENTA (13) wenig Schwierigkeiten, dennoch ist es wahrscheinlich, dass, insbesondere durch die Positionierung des Projektes in der Karlsaue, viele Besucherinnen und Besucher nicht die 35 Minuten aufbrachten, dem automatisierten Vortrag zu folgen, sofern er als ›bemüht und umständlich‹ empfunden wurde. Daher erscheint es nicht unerheblich zu erwähnen, dass es sich um ein Reenactment einer wegweisenden Untersuchung, die Gunnar Richter im Rahmen seiner Promotion im Jahr 1981 durchgeführt hat, handelt. »Ausgehend von wenigen vagen Informationen führte Richters Forschungsprozess über Ortsbesichtigungen, Gespräche mit älteren Anwohnern und Archivrecherchen zu wesentlichen Erkenntnissen über das Geschehen [in Breitenau]. Die Ton-Dia-Reihe ist so gestaltet, dass der Betrachter den Forschungsprozess Schritt für Schritt nachvollziehen kann, eine Vorgehensweise, die Richter als ›Spurensicherung‹ bezeichnet.«12 Ein Nachvollzug ›Schritt für Schritt‹ wurde auch durch die gemeinsam mit Ines Schaber durchgeführten Spaziergänge Walking to Breitenau (2012) ermöglicht: »Dieser idyllische Ort steht im Gegensatz zu der beunruhigenden Geschichte sozialer Ausgrenzung, mit der dieser Ort verbunden ist und an die die Stätte mahnt. Nachdem Richter und Schaber diesen Weg während der Entwicklung ihrer drei Projekte, die sich eingehend mit dem Ort befassen, gemeinsam gegangen waren, kamen sie zu der Überzeugung, dass ihre meandernden Gespräche nun einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Sie sprechen über ihre Erfahrungen von Nähe und Distanz, von Vorstadt und Land in und um Kassel sowie über die Geschichte der Gedenkstätte Breitenau.« 13
Es ist unwahrscheinlich, dass der mehrfach durchgeführte etwa sechsstündige Spaziergang tatsächlich nur Ines Schaber und Gunnar Richter als Sprecher zugelassen hat. Von 11 | T. Erne: Selbstverständigung über gesellschaftliche Fragen, S. 8. 12 | L. Pietroiusti: Gunnar Richter, S. 294. 13 | documenta: Was/Wann, S. 122.
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einer offeneren Gesprächskultur ist auszugehen. Dennoch werden hier zwei autorisierte Sprecher konstituiert, die sowohl inhaltlich als auch räumlich die restliche Gruppe führen. Ähnlich konstruiert ist die Sprecherposition in Scratching on Things I Could Disavow (2008-fortlaufend) von Walid Raad, eine aus mehreren Objekten bestehende Ausstellung, durch die der Künstler selbst führt und auch das Ausstellungsdesign bis hin zu den Titelschildern übernahm.14 Der Zusammenhang der einzelnen Werke wird über Abschnitte und Kapitel eines imaginären Buches hergestellt: Translator’s introduction: Pension Ars in Dubai / Section 139: The Atlas Group (1989-2004) / Index XXVI: Blue and Green and Yellow and Red and Orange / Appendix XVIII: Plates 22-257 / Preface to the Second Edition / Views from Inner to Outer Compartments.15 Während ein Buch zunächst lineare Nachvollziehbarkeit evoziert, präsentiert Walid Raad fragmentarische Versatzstücke, die zwar um verwandte Themen kreisen, sich aber nur bedingt zu einem Narrativ zusammenführen lassen. Walid Raad lässt nur selten zu, dass seine Arbeiten ohne gewisse Formen der öffentlichen Präsentation oder Vermittlung ausgestellt werden und führt diese meist selbst durch.16 Carolyn Christov-Bakargiev sieht die Notwendigkeit zu einer solchen Versprachlichung durch den Künstler darin, dass die ausgestellten Objekte ›traumatisiert‹ und ›verstummt‹ sind.17 Innerhalb dieser Vermittlungs-Performances werden nicht nur die Narrative der offiziellen Geschichtsschreibung zu Gunsten von Mikrogeschichten in Frage gestellt, sondern durch Brüche innerhalb der Narration auch die Rolle des autorisierten Sprechers in Hoffnung auf eine kritische Öffentlichkeit18. Er hat »eine dramaturgische Dimension hinzugefügt, die ihm erlaubt, die radikale Doppelbödigkeit der Wahrnehmung, auf die alle seine Arbeiten hinweisen, in der Erfahrung des Zuhörers/Zuschauers noch zu verschärfen. Diese zusätzliche Dimension ist die Sprache, die Rhetorik des Künstlers, mit der er sein eigenes Werk präsentiert.«19 Almut Shulamit Bruckstein Çoruh spricht gleichzeitig von einer Unschärfe als einem bewussten »Gleiten zwischen Ich-Erzählung, historischen Referenzen und eigenen Werk«20, welches die Grenzen zwischen Historie und Fiktion verwische. »Der Schwindel, den der Künstler […] auslöst, ist ein Symptom des Zweifels, ob das, was wir sehen und hören, auch ›wirklich‹ ist.«21 Gerade der Hinweis innerhalb der Führung, er habe die Informationen für einige Werke telepathisch erhalten, macht die Differenz zu anderen Künstlergesprächen aus und lässt für die Besucherinnen und Besucher einen Zwischenraum, sich selbst kritisch zu positionieren: »If, like me, you have expierenced telepathic reception, then you know that you can never trust telepathic signals, because telepathic signals are always accompanied by something else.«22 Die trotz des (auch persönlich) emotionalen Themenkomplexes des Libanon-Konfliktes ausdruckslosen Performances stellen somit auch eine
14 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RA WA« (Walid Raad). 15 | Vgl. ebd. 16 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 2. 17 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 14, BdB. S. 303. 18 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 4. 19 | A.S. Bruckstein Çoruh: Irrer stört Eröffnung, S. 248. 20 | Ebd. 21 | Ebd., S. 250. 22 | W. Raad: Index XXVI, S. 1.
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Kritik oder sogar Parodie des typischen Künstlergespräches und der Kunstvermittlung dar und nutzen somit das dekontruktive Potential scheinbar affirmativer Strategien.23 Peter Osborne bezeichnet diese Strategien Walid Raads als spekulative Poetik, die »auf den ersten Blick wie ein apolitischer und antihumanistischer Nihilismus erscheinen mag [...]. Explizit gegen die offizielle Ästhetik gerichtet […] zielt ein solcher spekulativ-materialistischer Inhumanismus allerdings darauf ab, den Ort und den Status von Vernunft (reason) in Subjekten zu erkunden.«24 Walid Raads Absicht ist somit eine Untersuchung der Mechanismen die Wissen, Erinnerung und Geschichte produzieren.25 Hierzu bieten sich neben dem affirmativ-autoritären Vortrag vor allem die mächtigen Schauanordnungen von Modellen und Schaubildern an, die als Gesten des Zeigens der offiziellen Institutionen der Wissensproduktion zu lesen sind: »Um herauszufinden, ob ich mich APT Dubai anschließen sollte, begann ich der Frage nachzugehen, wer APT und MutualArt finanzierte, und warum ATP im Nahen Osten einen Fonds auflegte. Dies veranlasste mich, mir verschiedene Aspekte näher anzusehen: technologische Neuerungen auf dem Gebiet der Statistik, Risikomanagementkonzepte im Finanzwesen, Kunst als einer Klasse alternativer Vermögenswerte, Kultur als ein Motor ökonomischen Wachstums in der arabischen Welt und andernorts, Text-, Datengewinnungs- und Gesichtserkennungsalgorithmen sowie das israelische Militär und seine Verbindungen zum israelischen Hi-Tech-Sektor. All dies führte zu dem hier präsentierten Tableau, das ich als Bühnenbild für eine damit einhergehende mündliche Darbietung betrachte, in der ich von meinen Befunden berichte.« 26
Innerhalb von Walid Raads Narrativen stellen Verlust, Vergessen und Fiktion nur alternative Formen von Erinnerung dar. Mit der Erkenntnis dieser Strategien – insbesondere der Fiktion – wird häufig übersehen, dass sie nur Methode etwas auszusagen und nicht das Endprodukt der Narration im Sinne von Bedeutung sind.27 Dadurch stellen die Arbeiten Walid Raads eine Öffentlichkeit im Sinne von Konflikt her, der sich nicht in der Feststellung von Fiktion erschöpfen muss, sondern in einer Sensibilisierung des Publikums für Strategien des Ausschlusses, der Wissensproduktion und die Verwebung von Kunst- und Finanzwelt münden kann. Unter diesen Aspekten scheint die Positionierung in einer ›nie-realisierten Moschee‹ in einer Seitenstraße hinter dem Fridericianum eine bewusste Ablehnung der Wirkungsmechanismen des documenta-Stammhauses. Dies korreliert mit dem Narrativ des Ausstellungsmodell Section 139: The Atlas Group (1989-2004): »Zwischen 1989 und 2004 arbeitete ich an einem Projekt mit dem Titel The Atlas Group. Es bestand aus Kunstwerken, die durch die Libanonkriege der letzten Jahrzehnte möglich geworden waren. 2005 fragte man mich, ob ich dieses Projekt zum ersten Mal im Libanon, in Beiruts erster White Cube-Galerie überhaupt ausstellen wolle. Aus irgendeinem Grund bereitete mir dieser Vorschlag Unbehagen, und ich lehnte 23 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 8. 24 | A. Avanessian: Das spekulative Ende, S. 57. 25 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 4. 26 | W. Raad: Scratching On Things I Could Disavow, o.S. Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RA WA« (Walid Raad). 27 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 1ff.
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Vermittlungskunst ab. 2006 fragte man mich wieder. Ich lehnte wieder ab. 2007 fragte man mich wieder. Ich lehnte wieder ab. 2008 fragte man mich wieder. Ich stimmte zu. Als ich einige Wochen später in die Galerie kam, um mir meine Ausstellung vor ihrer Eröffnung anzusehen, stellte ich erschrocken fest, dass alle meine Kunstwerke auf 1/100 ihrer Größe zusammengeschrumpft waren. Daraus folgernd beschloss ich, einen kleineren weißen Kubus zu bauen, der den neuen Dimensionen meiner Werke entsprach, und diese dort zu präsentieren.« 28
Die im Text erwähnte Galerie wurde am Schauplatz eines Massakers errichtet, das 1976 in Beirut stattfand.29 Dies könnte man als ›irgendeinen Grund‹ für die Schrumpfung der Objekte ausmachen. In diesem Falle ereignete sie sich aufgrund der Unempfindlichkeit der Betreiberinnen und Betreiber der Galerie als Rückzug.30 Dass hier den Objekten Handlungsmacht zugesprochen wird, kann die Kritik des Künstlers nur oberflächlich maskieren. Betrachtet man Walid Raads Führung aus Sicht der kunstvermittlerischen Praxis, lässt sich festhalten, dass diese trotz der in den Inhalten aktivierten Dekonstruktion vollständig affirmativ gegenüber dem eigenen Projekt konzipiert ist und sich auch einer Sprecherposition bedient, die auf einen Monolog ausgelegt ist. Die physische Ko-Präsenz von Künstler und Publikum verschleiert hier, dass eben kein Diskurs geführt werden soll, sondern eine mehr oder minder unveränderliche Rede gehalten wird, die nur minimal variiert wird und Besucherinnen und Besucher in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Position aktivieren soll.
Film: Eingliederung in die Choreografie Mit diesem Bewusstsein lässt sich die Ebene des gemeinsamen Dialogs zunächst ausblenden und über Projekte nachdenken, die nicht den Anschein von Interaktivität suggerieren, sondern zunächst relativ passive Zuschauerinnen und Zuschauer über Themen und Dispositive einbinden. Omar Fasts Continuity (2012) handelt von einem deutschen Ehepaar, das die Rückkehr seines Sohnes aus dem Afghanistankrieg mit Hilfe von Callboys simuliert. Die provisorisch gefüllte Leerstelle und Trauer innerhalb der Familie wird erst im Laufe der immer wieder gebrochenen Narration offenbar – der Tod des Sohnes selbst wird nicht vergegenwärtigt. The Refusal of Time (2012) von William Kentridge hat als Hauptthemen die Zeit und Zeitmessung, kann aber aufgrund einiger Motive – vor allem einem Trauerzug – durchaus als Memento Mori gelesen werden, welches deutlich macht, dass sich die Zeit nicht ablehnen lässt, sondern unaufhaltsam voran schreitet. Auch in Alter Bahnhof Video Walk (2012) von Janet Cardiff & Georges Bures Miller geht es vordergründig nicht um den Tod, sondern um einen Ort voller Leben inmitten des Stadtgeschehens: Dem alten Kasseler Hauptbahnhof. Dort wurde der Film durch die Besucherinnen und Besucher jeweils in situ über ein Smartphone rezipiert. Nach und nach zeigen sich aber Schichten historischer Ereignisse und
28 | W. Raad: Scratching On Things I Could Disavow, o.S. Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »RA WA« (Walid Raad). 29 | Vgl. A. Gilbert: Historiography as Process, S. 9. 30 | Vgl. A.S. Bruckstein Çoruh: Irrer stört Eröffnung, S. 249.
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emotionaler Konnotationen, werden die Gespenster des Ortes aufgeweckt, und dieser in einen anderen Ort transformiert, an dem der Tod durchaus gegenwärtig ist.31 Omar Fast untersucht in seinen Videoinstallationen »die Dialektik zwischen Fakt und Fiktion im Film. Indem er die Logik linearer Narration untergräbt, analysiert er, wie Geschichten konstruiert und erzählt werden«32. Eva Scharrer bezeichnet diese Strategien als ›Medien-détournement‹, also ein Umherstreifen in und über Medien hinaus – ein Begriff, der auch in den folgenden Beispielen von Interesse ist.33 Bei Continuity handelt es sich im Gegensatz zu früheren Arbeiten Omar Fasts um ein rein fiktives Drehbuch. Innerhalb der Narration wird durch eine Wiederholung ein Bruch deutlich: Zunächst ist nur ein Paar dargestellt, dass einen jungen Mann in Uniform am Bahnhof abholt, der durch die Gespräche als der aus dem Krieg zurückgekehrte Sohn Daniel identifiziert werden kann. Das gemeinsame Abendessen verläuft schleppend, man spürt eine Unsicherheit Daniels. Nach einer kurzen Abblende fahren die Eltern erneut zum Bahnhof, um ihren Sohn abzuholen. Diese vermeintliche Analepse wird zur Irritation, wenn der Sohn nicht nur durch einen anderen Schauspieler dargestellt wird, sondern sich auch gänzlich anders verhält. Es folgt eine dritte Sequenz mit einer weiteren Version von Daniel, bei der sich weitere Brüche auftun, als dieser Behauptungen über sein Leben vor dem Krieg aufstellt, die seine Mutter als unwahr entlarvt. Jede dieser Sequenzen ist für sich genommen zwar eigenartig, aber dennoch mehr oder weniger konsistent. Erst durch die Wiederholung wird offensichtlich, dass Daniel selbst abwesend ist und bloß ersetzt wird – und keines dieser Substitute die Leerstelle füllen kann. In einer vierten Sequenz wird diese Wiederholung aufgebrochen: Auf dem Weg zum Bahnhof steht unvermittelt ein Kamel auf der Straße, welches zuvor nur einmal in der ersten Sequenz zwischen den Bäumen zu erahnen war. Dieser Fremdkörper sorgt dafür, dass die Eltern anhalten, das Auto verlassen und hinter den Bäumen eine Senke entdecken, in der mehrere getötete Soldaten liegen. Die Eltern betrachten die Szenerie schweigend, die Mutter allerdings scheint zu lächeln. Diesem Moment der Vergegenwärtigung ihres Verlustes folgt allerdings nicht ein Ausbruch aus der Routine, sondern die Fahrt zum Bahnhof wird fortgesetzt – eine andauernde Wiederholung wird somit narrativ angedeutet, wenn auch nicht mehr ausformuliert, da der Film endet. Um eine Involviertheit der Betrachterinnen und Betrachter zu erreichen, entwickelt Omar Fast (im Gegensatz zu den weiteren Beispielen in diesem Abschnitt) kein besonderes Seh-Dispositiv. Er macht sich stattdessen die Eigenheiten von Filmen in Kunstausstellungen – eine Endlosschleife wird von stetig wechselnden Rezipierenden, in Teilen oder vollständig, von verschiedenen Szenen an, ggf. auch über mehrere Vorführungen hinweg, angesehen – über die Montage und Narration zunutze: Auch wenn es eindeutig eine erste und eine letzte Sequenz gibt, ist die Pause zwischen der letzten und der Wiederholung der ersten nur unwesentlich länger als die Abblenden zwischen den einzelnen Sequenzen. Jede Sequenz beginnt mit ähnlichen Einstellungen und es lässt sich für Hinzukommende nicht feststellen, innerhalb welcher Sequenz sie sich befinden. Tatsächlich befinden sich die Betrachtenden in einer sehr ähnlichen Situation wie die gezeigten Personen: Sieht man sich nur einen Teil des Filmes an, funktioniert die 31 | Vgl. R. Fischer: Walking Artists, S. 271f. 32 | E. Scharrer: Omar Fast, S. 256. 33 | Vgl. ebd.
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Illusion der Familienzusammenführung in jeder Sequenz relativ gut. Hält man es allerdings aus, länger und auch genauer hinzusehen, wird diese brüchig und zunehmend unbefriedigend. Der Film wird über Scham, Frustration, zeitweise sogar Angst mitfühlbar. Nach der Sequenz mit den toten Soldaten haben auch die Zuschauerinnen und Zuschauer die Wahl, den Raum nach dem Ende des Filmes zu verlassen oder zu bleiben, den (möglicherweise zuvor verpassten) Anfang zu sehen, und die hermeneutisch aufgebaute Erzählung mit den gewonnenen Erkenntnissen neu zu rezipieren. Betrachtet man dieses Ensemble aus Filmvorführung und Zuschauerverhalten als Choreografie, lässt sich möglicherweise an einen Reigen denken: Eine andauernde Wiederholung mit wechselnden Tanzpartnern, in die man einsteigen oder aussteigen kann und die so intuitiv ist, dass sie keine konkreten Anweisungen benötigt. Es ist in diesem Beispiel der Film, der sich der Choreografie anpasst – die Besucherinnen und Besucher einer Ausstellung befolgen sie im Regelfall sowieso – und sie sich zu nutze macht. Dennoch muss festgestellt werden, dass eine Ko-Präsenz von im Film Agierenden und Zuschauenden oder zumindest ein Einwirken der Zuschauenden auf den Film hier nicht vorliegt, der Moment des Involviert-Sein bezieht sich also nur auf das Innenleben der einzelnen Betrachterinnen und Betrachter, nicht aber auf den Film oder die gemeinsame Umwelt. Es ist aber die von Erika Fischer-Lichte angeführte Wiederholbarkeit des Films, die eine graduell veränderte Wahrnehmung erst ermöglicht. Anders verhält es sich in der Mehrkanal-Projektion The Refusal of Time von William Kentridge, die ebenfalls aus einer Schleife mehrerer Sequenzen besteht, die verschiedene Facetten der Thematik um Zeit und Zeitmessung behandeln. An drei Wände eines rechteckigen Raumes werden Szenen in Schwarzweiß- und Scherenschnittoptik projiziert und dadurch die Rezipierenden auch räumlich um- und eingeschlossen. Es ist nicht möglich, die gesamte Projektion gleichzeitig visuell zu erfassen. Neben lose verteilten Stühlen befinden sich in diesem Raum einige Requisiten aus dem Film, sowie eine pneumatische Uhr, die sich rhythmisch bewegt. All diese Elemente treten als Schatten vor und in den Film, können je nach Betrachterstandpunkt verändert werden. Auf der Tonspur verweben sich zudem unterschiedliche Rhythmen, die sehr stark körperlich wahrgenommen werden und direkt dazu auffordern mitzugehen. Die Brüche zeigen sich hier somit nicht auf narrativer Ebene wie bei Continuity, sondern auf visueller Ebene: Auch wenn der Film ebenfalls jedes mal völlig unverändert projiziert wird, wird er durch den eigenen Standpunkt, das Arrangement der Schatten und das Verhalten der anderen Zuschauerinnen und Zuschauer niemals identisch wahrgenommen. In diesem Sinne ließe sich zumindest von einer beginnenden Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern sprechen. Auch das Gehen, und damit die Bewegung im Raum, ist für William Kentridge als Wahrnehmungsmodus seiner Werke entscheidend.34 Es ist allerdings noch eine weitere Parallele zu Continuity festzustellen: Das hier Gesagte gilt im Grunde ausnahmslos für jede Filmvorführung, sowohl im Kino, als auch in Ausstellungen. Es wird durch das Dispositiv einer flachen Sichtachse und beweglicher Stühle nur unterstützt und für das Werk nutzbar gemacht. Man könnte somit von einer wechselseitigen Anpassung sprechen: Auch wenn die Zuschauer aufgefordert sind, sich zu bewegen, um den Bildern und dem akustischen Rhythmus zu folgen, ist es hier auch das Display und der Film, die sich in ihrer Ästhetik den Rhythmen und Verhaltensweisen von Besucherinnen und Besuchern auf Kunstausstellungen anpassen.
34 | Vgl. A. Breidbach/W. Kentridge: William Kentridge, S. 72f.
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Eine Zwischenposition markiert Muster (Rushes) (2012) von Clemens von Wedemeyer. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Arbeit um drei fiktionale Spielfilme von jeweils 27 Minuten Länge, die das Kloster Breitenau über drei historische Blickwinkel (1945, 1970 und 1990) thematisieren. Innerhalb der Ausstellung werden diese gleichzeitig auf drei im Dreieck angeordnete Leinwände projiziert.35 Während sich die drei Tonspuren permanent überlagern, ist eine gleichzeitige Inblicknahme aller drei Filme unmöglich. Besucherinnen und Besucher – die über die auditiven Eindrücke bereits mit der Gleichzeitigkeit konfrontiert sind – müssen sich innerhalb dieses Dispositivs tatsächlich einen Standpunkt suchen und diesen ggf. wiederholt verändern. Ein völlig anderes Sehdispositiv, welches die Besonderheiten einer Ausstellung zwar anerkennt, aber diesen dennoch größtenteils entgegenläuft, haben Janet Cardiff & Georges Bures Miller mit ihrem Alter Bahnhof Video Walk geschaffen: Die Sorge, den Anfang des Filmes zu verpassen, ist hier unberechtigt, da er auf dem Display eines persönlichen Smartphones abgespielt wird. Der Film beginnt somit genau dann, wenn er gestartet wird. (Und kann pausiert, zurückgespult oder abgebrochen werden. Diese interaktiven Möglichkeiten sind für die künstlerische Arbeit nicht maßgeblich von Bedeutung, sollen aber als Aspekte einer möglichen Mit-Autorschaft genannt werden.) Ausgestattet mit dem Smartphone und speziellen binauralen Kopfhörern wird man aufgefordert, auf einer Bank in der Halle des Bahnhofs Platz zu nehmen und dort das Video zu starten. Der Ort der Vorführung hat somit nichts von der Abgeschiedenheit von Black Box oder White Cube, sondern ist im Gegenteil öffentlich. Nur ein Ausschnitt des Sichtfeldes wird durch das Display eingenommen, könnte als privater Raum angesehen werden. Dort zeigt sich allerdings ebenfalls der Bahnhof, der von eben dieser Bank aus aufgenommen wurde.36 Es lässt sich von einer visuellen Verdopplung der Realität sprechen. »Als RezipientIn ertappt man sich [...] immer wieder dabei, peinlichst genau die Perspektive Janet Cardiffs treffen zu wollen und [… das] Wiedergabegerät verwandelt sich in der Handhabe schleichend zur Kamera. So gesehen versucht man interaktiv zu jener einen, objektiven Realität zurückzukehren.«37 Damit ist die üblicherweise hauptsächlich aufnehmende Haltung bereits durch einen dem Film eingeschriebenen Auftrag gebrochen. Auch die übliche Position des Sitzens wird schnell durch die sprachliche Aufforderung aufgelöst, den auf dem Display zu sehenden Musikern, die durch die beschwingte Traurigkeit des gespielten melancholischen Seeräuberliedes als Trauerzug identifiziert werden kann, zu folgen.38 So beginnt man, auf den Spuren der Unbekannten wandelnd, den einen Raum zu durchschreiten, während man gleichzeitig zwei sich ähnelnde Räume visuell und auditiv wahrnimmt, diese sich überlagern und durchmischen. Dieser Modus der Wahrnehmung wirkt gespenstisch. Bild und Ton werden zu Wiedergängern, Gespenstern – ebenso wie man selbst die zuvor von Janet abgegangenen Wege wieder geht.39 Auch Stuart Horoder stellt fest: »Walking with her (via audio) is like walking with a ghost.«40 Janet taucht nicht nur als Stimme auf, sondern angeblich auch als visu-
35 | Vgl. E. Scharrer: Clemens von Wedemeyer, S. 374. 36 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sOkQE7m31Pw vom 24.10.2018. 37 | K. Baumgartner/M. Weinberger: Alter Bahnhof Videowalk, S. 22. 38 | Vgl. ebd., S. 21. 39 | Vgl. R. Fischer: Walking Artists, S. 271f. 40 | S. Horodner: Walk Ways, S. 21.
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ell wahrnehmbare Person: »That‘s me in the white coat down there.«41 Betrachterinnen und Betrachter dieser Arbeit betreten »einen Zwischenraum zwischen der Vergangenheit Janets und [… ihrer] aktuell-erlebten Gegenwart. Dieser Zwischenraum formiert sich zwischen Präsenz und Absenz, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod.«42 Abgesehen davon, dass der Betrachter zeitlich versetzt den Spuren von Janet folgt, verfolgen sich auch die Betrachter untereinander und bilden dadurch ein choreographisch beschreibbares Ensemble. Dies führt bei einer so stark frequentierten Installation wie Alter Bahnhof Video Walk zu besonderen Momenten: Direkt zu Beginn soll das Display auf ein Fenster gerichtet werden. Auf dem Video steht dort eine Frau. Möglicherweise befindet sich auch in dem diesseitigen Fenster eine Person, da der Video Walk die Betrachterinnen und Betrachter genau dort hin leitet, so dass man später selbst vom Fenster hinab auf eine andere Person blickt, die gerade hinaufschaut. Sabine Flach weißt auf das Motiv des Doppelgängers in vielen Videoinstallationen hin, welches hier in einer besonderen Form zum Tragen kommt, zumal auch die Praktiken des Gehens, auch des Doppelgehens oder Wiedergehens, in dieser Arbeit eine entscheidende Rolle spielen.43 Besonders eindrücklich ist der Besuch auf einem heute unscheinbaren Gleis, während Janet berichtet, dass hier die Züge warteten, in denen Kasseler Juden in die Arbeits- und Vernichtungslager deportiert wurden. Aber auch Einzelschicksale – wobei unklar bleibt, ob sie historisch belegt oder doch fiktional sind – werden gezeigt: ein alter Mann berichtet von der Bombardierung Kassels, ein anderer liegt von einer Menschentraube umringt am Boden, ob er verletzt ist oder tot, bleibt unklar. Immer wieder richtet sich Janet direkt an die Rezipierenden und hält so die scheinbar persönliche Verbindung aufrecht. Durch die direkte Ansprache positioniert man sich selbst nicht bloß als abstrakte Seh-Instanz, losgelöst vom Objekt der Wahrnehmung, sondern fühlt sich gleichzeitig als Teil des Wahrgenommenen.44 Dazu den Weg des Auditiven zu nutzen, ist eine erfolgreiche Strategie, da diese Eindrücke direkt vermittelt werden und man nicht weghören kann. Ähnlich verhält es sich mit anderen Formen der körperlichen Wahrnehmung, wie das Begreifen durch die Hände, das Abschreiten durch die Füße. (Die Burlesque-Ausstellung Subjects of Desire: Relics of Resistance (2012) von Ruth Robbins und Red Vaughan Tremmel verfährt vergleichbar, wenn sie eine klassisch aufgebaute Vitrinenausstellung nicht nur abdunkelt, sondern auch frenetisches Gejubel und Applaus einspielt.) Man sollte deshalb bei solchen Arbeiten nicht mehr bloß von Betrachterinnen und Betrachtern, sondern von Teilnehmenden sprechen oder den für diesen Wechsel des Konsumierenden zum Co-Produzierenden den noch stärkeren Begriff des Prosumers nutzen.45 Wenn es sich hier um Teilnehmende an einem Kunstwerk oder sogar Prosumer eines solchen handelt, lässt sich die Frage stellen, was die stofflichen Komponenten dieses Werkes sind: Das Wiedergabegerät, der Bahnhof oder die Teilnehmenden? »Passanten am Bahnhof nehmen von dieser Arbeit lediglich umherstreifende, verträumte Menschen mit technischem Gerät war. Personen, die das Werk durch ihre je eigene 41 | https://www.youtube.com/watch?v=sOkQE7m31Pw vom 24.10.2018. Transkription TP. 42 | R. Fischer: Walking Artists, S. 265. 43 | Vgl. S. Flach: Körper-Szenarien, S. 229ff. 44 | Vgl. D. Zyman: At the Edge, S. 13. 45 | Vgl. P. Weibel: User Art, S. 1ff.
