Bewegung im Reich der Immobilität: Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–49. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen 9783205128014, 3205990285, 3205989457, 3205992105, 3205991028, 9783205993124


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German Pages [570] Year 2001

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Bewegung im Reich der Immobilität: Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–49. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen
 9783205128014, 3205990285, 3205989457, 3205992105, 3205991028, 9783205993124

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bôhlauWien

Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 5 Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Hubert Lengauer · Primus Heinz Kucher (Hg.)

Bewegung im Reich der Immobilität Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848-1849 Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen

bôhlauWien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und die Forschungskommission der Universität Klagenfurt Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich Umschlagabbildung: © Historisches Museum der Stadt Wien Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2001 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck: Berger, Horn

Inhaltsverzeichnis

Hubert Lengauer, Primus Heinz Kucher: Vorwort

IX

GRUNDLEGUNGEN

Ernst Bruckmüller: Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos des 19. Jahrhunderts. Nebst einigen Rand-und Fußnoten von und Hinweisen auf Franz Grillparzer

1

Jiri Koralka: Revolutionen in der Habsburgermonarchie

34

Eduard Beutner: Metternich und seine „elende Umgebung". Strategien der Satire auf Exponenten des ,Systems' bei Franz Grillparzer im Vorfeld von 1848

67

Jane Regenfelder: Bernard Bolzanos ^evolutionäres' Vermächtnis

76

REISEN UND

INSPEKTIONEN

Wulf Wülfing-. „Phantasie" und „Wirklichkeit". Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

93

Harald Schmidt: Reise in die „Ungeniertheit". Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume aus Wien (1836)

108

Martina Lauster: Das Lüften des Schleiers : Gutzkows Wiener Eindrücke (1845)

132

Christian Soboth: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Alexander von Ungern-Sternbergs Ein Fasching in Wien (1851)

150

VI

Bewegung im Reich der Immobilität

Christine Hang: Der Triester Handelskonzern Österreichischungarischer Lloyd - Eine internationale Versicherungsgesellschaft, Reederei und Verlagsanstalt im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der Eisenbahn- und Dampfschiffbuchhandels in der Habsburgermonarchie

R E G I O N E N UND

167

REVOLUTIONEN

Marijan Bobinac: Jelacic, kroatische Schriftsteller und das Jahr 1848

201

László Csorba: Ferencz Pulszky: ein Ungar in der Wiener Revolution von 1848

225

Folco Portinari; Carlo Cattaneo: Intellektueller, Poet und Protagonist der Revolution in Mailand

237

LITERARISCHE

OPPOSITION

Peter Stein: Figuren der Abtrünnigkeit: Helden der Tat und Verräter des Worts - Schriftstellernöte im Vormärz

249

Wolfgang Häusler: Politische und soziale Probleme des Vormärz in den Dichtungen Karl Becks

266

Hugh Ridley: Adolf ν. Tschabuschnigg: Signifìzierung und Zynismus

299

Oliver Bruck: Zwischen , Geistesdruck' und ,Anarchie'. Österreichische Schriftsteller und die Zensur um 1848

311

Herlinde Aichner: Die Revolution von 1848 und die Frage der jüdischen Nationalität: L. A. Frankl und M. Rappaport

333

Christiane Zintzen: Ludwig August Frankl: Revolutionär, Reisender und Kulturfunktionär

362

Inhalt

Michael Perraudin: Das Klischee, Nestroy und die Revolution

VII

390

NACHHALL

Ritchie Robertson: Britische Intellektuelle und Dichter über die Revolutionen in Osterreich und Ungarn 1848-1849

415

Eoin Bourke: Moritz Hartmann und Irland

427

Marie Luise Wandruszka: Wo ist die Macht? Überlegungen zu Franz Grillparzer und Metrie von Ebner-Eschenbach

442

Ulrike Tanzer: Von alten ,Achtundvierzigern',,Gutgesinnten' und Wiener Hetären: 1848 und die Folgen im journalistischen Werk Friedrich Schlögls 458

Werner Michler: Vulkanische Idyllen. Die Fortschreibung der Revolution mit den Mitteln der Naturwissenschaft bei Moritz Hartmann und Adalbert Stifter 472 Eckart Früh: Geduld ihr Brüder! Sozialistische Gedichte zum März 1848; vaterländische und nationalsozialistische zum März 1938 496

ANHANG

Bibliographie

523

Bio-Bibliographische Notizen zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Bandes

537

Personenregister

542

Vorwort

Vor 150 Jahren erschütterte, ausgehend von Paris, eine Welle von Revolutionen den europäischen Kontinent, am anhaltendsten bis August 1849 auch die Habsburgermonarchie. Die hier versammelten Beiträge haben dieses Ereignis, diesen „Höllensturz der Alten Welt" (D. Oehler), zum Anlaß einer Bestandsaufnahme genommen, gehen aber in der Analyse der vielfaltigen und komplexen Ursachen, Abläufe und Nachklänge dieser revolutionären Bewegungen darüber hinaus. Sie spannen interdisziplinär-komparatistisch einen Bogen von der sozial- und ideengeschichtlichen Vorgeschichte über literarisch-publizistische Raum-Zeit-Reflexionen, betrachten die Rolle von Intellektuellen und Schriftstellern in den revolutionären Zentren Budapest, Mailand und Wien und verfolgen ihre Veränderungen hin zu den nationalkollektiven Konsequenzen Heroisierung, Dämonisierung und Verdrängung. In den fünf Abschnitten (Grundlegungen; Reisen und Inspektionen; Regionen und Revolutionen; Literarische Opposition; Nachhall) wird besonderes Augenmerk auf die Dialektik von Innen- und Außensicht, von österreichischen und west- bzw. ostmitteleuropäischen Blickwinkeln gelegt, wobei die gewöhnlich aus dem Zentrum gerückten, aber den Revolutionsverlauf insgesamt mitbestimmenden Schauplätze Budapest/Ungarn und Mailand/Oberitalien neu und originell beleuchtet werden (Bobinac, Csorba, Portinari). Ausgangspunkt des Bandes bilden Beiträge über den Reformstau im vormärzlichen Osterreich und das Bedürfnis nach historischer Mythenbildung in der postrevolutionären Periode. Ernst Bruckmüller legt einen Rahmen um die kontroversiell, auch provokant angelegten Leitbegriffe von Bewegung und Immobilität und skizziert die strukturellen Vorbedingungen für die Revolution. Es bestand Reformbedarf einerseits (besonders in der Landwirtschaft), der gesellschaftspolitische Fragestellungen aufwirft; zunehmend spürbar war auch der Reformdruck des Bildungsbürgertums bei einer gleichzeitig eher satten Zufriedenheit des Wirtschaftsbürgertums; es gab einen Reformwillen der Stände (Viktor v. Andrian), Not der Unterschichten und die „nationale Frage" und aus all diesen Komponenten entstehende Verknüpfungen und Allianzen. Bruckmüller beschreibt die daraus erfolgenden Initiativen und vorrevolutionären Veränderungen. Diese Heterogenität setzt sich in der Revolution fort. In ihrem Ablauf entwickelt sie sich vom

χ

Bewegung im Reich der Immobilität

idealisierten Bürgerwunsch zum proletarisch eingefärbten Bürgerschock: der sozial-ideologischen Spaltung der Revolution im Spätsommer 1848, insbesondere in Wien, folgt die militärische Niederwerfung im Oktober. Der Neoabsolutismus bedeutet politischen Rückschritt bei gleichzeitiger Verwaltungs-Modernisierung; die dominante Rolle der Bürokratie führt das Ende des feudalen Zeitalters herauf. Die folgende Epoche setzt ein imperiales Gemeinschaftsbewußtsein als „Mythos" gegen die nationalen Gründungs-"Revolutionen" (den ungarischen Nationalismus, das Risorgimento, den tschechischen Nationalismus usw.). Die identitätsstiftende Wirkung von Dynastie, Heer, vaterländischer Geschichtsschreibung und Unterrichtung (in der die Revolution von 1848 wenig Platz und Würdigung fand) ist „Inszenierung" oder „Invention"(E. Hobsbawn); auch im Hinblick auf die neuen Massenbewegungen scheint dies erforderlich als „Kitt für die problematisch gewordene Monarchie". Die Bedeutung der Literatur wird zurückgedrängt, die Revolutinsliteraten werden diskreditiert oder ziehen sich zurück; die Literatur bleibt aber (besonders mit Grillparzer) zu würdigen als wesentlicher Teil der Erinnerungskunst, die wir bis zur Gegenwart üben. Jiri Koralka skizziert in seinem Beitrag das weite Panorama der revolutionären Konstellationen auf d e m Territorium der Habsburgermonarchie und rückt dabei vor allem die vielfach einander gegenläufigen Emanzipations- und Revolutionserwartungen in den Mittelpunkt, insbesondere die komplizierten Verhältnisse in den slawischen und slawohungarischen Ländern. Trotz durchwegs negativer Ausgänge setzte die Periode von 1848 bis 1849 sowohl sozial-strukturell als auch politisch eine Dynamik frei, die einen Industrialisierungsprozeß und damit eine Anbindung vieler Territorien an Westeuropa ermöglichte; selbst durch die neoabsolutistische Regierungspraxis waren die Ideen der sprachlich-kulturellen und politischen Gleichstellung der Nationalitäten langfristig nicht zu unterdrücken. Die Imposanz der Literatur im Vormärz gründet sich ganz wesentlich auf die Einschränkungen und Verbote, mit denen sie belegt war. In ihrer Gegenoffensive gegen das als repressiv erfahrene System entwickelt sie spezifische Techniken des Widerstands, unter anderem die moralisierenden Strategien der Satire. So ist die ironische Demontage Metternichs und seines Systems bzw. seiner „elenden Umgebung" der Gegenstand Grillparzerscher Polemiken, die freilich unveröffentlicht bleiben. Das denunzierte Sybaritentum der Metternich und Gentz erzeugt hier eine Mythisierung im Negativen, so E. Beutner; die Dämonisierungen und blasphemischen Anrufungen

Vorwort

XI

(„Vater Metternich") wirken als Gegenmythos zum „guten", moralischen Herrscher Joseph, dem Helden zahlreicher panegyrischer Gedichte, die ihrerseits die Unfähigkeit des „guten" Kaisers Ferdinand und die Schlechtigkeit der hinter ihm Regierenden bloßlegen sollen. Enttäuschte „Revolutionäre" wie Bernard Bolzano (der den kritischen Diskurs im Vormärz wesentlich gefördert hatte) bleiben in ihrer Präferenz für Reformpolitik in der Revolution selbst im Hintergrund und entfalten die eigentliche Wirkung ihrer Sozial- und Bildungsutopien erst im Nachmärz (Jane Regenfelder). Die Monarchie als „Konglomerat von Nationen" (Hegel) bzw. als Gespann „wie widersinnig gekuppelter Pferde" (Grillparzer, 1830) war dabei seit den späten dreißiger Jahren im aufmerksamen Blickfeld der „modernsten" Textsorte der Zeit: des Reiseberichtes. Im Verhältnis zu den (realen oder imaginierten) Zentren der historisch-sozialen Bewegung der Zeit erscheint die Habsburgermonarchie vielfach als Peripherie oder gar schon jenseits der zivilisatorischen Grenze (in Asien) liegendes Gebiet. Kontrasterfahrungen, Behauptungen oder Widerlegungen eines politischen, literarischen oder zivilisatorischen Gefälles, konfessionelle Grenzen und lebensweltliche Eigenheiten werden von den reisenden Beobachtern registriert. Von besonderem Interesse sind dabei - neben den (Fhicht)Reisen aus Osterreich hinaus (Wülfing zu Grillparzer) - die norddeutschen Perspektiven, die über Glaßbrenner, Gutzkow und Ungern-Sternberg im Rahmen eines sich ausbildenden Nord-Süd-Diskurses referiert werden (Schmidt, Lauster, Soboth) und dabei auch Momente der spezifischen habsburgischen Stabilität und des ästhetischen Eigensinns eines anderen Wegs zur Moderne aufnehmen. Wer im Vormärz die Grenzen des Deutschen Bundes überschreitet, begibt sich in eine „revolutionäre Situation in nuce", so charakterisiert Wulf Wülfing den politisch-literarischen Stellenwert der Reiseliteratur. Der reisende Österreicher in den Gesellschaften und politischen Systemen des Westens ist hier in besonderer Weise exponiert. Die Welt außerhalb des Systems, außerhalb der geschlossenen Anstalt der Habsburgermonarchie, ist fremd und überwältigend. Nirgend sonst kommt diese Erfahrung deutlicher und drastischer zum Ausdruck als in Grillparzers Reisenotizen zu seinen Aufenthalten in Paris und London. Die Reisesituation simuliert oder antizipiert in gewisser Weise die revolutionäre. Die Wahrnehmung der coincidentia oppositorum, der Gleichzeitigkeit von Heterogenem ist zugleich Reise durch die Geschichte und Reise in die Zukunft. Das Erlebnis der

XII

Bewegung im Reich der Immobilität

„Straßen", wie es Grillparzer in Paris aufzeichnet, sollte zu einer Grunderfahrung des späten 19. Jahrhunderts avancieren; die historische und ökonomische Dimension des britischen Weltreichs steht dem österreichischen Dichter ästhetisch durch Shakespeare vor Augen. Faszination und Widerwärtigkeit des Reisens bzw. der Geschichte treten dabei gleichzeitig und ambivalent auf und nehmen ein Verständnisproblem in der späteren Revolution vorweg: das der sozialen Dynamik, die sich teilweise unkontrolliert freisetzt. Adolf Glaßbrenners „Bilder und Träume" (1836, 4 Auflagen!) goutieren das „Ungenierte" des ,Südens' und geben dafür stereotypisierte Vorzüge des ,Nordens' preis. Protestantische Utopie und moderne Bildung treffen auf die zivilisationskritischen Strategien des Grobsinnlichen der Volkskomödie, des Witzes und der habituellen Zwangslosigkeiten der Wiener. „Hedonismus" als „dionysische Befreiungsveranstaltung" (im Sinn Heines) einerseits, sowie als „präzise kalkulierte obrigkeitliche Verdummungsveranstaltung" anderseits liegen als Potential dieser Gesellschaft zugrunde. Der Text Glaßbrenners, so Harald Schmidt, spiegle diese Komplexität auf durchaus widersprüchlichen Argumentationsebenen, welche Emanzipationspathos zelebrieren und gleichzeitig emanzipatorische Ansätze ironisch demontieren. Der Kontrast von protestantischer ,Bewegung' und katholischem Stillstand' ist ein Klischee der deutschen Liberalen auf ihren Reisen nach Osterreich. Karl Gutzkow wiederholt es 1845 und kann eben deshalb in seiner moralistisch-beschränkten Nestroy-Kritik das politische Potential dieses Volksdramatikers nicht erkennen. Ein norddeutsch-nationalstaatliches Konzept und ein Feindbild „große Stadt" kann sich aber dennoch der Faszination nicht verschließen und erstrebt (in erotischer Bildlichkeit angedeutet) ein „Lüften des Schleiers" (Martina Lauster) , will heißen: eine intellektuelle Prüfung von Österreichs Modernisierungspotential. Politisches Räsonnement will den sinnlichen Schein durchdringen. Erst nachrevolutionär kommen die - vielleicht auch unterschwellig gelernten - Lektionen zu literarischer Wirkung: das Verhältnis von Schleier und Wahrheit verkehrt sich, die Sinnlichkeit auf der Bühne, die vordem die Unfreiheit draußen verhüllt hatte, demaskiert sie nun. Nestroy hatte allerdings schon in der Revolution die Reichweite solcher theatralischen Demaskierungen demonstriert. In „Freiheit in Krähwinkel" reduziert er die politischen und sozialen Antagonismen auf Klischees und läßt diese gegeneinander agieren. Michael Perraudin öffnet mit Hinweisen

Vorwort

XIII

auf Heine und Flaubert die europäische Dimension des Verfahrens, die zugleich eine Wiener vorstädtische ist und eine Autoritätsfeindlichkeit erzeugt, mit der die Pathetiker der Revolution ebenso wenig anzufangen wußten wie vordem die in der jungdeutschen Wolle gefärbten Liberalen. Sprache und Sprache des Körpers, Grimasse und Slapstick, größte Deutlichkeit auf dem Umweg über das „undeutliche" (aber in seiner Falschheit denunzierte) Klischee bilden den Kontrast zum Pathos der Täter und Renegaten. Wie im „18. Brumaire des Louis Bonaparte" von Marx erscheint die Revolution hier als nachgespielte Tragödie und also als „Farce". Das Interesse am ,Süden' setzt sich auch in die unmittelbare RevolutionsNachbesichtigung fort. Alexander Ungern-Sternbergs „Fasching in Wien" (1851) versteht sich dezidiert als Versuch, das ,Neue' von und nach 1848 in Osterreich auszumachen. Dieses Neue wird vor allem auf die sichtbaren Phänomene der Alltagswirklichkeit bezogen (Eisenbahnen ζ. B.) und mit der politisch-sozialen Realität verschränkt. Zunehmendes Eintauchen in die Innenstadt hat freilich zur Folge, daß der museale, zeitresistente Gedächtnisraum in Konkurrenz zum Neuen tritt, den Reisenden am Ende irritiert und unentschieden zurückläßt, wie Christian Soboth herausarbeitet. Nachrevolutionäre Reisen erhalten einen anderen Charakter. Moritz Hartmanns Reise nach Irland ist noch deutlich geprägt vom Vormärz und den revolutionären Erfahrungen. Irland bedeutet aber eine entschiedene und spezifische Erweiterung der lokalen Erfahrung und jener (tschechisch-) nationalen Themen, mit denen der Autor reüssiert hatte und ist gerade aus irischer Sicht (Eoin Bourke) ein wichtiger Beitrag der irischen wie der kontinentalen Geschichte. Der Pauperismus, die soziale Frage, Themen seines Dioskuren-Bruders in der Poesie, Alfred Meißner, treten nun in den Vordergrund. Industrialisierung, Interesse für die Unterdrückten, gesellschaftliche Normierungen, Kritik am englischen Kolonialismus machen Irland zum Thema der radikalen Intelligenz in Europa. In England hatten es die „großen Männer der Revolution" (Marx) nicht leicht. Der Anschluß an die englischen Intellektuellen gestaltete sich (gerade auch im Falle Hartmanns) als schwierig. Ritchie Robertson behandelt die differenzierten Stellungnahmen von Lord Brougham, Monckton Milnes', John Stuart Mills, Thomas Carlyles und anderer und zeigt die überwiegende Skepsis gegenüber der Revolution und gleichzeitige Präferenz für reformerische Umgestaltung. Wer nicht exiliert war, wie Hartmann, konnte sich zurücklehnen, auch in

XIV

Bewegung im Reich der Immobilität

den Coupés der Eisenbahnen. Reisen nach der Revolution ist für zunehmend breitere Schichten zugänglich und wird kommerzialisiert wie die dazugehörige Literatur. ,Reiseliteratur' (so Christine Haug) bekommt einen andern Sinn und ornamentiert die bürgerliche Machtübernahme auf dem schleichenden, dampfenden Weg der Modernisierung. Das literarische Geschäft mit der Reise ist ein Kapitel Buchgeschichte und ein Symptom der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1848. Daß die Revolution in Wien und ihr Scheitern im Oktober 1848 maßgeblich von anderen Schauplätzen her mitbestimmt war, allen voran von Ungarn, aber auch von Italien, ist zwar vom negativen Ausgang her bekannt, wird aber hinsichtlich der politischen Programmatik meist unterschätzt. Marijan Bobinac geht in seinem Beitrag etwa der Frage nach, warum die kroatischen Emanzipationsbestrebungen beinahe nahtlos in eine pro-österreichische, restaurative Praxis einmünden konnten. Am Beispiel der drei führenden kroatischen Intellektuellen und Schriftsteller Mazuranic, Vukotinovic und Kukuljevic wird deutlich gemacht, daß die ursprünglich liberalreformerischen Ideen, die in Landtagsreden selbst durch den Banus Jelacic bemüht wurden, unter dem Druck der militärischen Konfrontation mit Ungarn und der Negierung des Nationsstatus durch Lajos Kossuth schrittweise in den Hintergrund traten und in der Folge auch die reformerischen Projekte in Kroatien desavouierten. Mit dem Beitrag von Folco Portinari über Carlo Cattaneo wird wiederum eine schillernde und insbesondere im österreichischen Kontext vielfach unterschätzte Gestalt der Mailänder Revolution in Erinnerung gerufen. Wie kaum ein anderer Protagonist des italienischen Risorgimento verkörperte Cattaneo eine von Ökonomie und konkreten Reformprojekten bestimmte Linie gradueller, aber konsequenter Demokratisierung, welche auf föderalistischer Grundlage eine spätere nationale Einigung bewirken sollte. Portinari führt vor, wie Cattaneos Maxime der ,Freiheit vor der Unabhängigkeit' durch das Gewicht Piemonte und durch die konkurrierenden, auf raschen ,Erfolg' ausgerichteten nationalstaatlichen Ideen dem vorwiegend rhetorischem Zwang des Faktischen geopfert wurden, - eine Weichenstellung, die, so Portinari, bis in die Gegenwart die Modernisierung des Staates gehemmt habe. Ein besonderer Teil der Arbeiten wendet sich literarischen Repräsentanten und Formen der Revolutionsvorbereitung und -darstellung zu (Beck, Frankl,