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Innerlichkeit ermöglichen, vervollständigen und somit ein individuelles Ganzes schaffen.«46 Bei längerer Beobachtung verfestigt sich dieses Umherstreifen allerdings zu einer Choreografie mit festen Regeln, die Ralph Fischer als »chronotopischen Text, der [...] über Kopfhörer diktiert wird«47 bezeichnet. Besonders deutlich wird dies innerhalb der abschließenden Sequenz: In einer großen, aber fast ungenutzten Seitenhalle tanzt ein Paar, nur sichtbar über das Display. Diese Sequenz wird nicht mehr von Janet kommentiert, steht für sich. In dem großen leeren Raum außerhalb des Films stehen etliche Personen, die in die selbe Richtung schauen und doch völlig isoliert sind. Sie wirken selbst gespenstisch und beobachten doch bloß eine Erscheinung, die für Unbeteiligte unsichtbar bleibt. Der tatsächlichen Choreografie des Tanzes innerhalb des Videos wird hier eine Choreografie des Stillstandes entgegengesetzt, nachdem zuvor auf unsichtbaren, aber dennoch festgelegten Pfaden gewandelt wurde. Bei aktivierenden Videoarbeiten wie dieser werden also verschiedene Räume mit jeweils eigenen Rezeptions- und Handlungsmustern verschränkt.48 Diese werden außerdem mit dem faktisch vorhandenen Ort konfrontiert, in diesem Fall mit den Menschen, die sich – als Teil der Choreografie oder zufällige Passanten – darin bewegen sowie dem Raum selbst. Wahrnehmung hängt dabei auch von der Art der Fortbewegung ab.49 Denn der »durchquerte Raum ist kein homogen-geographisches Territorium, dass sich auf Stadtplänen einzeichnen lässt, sondern ein in Erinnerung getränkter, heterogener Affekt-Raum, an dem sich Geschichten und Emotionen sedimentiert haben. Ein Ort, der von Erinnerungen heimgesucht wird.«50 Schaut man sich Alter Bahnhof Video Walk losgelöst vom Ort an oder entschließt man sich, diesen nicht zu aktualisieren, z.B. indem man sich einen stillen Sitzplatz sucht, wird das Werk selbst gar nicht erst konstituiert. »Der Rezipient ist kein Betrachter oder Zuschauer, der ein künstlerisches Artefakt oder eine Aufführung aus sicherer Distanz betrachtet, vielmehr bringt er den künstlerischen Prozess, durch seine physische Partizipation, überhaupt erst hervor.«51 Die Partizipierenden oder Prosumer sind gleichwertige Weggefährten Janets bei der Konstitution des Werkes, das »Gehen fungiert [dabei] als elementare operative Geste im Akt der Rezeption.«52 Solche ephemeren Strategien zielen ab auf das »Herstellen von Relationen, das Wieder-Finden und Neu-Erfinden der Beziehung zwischen Subjekt und Raum[.]«53 Vergegenwärtigt man sich diese Notwendigkeit des Körpers, wird deutlich, warum Kitty Scott innerhalb des Katalogtextes die Arbeiten von Janet Cardiff & Georges Bures Miller mit dem Body Cinema verknüpft:54 Filme, »die Erregung evozieren, Tränen und Angst und/oder Übelkeit. Filme, die – pathetisch formuliert – Narben auf der Netzhaut hinterlassen.«55 Christian Fuchs verweist in diesem Zusammenhang auch auf die wackelige Kameraführung von Filmen im Dogma-Stil, die durchaus mit Handyfilmen 46 | K. Baumgartner/M. Weinberger: Alter Bahnhof Videowalk, S. 23. 47 | R. Fischer: Walking Artists, S. 264. 48 | Vgl. P.C. Scorzin: Metaszenografie, S. 308. 49 | Vgl. M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 218. 50 | R. Fischer: Walking Artists, S. 257. 51 | Ebd., S. 254. 52 | Ebd., S. 253. 53 | Ebd., S. 289f. 54 | Vgl. K. Scott: Janet Cardiff & George Bures Miller, S. 334. 55 | C. Fuchs: Let’s get physical, o.S.
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verglichen werden kann. In ihrer Unruhe vermögen diese »auf heftige, suggestive Weise den Zuschauer-Körper aus seiner saturierten Gegenwarts-Lethargie zu reißen«56. Das Dispositiv des tragbaren Videogeräts legt die nötige Intimität an, obwohl es die Abgeschiedenheit des Kinosaals einbüßt, da es weder ein Gegenüber noch eine Verlängerung des Körpers darstellt, sondern als ein eingebauter Teil empfunden wird, so dass dadurch von einer Ko-Präsenz gesprochen werden kann.57 Gleichzeitig befinden sich die Betrachterinnen und Betrachter durch diese Prothese in sicherer Distanz zum Dargestellten. Und obwohl der Film auf dem Display des Smartphones unveränderlich und wiederholbar ist, ist es die entstandene Beziehung zwischen Subjekt, Raum und Kunstwerk, die auf der Schwelle zur Performance angesiedelt ist. Diese Schwelle überschreitet This Variation (2012) von Tino Sehgal. Die Arbeit bedient sich noch deutlicher am Motiv des choreografierten Tanzes und eröffnet ein Dispositiv, das gleichzeitig streng Grenzen und Abläufe definiert und dennoch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Handlungsmacht zuspricht. Tino Sehgal organisiert Zusammenkünfte von Menschen nur selten über Dispositive oder stoffliche Aktanten, sondern über sogenannte Interpreter, also instruierte Personen im Ausstellungsraum. Betritt man diesen, ist man immer schon Teil des relationalen Gefüges und jegliches Verhalten schreibt sich in diese ein.58 This Variation nutzt zunächst das Potential der Desorientierung: Der Raum selbst liegt scheinbar in völliger Dunkelheit. Des Sehsinns beraubt, müssen sich Besucherinnen und Besucher beim Eintreten auf ihren Tast- und Gehörsinn verlassen. Ein Gefühl von Unsicherheit und Verletzlichkeit stellt sich wahrscheinlich ein. Der Gesang, der aus dem Dunkeln zu vernehmen ist, wirkt hingegen energetisch und lädt ein, nicht nur einzutreten, sondern sich auch zu bewegen – was wiederum durch die körperliche Verunsicherung gemindert wird. Häufig werden Besucherinnen und Besucher von Personen aus dem Dunkeln an die Hand genommen, mitunter umarmt oder in Tanzbewegung versetzt. Die löst vermutlich einen Schreck aus, kann sowohl als bedrohlich als auch als Hilfestellung empfunden werden. Lässt man die Berührung zu, wird man tiefer in den Raum geführt. Nach und nach gewöhnen sich die Augen an die minimalen Lichtverhältnisse, Schatten werden wahrnehmbar, die Verunsicherung lässt nach. Gleichzeitig wird klar, dass der Gesang nicht technisch vermittelt wird, sondern durch einige der anwesenden Personen erzeugt wird, es somit eine Unterscheidung zwischen ›professionellen‹ und ›nicht-professionellen‹ Akteuren in leiblicher Ko-Präsenz im Raum gibt. »Indem Sehgal die Menschen in situ tanzen und singen lässt (und ihren Tanz und Gesang nicht als technisch vermittelte Videoaufzeichnung präsentiert), macht er neben der Gleichzeitigkeit von Darbietung und deren Rezeption ebenfalls die Gleichzeitigkeit von Werden und augenblicklichen sich Verflüchtigen zur wesentlichen Bedingung […]. Dass er hierfür ausgerechnet auf Tanz und Gesang zurückgreift, ist kein Zufall, gilt doch der Gesang als die unstofflichste Form der Kunstproduktion, der Tanz als die ephemerste.« 59
56 | Ebd. 57 | Vgl. R. Fischer: Walking Artists, S. 270. 58 | Vgl. S. Umathum: Kunst als Aufführungserfahrung, S. 117f. 59 | Ebd., S. 127.
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Faszinierend an dieser Form der Gesangsperformance ist, dass es zwar offensichtlich Anweisungen und Absprachen für die ›professionellen‹ Akteure im Raum gibt, diese aber nicht außerhalb der Wahrnehmung der übrigen Anwesenden aktualisiert werden können, insbesondere, wenn letztere in das Geschehen eingreifen. Es scheint sich um ein intuitives Vorgehen zu handeln, bei dem die Spielerinnen und Spieler aufeinander und auf die Zugaben von außen reagieren. So können sehr unterschiedliche Situationen entstehen, die von frenetischem gemeinsamen Tanz, über eine Diskussion zu Eigentum bis hin zu Verweigerung reichen. Jerry Saltz sieht in dieser Performance die Möglichkeit, die Konturen des eigenen Körpers zu verlieren und in ein ekstatisches Tanzen (wörtlich oder übertragen) zu verfallen.60 Trotz gleichbleibendem Grundregelwerk und der für die Arbeiten von Tino Sehgal üblichen Rückführung in einen Ausgangszustand, wenn keine Besucherinnen und Besucher anwesend waren, veränderte sich die Arbeit im Laufe der 100 Tage grundlegend: Zu Beginn der dOCUMENTA (13) bedeutete ihre Positionierung abseits der Hauptschauplätze, dass sie auch abseits der Hauptrouten des Publikums lag. Im Verlauf der Ausstellung entwickelten sich allerdings This Variation und in direkter Nachbarschaft 12 Ballads for the Huguenot House (2012) von Theaster Gates zu beliebten Zielen. Der dunkle Raum war häufig überfüllt, es herrschte Unruhe, Handydisplays leuchteten auf und Fremdgeräusche begannen einen immer präsenteren Anteil der Erfahrung auszumachen. Darauf reagierten auch die Spielerinnen und Spieler, indem sie sich beispielsweise in die Ecken des Raumes begaben oder auf den Boden setzten und leise summten. Möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein, waren Besucherinnen und Besucher maßgeblich an der Konstitution und Variation dieser Arbeit beteiligt, waren Prosumer. Die hier aufgeführten Beispiele zeigen auf, wie Besucherinnen und Besucher durch Schauanordnungen, Displays und Atmosphären mit den jeweiligen Kunstwerken und Themen assoziiert werden können und sie teilweise in eine partizipierende oder produzierende Rolle eintreten. Trotz der Dringlichkeit mancher referenzierter Themen stellen sich diese Projekte dennoch eher als Events dar, statt ihr Publikum wirklich mit gesellschaftlichen, sozialen und politischen Konfliktfeldern in Berührung zu bringen und eine Positionierung einzufordern. Ein deutlich politisches Interesse lässt sich hingegen bei Rabih Mroué ausmachen, der Besucherinnen und Besucher mit Ereignissen konfrontiert, die diesen im Jahr 2012 möglicherweise weniger präsent oder sogar unbekannt waren und darüber hinaus den Event-Charakter seines Projekts bricht und gegen die Nutzerinnen und Nutzer wendet.
Prosumer als Täterkollektiv Rabih Mroué beschäftigt sich in seiner Werkreihe The Fall of a Hair (2012), die aus einem Vortrag, Fotografien, Filmen und Objekten besteht, mit dem Sterben syrischer Protestierender, die ihren eigenen Tod aufnahmen, während sie versuchten, die Kriegssituation mit ihren Smartphones zu dokumentieren. Er verknüpft diese erschütternden Real-Aufnahmen mit dem Dogma-95-Manifest. Dadurch stellt er gleichzeitig eine Sprache zur Verfügung, um über das Dargestellte zu sprechen, aber auch tatsächliche Hinweise für Zivilisten in Kriegsgebieten. Die Polysemie des englischen Wortes ›to shoot‹, als ›Aufnahme beim Film‹ sowie ›Schuss einer Waffe‹, nutzt Rabih Mroué, um 60 | Vgl. J. Saltz: Glimpse of Art’s Future, S. 490.
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deutlich zu machen, dass auch diese Handyfilme als virtuelle Waffe genutzt werden, gleichzeitig aber auch der oder die Filmende in den realen Konflikt eintritt und dadurch das eigene Leben gefährdet. Auch die aus verschiedenen Teilen bestehende Mixed-Media-Installation The Fall of a Hair von Rabih Mroué, die »einen szenografierten Bilderraum als begeh- und erfahrbaren Denkraum«61 anbietet, verbindet die visuelle Erfahrung von Tod und Sterben mit dem körperlichen Empfinden der Rezipierenden. Präsentiert werden drei sehr unterschiedliche Filmprojektionen, einige Fotografien, ein Text, sowie ein Tisch mit Daumenkinos. All diese Werke beschäftigen sich mit im Internet gefundenen Handyfilmen von Protestierenden, die, während sie die Situation im syrischen Bürgerkrieg dokumentierten, ihren eigenen Tod aufnahmen. Einige erfassten dabei sogar die Täter, die Rabih Mroué als großformatige, aber aufgrund der schlechten Qualität des Ausgangsmaterial völlig unscharfe und verpixelte Fotoabzüge präsentiert. Carol Martin stellt aber sehr richtig fest: »Mroué presents terrible violence without showing it. We never see anyone die. But we experience what may have been […] actual deaths.«62 Damit bedient er sich der selben Strategie, die Carolyn Christov-Bakargiev bei Lee Miller ausgemacht hat: »Below left is an image of Lee Miller in Adolf Hitler’s bathtub […]. It is a photo of the camps, but indirect, without the literality of body horror«.63 Rabih Mroué macht sich das Primat des Fühlens, des Selbst-Erlebens, über das bloße Sehen zu nutze, und verwendet dazu in zwei seiner Arbeiten Strategien der Verkörperung um die Rezipierenden zu erreichen. Er sagt selbst: »Ich möchte keine Beobachter, kein Publikum, das kommt, um sich zu entspannen oder sich identifiziert in diesem Raum. Ich will, dass die Zuschauer engagiert sind, involviert, dass sie sich mit dem, was sie sehen als Realität auseinandersetzen. Mit dem Raum und dem Jetzt. Da stellt sich erst die Frage, ob das echt ist oder nicht, Fiktion oder nicht.« 64
An dieser Stelle sollen zunächst einige Gedanken nachgezeichnet werden, die Rabih Mroué in seiner Lecture-Performance The Pixelated Revolution entwickelt, die den ersten Teil der Werkgruppe darstellt, um dann zu untersuchen, wie er diese in anderen Teilen künstlerisch vermittelt. »Obwohl sie wie Geschichten mit offenem Ausgang wirken, sind seine Performances […] minutiös geplant und sorgfältig inszeniert, um den Zuschauer an der strukturellen Entfaltung der Ideen teilhaben zu lassen.«65 Deshalb ist es bei diesem Film anders als bei Continuity oder Refusal of Time zwingend notwendig, ihn von Anfang bis Ende in der vorgesehenen Abfolge zu sehen. Dieses Anliegen des Künstlers wird in der Ausstellung durch einen Countdown visualisiert, der darüber informiert, wann die nächste Vorführung beginnt. Hier sollen sich also ganz deutlich die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung an die strukturgebenden Vorgaben des Films halten.
61 | P.C. Scorzin: Shooting Ourselves to Death, S. 44. 62 | C. Martin: Uploaded and Unsanctioned, S. 24. 63 | C. Christov-Bakargiev: Über die Zerstörung, S. 20f., BdB. S. 305. 64 | R. Mroué/L. Saneh/H. Waldmann/F. Raddaz/K. Tiedemann: Keine Angst vor Repräsenta tion, S. 96. 65 | E. Scharrer: Rabih Mroué, S. 354.
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Rabih Mroué stellt in seinem Vortrag fest, dass es 2011 in Syrien keine Journalisten vor Ort gab, die über die Revolution hätten berichten könnten, so dass die Öffentlichkeit nicht die Möglichkeit hatte, zu erfahren, was dort tatsächlich passierte. Die einzige Quelle neben dem Staatsfernsehen waren Videos von syrischen Bürgerinnen und Bürgern.66 Diese Filme wurden ins Internet geladen, um der Weltöffentlichkeit einen scheinbar direkten Blick auf die Ereignisse in Syrien zu ermöglichen. Doch wie ist es möglich, dass einige dieser Menschen ihre Mörder und ihren eigenen Tod aufnahmen, scheinbar ohne wirklich zu realisieren, in welcher akuten Gefahr sie schwebten? Rabih Mroué spricht von einem ›double shooting‹, ein Vergleich, der zunächst grotesk wirkt: »One is shooting with a camera and the other is shooting with a rifle. One shoots for his life and one shoots for the life of his regime.«67 Er entwickelt im Folgenden eine Theorie, welche die Stellvertreterposition aus dem Body Cinema zunächst umkehrt um sie dann noch stärker rückzubinden: »I assume that the eye sees more than it can read, analyze, understand, and interpret. For example, when the eye sees the sniper lifting the gun towards it in order to shoot and kill, the eye keeps on watching without really understanding that it might be witnessing its own death. Because, by watching what is going on through a mediator – the little screen of a mobile phone – the eye sees the event as isolated from the real, as if it belongs to the realm of fiction.« 68 »It is as if the camera and the eye have become united in the same body, I mean the camera has become an integral part of the body. Its lens and its memory have replaced the retina of the eye and the brain. In other words, their cameras are not cameras, but eyes implanted in their hands – an optical prothesis.« 69 »This means that our eyes are an extension of the cameraman’s eyes and, as we established, his eyes are an extension of his mobile phone’s lens. This leads us to the logic that when the bullet hits the lens, then logically it should hit the cameraman’s eye and should hit our eyes as well. Metaphorically, we should be killed once we watch this video.« 70
Dieser Übertrag ist radikal, zumal die gleichen Metaphern von Prothesen und Narben auf der Netzhaut verwendet werden wie bei Alter Bahnhof Video Walk und vorher herausgearbeitet wurde, dass erst die Prothese der Kamera es dem Menschen als Stellvertreter möglich macht, Gefahren ungefährdet anzusehen.71 Tatsächlich ist es wohl das Element der Fiktion, dessen Abwesenheit dazu führt, dass man sich weit angegriffener fühlt. Auch die Rezipierenden als Teil der Gesellschaft »haben die Gewalt aus ihrer Mitte verbannt und in die Unterwelt sowie an ihre Ränder abgedrängt. Die Sichtbarmachung entfesselter Gewalt wird darum […] selbst zur Gewalt im Sinne eines Angriffs
66 | Vgl. C. Martin: Uploaded and Unsanctioned, S. 19. 67 | R. Mroué: The Pixelated Revolution, S. 29. 68 | Ebd., S. 30f. 69 | Ebd., S. 29f. 70 | Ebd., S. 35. 71 | Vgl. M. Lucier: Light and Death, S. 467.
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auf das politische Selbstverständnis des Angegriffenen.«72 Der Installation von Rabih Mroué hängt somit auch die Sorge an, etwas zu sehen oder zu fühlen, dass man nicht sehen möchte, nicht erträgt – und das obwohl tatsächlich keine konkreten Opfer gezeigt wurden. Um es den Protestierenden zu ermöglichen das eigene Leben und (annähernd gleichwertig verhandelt) das Filmdokument zu schützen, formuliert Rabih Mroué unter dem Titel Instructions and Advice How to Shoot Today neunzehn Regeln. Diese sind an das Dogma-95-Manifest angelehnt, welches unter anderem ebenfalls auf eine unmittelbare Wirkung abzielte. Die sechste Regel des Manifests (»The film must not contain superficial action. (Murders, weapons, etc. must not occur.)«73) wird in Rabih Mroués Version zu: »The film should not contain superficial action (such as killing, the use of weapons, etc. Of course, it is allowed to film the action of killing, if it is real; and the weapon, if it actually kills).« 74
Dieser fast naiven Verfremdung werden sehr ernste Passagen entgegengestellt: »Be cautious not to let your phone slip from your hand and get lost in the crowd; it might fall into the hands of the Security Forces, wich will result in your pursuit, as well as the pursuit and arrest and interrogation and torture of all the names found in the phone’s directory. For security purposes, it is vital to preserve the secrecy of everybody’s names.« 75
Es wird deutlich, dass Medien im Allgemeinen »selbst zu einem zentralen Element der Kriegführung geworden [sind], als hätten Berichte und insbesondere Bilder gleichsam Waffenqualität bekommen.«76 Rabih Mroué unterscheidet allerdings anhand der Ereignisse am 11. September 2001 zwischen zwei Formen der Dokumentation. Die wenigen Bilder des ersten Einschlags in den Nordturm des World Trade Centers sind zufällig gefilmt, und wirken dadurch unvermittelt und authentisch – und mit den Bildern seiner Werkreihe zu vergleichen. Die Bilder der Attacke auf den Südturm sind aufgrund der Vorbereitungszeit der Dokumentierenden klarer, offizieller und in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben – zeigen aber ebenso deutlich verschiedene Inszenierungen: sowohl die der Attentäter, als auch die der Medien.77 Die wesentliche Veränderung liegt jedoch im »Zeitalter des Web 2.0 in der Emanzipation der User, vormals Dilettanten genannt, die ihre Bilder weltweit rege miteinander teilen«78 und somit als echte Prosumer gelten können, da sie selbst nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren. In Bürgerkriegen treffen Gegner aufeinander, die hinsichtlich Bewaffnung, Organisation und Handlungslogik völlig verschieden sind. Diese Asymmetrie kann durch den Einsatz der Medien, die für eine breite Öffentlichkeit nutzbar sind, so verschoben werden, 72 | H. Münkler: Die Rolle der Medien, S. 249. 73 | L. von Trier und T. Vinterberg zitiert nach M.N. Lorenz: DOGMA 95, S. 220. 74 | R. Mroué: The Pixelated Revolution, S. 27. 75 | Ebd. 76 | H. Münkler: Die Rolle der Medien, S. 246. 77 | Vgl. C. Martin: Uploaded and Unsanctioned, S. 23. 78 | P.C. Scorzin: Shooting Ourselves to Death, S. 43.
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dass die asymmetrisch Starken zu Tätern stilisiert werden, während die Schwachen als Opfer erscheinen.79 Die Prosumer machen also durch ihre große Anzahl und eine schnelle Kommunikation eine Kontrolle durch den Staat oder assoziierte Medien unmöglich.80 Beide Parteien führen deshalb auch einen Krieg um die Kontrolle der Berichterstattung.81 Es steht fest, dass »Smartphones [dabei geholfen haben], insbesondere durch ihre Kamerafunktion und die Möglichkeit zu twittern, […] Informationen und Bilder zeitnah und weit zu verbreiten und dadurch Massen zu mobilisieren. Dies war für die Protestbewegung entscheidend – vor allem auch in kleineren Städten auf dem Land.«82 Der arabische Frühling wurde deshalb auch Smartphone-Revolution oder Facebook-Revolution bezeichnet. Aber: »›Die Revolution hat auf der Straße stattgefunden, nicht im virtuellen Raum. Sie hat 800 Menschen das Leben gekostet‹, sagte der junge Blogger Abdallah aus Kairo [im Jahr 2011]. Der Ausdruck ›Facebook-Revolution‹ macht ihn fast wütend. Denn der arabische Frühling hat ganz reale politische und sozio-ökonomische Hintergründe, die zur Verzweiflung einer ganzen Generation führten.« 83
Auch Rabih Mroué sagt es ganz deutlich: »The Syrian protesters are recording their own deaths.«84 Seine Arbeit befindet sich somit innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen einer am Ende gefahrlosen Auseinandersetzung mit Filmen, für die andere ihr Leben opferten und eben dieser maximalen Preisgabe des eigenen Lebens. Es ist notwendig, dieses Missverhältnis zu vergegenwärtigen, um überhaupt begreifen zu können, worum es sich bei diesen Dokumentationen handelt, die den Rezipierenden am scheinbar unverfänglichen Ort der Kunstausstellung begegnen, denn wir leben heute »in einem digitalisierten Universum […]. In allen Bereichen haben wir zunehmend das Ding ohne sein Wesen. Wir haben Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein, virtuellen Sex ohne Sex. Nun haben wir auch virtuelle Wirklichkeit: Realität ohne Realität, gänzlich reguliert und dinghaft. Aber die Sache hat eine Kehrseite: In unserem Universum toter Konventionen muss die einzig wirklich authentische Erfahrung ein äußerst gewaltsames, erschütterndes Erlebnis sein. Dann haben wir das Empfinden, wieder im wirklichen Leben angekommen zu sein. […] Damit die Erfahrung authentisch wird, muss sie extrem gewaltsam sein.« 85
Die physische Destruktion ist eine der letzten Möglichkeiten im Kampf um den Rest der Leidenschaften in dieser virtuellen Wirklichkeit. »Die Protagonisten erhaschen Authentizität, indem sie ihren Körper selbst ins Spiel bringen oder, ganz wortwörtlich, aufs Spiel setzen, ihn verletzen, opfern und zerstören.«86 79 | Vgl. H. Münkler: Die Rolle der Medien, S. 247. 80 | Vgl. A. El Difraoui: Die Rolle der neuen Medien, o.S. 81 | Vgl. H. Münkler: Die Rolle der Medien, S. 248. 82 | A. El Difraoui: Die Rolle der neuen Medien, o.S. 83 | Ebd. 84 | R. Mroué: The Pixelated Revolution, S. 25. 85 | S. Zizek zitiert nach C. Fuchs: Let’s get physical, o.S. 86 | Ebd.
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Mit einer zunächst scheinbar völlig harmlosen Form der Filmpräsentation ermöglicht Rabih Mroué auch Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung, ihren Körper ins Spiel zu bringen, wenn auch auf gänzlich andere Weise: Auf einem Tisch liegen unter dem Titel Thicker than Water einige Daumenkinos bereit, die ebenfalls die Filme beinhalten, die den Tod des Aufnehmenden dokumentieren. In diesem Fall ist es nicht nur so, dass die Teilnahme des Rezipienten das Werk erst vollständig macht, wie bei Alter Bahnhof Video Walk, sondern der Film tatsächlich erst abläuft, wenn man ihn körperlich aktiviert. Dabei ist es möglich, ihn schnell, langsam, vorwärts oder rückwärts oder nur in Teilen zu aktivieren. Es steht den Rezipienten auch offen, den Film und das darin Dargestellte zu wiederholen. Man fungiert in dieser Choreografie nicht etwa als Stellvertreter der Opfer, somit der Leidtragenden, sondern kommt in die Rolle eines Täters, der unbedarft das Dispositiv genutzt und dabei zuvor Ungeahntes angerichtet hat: Ist es vielleicht möglich, die Argumentationskette Rabih Mroués, dass man selbst sterben müsse, wenn man einen solchen Film sieht, umzukehren? Durch die Aktivierung des Daumenkinos, lösen Prosumer den tödlichen Schuss immer und immer wieder aus, sorgen immer wieder dafür, dass – zumindest visuell – ein Leben ausgelöscht wird. So betrachtet haben Fotografien der Gewalt also durchaus das Potential das Kollektiv der Täter zu vermehren.87 Eine weitere Arbeit dieser Art, wurde durch einen 16mm-Film mit dem Titel »Eye« vs. »Eye«, der von den Rezipierenden selbst in Bewegung gehalten und so zur Projektion gebracht werden sollte, konzipiert. Diese Arbeit wurde allerdings aus ausstellungstechnischen Gründen automatisiert und büßt dadurch das Teilhabe-Potential ein. Um »sich mit der Thematik als solcher überhaupt mental auseinander setzen zu können, ohne von dem Ereignis selbst ganz überwältigt zu werden«88, nutzen die Arbeiten ein Potential darstellerischer und narrativer Fiktionalität. Auch bei den nicht-fiktionalen Arbeiten von Rabih Mroué ist es nicht trivial zu betonen, dass es einen gewaltigen Unterschied für das Erlebnis ausmacht, einem Todesschützen real gegenüberzustehen oder diese Konfrontation über ein Medium zu erfahren – es gleichsam aus der eigenen Realität zu entrücken. Im zweiten Fall ist es »ein szenografisches Konzept, dessen Schock die nachhaltigere, weil nicht tödliche oder traumatisch lähmende, kathartische Wirkung entfaltet. Wir brauchen, so zynisch und paradox es auch klingen mag, folglich auch die Sichtbarkeit von Bildern des Todes und der Gewalt in unserer Kultur.«89 Es wurde gezeigt, dass die verschiedenen Dispositive der hier vorgestellten Video-Installationen die Rezipierenden jeweils dazu auffordern, aktiv in das Geschehen und die eigene Wahrnehmung des Kunstwerkes einzugreifen. Was bei Continuity noch als stilistische Ausnutzung des gegebenen Verhaltens der Ausstellungsbesucher beschrieben werden konnte, wurde mit Refusal of Time und Alter Bahnhof Video Walk schrittweise zu Choreografien, denen man sich anschließen musste, um das Werk zu konstituieren. Den Rezipierenden wurde eine Mitautorschaft zugesprochen, so dass von Prosumern gesprochen werden konnte. Bei The Fall of a Hair / Thicker Than Water zeigt sich aber am deutlichsten, dass die vermeintlichen Prosumer nur in der Lage sind, hervorzubringen, was bereits in der Arbeit angelegt ist. Es bleibt, was Erika Fischer-Lichte als Merkmale des Films herausstellt: Die Inhalte sind unveränderlich, nur in der Erfahrung derjenigen, die die Arbeit aktiv rezipieren, und eventuell derjenigen, 87 | Vgl. T. Macho: Verdunkelte Blicke, S. 111. 88 | P.C. Scorzin: Shooting Ourselves to Death, S. 45. 89 | Ebd.
Re-Politisierung des Ausstellungspublikums
die diese Rezipierenden beobachten, gibt es Möglichkeiten der Veränderung. Diese zeigt sich aber in keinem der Beispiele in einer Umdeutung des Dargestellten, sondern in einer Umpositionierung der Rezipierenden. Die Künstlerinnen und Künstler machen ihr Gegenüber so zu Mittätern und Mittäterinnen, degradieren sie im Grunde zu bloß Mitlaufenden ihres autoritären Dispositivs. Es sollte somit stets kritisch hinterfragt werden, ob die Möglichkeit, sich in Ausstellungen körperlich zu bewegen, also auch den Film im Gehen zu sehen oder ihn erst durch eine Bewegung zum Laufen zu bringen, tatsächlich eine kritische Haltung in Bezug auf die dominanten Wahrnehmungssysteme des Kinos und der Ausstellung einzunehmen ermöglicht.90 Überwindet man die Euphorie, die mit dem Begriff Prosumer einhergeht, lässt sich eher von einem Scripted Space – also einem choreografierten Bewegungsraum – sprechen, der seine machtvolle Autorität und seine manipulativen Tendenzen hinter interaktiven Special Effects verbirgt.91 Der Rezipient bzw. die Rezipientin muss »zunächst einmal auch einen Großteil seiner [/ ihrer] Freiheit dafür freiwillig aufgeben, vielleicht auch etwas mehr als nur den Kontrollverlust dafür bezahlen, um nicht zu sagen, wie beim Antritt einer Geisterbahnfahrt auch seinen [/ ihren] gesunden Menschenverstand erst einmal aufzugeben, um sich Visionen, Emotionen und Illusionen vollkommen hingeben und ausliefern zu können, sich bewusst täuschen oder eine fiktive Situation und emotional fesselnde Erzählungen führen zu lassen.« 92
Am deutlichsten tritt dieses Regelwerk, dem sich untergeordnet werden soll, im Titel des von Rabih Mroué entlehnten Manifests auf: Instructions and Advice How to Shoot Today. Anweisungen und Hinweise, wie ein Display zu nutzen, ein Film zu sehen und auch zu verstehen ist, sind in allen Beispielen enthalten – die Rezipierenden sind aufgefordert, mitzutanzen, und nicht, neue Choreografien innerhalb des Displays zu entwickeln. Das Ergebnis dieser Tänze ist stets unausweichlich, dennoch ermöglicht es die physische Involviertheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, das Dargestellte erlebbar und mitfühlbar zu machen – die Membran der Leinwand zu sprengen. Ähnlich verhält es sich bei vielen partizipativen Projekten, wie z.B. Public Smog (2004-fortlaufend) von Amy Balkins, bei dem sich Ausstellungsbesucherinnen und -besucher einem politischen Kollektiv anschließen können, ohne auf dessen Konstruktion Einfluss zu haben – und ohne ein über eine Geste hinausreichendes Engagement. Tatsächlich wird sowohl die eigentliche Brisanz sowie das subversive Vorgehen Amy Balkins, der repräsentativen Macht von Staaten mit der einer Kunstausstellung zu begegnen, durch den Anschein eines in der Arbeit angelegten demokratischen Prozesses nahezu konterkariert. Auch in der offen wirkenden Anlage von I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS (1969-2011) von Ida Applebroog soll grundsätzlich einer vorgezeichneten Choreografie gefolgt werden. Nicolas Bourriaud beschreibt die Situation in Bezug auf zwei Arbeiten von Felix González-Torres’, die sich auf Ida Applebroogs Beitrag zur dOCUMENTA (13) übertragen lassen:
90 | Vgl. M. Nash: Bildende Kunst und Kino, S. 131. 91 | Vgl. P.C. Scorzin: Metaszenografie, S. 308. 92 | Ebd.
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Vermittlungskunst »One is allowed to take one of the posters away with him/her. But what happens if lots of visitors walk off in turn with these sheets of paper offered to an abstract public? What process would cause the piece to change and then vanish?«93 – »I saw visitors grabbing as many candies as their hands and pockets could hold: in doing so they were being referred to their social behaviour, their fetishism and their cumulative concept of the world… while others did not dare, or waited for the person next to them to filch a candy, before doing likewise. The candy pieces thus raise an ethical problem in an apparently anodyne form: our relationship to authority and the way museum guards use their power; our sense of moderation and the nature of our relationship to the work of art.« 94
Fest steht, dass partizipative Strategien in Ausstellungen vielversprechend sind, um Besucherinnen und Besucher in Themen der Ausstellung einzubinden, allerdings kritisch nach Strategien der Vereinnahmung und Bloßstellung untersucht werden müssen. Es wird deutlich, dass solche Arbeiten trotz vergleichbarer Mechanismen deshalb anders zu bewerten sind, weil sie nicht auf eine politische Außenwirkung, sondern auf eine emotionale Innenwirkung abzielen. Sabeth Buchmann sieht in diesem Umstand eine Neutralisierung der institutionskritischen Methode, was sie an den festgeschraubten Büchern in Kader Attias The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures (2012) festmacht, aber sicherlich auch auf einige der hier analysierten Dispositive übertragbar wäre. Sie räumt die Möglichkeit ein, dass »in dieser Geste eine berechtigte Kritik an einer inzwischen leergelaufenen Partizipationsrhetorik zu lesen«95 wäre, sieht aber eher die »Gefahr, Wissen und Information auf einen zugegeben aufsehenerregenden Gegenstand der Repräsentation zu reduzieren.«96 In diesem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Re-Politisierung und der Gefahr der Entmündigung scheinen solche Strategien vielversprechend, die sich einerseits deutlich als edukativ kennzeichnen und andererseits dennoch nicht belehrend, sondern unterhaltend, interaktiv und überraschend auftreten. Ob aus einer solchen Pose der (scheinbaren) Affirmation gewisser Kontexte eine Kritik auch, aber nicht ausschließlich, der Institution möglich ist, soll im Folgenden Abschnitt umrissen werden.
93 | N. Bourriaud: Relational Aesthetics, S. 49. 94 | Ebd., S. 56f. 95 | S. Buchmann: (Kunst-)Kritik, S. 138. 96 | Ebd.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
Wie bereits in vorherigen Abschnitten deutlicher beleuchtet, praktiziert die dOCUMENTA (13) trotz einer gewissen Dramaturgie der Enthüllung bei gleichzeitiger Verschleierung durch Carolyn Christov-Bakargievs Selbstdarstellung eine Offenheit ihre Entstehungsprozesse betreffend, die in der Geschichte der Ausstellungsreihe einzigartig ist. Diese werden durch die Reihe 100 Notizen – 100 Gedanken und vor allem das Logbuch nachvollziehbar gemacht. Eine kritische Überprüfung dieser Offenheit, d.h. ein Abgleich der tatsächlichen Prozesse mit denen, die veröffentlicht wurden, muss in der zukünftigen Forschung im Sinne einer Spurenkritik (Harald Kimpel) geleistet werden. Über das Projekt El Chaco en Kassel (2012) von Guillermo Faivovich & Nicolás Goldberg lässt sich exemplarisch verdeutlichen, wie über die Publikation des Projekts El Taco (2010) im Porticus durch die dOCUMENTA (13), verschiedene Interviews der Künstler und der Künstlerischen Leitung, den Text im Begleitbuch, der auf den 26.01.2012 datiert wurde, die parallel verlaufende öffentliche Debatte und die daraus folgende Absage im Februar 2012, die Pressekonferenz zur Eröffnung der dOCUMENTA (13), den Aufsatz von Carolyn Christov-Bakargiev und schließlich die Präsentation von The Weight of Uncertainty und der Dokumente im Fridericianum ein konfliktreicher Prozess nachvollziehbar gemacht wurde.1 Ob diese Offenheit allerdings intendiert war oder aufgrund der öffentlichen Debatte notwendig wurde, lässt sich in der aktuellen Quellenlage noch nicht nachvollziehen. In diesem Kontext sei erneut auf die Absage Kai Althoffs zur Teilnahme an der dOCUMENTA (13) hingewiesen und die Entscheidung Carolyn Christov-Bakargievs, diese zu veröffentlichen. »Sich entziehen, unsichtbar machen, verschwinden – vielleicht ist es gegenwärtig die einzig verbleibende Strategie gegen die Überwucherung der Kunst durch die Kräfte der Politik, des Kapitals, des Marketings und kommerziellen Entertainments.«2 Während Kai Althoff mit seinem Brief einen Rückzug vollzieht – und diesen möglicherweise inszeniert – weil er fürchtet, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, und verspricht, niemandem von seiner Einladung zu berichten, wird dieser Entscheidung größtmögliche Sichtbarkeit verschafft und dadurch gleichzeitig wieder assimiliert. Es scheint, als dass diese Konflikte im Inneren der dOCUMENTA (13) effektiver Öffentlichkeit herstellen konnten, als viele, z.T. auch kritische Setzungen von 1 | Vgl. G. Faivovich/N. Goldberg: El Taco. Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 60. Vgl. Chris tov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 30f. 2 | C. Saehrendt: Der Künstler ist abwesend, S. 488.
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Vermittlungskunst
Außen, die teilweise okkupiert, vermeintlich verhindert oder in einem Meta-Konflikt überführt wurden. Diese Erkenntnis deckt sich mit Überlegungen aus der Vermittlungskunst, nicht mehr ausschließlich gegen hegemoniale Systeme zu arbeiten, sondern in ihnen und durch sie, um dadurch eine Transformation selbiger durch Infiltration zu erreichen. Die folgenden Abschnitte beschäftigen sich mit künstlerischen Projekten innerhalb der dOCUMENTA (13), die diese zwar bereits durch ihre Anwesenheit zunächst affirmieren, teilweise allerdings auch dekonstruieren, kritisieren und transformieren.
En route to documenta XIII Es wurde bereits gezeigt, inwiefern THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF (2012) von Lawrence Weiner ähnlich wie frühere Arbeiten z.B. MANY COLORED OBJECTS PLACED SIDE BY SIDE TO FORM A ROW OF MANY COLORED OBJECTS / VIELE FARBIGE DINGE NEBENEINANDER ANGEORDNET – BILDEN EINE REIHE VIELER FARBIGER DINGE (1982) zur documenta 7 geeignet sind, durch ihre jeweilige Positionierung die inszenatorischen Gesten der jeweiligen Künstlerischen Leitung offenzulegen und diese gleichzeitig zu übertrumpfen.3 Gleiches lässt sich auch über die Notiz IF IN FACT THERE IS A CONTEXT (2011) von Lawrence Weiner sagen, deren Titel bereits wieder eine ähnliche Verweisstruktur wie das oben beschriebene Werk aufweist und das auf 22 Seiten Skizzen, Texte und konkrete Poesie versammelt, die nicht in einem direkten narrativen Zusammenhang zu stehen scheinen. Einige Abschnitte beziehen sich deutlich auf die Frage nach Autonomie, die dOCUMENTA (13) und THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF und werden im Folgenden kommentiert. Die erste Doppelseite der Notiz (vgl. Abb. 12) gibt deren Titel in den für Lawrence Weiner üblichen Großbuchstaben wieder, wobei dieser durch Positionierung und grafische Elemente in drei Wortgruppen unterteilt wird. Der geschwungene Bogen, der in vielen Arbeiten Lawrence Weiners auftaucht, stellt eine raumgreifende Bewegungsgeste dar, die eine Bewegung in Leserichtung antizipiert.4 Ähnlich kann die geöffnete Ellipse um das Wort ›IF‹ gelesen werden, allerdings auch als Unterbrechung eines Zirkels zur Untersuchung von Kausalität.5 Die beiden Linien die ›IN FACT‹ begleiten, können einerseits ebenfalls als Bewegungslinien interpretiert werden, gleichzeitig aber auch als Emphase und Rahmung des Ausdrucks. In diesem Fall wäre der Bereich vor ›IN FACT‹ als Leerstelle zu bezeichnen. ›THERE IS A CONTEXT‹ steht, nur marginal durch erstgenannte Linie tangiert, frei auf dem Blatt. Unten rechts finden sich zwei Sechsecke, die öfter innerhalb der Notiz auftauchen, hier allerdings ohne direkten Bezug zur restlichen Seite zu stehen scheinen.
3 | H. Sowa: Agonale Betrachtung, S. 53. 4 | Vgl. L. Weiner: If in Fact, S. 16. 5 | Vgl. ebd., S. 12f.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
Abb. 12: Doppelseite 2/3 aus If in Fact There is a Context von Lawrence Weiner.
Aufgrund der Bewegungslinien und deren gegenseitige Unterbrechung lässt sich der Titel in drei aufeinander aufbauende Sätze zergliedern. ›THERE IS A CONTEXT‹: eine möglicherweise triviale Feststellung, die im Rahmen einer Kunstausstellung auf institutionskritische Bewegungen verweisen könnte, die anprangern, dass die Autonomie eines Werkes durch einen Kontext gefährdet ist. ›IN FACT THERE IS A CONTEXT‹: die vorherige Aussage wird mit einer Emphase versehen, die den angenommenen Kontext als Fakt kennzeichnet. ›IF IN FACT THERE IS A CONTEXT‹: die vorherige Aussage wird in einen Konditionalsatz überführt, der danach fragt, was aus der Feststellung eines Kontextes folgt. Dies korreliert mit der Annahme, die geöffnete Ellipse verweise auf die Untersuchung von Kausalität. Die linke Hälfte der Doppelseite 6/7 (vgl. Abb. 13, S. 339) versammelt zentral drei Vielecke, die gemeinsam als Segelboot decodiert werden können. Diese Lesart wird durch die darunter evozierte Bewegung gestützt, die sowohl räumlich als auch zeitlich zu verstehen ist: ›EN ROUTE TO DOCUMENTA XIII‹. Auffällig ist hier eine bewusste Abkehr von der Eigenschreibweise der Ausstellung, was als eine Unabhängigkeit von selbiger lesbar ist. Die Bewegung wird durch ›IN SEARCH OF WHERE TO PLACE WHAT‹ und den Zusatz ›& WHY‹ als Suche in vor allem kuratorischen Fragen gekennzeichnet. In keinem direkten Zusammenhang dazu scheint die rechte Seite zu stehen, die über drei Linien einen Bereich absteckt, der sich mit Bezug auf den darin enthaltenen Text als räumliche Sackgasse konstituiert: ›EACH & EVERY CUL-DE-SAC EXPLICITLY DEMANDS‹. Dieses Fragment fordert selbst etwas, nämlich eine syntaktische Ergänzung, die mit ›AN OUTER EDGE‹ geleistet wird. Beide Fragmente sind durch selbige, die Außenkante, getrennt, bzw. treffen sich dort im Brennpunkt zwischen zwei Pfeilen. Beide Hälften der Doppelseite sprechen somit die Frage nach Positionierung durch Bewegung an. Während der Kontext dOCUMENTA (13) klar benannt wird, muss für die rechte Seite dieser evtl. übertragen werden und eine Entsprechung für ›CUL-DE-
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SAC‹ gefunden werden. Über einen weiteren Text auf der nächsten Doppelseite (›HOW MANY ANGELS CAN DANCE ON THE HEAD OF A PIN‹), den Lawrence Weiner im Künstlergespräch zu THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF als Frage an das Brain richte, stützt sich die Vermutung, dass die hier eckig dargestellte Sackgasse die Rotunde des Fridericianums, bzw. das Brain darstellt.6 An der äußeren Kante des Brains, bzw. dem Brennpunkt dessen konzentrischer Struktur, ist die Arbeit von Lawrence Weiner angebracht, die gerade durch ihre Mehrseitigkeit – hier durch die Pfeile visualisiert – eben die Grenze zwischen Innen und Außen definiert. Damit wird die Frage, was wo und warum zu positionieren sei, nicht nur mit der dOCUMENTA (13) im Allgemeinen, sondern auch dem Brain im Besonderen assoziiert – also dem Ort, an dem das kuratorische Handeln am präsentesten ist. Die folgende Doppelseite (vgl. Abb. 14) ist durch eine unterbrochene, vertikale Linie in zwei Bereiche getrennt. Die rechte enthält die Reproduktion einer Textkonstellation auf Papier, die hier nicht weiter untersucht wird, die allerdings das Gestische der bereits beschriebenen Linien und Ellipsen deutlich werden lässt. Die linke Seite versammelt sieben Textelemente, die z.T. durch gestische oder typografische Elemente begleitet werden, die insgesamt vor allem als Emphasen erscheinen. Die Textelemente können in üblicher Leserichtung erschlossen werden, obwohl sie sich nicht zu einem Text verbinden. Begleitet werden sie durch eine kreisförmige Grafik, die durch das zweite Textelement, gleichzeitig als ›FIGURE I‹ bezeichnet und auch referenziert wird. Das erste Textelement spezifiziert den Kontext als einen gegenseitigen von nicht-parallelen Realitäten und spezifiziert diesen Ausdruck: ›(MULTIPLE REALITIES OCCUPING THE SAME SPACE AT THE SAME TIME). ›FIGURE I‹ scheint diesen Umstand zu illustrieren und mit der Aussage/Frage ›HOW MANY ANGELS CAN DANCE ON THE HEAD OF A PIN‹ in Verbindung zu setzen. Sowohl die grafische Darstellung als auch die Visualisierung von auf einer Nadelspitze tanzenden Entitäten erzeugt ein Bild von Enge. Die Engelfrage geht vermutlich auf die Scholastik zurück, hat aber in Bezug auf Quantenphysik auch heute noch Relevanz.7 Tatsächlich ist die Frage – zumindest aus religionsphilosophischer Sicht – ein Paradox, da sie zwei Entitäten mit unterschiedlichem ontologischen Status in Beziehung zueinander setzt. Lawrence Weiner stellt fest: ›NO REFLECTION OF EACH OTHER BUT THEY DO COLLIDE‹. Mit Blick auf die Frage der Positionierung scheint Lawrence Weiner mit den ›Realitäten‹ unterschiedliche künstlerische (und nicht-künstlerische) Objekte zu bezeichnen. Diesen Objekten wird grundsätzlich Autonomie zugestanden, da sie sich gegenseitig nicht reflektieren. Dennoch kollidieren sie – auch und vor allem auf besonders engem Raum. Dort konstruieren sie ›A PERPETUATING STASIS‹, also ›einen sich verewigenden Stillstand‹, und somit ein Gegenbild zum Tanz der Engel, der sicherlich nicht zufällig an das Tanzmotiv der dOCUMENTA (13) erinnert. Der englische Ausruf ›ALAS‹ bezeichnet den Ausdruck von Trauer, Leid oder Sorge und kann mit einem ›Ach! Leider!‹ übersetzt werden.
6 | Vgl. L. Weiner: Conversations between Artists and Agents: Lawrence Weiner, Kassel 07.06.2012. 7 | Vgl. A. Posener: Wenn ein Higgs-Teilchen, o.S.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
Abb. 13: Doppelseite 6/7 aus If in Fact There is a Context von Lawrence Weiner.
Abb. 14: Doppelseite 8/9 aus If in Fact There is a Context von Lawrence Weiner.
Das letzte Textelement konfrontiert mit der Frage, wie durch Wegnahme ein wahrnehmbares Loch geschaffen werden kann, und fügt die Frage nach dem Bezugssystem dieses Loches hinzu: ›WITH TRUNCATION WHERE IS AN ASCERTAINABLE HOLE (OR AT LEAST A HOLE IN WHAT)‹. Vergegenwärtigt man die geschlossene Umrisslinie von ›FIGURE I‹ sowie die Außenkante der Sackgasse auf der vorherigen Doppelseite, erscheint die vertikale Linie dieser Doppelseite möglicherweise nicht nur unterbrochen, sondern gleichsam perforiert bzw. beschnitten (›truncated‹). Über Bezug auf die Doppelseiten 10/11 und
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14/16, auf denen die gleiche Linie aus Sechsecken angelegt ist, können diese als Perforation, ein ›Loch in etwas‹ gelesen werden. Die Doppelseite 2/3 kann folglich als kompletter Konditionalsatz gelesen werden: ›IF IN FACT THERE IS A CONTEXT‹ THEN ›AN ASCERTAINABLE HOLE‹ & ›AN ASCERTAINABLE HOLE‹. Dies wäre eine Aufforderung, auf einen Kontext mit Beschneidung bzw. Durchlöcherung zu reagieren. Dieser Kontext wären einerseits ›NON-PARALLEL REALITIES‹ und andererseits ›CUL-DE-SAC‹ deren Bindestriche jeweils durch Sechsecke dargestellt werden und diese somit innerhalb der Notiz bereits durchlöchert sind. THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF ist an der Außenkante der Versammlung von Kontexten positioniert und stellt durch seine Verweisstruktur auf die zweite Manifestation am Hugenottenhaus selbst eine Öffnung, somit Perforation, dieser Begrenzung dar. Folgt man der hier vorgeschlagenen Interpretation, erhält die Arbeit eine stark kritische Ausrichtung, die im Brain ohne den Kontext der Realität von IF IN FACT THERE IS A CONTEXT selbst nicht ablesbar ist. Dies lässt eine Relektüre der veröffentlichten E-Mail-Konversation zwischen Lawrence Weiner und Carolyn Christov-Bakargiev sinnvoll erscheinen: From Lawrence Weiner to Carolyn Christov-Bakargiev, 01.07.2011, 17:58 Subject: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›[…] THE QUESTION HAS ALWAYS WITH A SITUATION SUCH AS DOCUMENTA IS NOT ABOUT SITE (PLACE) BUT PRESENCE (PLACED) […] WHAT ARE YOUR THOUGHTS WHAT ARE YOUR DEADLINES & WHAT ARE YOUR DESIRES? […] I AM MOST EXITED TO FIND MYSELF IN A SITUATION THAT DOES NOT DEAL WITH THE REFLECTION OF A SITUATION BUT WITH THE SIMULTANEITY & THE ACCEPTANCE THAT THE ESSENTIAL CONCERNS OF THE DIGNITY OF BOTH OBJECTS & HUMEN BEINGS IS A GIVEN‹ From Carolyn Christov-Bakargiev to Lawrence Weiner, 07.07.2011, 15:29 Subject: When to talk about WHERE TO PUT WHAT WHERE ›[…] I understand and feel the following: THAT THE ESSENTIAL CONCERNS OF THE DIGNITY OF BOTH OBJECTS & HUMEN BEINGS IS A GIVEN […] I wish to send you a ›text‹ that is some sort of a short concept paper, trying to organize into axes my entangled thoughts […]‹ From Carolyn Christov-Bakargiev to Lawrence Weiner, 07.07.2011, 15:43 Subject: Second E-Mail of today / Re: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›[…] Here is a short synopsis of the many things I think about these days. […]‹ From Lawrence Weiner to Carolyn Christov-Bakargiev, 07.07.2011, 21:43 Subject: Re: Second E-Mail of today / Re: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›DEAR CAROLYN IN THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDLE OF THE MIDDLE LOVE LAWRENCE‹ From Carolyn Christov-Bakargiev to Lawrence Weiner, 07.07.2011, 21:53 Subject: Re: Second E-Mail of today / Re: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›[…] What does that mean? Although I see its form […]
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹ From Carolyn Christov-Bakargiev to Lawrence Weiner, 08.07.2011, 16:43 Subject: Re: Second E-Mail of today / Re: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›do you want to refer back‹ From Lawrence Weiner to Carolyn Christov-Bakargiev, 08.07.2011, 17:21 Subject: Re: Second E-Mail of today / Re: WHERE TO PUT WHAT WHERE ›WHAT DOES THAT MEAN WHEN ONE EMERGES FROM THE METRO IN ANY PLACE IN THE WORLD WHERE THERE IS A METRO ONE IS RATHER GRATEFUL TO FIND AN ILLUSTRATED MAP THAT TELLS WHAT YOU ARE HERE […] PERHAPS THERE IS NO NEED FOR A WAY OUT PERHAPS THERE IS IT IS THE POINT OF THE OPERATION TO FIND THAT OUT […] THE QUESTION IS NOT HOW MANY ANGELS CAN DANCE ON A PINHEAD BUT THE WONDERMENT THAT SO MANY CAN DANCE AT THE SAME PLACE AT THE SAME TIME & IN FACT INTERFERE SO LITLLE WITH EACH OTHER‹ 8
Lawrence Weiner hinterfragt bei der Positionierung weniger die Relevanz eines bestimmten Ortes, sondern die Wirkung der jeweiligen Platzierung. Auf das ›Konzeptpapier‹ von Carolyn Christov-Bakargiev antwortet er ohne Erläuterungen mit einer Version seines später umgesetzten Werkes. Dieses erschließt sich Carolyn Christov-Bakargiev nicht unvermittelt und Lawrence Weiner kommentiert es mit Texten, die denen im später entwickelten IF IN FACT THERE IS A CONTEXT ähneln. Sowohl dieser Text als auch die E-Mails wirken zwar enigmatisch und abgeschlossen, stellen aber tatsächlich den Denkprozess der Frage nach der Platzierung, sowohl als Ort als auch als Wirkung, kritisch-dekonstruktiv dar. Auch Alanna Heiss beschäftigt sich im Rahmen einer Notiz, die eine Vortrag aus dem Jahr 1978 mit dem Titel Die Platzierung des Künstlers wiedergibt, mit dem hier umrissenen Fragenkomplex. Dieser bezieht sich nicht direkt auf die documenta, denkt aber über die Erfordernisse von Gruppenausstellungen und die Rolle derer Kuratorinnen und Kuratoren nach: »Für mich sind Kunstwerke in Einzelausstellungen immer eindrucksvoller und fordernder. Der Grund, warum die meisten Einzelausstellungen so gut aussehen, ist, dass die meisten Gruppenausstellungen so schlecht aussehen. Eine Gruppenausstellung steigert die Gefahren einer übergroßen Nähe zwischen den Arbeiten […] und der Zuschreibung unwillkommener Beziehungen zwischen Themen, Stilen, ›Bewegungen‹ und ›Schulen‹. Während die alten Unvermeidlichkeiten – Platz und Geld – die erste Falle bilden, ist die zweite eine Folge der ungesunden Anmaßung mancher Kuratoren.« 9 »Während sich die Erfordernisse der Kunst auf einen bedeutungsvollen Ausdruck des Selbst konzentrieren, bestanden die Erfordernisse des Kuratierens vor allem in der Fähigkeit, für die Abwesenheit des Selbst zu sorgen und die Neutralität des Kontexts zu gewährleisten, die die Künstler und das Publikum brauchen […]. Die Stärke der Rolle
8 | Vgl. documenta: Das Logbuch, S. 53ff. 9 | A. Heiss: Platzierung des Künstlers, S. 15, BdB. S. 526.