Vorwort

XV

Nestroy, Lyrik, Dramatik). Peter Stein entwirft im Grundriß die Rollenproblematik der Schriftsteller im Vormärz am Beispiel des Attentäters Karl Ludwig Sand. Die Helden des Worts drängt es, Helden der Tat zu werden, Blut statt Tinte fließen zu lassen oder, in Tateinheit von Dichtung und Politik, beides. In dieser Grundlegung sind die Figuren des Helden und des Feiglings, des Märtyrers und des Renegaten beschlossen. Georg Herweghs Aktion endet im Desaster, seine Verabschiedung der Blutzeugenschaft zieht die Denunziationen der Zeitgenossen nach sich. Der versagende Held und der Abtrünnige werden Stereotypen der Zeit. Mit der Zensurpetition Bauernfelds (1845) ergab sich auch in Österreich eine Gelegenheit für Zivilcourage oder Opportunismus (Oliver Bruck), die Revolution schließlich bot in ihrem Verlauf entsprechende Profilierungs- und Rückzugsmöglichkeiten; die Konversionsgeschichten oder Starrköpfigkeiten bis zum Amnestie-Jahr 1867 kennzeichnen die nachfolgende Epoche auch dahingehend treffend als „Nachmärz", als die Wirkungen dieser Verhaltensmodelle nachdauern. Ein Paradebeispiel eines ,Abtrünnigen' stellt Karl Beck dar, dessen Scheitern in der konkreten Revolutionssituation Wolfgang Häusler in den weiteren Kontext seiner vormärzlichen Produktion stellt. Ein mögliches Erklärungsmodell für Becks habsburgische Wende ist die Spannung zwischen dem Erwartungsdruck, welche Werke wie „Jankó" oder „Die Lieder vom armen Mann" vor 1848 erzeugten, und der Ausdifferenzierung „der Intellektuellen jüdischer Herkunft im Prozeß der bürgerlichen Emanzipation". Friedrich Schlögl singt noch viel später das Lob der Gesinnungstreue der „alten Achtundvierziger", zu denen er nur bedingt, als begeisterter Zuschauer (und Subalternbeamter!), nicht als Täter zu rechnen ist. 1848 bleibt, wie Ulrike Tanzer feststellt, ständiger ideeller oder sogar thematischer Bezugspunkt fur sein Lokalfeuilleton und bestimmt seine sozialen Sympathien; er wird zum Gegner jener Verräter der Revolution, die in der Gründerzeit und im Krach von 1875 ihre Prinzipien verkauften; und jener, die das schon 1849, als Denunzianten (die 'Gutgesinnten' von damals) getan hatten. Ubergänge in den „Nachmärz" können aber nicht nur auf dieser Ebene des Moralisch-Politischen verfolgt werden, sondern in einem enger literarischen Sinn auf der Ebene der Bildlichkeit. Die Beobachtung und Verallgemeinerung katastrophaler oder kontinuierlicher Vorgänge in der Natur, unterschiedlich bei Hartmann und Stifter, erweist sich als Konsequenz politischer Präferenzen in scheinbar unpolitisch dargestellter Natur-Idylle. Daß dabei wieder und zunehmend auf Naturwissenschaft (bzw. deren kontroverse Hypothesen) zurückgegriffen wird, kündigt das Legitimationspoten-

XVI

Bewegung im Reich der Immobilität

tial des naturwissenschaftlichen Diskurses an, das in den folgenden Jahrzehnten mit Karl Vogt, Charles Darwin u.a., wie Werner Michler hier und in anderen umfänglichen Untersuchungen gezeigt hat, auch für die Literatur von erheblicher Bedeutung sein wird. Mit Fortgang des Jahrhunderts wird die Revolution zum Stoff für Memoiren, das Fähnlein der alten ,Achtundvierziger' schrumpft. Unter den Wiener Helden des Wortes n a h m Ludwig A. Frankl, Verfasser des ersten „zensurfreien" Gedichts bekanntlich eine Protagonistenrolle ein. Während Herlinde Aichner in ihrem Beitrag Frankls Rolle vor dem Hintergrund der jüdischen Emanzipation und im innerjüdischen Kontext, insbesondere im Vergleich zu Moritz Rappaport, ausleuchtet, widmet sich Christiane Zintzen den vielseitigen Rollenprofilen, unter denen Frankl vor und nach 1848 in der literarischen Öffentlichkeit präsent war - auch im Sinn einer „professionellen 1848er Verwertungsindustrie". Zum Ende des Jahrhunderts, das zeigen die Feiern zum Gedenken der Revolution 1898, wollte von den politischen Kräften nur die Sozialdemokratie das Erbe des März antreten und bewahren. Sie beerbt die „Märzopfer", auch und besonders in Festgedichten und lyrischen Texten bis in die Zwanziger- und Dreißigerjahre hinein (Luitpold Stern, Jura Soyfer) ; Eckart Früh stellt eine merkwürdige Konvergenz in der Bildlichkeit fest, die 1938, im März des ,Anschlusses' eine besondere und gegenläufige Funktionalisierung erfahren sollte und noch einmal auf den widersprüchlichen Charakter der Revolution von 1848 zurückweist. Am lyrischen Pathos entlang wird auch die historische Entwicklung der Sozialdemokratie ersichtlich, die den ,Anschluß' weitgehend befürwortete und erst 1948, 100 Jahre nach der Revolution, verwarf. Den Vorstellungen politischen Handelns hatte die Revolution in breiten Kreisen zweifelsohne einen Dämpfer aufgesetzt und damit jene Skeptiker des Handelns bestätigt, die seit und nach Grillparzer für österreichische Literatur und Kultur traditionsbildend wurden. Diese Skepsis produziert jedoch (wie Marie Luise Wandruszka mit Beispielen aus Grillparzer und Marie von Ebner-Eschenbach zeigt) auch Alternativen zu dem, was in der Revolution als einzige Form fortschrittlichen' politischen Handelns denkbar schien und doch - in der Form von Zweckrationalität, Nationalismus und dergleichen - auch seine bedenklichen Seiten zeigte. Die Dispersion der Macht, ihre Verästelung, vielleicht auch Verdünnung, aber auch Infiltration in die weiten Bereiche des ,Lebens' läßt für die späte Habsburgermonarchie die Frage nach dem Ort der Macht („Wo ist die Macht?") berechtigt

Vorwort

XVII

erscheinen. Sie wurde unterschiedlich beantwortet; zum einen wird das Macht-Vakuum (oder Wert-Vakuum, wie Broch sagt) konstatiert, zum andern das „Fortwursteln" als Technik dilatorischer Machtausübung. Franz Kafka hat - das Unscheinbare, Unsichtbare, aber Hintergründige, Anonyme von Machtausübung erfassend, - die Frage nach dem Ort der Macht am nachdrücklichsten gestellt. In einer überraschenden Analogie hat Hugh Ridley den ritualisierten-mechanisierten Formen der Gewalt („In der Strafkolonie") einen scheinbar regionalen Text eines Kärntners aus dem Vormärz entgegengestellt: Adolf von Tschabuschniggs Roman „Die Industriellen". Die Regional-Erfahrung des Klagenfurter Intellektuellen zeitigt ein Modell der gesellschaftlichen Entwicklung, der Organisation der Arbeit, die von Friedrich Engels als das zentrale Problem der heraufkommenden Zukunft bzw. Geschichte schlechthin gesehen wurde. Als einer der wenigen Autoren der Literatur der Frühindustrialisierung hat Tschabuschnigg die „Trostlosigkeit von Kafkas Welt" antizipiert; brutale Klarheit und „Kühle" im Text sind apart in einer Literatur, die, wenn sie schon das Thema aufgriff, Sozialromantik triefen ließ. Tschabuschnigg vermittelt eine Ahnung vom Systemcharakter der Ausbeutung, von der Entmoralisierung und von der „wertzynische Motorik" des aufkommenden Industriezeitalters. Tschabuschniggs mechanische Prügelmaschine ist der primitive Prototyp des Instruments, das in Kafkas „Strafkolonie" den Körpern das Gesetz einritzen wird. Die betrachtete Epoche ist so nicht geschlossen und in einem hermeneutischen Verständnis auch nicht abschließbar. Gerade die Vielfalt der Methoden erweist und ermöglicht, daß das, was immobil schien in Ort und Zeit: die Habsburgermonarchie vor der Revolution von 1848, unter den Augen des Betrachters in Bewegung gerät und das Potential an Veränderung, das es enthält, freisetzt. Auch ein Sammelband wie der vorliegende ist nicht „geschlossen" und monolithisch, und in einem praktischen Sinn auch schwer abschließbar. Daß es trotzdem gelungen ist, liegt zu einem sehr großen Teil an der Kooperationsbereitschaft und Mithilfe der vielen, die daran gearbeitet haben: die Autoren der Beiträge, die Kreativität und Geduld bewiesen haben; Frau Barbara Grießer und Frau Andrea Kopeinig, welche die Panikattacken bei der Konvertierung und Speicherung des Texts abgewendet haben; Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz, die verlegerische Umsicht und Großzügigkeit walten ließ; Herr Michael Rauscher, der das „Potential an Veränderung" bei der

Fahnenkorrektur geduldig ausglich, und schließlich Frau Mag. Elisabeth Frei, die aufmerksam mitredigierte und das Register erstellte. Ihnen allen gilt unser Dank. Hubert Lengauer, Primus-Heinz Kucher

Grundlegungen

Ernst Bruckmüller

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos des 19. Jahrhunderts. Nebst einigen Rand- und Fußnoten von und Hinweisen auf Franz Grillparzer

1. D I E STRUKTURELLEN VORBEDINGUNGEN FÜR DIE R E V O L U T I O N E N VON

1848

Das vormärzliche Österreich steckte in einem dichten Reformstau. Eines jener Probleme, die man durch Jahrzehnte ungelöst vor sich herschob, war die Frage, ob, wann und wie die feudalen Belastungen der Landwirtschaft ein Ende finden sollten. Schon die agrarpolitischen Maßnahmen Josephs II. (1780-1790) hatten ja darauf abgezielt, die öffentlich-rechtliche Position der Grundherren immer mehr zu reduzieren. Letztlich wären seine Maßnahmen darauf hinausgelaufen, das Institut der Grundherrschaft seiner feudalen Inhalte zu entkleiden und die Feudalbeziehung zwischen Grundherren und Bauern in eine Art Pachtsystem umzuwandeln. Ein Sturm der Entrüstung aus adeligen und kirchlichen Kreisen zwang Joseph II. noch vor seinem Tod, dieses Steuer- und Urbarialpatent zurückzunehmen. Die Grundherrschaft blieb also, und es blieben für die Bauern verschiedene daraus resultierende Verpflichtungen, Arbeits-, Natural- und Geldrenten. Andererseits blieben aber auch alle anderen josephinischen Maßnahmen in Kraft, die vor dem Steuer- und Urbarialpatent erlassen worden waren, also vor edlem die Aufhebung der Leibeigenschaft, das Untertansstrafpatent, die Möglichkeit der Umwandlung von Robotleistungen in Geldzahlungen, die Freizügigkeit der Bauern usw. Es blieb auch bei der starken obrigkeitlichen Überwachung (und Indienstnahme) der Grundherrschaften durch den Staat. Dann kamen die langen Kriege gegen Frankreich (1792 bis 1815), und die Leute hatten andere Sorgen. In den 1850er Jahren zeigte sich in vielen Gegenden neuerlich eine kräftige Renitenz der Bauern gegen grundherrliche Forderungen. Die niederösterreichischen Stände, von denen die drei oberen (Prälaten, Herren und Ritter) ja Grundherren waren, schlugen schließlich vor, die Ablösung der feudalen Lasten zu ermöglichen, entweder durch Zahlungen oder durch

2

Grundlegungen

Grundabtretungen der Bauern an die Grundherren. Die Regierung in ihrer panischen Angst vor jedweder Veränderung lehnte dies ab. Erst der galizische Aufstand von 1846 brachte etwas Bewegung in die reformscheue Wiener Szene. Schließlich wurde im Dezember 1846 ein Gesetz von 1798 neuerdings verlautbart, mit dem Zusatz, daß auch Grundabtretungen an Stelle von Geldablösen möglich sein sollten. 1 Die Bauern mißverstanden aber die ,freiwillige' Ablösung als ,freie' und dachten, sie könnten die Freiheit von allen Feudallasten umsonst bekommen! So stellten nicht wenige schon 1847 die Zahlungen und Abgaben ein, und es bedurfte größter Anstrengungen der herrschaftlichen Amtleute, um die Bauern noch zur Zahlung zu zwingen. 2 Ein zweiter Herd der Unzufriedenheit war das Bürgertum. 3 Die Revolution von 1848 wird ja oft überhaupt als bürgerliche' Revolution bezeichnet. Besonders marxistisch inspirierte Interpretationen bevorzugen diesen Terminus, der jene beschleunigten gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen zusammenfassend benennen soll, durch welche die ,feudale' Gesellschaftsordnung in die bürgerliche' bzw. kapitalistische' verwandelt wird. 4 Nun wird man im allgemeinen wohl dem Gedanken zustimmen, daß die Revolution die volle Durchsetzung einer bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung gebracht hat - aber vorbereitet und getragen hat das Unternehmer-Bürgertum (die ,Bourgeoisie') die Revolution keinesfalls. Im Gegenteil: Das unternehmerische Groß- und Mittelbürgertum war im allgemeinen mit den Zuständen im Vormärz, vor allem mit den zahlreichen Einfuhrverboten für ausländische Waren, recht zufrieden. Von hier war keine Revolution zu befürchten. 1

Viktor Bibl : Die niederösterreichischen Stände im Vormärz. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Revolution des Jahres 1848. Wien 1911; Ernst Bruckmüller: Die Grundherren, die Bauern und die Revolution. In: Hans Kudlich und die Bauernbefreiung in Niederösterreich (Katalog des Nö. Landesmuseums N F 134). Wien 1983, S. 57-76;

2

Roman Rosdolsky: Die Bauernabgeordneten im konstituierenden österreichischen Reichstag 1848-1849. Wien 1976, S. 14 ff; Bruckmüller, Grundherren, S. 70 f.

3

Dazu hinkünftig Ernst Bruckmüller: Revolution, Bürgertum und Civil Society. In: Jahrbuch des Κ. v. Vogelsang - Instituts 1998.

4

Grundsätzlich zur Begrifflichkeit vgl. M.Riedel, Artikel Bürger, Staatsbürger, Bürgertum. In: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe 1. Stuttgart 1972, S. 672-725. Hier freilich keine Bezüge zu den österreichischen Verhältnissen. - Zu Marx und der bürgerlichen Gesellschaft' vgl. Karl Marx's social and political thought, 4. Civil society, ideology, morals and ethics. London 1993.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

3

Wirklich unzufrieden war hingegen das Bildungsbürgertum. Die Gelehrten, die Journalisten, die Professoren und insbesondere die Schriftsteller (was häufig noch dasselbe war) hatten ein zentrales Feind-Symbol, die Zensur, und eine zentrale persönliche Feindfigur, Metternich. Es ist ja bezeichnend, daß die einzige relativ offene Äußerung bürgerlicher Unzufriedenheit in Wien jene bekannte Schriftstellerpetition vom 11. März 1845 war, die sich gegen die Zensur richtete und ein eigenes Gesetz für deren Vorgehen forderte. Franz Grillparzer hatte sie als dritter unterzeichnet, doch drückten sich Endlicher und Hammer-Purgstall bei der Drucklegung von ihren Spitzenpositionen, sodaß der überloyale Direktor des Hofkammerarchives irgendwie sogar als Rädelsführer erschien. 5 Zusammen mit anderen Gruppen wurde dieses Bildungsbürgertum als ,Mittelstand' bezeichnet. Dieser umfaßte nach einer 1842 anonym erschienenen Schrift, Pia desiderio, eines österreichischen

Schriftstellers,

von E d u a r d

von Bauernfeld, alle geistig regsameren Segmente der Gesellschaft, „Professoren, Gelehrte, Künstler, Fabrikanten, Handelsleute, Oekonomen, ja, Beamte und Geistliche". 6 Das waren eben jene Kreise (die Unternehmer weniger, die Professoren, Beamten und Gelehrten mehr), die dringend nach einer Lockerung der Zensur, nach einer Änderung der politischen Zustände überhaupt verlangten. Bauernfeld verwies in diesem Zusammenhang auch auf den Niederösterreichischen Gewerbeverein (1839), der wichtigsten neuen Plattform dieser bürgerlichen Gruppierungen, der - zusammen mit dem Innerösterreichischen Gewerbeverein in Graz (1837), dem Juridisch-politischen Leseverein (1841) oder dem Schriftstellerclub Concordia (1844) - letztlich auch ein Diskussionsforum darstellte, in dem, trotz Zensur und Polizei, eine wenn auch eng begrenzte bürgerliche Öffentlichkeit' entstand und wo gewisse Forderungen und Wünsche auch an den Staat formuliert werden konnten. 7

5

Ernst Bruckmüller / Peter Urbanitsch (Hgg.): 996-1996. Ostarrichi - Österreich. Menschen - Mythen - Meilensteine (Kat. d. Nö. Landesmuseums N F 588). Horn 1996, S. 535, Kat. Nr. 14.5.116 (Text von Peter Melichar); Grillparzer hat in den „Erinnerungen aus dem Revoluzionsjahr 1848" seinem Grant darüber deutlich Ausdruck verliehen, vgl. August Sauer, Hg., Franz Grillparzers sämtliche Werke (künftig: GW) I. Abt., 16. Bd., 38-55, hier 44 f.

6

Ernst Bruckmüller: Wiener Bürger. Selbstverständnis und Kultur des Wiener Bürgertums vom Vormärz bis zum Fin de siècle. In : Hannes Stekl / Peter Urbanitsch / Ernst Bruckmüller / Hans Heiss (Hgg.): „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit" (Bürgertum in der Habsburgermonarchie II). Wien - Köln - Weimar 1992, S. 45-68, hier S. 46 ff.

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Grundlegungen

1845 forderte in der ebenfalls anonym erschienen Schrift Österreich und dessen Zukunft Viktor Freiherr von Andrian-Werburg eine Ausgestaltung der ganz einflußlosen Provinzialstände, in denen neben den Adeligen (Herren- und Ritterstand) auch Bürger und Bauern eine stärkere Vertretung erhalten sollten. Die (beispielsweise niederösterreichischen) Landstände wollten nicht nur ihre Rechte erweitern, sondern sie wollten dies auch in Kooperation mit den immer stärker fühlbaren bürgerlichen' Forderungen tun. Dieses Bündnis hatte in der ,zweiten Gesellschaft', der (häufig nobilitierten) Spitzengruppe des neuen ,Mittelstandes', eine gewisse soziale Basis. So war der spätere Minister in Frankfurt und Wien, Anton von Schmerling (1805-1893) Mitglied der niederösterreichischen Stände, zugleich bekannter Jurist (und über seine Mutter ein Nachkomme Franz von Zeillers, des letzten Redaktors des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1811). Anton Frh. von Doblhoff (1800-1872), der wichtigste Exponent der liberalen Aristokratie, verkehrte engstens mit der Wiener ,zweiten Gesellschaft' und wurde über die Organisation des Lesekabinetts der Stände (im Landhaus) zu einem der Wegbereiter der Wiener Revolution. 8 Daneben wuchs die Not der Unterschichten (als Folge von Industrialisierung, Mißernten und folgender gewerblich-industrieller Krise), was sich im wachsenden Zustrom verarmter Leute vom Land nach Wien ebenso äußerte wie in Streiks und Arbeiterunruhen in Böhmen schon 1844.9 Dazu kam, zunächst fast unbemerkt, die nationale Frage.10 Natürlich waren die Stände Böhmens, Galiziens, Kroatiens und Ungarns stets mit dem Wiener Zentralismus unzufrieden gewesen. Als m e h r oder weniger spürbare Unterströmung wurde daher die ganze Zeit des Vormärz schon von einer adeligen Opposition begleitet, die in Böhmen und Ungarn stärker war 7 Vgl. Wilhelm Brauneder: Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 bis 1990. Wien 1992. Die Bedeutung der Gewerbe- und Industrievereine für die Konstituierung der Unternehmerschaft als selbstbewußter sozialer Gruppierung wurde schon von Johann Slokar: Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I. Wien 1914, S. 105 und 210-224, präzis beschrieben. 8 Grillparzer: Meine Erinnerungen aus dem Revoluzionsjahr (Anm. 5), S. 48 f. 9 Wolfgang Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848. Wien 1979, insbes. S. 80 ff. 10 Ein guter Uberblick jetzt bei Helmut Rumpier: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Osterreichische Geschichte 1804-1914, hg. v. H. Wolfram). Wien 1997, S. 154 ff.

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als (etwa) in Krain oder Kärnten, die aber auch in der Steiermark oder in Niederösterreich die Landhäuser als Ausgangspunkt für adelig-ständische, partiell aber auch schon für frühliberal-bürgerliche Programme nützen konnte. Neu war dies: In den nichtdeutschsprachigen Ländern förderten die Stände die sich neu herausbildende sprachlich-nationale Orientierung, wie sie vor allem das neue Bildungsbürgertum formulierte, und die sich unter der Schirmherrschaft der adeligen Landstände (über das Medium von Museen, Vereinen und Zeitschriften) auszubreiten begann. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Geschichte und gemeinsame Kultur wurden die neuen Symbole, die nicht mehr ,Böhmen' von ,Mährern', oder Österreicher' von ,Steirern' trennten, sondern ,Tschechen' von ,Deutschen', S l o wenen' von Italienern', ,Polen' von ,Ruthenen'. Die Forderungen der neuen frühnationalen Opposition reichten von der (Wieder-) Herstellung voller staalicher Unabhängigkeit (Italien, Polen) über die Gewährung weitestgehender Selbständigkeit unter habsburgischer Herrschaft (Ungarn, z.T. Böhmen) bis zu Wünschen nach nationaler Einigung unter Habsburg (Slowenen) oder einfach vermehrter Landesautonomie (Tirol, Salzburg). Dagegen war das erwachende deutsch-liberale Wiener Bürgertum eher zentralistisch orientiert: Immer wünschen sich ja die Bürgerlichen einen Einheitsstaat, mit einem großen einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraum, der ihren Bedürfnissen nach kommerzieller Betätigung, aber auch nach Rechtsstaatlichkeit, am ehesten entgegenkommt. Hier, im deutsch-liberalen Bürgertum wuchs gleichzeitig auch ein ,deutsches' Bewußtsein, ein Bewußtsein, Teil des deutschen Bundes zu sein - und auch dieses Bewußtsein forderte politische Umsetzungen.11 Die nationale Unzufriedenheit machte sich in Itcdien in einer massiven Ablehnung der österreichischen Herrschaft durch Verschwörungen, Schmuggel und Raucherstreiks Luft, in Galizien in einem Aufstand des polnischen Adels 1846, in Böhmen in recht offenen Diskussionen im dortigen Landtag und in Ungarn in leidenschaftlichen Forderungen Kossuths und seiner Anhänger nach Unabhängigkeit auf dem seit dem Herbst 1847 in Preßburg (Bratislava, Pozsony) tagenden ungarischen Reichstag. 12

11 Joseph Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der Habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang der Monarchie, 2 Bde. Leipzig 1920 und 1926, hier Bd. 1/1, S. 693 f.