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Vermittlungskunst des Kurators bei der Auswahl und Platzierung von Kunst beruht heute und schon immer ganz und gar auf der Stärke der Kunst.« 10 »Während die traditionellen Funktionen des Kuratierens mit archivarischen, akademischen und konservatorischen Fragen beschäftigen, müssen Kuratoren heute bereit sein, sich mit dem Künstler bei der Subversion von Ausstellungskonventionen zu verschwören, um eine flexiblere und weniger defensive Rolle einzunehmen.« 11
Alanna Heiss liefert hier skizzenhafte Kriterien, auch die Kuratorische Praxis Carolyn Christov-Bakargievs zu bewerten. Zunächst muss konstatiert werden, dass diese nicht für ›die Abwesenheit des Selbst‹ sorgt und daher sich einer ›ungesunden Anmaßung‹ schuldig zu machen scheint. Gleichzeitig entspricht die Formulierung, sich auf ›die Stärke der Kunst‹ zu verlassen, annähernd der Beschreibung von Carolyn Christov-Bakargievs Kuratorischer Praxis nach Chus Martínez.12 Möglicherweise könnte das folgende Zitat in Bezug auf die Ausstellung im ehemaligen Elisabeth Krankenhaus aufschlussreich sein: »Eine geografische Grundlage wie etwa ›Künstler aus San Diego‹ klingt willkürlich, ist aber gerade deswegen nützlich. Sie bürdet den Beteiligten Künstlerinnen und Künstlern keine stilistischen oder philosophischen Gemeinsamkeiten auf. […] Sie platziert die Künstler, nicht die Kunst.« 13
Zumindest dieser Ausstellungsteil folgt also der Maxime, die Künstlerinnen und Künstler zu platzieren, nicht die Kunstwerke. Alana Heiss berichtet von einer Ausstellung, in der sie sechs Künstlerinnen und Künstlern sechs Räume zugewiesen hat, über die sie frei verfügen konnten und sie als Kuratorin danach die Flure bestückt hat, um Verbindungen zu schaffen und Ergänzungen zu geben.14 Möglicherweise ließe sich dies in weiten Teilen auch für die dOCUMENTA (13) behaupten, da deren Künstlerinnen und Künstler sich häufig gemeinsam mit der Künstlerischen Leiterin Räume gesucht haben und meist einen relativ abgeschlossenen Bereich für sich haben. Die verbindenden Flure sind hier weitläufiger und weniger klar definiert, so dass möglicherweise eine Narration notwendig ist, um z.B. das Hugenottenhaus mit Arbeiten im Fridericianum oder der Neuen Galerie zu verbinden. Das Fridericianum scheint am wenigsten der Platzierungsregel von Alanna Heiss zu entsprechen und gleichzeitig ist hier die Person Carolyn Christov-Bakargievs offensichtlich ablesbar. Ob es sich dabei um ›ungesunde Anmaßung‹ oder notwendige Anforderungen oder eine geschickte Strategie handelt, soll an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet werden, sondern nur darauf hingewiesen werden, dass die dOCUMENTA (13) diese Fragen über ihre Textauswahl selbst aufwirft.
10 | Ebd., S. 13, BdB. S. 525. 11 | Ebd., S. 14, BdB. S. 525. 12 | Vgl. C. Martínez: Man muss mit der Kunst, S. 306. 13 | A. Heiss: Platzierung des Künstlers, S. 15, BdB. S. 526. 14 | Vgl. ebd., S. 16f, BdB. S. 526f.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
Die Weigerung des Textes, das zu tun, was er tun soll Bereits im vorherigen Kapitel zeigte sich, wie heikel der Wechsel von einer Haltung zur anderen ist, wenn Filme in Kunstausstellungen gelangen: Der Flaneur soll innehalten, ein Werk rezipieren, welches nicht nur eine vorgeschriebene Dauer, sondern möglicherweise auch einen Anfang und ein Ende hat. Rene Gabri und Ayreen Anastas, Initiatoren des Projekts AND AND AND, bringen diese Haltung in dem Wandtext zu ihrer gemeinsamen Präsentation auf der dOCUMENTA (13) auf den Punkt: ›[...] ich bin an dich [den Wandtext] herangetreten, weil ich eine Ahnung von den Objekten, den Mitteilungen und dem Video bekommen möchte, die ich mir aus Zeitmangel nicht ansehen konnte.‹15 Die Präsentation der Arbeiten In the Horizon of the Infinite – Wir haben das Land hinter uns gelassen und sind an Bord des Schiffes gegangen! Wir haben die Brücken hinter uns niedergerissen, nein, eher das Land hinter uns gelassen! Also, kleines Schiff! Pass auf! Hinter dir ist der Ozean; es ist wahr, dass dieser nicht immer voller Wellen ist, und manchmal liegt der ausgebreitet da wie Seide und Gold und sanfte Träumerei. Aber es wird Zeiten geben, an denen du fühlst, als ob er unendlich wäre, und dass es nichts Schrecklicheres als die Unendlichkeit gibt. Oh, der arme Vogel, der sich selbst frei fühlte, und nun an die Wand seines Käfigs fliegt! Ach, wenn dich Heimweh nach dem Land überkommt, als ob dort mehr Freiheit herrschen würde, und dann ist dort kein ›Land‹ mehr! (2007-2012) von Ayreen Anastas und To write and unwrite every riddle, everything that is fragmentary and affirming the terrible whims of chance (2012) von Rene Gabri sind vielschichtig und – wie sich bereits in Ayreen Anastas’ Titel andeutet – textlastig. Direkt von der Untere Karlsstraße aus betretbar stellt sich die Ausstellungsfläche als Rohbau mit von Putz befreiten Wänden, Steinboden und neu eingezogenen Gipskartonwänden dar. Der vordere Raum enthält neben dem bereits erwähnten Wandtext ein Objekt, das zwischen Sitzbank und Minimal Art changiert sowie zwei speziell angefertigte Vitrinentische, die Notizen, Skizzen und Collagen enthalten. Die darauf sichtbare Schrift ist klein und trotz eines ordentlichen Schriftbildes fast unleserlich. Welche Elemente dieses Raumes dem einen oder anderen künstlerischen Projekt zuzuordnen sind, bleibt unklar. Der zweite Raum ist abgedunkelt und bietet eine Sitzmöglichkeit, um sich das ebenfalls bereits erwähnte Video anzusehen. Dieses zeigt Rene Gabri in einer Küche sitzend, während er über unterschiedliche Themen spricht. Ayreen Anastas und Rene Gabri formulieren die Forderung, sich selbst vermitteln zu wollen. Dass sie damit weniger eine Autonomie des Kunstwerkes von dessen Vermittlung anstreben, wird schnell deutlich, da sie Werkstatus als solchen in Frage stellen, Autorschaft und Gemeingut thematisieren und sich ihre Arbeiten zu einem annähernd ununterscheidbaren Gefüge verbinden, in das sich mit den Kollektiven 16 Beaver Group und AND AND AND nahtlos weitere Personen einschreiben ließen. Gleichzeitig ist die Aussage der Werke uneindeutig und vielschichtig. Die Forderung scheint somit nicht Vermittlung als solche abzulehnen, sondern nur das Recht einzufordern, für sich selbst zu sprechen. Ähnlich wie bei Walid Raad könnte so auch die Positionierung hinter dem Fridericianum gelesen werden, ebenso die Tatsache, dass Ayreen Anastas und Rene Gabri ihre Katalogtexte im Begleitbuch selbst geschrieben haben.16 Diese stellen 15 | Wandtext im Ausstellungsraum von A. Anastas und R. Gabri. Transkription TP. Weitere Zitate in diesem Abschnitt ebd. 16 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 396ff.
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sich allerdings nicht als erläuternde oder einführende Texte, sondern als Transkriptionen zweier Handschriften, die denen in den Vitrinentischen entsprechen, dar. In einer ähnlichen Kippbewegung befindet sich der Wandtext, der im Folgenden auf seinen Status hin untersucht werden soll: »Dies ist ein Wandtext. Normalerweise dienen Wandtexte dazu, Kunstwerke zu beschreiben oder zu kontextualisieren. Dieser Wandtext versucht, die Situation umzukehren und fragt: Was, wenn alles in diesem Raum eigentlich der Kontext für diese Arbeit wäre, die als ein Wandtext erscheint? Aus dieser Frage ergibt sich eine weitere: Wenn der Wandtext ›das Werk‹ ist, wird dann das, was in diesem Raum liegt, zu einer Art Anordnung für die Kontextualisierung dieses Werkes? Oder steht man in einem Feld potentieller Arbeiten, von denen dies nur eine ist? Man könnte fragen: Was macht ein Werk aus?«
Obwohl der ontologische Status direkt im ersten Satz geklärt wird, irritiert potentiell bereits diese Festlegung, da es Leserinnen und Leser unmittelbar evident erscheint, um was es sich handelt und wozu es dient. Dies wird im zweiten Satz erläutert und durch das Wort ›normalerweise‹ gleichzeitig relativiert. Dieser Text arbeitet somit direkt an einer Dekonstruktion der Erwartungshaltung und gewissermaßen an sich selbst. Die folgenden Sätze eröffnen ein räumliches Beziehungsnetz, das den Autonomiegedanken zwar aufgreift, aber mit einem Gegenmodell das ›Feld potentieller Arbeiten‹ als gegenseitiger Kontext konfrontiert. Vergleicht man diese mit den Kritikpunkten gegenüber Kuratorischer Praxis, erinnert dies insbesondere an das ›Hyperimage‹ (Georg Imdahl).17 Hierüber wird deutlich, dass es Bilder, Verlinkungen von Bildern und Hyperimages gibt, die sich selbst konstituieren bzw. durch Künstlerinnen und Künstler konstituiert werden und solche, die Autorinnen und Autoren zweiter Ordnung haben. Es scheint unmöglich, dass zwei Objekte ein ›Feld‹ teilen, ohne gegenseitig zum Kontext des anderen zu werden. Es bedarf dem Rückzug aus dem Feld bzw. die Einrichtung eines eigenen Feldes, z.B. als relativ abgeschlossenen Ausstellungsbereich abseits der Hauptschauplätze. »Der Leser könnte antworten: ›Aber du bist doch nur ein Wandtext, und ich bin an dich herangetreten, weil ich eine Ahnung von den Objekten, den Mitteilungen und dem Video bekommen möchte, die ich mir aus Zeitmangel nicht ansehen konnte. Ich wollte wissen, worum es dabei überhaupt geht. Und von diesem Text bin ich nur frustriert, denn er stellt mir nur noch mehr Fragen, wo ich doch eigentlich auf Antworten gehofft hatte‹.«
Innerhalb dieses Abschnittes wird nun im Konjunktiv die Reaktion der Leserinnen und Leser antizipiert und dabei eine gewisse Haltung angenommen, die Dienstleistung einfordert und in ihren Bedürfnissen nicht frustriert werden möchte. »Der Wandtext ist schlau, aber in diese Situation gebracht, nicht in der Lage zu improvisieren. Er ist statisch und hat deshalb eine Art traditionelle Haltung zu den Dingen. Das Dynamische an diesem Wandtext besteht darin, dass er sich einfach weigert zu tun, was er tun soll. Er erklärt die Bestimmung eines Wandtextes für nichtig und 17 | Vgl. G. Imdahl: Großausstellung und Hyperimage, S. 103.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹ beansprucht stattdessen Autonomie, fordert oder hört eine andere Bestimmung. Der Wandtext will frei sein von den übrigen Werken oder Nicht-Werken in diesem Raum. Deshalb wird er mit den Anstrengungen sich zu weigern oder genug zu sein assoziiert.«
Die ›traditionelle Haltung‹ eines Wandtextes beinhaltet auch, dass es sich um ein affirmatives Vermittlungsmedium handelt, das häufig Aussagen der Ausstellungsmacherinnen und -macher den Werken beifügt, oder, wenn es sich um Aussagen der Künstlerinnen und Künstler handelt, diese ebenso wie die Werke komponiert. Dies gilt für alle übrigen Wandtexte der dOCUMENTA (13), selbst wenn sie, wie bei Walid Raad, als spekulative Poetik formuliert sind oder einen Bruch in der Arbeit provozieren, wie bei Hassan Khan. Das ›Dynamische‹, mithin das Dekonstruktive und potentiell das Transformative dieses Wandtextes besteht in einer Weigerung und in dem Versuch, einen Status zu erreichen, der für sein Medium unüblich und im Gefüge einer Ausstellung quasi unmöglich ist. Gleichzeitig ist hierin auch ein Widerstand abzulesen, der auf der Eröffnungs-Pressekonferenz in Form der Nail Biting Performance (2012) von Ceal Floyer eine künstlerische und in Carolyn Christov-Bakargievs fragmentarischer Vorlesung eine kuratorische Entsprechung findet: Beide weigerten sich, das zu tun, was sie aus Sicht der übrigen Anwesenden tun sollten.
Eingriffe in den Text: Das Begleitbuch Das Schreiben über Kunst und die Vermittlung von Kunst, ob als Sprache, geschriebener Text oder selbst Kunst wird im Vergleich zum Werk-an-Sich häufig als marginal empfunden. Diese Zweitrangigkeit ist verwunderlich, da sich einerseits das zeitgenössische Werk-an-Sich nur selten in der Kontemplation, sondern vielmehr über Forschung, Relation und Vermittlung erschließt und andererseits eine große Aufmerksamkeit denjenigen Vermittlerinnen und Vermittlern zuteil wird, die kuratorische Praxen vollziehen. Die folgende Annäherung an die Arbeit von Judith Barry erfolgt vorrangig über das Begleitbuch der dOCUMENTA (13), somit Texte über und Bilder zum Werk-anSich. Judith Barry verbindet in ihrer künstlerischen Arbeit die Bereiche des Ausstellungsdesign und der Kuratorischen Praxis mit den Werken anderer Künstlerinnen und Künstler um durch verschiedene Interventionen innerhalb der Ausstellungskontexte die Absichten der Ausstellungsmacher deutlich ablesbar zu machen.18 Dabei wird mitunter weit in die Autonomie der jeweiligen Arbeiten eingegriffen.19 Mit Rekurs auf El Lissitzky und Marcel Duchamp stellt Helmut Draxler fest: »Dabei rückte die Ausstellung selbst als eine Art von eigenem Medium ins Zentrum des Interesses, und es galt, den Zusammenhang der einzelnen Werke, die programmatische Absicht ihrer Zusammenstellung sowie die besondere Art der Publikumsadressierung zu thematisieren.«20 Dabei sollte die Ausstellungsgestaltung eine aktive Beteiligung der Betrachterinnen und Betrachter anstelle eines passiven Betrachtens ermöglichen.21 Neben zahlreichen Video-Arbeiten beschäftigt sich Judith Barry mit Displays und Ausstellungsarchitektur, in denen insbesondere die Wahrnehmung der Betrachterinnen und Betrachter fo18 | Vgl. H. Draxler: Ambivalenz und Aktualisierung, S. 78. 19 | Vgl. ebd., S. 79. 20 | Ebd., S. 83. 21 | Vgl. J. Barry: Dissidente Räume, S. 77.
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kussiert und gebrochen wird.22 Sie war zum Beispiel für das Ausstellungsdesign der insbesondere wegen Andrea Frasers Gallery Talks vielbeachteten Ausstellung Damaged Goods (New Museum, New York 1998) verantwortlich. In ihren Arbeiten geht es Judith Barry weniger darum, das einzelne (Kunst-)Objekt zu hinterfragen und zu problematisieren, sondern dessen Rezeption, und herauszufinden, wie Ausstellungsraum und Präsentationssysteme ideologisch codiert und daher nicht bedeutungsneutral sind:23 »Ich neige daher in meiner eigenen künstlerischen Praxis dazu, nicht besonders zu unterscheiden zwischen meiner Arbeit als Künstlerin, als Gestalterin, als Autorin und in anderen Formen kultureller Produktion, denn es geht in erster Linie darum, etwas herauszufinden, und nicht um die Form, in der das Projekt letzten Endes realisiert wird.« 24
Das Begleitbuch verzeichnet zu Judith Barry eine übliche Doppelseite mit Text-Bild-Kombination: Die Texte sind kurz, zweisprachig und bewusst auf eine Lektüre zwischendurch zugeschnitten. Sie werden Bildern gegenübergestellt, die selten mehr als einen Ausschnitt der betreffenden künstlerischen Position zeigen. Diese leicht zugänglichen Schauanordnungen leiten durch die komplexeren Konstellationen von Einzelwerken im Raum. Die Abbildung zu Judith Barry zeigt einen Prototyp, der sich neben der offensichtlichen Form auch in weiteren gestalterischen Aspekten von der finalen Arbeit unterscheidet. Die Textseite beginnt mit den indexikalischen Verweisen der Seitenzahl (›44‹) sowie der der Künstlerin zugeordneten Nummer (›No 21‹). Es folgt in einer größeren Type der Name der Künstlerin: ›Judith Barry‹ Die folgenden Textblöcke umfassen biografische Angaben, den Katalogtext von Eva Scharrer und die Werklegende.25 Das gesamte Textvolumen liegt pro Sprache bei etwa 250 Wörter. Der Abschnitts des Begleitbuches, der sich explizit mit dem Brain beschäftigt, weist eine andere Struktur auf. Dort werden Abbildungen und Text verkleinert bzw. verkürzt und auf einer Doppelseite finden sich mehrere dieser Kombinationen. Dadurch entstehen mögliche Konstellationen, die nur teilweise mit den räumlichen Displays im Brain korrespondieren. Auf der Doppelseite, auf der sich Judith Barrys Objekt wiederfindet, sind es insgesamt sechs Text-Bild-Kombinationen. Der Informationsgehalt der Texte verringert sich, häufig auf eine bloße Dingbezeichnung, z.B.: »Ein Kurzführer zum ›Brain‹ von der Künstlerin Judith Barry. A short guide to the Brain by artist Judith Barry.«26 Dies sind 9 bzw. 10 Wörter je Sprache, somit etwa ein 25stel des vorherigen Katalogtextes. Leicht aus der Spalte versetzt findet sich darunter am Seitenrand die selbe Abbildung wie zuvor, im Vergleich etwa auf ein Zehntel ihrer Größe reduziert. Dieser Eintrag beendet den Abschnitt des Begleitbuches zum Brain.
22 | Vgl. C. Ruhm: Produktivität unsicherer Zeichen, S. 258. 23 | Vgl. J. Barry/P. Colo/J. Decter/D. Deitcher/A. Fraser/I. Graw/B. Wallis/D. Walworth/F. Wilson: Kritische Foren, S. 166f. 24 | Ebd., S. 167. 25 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 44. 26 | Ebd., S. 33.
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Abb. 15: Plakat For when all that was read was so as not to be unknown (2012) von Judith Barry.
Diese Verkleinerung ist nicht ausschließlich ein ›Weniger‹, z.B. an Information, ein Mangel an Details, sondern eröffnet als kleines Format eigene Qualitäten. Erst dieses ›Weniger‹ eröffnet den Raum der Assoziation. Außerdem zeigt diese Doppelseite durch die Rekombination von Exponaten, dass die Konstellation im Brain auch von den autorisierten Sprecherinnen und Sprechern der dOCUMENTA (13) nicht als einzig gültige verstanden wird und somit unterschiedliche Kombinationen möglich sind. For when all that was read was so as not to be unknown (2012) von Judith Barry setzt sowohl Miniaturisierung als auch Rekombination fort, indem sie auf einem Plakat im Format A1 (vgl. Abb. 15) Reproduktionen in verschiedenen Techniken der Objekte im Brain zunächst mit ähnlichen Kurztexten kombiniert. Zum Beispiel: ›A reproduc-
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tion in text of the eye of Man Ray’s photograph of Lee Miller, ca. nineteen-thirty-two‹ oder ›A reproduction as a drawing of Etel Adnan’s palette knife, nineteen-seventy to two-thouthand-and-eleven‹. Durch diese Reproduktionen werden nicht nur Urheberrechte gewahrt, sondern auch »Dinge unterschiedlicher Ausmaße, Gestalt, Materialität, Machart und Herkunft verwandelt und ›verähnlicht‹, sie für die Inszenierung […] unter einigenden Form- und Stilmerkmalen assimiliert.«27 Neben diesen erläuternden Texten in Schwarz, finden sich in Weiß Statements und Fragen der Künstlerin: ›What are the ethics of making history legible, and how does one take responsibility for history if it is always only partial, incomplete, and relative?‹ Das Plakat enthält außerdem im oberen Bereich eine kurze Einführung zum Brain von Carolyn Christov-Bakargiev, ein Zitat von Judith Barry, eine Reproduktion als Aquarell des zusammengefalteten Objekts von Judith Barry und dessen Werklegende. Außerdem noch erwähnenswert ist in Weiß das berühmte Zitat von Rosa Luxemburg: ›Freedom is always the freedom to think otherwise.‹ Das Poster kann durch einen umfangreichen Faltvorgang in einen Polyeder transformiert werden. Durch diesen Vorgang werden alle Texte zum Verschwinden gebracht, die letztgenannten des oberen Bereiches als Überrest, während die übrigen in den Falten des Objekts selbst verbleiben. Der so hergestellte Körper ist nicht nur in seiner Dimension auf die Hände des Rezipierenden ausgelegt – er muss auch mit eigenen Händen hergestellt werden. Dadurch werden die zuvor schon stilistisch vereinheitlichten Dinge nach neuen Kriterien zu Konstellationen geordnet, die zwar im Prozess festgelegt sind aber weitere Kombinationen zumindest mitdenken lassen. Individuelle Ordnungen werden zum »Stimulus neuer Betrachtungsweisen«28. Dieses Miniaturbuch, »das Zugänge in, durch und rund um die Objekte und Kunstwerke im Kern der Ausstellung, die Sektion Brain, anbietet«29 verzichtet in der endgültigen Form völlig auf Erläuterungen und hat gleichzeitig in seiner Herstellung das assoziativ-narrative Prinzip hinter dem Brain vermittelt: kunsthistorisches Wissen bildet eine Grundlage, dient zur Stabilisation, rückt aber in den Hintergrund; es werden neue Nachbarschaften geknüpft und Disparates in Zusammenhang gesetzt. Diese Vermittlung funktioniert nicht über Information, sondern vielmehr Relation, das Begreifen über direkte Berührung. Das Erkenntnispotential der Praxis des Faltens wird zum Beispiel auch in der Didaktik der Mathematik geschätzt: »Wer faltet, steckt unversehens inmitten der Geometrie! […] Wer faltet, braucht Auge, Hirn und Handfertigkeit. Falten fördert Einsicht, Verstehen und Begreifen!«30 Vergleichbar zu dem durch Modelle vermittelbaren ›Handlungswissen‹ sieht Hans Dieter Huber in der Handhabung und Manipulation von Dingen eine ›Strategie materieller Welterkundung‹ und verknüpft die Begriffe des Gedächtnisses mit der Hand.31 Die dreidimensionale und mannigfaltige Leserichtungen zulassende Form versteht sich als Kartografierung der komplexen Narrative des Brains.32 Auch sie schlägt Konstellationen vor, die weder denen im Raum, noch denen im Begleitbuch entsprechen, und somit eine dritte Lesart anbieten. Mehr noch: Judith Barry sagt, dass die endlo27 | D. Bosse: Souvenir, S. 38. 28 | Ebd., S. 53 29 | E. Scharrer: Judith Barry, S. 44. 30 | U. Quak: Die Fundgrube, S. 47. 31 | Vgl. H.D. Huber: Gedächtnis der Hand, S. 42. 32 | Vgl. P!: Judith Barry, S. 2.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
se Form des Objektes eine Hierarchiesierung der Objekte im Brain vermeiden soll.33 Ihre Konstellation sollte somit als physische Notwendigkeit gelesen werden, die auf die Möglichkeit unendlicher Assoziationen durch die Besucherinnen und Besucher verweist. Constanze Ruhm arbeitet in Bezug auf die Video-Arbeit The Work of the Forrest (1992) von Judith Barry heraus, dass durch die Montage die subjektive Perspektive in eine Krise gerät: »Subjektpositionen und Betrachterstandpunkte erscheinen instabil.«34 Dadurch »wird auch auf die Fragwürdigkeit historischer Interpretation und gleichzeitig auf eine mögliche Form der ›Erinnerung‹ verwiesen, die durch offizielle Geschichtsschreibung homogenisiert und vermarktet wurde.«35 Diese Aspekte lassen sich nahtlos auf For when all that was read… so as not to be unknown (2012) übertragen, zumal die möglichen Erinnerungen insbesondere mit dem Bild des Brains korrelieren. Judith Barry nutz das subversive Potential des ursprünglich affirmativen Vermittlungsmediums Katalog aus.36 Ihr Objekt funktioniert dabei tatsächlich wie ein Buch: »Acting as a cache of information, the folded architecture conceals poster texts within an interrior space, presenting only the imagery of the ›Brain‹: a multi-layered, modular cover.«37 Durch das Falten und Kombinieren der unterschiedlichen Teile des Objekts werden auch einige wenige Textfragmente lesbar. Auf der Innenseite des Körpers, die man nur durch die dreieckigen Aussparungen sehen kann, steht ›non-hieracial endless paradox‹. Es ließe sich eine Parallele zur Wunderkammer herstellen, die ebenfalls als nicht-hierarchische Präsentationsform gilt.38 Außerdem finden sich dort in kleinerer Schrift vier Satzfragmente, die sich möglicherweise wie folgt kombinieren lassen: ›Pulling you in…‹ – ›…orbits of the histories from competing perspectives‹ – ›An anomalius analogy…‹ – ›…inside time, there is only space suspended around each object‹. Dieses Vermittlungs-Objekt zielt somit darauf ab, die Besucherinnen und Besucher zu autorisieren, sich von den großen Narrativen des Brains, denen der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev und möglicherweise sogar der Geschichte freizumachen, um eigene, gleichwertige Zusammenhänge zu erzählen, die nicht den Anspruch erheben, Konflikte zu lösen oder als endgültig richtig zu gelten. ›Freedom is always the freedom to think otherwise.‹ »Bruno Latour’s remark that ‹…matter is as it is thought by the mind › provided the genesis for this Guidebook as a modular origami form, designed to be read as it is constructed and whose purpose is to allow all the elements in the ›Brain ‹ section of dOCUMENTA (13) to be suspended within a non-hierarchical, endless space; a space with no beginning and no end, a space conceived as being ‹inside time, › where perhaps, there is only space.« 39
Auch durch Judith Barry wird somit keine Synthese angestrebt. Die Dinge stehen nicht in einem offensichtlichen Zusammenhang. Wenn Michael Hübl also ›Trugschlüsse‹ befürchtet, ist diese Sorge zwar nicht nicht unbegründet, allerdings nicht durch die ›Sen33 | Vgl. J. Barry: Conversations between Artists and Agents: Judith Barry, Kassel, 07.06.2012. 34 | C. Ruhm: Produktivität unsicherer Zeichen, S. 259. 35 | Ebd. 36 | Vgl. ebd., S. 260. 37 | P!: Judith Barry, S. 2. 38 | Vgl. C. Krümmel: Past Caring, S. 34. 39 | J. Barry: About Brain, S. 58.
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Vermittlungskunst
sationslust‹ der dOCUMENTA (13) intendiert.40 Diese – oder zumindest der Wunsch zu einer verständlichen Synthese – liegt auf der Seite derer, die Trugschlüsse ziehen. Auf die Frage, was die Objekte im Brain miteinander verbindet, antwortet Carolyn Christov-Bakargiev mit: »Die Intensität. Die Intensität, mit der sie hergestellt wurden oder die zu ihrer Entstehung oder Auffindung oder Aufbewahrung führte.«41 Sie stellt mit dieser Aussage über die Verbindung gleichzeitig die kategoriale Unterschiedlichkeit der Objekte deutlich heraus. Als eine solch offene Struktur müssen grundsätzlich auch die großen Formen des Begleitbuches, des Brains, bis hin zur gesamten dOCUMENTA (13) verstanden werden, allerdings ist es schwierig, dieser entgegen der Autorität der Musealisierung durch Vitrinen und die Stimmgewaltigkeit der Kuratorin zu folgen. Das Raumkonzept des Brain wird in ein einzelnes, kleines Objekt überführt, welches genau dieses vermittelbar macht. Schließlich enthält es auch eine Abbildung seiner selbst, die erst im Prozess des Faltens entsteht, und somit sowohl auf die potentielle Unendlichkeit der Assoziation verweist, als auch auf den besonderen Status als Katalog im Gegensatz zur Ausstellung: »Während eine Ausstellung verschiedene originale Objekte für eine begrenzte Zeit an einen konkreten Ort bindet, verkörpert der Katalog das genaue Gegenteil. An die Stelle des unwiederholbaren, exklusiven Einzelereignisses tritt eine unendlich reproduzierbare und ortsungebundene Form, die über der Welt verteilt werden kann. Diese Übertragung einer zeitlich begrenzten Inszenierung ins Dauerhafte sorgt dafür, daß der Katalog zu einer Art bleibendem Denkmal der Ausstellung wird, eine ihrer wichtigsten authentischen Spuren.« 42
For when all that was read was so as not to be unknown ist somit ein Denkmal des Brain, das als ›Denk-Display‹ den ›Denk-Raum‹ des vergangenen Ausstellungsensembles und mit diesem den Geisteszustand aktualisierbar macht. Dagmar Bosse weist darauf hin, dass Kataloge zunächst nicht als Ausstellungsführer dienten, sondern vor allem durch ihre Abbildungen den Ausstellungsbesuch ersetzen sollten.43 Ein Anspruch, den das Werk sicherlich nicht einlöst, aber dennoch in ihm angelegt ist. Die Teilnahme von Judith Barry an der dOCUMENTA (13) scheint erst relativ spät geplant worden zu sein. Die Korrespondenz beginnt Anfang Januar 2012, gegen Ende Januar ist klar, dass Judith Barry ein neues Objekt für das Brain entwickeln wird und nicht bloß ein älteres Guidebook ausstellt.44 Innerhalb der Kommunikation kristallisieren sich einige Ansprüche heraus: Das fertige Objekt soll in die Hand passen; es soll als Poster verkauft werden; in der Ausstellung sollen mehrere Stadien der Faltung zu sehen sein; im Brain soll ein Tisch stehen, auf dem das Objekt gefaltet werden kann.45 Hier kulminieren die Strategien der Interaktion und des Souvenirs. Bei der Verwirklichung des Codex gibt es urheberrechtliche Unstimmigkeiten, die Reproduktionen und
40 | Vgl. M. Hübl: Eine Omnipotenzphantasie, S. 30. 41 | C. Christov-Bakargiev/D. Schwarze: Unbetiteltes Interview, S. 268. 42 | L. Jahre: Kuratoren und Kataloge, S. 47. 43 | Vgl. D. Bosse: Souvenir, S. 44. 44 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »Artists BRAIN«. 45 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »Artists BRAIN«: Judith Barry: Vitrine question – sending again not sure you got this? (E-Mail vom 07.04.2012).
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
verfremdete oder collagierte Abbildungen einiger Objekte aus dem Brain betreffen.46 In Konsequenz dieser Schwierigkeiten wird das Objekt komplett überarbeitet, so dass es keine Abbildungen anderer Kunstwerke mehr verwendet, sondern diese als Aquarell oder Textdarstellungen enthält. Das Begleitbuch ist zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits im Druck, so dass dieses noch eine Version des Codex zeigt, die fotografische Abbildungen enthält. Außerdem wird es nicht, wie ursprünglich geplant, zum Verkauf angeboten oder für die Besucher benutzbar gemacht, sondern ausschließlich als künstlerisches Objekt in einer Vitrine ausgestellt. Auch andere Künstlerinnen und Künstler der dOCUMENTA (13) greifen gewissermaßen in den Text des Begleitbuches ein: Rosemarie Trockel und Trisha Donelly gestalten ihre Doppelseite jeweils eigenständig und ohne erläuternden Text. Sie vermeiden dabei im Gegensatz zu Ayreen Anastas und Rene Gabri auch das sonst übliche Format.47 Eine Besonderheit stellt der Katalogeintrag zu Tino Sehgal dar. Er ist im Teilnehmerindex des Begleitbuches ebenso wie alle übrigen Einträge mit einer Kennnummer sowie den Seitenzahlen des Katalogs, die Bezug zu ihm haben, verzeichnet.48 Auf Seite 408, die gemeinsam mit der Karte auf Seite 409 das Areal abseits der Hauptschauplätze abbildet, ist er unter der Überschrift ›Grand City Hotel Hessenland: Bode-Saal‹ erneut mit seiner Kennziffer verzeichnet, die ihre Entsprechung in der Karte an der Friedrichstraße zwischen Markierungen für Gerard Byrne und Theaster Gates findet und somit den Ort von This Variation (2012) bezeichnet. Entsprechend der übrigen Beiträge müsste die Seite 438 einen Text zu Tino Sehgal und seinem Projekt enthalten, die Seite 439 eine dazugehörige Abbildung. Tatsächlich folgt auf Seite 437 (Abbildung zum Projekt von Ines Schaber mit Avery F. Gordon) direkt Seite 440 (Text zu Adrain Villar Rojas), die referenzierte Seitenfolge existiert im Begleitbuch nicht. Diese Leerstelle ist eine stille, die sich in der Lektüre des Begleitbuches kaum bemerkbar macht, wenn man nicht explizit nach dem Eintrag von Tino Sehgal sucht. Dieser versucht, seiner Ansicht nach überflüssiges Druckwerk wie Kataloge zu vermeiden und durch Diskurs zu ersetzen.49 Tino Sehgal verfolgt eine Kunstpraxis, deren Grundprinzip es ist, »keine materiellen Dinge herzustellen«50: »The question I would prefer visual art to pose itself is, how can it help in developing and promoting alternative modes of production or other approached to production instead of constantly reaffirming the dominant and highly problematic ones.«51 Dabei ähnelt der Katalogbeitag gewissermaßen This Variation, einerseits indem die damit verbundene Erfahrung relativ unscheinbar und versteckt ist, andererseits arbeiten beide mit einer Verunsicherung durch den Entzug von Orientierung über Text oder Sichtbarkeit. Außerdem konstruieren beide Werke eine besondere Erfahrung, die, wenn man sie als kunsthaft erkennt, reflektiert werden kann und innerhalb derer fortbesteht, die diese Erfahrung gemacht haben.
46 | Vgl. documenta archiv, Aktenarchiv: Ordner »Artists BRAIN«. 47 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 312f. u. 422f. 48 | Vgl. ebd., S. 13. 49 | S. Buchmann: Szenen einer Biennale, S. 55. 50 | T. Sehgal/P. Sloterdijk: Kunst im Futur II, S. 51. 51 | T. Sehgal: o.T., S. 526.
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Transformation der Ausstellung Carolyn Christov-Bakargiev stellte rückblickend fest, dass Untilled (2011-2012) von Pierre Huyghes nicht nur die unterschiedlichen Aspekte der dOCUMENTA (13) zusammengeführt habe, sondern zumindest im amerikanischen Raum auch als die ›ikonische‹ Arbeit der Ausstellung gelte.52 Auch Dorothea von Hantelmann sieht in der Arbeit eine Position, die sowohl die Frage der Kunst als auch die der Ausstellung radikal transformiert und verortet sie damit in einer Tradition aus setzungsstarken und richtungsweisenden Werken in der documenta-Geschichte.53 Dass sich diese inhaltliche Bewertung mit der starken medialen Präsenz deckt, leitet sich nicht zwingend aus selbiger her, sondern beruht wahrscheinlich eher auf dem attraktiven Motiv des Hundes Human und dessen vermeintlicher Visualisierung der ebenfalls im Vorfeld stark rezipierten Thesen um Companionship. Tatsächlich handelt es sich um einen deutlich dezentralen Ausstellungsort, der kaum mit der übrigen Ausstellung verknüpft erscheint und dessen Kunstcharakter nicht evident ist: »Selbst auf den zweiten oder dritten Blick blieb unklar, was hier künstlerisch gestaltet war und was nicht, wo die Kompostieranlage aufhörte und das Kunstwerk anfing.«54 Die Skizze dieses Areals (vgl. Abb. 16) lässt möglicherweise eher eine solche Unterscheidung zu oder kann zur Generierung von Thesen und Begriffen dienen: Zunächst lässt sich in der Vielzahl der dargestellten Elemente, in den sich mehrfach kreuzenden Linien und den textlichen Bezeichnungen kein System ausmachen. Die Zeichnung wirkt wild und willkürlich. Dennoch gibt es eine Reihe von Verdichtungen, die sich aus dem Zentrum der unteren Bildhälfte in die obere rechte Ecke ausdehnen. Die übrigen drei Ecken sind im Vergleich eher frei von Elementen und lenken den Blick auf den mit dem selben Zeichengerät angelegten Bildrahmen, der gleichzeitig Bildfläche und die Topografie des Kunstwerks zu definieren scheint. »Der Ort ist eingezäunt. Elemente und Räume aus verschiedenen Zeiten der Geschichte liegen nebeneinander ohne chronologische Ordnung oder ein Zeichen der Herkunft«55. Dieser Rahmen wird an mehreren Stellen durchbrochen: Zunächst findet sich unten links mit ›COMPOST SITE. AUEPARK.‹ die Ortsbezeichnung, rechts daneben kreuzen zwei Linien, die durch Schrift innerhalb des Rahmens als ›OLD ROAD‹ zu identifizieren sind, diese führt über ›WATER‹, ›MUD FIELD‹, vorbei an ›STATUE‹ und ›BEEHIVE‹, über ›ROCKFIELD‹ schließlich als ›MUD ROAD‹ wieder aus dem Bildrahmen heraus und verbindet somit das hier beschriebene Areal mit seiner nicht näher bezeichneten Umwelt. Ähnlich ist das ›E‹ am rechten Rand in Bezug zu ›SUN‹ in der unteren rechten Ecke als Orientierung an Himmelsrichtungen und Sonnenstand, der darüber hinaus durch einen Bewegungspfeil und Strahlen angedeutet ist, zu lesen. Neben drei Textelementen, die über den Rahmen hinauswandern, lassen sich noch bewusst gesetzte Pfeile ausmachen. Oben rechts führt ein Pfeil von einer als ›ANTS NEST‹ bezeichneten Fläche erst aus dem Bild heraus, um dann wieder zurückzukehren – was der Bewegung von Ameisen entspräche. Oben links führt ein Pfeil aus dem Bild heraus, der sich zum ›BEEHIVE‹ zurückverfolgen lässt und ebenso wie weitere von dort ausgehende Pfeile die Bezeichnung ›POLLUNATE‹ trägt. Selbst wenn die Bienen 52 | Vgl. C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 123. 53 | Vgl. D. von Hantelmann: Die documenta, S.142. 54 | Ebd. 55 | P. Huyghe: Pierre Huyghe, S. 262.
Dekonstruktion des Kontext ›dOCUMENTA (13)‹
ebenso wie die Ameisen zurückkehren, verbleiben die Pollen ggf. außerhalb des Bildes. Schließlich kreuzt ein Pfeil auf der ›MUD ROAD‹ den Rahmen und scheint das Eintreten weiterer Elemente über diesen Zugang zu antizipieren.
Abb. 16: Skizze von Pierre Huyghe: Compost Site, Auepark.
Die bisher identifizierten Bewegungsmuster bewegen sich innerhalb einer Topografie, die durch Elemente unterschiedlicher Kategorien konstituiert wird: Landschaft (›HILL‹, ›CRATER‹, ›WATER‹), Bepflanzung (›ALL PSYCHOTIC PLANTS‹, ›SEXUAL PLANTS‹, ›VINES‹), Lebewesen (›DYE DOG + 2 PUPPIES MILK‹) und Objekte (›DEAD TREE‹, ›POOL‹, ›STATUE‹). In letzterer Kategorie finden sich einige Verweise auf Kunstwerke, am deutlichsten auszumachen sind ›DEAD BEUYS OAK (1982)‹ und ›DGF [Dominique Gonzalez-Foersters] BENCH 2002‹: »Alle diese Elemente sind über biologische oder soziale Prozesse miteinander verbunden; alle sind in Bezug auf Ihre
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Vermehrung, Verbreitung oder ihr Vergehen (Kompostieren) in unterschiedliche Prozessualitäten eingebunden. Auch die Kunst ist Bestandteil dieser Assoziation.«56 Wenn Dorothea von Hantelmann feststellt, dass Pierre »Huyghe […] einen Ort geschaffen [hat], der weder Anfang noch Endpunkt hatte, der selbst in seiner topographischen Form unbestimmbar blieb; ein Werk, das buchstäblich mit seiner Umgebung verwurzelt war und sich in jedem Moment seiner Existenz weiter verwurzelte«57, ist, wie die Beschreibung der Skizze zeigt, nicht gemeint, dass sich keine Grenzen und Strukturen in der Anlage ausmachen lassen. Stattdessen, dass das System in Bewegung ist und sowohl aus sich heraustritt (›POLLUNATE‹) als auch zulässt, dass andere Elemente, vor allem die Besucherinnen und Besucher, eintreten. Diese Unbestimmtheit geht über in eine Unabhängigkeit der Elemente bzw. Marker, auf die der Künstler, nachdem er die Prozesse initiiert hatte, keinen weiteren Einfluss ausgeübt hat. Was Pierre Huyghe als Marker bezeichnet, erinnert an Pierangelo Masets Feststellung, dass Kunst zum Objekt eines operational nachvollziehbaren Vorgang werden kann.58 In Bezug auf Bruno Latour und Donna Harraway versteht Dorothea von Hantelmann Untilled als eine Assoziation oder Verkettung von Einheiten, zu denen sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Elemente (Lebensformen, Modi und Materialien) gehören, anstatt einer Untersuchung kategorialer Unterschiede.59 Zachary Cahill beschreibt Untilled treffend als ›auslaufendes Bild‹.60 In die ineinandergreifende Prozesse dieses Bildes treten schließlich auch die Besucherinnen und Besucher ein, die hier weder als Rezipierende, noch Partiziperende zu denken sind, sondern als Teil des biologischen bzw. künstlerischen Netzwerkes, das die Arbeit bildet. Dabei ist es für dieses Netzwerk einerlei, ob Besucherinnen und Besucher sich ihrer Rolle bewusst sind oder nicht, ob sie sie reflektieren und auf welche Weise sie die künstlerische Arbeit interpretieren. Gleichzeitig ist sie insofern von Scripted Spaces zu unterscheiden, als dass hier die Form der Interaktion tatsächlich frei ist. »This is a place of no-narrative, an incubation chamber of new orders.«61 David Joselit weist darauf hin, dass die Eigenschaft aller Kunstwerke durch unterschiedliche Betrachterinnen und Betrachter unterschiedlich, das heißt als Summe von Bildern, wahrgenommen zu werden, sich in Untilled durch dessen temporären Ablauf und die Inszenierung des Zerfalls, auch von Bedeutungen, besonders herausstellt.62 Es ist die Aufgabe der Betrachterinnen und Betrachter, die »geschichtete Akkumulation ungleicher Materialien – eine Art ›Ökologie-Kit‹ – zusammen[zu]stellen, in dem (höchstwahrscheinlich erfolglosen) Bemühen, ein kohärentes Bild zu entwerfen.«63 Gerade diese Unmöglichkeit von Kohärenz und der Generation von Bedeutung lassen Untilled fremdartig wirken: »Statt etwas Dauerhaftes mittels fester Bindungen von Bildern an einem Träger zu repräsentieren, ist hier das Ziel, neue Formate für die Produktion von Bildanordnungen zu erfinden.«64 56 | D. von Hantelmann: Die documenta, S. 146. 57 | Ebd., S. 144. 58 | Vgl. P. Maset: Strategien des Entbergens, S. 74. 59 | Vgl. D. von Hantelmann: Die documenta, S. 145. 60 | Vgl. Z. Cahill: The Image Is Bleeding, S. 140. 61 | J. Saltz: Glimpse of Art’s Future, S. 490. 62 | Vgl. D. Joselit: Gegen Repräsentation, S. 93. 63 | Ebd., S. 95. 64 | Ebd., S. 99.
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Obwohl Untilled als künstlerische Position auf einer Ausstellung gekennzeichnet ist, ist innerhalb dieser Assoziation keines der Elemente selbst ausgestellt, sondern einfach anwesend und auffindbar: »The compost is a place where you throw things that you don‹t need, that are dead. You don‹t display things. You don‹t make a mise-en-scène, you don‹t design things, you just drop them. And when someone enters that site, things are themselves, they don‹t have a dependence on the person.« 65
Damit setzt Untilled eine »Weltsicht ins Bild, die sich genau gegenteilig zu der Weltsicht verhält, der die kulturellen Formate der Ausstellung sowie des White Cube als deren paradigmatischer Ort verhaftet sind.«66 Diese Weltsicht ist, um gewisse Schlagworte der dOCUMENTA (13) aufzugreifen, nicht-anthropozentrisch, nicht-logozentrisch, sondern ökofeminstisch. Dorothea von Hantelmann arbeitet Strategien heraus, durch die Untilled das Medium Ausstellung selbst transformiert: Das Werk tritt aus dem pluralen Ausstellungsgefüge einer Großkunstausstellung durch seinen abgeschiedenen und isolierten Ort heraus. Keine weitere Arbeit ist zu sehen, somit auch keine Analepsen, Prolepsen oder einen Hinweis auf ein Fortführen einer übergeordneten Narration. Dadurch ergibt sich eine gewisse Ruhe, die Dorothea von Hantelmann als ›Denken der Ankunft‹ bezeichnet.67 Die Elemente der Assoziation waren in ständiger Veränderung und Entwicklung. Diese Entwicklung forderte weder ein autoritäres Künstlersubjekt noch partizipierende Besucherinnen und Besucher. »Als Bestandteil der documenta (mithin des Formats Ausstellung, das diese Arbeit eigentlich unterläuft), kann sich ein solcher Kunstbegriff nur spekulativ entfalten. Nimmt man ihn ernst, fordert er heraus, Kunst und Ausstellung (und damit auch die documenta) unter der nichttrennenden Prämisse des Ökologischen ganz grundsätzlich neu zu denken. [...] Sie [die Gegenwartskunst] macht den Ort der Ausstellung als das erfahrbar, was er im Grunde immer schon ist: eine Arbeit der Gesellschaft an sich selbst.« 68
Die Arbeit von Pierre Huyghe äußert eine »dezidierte Antihaltung gegenüber bestimmten Konventionen des Ausstellungsmachens und der Vorstellung, Kunst könne oder solle in irgendeiner Form vermittelt werden.«69 David Joselit weist außerdem darauf hin, dass sich Untilled dem Kunstmarkt verweigert und somit als kritisch gegenüber dessen Institutionen gelesen werden kann – eine Kritik, die nach Dorothea von Hantelmann sich durch die Produktion eines Filmes ebenso wie die inhaltlichen Fragen des Werkes verwässert.70 Untilled hat sich als Werk dennoch weder durch die im Werk angelegte Zerstreuung noch durch die Beseitigung des Areals am Ende der Ausstellung zerstört, sondern exis65 | P. Huyghe zitiert nach C. Mooney: On Pierre Huyghe, S. 97. 66 | D. von Hantelmann: Die documenta, S. 149. 67 | Vgl. ebd., S. 151. 68 | Ebd., S. 152. 69 | V.J. Müller: Ein Hund namens Mensch, S. 252. 70 | Vgl. D. Joselit: Gegen Repräsentation, S. 103. Vgl. D. von Hantelmann: Die documenta, S. 152.
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tiert weiter, wenn auch unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung – eine Sichtweise, die sich auf die Choreografie und den Geisteszustand der dOCUMENTA (13) übertragen lässt.
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»And for the most part, as this your knowledge and profund thinking which intimidated me also, was led by your heart, and such constellation glows within you, and it inspired me and won me over immediately. Especially when you said you have no concept. I am in deep admiration. But I cannot force myself to equal and put up with this brilliance that I have experienced upon meeting you, because of a resistance within me that keeps me from devoting myself equally to this commitment because I simply cannot matter. I have agreed to do too much in the upcoming year, when secretly now I almost wish not to have said yes to anything, and because of my turmoil within, I do lay now not know how to resolve.« 1 K ai Althoff: B rief an C arolyn Christov-Bakargiev
In den vorhergehenden Abschnitten wurden unter dem Begriff ›Vermittlungskunst‹ künstlerische Projekte beschrieben, die weder einer gemeinsamen Strömung zuzuordnen sind, noch eine vergleichbare Agenda aufweisen. Der Begriff wurde von seinem historischen Diskurs weitestgehend abgekoppelt und versammelt hier Werke, die auf eine Arbeit mit dem Publikum angelegt sind, erzieherische Tendenzen beinhalten, pädagogische Methoden anwenden und/oder an der Institution arbeiten. Einige wurden von der dOCUMENTA (13) prominent platziert, während andere eher abseits liegen oder aus anderen Gründen marginal erscheinen. Obwohl einige Arbeiten im Detail betrachtet wurden, war Ziel dieser Betrachtungen, ein Feld zu skizzieren, das Verhältnissetzungen von Künstlerinnen und Künstlern zur dOCUMENTA (13) darstellt. Dabei wurde vor allem nach einem transformativen Potential gefragt, das sich aus zwei Herleitungen ergab: Einerseits zeigt sich, dass die Dichotomie ›Affirmation und Kritik‹ nicht ausreicht, um künstlerische Bezugnahmen zur Institution zu beschreiben, sondern es mit ›Transformation‹ einer dritten Kategorie bedarf.2 Die Institution wird als Möglichkeitsraum verstanden, in dem Gegebenes angenommen wird, um es zu 1 | Brief von K. Althoff an C. Christov-Bakargiev zitiert nach F. Berardi: transversal, S. 21f BdB. nicht abgedruckt. Transkription TP. 2 | Vgl. J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 7.
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verändern. Andererseits ergibt sich Transformation auch aus der politischen Agenda: Zwar ist es nötig, Institutionen von Außen zu kritisieren, doch es wird angenommen, dass diese genügend Macht innehaben, diese Kritik auszuhalten oder zu neutralisieren. Sinnvoller erscheint es, die Institution zu infiltrieren und diese von innen heraus zu transformieren.3 Hier ergibt sich erneut ein Spannungsfeld zwischen affirmativen und kritischen Strategien, das die politische Position der Institution als Richtwert annimmt, ob kritisch-dekonstruktives oder affirmativ-reproduktives Handeln notwendig erscheint.4 In diesem Feld ist es sowohl möglich, dass die gesamte Institution an der eigenen Transformation arbeitet, als auch, dass institutionskritische Positionen assimiliert und zu irreführender Auftragskritik werden. Dabei wird quasi ununterscheidbar, ob solche Positionen »kritisch oder affirmativ, kritisch intendiert und affirmativ verwendet, oder in Affirmation umgeschlagene Kritik«5 sind. Es bedarf einer ›kritischen Masse‹ kulturpolitischer Aktionen, damit diese in ihrer Summe öffentlich wahrgenommen werden können. Diese benötigen somit durchaus eine übergeordnete Struktur. Dies birgt allerdings für diese Projekte auch die Gefahr, nicht nur vereinnahmt, sondern auch instrumentalisiert und dadurch wieder stumm gestellt zu werden, indem schließlich die Label ›dOCUMENTA (13)‹ und ›Carolyn Christov-Bakargiev‹ wirkmächtiger sind als die einzelnen Anliegen.6 Es findet sich eine Vielzahl von Künstlerinnen und Künstlern, die einem institutionskritischen Diskurs zuzuordnen sind. Dennoch lassen sich wenig Projekte ausmachen, die direkt kritisch mit den Themen der dOCUMENTA (13), der Institution dOCUMENTA (13) oder der Künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev arbeiten. Am deutlichsten findet sich eine solche Position durch den Brief von Kai Althof, dessen Assimilation offensichtlich ist – und offensichtlich gemacht wurde. Andere Projekte ließen sich als in Teilen kritisch interpretieren. Es überwiegt aber, zumindest in den nachvollziehbaren Anteilen der Projekte, Affirmation. Allerdings lassen sich Bestrebungen ausmachen, sich von der Institution räumlich und inhaltlich zu distanzieren, vor allem durch Ayreen Anastas und Rene Gabri. Dass beide zum kuratorischen Team der dOCUMENTA (13) gehören, verdeutlicht die Ununterscheidbarkeit von Nähe und Distanz. Tatsächlich richten sich die sich separierenden Projekte nicht unbedingt gegen die dOCUMENTA (13), sondern fordern nur Räume ein, um für sich selbst zu sprechen. Teilweise ist allerdings nur dann nachvollziehbar, was in dieser Räumen geschah, z.B. den Un-Workshops von AND AND AND, wenn man anwesend war, so dass es einen Grenzraum außerhalb der Wahrnehmung der Institution gab, der möglicherweise auch für Kritik genutzt wurde. Anhand von einigen Arbeiten in nicht-musealen Einrichtungen und nicht-künstlerischen Museen wurde ein Umgang mit dem jeweiligen Kontext herausgearbeitet, der sich als ein teils affirmatives, teils dekonstruktives Sichtbarmachen derer Strukturen und Weltsicht darstellte. Dabei wurde weniger an der Institution selbst gearbeitet, sondern auf einen Sichtweisenwechsel bei Besucherinnen und Besuchern abgezielt. Dies eröffnet die Möglichkeit, die gewonnenen Erkenntnisse auch auf die Kunstausstellung dOCUMENTA (13) zu übertragen, wofür sich insbesondere das Fridericianum anbietet. Nicht nur, weil es sich um das repräsentative Stammhaus der documenta handelt, son3 | Vgl. C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 10. 4 | Vgl. O. Marchart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 81. 5 | S. Germer: Unter Geiern, S. 90. 6 | Vgl. J. Becker: Kritische Masse, S. 58.
Transformation durch die Institution dOCUMENTA (13)
dern auch, weil das Ausstellungsensemble im Erdgeschoss eine solche Lesart begünstigt. Es wird hier die Möglichkeit angenommen, dass es sich bei der stark affirmativ-auratischen Präsentation um eine subversive Geste handelt, die über autoritäre Narrative Strategien der Institution und deren Ideologien sichtbar werden lässt. Diese Institution wäre nicht (nur) die dOCUMENTA (13), die hier als Komplizenschaft von Künstlerinnen und Künstlern, dem kuratorischen Team bis hin zur Repräsentationsfigur Carolyn Christov-Bakargiev verstanden wird, sondern die gesamte documenta. Weitere institutionelle Gesten, die z.T. Fortsetzungen früherer Verschiebungen im Feld documenta sind, begünstigen diese Lesart. Dazu gehören unter anderem: ein deutlicher Fokus auf politische Diskurse bei gleichzeitiger Verschiebung hin zu einer spekulativen und poetischen Praxis; daraus folgt eine Schwächung der Sprecherposition, da diese als subjektiv, emotional und nicht allwissend markiert wird; eine Öffnung des Feldes der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die deren Wissen anerkennt und innerhalb einer exklusiven Institution Sichtbarkeit verleiht; eine Thematisierung von Vermittlung und der Versuch, diese kritisch auszurichten; eine Dekonstruktion des Zentrums durch Zerstreuung, sowohl in Kassel, als auch darüber hinaus; eine konsequente Fortsetzung der durch die Documenta11 vorgezeichneten Dezentrierung durch die Ausstellung in Kabul; gleichzeitig eine zeitliche Öffnung, die Kennzeichnung eines (gemeinsamen) Prozesses; die durch all diese Strategien begünstigte und bewusste Überforderung, die als Widerstand gegen Reduktion und Wirtschaftlichkeit intendiert ist. »Entgrenzungssehnsucht liegt als Subtext unter jenen inhaltlichen und formalen Weiterungen, die die letzte Documenta und ihre Werke prägten. Egal, ob die Grenze zwischen sozialem Handeln und künstlerischer Intervention durchbrochen wird oder ob es um die Metapher des Metabolismus in einer Kompostieranlage geht wie bei Pierre Huyghe: Ziel ist eine Grenzaufhebeung, die nicht die Grenze thematisiert und damit auf Differenz und Entfremdung verweist, sondern der es um Aufhebung im ozeanischen Gefühl zu tun ist. Die Bienen sind nicht zu zähmen, der Blumensamen verteilt sich unkontrolliert und chaotisch.« 7
All dies kennzeichnet in anderem Maßstab auch die lose Künstlerinitiative AND AND AND, die explizit aus der dOCUMENTA (13) heraus an selbiger arbeitet: »AND …AND …AND ist keine Person oder ein Gegenstand, nicht rückführbar auf einen Ursprung im Zentrum der Handlungen, der Geschehnisse, Figuren, Gesten. AND ist sprachlich vor allem eine Konjunktion: zusammen mit, begleitet von, mit, sowie, zusätzlich zu, ebenfalls, außerdem, darüber hinaus; informell ist es ein Plus. Die Punkte zwischen den ANDs sind die Lücken, die zu schließen sind, und immer noch gibt es mehr ANDs und mehr Punkte zu füllen. Als absolut erforderliches Mittel, daher entgegenkommend, einbeziehend, aufnehmend, verkörpernd, einstehend, rückgängig machend, tanzend, zurücknehmend, verbindend, gemeinschaftlich, vereinfachend, lernend, pflanzend, schützend, ausdehnend, lächelnd.« 8
Eine zweite Achse der Transformation stellt sich als Arbeit mit dem Publikum dar. Dabei ist auffällig, dass solche Projekte, die zwischen Kunsthaftigkeit und Sozialar7 | R. Hoppe-Sailer: Die Künste und die Wissenschaften, S. 120. 8 | http://d13.documenta.de/de/#de/teilnehmer/teilnehmer/and-and-and/ vom 24.03.2017.