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Grundlegungen

Mit allen diesen Krisen war eine Regierung alter Herren konfrontiert, gelähmt zudem noch durch persönliche Abneigungen innerhalb der den Herrscher vertretenden Staatskonferenz (bestehend aus dem Erzherzog Ludwig, dem Fürsten Metternich und dem Grafen Kolowrat) - denn seit dem Tod Franz des Ersten spielte man in Osterreich Absolutismus ohne Herrscher. Ferdinand I. (1835-1848) regierte ja nur nominell. Die schon unter Franz I. (1792-1835) so ausgeprägte Tendenz zur Vielschreiberei und Entscheidungsscheu verstärkte sich noch. Dazu kam die gute alte Finanzmisere, die zu eiserner Sparsamkeit zwang, bei gleichzeitiger Notwendigkeit zu verstärkten Rüstungen. Zwei Ereignisse beschleunigten die Entwicklung: Unzweifelhaft die Nachricht von der Pariser Februarrevolution. Die niederösterreichischen Stände forderten daraufhin die Einberufung von Deputierten aus allen Provinzen. Der eigentliche Funke, der das Wiener Pulverfaß zur Explosion brachte, kam jedoch aus Preßburg (Bratislava, Pozsony): Im dort tagenden ungarischen Landtag forderte Ludwig Kossuth am 3. März eine eigene Regierung für Ungarn und eine Verfassung auch für die nichtungarischen Teile der Monarchie. Binnen kurzem kursierte diese Rede in Wien.

12 Zu Oberitalien vgl. Brigitte Mazohl-Wallnig / Edith Saurer: Lombardo-venetianische Studien. In: Mitt. d. Inst. f. österr. Geschichtsforschung 86,1978, S. ; Edith Saurer: Straße, Schmuggel, Lottospiel : materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 1989; Brigitte Mazohl-Wallnig: Osterreichischer Verwaltungsstaat und administrative Eliten im Königreich Lombardo-Venetien 1815-1859. Mainz 1993; zu Böhmen und Galizien Hanns Schiitter: Aus Österreichs Vormärz I. (Galizien und Krakau) und II. (Böhmen). Zürich - Leipzig - Wien 1920; zu Ungarn Robert J. W. Evans: The Habsburgs and the Hungarian Problem, 1790-1848. In: Transactions of the Royal Historical Society 5th ser, XXXIX, 1989, S. 41-62; István Deák: Die rechtmäßige Revolution: Lajos Kossuth und die Ungarn 1848-49. Wien - Graz 1989; Ludwig von Wirkner: Meine Erlebnisse. Blätter aus dem Tagebuche meines öffentlichen Wirkens vom Jahre 1825-1852. Pressburg 1879; eine Schilderung der Revolution von 1848 aus (primär) ungarischem Blickwinkel bietet auch Emil Niederhauser: 1848 - Sturm im Habsburgerreich. Wien 1990.

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Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

2.

DIE WIENER

REVOLUTION

BÜRGERSCHOCK

-

BÜRGERWUNSCH

UND

13

a) Der 13. März und seine Erfolge Am 15. März wollten Studenten und Bürger den an diesem Tage zusammentretenden niederösterreichischen Ständen Petitionen der Universität, des Gewerbevereins und der Wiener Bürger (um Preßfreiheit und Konstitution) überreichen, von wo sie dann an die Hofburg weitergehen sollten. Handwerker und Arbeiter strömten dazu, nach anfeuernden Reden drangen Demonstranten in den Sitzungssaal ein, schließlich wurde das Militär eingesetzt, es gab Tote und Verwundete; währenddem ging eine Ständedeputation in die Hofburg. Schon am Abend war Metternich gestürzt (was man angeblich am Abend davor in der Hofburg schon vorausgewußt hatte!). Und am selben Abend brannten die Fabriken in den Vororten ebenso wie die Mauthäuser an der Linie (am heutigen Gürtel) : Jene, weil die Arbeiter die verhaßten Maschinen zerstörten, diese, weil hier die Verzehrungssteuer eingenommen wurde, die das Leben innerhalb der Linien, in der Stadt also, empfindlich verteuerte. Rasch errang die Revolution ihre ersten Siege. Preßfreiheit, Volksbewaffnung (Nationalgarden und akademische Legion) und das Versprechen einer Verfassung (,Konstitution') wurden (am 15. März) verkündet. Mit der am 25. April erlassenen, sogenannten ,Pillersdorff'-schen Verfassung schienen die bürgerlichen Forderungen in der Tat weitestgehend erfüllt. Aber die Verfassung hatte ihre Schwächen. Sie war von oben erlassen, ,oktroyiert' worden, sie sah ein Zweikammersystem und ein absolutes Veto des Monarchen vor. b) Der stürmische Mai, die Radikalisierung und die Ängste der Rürger

der Revolution

Dagegen (und vor allem gegen die am 9. Mai erlassene, sehr restriktive Wahlordnung) richtete sich die „Sturmpetition" vom 15. Mai, die Mairevolution, getragen hauptsächlich von Studenten, Handwerkern und Arbeitern. Denn deren Situation hatte sich seit dem März nicht verbessert - im Gegenteil. Schon seit 1845 waren die Lebensmittelpreise gestiegen, als Folge der Kartoffelfaule. Wer mehr für's Brot braucht, kann weniger anderes kaufen. 13 Das folgende nach Heinrich Reschauer / Moritz Smets : Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution. 2 Bde. Wien 1872.

8

Grundlegungen

So ging die Nachfrage nach gewerblichen Gütern zurück. Durch die Revolution selbst, durch die Ereignisse in Ungarn, Böhmen, Galizien und Italien war der Absatz von industriellen Waren noch mehr irritiert worden. Die Zahl der Arbeitslosen stieg stetig. Um diese zu beschäftigen, wurden schließlich mit öffentlichen Geldern Erdarbeiten im Prater organisiert. Und wie sah es außerhalb von Wien aus? Seit dem 8. April galt für Böhmen eine eigene ,Charte'. Ungarn hatte seit dem 11. April seine eigene Regierung (unter Graf Ludwig Batthyány). Oberitalien stand seit dem März im offenen Aufstand, Radetzky mußte sich aus Mailand zurückziehen. Auch im (seit 1846 österreichischen) Krakau brodelte es, in Prag wurde für Pfingsten ein Slawenkongreß vorbereitet. Und in Frankfurt am Main berieten seit dem 18. Mai in der Paulskirche auch deutsch-österreichische (im April und Mai gewählte) Abgeordnete über die zukünftige deutsche Reichsverfassung mit. Das Habsburgerreich schien unmittelbar vor dem Zerfall zu stehen. Ab dem Mai 1848 geriet daher die bürgerliche' Revolution in eine schwere Entscheidungskrise. Was war wichtiger für diese Schichten: die Ausweitung persönlicher und politischer Rechte - oder der Bestand des Habsburgerreiches ? Vor diese Alternative gestellt, verstummten nicht wenige der vordem bürgerlichen Unzufriedenen, oder sie stellten sich, wie Anfang Juni Franz Grillparzer mit seinem berühmten Gedicht an den Feldmarschall Radetzky („Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! [...] In deinem Lager ist Osterreich"), eindeutig auf die Seite des Gesamtstaates, des Militärs und damit letztlich auf die Seite der Gegenrevolution.14 c) Der Reichstag, die Reaktion und die Spaltung der Revolution Seit dem Sieg bei Santa Lucia (6. Mai) war Radetzkys italienische Armee eindeutig wieder handlungsfähig (und auf dem Vormarsch), seit der Niederschlagung des Krakauer Aufstandes (25./26. April) und seit zu Pfingsten (11.-17. 14 GW 1/10, 230 f. - Dagegen hatte er im März (wohl um den 15. herum) das die März-Errungenschaften preisende, freilich auch schon vor allen Weiterungen warnende Gedicht „Sei mir gegrüßt, mein Osterreich" (GW 1/10, 227 f. 230 f) verfaßt. Dieser Gesinnungswandel, übrigens belegbar auch durch andere Texte Grillparzers, die er im Mai und Juni 1848 verfaßte, erscheint nicht untypisch fur nicht wenige altliberale, patriotische Bürgerliche. Grillparzers Haltung im Frühjahr 1848 schwankte offenkundig zwischen einer gewissen Sympathie für die Revolution - und schroffster Ablehnung, sobald diese den Bestand der Monarchie zu gefährden drohte. Vgl. etwa die Gedichte über die Wiener Studenten und gegen Pillersdorf, im Mai 1848 verfaßt (GW 1/11, 208 f, 212 f usw.)

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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Juni) Fürst Alfred Windisch-Graetz den Prager Aufstand besiegt hatte, war die unmittelbare Auflösungsgefahr für die Habsburgermonarchie gebannt. Die Frage war: Würde die erstarkende Konterrevolution das Verfassungs-Werk des seit 22. Juli in der Winterreitschule tagenden Reichstages akzeptieren? Die Wahlen im Juni und Juli, nach einem gegenüber den ursprünglichen Vorschlägen stark erweiterten Wahlrecht, brachten eine deutliche bürgerliche Mehrheit: Etwa 55 % der 383 Abgeordneten waren dem Bürgertum zuzurechnen. 92 oder fast ein Viertel waren Bauern. Für diese war die Verfassungsfrage relativ belanglos, zentral allerdings die Frage nach der Grundentlastung. Nicht zufallig brachte daher Hans Kudlich am 24. Juli seinen berühmten Antrag ein, mit dem das „Unterthänigkeits-Verhältnis sammt allen daraus entsprungenen Rechten und Pflichten aufgehoben" werden sollte. Das dauerte bis Ende August - und endete weder im Sinne Kudlichs noch in jenem der Bauern, da diesen Entschädigungszahlungen aufgebrummt wurden. Das Ergebnis der Abstimmung über die Grundentlastung zeigte bereits eine gravierende Schwächung der Revolution. Während dieser Debatten hatte sich der Gegensatz zwischen Bürgern und Arbeitern, Besitzenden und Besitzlosen, zugespitzt. Für die schon genannten Erdarbeiten meldeten sich immer mehr Leute, bis schließlich Tausende auf diese Art erhalten wurden. Als der Arbeitsminister Schwarzer auf Grund der leeren Staatskassen diese Unterstützungen kürzte, kam es zu massenhaften Demonstrationen der Arbeiter, die von den bürgerlichen Nationalgarden blutig auseinandergetrieben wurden (,Praterschlacht', 23. 8. 1848). Dies schwächte die Revolution weiter. Nach den Siegen in Oberitalien wollte der Hof auch Ungarn wieder an die Kandare nehmen. Am 16. September marschierte der kroatische Banus Jelacic in Ungarn ein. Wenige Tage später wurde in Pest der kaiserliche Oberbefehlshaber Graf Lamberg ermordet. Jelacic wurde zum königlichen Kommissär für Ungarn ernannt, der Krieg brach offen aus. Nun sollten auch Truppen aus Wien dorthin entsandt werden. Genau dies löste die Oktoberrevolution aus, die Ermordung des Kriegsministers Latour am 6.Oktober, mit der schließlichen Folge der militärischen Eroberung Wiens durch die Kaiserlichen am 31. Oktober. d) ,Schwarz-gelb'

oder

,schwarz-rot-gold'?

Aber nicht nur zwischen bürgerlichen' und Proletariern' war der Bruch nicht mehr zu kitten, sondern auch zwischen den gemäßigten Bürgerlichen, die eine Konstitution wollten, und zwischen den jungen Radikalen, über-

10

Grundlegungen

wiegend Studenten, die auf eine Republik hinarbeiteten, und - letztens zwischen den unbedingten Anhängern der deutschen Einheit und den Befürwortern des habsburgisch-österreichischen Gesamtstaates. Die ,Gemäßigten', die ,Gutgesinnten' zeigten ab September Flagge. Schon tauchten wieder schwarz-gelbe Fahnen und Zeichen auf, nachdem vom April an das Schwarz-Rot-Gold dominiert hatte. Schwarz-gelb: das war die Aristokratie, das Großbürgertum, das Großunternehmertum, die Beamten. Studenten, Vorstadtbürger, Arbeiter trugen ,schwarz-rot-gold'. Deutsche Einheit und politische Freiheit standen unter demselben Zeichen (das seit 1. April 1848 auch vom Stephansturme hing). Auch der österreichische Reichstag, im Spätherbst neuerdings, aber nun ins mährische Kremsier (Kromërίζ) einberufen, geriet immer stärker unter Druck. Dort, in einem rein tschechischen Umfeld, waren die Deutsch-Liberalen vom Rückhalt durch die Wiener Bevölkerung abgeschnitten. Freilich brachte dieser Druck eine bedeutende und nicht unedle Frucht hervor: Einen Verfassungsentwurf, der als Kompromiß zwischen deutsch-liberalzentralistischen und slawisch-konservativ-föderalistischen Anschauungen eine Mitte zu finden wußte. Es war dieser Kompromiß (von Dr. Cajetan Mayer, einem Deutsch-Mährer, entworfen) die erste und einzige Lösung der österreichischen Verfassungs- wie der nationalen Frage, die ,νοη unten her', von den gewählten Vertretern aller ,Volksstämme' gefunden wurde. Die Verfassung von Kremsier sollte allerdings nur für die nichtungarischen Teile des Reiches gelten. Dies und das unbedingte Beharren auf der Volkssouveränität boten für die Regierung schließlich den Vorwand, am 7. März den Reichstag aufzulösen. 15 Radikale Abgeordnete wurden verhaftet oder konnten flüchten. Für nicht wenige begann die Zeit der Emigration. Damit war die Revolution (in Osterreich) zu Ende. In Ungarn und in Oberitalien ging der Krieg noch weiter, bis auch hier im Sommer 1849 die Kräfte der ,Ordnung' siegten. e) Der Neoabsolutismus - Restauration oder bürgerliche Herrschaft? Der nunmehr installierte Neoabsolutismus hatte freilich kein feudales, kein aristokratisches Gepräge mehr. Jetzt erst wurde das ,Kaisertum Österreich' 15 Andreas Gottsmann : Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage (Osterreich Archiv). Wien - München 1995.

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Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

wirklich zu einem einheitlichen Staat, erhielt eine einheitliche Verwaltung, ein einheitliches Zollgebiet, ein einheitliches (Privat-) Rechtsgebiet. Sieht mein davon ab, daß (wieder) alle Entscheidungsgewalt beim Kaiser konzentriert wurde, wurde dieses neue Herrschaftsprogramm von der Bürokratie getragen. Das deutsch-österreichische, bürgerlich-bürokratische Element erhielt als Ersatz für politische Mitsprache die faktische Herrschaft über den Beamtenapparat. Man hat darin eine der wichtigsten Ursachen für die starr zentralistische und insbesondere den slawischen Forderungen gegenüber stets abweisende Haltung des deutsch-österreichischen (bürgerlichen) Liberalismus gesehen. Sie sollten in der Folge, ab 1860, auf alle Forderungen, die an die Revolution erinnerten, abweisend reagieren. 16

5.

GESCHICHTE,

NATIONALE M Y T H O L O G I E

HABSBURGERMYTHOS

IM 1 9 .

UND

JAHRHUNDERT

Nach den Kapitulationen von Világos und Venedig waren die antihabsburgischen Revolution(en) im Sommer 1849 militärisch besiegt. Damit war die Habsburgermonarchie gerettet und man ging nunmehr energisch daran, dieses so komplexe und vielfältige Herrschaftsgebilde in einen Einheitsstaat umzuwandeln. Der alte vormärzliche Absolutismus hatte das weder beabsichtigt noch geschafft. Der neue Absolutismus Franz Josephs, Schwarzenbergs und Bachs wollte ein - zum von Wien aus zentralistisch durchorganisierten einheitlichen Verwaltungsstaat modernisiertes - ,verjüngtes' Osterreich schaffen.17 Damit stellte sich selbstverständlich die Frage nach der kollektiven Identität der Staatsbürger dieses Staatswesens. Die regierenden Klassen der Monarchie waren sich des Problems der Erzeugung eines Gemeinschaftsbewußtseins nach 1848 sicherlich stärker bewußt als im Vormärz. Uber verschiedene Medien konnte ein gemeinsamkeitsstiftender Mythos verbreitet werden: Durch Bilder und Denkmäler, Stiche und Drucke, durch literarische und historische Werke, über die Kanzel in den Kirchen, durch den Militärdienst und ganz besonders auch durch das Unterrichtswesen. Inhaltlich stützte sich der habsburgische Mythos der Habsburgermonarchie vor allem auf die geheiligte Institution und Person des Herrschers. Dieser sehr alte 16 Joseph Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem (Anm. 11), Bd. 1/2, S. 78. 17 Dazu Carl von Czoernig: Österreichs Neugestaltung 1848-1857. Wien 1857.

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Grundlegungen

Glaube an das ,Heil' des von Gott eingesetzten Monarchen blieb - freilich mit Abschwächungen - in der Tat wirksam bis zum Ende der Monarchie. Da die Monarchie nicht nur im Kampf gegen das revolutionäre Frankreich (ab 1792) und Napoleon ein zentrale Rolle gespielt hatte, sondern auch ihre Existenz nach 1848 (in der neoabsolutistischen Form) der Niederschlagung der Revolution verdankte, mußte der österreichische Mythos des 19. Jahrhunderts notwendig und prinzipiell antirevolutionär orientiert sein. Alle zentralen Forderungen der Revolutionen von 1848 wie nationale Unabhängigkeit, Demokratie (oder wenigstens: Konstitution), Grundrechte, Trennung von Kirche und Staat, erschienen in diesem Licht als teuflische Ausgeburt der Aufklärung und der französischen Revolution und mußten, wo und mit welchen Mitteln auch immer, bekämpft werden. Neben dem Herrscher setzte der habsburgische Österreich-Mythos - aus den oben erwähnten Gründen - die Armee in Szene. Siegreiche Schlachten und Feldherren spielten neben den als bedeutend vorgestellten Herrschern die Hauptrolle. 18 Ihren besonderen künstlerischen Ausdruck fand diese Rolle in der Ausgestaltung des ,Waffenmuseums' im neuen kaiserlichen Arsenal in Wien (Heeresgeschichtliches Museum). 1 9 Neben dieser symbolischen Rolle ist aber auch die real identitätsstiftende Rolle der Armee, des ,Kaisers Rock' ins Kalkül zu ziehen, die durch das Wehrgesetz von 1868 eher noch gewachsen ist und in den letzten Jahrzehnten der Monarchie gemeinsam mit dem Mythos des ,alten Kaisers' Franz Joseph zu einer der stärksten Stützen eines überregionalen Gemeinsamkeitsbewußtsein in der Monarchie wurde. 20

18 Die Lesebücher und vor allem die populären Geschichtsbücher sind voll von Lobpreisungen großer Herrscher und großer Heerführer, wobei im 19. Jahrhundert der Feldmarschall und Sieger von 1848/49 in Italien, Feldmarschall Johann Wenzel Graf Radetzky stark im Vordergrund steht. 19 Eva Klingenstein: Zur Problematik eines k.k. Nationaldenkmals. Die Entstehungsgeschichte des nach-1848er Ausstattungsprogramms in den Prunkräumen des Arsenal-Zeughauses. In: Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa. Hg. Hermann Fillitz, Red. Werner Telesko, Bd. 1 Beiträge. Wien 1996, S. 55-60. 20 Ernst Bruckmüller: Nation Osterreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung. Wien/Köln/Graz 1984, S. 371, mit Verweis auf ein derzeit laufendes Forschungsprojekt von Laurence Cole.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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a) Nation und Geschichte Ganz zentral war aber die Frage nach der Funktion von ,Geschichte' geworden. In einer sich säkularisierenden und demokratisierenden Welt wurde das Gottesgnadentum zunehmend abgelöst durch eine Begründung moderner Vergesellschaftungen aus der Geschichte selbst heraus, in deren Bewegung man allenfalls noch einen göttlichen Heilsplan ahnen mochte, oder aber durch die (je gegenwärtige) Evidenz der Existenz von Völkern und Staaten die „Macht der Geschichte"21 zu sehen glaubte. In der Geschichte wurden daher im historistischen 19. Jahrhundert die großen fundierenden Momente für die jeweilige Gegenwart gesucht - und gefunden: die großen erhebenden Augenblicke, die großen Siege und Revolutionen, die großen Niederlagen (die deshalb erinnert werden, weil die Nation sie dennoch „überlebt" hat!), die großen Verbrüderungen, die edlen Opfer. Die Geschichte mutiert zu der Begründungswissenschaft für die modernen Nationen. Damit aber leistet sie genau dasselbe, was für ältere Gesellschaften der Mythos leistete, also die UrErzählung, die Gründungsgeschichte, die origo gentis. Da Geschichte als Wissenschaft, gleichzeitig aber auch als Kunst aufgefaßt wurde, 2 2 konnten große Erzählertalente unter den Historikern ohne Probleme zu Mythologen der Nationen werden. Die Geschichte leistet diese mythogenetische Arbeit jedoch im Bewußtsein moderner Wissenschaftlichkeit, unter Verwendung des ganzen gleichzeitig in Ausarbeitung befindlichen Instrumentariums der Quellenkunde und der verschiedenen Hilfswissenschaften. Der eigentümliche Gegensatz zwischen der Funktion, die große ,nationale' Erzählung zu liefern und dem modernen wissenschaftlichen Anspruch auf Vollständigkeit, kritische Sammlung und Interpretation möglichst vieler Quellen (usw.) ist eines der zentralen Spannungsfelder des historistischen 19. Jahrhunderts. Den Zeitgenossen ist dieser Gegensatz vielleicht nicht so ganz bewußt gewesen, da sie ja zumeist an irgendeine der Geschichte innewohnende Gesetzmäßigkeit oder Regelhaftigkeit glaubten und sich der Hoffnung hingaben, diese durch das Studium der Geschichte entschlüsseln zu können. 23

21 Damit setzte sich Franz Grillparzer einmal sehr kritisch auseinander, s. u. S. 30, Fußnote 77. 22 So Leopold von Ranke in seiner „Idee der Nationalhistorie" (zitiert bei : François de Capitani: Nation, Geschichte und Museum. In: H e r m a n n Fillitz, Hg., Der Traum vom Glück (Anm. 20), S. 33-38, hier S. 33. 23 Moritz Csáky: Geschichtlichkeit und Stilpluralität. Die sozialen und intellektuellen Voraus-

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Grundlegungen

In Österreich mußte das rasch auf die Frage hinauslaufen: Wessen Geschichte? Bisher war das die Geschichte der einzelnen Königreiche und sonstigen Kronländer, oder aber eine Geschichte der Dynastie. Nun aber, mit der Neufunktionalisierung von Geschichte für ein breites kollektives Bewußtsein, wurde das anders. Es mußte nun entweder eine Geschichte für alle Österreicher sein, also auch für die Tschechen, Slowenen oder sogar Ungarn, oder es wurde - von Wien aus gesehen - eine letztlich für das Gemeinwesen überaus gefahrliche Partialgeschichte. Franz Palacky hat genau diese fundierende Geschichte für die - je nach Geschmack - ,erwachende' oder entstehende' tschechische Nation geschrieben, 24 bei Anton Thomas Linhart liegen beispielsweise die Wurzeln für die historische Begründung eines slowenischen Nationalbewußtseins. 25 Gab es auch eine ,österreichische', im Sinne habsburgisch-gesamtstaatlicher Geschichte? Einer der intensivsten Anläufe zur historischen Begründung einer überregionalen österreichischen Kollektividentität kam schon während der Franzosenkriege aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Dessen Leiter war von 1808 bis 1828 Joseph von Hormayr. Seine enorme Energie brachte nicht nur das Archiv für vaterländische Geschichte (1810 ff), das Taschenbuch für vaterländische Geschichte (1811 ff), den „Österreichischen Plutarch" (1807 bis 1814), sondern auch Monographien zur Geschichte Wiens und Tirols hervor. Hormayr wurde bekanntlich für Franz Grillparzer und andere Dichter als Stofflieferant wichtig, aber auch für die vaterländische' bildende Kunst! 26 Hormayrs Bemühungen versuchen, passende Bestandteile regional-nationaler Mythen in einen neuen Österreich-Mythos zu integrieren. Das zeigt nicht nur in der Literatur Auswirkungen, auch in der bildenden

Setzungen des Historismus. In: Hermann Fillitz, Hg., Der Traum vom Glück (Anm. 20, S. 27-32, hier S.- 28. 24 Richard G. Plaschka: Von Palacky bis Pekáí. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen. Graz - Köln 1955. 25 Fran Zwitter: Prva koncepcija slovenske zgodovine [Das erste Konzept einer slowenischen Geschichte]. In: Glasnik Muzejsekega drustva za Slovenijo 20, 1939, S. 355-372; Ders.: Linhartova doba, misel in delo [Linharts Zeit, sein Denken und sein Werk]. In: A. T. Linhart, Poskus zgodovinske Kranjske in ostalih dezel juznij Slovanov Austrije (Ubersetzung von Linharts 1788 in deutscher Sprache erschienen! „Versuch einer Geschichte von Krain und den übrigen Ländern der südlichen Slaven Österreichs") I—II. Ljubljana 1981. S. 303-350. 26 André Robert: L' idée nationale Autrichienne et les guerres de Napoléon. L' apostolat du Raron Hormayr et le salon de Caroline Pichler. Paris 1933.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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Kunst: Wenn Johann Peter Krafft in einem Monumentalgemälde den Ausfall Nikolaus Zrinys aus Sziget (eine Episode aus dem Jahre 1566)27 darstellte, dann inszenierte er damit einen kroatisch-ungarischen Helden und gleichzeitig einen dem Kaiser loyalen Kriegsmann, der den Türken den Weg nach Wien versperrte. Diese Bemühungen verloren nach 1815 an Kraft, dafür verstärkten sich die Bemühungen der intellektuellen Begründer und Führer der nichtdeutschen Nationen um deren Sprache, Literatur, Kunst und Geschichte. Entsprechend der (oben bereits kurz angedeuteten) Verlagerung vom Landesbewußtsein auf ein sprachlich-kulturell begründetes Nationalbewußtsein wurde Landes- dabei zur Nationalgeschichte, die ihrerseits wiederum die Besonderheit der Tschechen, Polen, Magyaren, Slowaken usw. gegenüber (vor allem) den Deutschen begründete. Nicht wenige dieser Bemühungen spielten sich auch und gerade in Wien ab. Freilich hat man hier davon wenig (und dann nur mit abfalligen Kommentaren) Notiz genommen. 28 Nicht nur die slawischen, auch die magyarischen Bestrebungen waren hier kaum bekannt - eine Folge ebensowohl der Zensur wie wohl auch einer gewissen selbstbewußten wienerischen Indolenz: Obgleich István Graf Széchenyi nicht nur in Wien geboren war, sondern sich auch späterhin häufig hier aufhielt, hat man hier seinen Pläne und Publikationen kaum gekannt.29 Schon

27 Eckart Vanesa: Aspekte der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts in Wien. Phil. Diss, (ms.) Wien 1973, S. 147 f. 28 Walter Lukan (Hg.): Bartholomäus (Jernej) Kopitar. Neue Studien und Materialien anläßlich seines 150. Todestages (Osthefte, Sonderband 11). Wien - Köln - Weimar 1995. Hier besonders wichtig für die geistesgeschichtliche Einordnung: Sebastian Hafner: Bartholomäus (Jernej) Kopitar in der Wiener Romantik, S. 9-28. Freilich war Kopitar überaus loyal und in der Wiener Gesellschaft angesehen. Daß er eine Art Mittelpunkt für die verschiedensten historisch-sprachwissenschaftlichen Bestrebungen slawischer Intellektueller war, hat man wohl zuwenig zur Kenntnis genommen. - Eine typische Reaktion eines gebildeten Wiener Bürgers auf den neuen Slawismus bietet Grillparzer: Bei einer Abendgesellschaft Doblhoffs (der im Landhaus wohnte) lernte Grillparzer auch Leo Graf Thun kennen, den späteren Unterrichtsminister, mit dem er auch 1847 auf dem „Linzer Dampfschiff" ein Gespräch führte. Grillparzer beschrieb T h u n als „vortrefflichen Menschen", freilich nicht ohne Vorurteile: „So hat er früher schon in einer böhmisch geschriebenen Broschüre die tschechische Nationalität in Schutz genommen, welche Nationalität nur den Fehler hat, daß sie keine ist, sowie die Tschechen keine Nation sind, sondern ein Volksstamm und ihre Sprache nicht m e h r und nicht weniger als ein Dialekt." (GW 1/16, 48 f.) 29 R. J. W. Evans: Széchenyi and Austria. In: T.C.W. Blanning / David Cannadine (Eds.): History and Biography. Essays in honour of Derek Beales. Cambridge 1996, S. 113-141, hier

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Grundlegungen

Joseph Redlich hat angelegentlich darauf hingewiesen, daß man in Wien, im deutsch-österreichischen Bürgertum, diese Grundlegung der diversen sprachnationalen Bewegungen schon im Vormärz einfach nicht zur Kenntnis nahm. 30 Und wenn man sie zur Kenntnis nahm, wurde ihre Wirkungsmächtigkeit doch vollkommen unterschätzt - etwa auch von Grillparzer, der diese ,slavischen' und ,magyarischen' Bestrebungen verabscheute und glaubte, es würde genügen, freiere Bildungsmöglichkeiten zu gewähren, dann würde sich schon das ,deutsche' Element in der Monarchie durchsetzen.31 b) Das Bildungswesen und die Rolle der Geschichte habsburgischen Mythos

in der Konstruktion

des

Das nach 1848 gründlich reformierte Bildungswesen sollte in besonderem Maße darauf abzielen, Loyalität zur Monarchie zu befestigen, ohne aber die emotionellen Bindungen an die engere Heimat, an die Region oder an die je eigene Sprachgruppe zu leugnen oder massiv zu verletzen. Schon das 18. Jahrhundert hatte solchen Patriotismus gefordert, als ,Liebe zum Vaterland'. 32 Abweichend von der Diktion der frühen Neuzeit und des Barock wurde als ,Vaterland' primär nicht mehr das eigene Kronland (Steiermark oder Kärnten z.B.), sondern die gesamte Monarchie Eingesehen (freilich existiert daneben die ältere Verwendungsform noch weiter!). Die Begründung insbes. S. 130 (Grillparzer traf 1843, auf der Fahrt nach Konstantinopel, einen Grafen Szeczen „mit seiner liebenswürdigen Gemahlin". Höchstwahrscheinlich handelte es sich nicht um Széchenyi, der auch sonst keinerlei Spuren bei Grillparzer hinterlassen hat). 30 Redlich, Staats- und Reichsproblem, 1/1, S. 84: Das Polizeisystem des Vormärz verhinderte es, daß das Aufstreben der nationalistischen Idee bei den nichtdeutschen Völkern (in Ungarn, in Böhmen, bei den Südslawen seit den 1830er Jahren) den „gebildeten Deutschen" Österreichs zu Bewußtsein kam. „Als aber die Revolution die gewaltige Kraft des nationalen Gedankens bei allen nichtdeutschen Völkern förmlich vulkanisch ans Licht brachte, standen die Deutschen Österreichs den übrigen Völkern fremd und ihrem nationalen Drang verständnislos gegenüber." 31 GW 11/11, 11 f (anläßlich der Lektüre von Andrian-Werburgs „Österreich und dessen Zukunft", 1843). 32 Die Vaterlandsliebe war schon ein zentrales Thema der Aufklärung des 19. Jahrhunderts, ein diesbezüglicher Text Josefs von Sonnenfels aus den 1750er Jahren wurde - gekürzt noch in Lesebüchern des späten 19. Jahrhunderts abgedruckt. Vgl. Josef Lehmann, Franz Branky, Johann Sommert: Deutsches Lesebuch für die österreichischen Lehrer- und Lehrerinnen-Bildungsanstalten, II. Theil (für den 2. Jahrgang). Wien 21894, S. 187 f.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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für die Vaterlandsliebe wandelte sich: Um 1800 erscheint sie noch - streng rationalistisch - auf der Theorie vom Gesellschaftsvertrag und auf der Beobachtung begründet, daß kleinere Vergesellschaftungen in größere eingebunden erscheinen.33 Im Vormärz änderte sich die Diktion völlig: Nunmehr ging der Patriotismus-Appell von den Pflichten der Untertanen gegenüber dem Herrscher aus ! Erst am Schlüsse eingehender Belehrungen über die Pflichten des Untertanen gegenüber der Obrigkeit erscheint auch die Vaterlandsliebe' als eigene Tugend, die sich an verschiedenen Gegenständen erweisen kann, zu denen eine aktive Mitbeteiligung an der ,res publica' keineswegs gehört.34 Als 1848 das (mittlere und höhere) Schulwesen reformiert wurde, hat man für die dritte und vierte Klasse des Untergymnasiums , Osterreichische Geschichte' vorgesehen, in der vierten Klasse dann um geographische, bürgerkundliche und wirtschaftskundliche Elemente vermehrt zur „populären Vaterlandskunde".35 Im Obergymnasium wurden drei Klassen der allgemeinen Geschichte gewidmet, die achte aber der österreichischen Geschichte und Statistik. Der Grund dafür lag nicht in der „[...] Absicht, politisches Raisonnement in den Schulunterrricht einzuführen, vielmehr soll 33 Pflichten der Unterthanen gegen ihren Monarchen. Zum Gebrauche der deutschen Schulen. Wien 1854. Hier herrscht noch das absolute Gottesgnadentum. Auf die Frage:" Von wem haben die Obrigkeiten ihre Gewalt?" lautet die Antwort: „Die Obrigkeiten haben ihre Gewalt von Gott" (S. 6). 34 Schon der Begriff „Vaterland" wird relativ kompliziert erklärt (für kleine Pflichtschüler!): „Man versteht durch das Vaterland nicht nur das Land, in welchem man geboren und erzogen worden, sondern auch dasjenige Land, welchem man als Einwohner einverleibet ist, und in welchem man den Schutz und die Wohlthaten eines Bürgers genießet." Die Vaterlandsliebe wird als von Natur aus gegeben interpretiert, die Haltung des Patrioten habe die „ f r o m m e r Kinder" gegenüber ihren Eltern zu sein (Pflichten, S. 33). Die Landeseinwohner sollten die „Wohlfahrt des Vaterlandes befördern", u.a. durch Anlage von nützlichen Manufakturen, durch Vermehrung der Reichtümer des Landes und durch das Emporbringen von Künsten und Wissenschaften. Zuletzt wird darauf hingewiesen, daß die „rechtschaffenen" Bürger im Notfalle schuldig seien, „ihr Vermögen, Blut und Leben zum Dienste des Vaterlandes aufzuopfern" (Pflichten, S. 37). 35 Entwurf der Organisazion der Gymnasien und Realschulen in Osterreich (1849), Wien 21871. S. 235 und Beilage Nr. IX: Lektionsplan für die Obligat-Lehrgegenstände für die acht Klassen des Gymnasiums. Vgl. Helmut Engelbrecht: Geschichtswissenschaft und Vermittlung - Geschichtsunterrricht in Gymnasien (bis zum Ende der Donaumonarchie). In: O G L 42, 1998, Heft 2, S. 70-86. Zur Vaterlandskunde verweist Engelbrecht auf die (ms.) Diplomarbeit (Klagenfurt 1980) von Gerald G r i m m : Vaterländische Erziehung im Rahmen d e r T h u n s c h e n Bildungsreform und des neoabsolutistischen Systems 1848-1860.

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Grundlegungen

über die wesentlichsten faktischen Verhältnisse der Gegenwart Belehrung gegeben werden." 36 Vordergründige patriotische Indienstnahme erscheint vermieden - obgleich sie andererseits durchaus beabsichtigt war. Joseph Alexander Frh. von Helfert (1820-1910), Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium und zweifellos eine der bedeutendsten Persönlichkeiten eines staatstragenden, habsburgtreuen und tendenziell (im Sinne des Sprachnationalismus) übernationalen Konservativismus, forderte 1855 ausdrücklich die Pflege der „Nationalgeschichte" - als Gesamt-Geschichte des österreichischen Kaiserstaates.37 Den Begriff „Nationalgeschichte" wollte er ausschließlich politisch interpretieren, als „[...] Geschichte einer territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Bande der gleichen Autorität umschlungenen, unter dem Schutze des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung. Osterreichische Nationalgeschichte [im Orig. gesperrt, E.B.] ist uns die Geschichte des österreichischen Gesammtstaates und Gesammtvolkes, als dessen organisch in einander verschlungene Glieder all die nach Abstammung, Bildung und Gesittung verschiedenen Stämme erscheinen, die auf dem weiten Gebiete des Reiches [...] sich bewegen." 38 Helfert hob hervor, „dass Nationalbewusstsein, Nationalgefühl, Nationalstolz am lebendigsten bei jenen Völkern hervortreten, die sich zugleich durch die sorgsame und umfassende Pflege der einheimischen Geschichte bemerkbar machen." 39 Als Beispiele für die enge Verbindung von nationalem Selbstgefühl „im Bunde mit emsiger Pflege der nationalen Geschichte" führt er sodann die Beispiele Großbritanniens, Frankreichs und Rußlands an. In Österreich habe eine solche Vermittlung der eigenen Geschichte vor 1848 weitgehend gemangelt, groß-österreichischer Patriotismus sei nicht wegen, sondern trotz der alten Studienpläne entstanden. 40 Die Neuorganisation der Mittelschulen habe die Geschichte nun erstmals systematischer in den Unterricht eingebaut. Auch der wissenschaftliche Betrieb sei nach der Gründung der Akademie der Wissenschaften (1847) in Schwung gekommen, und eine ra-

36 Entwurf, Beilage IX und S. 240. 37 Joseph Alexander Frh.v. Helfert: Uber Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich. Prag 1853. - Zur Person Helferts vgl. Franz Pisecky: Joseph Alexander Frh.v. Helfert als Politiker und Historiker. Phil. Diss (ms.) Wien 1949; Helga Koller: Die Haltung des Frh. Josef Alexander von Helfert zu den Hauptproblemen der Monarchie. Phil. Diss. (ms. ) Wien 1962. 38 Helfert, Nationalgeschichte, S. 1 f. 39 Helfert, Nationalgeschichte, S. 3 f. 40 Helfert, Nationalgeschichte, S. 30 f.

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sehe Weiterentwicklung schien absehbar.41 Eine solche österreichische Nationalgeschichte schwebte dem Unterstaatssekretär als Basis für ein gemeinschaftliches Bewußtsein des jungen, in dieser Form erst seit 1849 existierenden Einheitsstaates vor. Dieses habsburgische Österreichbewußtsein sollte nicht im Gegensatz zu den einzel-nationalen Mythen stehen. Trotz seiner prinzipiellen Konservativität war es wandlungs- und aufnahmefähig. So konnte man Libussa und Karl IV. als gleichzeitige Kernfiguren der jungen tschechischen Mythologie durchaus auch in den habsburgischen Österreich-Mythos integrieren. Wie wurden diese Tendenzen im Laufe der Zeit umgesetzt ? Der Lehrplan für Volksschulen von 1870 (auf der Basis des Reichsvolksschulgesetzes von 1869) formulierte unter „Geschichte" als Ziel: „Der Unterricht soll eine allgemeine Würdigung derjenigen Personen und Begebenheiten anbahnen, welche in hervorragender Weise zur Entwicklung der Menschheit im Allgemeinen und des Vaterlandes im Besonderen beigetragen haben; zugleich soll dieser Unterricht Charakterbildung und Vaterlandsliebe der Schüler fördern."42 Der Einstieg erfolgt über Sagen aus der Heimat und Erzählungen aus der österreichischen Geschichte, später (5. bis 8. Schuljahr) sollen „Bilder aus der österreichischen Geschichte" konkretere Eindrücke vermitteln. Auch die Informationen über „Pflichten und Rechte der Staatsbürger" sind hier angefügt. Wieder zu den Gymnasien: Während sich die Stunden- und Stoffverteilung des Lehrplanes von 1884 noch immer an den „Entwurf" von 1848 anlehnt, nennt die (stark erweiterte) Motivation für den Geschichtsunterricht nicht nur die Aufgabe, „die Schüler zu historischer Bildung zu erheben [...] und sie für das wissenschaftliche Studium der Geschichte vorzubereiten^. .]",43 sondern verweist

41 Helfert wußte, wovon er sprach, denn er selbst gründete als verantwortlicher hoher Beamter des Unterrichtsressorts ein Jahr nach dem Erscheinen der „Nationalgeschichte" das „Institut fur österreichische Geschichtsforschung", das in besonderer Weise der Edition der einschlägigen Quellen ebenso wie der Ausbildung in den Hilfswissenschaften dienen sollte. Daß sich durch die Berufung des hervorragenden Quellenkenners Theodor Sickel das Institut rasch von der österreichischen ab und der Reichsgeschichte zuwandte, war wohl nicht im Sinne der Intentionen Helferts. Vgl. Alphons Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (üMIÖG - Erg.Bd. 17, 1954); Alphons Lhotsky: Österreichische Historiographie (Österreich Archiv). Wien 1962, S, 165 ff. 42 A. Egger-Möllwald: Österreichisches Volks- und Mittelschulwesen in der Periode von 18671877. Wien 1878, S. 11. 43 Instructionen für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich. Wien 1884, S. 143.

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Grundlegungen

auch auf den besonderen Effekt historischer Bildung, alle jene Tugenden zu fordern, „die den Sinn und die Begeisterung für die Menschheit und das Vaterland erwecken[.. ,]". 4 4 Gerade in der Unterstufe wird das Erzählen von Lebensbildern dafür empfohlen: „Es gibt historische Persönlichkeiten, wie Max I., Prinz Eugen, Maria Theresia, Josef II., u.a., deren Lebensbilder, zu sprechender Evidenz gebracht, ,dogmatische Sicherheit und Bestimmtheit' gewinnen müssen." 4 5 Solche Persönlichkeiten haben also durch ihre „dogmatische Sicherheit und Bestimmtheit" als zentrale Figuren eines habsburgisch-österreichischen Kanons46 zu fungieren. Anders als noch 1849 betont die „Instruction" von 1884, der Lehrer habe bei der Behandlung der Österreichischen Geschichte „das Hauptgewicht auf jene Momente zu legen [...], welche fur die allmähliche Ausgestaltung des österreichischen Staatsgedankens bedeutsam geworden sind." 4 7 Die „wahrhaft objective und lebendige Schilderung der bedeutenden Momente und großen Charaktere [···]" werde bei der „offenen Empfänglichkeit der unverdorbenen Jugend für das Große und Edle" von selbst dazu beitragen, „in ihr die Liebe zum Herrscherhause und Vaterlande zu erwecken und zu nähren." 4 8 In der zweiten Auflage (1900) wird die Sprache noch deutlicher und emotionaler, der Auftrag an die Schulgeschichte, zur Erweckung von Volks- und Staatsbewußtsein und zur Vaterlandsliebe beizutragen, wird noch eindringlicher vorgetragen. 49 Schon in der Unterstufe (4. Klasse) sollen die Professoren nicht nur Rudolf I. und Karl V., die „glorreiche Periode der Türkenkriege unter Kaiser Leopold I., daran anschließend die ruhmvollen Siege Prinz Eugens im spanischen Erbfolgekriege und endlich das Zeitalter Maria Theresias und Josefs II." hervorheben. Aus der späteren Zeit wird auf das Jahr 1809 hingewiesen, sowie auf die „wichtigsten Ereignisse aus der Regierung Sr. Majestät des Kaisers." 5 0 Verhältnismäßig spät also wurde die Aufgabe der Schulgeschichte klar und eindeutig formuliert, zur Fundierung und Befestigung des vaterländischen Bewußtseins beizutragen ! Noch einmal sei darauf

44 Instructionen, S. 145. 45 Instructionen, S. 151. 46 Zu Begriff des (nationalen) Kanons vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 106 ff. 47 Instructionen, S. 159. 48 Instructionen, S. 160. 49 Lehrplan und Instructionen für den Unterricht an den Gymnasien in Osterreich. Wien 2 1900, S. 158. 50 Lehrplan 1900, S. 162. - Die Bemerkungen für die Oberstufe bleiben im Rahmen von 1884.