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Vermittlungskunst
beit, wie sie für die 1990er Jahre ausgemacht wurden, nur einen geringen Anteil einnehmen. Zu erwähnen wären das Urban-Gardening-Projekt von AND AND AND, der Pfad (2012) von Natascha Sadr Haghighian und La Lutherie (2012) von Tarek Atoui. Hingegen Sabeth Buchmann kritisiert, dass auf der dOCUMENTA (13) »die traditionell institutionskritische Frage nach Repräsentations- und Machtstrukturen sowie nach sozialen Ein- und Ausschlussbedingungen in die für überwunden gehaltene Politik der Fürsprache – für Kriegsopfer, Verfolgte und Traumatisierte sowie für Flora und Fauna – zurückfiel. Der bereits in den 90er Jahren gegen die Institutionskritik erhobene Vorwurf, die Analyse des Betriebssystems mit (strukturell korporatistischer) Dienstleistungskultur zu verwechseln, schien bei der dOCUMENTA (13) nicht einmal der Rede wert: Ihre Palette reichte von gehobenem Ökomarketing bis hin zu Psychotherapieangeboten […].« 9
Diese Sichtweise ist nachvollziehbar, allerdings im Vergleich mit tatsächlichen Empowerment- und Fürsprache-Konzepten kaum zu halten, da die hier angesprochenen Arbeiten eher spekulative Fragen verhandeln, als tatsächlich politisch aktiv zu werden zu wollen. Dem Gegenüber steht eine Vielzahl von Arbeiten, die durch Strategien der Relational Art, der Interaktion und Partizipation, das Publikum zwar einbindet, aber gleichzeitig mit Scripted Spaces konfrontiert, zu Mittäterinnen und Mittätern macht oder als zweitrangig kennzeichnet. Dabei steht eine Thematisierung des Status der Besucherinnen und Besucher statt einer Dekonstruktion dessen im Vordergrund. Das Projekt der Re-Politisierung zeichnet sich auf der dOCUMENTA (13) als wenig informativ und edukativ, sondern als emotional, verführerisch und eventhaft, was sich erst in einer entbergenden Reflexion als politische Handlung und somit potentiell politisierend manifestiert. Dies kann zu Recht kritisiert werden, da es die Klarheit der politischen Projekte schmälert und andere instrumentalisiert. Gleichzeitig ist genau dies in institutionskritischer Arbeit, die sich zwischen Affirmation (Bedürfnisbefriedigung) und Kritik mit dem Ziel einer Transformation positioniert grundsätzlich angelegt und sie kann dies nicht deshalb negieren, weil es sich bei der ›Institution‹ um eine Gruppe von privaten Individuen handelt: die Besucherinnen und Besucher. Tatsächlich muss festgestellt werden, dass ein naiver Umgang mit diesen Projekten zwar nicht zu einer Politisierung führt, aber dem Individuum auch nicht nennenswert schadet: Pseudo-Engagement (Amy Balkin), Souvenirs (Ida Applebroog) und schmutzige Finger (Rabih Mroué) sind die negativsten möglichen Folgen dieses Prozesses. Dennoch ist es genau dieser Spannungsbogen zwischen Politisierung und ›fröhlicher Grundstimmung‹ der das Bild der dOCUMENTA (13) gezeichnet hat, das Publikum in kritisch-informierte und naive Mittänzerinnen und Mittänzer der Choreografie teilt und gleichzeitig diesen Unterschied maskiert. Diese Choreografie mag »unharmonisch und frenetisch«10 sein, was ihre interne Struktur angeht – nach Außen fügt sie sich zu einer durchaus harmonischen Polyrhythmik, die die Dissonanzen der einzelnen Künstlerinnen und Künstler kaum wahrnehmbar werden lässt. Dies erschwert eine Öffentlichkeit durch Antagonismus gegenüber Künstlerinnen und Künstlern ebenso wie gegenüber einem kritisch-politischen Publikum. Die Möglichkeit einer Ausstellung ›Exposition‹ zu sein (»An exhibition is a place for debate, not 9 | S. Buchmann: (Kunst-)Kritik, S. 132. 10 | C. Christov-Bakargiev: Der Tanz war sehr frenetisch, S. 31.
Transformation durch die Institution dOCUMENTA (13)
just a public display. The french word for it, exposition, connotes taking a position, a theoretical position; it is a mutual commitment on the part of all those participating in it.«11) wurde vor allem im Vorfeld genutzt, als über Erdbeeren, Hunde und Meteoriten statt Kunst gesprochen wurde. Obwohl diese Positionen auch während der Ausstellung gehalten wurden, schmälerte die konzise Präsentation konzentrierter Projekte den damit einhergehenden Konflikt. »Ob die Entscheidungen von Museumsfunktionären ideologisch rigide ausfallen oder für Abweichungen von der Norm empfänglich sind, sie orientieren sich im Prinzip immer an den Grenzen, die von den Arbeitgebern gezogen sind.«12 Die documenta ist durch den Kampf zur Erweiterung dieser Grenzen spätestens seit ihrer fünften Ausgabe gekennzeichnet, so dass sie heute als relativ offene und flexible Form gelten kann. Dennoch lassen sich gewisse Grenzen und Regeln nicht verleugnen, allen voran das wirtschaftliche Interesse der documenta GmbH und auch ihrer Sponsoren. Es bleibt: Ob künstlerische Projekte »kritisch oder affirmativ, kritisch intendiert und affirmativ verwendet, oder in Affirmation umgeschlagene Kritik«13 sind, ist ununterscheidbar und wird durch das Agieren der Institution dOCUMENTA (13) weiter verschleiert. Dies lässt sich exemplarisch in allen Facetten am Brief von Kai Althoff durchspielen. »Die entscheidende Frage dabei ist, ob solche Vorhaben mit einem künstlerischen Ansinnen und freiwillig geschehen, die Zweckbestimmung also [durch die Künstlerin oder den Künstler] selbstbestimmt erfolgt.«14 Diese Aussage muss aber nicht undifferenziert stehen bleiben, da sich in dem umrissenen Feld zwei Pole abzeichnen, die sich zwar nicht zwingend gegenseitig ausschließen, aber dennoch eine absolut konträre Bewertung in der Frage nach Transformation erhielten: Entweder waren die Künstlerinnen und Künstler überwiegend affirmativ tätig, haben Gedanken der Künstlerischen Leitung aufgegriffen und schließlich ein Gesamtbild entworfen, dass nach innen gerichtet kaum Kritik vollzog und damit die eigene Position der Künstlerinnen und Künstler geschwächt hat. In diesem Falle wäre der Geisteszustand ein verschleiertes Konzept, die Choreografie autoritär und die Institutionskritik als leere Geste vereinnahmt. Oder es wurde bereits über die Institution, begründet durch die Künstlerische Leiterin und reproduziert durch ihr Team, ein kollaborativ-tranformatives Projekt initiiert, das, da es progressiv ausgerichtet war, einerseits die Zustimmung der Künstlerinnen und Künstler erhalten hat und andererseits flexibel genug war, um deren Themen und Anliegen aufzunehmen und mit dem symbolischen Kapital der Gesamtinstitution zu verstärken. In diesem Fall wäre eine Kritik zwar möglich, aber annähernd unnötig, da Choreografie und Geisteszustand tatsächlich zwei kollektiv formulierte Phänomene darstellen. Die Kritik des Denk-Kollektiv dOCUMENTA (13) richtet sich stattdessen einerseits an die übergeordnete Institution documenta und andererseits an die Gesellschaft. In beiden Fällen war diese Kritik aber mit einem hohen Maß an Affirmation, die sich auch in der ›fröhlichen Grundstimmung‹ manifestiert, verbunden, statt offensiv Öffentlichkeit über Konflikt herzustellen. Diese Untersuchung spricht sich für die zweite Betrachtungsweise aus.
11 | J. Sans zitiert nach O. Marchart: There is a Crack, S. 344. 12 | H. Haacke: Bemerkungen zur kulturellen Macht, S. 82. 13 | S. Germer: Unter Geiern, S. 90. 14 | R. Puffert: Die Kunst und ihre Folgen, S. 10.
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Schluss »… rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.«
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Der Tanz ist zum Erliegen gekommen?
»Der Tanz, den das Vielleicht eröffnet, ist also weniger ein Streben nach Leere, sondern kann eher als eine Reise betrachtet werden;«1 stellt Chus Martínez fest und damit klar, dass die Ablehnung eines Konzeptes zu Gunsten eines spekulativen Vorgehens weder Inhalte noch Erkenntnisse verleugnet. Stattdessen betont es die Wichtigkeit des Forschungsprozesses, statt vorschnell Thesen und Begriffe zu produzieren. Sie spricht ganz deutlich von der Unmöglichkeit einer solchen Forschung, zu einem Schluss zu kommen.2 Dennoch ist es möglich, Indizien zu sammeln: »Der Status des Indizes ist interessant, weil ein Indiz keine Information und noch keine Form von Wissen ist. […] Indizien sind dafür da, das Rätsel zu lösen. Dies ist nur eine Annahme, weil nicht gesagt ist, dass sie es notwendigerweise tun werden;«3 Sie bezeichnet die dOCUMENTA (13) als ›Intuition‹, die nicht auf einem Konzept beruhe: »Eine Intuition […] verlangt keine Beweise, sondern vielmehr ein Verständnis; man könnte sogar sagen, dass sie Beweise nicht zulässt. Eine Intuition fordert von uns daher nicht nur, sie eingehender zu erforschen, sondern auch, einen Weg zu finden, um sie verständlich zu machen.«4 Der vorliegenden Untersuchung liegt der Anspruch zu Grunde, dieses Selbstverständnis der dOCUMENTA (13) trotz einer auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Fragestellung zu berücksichtigen. Auch hier soll Verständnis durch den Prozess produziert werden. Um dies zu erreichen, wurde sich neben verschiedenen Analyseverfahren vor allem an Strategien der Feldforschung und Spurensicherung orientiert. Ausgehend von einem verwirrenden Überschuss an fragmentarischen Informationen wurden über Textlektüren, Ausstellungsanalysen und eigenes forschendes Handeln wesentliche Erkenntnisse über den Gegenstand zusammengetragen. Der Text ist dabei so strukturiert, dass Leserinnen und Leser den Forschungsprozess Schritt für Schritt nachvollziehen können.5 Die documenta wurde nach Harald Kimpel als ›Vermittlungsinstitution‹, die neben einer Kunstausstellung auch eine Theorieausstellung ist, verstanden. Oliver Marchart liefert den Begriff einer durch die Dominanzkultur genutzten ›Hegemoniemaschine‹, die nur deshalb nicht zerstört werden sollte, da es die Möglichkeit gibt, diese zu infiltrieren und zu transformieren. Unzweifelhaft ist, dass die documenta aus einer gewissen 1 | C. Martínez: Wie eine Kaulquappe, S. 48f. 2 | Vgl. ebd., S. 55. 3 | Ebd., S. 56. 4 | Ebd., S. 53. 5 | Vgl. L. Pietroiusti: Gunnar Richter, S. 294.
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Schluss
Tradition heraus entstanden ist und eigene Traditionslinien entwickelt hat. Auch die dOCUMENTA (13) hat diese vordergründig affirmiert. Gleichzeitig zeigt sich aber eine ›Tradition der Brüche‹, die möglicherweise schon zur documenta 5 abzulesen ist, aber deutlich mit der documenta X und der Documenta11 ausformuliert wird. Die Arbeit an den eigenen Traditionen wird durch die dOCUMENTA (13) mit Nachdruck fortgesetzt. Zur Disposition stehen: Der Kunstbegriff der Institution, der sich ausgehend von der Präsentation der Werke der klassischen Moderne über mehrere Entwicklungsschritte beginnt annähernd aufzulösen; Die eigene zentrale Position, die in Frage gestellt, verschoben und zumindest potentiell ebenfalls aufgelöst wird; Der Status von Theorie, die sich als hochkomplexes Netzwerk, in das sich mittlerweile auch Spekulation und Poesie einschreiben, darstellt; Sowie die Frage nach Autorschaft und der damit verbundenen Macht, die sich mit der starken Position der Künstlerischen Leitung potenziert, aber gerade dadurch einen explizit subjektivistischen Ansatz darstellt, der insbesondere durch die documenta 12 und dOCUMENTA (13) hinterfragt und dem mit unterschiedlichen Strategien begegnet wurde. Es wird deutlich, dass die ›Hegemoniemaschine‹ documenta aktiv an sich selbst arbeitet, und es stellt sich die Frage, inwiefern diese Brüche und Verschiebungen tatsächlich die Institution transformieren können und ob das Publikum diese Bewegungen nachvollzieht oder in bestehende Strukturen rückführt. Denn es genügt der ›Vermittlungsinstitution‹ nicht, einen gewissen Standpunkt einzunehmen, dieser muss auch vermittelt werden. Dies ist deutliches Anliegen seit der ersten Ausgabe der Ausstellungsreihe. Bazon Brock etabliert eine Gegenüberstellung von Institution (inklusive deren Konzepten und der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler) und deren Publikum und fordert eine Professionalisierung letzter zur aktiven Teilnahme am Diskurs. Dem entspricht auch die Entwicklung der Vermittlungsprogramme vor allem der letzten 20 Jahre. Nach Oliver Marchart verbergen diese, dass die ganze Ausstellung auf Vermittlung ausgelegt ist. Abgesehen davon bieten sie aber auch die Möglichkeit, direkter auf das Publikum einzuwirken: sowohl um die Vermittlungsinhalte effektiver zu kommunizieren, aber auch um diese – gemäß der ›Tradition der Brüche‹ – zu dekonstruieren und Besucherinnen und Besucher zu autorisieren und emanzipieren. Die Institution, die als Kunstausstellung wahrgenommen wird, ist somit tatsächlich mehr als das: Sie ist Theorieausstellung und edukativer Apparat. Es bedarf einer Bewertung ihrer (jeweiligen) Inhalte, um zwischen ›Hegemoniemaschine‹ und progressivem Projekt zu unterscheiden und in Folge dessen zu entscheiden, ob gegen oder mit der Institution gearbeitet werden sollte. Unter diesen Inhalten werden weniger die einzelnen künstlerischen Projekte verstanden, sondern das der Ausstellung zu Grunde liegende Konzept der Künstlerischen Leitung. Um dessen – und Kuratorischer Praxis im Allgemeinen – Legitimation wird parallel zur Traditionslinie der documenta ein kritischer Diskurs geführt. Dieser affirmiert in Teilen selbst seine Kritikpunkte, indem Kuratorinnen und Kuratoren die Macht zugeschrieben wird, ›Kunstwerke zu vernichten‹. Ohne leugnen zu wollen, dass es – auch in der Geschichte der documenta-Ausstellungen – stark leitende kuratorische Entwürfe gibt, muss festgestellt werden, dass die Künstlerischen Leiterinnen und Leiter sehr früh begannen, ihre Macht zu reflektieren und auch dagegen anzuarbeiten. Deren Strategien waren zum einen unterschiedlich erfolgreich und wurden zum anderen häufig nicht als solche interpretiert bzw. akzeptiert. Dies zeigt sich exemplarisch an der Frage nach Konzepten, welche von einem Großteil der Künstlerischen Leiterinnen und Leitern abgelehnt oder relativiert, aber vom Publikum mit großer Wirkmacht affirmiert wurden. So betrachtet ist es das Publikum, von uninformierten Besucherinnen
Der Tanz ist zum Erliegen gekommen?
und Besuchern bis hin zu Expertinnen und Experten der Kunstkritik und Kunstwissenschaft, die eine Reduktion des komplexen Gegenstandes fordern und dadurch ›Vernichtung‹ (von künstlerischen Einzelwerken, damit verwobenen Diskursen und eines auf eine bestimmte Weise strukturierten, gemeinsamen Auftretens) betreiben. Als eines der entscheidendsten Vermittlungsanliegen, das auch über verschiedene Ausgaben der documenta fortbesteht, stellt sich die Forderung dar, dass das Publikum die Ausstellung als Diskurs versteht und sich an diesem – wenn auch nicht zwingend gleichberechtigt – beteiligt. Dem verhindernd gegenüber steht die Autorität und Wirkmacht der Institution selbst. Diese durch das Publikum in Frage stellen zu lassen, gelang Carolyn Christov-Bakargiev im Vorfeld der dOCUMENTA (13) durch ein verwirrendes Auftreten, provokante Thesen sowie der Verweigerung, ein Konzept zu formulieren. Auch wenn sich nachvollziehen lässt, dass sie durchaus gewisse Vorgehensweisen praktiziert und Themen verfolgt hat, bilden diese für die Rezeption der dOCUMENTA (13) weder Ausgangspunkt noch Überbau, sondern münden mit dem Geisteszustand in einer Form, die sich vor allem darin von einem Konzept unterscheidet, dass sie multiple Autorschaft hat und sich prozessual ausformte. Es wird z.B. glaubhaft nachvollziehbar, dass die entscheidende Rolle, die Kabul und Afghanistan innerhalb der dOCUMENTA (13) einnehmen, auf eine durch den Künstler Mario Garcia Torres initiierte Reise zurückzuführen ist. Carolyn Christov-Bakargiev tritt vor allem als Erzählerin dieses Prozesses auf, wodurch sie trotz der Ambition der Vielstimmigkeit eine sehr starke Position einnimmt. Hier zeigt sich eine erste Differenz zwischen den Intentionen der dOCUMENTA (13) und ihrer Rezeption: Statt Carolyn Christov-Bakargiev (und mit ihr das umfangreiche kuratorische Team) als eine Erzählerin, die ihre subjektive Sichtweise permanent markiert, und somit die Ausstellung als Versammlung eigenständiger Stimmen und Möglichkeitsraum für Diskurs anzunehmen, überwog die mit der symbolischen Macht der Künstlerischen Leitung verknüpfte Annahme einer übergeordneten Konzeption. Dies wurde durch ein auratisches Ausstellungsdesign, welches intendierte, die einzelnen Werke trotz eines Metatextes singulär wirken zu lassen, aber vor allem die Wirkmacht der Institution Museum reproduzierte, weiter begünstigt. Gleichzeitig ist es notwendig, die Institution, die man dekonstruieren oder transformieren möchte, zunächst zumindest in Teilen zu affirmieren. Innerhalb der Untersuchung wurden Perspektiven auf verschiedene Setzungen eröffnet, die sich nicht nur als Dekonstruktion der Institution der Künstlerischen Leitung, sondern auch als Inblicknahme und Infragestellung der Institution documenta lesen lassen. In Bezug auf die Ausstellung in Kabul äußert Carolyn Christov-Bakargiev deutlich, dass Kunst ein subversives Potential besitzt, gerade weil es scheint, dass sie nichts an den sie umgebenden Umständen ändern könne – wäre dies offensichtlich, würde sie nicht zugelassen.6 Hier schließt sich die Möglichkeit an, dass auch die Institution documenta – verschleiert durch Verharmlosung der eigenen Kuratorischen Praxis durch oben genannte Strategien – kritisiert, dekonstruiert und potentiell transformiert werden sollte. Durch die organisatorische und kuratorische Übernahme der ›Hegemoniemaschine‹ kann diese für kritische Anliegen geöffnet und zu einem Möglichkeitsraum werden, experimentelle Formate ermöglichen sowie Hierarchien und Bedingungen der Institution hinterfragen. Dabei zeigen diese Strategien auch und gerade Wirkung, wenn sie
6 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Die surrealistische Wende, S. 299f.
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weitestgehend unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung (der Öffentlichkeit und der Institution) operieren. Eine weitere Traditionslinie der documenta ist eine zunehmend kritische Untersuchung von dem, was Kunstvermittlung leisten kann. Diese stellt sich vor allem als stetig wachsendes Gefüge von mannigfaltigen Begleitprogrammen dar, die mittlerweile tatsächlich eher den eigentlichen Kern dessen darstellen, was eine documenta ist, als die Ausstellung selbst. Das Verhältnis von Begleitendem und Begleitetem verkehrt sich zunehmend. Die umfangreiche Anlage der Maybe Education and Public Programs stellt sich vor allem durch ihre Inhalte (die ebenfalls eher eine durchgängige Tradition von Denkerinnen und Denker als wechselnde Konzepte implizieren) und weniger durch ihre Methoden als kritisch und progressiv dar. Mehr noch als die räumlich verstreute Ausstellung ist diese raum-zeitliche Ereignisstruktur eine deutliche Manifestation dessen, was auf der dOCUMENTA (13) als Choreografie verstanden wird: Ein aktives und singuläres Erleben im Hier und Jetzt. Die personelle Vermittlung ist innerhalb einer solchen Anlage nur als Teilprojekt zu bewerten – und hat tatsächlich zunächst vor allem affirmativ-reproduktiven Charakter, soll Besucherinnen und Besucher mit den komplexen Themen und Anliegen des Projektes vertraut machen. Zur dOCUMENTA (13) wurde dieses Teilprojekt als dekonstruktives Experiment konzipiert, das seinen eigenen Status hinterfragten sollte. Das Projekt Worldly Companions ging aus einer grundsätzlichen Ablehnung der Grundannahmen von Vermittlung (zu vermittelnde Inhalte, Informationsgefälle, Sprecherposition etc.) hervor und stellte einen Kompromiss in Bezug auf ökonomische Interessen dar. Das Experimentelle äußert sich somit vor allem in der Auswahl der Vermittlerinnen und Vermittler und nicht zwingend in deren Vermittlungspraxis. Über die Perspektiven der Ausbildung, einer delegierten Performance und des ökonomischen Gefüges konnte allerdings gezeigt werden, dass die Worldly Companions selbst nicht befähigt waren, dekonstruktiv zu handeln, sondern auf ein unmündig-affirmierendes Verhalten zurückgeworfen wurden. Darin reproduzierten sie sicherlich Anteile des Geisteszustandes, der die Worldly Companions – und über diese die Gesellschaft – wie ein ›Virus infizieren‹ sollte. Dies ist eine deutlich reproduktive Vermittlungsabsicht. Die Dekonstruktion richtete sich somit vor allem gegen das übrige Publikum, das statt eindeutigen Vermittlungsinhalten mit Verunsicherung und Infragestellung konfrontiert war. Dies entspricht den Absichten, die Carolyn Christov-Bakargiev auch für die Rolle der Künstlerischen Leitung verfolgt hat. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Vorgehen der dOCUMENTA (13), relativ unerfahrene Vermittlerinnen und Vermittler von der eigenen Ideologie zu überzeugen und gleichzeitig innerhalb mannigfaltiger Konflikte zu positionieren, vertretbar ist. Die dOCUMENTA (13) stellt sich vor allem durch dieses Vorgehen nicht mehr als »ideologisch einwandfreie Ausstellung«7 dar, die affirmativ vermittelt werden sollte – bzw. sich affirmativ vermitteln lassen kann –, sondern gerät selbst in den Fokus der Kritik. Es bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse des Experimentes Worldly Companions Eingang in die weitere Tradition der documenta finden. Dass es sich bei der dOCUMENTA (13) tatsächlich um ein hauptsächlich zu affirmierendes Projekt zu handeln scheint, wird aus der Positionierung derjenigen abgeleitet, die als Expertinnen und Experten angesehen werden können: die Künstlerinnen und Künstler. Zu diesen gehören Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher institutionskritischer Strömungen, die sowohl über genügend Handlungswissen als auch 7 | C. Mörsch: Kreuzungspunkt von vier Diskursen, S. 23, Fn. 60.
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Handlungsmacht verfügen, um sich kritisch gegenüber der Ausstellung zu positionieren. Trotz einiger weniger Anhaltspunkte für dekonstruktives Handeln zeigt sich allerdings eine fast geschlossen affirmative Haltung gegenüber der dOCUMENTA (13), welche wiederum zu Kritik von außen geführt hat. Doch wenn der Geisteszustand tatsächlich aus einer kollektiven Praxis derjenigen entstanden ist, die die ›Hegemoniemaschine‹ infiltriert haben, wäre ein solches Verhalten zweckdienlich und angebracht. Die dOCUMENTA (13) wäre somit eine transformative Institution, deren kritisch-dekonstruktives Vorgehen einerseits subversiv an den eigenen Bedingungen arbeitet, sich aber andererseits und vor allem gegen das eigene Publikum richtet, dass zu einem Sichtweisenwechsel motiviert werden soll. Dabei stellt sich diese Arbeit weniger als aktive Einwirkung auf oder Ermächtigung von Besucherinnen und Besuchern dar, sondern vielmehr als Thematisierung von deren Haltung und den dazugehörigen Mechanismen. In der Reflexion dessen offenbart sich, ob Besucherinnen und Besucher innerhalb der Choreografie naiv oder kritisch-informiert mittanzen. Abschließend zeigt sich, dass die gegenläufigen Strategien Carolyn Christov-Bakargievs, das kritisch ausgerichtet aber affirmativ praktizierte Programm der Maybe Education sowie das transformative Potential der Künstlerinnen und Künstler gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Dies führt trotz der Vielfalt der verhandelten Themen und unterschiedlichen Standpunkte zu einer Choreografie, die Carolyn Christov-Bakargiev zwar als ›unharmonisch‹ bezeichnet, aber nach außen dennoch als harmonisches Gesamtbild erscheint. Dieser Eindruck läuft dem Anspruch, die eigenen Aussagen beweglich zu halten und sich einer Festschreibung zu widersetzen, direkt entgegen. Das harmonische Erscheinungsbild verbirgt die Brüche und Leerstellen in der Narration, die Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit bieten, den Erwartungen der dOCUMENTA (13) zu entsprechen, indem die präsentierten Inhalte hinterfragt und die Geschichten weitererzählt werden. Gelänge dies, wäre der Geisteszustand auch über die Ausstellungsdauer hinaus eine andauernde »Suche nach einem gemeinsamen Denken«8, wäre der aus der Choreografie resultierende Tanz immer noch ›frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht‹. »[W]hat I see in it [dOCUMENTA (13)] is an overwhelming sense of complexity, wealth and richness, the co-presence of opposites and the idea that whatever concept you have is limiting if you close it. So you have to create this universe of a constellation of questions.« 9 »Daher lässt sich eine Ausstellung als Netzwerk mehrerer Ausstellungen verstehen, die unaufhörlich in den Vorder- oder Hintergrund treten, manche sichtbar, manche unsichtbar und manche erst viele Jahre nach einem solchen Ereignis sichtbar.« 10 »The dance was long, it was violent, tumultuous … but it has come to a halt … Let’s actually leave some space and support for considering this with others who are artists and who are equally of and in the world at large not just the world of art.« 11
8 | C. Christov-Bakargiev: Einführung, S. 9. 9 | C. Christov-Bakargiev/K. Siebenhaar: dOCUMENTA (13), S. 121. 10 | C. Christov-Bakargiev: Brief an einen Freund, S. 19, BdB. S. 81f. 11 | R. Gabri zitiert nach documenta: Das Logbuch, S. 63f.
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Ein Überschuss, der der Beendigung widerspricht
In ihrem Vorwort zum Buch der Bücher bezeichnet Carolyn Christov-Bakargiev dieses als Resultat eines langsamen Prozesses.1 Der Hauptteil, der Wiederabdrucke der Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken umfasst, ist mit zwei Begriffen überschrieben: ›Experiment‹ und ›Wiederholung‹. Sowohl die Infizierung Kassels mit dem Geisteszustand als auch die Arbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern werden als ›Experimente‹ bezeichnet: »Dafür zu sorgen, dass zweihundert Personen aus Kassel mit den Künstlerinnen und Künstlern sprechen, sich aktiv an den Überlegungen zu gesellschaftlichen Fragen beteiligen und darüber nachdenken, wie sich der Prozess der dOCUMENTA (13) vervielfachen und ein Echo finden kann, ist für uns ein sehr ergiebiges Experiment« 2 (vgl. S. 243). »Der Besuch von Breitenau gehört zu dem Experiment, hundert neue Arbeiten zu haben, die nicht beliebig sind« 3 (vgl. S. 219).
Das ›Experiment‹ verweist auf den Prozess der dOCUMENTA (13) selbst, deren Choreografie (vgl. S. 95). Weniger klar ist der Status der ›Wiederholung‹ – doch auch diese lässt sich mit der Choreografie in Verbindung bringen: So sind es Wiederholungen, Vervielfältigungen und Additionen, die sowohl ihre Struktur kennzeichnen als auch zu ihrer Einübung notwendig sind. »Es ist ein Tanz, den wir allzeit aufführen. Also fahren wir fort, ihn zu vervollkommnen, zu überdenken, uns unserer Fauxpas zu erinnern und immer besser darin zu werden«4 (vgl. S. 79). Diese Wiederholung des Experimentes im Buch der Bücher zeichnet sich schließlich durch eine Besonderheit aus: dem »Chor der Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart«5 (vgl. S. 113), der sowohl durch die erneute Publikation als Buch der Bücher als auch die für die documenta bedeutende Zahl von einhundert Beiträgen abgeschlossen erscheint, wird eine weitere Notiz hinzugefügt – sie »ist der Überschuss, der jeder Been1 | Vgl. C. Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14. 2 | A. Anastas/R. Gabri/N. Setari: Im Gespräch, S. 280. 3 | C. Christov-Bakargiev/C. Naphegyi: Transkriptionen eines Interviews, S. 272. 4 | A. Prvacki/I. Aristarkhova: Das Begrüßungskomitee berichtet, S. 15, BdB. S. 326. 5 | Christov-Bakargiev: Vorwort, S. 14.