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hingewiesen, daß dabei auch genügend Raum für die Geschichte der ,Heimat' und der je eigenen Nation blieb. c) Österreich-Mythologie

nach

Î848

Die wichtigste öffentliche Inszenierung des nachrevolutionären habsburgisch-patriotischen Appells ist das ,Kaiserforum' (heute Heldenplatz und Maria-Theresienplatz zwischen den beiden Hofmuseen) an Hofburg und Ringstraße in Wien. 51 Hier wurden drei zentrale Mythen der Habsburgermonarchie in Denkmälern installiert: Prinz Eugen und das Zeitalter der Turkenkriege, Erzherzog Karl und das Zeitalter der Napoleonischen Kriege, Maria Theresia und die Begründung des österreichischen Einheitsstaates. 52 Daneben erscheinen in der Schulgeschichte und in der populären Publizistik (etwa eines Isidor Proschko 53 ) die Babenberger, Leopold III. oder Leopold VI., betont, ferner Rudolf IV., der Stifter von Stephansdom und Universität, der große Fälscher des „Privilegium maius". 3 4 Sehr häufig be51 Zum Kaiserforum vgl. Gerhardt Kapner: Ringstraßendenkmäler. Zur Geschichte der Ringstraßendenkmäler (Die Wiener Ringstraße, Bild einer Epoche, hg.v. Renate Wagner-Rieger, Bd. IX). Wiesbaden 1973. Abbildungen von Entwürfen Hasenauers und Sempers sowie von Aquarellen von Franz Alt im Katalog „Traum vom Glück", S.648 f. 52 Das entspricht auch den Hervorhebungen in den Lehrbüchern für Geschichte für die Schulen. So werden in einem Lehrbuch für Geschichte der Neuzeit für die unteren Klassen der Mittelschulen von Leo Smolle (Wien 1895) genau diese drei Epochen schon durch die Wortwahl in den Kapitelüberschriften besonders hervorgehoben: Kap.X. Leopold I. Österreichs Heldenzeit, Unterkap.1. Wiens zweite Turkenbelagerung, Unterkap.2. Prinz Eugen von Savoyen (S. 60-66), Kap. XIV.- Maria Theresia, Unterkap.1, Ihre Kriege, Unterkap. 2. Maria Theresia als Landesmutter, Unterkap.3. Maria Theresias Persönlichkeit und Familienleben (S. 80-90); Kap. XVIII. Napoleon Bonaparte, Unterkap. 3. Österreich im Jahre 1809 in zwei Abteilungen, die dem Erzherzog Karl und Andreas Hofer gewidmet sind. (S. 116-119). Usw. 53 Isidor Proschko (1816-1891) war ein ungemein fruchtbarer Erzähler populär-patriotischer Geschichten. Gedacht hauptsächlich als Jugendlektüre. Einen Band „Erzählungen aus Österreichs Vergangenheit" hat Günther Jontes herausgegeben (Fohnsdorf o.J.), mit einer kurzen, aber informativen Einleitung zur Person des Verfassers. 54 Man könnte hier die großen Bilderzyklen des Niederösterreichischen Landesregierungsgebäudes von Leopold Kupelwieser (1848 begonnen) zitieren, oder jene des Waffenmuseums - da gibt es beispielsweise in beiden Zyklen eine auf das Jahr 984 datierte „Eroberung von Melk durch Leopold I." usw. Auch in der populär-loyalistischen Dichtung werden alle möglichen Ereignisse auch schon aus der Babenbergzeit (bis 976-1246) verherrlicht. Aber letztlich dominiert die Konzentration auf Rudolf von Habsburg.

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Grundlegungen

gegnet auch Maximilian in der Martinswand, vielfach besungen und von Moritz von Schwind gemalt. Daneben werden immer wieder zwei Themen angeschlagen: der als Dynastiegründer verehrte und inszenierte Rudolf von Habsburg und die habsburgische Heiratspolitik.55 Schließlich wird das ,Heldenzeitalter' Österreichs unter den Kaisern Leopold I., Joseph I. und Karl VI. mit der zentralen Figur des Prinzen Eugen hervorgehoben, sodann Maria Theresia und der Kampf gegen Napoleon. Die habsburgisch-österreichische Mythomotorik erschöpfte sich jedoch nicht mit dem Erzherzog Karl, dem sentimentalen und ,vergeblichen' Sieger von 1809. Sie läuft durch das ganze 19. Jahrhundert auf mehreren Schienen weiter, von denen zwei die bisherigen Traditionen fortsetzen: 1. Die Abstützung des Habsburgermythos durch den Mythos der kaiserlichen Armee - besonders massiv nach 1848, als sich die Armee in der Tat als wichtigste Klammer der Monarchie erwiesen hatte, und dauerte fort, letztlich bis 1918. Freilich war die Armee nach 1848 in den bürgerlichen deutschösterreichischen Kreisen gar nicht populär, aber das änderte sich langsam: Nach den Niederlagen von 1859 und 1866 fühlte man mit den Unterlegenen mit. Das Katastrophenjahr 1866 brachte aber nicht nur die Niederlage von Königgrätz, sondern auch noch zwei glanzvolle vergebliche Siege56, die an die beste Tradition Erzherzog Karls anschlössen. Tatsächlich tragen die Siege von Custozza (durch die Südarmee unter Erzherzog Albrecht, dem Sohn Karls) und bei Lissa (durch den Admiral Tegetthoff) besonders skurrile Züge, hatte doch der Kaiser Venetien bereits vor dem Feldzug an Napoleon III. abgetreten; es ging also nur mehr um die Ehre. Beide Schlachtensieger erhielten eindrucksvolle Denkmäler in Wien, und der Mythos der Armee wurde um einen maritimen Zusatz bereichert, welcher die bisherige Konzentration auf die Landstreitkräfte in höchst gelegener Weise ergänzte. Nun kam das Wehrgesetz von 1868 mit der allgemeinen Wehrpflicht 55 Für die Gestaltung dieser Themen in Literatur und Malerei vgl. Ernst Bruckmüller: Österreich - An Ehren und an Siegen reich. In: Monika Hacke (Hg.): Mythen der Nationen, Ein europäisches Panorama. Berlin 1998, S. 269-294. - Die dichterische Gestaltung der Figur Rudolfs von Habsburg durch Friedrich Schiller, Der Graf von Habsburg, entstanden 1803/04, wurde in österreichischen Schulbüchern und in der populären patriotischen Literatur überaus häufig, geradezu bis zum Überdruß, reproduziert. Aus Platzmangel muß hier auf Detailbelege verzichtet werden. 56 Die selbst wieder zum Mythos gewordenen „vergeblichen Siege" (und fruchtbaren Niederlagen) wurden thematisiert in der Ausstellung 996-1996. Ostarrichi - Osterreich. Menschen - Mythen - Meilensteine, 1996, im Katalog S. 481-507.

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und damit erhielt die wichtigste gemeinsamkeitsbildende Institution der nunmehrigen Doppelmonarchie (mit einem Innenleben von zwei Staaten, das jede andere Transferierung von habsburgisch-österreichischer Mythologie nach Ungarn unmöglich machte) eine enorme Wirkmächtigkeit in der breiten Fundierung eines populären Kaiser- und Armee-Mythos. Wir werden nicht fehl gehen, wenn wir in dieser Reform eine der wichtigsten Maßnahmen für die Sicherung der Weiterexistenz, vielleicht sogar noch der Ausbreitung eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls in den breiten Bevölkerungsschichten der Monarchie sehen. 57 2. Die Inszenierung des lebenden Monarchen als Mythos. Das passierte schon zu den Zeiten der Kaiser des 17. und 18. Jahrhunderts, freilich mit erheblicher Änderung der mythologischen Kostümierung (vom ,Herkules' bis zum ,kaiserlichen Pflüger', als der sich Joseph II. inszeniert). Für unseren Zeitraum geht es u m Kaiser Franz Joseph. Nun hatte es schon der ,gute' Kaiser Franz (1792-1855) hervorragend verstanden, sich selbst als gutmütigen, wenngleich bürokratischen ,Vater' seiner Untertanen, Königreiche und Länder zu inszenieren. Er unterstrich diese Attitüde eines bürgerlichen Paternalismus auch durch sein Außeres : Er trug häufig zivile Kleidung, Frack und Zylinder (neben den großen zeremoniellen Herrscherporträts im Krönungsornat, oder in Uniform). Ganz anders Franz Joseph: Immer ist er Soldat gewesen und geblieben. Von ihm gibt es nur wenige Abbildungen in Zivil. Der Kaiser-Mythos wird in die Uniform der k.(u.)k. Armee gekleidet, zugleich Residuum unumstrittener absolutistischer Kommandogewalt auch nach 1867 und letzte (und wichtigste) Herrschaftsstütze. So hatte der junge Monarch 1848/49 seine Armee erlebt und so sollte es nach d e m Wunsch des alternden Kaisers auch bleiben. Ebenso wie sein Großvater Franz stilisierte sich Franz Joseph im Alter außerdem als Beamter. Der Kaisermythos, das war der alte Kaiser, im weißen Backenbart, in der Uniform am Schreibtische sitzend und Akten studierend, in der Vorstellung immer noch der aufgeklärte absolutistische Monarch, der jeden Vorgang der Verwaltung in sein e m großen Reich verfolgte. Und auch das hat seinen zutreffenden Kern, denn, wie schon Joseph Redlich bemerkte, je weniger es politische Lösungen für die großen Probleme der Monarchie zu geben schien, desto m e h r wurden alle Fragen ins Bürokratische transferiert. 58 Aber damit sind wir

57 Bruckmüller, Nation, S. 370 ff. 58 Redlich, Staats- und Reichsproblem, passim; Ders.: Kaiser Franz Joseph von Osterreich. Eine Biographie. Berlin 1928.

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Grundlegungen

schon auf dem Gebiet des Habsburgermythos des 20. Jahrhunderts, dessen Nachwirken in der österreichischen Literatur Claudio Magris so eindrucksvoll beschrieben hat.59 War damit zu den aufblühenden Mythen der ,erwachenden Nationen' ein ausreichendes Gegengewicht zu schaffen? Jedenfalls scheinen die Habsburger und ihre Berater aus den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts ihre eigene Lehre gezogen zu haben: Wenn die ,Geschichte' den Boden für das neue Selbstbewußtsein der Rationalitäten' oder,Volksstämme' bot, so konnte eine besondere österreichische', vaterländische' Geschichte dem entgegenwirken, wie sie schon Hormayr60 geboten hat, oder Johann Graf Majláth,61 Josef Alexander Freiherrr von Helfert62 oder, in ganz popularisierter Manier, ein Isidor Proschko.63 Ein zentrale Figur in der Schulgeschichtsschreibung war Anton Gindely, dessen Lehrbücher jahrzehntelang die Szene beherrschten. Gindely bot freilich eine zwar sehr solide, wissenschaftlich abgesicherte, von mythologischem Beiwerk gereinigte, aber etwas trockene Darstellung. Patriotischer und übernationaler Eifer beseelte ihn zwar, aber es ist zweifelhaft, ob er ihn auf die Schüler übertragen konnte.64 Erst sehr spät hat man eine sol59 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. 60 Joseph Frh. von Hormayr: Österreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten, und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler. Zuerst herausgegeben in den Jahren 1807-1814, dermalen im Buchhandel ganz vergriffen, und des interessanten Inhalts wegen wörtlich nach dem Original wieder abgedruckt (in Austria: Österreichischer Universal-Kalender, 1854, 1855, 1856, 1857), 2 Bde. 61 Johann Graf Majláth: Geschichte des österreichischen Kaiserstaates, 5 Bde. Hamburg 1834-1850. In zwei Versionen, die zweite etwas schlanker, sonst fast wörtlich gleich: Johann Graf Mailáth: Gedrängte Geschichte des österreichischen Kaiserstaates bis auf die neueste Zeit. Wien 1851; Johann Graf Mailáth: Gedrängte Geschichte des österreichischen Kaiserstaates bis zum Wiener Congresse. Zum Gebrauche für Gymnasien und Realschulen. Wien 2 1854 62 in seiner 17bändigen Geschichte Österreichs für das Volk. 63 s. o. Anm. 53. 64 Zu Anton Gindely vgl. Brigitte Hamann: Anton Gindely - ein altösterreichisches Schicksal. In : Erhard Busek / Gerald Stourzh (Hgg.) : Nationale Vielfalt und gemeinsames Erbe in Mitteleuropa. Wien - München 1990, S. 27-37. - Der „Gindely" erschien seit 1862 in mehreren Ausgaben (für Gymnasien, für Realschulen, für Unter- und Oberstufen) und Auflagen, ebenso in vielen Übersetzungen in die meisten Sprachen Österreichs. Er war das klassische Lehrbuch für Geschichte und fand in den Bearbeitung von Franz Martin Mayer noch weitere Auflagen, bis ins 20. Jahrhundert hinein. „Der Gindely" kommt so auch in der

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che ,Reichsgeschichte' auch an den Universitäten installiert, und hier sonderbarerweise als Pflichtfach nicht nur für Historiker, sondern auch für Juristen, als „österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte". 65

4.

D A S P R O B L E M D E S J A H R E S 1 8 4 8 IN D E R REICHISCHEN

GESCHICHTE

DES 19.

ÖSTER-

JAHRHUNDERTS.

Die Geschichte der Revolution lieferte vor allem den habsburgkritischen Geistern in der Monarchie neue Nahrung. Die im ungarischen Selbstbewußtsein (und in der ungarischen Kunst) so häufig erinnerten „Märtyrer von Arad" waren im Jahre 1849 von den Österreichern hingerichtete ungarische Offiziere. 66 Den verheißungsvollen nationalen Bildern wurde die „schwarze Legende" vom düsteren, reaktionären „Völkerkerker" Osterreich gegenübergestellt, die ihrerseits wieder auf ältere negative Österreichbilder aus der Zeit der Gegenreformation, der Aufklärung und des Vormärz zurückgreifen kann. 67 Daher fand die Revolution von 1848 nur einen recht prekären Platz in der österreichischen Geschichtsschreibung des 19. (und sogar noch des 20.) berühmten „Meyrias" vor, jenem satirischen Hexameter-Gedicht, das um 1900 im deutschjüdischen Gymnasial-Milieu von Prag spielt. 65 dazu Lhotsky, Historiographie, S. 205 f. 66 Die „Märtyrer von Arad" wurden ein zentraler Bestandteil des ungarischen Nationalmythos des 19. (und 20.) Jahrhunderts. Eine bildliche Darstellung vgl. Katalog 996-1996. Ostarrichi - Österreich. Menschen - Mythen - Meilensteine, Wien 1996, S.589, Nr. 14.7.22 (Mihály Zichy, 1827-1906, Apotheose auf die Märtyrer von Arad, Budapest, PetCfi Irodalmi Múzeum, Sammlung Jókai, Inv.Nr. 62.1209.1) 67 Zur „schwarzen Legende" als düsteres Österreichklischee vgl. Bruckmüller, Nation, S. 132 ff. - Ein schöner Ausdruck dessen ist das Bild von Mihály Kovács, „Die Unterjochung Ungarns im Jahre 1849", auf dem eine schwarzhaarige, mütterliche Frauengestalt in weißem Kleid und einem wallenden roten Umhang (mit zwei kleinen Kindern) von überaus häßlichen, barbarischen Kriegergestalten überwältigt und in Ketten gelegt wird. Diese Kerle tragen unterschiedliche Attribute, so erscheint jener, der das ungarische Wappen mit einem Beil zerschlägt, recht eindeutig als (kroatischer bzw. serbischer) Grenzer identifizierbar; jener, der die Kette um den Fuß der Hungaria legt, erinnert eher an einen Germanen, symbolisiert also wohl die Ungarn unterwerfenden „Deutschen" (Österreicher). Im Hintergrund tummeln sich noch einige gnomenartige, nackte, geradezu erdige Gestalten (vielleicht Russen?). Dazu György Dalos: Ungarn. Mythen - Lehren - Lehrbücher. In: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Berlin 1998, S. 528-556, hier S. 549 f.

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Grundlegungen

Jahrhunderts. Der bis heute i m m e r wieder (notwendigerweise) zitierte ,Klassiker' über die Geschichte der Wiener Revolution von Heinrich Reschauer und Moritz Smets erschien 1872 und ist in der Fülle der Details bis heute nicht überholt. 68 Reschauer und Smets waren keine Berufs-Historiker, sondern Journalisten. Von zwar kompetenter, aber wiederum von den liberalen Vertretern der Zunft nicht selten heftig bekämpfter Seite beschäftigte sich Joseph Alexander Freiherr von Helfert sehr ausführlich mit der Revolution - bei allem anerkennenswerten Bemühen u m eine detailgenaue und objektive Darstellung doch eindeutig ein Vertreter der antirevolutionären habsburgtreuen Orientierung. 6 9 Sehr interessante Darstellungen boten Ernst von Violand und Ernst Viktor Zenker, die aber ebenfalls außerhalb der historischen Zunft entstanden - Violand war aktiver Revolutionär, Mitglied der äußersten Linken, Zenker ein sozialwissenschaftlich und historisch interessierter Journalist. 70 Auch die Geschichte der Wiener Revolution von Maximilian Bach (1898) war das Werk eines Journalisten. 71 Die deutsch-österreichische Historikerzunft hat sich also vor 1914 kaum mit der Revolution befaßt (auch nachher nur selten). Immerhin gibt es auch von dieser Seite durchaus erhellende Sätze zur Revolution, etwa von Heinrich von Zeißberg, erschienen typischerweise in einem Buch zum vierzigjährigen Thronbesteigungsjubiläum Franz Josephs (das ist also das Erinnernswerte am Jahre 1848!). Sie sollen hier etwas ausführlicher zitiert werden, weil sie sehr genau nicht nur das Dilemma der Revolution selbst, sondern auch das Dilemma des liberalen deutsch-österreichischen, im Kerne noch ,großösterreichischen' Bürgertums im Hinblick auf die Erinnerung an die Revolution zeigen. Zeißberg schrieb: Zu einer grossösterreichischen Revolution hatte es also nicht kommen können; es gab nur eine italienische, magyarische, polnische, slavische und nationaldeutsche, die sich alle gegen das Gesammtreich richteten (Hervorhebung vom Autor dieser Zeilen). Was speciell Wien betrifft, so hatte dasselbe zwar dem Principe nach die 68 Heinrich Reschauer / Moritz Smets: Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution. 2 Bde. Wien 1872. 69 Joseph Alexander Frh. von Helfert: Geschichte der österreichischen Revolution. 2 Bde. Freiburg/Breisgau 1907/ 1909. 70 Ernst Violand: Die soziale Geschichte der Revolution in Österreich. Leipzig 1850; Ernst Victor Zenker: Die Wiener Revolution 1848 in ihren sozialen Voraussetzungen und Beziehungen. Wien - Pest - Leipzig 1897. 71 Maximilian Bach: Geschichte der Wiener Revolution im Jahre 1848. Wien 1898.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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Revolution für alle Provinzen des Reiches gemacht, aber derselben eine allgemein giltige Richtung zu geben, vermochte es nicht, da der Inhalt der erreichten Zugeständnisse erst festzustellen war und es hiefür an einem positiven Programme gebrach. Als solches konnte auch nicht etwa der Liberalismus gelten, der zwar in der Hauptstadt des Reiches sich eines ungemein zahlreichen Anhanges erfreute, aber an sich zu nebelhaft war [.. .].7Z

Die Revolution trug also nicht, wie in Frankreich, aber auch in Italien, zur Ausbildung eines gemeinsamen Bewußtseins, neuer zentraler Institutionen und eines gemeinsamen Mythos der habsburgischen Völker bei, sondern ganz im Gegenteil : Mehrere verschiedene Revolutionen mit unterschiedlichen, zum Teil sogar gegensätzlichen Zielsetzungen fanden gleichzeitig oder nacheinander statt und verhinderten nicht nur ihre jeweiligen Erfolge, sondern bedrohten den Bestand des Reiches. Träger der März-Revolution war - nach Zeißberg - der „beste und edelste Theil des Volkes", dem freilich „politische Bildung" völlig abging. Daher fand die „wahre Freiheit" bald eine „falsche Doppelgängerin in jener radicalen Strömung, welche allmälig die gemässigten Elemente zurückdrängte und die Initiative in politischen Dingen in den Schoss destructiver Ausschüsse und zuletzt eines verwilderten Proletariats gleiten liess." 73 Damit wird in sehr knappen Sätzen das Ausscheiden des gemäßigten Bürgertums aus der Führung des revolutionären Geschehens begründet und zugleich auch schon dessen beginnende Hinwendung zur Armee und zur Reaktion. Für das liberale deutsch-österreichische Bürgertum bedeutete die Interpretation der Revolution eine ebensolche Verlegenheit wie für das Herrscherhaus und seine Paladine: Ihre sehr verschiedenen Ausprägungen gefährdeten die Monarchie, die eben jenes deutsch-österreichische Bürgertum als unaufgebbaren Rahmen für ihr eigenes ökonomisches und gesellschaftliches Wirken (als Unternehmer, Bankiers, Freiberufler, Beamte, Wissenschaftler usw.) auffaßte. Und da diese bürgerlichen Gruppen die (historisch) ersten in der Monarchie waren (sieht man von den italienischen Besitzungen ab), war diese Auffassung auch untrennbar mit einem Gefühl sozialer 72 Heinrich von Zeißberg: Historische Übersicht. In: Wien 1848-1888. Eine Denkschrift zum 2. December 1888. Hrsg. v. Gemeinderathe der Stadt Wien. 2 Bde. Wien 1888, hier 1. Band, S. 5. 73 Zeißberg, Ubersicht, S. 6.

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Grundlegungen

(und nationaler) Überlegenheit verbunden, das den Zerfall der Monarchie ebenso fürchtete wie die Emanzipationsbestrebungen der nichtdeutschen Nationen. Das bürgerliche Erinnern an die Wiener Revolution von 1848 war daher niemals frei von Peinlichkeit. Es erscheint wie eine fast bewußte Verdrängungsleistung, wenn eine der großen Figuren von 1848, Adolf Fischhof, der sich auch späterhin stets zu den Idealen jenes Jahres bekannte, vom deutsch-österreichischen Liberalismus der Jahre nach 1861 keine Chance für praktische politische Wirksamkeit erhielt.74 Keineswegs konnten die Habsburger das Erinnern an die Revolution von 1848 für sich nutzen. Fast schien es so, als wäre eine Flucht aus der Geschichte sinnvoller: In den zeitlosen Mythos des frommen und daher von Gott begünstigten Urahnen (und damit in das blanke Gottesgnadentum des lebenden Herrschers), in den Mythos der staatsbildenden gemeinsamen Siege gegen das ,Heidentum' (die Osmanen) und in den Mythos der vielfach unterlegenen, zuletzt aber erfolgreichen Abwehr der französischen (und wieder der 1848er) Revolution. Es hat diese konsequent antirevolutionäre Haltung der Habsburger ihre Hintergründe - und ihre Folgen. Im Rahmen der Ausstellung „Mythen der Nationen" waren in der Tat die Habsburger (und damit im Zusammenhang auch ,die Österreicher' oder ,die Deutschen') am häufigsten als Feindfiguren im Rahmen ,nationaler' Erzählungen aufgetreten : Rei den Tschechen, bei den Ungarn, bei den Italienern, bei den Niederländern, bei den Schweizern, aber auch bei den Deutschen (Luther!). Es sind die historischen Hintergründe eben dafür (nämlich die Versuche der Habsburger, die Kaiserwürde und die Herrschaft über zahlreiche Königreiche und Fürstentümer im 16. Jahrhundert zu einer Europa dominierenden, katholischen Macht auszubauen - und die erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen dagegen) hier nicht weiter zu diskutieren. Aber sie zeigen mit aller Deutlichkeit, daß der antirevolutionäre Mythos der Habsburgermonarchie massive historische Hintergründe hatte.

74 Robert A. Kann: Das Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie. 2 Bde.Wien/Graz/Köln 1964, Bd.2., S, 149 ff.; Redlich, Staats- und Reichsproblem 1/2, S. 78.

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Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

5.

EINE ART S C H L U S S -

G R I L L P A R Z E R , DIE

GESCHICHTE

UND D I E B E M Ü H U N G E N UM E I N E M Y T H O L O G I E DER HABSBURGERMONARCHIE „ D i e n e u e r e n D e u t s c h e n " - schrieb Franz Grillparzer 1863 treiben ihre gelehrten Wunderlichkeiten, ohne sich um die möglichen praktischen Folgen viel zu kümmern. Damit wagen sie bei ihren Landsleuten nicht viel, da diese nicht so schnell bereit sind, ihre Meinungen oder (s. v. v.) Überzeugungen ins Werk zu setzen. Kommen aber derlei Schlagworte an Völker, die bei weniger Denkkraft mehr Neigung haben, ihre Entschlüsse praktisch zu machen, oder bemächtigt sich ihrer gar die Schurkerei als willkommener Vorwand für eigene Unternehmungen, so entstehen daraus Verwicklungen, ja Kalamitäten, unter denen gerade wir Ostreicher am meisten zu leiden haben. Diese neudeutschen Fortschrittsphrasen nun sind: Nationalität, Sprachenabgötterei und übertriebene Wertschätzung der Geschichte. [.. .]75 Grillparzer hat d a s P r o b l e m , aus d e r Geschichte die G e g e n w a r t abzuleiten, i m m e r w i e d e r beschäftigt. Nicht nur von e i n e m ,österreichischen', s o n d e r n auch von e i n e m a l l g e m e i n e n Gesichtspunkt aus beurteilte er - in einer bem e r k e n s w e r t e n A r g u m e n t a t i o n - alle d i e s b e z ü g l i c h e n B e m ü h u n g e n s e h r skeptisch: Ich zweifle nicht, daß in den menschlichen Dingen, also auch in der Geschichte, ebensogut eine Notwendigkeit ist als in den Naturdingen. Aber jeder Mensch hat zugleich seine Separatnotwendigkeit, so daß Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vor- und rückwärts streben und dadurch für einander den Charakter des Zufalls annehmen und es so, abgerechnet die Einwirkung der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende Notwendigkeit des Geschehens nachzuweisen. Es geht damit wie mit der Witterung, die gewiß so bestimmte Gesetze hat als der Umlauf der Welten, aber durch die Mannigfaltigkeit der Einwirkungen es unmöglich gemacht hat, auch nur für eine

75 GW 11/12, 51 (1861). Allgemein zu Grillparzers Stellung zur Geschichte vgl. Friedrich Kainz: Grillparzer als Denker. Der Ertrag seines Werkes für die Welt- und Lebensweisheit. Österr. Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte 280/2, Wien 1975, S. 349-365.

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Grundlegungen

kurze Periode etwas Bestimmtes vorauszusagen oder das wirklich Eingetroffene folgerichtig zu erklären. 76

Folgerichtig kritisierte er daher auch das Gerede von der „Macht der Geschichte": Einer der schielenden Ausdrücke unserer Zeit ist, wenn mein von der Macht der Geschichte spricht. Ich weiß nicht, warum mein nicht lieber sagt: die Macht der Begebenheiten, welche allerdings die größte ist, die es gibt. Die Geschichte ist nur unser Wissen von den Begebenheiten, und letztere haben gewirkt, ehe es noch eine Geschichte gab, und wirken noch jetzt, wenn auch niemand von ihnen weiß. Es gibt eine Macht der Geschichte, nämlich die alles Wissens und Erkennens, welche aber auf die Begebenheiten oder den Weltlauf eine nur sekundäre Wirkung ausübt. [.. .]77

Und weiterhin zur Bedeutung von „Geschichte": Ich gestehe, daß mich eine Art Schauder bei diesem Wort anwandelt. Jeder Mensch erkennt sein eigenes Leben als eine Verkettung von Leidenschaften und Irrtümern, sieht dasselbe in dem Leben der andern vielleicht in verstärktem Maßstabe, und doch soll aus dem Gesamtleben der Menschheit, diesem Weltsystem von Irrtümern und Leidenschaften, das Wahre hervorgehen, die Wahrheit. [...] Dieser geheime Schauder nimmt übrigens dem Studium der Weltereignisse nichts von seinem Werte; nur wird er mehr ein negativer: durch die Kenntnis dessen, wovor man sich zu hüten, als ein positiver: die Regel angebend für das, was zu geschehen hat. Weiter, was ist denn Geschichte? Was gestern geschehen, ist für heute Geschichte sowie, was heute geschieht, für morgen. Will man aber Geschichte im engern Sinne, als durch die letzten Folgen belehrend, auf jene Zustände beschränken, die bereits zum Abschluß gekommen sind, so mag man bedenken, daß nichts als abgeschlossen betrachtet werden kann, als was zu Grunde gegangen ist und eben deshalb nur eine negative Lehre darbietet. [...] Das Alte unter immer neuen Umständen ist der ewige Gang der Welt. Wer die Geschichte richtig anwenden will, muß aus den neuen Umständen den alten 76 GW II/U, 121 (1846). 77 GW 11/12, 5 (1857). 78 GW 1/13, 182 f.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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Kern heraus erkennen und über den alten Bestandteilen die neue Zusammenfügung nicht übersehen. Das ist nicht leicht, und ein Geschichtskenner ist deshalb noch kein Welterfahrner. [.. .]78 Nun war Grillparzer zwar überaus skeptisch gegenüber einer die Gegenwart legitimierenden Geschichte (diesem „Weltsystem von Irrtümern und Leidenschaften"). Aber er verlangte von den Historikern doch mehr als eine bloße Materialsammlung: O weh, o weh, ich arme Geschichte ! Was fallt auf mich das Material so dichte ! Alle meine Glieder liegen drunter begraben, Will doch wenigstens den Kopf frei haben. Zwar das Denken ist jetzt entbehrlich für jeden, Brauch aber höchst nötig das Maul zum Reden.79 Sein Urteil über Historiker wie den - als geradezu besessenen Herausgeber - hier wohl besonders gemeinten stellvertretenden Leiter des Haus-, Hofund Staatsarchives, Joseph Chmel, war denn auch recht sarkastisch. 80 Die Skepsis Grillparzers gegenüber der für die Gegenwart legitimierenden Suche in der Vergangenheit konkretisiert sich im Blick auf die Geschichte des deutschen Volkes: Nun fürchte ich sehr, daß die deutsche Nation allerdings Begebenheiten, wichtige, erhebende, großartige Begebenheiten aufzuweisen hat, aber keine Geschichte, insofern dadurch ein Zusammenhang der Ereignisse, eine Entwicklung nationeller Anlagen und Zustände bezeichnet wird. Namentlich kommt das, was wir jetzt suchen, das Merkmal der Freiheit, nur in den absurdesten Verzerrungen darin vor. [.. ,]81

79 Franz Grilllparzer, Urkundensammlungen (1855), GW 1/12,1, 265. 80 Sein Urteil über Chmel: „Das macht diesen Friedrich IV. so ekelhaft, daß, indes seine Feigheit ihn zu jeder Lösung untüchtig machte, seine Habsucht ihn in immer neue Verwicklungen hineinzog. Von seinem Historiographen Chmel kann man wohl sagen, daß er unter den Geschichtsschreibern ungefähr dieselbe Stelle einnimmt, wie sein Held unter den Königen" (GW 11/11, 100) 81 GW 1/13, 183.

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Grundlegungen

Von den Deutschen kommt das Unheil zu den Slawen, zunächst zu den Tschechen : Nachdem sie alles, was sie wissen und können, von den Deutschen gelernt haben, ahmen sie ihnen, zum schuldigen Danke, auch ihre neuesten Narreteien nach. Denn woher stammt dieses Geschrei von Nationalität, dieses Voranstellen von einheimischer Sprach- und Altertumswissenschaft anders als von den deutschen Lehrkanzeln, auf denen gelehrte Toren den Geist einer ruhig verständigen Nation bis zum Wahnsinn und Verbrechen gesteigert haben ? Dort ist die Wiege eurer Slavomanie, und wenn der Böhme am lautesten gegen den Deutschen eifert, ist er nichts als ein Deutscher, ins Böhmische übersetzt. [.. ,] 82

Prinzipiell hat Grillparzer schon recht gesehen: Die neuen Massenbewegungen erfordern einen neuen Mythos. Geschichte und Literatur stellen ihn bereit. Das konnte in Osterreich nicht mehr so richtig funktionieren, da seit dem ,nationalen Erwachen' kollektives Erinnern in Geschichte und Literatur überwiegend nur mehr im sprach-nationalen Rahmen erfolgte. Die Mobilisierung regional-nationaler Mythen auf der Basis einer gemeinsamen Sprache' oder gemeinsamen Geschichte' (von Wien aus gesehen jeweiliger Partialgeschichten Böhmens, Ungarns, Kroatiens usw.) mußte notwendig die das Reich in Frage stellenden Kräfte stärken. Er hat ja selbst bei seinem patriotischesten Stück, dem König Ottokar, die Erfahrung machen müssen, daß die Befürchtungen des Polizeipräsidenten Sedlnitzky, der es unter anderem mit der Begründung zurückhielt, die Tschechen könnten sich beleidigt fühlen, nicht ganz unbegründet waren. 83 Denn die Schlacht auf dem Marchfeld verwandelt sich im 19. Jahrhundert für den tschechischen Nationalmythos des 19. Jahrhunderts in eine der großen, im kollektiven Gedächtnis eingegrabenen Niederlagen (übertroffen nur vom Weißen Berg, 1620).84 Beide historischen Niederlagen erwecken bei ihrer Erinnerung automatisch antihabsburgische Gefühle. Und insoferne diese Niederlagen auch gleichzeitig die Herrschaft des Hauses Habsburg in Mitteleuropa begründeten bzw. festigten, mußte das (tschechische) Erinnern daran fast notwendig einen für das Herrscherhaus problematischen Beigeschmack erhal-

82 GW 1/13, 217 f. 83 GW 1/16, 177 f. 84 Vit Vinas / Zdenek Hojda: Tschechien - „Gönnt einem jeden die Wahrheit!" In: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen (Anm. 57), S. 502-527, hier S. 508 ff.

Die österreichische Revolution von 1848 und der Habsburgermythos

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ten. Und bei den Ungarn spielte sich analoges im Erinnern an Rákoczy, an die Kuruzzenkämpfe und an 1848/49 ab. Der vaterländische Dichter' Österreichs par excellence hat mit der Libussa auch ein zweites Zentralthema des sich entfaltenden tschechischen Nationalmythos aufgegriffen. 85 Mit dem Treuen Diener seines Herrn brachte

er übrigens auch ein Kapitel ungarischer Geschichte auf die Bühne. Zusammen mit dem Ottokar und dem Bruderzwist dramatisierte Grillparzer daher nicht nur zentrale Themen der mitteleuropäischen Geschichte, sondern betätigte sich als (bewußter?) Mitschöpfer eines übernationalen, über die je eigenen Sprachnationen hinausreichenden Mythos des habsburgischen Mitteleuropa. 86 Aber Grillparzer schrieb zu einer Zeit, als das Projekt einer übersprachlichen (aber deutsch geführten) österreichischen Nation nicht (mehr) verwirklichbar gewesen ist. Auch sein Werk konnte in diesem Sinne nur mehr eine begrenzte Wirksamkeit entfalten. Damit scheitert aber letztlich auch jeder Versuch, von Wien aus historisch - literarisch einen verbindenden Habsburg-Mythos zu begründen. Auch auf die Gefahr hin, hier nur eine Wiederholung zu liefern: Kaiser und Armee, zwei den historisch-wissenschaftlichen ebenso wie den literarischen Bestrebungen fernstehende Institutionen, vermochten wohl besser als Literatur und Geschichte einen Kitt für die problematisch gewordene Monarchie abzugeben.

85 Zum Libussa-Mythos in der tschechischen Kunst und Literatur des 19., Jahrhunderts vgl. Vinas / Hojda, Tschechien - „Gönnt einem jeden die Wahrheit!" (Anm. 84), S. 504 ff. 86 Es wäre überaus lehrreich, im internationalen Vergleich zu untersuchen, welche historischen Ereignisse zum historischen Gedächtnis mehrerer Nationen gehören, und ob dies in übereinstimmender oder kontradiktorischer Richtung geschah. So hat das 19. Jahrhundert den Böhmenkönig Ottokar in „tschechischer" oder aber in habsburgisch-österreichischer Richtung verarbeitet; der Sieg von 1685 über die Osmanen bereichert die habsburgischösterreichische ebenso wie die polnische Mythologie usw.

Jift' Koralka

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

Ι. P O L I T I S C H E

REFORMBESTREBUNGEN

Das Regierungssystem im Kaisertum Osterreich litt in den drei Jahrzehnten vor 1848 an Unbeweglichkeit und grundsätzlicher Reformfeindschaft. In der Staatskonferenz herrschte Rivalität und Systemlosigkeit vor, höchste Priorität wurde dem Kampf gegen liberale und demokratische Gedanken eingeräumt. Die meisten wichtigen Probleme, sogar die dringende Agrarreform, blieben ungelöst. Aufgeklärte Köpfe der österreichischen hohen Bürokratie waren sich der Übelstände des Vormärzregimes wohl bewußt und spielten eine wesentliche Rolle bei der Modernisierung des Rechtswesens und des Schulsystems, besonders bei der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht. Es ist kein Zufall, daß einige reformfreudige Minister der österreichischen Regierung von 1848 aus den höchsten Beamtenkreisen stammten, zum Beispiel Ministerpräsident Freiherr Franz Pillersdorf, der ab 1809 als Finanzfachmann in der H o f k a m m e r und ab 1832 als Hofrat in der Vereinigten böhmisch-österreichischen Hofkanzlei tätig war. Gemäßigt liberale Ideen im Sinne einer konstitutionellen Monarchie waren unter österreichischen Beamten bürgerlichen wie adeligen Ursprungs vor 1848 weit verbreitet. 1 Bürgerliche Reformkräfte sammelten sich vor 1848 in Wien und Niederösterreich zunächst in Privatsalons aufgeschlossener Staatsbeamter, Juristen, Arzte und Wissenschaftler, wo auch die meisten im Ausland gedruckten oppositionellen Schriften zirkulierten. Man forderte die Umbildung des absolutistisch und bürokratisch regierten Polizeistaates in einen Verfassungsstaat mit Parlament, verantwortlicher Regierung, unabhängigen Gerichten, Presse- und Versammlungsfreiheit, öffentlichen Finanzen und freier Gemeindeordnung. Von diesen Kreisen und von den Wiener Universitäts-

1 W. Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848. Wien/Köln/Graz 1991, S. 200-209. Dieser Text ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meines Beitrages im Sammelband D. Dowe u.a. (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 197-250.

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

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Studenten rührten in der ersten Märzhälfte von 1848 drei verschiedene Petitionen her, die mit Nachdruck konstitutionelle Freiheiten verlangten. Auch in Böhmen, besonders in Prag, entwickelte sich vor 1848 eine selbstbewußte und aktive bürgerliche Vorhut, zumeist aus Wissenschaftlern, Schriftstellern und Juristen zusammengesetzt, die auf dem Weg der Reform, nicht mit revolutionären Mitteln, die bürgerliche Umgestaltung anstrebte. Nach der ersten Volksversammlung in Prag am 11. März 1848 beherrschte diese liberale Führungsgruppe die politische Bewegung im tschechischen Siedlungsgebiet Böhmens und bewies ihre große Autorität in allen Wahlen des Sturmjahres. Aus oppositionellen Kreisen polnischer Advokaten, Herrschaftsbeamter und Kleinadeliger Galiziens stammte die ebenfalls reformorientierte Petition vom 18. März 1848, die eine politische Amnestie, Abschaffung der Zensur, gleiche Rechte für alle Bürger und die Einberufung des galizischen Landtags forderte. Mit dem erklärten Ziel, den Reformweg zu verstärken und zu sichern, entstanden neue Machtorgane in einigen Provinzzentren des österreichischen Vielvölkerstaates, die allerdings von den bestehenden Regierungen in Wien und Pest nicht anerkannt wurden. Noch am 11. März 1848 wurde der Prager Bürgerausschuß, nach dem Ort der Versammlung auch Sankt-Wenzelsbad-Ausschuß genannt, konstituiert und am 10. April 1848 zu einem machtvollen Nationalausschuß erweitert. In Lemberg bildete sich am 13. April 1848 ein Nationalrat, der auch nach seiner Auflösung durch die Wiener Regierung halb konspiratorisch weiterwirkte. Der am 14. April 1848 sein Amt angetretene kroatische Banus Josip Jelaöic teilte seine Verantwortlichkeit mit dem zur Hälfte aus kroatischen Konservativen und Liberalen bestehenden Banalrat, der die faktische Regierungsgewalt ausübte und jede Unterordnung unter die ungarische Regierung ablehnte. Der böhmische Landeschef Graf Leo Thun begründete die Ernennung einer achtköpfigen provisorischen Regierung in Prag am 29. Mai 1848 mit dem Hinweis, daß das Ministerium Pillersdorf in Wien durch die revolutionäre Bewegung in der Hauptstadt gelähmt sei und nicht mehr frei entscheiden könne. 2 Nur dem Banus von Kroatien gelang es, die Abneigung des österreichischen Kaiserhofes gegen den Radikalismus in Wien und Pest für die autonome Verwaltung seines Landes zu nutzen, während in Böhmen und Galizien die österreichische Regierung mit Hilfe des Militärs die Oberhand behielt. 2

F. Prinz: Prag und Wien 1848. Probleme der nationalen und sozialen Revolution im Spiegel der Wiener Ministerratsprotokolle. München 1968, S. 46-67.

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2. GEGENSÄTZLICHE

Grundlegungen

NATIONSVORSTELLUNGEN

Irrt habsburgischen Vielvölkerstaat stand das Jahr 1848 im Zeichen eines energischen Auftretens verhältnismäßig kleiner Gruppen von Aktivisten, die ihre politischen Forderungen im Namen ihrer eigenen Nation erhoben. Sie beriefen sich abwechselnd oder auch gleichzeitig auf natürliche und historische Rechte ihrer Nationen, die in den meisten Fällen als moderne Gesellschaftsstruktur noch nicht existierten. Diese Entfaltung nationaler Bindekräfte und nationaler Ideologien scheint eine unausweichliche Begleiterscheinung der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer Überbrückung ständischer und regionaler Grenzen zu sein. Die fast auf dem ganzen Territorium der Habsburgermonarchie während der Jahre 1848-1849 ausgebrochenen Nationalitätenkonflikte hingen nur zum Teil mit dem ungleichmäßigen Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung und mit der ethnisch-sprachlichen Überschichtung zusammen. Entscheidend war, daß die territorialen und staatspolitischen Forderungen der einzelnen Nationalbewegungen mit den Ansprüchen ihrer unmittelbaren Nachbarn unvereinbar waren, was bestenfalls zu Mißverständnissen, öfter jedoch zum offenen politischen oder zum bewaffneten Kampf führte. Die Vorstellung einer gesamtösterreichischen Staatsnation war im Frühjahr 1848 nur für eine dünne Schicht reformkonservativer Persönlichkeiten des vorrevolutionären Regierungssystems annehmbar. Der nationale Stolz dieser Altösterreicher, wie er vornehmlich in der von Karl Ferdinand Hock redigierten Constitutionellen Donau-Zeitung zum Ausdruck kam, stützte sich nicht nur auf die berühmte Kaisertreue, sondern auch auf die erwünschte machtpolitische Größe und den historischen Ruhm der Vielvölkermonarchie. Seinem Wesen nach sollte das staatspolitische Osterreichertum supraethnisch sein und versprach die Achtung der ethnisch-sprachlichen Unterschiede der einzelnen Völker des Habsburgerreiches mit der Einschränkung, daß diese nicht in die nationalpolitische Sphäre eindrängen. In der einheitlichen Staatsverwaltung und auch in den Bereichen der höheren Kultur und Bildung sollte allerdings nur die deutsche Sprache verwendet werden. Außenpolitisch verlangten die Altösterreicher die Aufrechterhaltung der unbedingten Vormachtstellung Österreichs im Deutschen Bund und womöglich auch die Erweiterung der Machtsphäre Österreichs auf dem Balkan. Die antiliberale Einstellung des staatspolitischen Österreichertums machte einen großen Teil der politisch aktiven österreichischen Deutschen abspenstig, aber nach der militärischen Unterdrückung Wiens Ende Okto-

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

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ber 1848 gewannen reformkonservative Altösterreicher immer mehr an politischem Einfluß. 3 In den meisten österreichischen Kronländern wirkte das Provinzialbewußtsein noch 1848 stärker als die Gesamtstaatsidee oder der deutsche Nationalgedanke. Unter den Abgeordneten, die aus den zum Deutschen Bund gehörigen österreichischen Ländern in die Frankfurter Nationalversammlung entsandt wurden, gab es viele Anhänger der österreichischen Führungsrolle in Deutschland, jedoch nicht weniger zahlreich waren nationalbewußte Deutsche, die gegenüber den Tschechen in Böhmen und Mähren, gegenüber den Slowenen in Krain und den umliegenden Gebieten und gegenüber den Italienern in Triest und Südtirol die staatspolitische Auffassung des künftigen deutschen Nationalstaates geltend machen wollten. In dieser Hinsicht waren deutschböhmische Liberale und Demokraten angesichts des zugespitzten Nationalitätenkonflikts in ihrem Land besonders dazu geneigt, den österreichischen Gesamtstaat zu sprengen und neben Ungarn, Venetien und Lombardei auch Galizien mit der Bukowina und Dalmatien abzusondern, damit die Deutschen in Restösterreich eine sichere nationale Mehrheit gegenüber den Tschechen und Slowenen gewinnen könnten. 4 Sie stützten sich in dieser Hinsicht auf die Auffassung der Frankfurter Nationalversammlung, die auf die nichtdeutsche Bevölkerung in den Ländern des Deutschen Bundes historisch-staatsrechtliche Argumente anwandte und sie zu gleichberechtigten Deutschen erheben wollte, während bei der Aufteilung des Großherzogtums Posen ethnisch-sprachliche und wirtschaftliche Begründungen benutzt wurden. 5 Dieselbe territorial-politische Nationsauffassung bot den Führern der ungarischen Nationalbewegung vor 1848 ein geeignetes Hilfsmittel zum Ubergang vom adeligen Landespatriotismus zur politischen Beeinflussung und zur Beherrschung anderer ethnisch-sprachlicher Gruppen. Die ursprünglich supraethnische ungarische politische Nation durchlief vor 1848 einen erfolgreichen Magyarisierungsprozeß. Lajos Kossuth verglich die

3 J. Kofalka: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern. Wien-München 1991, S. 27-57. 4 Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme, Bd. 1, Wien 1848, S. 157. Der Antrag wurde in der Tagespresse breit besprochen. 5 G. Wollstein: Das „Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977, S. 135-188.