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Schluss
digung widerspricht.«6 Diese Geste erscheint zunächst eher symbolisch, stellt die Notiz Nr. 101 schließlich nur Teile dessen dar, was auch im Begleitbuch unter der Überschrift Kabul – Bamiyan zu finden ist (Vgl. S. 205).7 Darüber hinaus existieren allerdings vier weitere Notizen, die weder im Buch der Bücher, noch als Einzelhefte publiziert wurden, sondern nur über die Homepage der dOCUMENTA (13) abrufbar sind.8 Sie existieren in einem Raum, weit abgelegen vom Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung der dOCUMENTA (13) (vgl. S. 306). Jede der vier Notizen kann als Thematisierung gewisser Aspekte von Erzählungen verstanden werden: als Untersuchung der Sprechenden und der Autorschaft (vgl. S. 263), als Offenlegung einer Konversation, als Frage nach der Wiederholung gewisser Sprechakte und schließlich als zwei Annäherungen an Erinnerungen, die jeweils einen poetischen Ausdruck finden (vgl. S. 143). Im Folgenden finden sich einige Reflexionen (vgl. S. 11) zu diesen Notizen. Notiz Nr. 102: Florian Hecker, Einführung von Chus Martínez. In ihrer Einführung erläutert Chus Martínez das durch den Künstler Florian Hecker entwickelte Verfahren der Chimärisation, welches die Eigenschaften einer Stimme künstlich auf eine andere Stimme übertragen soll. Die damit entwickelte Audioinstallation Chimärisation (2012) überlagert auf diese Weise verschiedene Stimmen, die Englisch, Deutsch und Farsi sprechen.9 Diese verschmelzen allerdings durch Verzerrungen und Störgeräusche, die möglicherweise aus der Chimärisation resultieren, zu einer kaum unterscheidbaren Geräuschkulisse. Dies könnte als Form von Vielstimmigkeit aufgefasst werden, die nicht verschiedene Standpunkte gegenüberstellt, sondern diese sich gegenseitig soweit stören, dass keine Erzählung mehr durchdringen kann. Tatsächlich rezitieren allerdings alle Sprecherinnen und Sprecher den selben Text: Die Schlange, die Ziege und die Leiter (Ein Brettspiel zum Chimäre-Spielen) von Reza Negarestani. Somit sind nicht nur die Stimmeigenschaften übertragen, sondern auch die Inhalte übertragene (vgl. S. 33). Trotz der vermeintlichen Vielstimmigkeit, stellt sich die Erzählung als alleingültig dar. Chus Martínez macht eine Form der Chimärisation in der Rezeption von Texten allgemein aus: »In der Literatur existiert die Stimme nicht oder anders gesagt: Die Eigenschaften, die wir den Stimmen von Personen aus den Büchern zuschreiben, die wir lesen, sind Chimären. Sie sind Fiktionen, die auf Stimmen basieren, die wir beim Lesen der Persönlichkeitsbeschreibungen der Charaktere gehört haben, Stimmen der Identität, die jeder einzelne von uns den Personen zuordnen möchte. Diese Stimmen, die wir während des Lesens hören, sind weder falsch, noch sind sie echt.« 10
Leserinnen und Leser eines Textes – und gewissermaßen auch Zuhörerinnen und Zuhörer einer Erzählung – formen somit gewisse Aspekte des Textes in der eigenen Imagination. In der Vervielfältigung des Textes bilden sie somit unweigerlich Überformungen (Chimären). Einen Gedanken, den Chus Martínez mit einer Choreografie in Verbindung setzt: »Auf diese Weise könnte man jeden Schritt des Vorlesens, jeden stimmlichen Gestus, jede aus der Intention oder aus der Erfahrung heraus getroffene 6 | Ebd. 7 | Vgl. documenta: Das Begleitbuch, S. 454-491, BdB. S. 704-713. 8 | Vgl. http://d13.documenta.de/de/#de/publications/ vom 24.03.2017. 9 | Vgl. C. Martínez/F. Hecker: Florian Hecker, S. 6. 10 | Ebd.
Ein Überschuss, der der Beendigung widerspricht
Entscheidung zur Disposition stellen und so eine unendliche Choreografie möglicher Veränderungen in Gang setzen«11. Kann die Choreografie der dOCUMENTA (13) so beschrieben werden (vgl. S. 95)? Gibt es so etwas wie einen Ausgangstext, der durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weitererzählt wurde (vgl. S. 157)? Stellt sie sich als vielstimmig dar oder kakophonisches Beieinander, das zwar etwas eigenständiges ist, aber kaum Rückschlüsse auf den Ausgangstext zulässt (vgl. S. 14)? Oder ist hier gar nicht die Choreografie gemeint, die den Geisteszustand geformt hat, sondern deren Notation: die Ausstellung (vgl. S. 167)? Welche Aspekte deren Rezeption sind Chimären? Lässt sich darüber sinnvoll reden (vgl. S. 345)? Notiz Nr. 103: Jane Taylor & David Nirenberg: A Conversation. Die titelgebende Konversation zwischen Jane Taylor, einer Beraterin der dOCUMENTA (13), und dem Kunsthistoriker David Nirenberg beginnt mit einer Prolepse. Darin beschreibt Jane Taylor, wie Carolyn Christov-Bakargiev den Vorschlag machte, die private Konversation öffentlich zu machen (vgl. S. 277): »But in May Carolyn called us to allow others in, to turn our dialogue into a forum for thinking aloud, a small digital notebook for dOCUMENTA. Of course, this is not where it began. How would we have found a voice if that had been the case?«12 Auf die näheren Gründe der Veröffentlichung wird nicht eingegangen, allerdings beschreibt Jane Taylor, dass sich das eigene Denken verändert, wenn man mit einer Begleiterin oder einem Begleiter (›companion‹) denkt (vgl. S. 249). »It [the conversation] may be a strange place for others […]. I have edited us in the hope that these letters will be able to gesture toward that general reader for whom they were not written.«13 Ein ›seltsamer Ort‹ ist die gesamte dOCUMENTA (13), die das Denken und Handeln so vieler verschiedener Teilnehmerinnen und Teilnehmer choreografiert: Obwohl eine Ausstellung, sind auch hier nicht alle Orte für Außenstehende gedacht bzw. richten sich an diese (vgl. S. 181). Gerade deshalb stellt sich die Frage, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Stimme für ihre Anliegen finden konnten, obwohl von Anfang an bekannt war, dass die gemeinsame Reise dOCUMENTA (13) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden würde (vgl. S. 308)? In der folgenden (zeitlich zuvor liegenden) Konversation finden die dOCUMENTA (13) und Carolyn Christov-Bakargiev nur einige wenige Male Erwähnung, scheinen aber abgesehen von der späteren Veröffentlichung selbst nicht wirklich Einfluss auf den Briefwechsel zu nehmen (vgl. S. 172). Obwohl in direktem Kontakt, weist die Konversation somit eher über die Choreografie hinaus – oder eröffnet einen von vielen ›seltsamen Orten‹ im Inneren selbiger (vgl. S. 142). Jane Taylor listet die Autorinnen und Autoren der ersten Notizen auf und David Nirenberg befindet: »A distinguished list! Was that all in one year? Quite a reading assignment«14 (vgl. S. 74, 222). Keiner von beiden kommt auf diese Texte zurück. Ebenfalls für sich steht die Bemerkung »And so one composes, disposes, decomposes«15, die im Kontext der dOCUMENTA (13) als Sinnbrücke zwischen choreografieren, (›komponieren, entsorgen, zersetzen‹) und kompostieren, also den Bezeichnungen der dOCUMENTA (13) als Choreografie und Kompost verstanden werden kann (vgl. S. 131, 352). Auch der Begriff der ›Infektion‹ fällt, der in Form des ›Virus‹, der Kassel ›infizieren‹ soll (vgl. S. 257), ein Synonym des Geisteszustandes ist. 11 | Ebd. 12 | J. Taylor/D. Nirenberg: A Conversation, S. 3. 13 | Ebd. 14 | Ebd., S. 14. 15 | Ebd., S. 15.
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Schluss
Hier bezieht sich Jane Taylor allerdings auf auf Ovids Heilmittel (vgl. S. 133) gegen die Liebe und erhebt den Vorwurf: »Ovid is the old liar, luring in while driving out. The doctor infects his patient, so that he can trade in cures.«16 Das ist das Vorgehen, dass Rene Gabri und Carolyn Christov-Bakargiev diskutieren – allerdings ist zweifelhaft, ob es für den Geisteszustand eine Heilung gibt (vgl. S. 133). Es bleibt unklar, ob eine dieser Bemerkungen wirklich in Beziehung zur dOCUMENTA (13) zu lesen ist oder ob diese sich nur zufällig assoziieren lassen (vgl. S. 137). Die letzte Äußerung David Nirenbergs bezieht sich auf das Ende des Projektes der öffentlichen Kommunikation und löst es erneut von dem der dOCUMENTA (13) ab: »How does psychoanalysis end, asked Kohut in a famous article. But what about letters? What needs to be said, as a statement but also as prayer: the ending of your dOCUMENTA project is not an end to our inter-subjective scribblings«17 (vgl. S. 373). Notiz Nr. 104: Raimundas Malašaukas. Ausgangspunkt dieses Essays ist die Feststellung, dass Gesprächspartner mitunter gereizt reagieren, wenn man Ihnen dieselbe Frage zweimal stellt (vgl. S. 273). Nur scheinbar setzt sich Raimundas Malašaukas mit den Antworten – die ebenso wie die Frage nicht konkretisiert werden – auseinander, sondern spürt eher der Bedeutung der Herleitung nach: »Darum entsteht durch jeden neuen Ansatzpunkt und jede neue Route auch ein neues Ziel, ein neuer Endpunkt. Die Antwort ist also nie dieselbe, selbst wenn es sich um denselben Satz handeln sollte«18 (vgl. S. 284) Als Teil des Überschusses einer Wiederholung eines Experimentes, den diese Notiz sowohl innerhalb des Publikationsprojekts der dOCUMENTA (13) als auch der vorliegenden Untersuchung darstellt, lohnt sich eine umfassende Wiedergabe der folgenden Gedanken Raimundas Malašaukas’ an dieser Stelle: »Lassen Sie mich Ihnen noch ein paar Sachen sagen, die unter Umständen gerade jetzt, wo wir bereit sind, an den Ausgangspunkt [(vgl. S. 11, 65)] zurückzukehren, den Weg in eine ganz andere Richtung lenken könnten. Ich habe alles getan, worum Sie mich gebeten haben. Sogar noch mehr. […] Ich habe damit begonnen, vier Gedanken auf einmal nachzugehen. […] Ich habe aufgehört, zerbrochene Gedankenketten zu fetischisieren, doch ich fürchte mich auch nicht mehr davor, dass der Zug kein Ziel hat. Ich habe beschlossen, dass ich Teil meiner persönlichen Geschichte bleiben werde, ganz gleich, wie sehr diese sich mit anderen verstrickt. Ich begann mich stärker für den Weg zu interessieren, den die Gedanken und der Körper nehmen, und für ihre Bewegungen, als für Einzelmomente auf diesem Weg.«19
Notiz Nr. 105: Sahar Muradi & Zohra Sead: Heimliches Leben in falsch geschriebenen Städten/Das heimliche Leben falsch geschriebener Städte. Diese Notiz versammelt kurze lyrische Texte, die sich auf Orte in Afghanistan beziehen, so wie Fotografien aus den Jahren 1975-1976 und 2004-2005. Dokumentation, Erinnerung und Fiktion scheinen ineinander übergehen (vgl. S. 207). Einer der kürzesten Texte mit der Überschrift ›Kabul‹ wendet sich direkt an ein Gegenüber: »Es war einmal. Ich erinnere mich. Ich
16 | Ebd., S. 19. 17 | Ebd., S. 62. 18 | R. Malašaukas: Raimundas Malašaukas, S. 6. 19 | Ebd., 6f.
Ein Überschuss, der der Beendigung widerspricht
glaube, es muss dort gewesen sein. Stell dir nur vor.«20 Die typische Formel, mit der die Märchen der Brüder Grimm beginnen, ruft die Bemerkung Andrea Vilianis zu afghanischen Erzähltraditionen in Erinnerung: »They said that if we record these fairytales in order to protect them, we actually destroy them, because we define and determine them, freezing their constant evolution in time and space, mouth to mouth, century after century«21 (vgl. S. 157). Tatsächlich fixiert der kurze Text zu Kabul nicht, sondern eröffnet einen Raum für eine aus Erinnerungen gespeiste Erzählung – oder vielmehr: unendlich viele Erzählungen, da der Text nicht einmal seinen Gegenstand referiert (vgl. S. 177). Somit ist er offen für jede Erzählung, die sich auf die Erinnerung einer Erfahrung im Hier und Jetzt (vgl. S. 148) bezieht, fordert auf, weiterzuerzählen.22 Ganz ähnlich verhält es sich mit einem anderen Satz: Der Tanz war sehr frenetisch, rege, rasselnd, klingend, rollend, verdreht und dauerte eine lange Zeit.
20 | S. Muradi/Z. Sead: Heimliches Leben, S. 14. 21 | A. Viliani zitiert nach documenta: Afghan Seminars, S. 2. 22 | Vgl. T. Düllo: Ansteckendes Erzählen, S. 36.
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Tiedemann, Kathrin/Frank M. Raddatz (Hrsg.): Reality strikes back II, Tod der Repräsentation, Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt, Berlin 2010. Tiedemann, Rolf/Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1980. Toufic, Jalal: The subtle dancer, 25.10.2010, URL: http://d13.documenta.de/de/#/rese arch/research/view/the-subtle-dancer vom 24.03.2017. Trunk, Wiebke: In Aufbruchstimmung: Fragen an den educational turn beim ›ersten Salon für kritische Kunstvermittlung‹ in Berlin, in: zkmb – online-Zeitschrift Kunst Medien Bildung, Text im Diskurs, Mai 2013, URL: http://www.zkmb.de/in dex.php?id=136 vom 24.03.2017. Ullrich, Wolfgang: Skurril statt skeptisch, Warum der Erfolg der dOCUMENTA (13) ein Misserfolg war, in: Kunst und Kirche, 4/2012, S. 10-13. Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungserfahrung, Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst, Felix González-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal, Bielefeld 2011. Viliani, Andrea: Giuseppe Penone, in: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 286. Viliani, Andrea: Giuseppe Penone, in: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 484. Viliani, Andrea: Jeanno Gaussi, in: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 386. Viliani, Andrea: Kabul – Bamiyan, in: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 456-457. Viliani, Andrea/Nicola Setari: Im Gespräch, in: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Logbuch, Katalog 2/3, Ostfildern 2012, S. 282f. Vogel, Sabine B.: Globalkunst – Eine neue Weltordnung, in: Kunstforum International, Band 220, März-April 2013: Globalkunst, Eine neue Weltordnung, S. 32-59. von Wedemeyer, Clemens/Bettina Röhl: Bambule: Das Regiebuch, 100 Notizen – 100 Gedanken, Band 92, Ostfildern 2012, Buch der Bücher: S. 632-637. Weibel, Peter (Hg.): Kontext Kunst, Katalog zur Ausstellung »Trigon ’93«, Köln 1994. Weibel, Peter: Vorwort, in: ders. (Hg.): Kontext Kunst, Katalog zur Ausstellung »Trigon ’93«, Köln 1994, S. XI-XV. Weibel, Peter: User Art _ Nutzerkunst, in: Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.): YOU_ser, Das Jahrhundert des Konsumenten, Karlsruhe 2007, S. 1-7, URL: http://www06.zkm.de/zkmarchive/www02_youser_you/youser/index_ com_content_16_24_de.html vom 24.03.2017. Weigel, Sigrid/Karlheinz Barck (Hrsg.): Der liebe Gott steckt im Detail, Mikrostrukturen des Wissens, München 2003. Weiner, Lawrence: Absichterklärung, in: Gerti Fietzek/Gregor Stemmrich (Hrsg.): Gefragt und Gesagt, Schriften & Interviews von Lawrence Weiner 1986-2003, Ostfildern-Ruit 2004, S. 22. Weiner, Lawrence: If in Fact There Is a Context, 100 Notizen – 100 Gedanken, Band 8, Ostfildern 2011, Buch der Bücher: S. 110-111. Weitzel, Joshua Raphael: Maybe Education – Arts Based Learning at dOCUMENTA (13), Masterarbeit am King’s College London, 2015.
Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das Brain der dOCUMENTA (13), URL: https://www.sothebysinstitute.com/ news-and-events/news/trends-in-contemporary-curating/ vom 24.03.2017, Foto: unbekannt. Abb. 2: Mindmap von Carolyn Christov-Bakargiev, entnommen aus: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Buch der Bücher, Katalog 1/3, Ostfildern 2012, S. 32, Foto: Nils Klinger. Abb. 3: Vitrine im Brain mit dem Palettmesser von Etel Adnan und Objekten, die im libanesischen Bürgerkrieg zerstört wurden, Foto: Tim Pickartz. Abb. 4: Ein Modell für das Brain im Büro der Künstlerischen Leiterin, entnommen aus: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Logbuch, Katalog 2/3, Ostfildern 2012, S. 82, Foto: Nicola Setari. Abb. 5, 6, 8, 9: Ausstellungspläne, Grafiken: Tim Pickartz. Abb. 7: Blick über den Friedrichsplatz von The Weight of Uncertainty (2012) von Guilemo Faivovich & Nicolás Goldberg aus. Detail: Mann im Turm (2012) von Stephan Balkenhol, links: Foto: Tim Pickartz; rechts: URL: http://blog.photographiedepot.de/2012/07/kassel-2012-sankt-elisabeth-mann-im-turm-stephan-balkenhol/ img_6096/ vom 24.03.2017, Foto: Frank-Heinrich Müller. Abb. 10: Radici di pietra (2012) von Giuseppe Penone im Bagh-e Babur, Kabul, URL: http://www.luzernerzeitung.ch/storage/pic/nachrichten/feuilleton/kunstundarchitektur/386763_1_giuseppe-penone_fullSize_1.17326431.1341577494.jpg?versi on=1341642488 (24.03.2017), Foto: Roman Mensing. Abb. 11: Flyer mit den Namen der Worldly Companions, entnommen von: Postkarte, ohne Nachweis. Abb. 12, 13, 14: Doppelseiten aus If in Fact There is a Context von Lawrence Weiner, entnommen aus: Lawrence Weiner: If in Fact There Is a Context, 100 Notizen – 100 Gedanken, Band 8, Ostfildern 2011, S. 2f., 6f. und 8f., BdB. S. 110. Abb. 15: Plakat For when all that was read was so as not to be unknown (2012) von Judith Barry, zur Verfügung gestellt durch P! Gallery, New York. Abb. 16: Skizze von Pierre Huyghe: Compost Site, Auepark, entnommen aus: documenta und Museum Fridericianum Veranstatungs-GmbH (Hg.): Das Begleitbuch, Katalog 3/3, Ostfildern 2012, S. 263.
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Index und Werkverzeichnis
Dieser Index orientiert sich an der Auflistung KÜNSTLER und andere Teilnehmer im Begleitbuch und nicht an der umfangreicheren Aufstellung im Buch der Bücher, die ebenfalls Autorinnen und Autoren der Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken sowie Mitglieder des kuratorischen Teams aufführt. Der Index wurde ergänzt durch Künstlerinnen und Künstler anderer Ausstellungen, sofern sie für diese Untersuchung relevant sind. Diese Ergänzungen sind durch Kursivsetzung markiert. Die Werklegenden zu den behandelten Werken sind dem Buch der Bücher bzw. den entsprechenden Katalogen entnommen. Der Index verzeichnet auch diejenigen Personen und Gruppierungen der dOCUMENTA (13), die nicht in dieser Arbeit behandelt werden. Dadurch lassen sich Auslassungen und blinde Flecken ausmachen und die notwendige Reduktion auf einige Aspekte kennzeichnen. Abdul, Lida | 206, 214 What We Have Overlooked (2011), 2-Kanal-Videoinstallation, 16-mm-Film übertragen auf Blu-ray, 3.44 Min. Abidi, Bani Adnan, Etel | 141f., 185, 350 Etel Adnans Palettmesser, benutzt seit den 1980er Jahren, Holz, Metall. Aigner, Korbinian | 195 Akhunov, Vyacheslav Akram, Barmak | 212 Ali, Khadim | 212 Allora & Calzadilla | 202 Althof, Kai | 131, 169f., 173f., 179f., 276, 311, 337, 359ff. Brief an Carolyn Christov-Bakargiev. Alves, Maria Thereza Alÿs, Francis | 212 Anastas, Ayreen | 83f., 248, 257f, 266, 345, 353 In the Horizon of the Infinite – Wir haben das Land hinter uns gelassen und sind an Bord des Schiffes gegangen! Wir haben die Brücken hinter uns niedergerissen, nein, eher das Land hinter uns gelassen! Also, kleines Schiff! Pass auf! Hinter dir ist der Ozean; es ist wahr, dass dieser nicht immer voller Wellen ist, und manchmal liegt der ausgebreitet da wie Seide und Gold und sanfte Träumerei. Aber es wird Zeiten geben, an denen du fühlst, als ob er unendlich wäre, und dass es nichts Schrecklicheres als die Unendlichkeit gibt. Oh, der arme Vogel, der sich selbst frei fühlte, und nun an die
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Wand seines Käfigs fliegt! Ach, wenn dich Heimweh nach dem Land überkommt, als ob dort mehr Freiheit herrschen würde, und dann ist dort kein ‚Land‘ mehr! (20072012), verschiedene Materialien wie Zelluloid, DV, HD, singuläre, unmessbare Dauer. AND AND AND (Rene Gabri & Ayreen Anastas) | 84, 266, 299, 309, 311ff., 345, 360ff. commoning in kassel and other proposals towards cultures of common(s), revocation, and non-capitalist life (2010-2012), Material: AND not IS (UND nicht IST), Maße: vielfache Ebenen und Ausdehnungen, Dauer: 101 Tage. Ecce occupy: Fragments from conversations between free persons and captive persons concerning the crisis of everything everywhere, the need for great fictions without proper names, the premise of the commons, the exploitation of our everyday communism…, 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 89. Applebroog, Ida | 84, 248, 278f., 306, 308, 335f., 362 I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS (1969-2011), UltraChrome-Tinte, Farbe, Mylar, Papier, Holz, Pappe, Metallregale, 3,7 x 9,1 x 15,2 m. I SEE BY YOUR FINGERNAILS THAT YOU ARE MY BROTHER: JOURNALS (1969-2011), Performance mit tragbaren Werbetafeln in der Innenstadt von Kassel während der Eröffnungstage der dOCUMENTA (13). Asefi, Mohammed Yusuf | 135 Ashford, Doug | 277 Many Readers of 1 Event (2012), Temperafarbe und Fotografien auf Holz, Maße variabel. Atoui, Tarek | 77, 81, 286f., 312, 362 La Lutherie (2012), Workshop, Gespräche und Laboruntersuchungen über Objekte, Werkzeuge und Instrumente.Metastable Circuit 1 (2011-2012), Installation und Performance, 12 Lautsprecher, 4 sensorbasierte zusammenhängende Module, ein asynchones digitales System bestehend aus 60 computerbasierten Samplers und Sequenzen und eine unbestimmte Anzahl an Klängen und Beispielen. Attia, Kader | 276, 336 Balestrini, Nanni Balkenhol, Stephan | 182, 188ff., 228, 308 Mann im Turm (2012), Aluminium bemalt, Epoxy vergoldet, Höhe 200 cm, installiert im offenen obersten Stockwerk des Campanile der Kirche St. Elisabeth am Kassler Friedrichsplatz. (Ausstellung Stephan Balkenhol in St. Elisabeth, Kassel 2012) Balkin, Amy | 335, 362 Public Smog (2004-fortlaufend), Installation, 200 Briefe, Postkarten-Petition, Forschungs- und Bewerbungsprojekt mit dem Ziel eines permanenten atmosphärischen Parks mit sauberer Luft, Maße variabel. Barry, Judith | 48, 148, 200f., 347ff. For when all that was read was so as not to be unknown (2012), Codex, Maße variabel. Bartolini, Massimo | 195, 285 ohne Titel (Wave) (1997-2012), Becken, Wasser, elektrischer Motor, Gerste, 5 x 9,5 x 1,3 m.
Index und Werkverzeichnis
Baruchello, Gianfranco | 82 Hypothalamic Brainstorming (1962), verschiedene Materialien auf Papier und Leinwand, 110 x 220 cm. Basiony, Ahmed | 148 Video of Tahir Square (2011). Bayrle, Thomas Bel, Jérôme | 77, 86, 212 Disabled Theatre (2012), Live-Performance, 80 Min. Bennett, Gordon Beuys, Joseph | 74, 117, 119ff., 127, 182, 185, 238, 310, 355 Honigpumpe am Arbeitsplatz (1974-77), Elektromotoren, Stahl, Kupfer, Plexiglas, Honig. (documenta 6) 7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung (1982-1987). (documenta 7) Biscotti, Rosella de Boer, Manon Boetti, Alighiero | 206, 209f., 222 Mappa (1971), gewebter Wandteppich, hergestellt in Afghanistan, 147 x 228 cm. Boghiguian, Anna Bourgeois, Louise | 121 Precious Liquids (1992), Holz und verschiedene Materialien, Höhe 426,7 cm, Durchmesser 426,7 cm. (DOCUMENTA IX) Bove, Carol Buch, Kristina | 86, 182ff., 223ff. The Lover (2012), Metall, Holz, Erde, Pflanzen, Schmetterlinge, Maße variabel. Büttner, Andrea Byrne, Gerard | 201, 353 ohne Titel (2012), parallele Projektionen von synchronisiertem Videomaterial, periodisches Abspielen, Dauer variabel. CAMP Cardiff, Janet & George Bures Miller | 84, 145f., 286f., 322, 325ff. Alter Bahnhof Video Walk (2012). for a thousand years (2012), Lautsprecher, Kabel, Verstärker, Computer, ca. 25 Min. Carr, Emily Castillo Deball, Mariana Chan, Paul Chiurai, Kudzanai Christo | 195 5600 Kubikmeter Paket (1967-1968) PVC-übrzogener Stoff, Seil, Höhe: 85 m. (documenta 4) Critical Art Ensemble | 245f., 311f. Winning Hearts and Minds (2012). A Public Misery Message: A Temporary Monument to Global Economic Inequality (2012). Bedenken eines geläuterten Galtonianers, 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 63. Cruzvillegas, Abraham Csákány, István | 285 Csörgö, Attlia Cumella, Antoni
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Dali, Salvador | 178 Darboven, Hanne | 118f., 122ff., 128, 162 Vier Jahreszeiten (1981) Collage, Fotos, Tinte, Papier, 698 Blätter, jew. 25 x 35 cm. (documenta 7) Kontabasssolo, opus 45 (1998-2000), Ausschnitt, 4004 Zeichnungen, 42 x 29,5 cm und 29,5 x 21 cm, Kristallschädel und Schwarzweißfotografie, 42 x 29,5 cm. (Documenta11) Dean, Tacita | 206, 210 c/o Jolyon (2012), 50 alte Postkarten, Gouache, jew. 8,9 x 13,9 cm. Fatigues (2012), Kreide auf Tafel, 6 Elemente, 2,30 x 11,10 m, 2,30 x 5,57 m, 2,30 x 7,44 m, 2,30 x 11,10 m, 2,30 x 5,57, 2,30 x 6,15 m. Dion, Mark | 309ff. Xylotheque Kassel (2011-2012), Holz Glas, elektrisches Licht, Schrankknauf aus Porzellan, hölzerne Einlage, Papier, Pappmaché, Ton, Wachs, Farbe, Draht, Pergament, Leder, Plastik, Tinte, 230 x 448 x 448 cm. Djordjadze, Thea dOCUMENTA (13) | 75, 96, 211ff., 216 The Afghan Seminars: A Position of dOCUMENTA (13) (2010 – 2012). Doherty, Willie Donnelly, Trisha Durant, Sam | 131, 195, 286 Scaffold (2012), Holz, Metall, 10,3 x 14,4 x 15,8 m. Durham, Jimmie | 195, 197, 247 Arkansas-Black-Apfelbaum (2011), gepflanzt von Jimmie Durham. Entwurf für die Apfelsaftflasche (2011), Konzept: Carolyn Christov-Bakargiev, in Zusammenarbeit mit Gerths Fruchtsäften, Reihardshagen. THIS STONE IS FROM THE MOUNTAIN/THIS STONE IS FROM THE RED PALACE (1992), Sandstein, 2 Teile, je 42 x 40 x 48 cm. The History of Europe (2011), Stein, Metall, Papier, Holz, Glas, ca. 100 x 70 x70 cm. Material, 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 49. Epaminonda, Haris & Daniel Gustav Cramer | 284 The End of Summer (2012), Installation, verschiedene Materialien, Maße variabel. Erek, Cevdet | 77, 194, 199ff., 282 Raum der Rhythmen (2010-2012), verschiedene Materialien und architektonische Anbauten, Maße variabel. Faivovich, Guillermo & Nicolás Goldberg | 182ff., 188, 308, 311, 337 The Weight of Uncertainty (2012), Eisen: 3600 kg, 96 x 69 x 69 cm. Faldbakken, Matias Farmer, Geoffrey Farocki, Harun | 125 Deep Play (2007), Mehrkanal-Videoinstallation, Farbe, Ton, Loop 12 synchronisierte Spuren auf 12 Monitoren, Maße variabel. (documenta 12) Fast, Omar | 322f. Continuity (2012), Digitalfilm, Farbe, Ton, 40 Min. Favaretto, Lara | 206, 210, 212, 215 Momentary Monument IV (Kassel) (2012), verschiedene Materialien, ortsbezogene Maße.