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Grundlegungen

Slawen, Rumänen und Deutschen auf dem Territorium des Königreichs Ungarn mit den Bretonen in Frankreich, den Walisern und Iren in Großbritannien oder den Kaschuben in Preußen, die ihre eigenen Bräuche und ihre Volkssprache im Privatleben beibehalten dürften, aber im Bereich der Politik und der höheren Bildung der Staatsnation angehörten.6 Die revolutionäre Entwicklung der Jahre 1848-1849 verstärkte die Uberzeugung, daß es in Ungarn nur eine ungarische Nation gebe, deren Bestandteil auch nichtmagyarische Ethnien oder Nationalitäten seien. Auch die polnische Nationalbewegung erhob in ihrem Kampf fur die nationale Einheit und die Wiederherstellung des polnischen Staates einen Loyalitätsanspruch auf nichtpolnische Ethnien. Die polnischen Petitionen aus Galizien vom März 1848 vertraten die Auffassung einer politischen Nation der Polen, zu der auch polonisierte Ruthenen gehören sollten. Mehrere Vertreter des polnischen Adels sprachen etwa den Ruthenen den Charakter einer eigenständigen Nationalität ab. Demgegenüber zeigte sich der böhmische adelige Landespatriotismus in den Jahren 1848-1849 als schwach und wenig überzeugend in Auseinandersetzung mit dem deutschen und tschechischen bürgerlichen Nationalismus. Im Prager Nationalausschuß waren zwar auch einige böhmische deutschsprechende Aristokraten zwei Monate lang tätig, aber sie waren nicht imstande, die Ziele der politischen Bewegung wesentlich zu beeinflussen. Die nationalpolitische Auffassung der tschechischen Forderungen im Frühjahr 1848 schwankte zwischen einer historisch-staatsrechtlichen und einer naturrechtlichen Begründung. Während die von Frantiäek August Brauner redigierte erste Prager Petition vom 11. März 1848 die staatsrechtliche Vereinigung der Länder der böhmischen Krone, Böhmen, Mähren und Osterreichisch-Schlesien, mit gemeinsamer Vertretung und Verwaltung an erster Stelle hervorhob, bekannte sich Frantiäek Palacky im Absagebrief an den Frankfurter Fünfziger-Ausschuß vom 11. April 1848 zur Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Religionen als Naturrecht.7 Den tschechischen Politikern gelang es nicht, die Deutschen Böhmens für einen gemeinsamen zweisprachigen Patriotismus zu gewinnen, ebenso wie es unmöglich war, die Tschechen als „slawisch sprechende Deutsche" für den deutschen Na-

6

I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848-1849. WienKöln-Graz 1989, S. 50 f. 7 J. Kofalka: Palacky und Österreich als Vielvölkerstaat. In: Österreichische Osthefte, Jg. 28, 1986, S. 22-37.

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

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üonalstaat zu überzeugen. Der kroatische Widerstand gegen die Ansprüche der ungarischen Revolution stützte sich zunächst auf die jahrhundertelange staatsrechtliche Eigenständigkeit Kroatiens, aber der Wunsch nach der Vereinigung mit Dalmatien und womöglich auch mit den slowenischen Territorien überstieg alle historisch-staatsrechtlichen Vorstellungen. Im tschechischen wie im kroatischen Fall stieß die Idee einer sprachnationalen Einheit an den Widerstand der gewählten Vertreter Mährens und Dalmatiens. Nationale Forderungen und Wünsche erhoben auch zahlreiche kleinere ethnisch-sprachliche Gruppen, die keine staatliche Tradition aus der Neuzeit hatten und einer Stütze im adeligen Landespatriotismus entbehrten. Die slowenischen Petitionen forderten die Herausbildung eines „Vereinten Slowenien" quer durch die Grenzen der österreichischen Kronländer, wobei sie in der Bauernbevölkerung, bei Studenten und Gebildeten, weniger bei den Stadt- und Marktbewohnern Unterstützung fanden. 8 Die ruthenisch-ukrainische Nationalbewegung in Galizien und der Bukowina, in viel geringerem Ausmaß in Nordostungarn, hatte ihre Hauptstütze in der griechisch-katholischen Kirche und bei den Geistlichen. Sie verlangte die Trennung Galiziens in einen polnischen und einen ruthenischen Teil. Die slowakische Nationalbewegung verteidigte ihre Eigenständigkeit nicht nur gegen das magyarisierte Ungarn und den deutsch-österreichischen Zentralismus, sondern auch gegen nationalpolitische Vorstellungen der Tschechen, die in den Slowaken oft nur den ungarischen Zweig ihrer eigenen Nation sehen wollten. Die Nationalitätenkonflikte im Königreich Ungarn wurden auch durch den nationalpolitischen und konfessionell bedingten Widerstand der Serben in der Vojvodina und Kroatien sowie der Siebenbürger Rumänen, Sachsen und Schwaben gegen die ungarische Revolution verschärft.

5. PARLAMENTARISCHE

VERTRETUNGSKÖRPER

Der ungarische Landtag in Preßburg überragte bereits vor Anfang März 1848 alle übrigen ständischen Vertretungskörper in der Habsburgermonarchie an politischer Erfahrung, Zielbewußtheit und Entschlossenheit. In der im Oktober 1847 gewählten Deputiertentafel konnte die liberale Opposition 8 St. Granda: Das Verhältnis zwischen nationaler und sozialer Frage bei den Slowenen im Jahre 1848/1849. In: R. Jaworski/R. Luft (Hrsg.): 1848/1849. Revolutionen in Ostmitteleuropa. München 1996, S. 245-257.

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Grundlegungen

mit etwa einer Hälfte der Stimmen rechnen, während die Magnatentafel als konservativer Gegenspieler auftrat. Kossuths feurige Rede im ungarischen Landtag am 3. März 1848, wo der Oppositionsführer die Wiener Regierung für wirtschaftliche Schwierigkeiten der Monarchie verantwortlich machte und umfangreiche Reformen mit eigener Regierung für Ungarn forderte, wurde zum Auftakt stürmischer Veränderungen in der ganzen Monarchie. Binnen weniger Wochen billigte die ungarische Deputiertentafel einunddreißig liberale Gesetzentwürfe, die dann nach der Genehmigung der Wiener Staatskonferenz und des Kaisers (in der ungarischen Auffassung grundsätzlich nur König genannt) als Aprilgesetze in Geltung traten. Der Landtag in Preßburg stand unter dem Druck der revolutionären Ereignisse in der ungarischen Hauptstadt Buda-Pest, billigte fur die restliche Sitzungsperiode das gleiche Stimmrecht auch den früher ungleichberechtigten Vertretern der Städte zu und verabschiedete noch vor seiner Auflösung am 11. April 1848 ein neues Wahlgesetz für die ungarische Nationalversammlung. In den meisten Kronländern des österreichischen Kaiserstaates, die zwei Königreiche Böhmen und Galizien ausgenommen, traten im März und April 1848 die alten ständischen Landtage noch einmal zusammen und waren angesichts der revolutionären Entwicklung in Wien bereit, der Erweiterung der Landtage um Repräsentanten der bürgerlichen Gutsbesitzer, der Städte und Industrie, in beschränktem Ausmaß auch um Vertreter des Bauernstandes zuzustimmen. In den vorwiegend landwirtschaftlichen Provinzen standen überall Forderungen der Befreiung von den Grundlasten, der Aufhebung der Untertänigkeit und der Abschaffung der Patrimonialherrschaft im Vordergrund der Landtagsverhandlungen. In der Steiermark und in Mähren erklärten sich die Landtage für die Gleichberechtigung der Deutschen und der Slawen des Landes, aber in den Landtagssitzungen benutzte man fast allgemein nur die deutsche Verhandlungssprache.9 Nur in Tirol bestand kein gemeinsames Provinzialbewußtsein der deutschsprachigen und italienischen Abgeordneten, so daß die Italiener die Beschickung eines gemeinsamen Tiroler Landtags ablehnten. In den meisten Fällen behandelte man eine neue Landtagswahlordnung, und zwar überwiegend in reformkonservativer Richtung. Es wurde die Interessenvertretung des Grundbesitzes, des Industrieund Handelsbürgertums und der Gebildeten gefordert und zumeist durchgesetzt, aber insgesamt erreichten die Bauern ebenfalls eine bedeutende Ver9

J. Dvofák: Moravské snémování roku 1848-1849 [Die mährischen Landtagsverhandlungen 1848-1849]. Telò 1898, S. 148f.

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tretung; der mährische Landtag in Brünn (Brno), der von edlen österreichischen Vertretungskörpern in den Kronländern am längsten tagte, bis Ende Januar 1849, verdiente den Namen eines „Bauernlandtags".® Die Hauptursache, warum weder der böhmische noch der galizische Landtag in den Jahren 1848-1849 je einberufen wurden, lag in der Abneigung der österreichischen Zentralstellen gegen die Autonomiebestrebungen der beiden größten nichtungarischen Kronländer, wo starke Nationalbewegungen der Tschechen und der Polen den politischen Schauplatz beherrschten. Das kaiserliche Kabinettschreiben vom 8. April 1848 bestimmte die Einberufung eines neu gewählten böhmischen Landtags in nächster Zeit, nachdem der Landeschef von Böhmen, Graf Rudolf Stadion, die auf den 30. März 1848 ursprünglich festgelegte Versammlung des alten ständischen Landtags abgesagt hatte. Der Prager Nationalausschuß erklärte die Vorbereitung und Durchführung der Landtagswahlen zu einer seiner wichtigsten Aufgaben. Auf dem Lande und in den Städten Böhmens wurden insgesamt 178 tschechische und 106 deutsche Abgeordnete gewählt, was ungefähr dem Nationalitätenverhältnis in Böhmen entsprach, und Angehörige der alten Stände sollten noch hinzukommen. 11 Der neue Gubernialpräsident, Graf Leo Thun, berief den böhmischen Landtag auf den 7. Juni und dann auf den 14. Juni 1848 ein, aber inzwischen wurde der Belagerungszustand über Prag verhängt. Trotz dringender Gesuche der gewählten tschechischen Landtagsabgeordneten verweigerte die Wiener Regierung die Einberufung des gewählten Landtags mit Hinweis auf den in nächster Zeit einzuberufenden österreichischen Reichstag, obgleich mehrere andere Landtage parallel tagen durften. Im Unterschied zu anderen Kronländern traten die galizischen Stände seit 1845 nicht zusammen, und auch der Versuch des Gubernialpräsidenten, Grafen Franz Stadion, diese für den 26. April 1848 nach Lemberg (Lwów, Eviv) einzuberufen, wurde von den nationalbewußten polnischen Politikern abgelehnt. Vier verschiedene Entwürfe einer Landtagswahlreform wurden zwar ausgearbeitet, aber kein einziger verwirklicht.12 In Kroatien berief der von der ungarischen Regierung nicht anerkannte

10 St. Z. Pech: The Czech Revolution of 1848. Chapel Hill 1969, S. 549. 11 J. Heidler: Cesky snëm ústavodárny 1848 [Der konstituierende böhmische Landtag von 1848]. In: Cesky iasopis historicity, Jg. 13, 1907, S. 36-59. 12 P. Burian: Die Nationalitäten in „Cisleithanien" und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49. Zur Problematik des Parlamentarismus im alten Osterreich. Graz-Köln 1962, S. 108-110.

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Banus Josip JelaCic den Landtag in Zagreb ursprünglich auf den 19. Juni, in der Auseinandersetzung mit Buda-Pest und Wien dann auf den 5. Juni 1848 ein. Diese Verkürzung der Frist sollte eine Antwort auf die zum Teil erfolgreichen Versuche der ungarischen Regierung sein, JelaCic von seinem einflußreichen Posten zu entfernen. Der kroatische Landtag ging gegen die von Kossuth erreichte Entscheidung des Kaisers vor, nahm die Entlassung JelaCics nicht zur Kenntnis und stattete ihn mit diktatorischer Vollmacht aus. In dieser Haltung, die von Pest aus als illegal und revolutionär bezeichnet wurde, verband sich der kroatische Landtag mit den österreichischen Konservativen, vor allem mit dem Wiener Kriegsminister, Grafen Baillet de Latour, und anderen führenden Militärs. An der Landtagssitzung nahmen eingeladene Würdenträger der römisch-katholischen und der griechischorthodoxen Kirche, hohe Aristokraten sowie gewählte oder entsandte Vertreter der Komitate, der Städte und der Militärgrenze teil. Die ursprüngliche Idee, die Zusammengehörigkeit des Dreieinigen Königreichs von Kroatien, Slawonien und Dalmatien zu bezeugen, zerschlug sich an der Weigerung der Dalmatiner, nach Zagreb zu kommen, weil sie nichts vom Streit zwischen Kroatien und Ungarn wissen wollten und eine direkte Vertretung der Provinz in Wien vorzogen. Der kroatische Landtag richtete ein Manifest an alle slawischen Stämme Österreichs und verlangte eine neue politische Gliederung der Habsburgermonarchie nach ethnisch-sprachlichem Prinzip. Banus JelaCic wollte jedoch seine Macht nicht teilen, erklärte den Landtag am 9. Juli 1848 für permanent und vertagte ihn angesichts der Kriegsereignisse auf unbestimmte Zeit.13 Mehr als einen Monat lang, vom Anfang Juni bis Mitte Juli 1848, dauerten die Wahlen mit beschränktem Stimmrecht in das Abgeordnetenhaus der neuen ungarischen Nationalversammlung. Der Einfluß der früheren liberalen Opposition unter der Führung Kossuths war so stark, daß mehr als die Hälfte von 414 Abgeordneten ohne Gegenkandidaten gewählt wurde. Die Magnatentafel blieb als Oberhaus der Nationalversammlung unverändert. Im Streit mit der Wiener Regierung um Finanzangelegenheiten und um Bewilligung der Rekruten für die reguläre österreichische Armee vertrat das ungarische Abgeordnetenhaus nationalungarische Interessen hartnäckiger als die Regierung Graf Batthyánys. Nachdem kriegerische Auseinandersetzungen zwischen kroatischen und ungarischen militärischen Einheiten aus13 A. Springer: Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809, Teil 2: Die österreichische Revolution. Leipzig 1865, S. 455 f.

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gebrochen waren, bewog Kossuth am 21. September 1848 die Nationalversammlung, einen ständigen Landesverteidigungsausschuß zu ernennen. Am 8. Oktober 1848 betrauten die Abgeordneten diesen Ausschuß unter dem Vorsitz Kossuths mit voller Exekutivgewalt. Von allen Parlamenten des kontinentalen Europa im Revolutionsjahr 1848 zog das ungarische Abgeordnetenhaus zwischen Ende September 1848 und Mitte April 1849 die größte Macht an sich. Es hatte in dieser Beziehung viel Ähnlichkeit mit dem Konvent des jakobinischen Frankreich von 1795/94.14 Unter dem Druck der österreichischen Offensive entschloß sich die Mehrheit der Abgeordneten Ende des Jahres 1848, den Sitz der Nationalversammlung nach Debrecen in Ostungarn zu verlegen, wo allerdings die Linksradikalen von der Öffentlichkeit der Hauptstadt isoliert waren. Schließlich kehrte das Abgeordnetenhaus im Juni/Juli 1849 in die Hauptstadt zu einer einzigen Sitzung zurück, der dann eine neue Übersiedlung nach Szeged folgte; dort wurden allzu spät Beschlüsse über die Gleichberechtigung der Nationalitäten und die Emanzipation der Juden gefaßt. Immerhin waren in Szeged Ende Juli 1849 noch etwa zweihundert ungarische Abgeordnete versammelt.15 Von allen parlamentarischen Vertretungskörpern in der Habsburgermonarchie in den Jahren 1848-1849 war der erste österreichische Reichstag die einzige repräsentative Versammlung mit multinationaler Zusammensetzung. Während das Kaiserpatent vom 15. März 1848 noch mit dem Weiterbestand der Provinzialstände rechnete, versprach das neue Patent vom 25. April 1848 die Einberufung eines aus zwei Kammern, dem Senat und dem Abgeordnetenhaus, bestehenden Reichstags, der im Verein mit dem Kaiser die gesetzgebende Gewalt ausüben sollte. Gegen das Zweikammersystem, ebenso wie gegen die Beschränkung der Wahlberechtigung in das Abgeordnetenhaus auf eine bestimmte Steuerleistung, erhob sich in Wien eine starke Protestwelle, die am 15. Mai 1848 die Erklärung des ersten Reichstags als verfassungsgebenden mit einer Kammer und die Abänderung des Wahlsystems zu einem fast allgemeinen Männerwahlrecht erzwang. Von Anfang an rechnete die Wiener Regierung damit, daß im beabsichtigten Reichstag das Königreich Ungarn mit Kroatien und Siebenbürgen und die norditalienischen Provinzen fehlen würden, obgleich sämtliche zum öster-

14 I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848-1849. W i e n / Köln/Graz 1989. S.130 u. 158. 15 P. Burian: Die Nationalitäten in „Cisleithanien" und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49. Zur Problematik des Parlamentarismus im alten Osterreich. (Anm. 12), S. 27-47.

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reichischen Kaiserstaat gehörige Länder eine untrennbare konstitutionelle Monarchie bilden sollten.16 Als der österreichische Reichstag in Wien am 10. Juli zur ersten inoffiziellen Beratung und am 22. Juli 1848 zur feierlichen Eröffnung zusammentrat, kam die bunte Zusammensetzung der Abgeordneten klar zum Ausdruck. Mehr als ein Viertel der gewählten Repräsentanten des Volkes waren Bauern, zumeist aus Galizien und den innerösterreichischen Kronländern, während im tschechischen Siedlungsgebiet Böhmens hauptsächlich gebildete Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Schriftsteller und Beamte nach Wien entsandt wurden. Mit Ausnahme polnischer Adeliger aus Galizien war die Vertretung der Aristokratie überraschend niedrig. In den ersten Wochen widmeten die Abgeordneten viel Zeit der Überprüfung der Mandate und der Geschäftsordnung sowie den Interpellationen an die nicht immer anwesenden Minister. Den wichtigsten Gegenstand der Reichstagssitzungen, sofern sie bis in den Wiener Oktoberaufstand hinein in Wien stattfanden, bildete der Antrag des Deutschschlesiers Hans Kudlich vom 26. Juli 1848 auf Aufhebung des bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisses. Nach langen Diskussionen über die Entschädigungsfrage nahm der Reichstag dieses wichtige Gesetz am 7. September 1848 an. Große Polemiken erregte einerseits das Gesuch von vier Deputierten des kroatischen Landtags, andererseits der Wunsch einer Abordnung der ungarischen Nationalversammlung, vom österreichischen Reichstag empfangen und gehört zu werden; in beiden Fällen verhielt sich die Mehrheit der Abgeordneten ablehnend. Während der bewaffneten Kämpfe um und in Wien ab 6. Oktober 1848 verließ ein Teil der Reichstagsmitglieder, in erster Linie die meisten tschechischen Abgeordneten, die kaiserliche Metropole und erreichte die Verlegung des Reichstags in die ruhige mährische Stadt Kremsier (Kromëfi2). 17 Dort gelang es den gewählten Vertretern verschiedener Nationalität, unter dem Eindruck der herannahenden Gegenrevolution einen bemerkenswerten Kompromiß abzuschließen, der jedoch durch die gewaltsame Schließung des Reichstags am 7. März 1849 wertlos gemacht wurde.

16 So im § 1 der Verfassungsurkunde vom 25. April 1848. Vgl. dazu H. Fischer, G. Silvestri (Hrsg.): Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte. Von der Pragmatischen Sanktion zur Bundesverfassung (1713-1966). Wien 1970, S. 4. 17 A. Gottsmann: Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage. Wien-München 1995.

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Die weitgehende Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens in den Jahren 1848-1849 offenbarte in den parlamentarischen Vertretungskörpern der Habsburgermonarchie neue schwerwiegende Probleme der sprachlichen Kommunikation. Es unterhegt keinem Zweifel, daß der Landtag in Zagreb kroatisch und die Nationalversammlung in verschiedenen Städten Ungarns nur ungarisch verhandelten. Ein deutschsprechender Abgeordneter aus den mittelslowakischen Bergstädten wurde im BudaPester Parlament zurückgewiesen, weil er der magyarischen Sprache nicht mächtig war, und es wurde ihm eine Frist von zwei Monaten gesetzt, um sich eine zumindest rudimentäre Sprachkenntnis zu verschaffen.18 In der kroatischen Deputation zum Kaiserhof und zum österreichischen Reichstag überlegte man ernsthaft, ob ihre Mitglieder als Vertreter des souveränen Volkes in anderer Sprache als kroatisch reden durften. Tschechisch gehaltene Reden im mährischen Landtag wurden nicht zur Kenntnis genommen, sofern sie nicht ins Deutsche übersetzt wurden.® Am schwierigsten war allerdings die Situation im österreichischen Reichstag. Die meisten galizischen Bauernabgeordneten sprachen und verstanden kein Deutsch, so daß sie als „taubstumm" bezeichnet wurden, und vergeblich forderten sie einen offiziellen Dolmetscher. Dalmatinische Abgeordnete verlangten für ihr Italienisch das gleiche Recht wie für die deutsche Sprache, und es wurde ein Vorschlag unterbreitet, daß auf Verlangen von wenigstens zehn Abgeordneten jede Abstimmungsfrage ins Polnische, Ruthenische, Tschechische, Rumänische und Italienische übersetzt werden sollte.20 Probleme der sprachlichen Verständigung im multiethnischen Staatsgebilde dienten tschechischen und anderen nichtdeutschen Abgeordneten zur Unterstützung ihrer Forderung nach Föderalisierung der Habsburgermonarchie.

4.

VERFASSUNGSENTWÜRFE

Der Begriff der Konstitution oder Verfassung gehörte im Frühjahr 1848 zu den beliebtesten und meist verbreiteten Wörtern in verschiedenen Spra18 A. Springer: Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809, Teil 2: Die österreichische Revolution. (Anm. 13), S. 468. 19 J. Dvoïak: Moravské snëmovâm roku 1848-1849. (Anm. 9), S. 183. 20 Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme. Bd. 2. Wien 1848, S. 627.