Index und Werkverzeichnis
Momentary Monument IV (Kabul) (2012), Bodenkerne, Kisten (jew. 15 x 100 x 40 cm), A4-Dokumente. Flanagan, Barry | 118 Hase (1982). (documenta 7) Floyer, Ceal | 5, 88, 169f., 172ff., 277, 347 ’Til I Get It Right (2005), Audio-CD, Verstärker, Lautsprecher, CD-Player, weiße Verbindungskabel, Maße variabel. Nailbiting Performance (2012), Performance. Foulkes, Llyn | 248, 283 Foushanji, Abul Qasem | 88, 206 ohne Titel (2012), Soundinstallation. Fumai, Chiara | 194, 198, 286 The Moral Exhibition House (2012), Architektur und Information, 4,2 x 7 x 5 m. Shut Up. Actually, Talk (2012), Performance featuring Miss Zalumma Agra, Text von Rivolta Femminile »I say I« (1977), ca. 30 Min. Shut Up. Actually, Talk (The world will not explode) (2012), Gruppenperformance auf dem Dach des Fridericianums featuring Miss Zalumma Agra und die Stars of the East, Texte von Carla Lonzi: »Let’s Spit on Hegel« (1970) und Rivolta Femminile »I say I« (1977), 60 Min. The Prodigy of Nature (2010-2012), Performance featuring Mrs. Annie Jones, die bärtige Lady, ca. 10 Min. Gabri, Rene | 84, 96, 132, 244ff.,255, 257, 266, 289, 345, 353, 360, 371, 373, 376 To write and unwrite every riddle, everything that is fragmentary and affirming the terrible whims of chance (2012), verschiedene Materialien wie Holz, Glas, Tusche, Grafit, Papier, vielfache Ausdehnung. Gander, Ryan | 87, 170, 172, 177, 275, 286 I Need Some Meaning I Could Memorize (The Invisible Pull) (2012), eine leichte Brise zieht den Besucher durch den Ausstellungsraum, Maße variabel. Escape Hatch to Culturefield (2012), Eine Falltür in einem baumreichen Gebiet führt zu einem vom Künstler erschaffenen imaginären Ort mit dem Namen ›Culturefield‹, 20 x 110 x 90 cm. Garcia, Dora | 312ff. KLAU MICH: Radicalism in Society Meets Experiment on TV (2012), Fernseh-Skulptur, Performance, Live- und Internet-TV. Garcia Torres, Mario | 198, 206, 209f., 212, 215f., 369 Share-e-Naw Wanderings (A Film Treatment) (2006), 25 briefgroße Blätter aus Thermopapier, Maße variabel. Have You Ever Seen the Snow? (2010), 90 Dias, Ton, 56 Min.Tea (1391 iranischer Kalender), Videoprojektion, 53 Min. Gates, Theaster | 201, 248, 329, 353 12 Ballads for the Huguenot House (2012), ausgebaute Balken und anderes Baumaterial aus 6901 South Dorchester, Chicago, Video, Ton, 9,1 x 18,3 x 36,6 m. Gaussi, Jeanno | 206, 212f. Family Stories (2011-12), Öl auf Leinwand, 10 Gemälde, jew. 60 x 45 cm, Afghanischer Maler: Ustad Sharif. Peraan-eTombaan (Hose und Hemd) (2012), performancebasierte Videoinstallation; traditionelle afghanische Männerkleidung mit einem Muster aus militärischen Abzeichen.
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Ghani, Mariam | 206, 208, 210, 215, 311 A Brief History of Collapses (2011-12), 2-Kanal-HD-Videoinstallation, Farbe, Ton, 22 Min., Maße variabel. Gill, Simryn | 185, 222 González, Julio | 82, 169f., 174ff., 179f., 222, 275, 311 Tête plate (1930), Eisen, 21,8 x 18,2 x 11,1 cm. Denseuse à la marguerite (1937), Bronze, 48,3 x 29,2 x 10 cm. Homme gothique (1937), Bronze, 56,5 x 27 x 16 cm. Greenford, Tue | 195, 273 The Worldly House (2012), ein Archiv inspiriert von Donna Haraways Schriften über Multispezies-Koevolution. Group Material (Ashford, Doug & Julie Ault) | 317 AIDS Timeline (1989-1990), 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 32. Haacke, Hans | 119, 237, 307, 363 Fotonotizen, documenta 2 (1959), 26 Fotografien in s/w, Gelantinesilberabzug je 15,9 x 24,3 cm. Kontinuität (1987), mixed media. (documenta 8) Haidary, Zainab | 206, 212f. ohne Titel (2012), Gemälde. Hall, Fiona | 286 Hecker, Florian | 374 Chimärisation (2012), elektroakustischer Ton auf drei Kanälen, Lautsprechersystem, ca. 37 Min. Florian Hecker, 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 102. Henderson, Tamara | 131 Hiller, Susan | 77 Die Gedanken sind frei: 100 songs for the 100 days of dOCUMENTA (13) (2011-2012), Interaktive Audioskulptur, verstreut über 5 Orte, Jukeboxes, CDs, Maße variabel. Hirschhorn, Thomas | 43 Bataille-Monument (2002). (Documenta11) Hoheisel, Horst | 145 Aschrottbrunnen (1987), Beton, Sandstein, Stahl, Wasser, 30 x 30 x 12 m. Dokumente zum Aschrottbrunnen (1908-2012), Kopf-Zeichnung (2001), Entwurfskizze (1987), Historische Fotografie (1908), zwei Wartungsaufträge der Stadt Kassel an Horst Hoheisel (1988/2012), Glücksmünzen und Arbeitshandschuh von der Reinigung des Aschrottbrunnens durch Horst Hoheisel und Carolyn Christov-Bakargiev am 29.03.2011. Hopf, Judith | 84, 195, 202ff. Masken (2012), verschiedene Materialien, Maße variabel. Bambuswald (2012), Glas, Papier, Maße variabel. Hourani, Khaled, Amjad Ghannam & Rashid Masharawi | 170, 175ff., 216, 311 Picasso in Palestine (2012), Installation (Postkarten/Zeichnungen von Amjad Ghannam: Tinte und Kaffee auf Papier, 14,5 x 9,5 cm; Video von Khaled Hourani und Rashid Masharawi, Farbe, Ton, 6 Min.). Huyghe, Pierre | 132, 195, 273, 354ff., 361 Untilled (2011-2012), lebendige Wesen und leblose Dinge, gemacht und nicht gemacht, Maße und Dauer variabel.
Index und Werkverzeichnis
Indiana, Robert | 116 Cardinal Numbers (1966), 10 Leinwände, Öl auf Leinwand, jew. 152,4 x 127 cm. (documenta 4) Ivekovic, Sanja | 194, 202, 307 The Disobedient (Reasons for Imprisonment) (2012), Poster, Papier, Offsetdruck, Deutsche Ausgabe (100 Exemplare): 84,1 x 118,8 cm, Englische Ausgabe (100 Exemplare): 100 x 141 cm. The Disobedient (The Revolutionaries) (2012), verschiedene Materialien, Spielzeugesel, Leuchtkasten, ausgedruckter Text, Maße variabel. Jacir, Emily | 248, 306ff. ex libris (2010-2012), Installation mit Handy-Fotografien. Johannessen, Toril Jonas, Joan Jungen, Brian | 195, 273 Dog Run (2012), verschiedene Materialien, 2500 m², 100 Tage. Kaesbach, Rudolf | 134 Kahn, Robin & La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Saharauis Kamandy, Masood | 206, 212 Superpositional (2012), Fotografien, Pigmentdrucke auf Papier, verschiedene Maße. Kanwar, Amar Kentridge, William | 81, 285, 322, 324 Refusal of Time (2012), 5-Kanal-Projektion mit Megafonen und einer Atmungsmaschine (Elefant), ca. 24 Min. Khan, Hassan | 148, 347 Blind Ambition (2012) 1-Kanal-Video mit synchronisierten Stimmen, das HD-Video wurde mit einem Samsung Galaxy SII Mobiltelefon aufgenommen. Kogler, Peter | 120 Ants (1992), Siebdruck auf Papier, 405 x 1010 x 1230 cm, Museum Fridericianum Kassel. (DOCUMENTA IX) Kurenniemi, Erkki Lehmbruck, Wilhelm | 114, 123 Kniende (1911), Bronze, Höhe 178 cm. (Entartete Kunst, München 1937/documenta) Lara, Adriana Larrain Barros, Horacio | 131 Lê, Dinh Q. Lester, Gabriel | 77, 182f., 194, 199ff., 286 Kaufhaus Incidentals – Music for Department Stores (2012), Auswahl an Stummfilmmusik für »Gedanken«, zusammengestellt von John Snijders, vom Ives Ensemble aufgeführt, 14 Stücke. Transition 2012 (2012), EPS, Polyurea, Holz, Metall, Beton, Farbe, Radius: 460 cm. Link, David Loboda, Maria | 84, 195, 285f. This Work is Dedicated to an Emperor (2012), Curpressus sempervirens, verschiedene Materialien, bewegt gemäß verschiedenen militärischen Taktiken, Maße variabel. Lombardi, Mark | 84, 209 Index Cards: Series 1-3 (o.J.), 149 Karteikarten, verschiedene Materialien, 7,6 x 12,7 cm oder 10,2 x 15,2 cm.
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BCCI, ICIC & FAB (1996-2000), Grafit und Buntstift auf Papier, 129,9 x 349,9 cm. World Finance Corporation, Miami ca. 1970-1979 (4th Version) (1997), Bleistift auf Papier, 61 x 137,2 cm. Mark Lombardi, 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 71. López, Aníbal Lucas, Renata | 194, 182f., 187, 199ff., 311 Ontem, areias movediças (Yesterday, quicksands) (2012), Beton, Maße variabel. Lutyens, Marcus und Raimundas Malašaukas | 194, 286 Hypnotic Show in the Reflection Room (2012), Performance, verschiedenen Materialien, 5,8 x 5,3 x 7,9 m. Macuga, Goshka | 206, 208ff., 215, 222, 281 Of what is, that it is; of what is not, that is not 1 (2012) Wandteppich, 5,2 x 17,4 m. Of what is, that it is; of what is not, that is not 2 (2012) Wandteppich, 3,2 x 11,6 m. Maiolino, Anna Maria | 194, 198 HERE & THERE (2012), Installationen (Toninstallation: 2000 kg geformter Ton; Installation aus Pflanzen und verschiedenen Materialien). Malani, Nalini Man Ray | 81, 135, 350 de Maria, Walter | 74, 182, 185, 187 The Vertical Earth Kilometer (1977), Kassel, Platzmitte in der Eingangsachse des Fridericianums, massiver Messingstab, Durchmesser 5cm, Länge 1km, in der Erde versenkt. (documenta 6, auf dem Friedrichsplatz verblieben) Martins, Maria Matarrese, Francesco Mauri, Fabio Mehretu, Julie Menick, John Menke, Christoph | 168, 212, 215f. Metzger, Gustav | 131, 184, 222 Merz, Mario | 117, 119, 127 Iglo di Marisa (1972), 987 stracci bianchi esponenti Fibonacci, Neon, Messing, Tuch, Durchmesser 300 cm. (documenta 5) Miller, Lee | 134f., 138, 145, 152, 156, 222, 328, 350 Verschiedene Fotografien (1930-45), Notizbuch, Ausgaben der Vouge (1945), Fotografie von Adolf Hitler, Badehanduch mit den Initialen AH, Badewannenthermometer, Eva Brauns Parfumflasche, Eva Brauns Puderdose. Mojadidi, Aman | 202, 212 Moon Kyungwon & Jeon Joonho Moore, Gareth | 81, 194, 198 A place – near the buried canal (2011-12). Morandi, Giorgio | 130, 135, 138, 152 Natura morta, s.d. (1949), Öl auf Leinwand, 47,5 x 60 cm. Natura morta (1941), Öl auf Leinwand, 37 x 50 cm. Paesaggio, s.d. (1943), Öl auf Leinwand, 32,8 x 38 cm. Fiori, s.d. (1949), Öl auf Leinwand 34 x 26 cm. Natura morta, s.d. (1936), Öl auf Leinwand, 36 x 30 cm. Cortile di via Fondazza (1958), Öl auf Leinwand, 62,5 x 72,5 cm. Gefäße, Bücher und Fotografien aus Giorgio Morandis Privatbesitz.
Index und Werkverzeichnis
Mroué, Rabih | 146f., 285, 329ff., 362 The Pixelated Revolution (2012), ein nicht akademischer Vortrag. The Fall of a Hair (2012): Teil 1: The Pixelated Revolution, Raum mit Videoprojektion; Teil 2: Thicker than Water, Tisch mit Daumenkinos mit Bildern und mit Knöpfen, mit denen man Tonaufnahmen abspielen kann; Teil 3: Blow Up, Fotografien und Texte; Teil 4: »Eye« vs. »Eye«, 16-mm-Film, Loop; Teil 5: Image till Victory?, Videoprojektion, Loop. Müller, Christian Phillip | 195, 286 Mangold-Fähre (Der Russe kommt nicht mehr über die Fulda) (2012), THW-Pontons, Mangold, Körbe, Erde, Maße variabel. Muholi, Zanele Nauman, Bruce | 120 Anthro/Socio (1991), Videoinstallation. (DOCUMENTA IX) Neuhaus, Max | 69, 120 Three to One (1992), Klanginstallation. (DOCUMENTA IX, im AOK-Gebude an der Schönen Aussicht verblieben) Numminem, M.A. Objekte, die im libanesischen Bürgerkrieg beschädigt wurden (1975-90) | 130, 141 DGA Nr. 13630, Verschmelzungen von Metall, Ebenholz, Glas, Terracotta. DGA Nr. 28108, Kombination zweier Bronze-Figuren (einer menschlichen und einer Tierfigur) aus Ausgrabungen in Byblos aus der Mittleren Bronzezeit. Ohtake, Shinro | 286 Omarzad, Rahraw | 206 Gaining and Losing (2012), Video, Farbe, Ton, 8 Min. Ondák, Roman Onur, Füsun The Otolith Group Panayiotou, Christodoulos Penone, Giuseppe | 73, 81f., 131, 195, 197, 206, 212, 216f., 222, 224, 276 Idee di pietra (Ideas of Stone) (2003/2008/2010), Bronze, granitgrauer Flussstein, 830 x 250 x 220 cm. Radici di pietra (2012), Dauerinstallation, Weißer Carrara-Marmor, lebender Baum, Basis: 53,5 x 120 x 60 cm, Zylinder: 300 x 30,5 cm. Pentecost, Claire | 309 Philipsz, Susan Phinthong, Pratchaya | 185 Picasso, Pablo | 176f. Buste de Femme (1943), Öl auf Leinwand, 100 x 80 cm. Pich, Sopheap Porsager, Lea | 184ff. Anatta Experiment (2012), [Bestandteile: Lebensreform, vielbrüstige Monstrosität, Eizellen, Strukturmutter und Text], Verschiedene Materialen wie Film, Metall, Holz, Bild und Text, Maße variabel. Portnoy, Michael | 285 Preston, Margaret Price, Seth | 182f., 194, 199ff. Folklore U.S. (2012): Spring/Summer 2012 Collection (2011-2012), in Zusammenarbeit mit dem Modedesigner Tim Hamilton, Kollektion bestehend aus 7 Klei-
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dungsstücken zum Verkauf bei SinnLeffers und international: Bomberjacke, Offiziers-Trenchcoat, Gamaschen, Infanterie-Poncho, Flieger-Overall, Fliegerhose, Abfangjäger-Jacke. Letters (2012), Leinwand, bedruckte Futterstoffe, Reißverschlüsse, Schnallen, Taschen etc., je ca. 122 x 243 cm. Spring/Summer 2012 (2011-2012), Fashion-Show an einem Abend, in der die Bekleidungslinie, die in Zusammenarbeit mit dem Modedesigner Tim Hamilton entstanden ist, vorgestellt wird. Prvacki, Ana | 85, 182, 257, 373 Greeting Committee (2012), Gesellschaftsperformance, Videos und Vortrag. Greeting Committee Videos (2012), Ana Prvacki und The Intecollectuals, Regie: Shane Valentino, Video, Farbe, Ton, ca. 8 Min. (6 Teile), Loop. Das Begrüßungskomitee berichtet… , 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 43. Raad, Walid | 12, 133, 150ff., 320ff., 344, 347 Scratching on Things I Could Disavow (2008-heute), verschiedene Materialien: Translator’s Introduction: Pension Arts in Dubai; Section 139: The Atlas Group (1989-2004); Index XXVI: Blue and Green and Yellow and Red and Orange; Appendix XVIII: Plates 22-257; Preface to the Second Edition; Views from Inner to Outer Compartments. Rakowitz, Michael | 178, 206, 210ff., 283, 311 What Dust Will Rise? (2012), 33 zerstörte Manuskripte, in Travertin aus Bamiyan gemeißelt; 5 Keilschrifttafeln aus dem antiken Babylon, 2500 v. Chr., frühe Beispiele für Schriftstücke auf Tontafeln, die im Feuer erhalten blieben; Staub der Buddha-Statuen aus Bamiyan, Afghanistan, die 2001 zerstört wurden; ein Backstein aus dem Sozialwohnungs-Komplex Pruitt-Igoe, St. Louis, entworfen von Minoru Yamasaki, gesprengt am 15. Juli 1972; Bodenfragment aus Granit, World Trade Center, New York, entworfen von Minoru Yamasaki, zerstört am 11. September 2001; Trinitit, ein glasartiges Material aus geschmolzenem Wüstensand, das am 16. Juli 1945 nach der Atombombenexplosion über dem Trinity-Testgelände in Alamogordo, New Mexico, in flüssiger Form vom Himmel fiel; Glas aus der Libyschen Wüste, aus dem Einschlagbereich des Meteoriten, der Libyen vor 26 Millionen Jahren traf; ein Splitter des Meteoriten Arbol Solo, der am 11. September 1954 auf die Erde fiel; ein Granatsplitter von einem Mineneinschlag in einem US-Infanterielager in Bagdad, Irak, 2007; Munitionssplitter von der Zerstörung der Buddhas von Bamiyan, Afghanistan, 2001; ein antikes Amulett, das in der rechten Hand des zerstörten östlichen Buddhas von Bamiyan gefunden wurde und das der Statue Schutz und Kraft geben sollte (eine aus Bamiyan-Stein gemeißelte Replik); eine Bibel aus Stein, von der angenommen wird, dass sie als christliches Amulett einen Ersatz für eine echte Bibel darstellte und von einem Priester gesegnet wurde, um einem Analphabeten spirituellen Schutz zu bieten, Europa, 19. Jh.; Gebetbuch, 8° Ms. theol. 15, auch als Halskrause bezeichnet, in Anspielung auf die starke Deformation der Pergament-Handschrift durch einen Brand, ausgelöst durch die Bombardierung des Fridericianums, in dem damals die Kurhessische Landesbibliothek aufbewahrt wurde, Kassel, 8. und 9. September 1941, 8° Ms. Hass. 267 [1-20]. Rasdjarmrearnsook, Araya | 194f., 198, 286 Village and Elsewhere: In this circumstance the sole object of attention should be the treachery of the moon (2012), 2 Videos, Zaun, Haus, Araya und Prince Jood, Zaun: 13 x 13 m.
Index und Werkverzeichnis
Reid Nakamarra, Doreen Reuter, Hans-Peter | 117 Documenta-Raumobjekt (1977), Museum Fridericianum, Raum: 1400 x 370 x 415 cm, Majolika Fliesen auf Putz geklebt; Bild 351 x 370 cm, Öl auf Leinwand. (documenta 6) Reyes, Pedro | 150f., 267, 286 SANATORIUM (2012), verschiedene Materialien, Gruppenaktivität, 189,95 m2, 100 Tage. Richter, Gunnar | 64, 194f., 202f., 319, 367 Der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit – Eine lokale Studie über ein Verbrechen der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Methoden des Recherierens (1981/2012), Ton-Dia-Reihe, 100 Dias, 35 Min. Ringholt, Stuart Robbins, Ruth & Red Vaughan Tremmel | 194, 198, 326 Subjects of Desire: Relics of Resistance (2012), Relikte: Sterne, Staub, Seide, Lederlaschen, Satin, Zylinder, Ziele für 1966, Korsett, Nippelcover, Klunker, Ölgemälde, eingeäscherte Überbleibsel, Beifall, Schimmel, Fotografien, Seil, Liebesbrief, Tonaufnahmensammlung der Zuschauer der Burlesque, Maße variabel. Rodas, Juana Marta und Julia Isidrez | 138 Rosenquist, James | 116, 119, 127 Fire Slide (1967), Öl auf Leinwand, 84x43 cm. (documenta 4; Maße entstammen dem Katalog, entsprechen aber nicht dem in der Rotunde ausgestellten Überformat.) Ryan, Paul | 85, 87, 286f. Threeing (2012): Programm der »Threeing«-Praxis für die dOCUMENTA (13) erstellt von Paul Ryan und den Hauptbeteiligten: Jean Gardner, Sevanne Kassajian, Luis Berríos-Negrón; Gestaltung Hülle/Pavillion: Luis Berríos-Negrón und Paul Ryan. Ryggen, Hannah Sadr Haghighian, Natascha | 195, 212, 286, 362 Pfad (2012), verschiedene Materialien, Maße variabel. Sala, Anri | 195, 286, 310f. Clocked Perspective (2012), bemaltes Aluminium und Uhrgehäuse aus Glasfasern, metallenes Uhrwerk, stählerne Stützen, Uhr: 400 x 280 x 30 cm, Installationsmaße: 660 x 280 x 30 cm. Salomon, Charlotte Samb, Issa | 80f. Schaber, Ines & Avery F. Gordon/& Gunnar Richter | 194f., 202f., 319, 353 The Workhouse, Room 2 (2012), Installation (Fotografien, Vorhang, Ton), Maße variabel. Walking to Breitenau (2012), Walk, 21. Juli 2012, 11-17 Uhr. Schütte, Thomas | 182, 190 Die Fremden (1992), Keramik, glasiert. (DOCUMENTA IX, auf dem ehemaligen Roten Palais verblieben) Sehgal, Tino | 77, 84, 157, 201, 258f., 282, 328f., 353, 438 This Variation (2012). Serra, Albert Shah, Tejal
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Shawky, Weal Sherzad, Zolaykha | 205f., 215 Hawa-a-Azad (Esprit Libre) (2012), Plissierte handgewebte Seide mit goldener Kaligraphie des Briefes ‚Hedocheshma‘, Maße variabel. Chapan (2012), eine Sammlung antiker ‚chapans‘ mit Stickereien und Amuletten, Maße variabel. ohne Titel (2012), handgewebte Seide mit Holzstruktur, Maße variabel. Solakov, Nedko Song Dong | 195, 285f. Doing Nothing Garden (2010-2012), Alltagsabfall und Baumschutt mit Pflanzen und Neonschrift, 7 x 32,5 x 23,5 m. St. Turba, Tamás | 86, 131 Czechoslovak Radio 1968 (1969-2012), Ziegelstein, Schwefel, Maße variabel. Sukhareva, Alexandra Taanila, Mika Taasha, Mohsen | 206, 213 ohne Titel (2012). Tarakhovsky, Alexander | 178 Téllez, Javier Texmon Rygh, Aase Thornton, Warwick | 84 Mother Courage (2012), mobile Installation, Digitalvideo, Ton, 14.30 Min. Time/Bank | 277, 286f., 304, 317 Tjapaltjarri, Warlimpirrnga Trockel, Rosemarie | 223, 353 Vandy Rattana Vann Nath Villar Rojas, Adrián | 202, 212, 215, 353 Voss, Jeronimo Vu Giang Huong | 135 Warboys, Jessica Waxman, Lori | 312 60 wrd/min art critic (2005-fortlaufend), Installation, Performance, Publikation, Maße und Dauer variabel. von Wedemeyer, Clemens | 80, 194, 202, 325 Muster (Rushes) (2012), Synchonisierte 3-Kanal-HD-Filminstallation, Farbe, Ton, 3 Leinwände: 280 x 500 cm, 3 x 27 Min. Weerasethakul, Apichatpong | 195, 286 The Importance of Telepathy (2012), verschiedene Materialien, Maße variabel. Weiner, Lawrence | 86, 142ff., 198, 201, 222, 274, 311, 338ff., THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF (2012), SPRACHE UND DAS MATERIAL AUF DAS VERWIESEN WIRD, MASSE NICHT ANWENDBAR. IF IN FACT THERE IS A CONTEXT (2011), 100 Notizen – 100 Gedanken, Nr. 8. Yan Lei Yang, Haegue | 285 Zaatari, Akram
Index und Werkverzeichnis
Zalmaï | 206, 213 Ghost War (2012), Fotografie, Ton, 120 x 140 cm. Zeilinger, Anton | 86, 209, 277, 283 Quantenexperimente (2012), Maße variabel. Quantenexperimente (2012), Anton Zeilingers Studenten erklären Quantenexperimente. Zuse, Konrad | 130
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Dank
Mein Dank gilt Prof. Dr. Sabiene Autsch für ihre intensive Betreuung und langjährige Förderung in großen und kleinen Dingen. Außerdem danke ich Prof. Dr. Jens Schröter, Prof. Dr. Sara Hornäk und Prof. Dr. Beate Flath für die Begutachtung dieser Arbeit. Für die Zusammenarbeit an diesem und anderen Projekten sowie die Unterstützung der Publikation danke ich dem documenta archiv, insbesondere Dr. Birgit Jooss, Martin Groh, Susanne Rübsam und Dr. Gerd Mörsch. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dOCUMENTA (13) haben eine Choreografie angelegt, die mich immer noch fasziniert, inspiriert und auch verwirrt. Einige von ihnen aber haben Impulse gesetzt, die möglicherweise wenig in diesen Text aber viel in mein persönliches Denken und Handeln eingegangen sind. Dafür danke ich Ayreen Anastas und Rene Gabri, Chiara Fumai, Carolyn Christov-Bakargiev, Lori Waxman sowie Judith Barry, der ich außerdem dafür danken möchte, dass ihr Codex das Cover dieses Buches um etliche Facetten und Ebenen bereichert. Ich danke der Maybe Education and Public Programs, die mich an ihrem Experiment hat teilhaben lassen, obwohl ich in mehrfacher Hinsicht als Proband ungeeignet schien. Dies richtet sich vor allem an Julia Moritz und Nicola Setari, mit denen ich offene und konstruktive Gespräche führen durfte. Auch dankbar bin ich für den wertvollen Austausch mit etlichen Kolleginnen und Kollegen in der Vermittlung aus diesem und anderen Kontexten. Den Anstoß für meine eigene Forschung verdanke ich dem Vermittlungsteam der documenta 12 durch die von Carmen Mörsch herausgegebene Begleitforschung. Daraus resultiert meine Überzeugung, dass der individuelle Austausch nicht ausreicht, sondern wir immer wieder Position beziehen müssen, um dem ephemeren Charakter von Vermittlung zu begegnen. Nicht locker lassen! Für viele Diskussionen, Kommentare, Fragen und mannigfaltige Hilfe danke ich Anell Bernhard, Lisa Grimm, Stephan Hilpert, Alex Link, Uta Lücking, Marlene Rathgeber, Miriam Schröder und sicherlich einigen, die ich hier nicht genannt habe. Seht es mir nach, auch meine Erinnerungen sind mitunter treibholz-haft… Von Herzen danke ich Karin Wenders und meiner ganzen Familie für die Unterstützung während dieses langwierigen Prozesses. Ohne euch wäre mir diese Arbeit nicht möglich gewesen. Das gilt auch insbesondere für Thilo Pickartz, der nicht nur alle Phasen begleitet hat, sondern mich auch das erste Mal auf eine documenta eingeladen hat. Gewissermaßen hat er dadurch einen ersten Impuls für meinen persönlichen Tanz gegeben.
Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
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Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
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