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chen des habsburgischen Vielvölkerstaates. Fast über Nacht war alles konstitutionell: Hüte, Krawatten, Schirme, Gebäck, sogar eine konstitutionelle Polka erblickte das Licht der Welt. 21 Es wurden Verfassungen für einzelne Länder und für die Gesamtmonarchie gefordert, vorgeschlagen und ausgearbeitet, in denen man die staatliche Macht zugunsten der Grundrechte der Staatsbürger einschränken wollte. Im Kaiserpatent vom 15. März 1848 versprach der Herrscher die Vorbereitung einer Konstitution, und er ließ sich dann bis zum Thronwechsel vom 2. Dezember 1848 als konstitutioneller Kaiser von Osterreich, König von Ungarn und Böhmen etc. titulieren. Nicht nur die Staatsbehörden, sondern auch einige liberale Politiker hielten es für notwendig, die Konstitution als eine gleichmäßige Verteilung von Rechten und Pflichten zu erklären, im Gegensatz zur Vorstellung über die Konstitution als unbeschränkte Freiheit und Willkür. 22 Die am 25. April 1848 erlassene Verfassungsurkunde des österreichischen Kaiserstaates, die sich auf Ungarn und Norditalien nicht bezog, stützte sich zum Teil auf das Vorbild der belgischen Konstitution, vor allem in der Auffassung der staatsbürgerlichen Rechte und des Verhältnisses zwischen der Krone, den Ministern und dem Parlament. Diese sogenannte Pillersdorfsche Verfassung, nach dem Innenminister und provisorischen Ministerpräsidenten Freiherrn von Pillersdorf benannt, wurde von der Wiener Öffentlichkeit als undemokratisch und vom Prager Nationalausschuß als zentralistisch abgelehnt, aber sie diente dennoch als gesetzliche Basis für die Konstituierung des österreichischen Reichstags. Zum erstenmal wurde allen Volksstämmen die Unverletzlichkeit ihrer Nationalität und Sprache gewährleistet, wobei allerdings diese Gleichberechtigung in altösterreichischem Sinne nur die nichtpoliüsche Sphäre betraf. Für die einzelnen Kronländer rechnete die Pillersdorfsche Verfassung mit der Erweiterung der bisherigen Provinzialstände, die dem Reichstag Vorschläge für eine zeitgemäße Änderung ihrer Landeskonstitutionen unterbreiten sollten. Die Heterogenität der österreichischen Vielvölkermonarchie fand jedoch in diesem Werk der höchsten Staatsbürokratie kaum Berücksichtigung.

21 J. Poliäensky: Revoluce a kontrarevoluce ν Rakousku 1848 [Revolution und Gegenrevolution in Österreich 1848], Praha 1975. S. 132 f. 22 F. Palacky: Spisy drobné [Kleine Schriften]. Bd. 1 : Spisy a feCi oboru politiky [Schriften und Reden aus dem Gebiet der Politik]. B. Rieger (Hrsg.), Praha 1898, S. 9-11, Aufsatz Co jest konstituce? [Was ist Konstitution?].

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Eine entgegengesetzte Auffassung trat in dem vom Prager Nationalausschuß am 7. Juni 1848 vorgelegten Entwurf einer Landesverfassung für Böhm e n zutage. Die legislative und exekutive Macht des Gesamtstaates sollte sich auf das Militärwesen, Staatsbudget, Staats- und Handelsverträge und alle auswärtigen Angelegenheiten sowie auf eine einheitliche Gesetzgebung und Verwaltung für das Wirtschaftsleben, Verkehrswesen und die Justiz beschränken. Alles übrige sollte dem Landtag und dem ihm verantwortlichen Statthalter mit fünf Räten für einzelne Zweige der Verwaltung überlassen werden. Diesem Prager Verfassungsentwurf zufolge sollte n u r das Abgeordnetenhaus des Landtags direkt aufgrund fast allgemeinen Männerwahlrechts gewählt werden, und erst die Abgeordneten sollten jedes Jahr einen sechsten Teil des Senats wählen und Delegierte in eine Reichsversammlung entsenden. 2 3 Fast in allen österreichischen Landtagen des Jahres 1848 zeigten sich eine weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Gesamtstaates und zumeist auch ein Bestreben nach Absperrung der Provinz gegen fremde Einflüsse. Der im Juli 1848 zusammengetretene österreichische Reichstag betrachtete die Ausarbeitung und Durchsetzung einer liberalen Reichsverfassung als seine vornehmste Aufgabe. Im Einklang mit der Pillersdorfschen Verfassung waren Ungarn einschließlich Kroatiens und Siebenbürgens, die Lombardei und Venetien im Wiener Reichstag nicht vertreten. Gerade u m die Zulassung einer Deputation des kroatischen Landtags im Juli 1848 und einer Abordnung der ungarischen Nationalversammmlung im September 1848 entflammten im Reichstag politische Streitigkeiten, die in beiden Fällen gegen die Aufnahme fremder Vertreter ausfiel. Tschechische und südslawische Abgeordnete verhehlten nicht ihr Interesse daran, daß die konstitutionelle Neugestaltung das ganze Kaisertum Österreich betreffen sollte, weil sie eine Verstärkung des slawischen Elementes voraussetzten, aber der Krieg in Norditalien und der Ausbruch bewaffneter Kämpfe im Süden Ungarns zeigten, daß dieser Wunsch illusorisch war. Auch bei der Konstituierung des Verfassungsausschusses des Reichstags gerieten die Anhänger des deutschsprachigen Zentralismus und des vorwiegend slawischen Föderalismus in einen heftigen Streit. Im dreißigköpfigen Verfassungsaus-

23 J. M. Cerny (Hrsg.) : Boj za právo. Sborník aktS politickyeh u vëcech statu a národu Ceského od roku 1848. [Der Kampf um das Recht. Eine Sammlung politischer Dokumente in den Angelegenheiten des böhmischen Staates und der böhmischen Nation]. Bd. 1, Praha 1893, S. 287-290.

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schuß waren schließlich große wie kleine Kronländer mit je drei Abgeordneten vertreten, aber das daraus folgende Ubergewicht der Zentralisten wurde durch die tatkräftige Aktivität der Föderalisten, hauptsächlich der tschechischen Politiker Frantisek Palacky und Frantisek Ladislav Rieger, in den engeren Kommissionen für staatsbürgerliche Grundrechte und für die konstitutionelle Gestaltung der Monarchie zum großen Teil ausgeglichen. Aus der mehrmonatigen Tätigkeit des Verfassungsausschusses des österreichischen Reichstags und seiner zwei Kommissionen von August 1848 bis Anfang März 1849 in Wien und Kremsier kamen bemerkenswerte Verfassungsentwürfe heraus, deren Wert in erster Linie in der freiwilligen Vereinbarung der gewählten Volksvertreter aller Nationalitäten der nichtungarischen und nichtitalienischen Kronländer der Habsburgermonarchie bestand; etwas Ähnliches hat sich bis zum Zerfall des Vielvölkerstaates im Herbst 1918 nicht mehr wiederholt.24 Zweimal, am 26. September 1848 und am 21. Dezember 1848, wurde dem Reichstag ein Komplex der staatsbürgerlichen Grundrechte vorgelegt, der unter anderem die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, Aufhebung adeliger Privilegien, das öffentliche Justizwesen, Abschaffung der Todesstrafe für politische Verbrechen, Freizügigkeit im Inland und nach dem Ausland, Religionsfreiheit und Gleichheit aller Konfessionen, Rede- und Versammlungsfreiheit und nicht zuletzt die Gleichberechtigung aller Nationalitäten und landesüblichen Sprachen umfaßte. Riegers feurige Verteidigung des ersten Paragraphen der Grundrechte, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, führte zu einer Annäherung der deutschösterreichischen und tschechischen Liberalen; der Einfluß französischer und nordamerikanischer Freiheitsideen war dabei nicht zu verkennen. Palacky legte im Oktober 1848 und im Januar 1849 zwei Entwürfe einer verfassungsmäßigen Gliederung des Vielvölkerstaats vor, wobei er stets auch die Interessen der Zentralmacht berücksichtigte. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Zentralisten und Föderalisten war Palacky sogar bereit, eine Aufteilung der Monarchie auf ethnisch-sprachlichen Prinzipien einzunehmen, falls auch Ungarn diesem Vorschlag folgen würde. Der abschließende Verfassungsentwurf des Kremsierer Reichstags, der die historisch-politische und die ethnische Aufteilung verband, wurde zwar dem Plenum vorgelegt, aber nicht mehr angenommen,

24 J. Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. Bd. 1/1, Wien 1920, S. 92 f.

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weil der Reichstag am 7. März 1849 gewaltsam geschlossen wurde. Die Regierung gab gleichzeitig die sogenannte oktroyierte Verfassung heraus, die auch für Ungarn und Norditalien gelten sollte. Ernsthafte Verfassungsprobleme tauchten während des Krieges zwischen dem revolutionären Ungarn und der regulären österreichischen Armee auf. Bereits Ende September 1848 kam es zum endgültigen politischen Bruch zwischen der ungarischen Regierung und dem kaiserlich-königlichen Hof, nachdem der vom Herrscher zum königlichen Kommissar und Oberkommandierenden aller Streitkräfte in Ungarn ernannte Graf Franz Lamb erg in Pest getötet worden war. Im Anschluß daran löste Kaiser Ferdinand als König von Ungarn das ungarische Parlament auf und erklärte im Land das Kriegsrecht. Nach der Thronbesteigung Franz Josephs am 2. Dezember 1848 waren einige ungarische Politiker bereit, mit dem Herrscherhaus Frieden zu schließen, aber die Nationalversammlung erklärte auf Antrag Kossuths, der Thronwechsel stehe im Widerspruch zur Verfassung. Fürst Windischgrätz als Oberkommandierender bestand darauf, daß sich die Ungarn bedingungslos ergeben sollten, aber militärische Erfolge steigerten nur ihren Unabhängigkeitswillen. Die österreichische oktroyierte Verfassung vom März 1849 schien den ungarischen Politiker unannehmbar, weil sie Siebenbürgen, Kroatien und Slawonien, die Adriaküste, die Militärgrenze und die Vojvodina nicht als Bestandteile Ungarns anerkannte und die ungarische Verfassung von 1848 verleugnete. Zur unmittelbaren Antwort wurde die Unabhängigkeitserklärung der ungarischen Nationalversammlung in Debrecen vom 14. April 1849, die das „treubrüchige habsburg-lothringische Haus" des Thrones verlustig erklärte.25 Lajos Kossuth wurde zum Gouverneur-Präsidenten gewählt, aber die russische Intervention sowie die wachsende politischen Opposition im Lande führten das Ende dieses einmaligen Verfassungsexperiments herbei.

5.

VEREINE

Bereits vor den Märztagen von 1848 entwickelten sich einige wenige behördlich zugelassene Vereine in Wien, Prag und anderen Landeshauptstädten zu politischen Informations- und Diskussionszentren des wohlhabenden Besitz- und Bildungsbürgertums. Mit wirtschaftspolitischen Fragen befaß25 I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. Lajos Kossuth und die Ungarn 1848-1849. (Anm. 14), S. 220.

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ten sich hauptsächlich der Niederösterreichische Gewerbeverein in Wien und der Verein zur Ermunterung des Gewerbegeistes in Prag, wo heftige Debatten in Monatsversammlungen vor 1848 als eine gute Vorbereitung auf spätere Polemiken im österreichischen Reichstag betrachtet werden könnten. Lajos Kossuth als Oppositionsjournalist regte die Gründung des Gewerbevereins in Pest und ähnlicher Vereine in anderen ungarischen Städten ein, die für die wirtschaftliche Selbständigkeit des Landes wirkten. Der 1840 gegründete Juridisch-politische Leseverein in Wien ebenso wie die 1846 eröffnete Bürgerressource in Prag dienten ihren Mitgliedern und auch einer breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit mit einer großen Auswahl in- und ausländischer Zeitungen und Zeitschriften. 26 Vereine dieser Art, zu denen auch der Wiener Künstler- und Literatenverein Concordia gehörte, bildeten ein inoffizielles politisches Zentrum, wo alles diskutiert wurde, was im März 1848 im Geist des gemäßigten Liberalismus an die Öffentlichkeit trat. Es war kein Zufall, daß die Märzpetitionen von Wien und Prag gerade in diesen Vereinen zur Unterschrift vorlagen. Allgemein kann gesagt werden, daß starke und einflußreiche Vereine in den Revolutionsmonaten von 1848-1849 vorwiegend dort entstanden, wo sich ein Teil der politischen Öffentlichkeit von den neu entstandenen Machtorganen und Vertretungskörpern nicht genügend vertreten fühlte. In der größten ungarischen Stadt, Pest, entstand im März 1848 der Ausschuß fiir öffentliche Sicherheit, aber in den folgenden Wochen beherrschte die ungarische Regierung mit dem Landtag unbehelligt die politische Szene, und kein ungarischer Verein war imstande, die politische Initiative zu übernehmen. Im tschechischen Siedlungsgebiet Böhmens erfreute sich der Prager Nationalausschuß vom April bis Juni 1848 einer so unerschütterlichen Autorität, daß kein Bedarf an einer politischen Vereinsgründung bestand. Gegen tschechische Forderungen wurde allerdings in den ersten Apriltagen von 1848 in Wien der Verein der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zur Aufrechterhaltung ihrer Nationalität gegründet. 27 In den deutschböhmischen Städten entstanden Konstitutionelle Vereine, die den engsten Zusammenschluß Böhmens mit den deutschösterreichischen Kronländern

26 W. Brauneder: Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 bis 1990. Wien 1992, S. 157-247. A. Stompfe: Devadesát let Besedy mëât'anské ν Praze [Neunzig Jahre der Biirgerressource in Prag], Praha 1936, S. 3-11. 27 Ε. K. Sieber: Ludwig von Löhner. Ein Vorkämpfer des Deutschtums in Böhmen, Mähren und Schlesien im Jahre 1848/1849. München 1965, S. 58-67.

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aufgrund einer gemeinsamen Konstitution verlangten. Andererseits bildeten sich tschechische Vereine dort, wo die Tschechen eine Minderheit waren oder sich nicht gleichberechtigt fühlten; so entstanden der Böhmischmährisch-schlesische

Verein in W i e n , d e r Slawische

Verein in Olmütz (Olo-

mouc) oder der Mährische Nationalverein in Brünn. Für die Wahrung der slowenischen nationalen Interessen gründete man gleichnamige Vereine Slovenija in Wien, Graz, Klagenfurt und Laibach (Ljubljana), weil die Zerstückelung des slowenischen Siedlungsgebietes in mehrere Kronländer eine gemeinsame nationale Repräsentation der Slowenen sehr erschwerte. 29 An der Scheide zwischen einem inoffiziellen Machtorgan und einem Verein wirkte der Ruthenische Hauptrat in Lemberg mit dem Ubergewicht der griechisch-katholischen Geistlichen und der Staats- und Herrschaftsbeamten. 50 Liberale Forderungen, in erster Linie die Durchsetzung einer liberalen Reform der Gemeindevertretung, waren auch für die im April 1848 gegründete Società dei Triestini in Triest bezeichnend. 51 28

Nach dem Abflachen der ersten Begeisterungswelle tauchten allmählich neue Vereinsgründungen auf, die nicht mehr nach ethnischen oder nationalpolitischen Kriterien, sondern sozialpolitisch und ideologisch differenziert waren. B e s o n d e r s einflußreich w a r d e r Wiener Ausschuß der Bürger, Nationalgarde und Studenten zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit und fiir Wahrung der Volksrechte, kurz Sicherheitsausschuß genannt, der zutref-

fend als politischer Debattierklub, Petitionsstelle, beratende Körperschaft und von Mitte Mai 1848 an auch Exekutivorgan, Verwaltungs- und Justizbehörde in einem charakterisiert wurde. 32 Infolge der für die Demokraten ungünstigen Reichstagswahlergebnisse verlor der Sicherheitsausschuß an 28 J. Kabelík: Moravská národní jednota [Der Mährische Nationalverein]. In: Casopis Matice moravské, Jg. 55, 1909, S. 225-252 u. 521-555. 29 J. VoduSek-StariC: Program Zedinjene Slovenije in leto 1848 [Das Programm des Vereinigten Slowenien im Jahre 1848]. In: Prispevki za zgodovino delavskega gibanja, Jg. 25, 1985, S. 5-50. 50 J. Kozik: Miçdzy reakcjç a revolucj^. Studia ζ dziejów ukraiñskiego ruchu narodowego w Galicji w latach 1848-1849 [Zwischen Reaktion und Revolution. Studien zur Geschichte der ukrainischen Nationalbewegung in Galizien in den Jahren 1848-1849]. Krakow 1975. 51 C. De Franceschi: Il movimento nazionale a Trieste nel 1848 e la Società dei Triestini. In: La Venezia Giulia e la Dalmazia nella rivoluzione nazionale del 1848-1849. Studi e documenti, Bd.l, Udine 1949, S. 265-515. 52 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, S. 245.

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Grundlegungen

Kraft, und im August 1848 wurde er aufgelöst. Nach der Spaltung der Gesellschaßfür Volksfreunde gewann der im Juni 1848 neu organisierte Demokratische Verein in Wien einen großen Einfluß in Auseinandersetzung mit der liberal-konservativen Mehrheit des österreichischen Reichstags, vor allem wegen Unterstützung der ungarischen Revolution. Parallel dazu entstand in Pest im Juli 1848 die ungarische Gesellschaftfiir Gleichheit, die von der ungarischen Regierung ein radikales Vorgehen gegen die Feinde der Revolution nach dem Vorbild der französischen Jakobiner forderte. Es mangelte sogar nicht an Plänen, die Regierung zu stürzen und eine radikale Diktatur herbeizuführen.33 Die Gesellschaftfiir Gleichheit, der dreißig Abgeordnete der ungarischen Nationalversammlung und etwa tausend Mitglieder angehörten, zerfiel Ende September 1848, weil einige führende Personen in den Krieg zogen und andere in den Parlamentsausschüssen intensiv arbeiteten. Die zunächst defensive Haltung der katholisch konservativen Kreise gegenüber den politischen Veränderungen im Frühjahr 1848 wurde erst nach einigen Monaten überwunden. Konservative Vereine katholischer Prägung entstanden in den Provinzen früher als in Wien. Ende April 1848 wurde in Innsbruck d e r Katholisch-konstitutionelle

Vereinfür Tirol und Vorarlberg ge-

gründet, verzweigte sich rasch über das ganze Land und zählte in kurzer Zeit mehr als tausend Mitglieder.34 In der ostböhmischen Kreisstadt Chrudim wurde ein tschechisch-patriotischer Sankt-Wenzels-Verein wahrscheinlich Ende Mai 1848 ins Leben gerufen und erst später in einen Zweigverein der tschechischen Katolická jednota umgebildet. In der tschechischen Gesellschaft von 1848 war die katholische Vereinsbewegung mit den Reformbestrebungen des niederen Klerus eng verbunden, wenn auch die radikalsten Forderungen, wie Aufhebung des Zölibats, freie Diskussion über Kirchenangelegenheiten, Wahl der Vorgesetzten oder Lockerung der strengen Disziplin in den Priesterseminaren eher in der tschechischen Presse als in den Vereinen auftauchten.35 Demgegenüber war der im Juni 1848 gegründete Katholikenverein fiir Glauben, Freiheit und Gesittung in W i e n deut-

lich mehr konservativ und neben der Bildungstätigkeit vorwiegend auf die

33 L. Derne : The Radical Left in the Hungarian Revolution of 1848. Boulder/Colorado 1976. 34 J. Fontana: Das Sturmjahr 1848. In: Geschichte des Landes Tirol. Bd. 2, Bozen/Innsbruck/Wien 1986, S. 709. 35 F. Roubík: Ceské knëZstvo ν roce 1848 [Das tschechische Priestertum im Jahre 1848]. In: Akord, Jg. 5, 1932, S. 62-70.

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

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soziale Pflege orientiert.36 Hauptsächlich der Tiroler Katholikenverein zeigte sich als ein überzeugter Verteidiger der Rechte der selbständigen katholischen Kirche gegen die angebliche Tyrannei des Staates. Zum stärksten Verein in der ganzen Habsburgermonarchie stieg an der Wende der Jahre 1848 und 1849 die Slawische Linde empor. Aus bescheidenen Anfängen im April 1848, als die der jüngeren Generation angehörenden Vereinsgründer keinesfalls in Opposition gegen den Prager Nationalausschuß wirken wollten, erweiterte sich die Tätigkeit der Slawischen Linde in den Herbstmonaten auf die meisten tschechischen Städte Böhmens und auf zwei mährische Städte, so daß sie Ende 1848 etwa 2.500 bis 3.000 Mitglieder in 36 Ortsvereinen zählte.37 Die Prager Zentralleitung organisierte in Zusammenarbeit mit der Bürgerressource den entscheidenden tschechischen Sieg bei den Gemeindewahlen in Prag, protestierte gegen die Ergebnisse der militärischen Untersuchung gegen die Aufständischen nach Juni 1848, sammelte und veröffentlichte Geldbeiträge für die kämpfenden Kroaten und Slowaken. Von Anfang an suchte die Prager Slawische Linde Kontakte zu anderen slawischen Gruppen in der Monarchie, vornehmlich zu den Slowenen und Kroaten. Während die Prager Vereinsleitung in steigendem Maße radikalen Einflüssen unterlag, gehörte die Mehrheit der Mitglieder in den Zweigvereinen zu liberal oder sogar nationalkonservativ gesinnten Tschechen. Am Kongreß der Slawischen Linde Ende Dezember 1848 nahmen Delegierte aus den meisten böhmischen und den beiden mährischen Zweigstellen teil, ein Gast kam aus der Slowenischen Gesellschaft in Laibach. Die kroatische Slawische Linde in Zagreb entwickelte sich zu einer selbständigen und einflußreichen Organisation, die in der Richtung des vertagten kroatischen Landtags weiterwirkte. 38 Im Februar 1849 regte die Slawische Linde eine breite Petitionsbewegung zur Unterstützung des österreichischen Reichstags in Kremsier an und brachte es zustande, in 722 Städten und Dorfgemeinden Böhmens und Mährens mehr als 40.000 Unterschriften zu sammeln, und am 6. März 1849 legte sie aus weiteren 298

36 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. (Anm. 32), S. 342 f. 37 J. Novotny: Slovanská Lipa 1848-1849. Κ dëjiném prvního Ceského politického spolku [Die Slawische Linde 1848-1849. Zur Geschichte des ersten tschechischen politischen Vereins]. Bd. 1. In: Acta Musei Pragensis 1975, S. 71. 38 J. Sidak: „DruZtvo Slavenske Lipe na slavenskom Jugu" [Der Verein Slawische Linde im slawischen Süden]. In: ders., Studije iz hrvatske povijesti za revolucije 1848-1849 [Studien zur kroatischen Geschichte während der Revolution von 1848-49]. Zagreb 1979, S. 291-321.

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Grundlegungen

Gemeinden über 12.000 Unterschriften auf dieser Petition vor.39 Im Juli 1849 stellte die Slawische Linde sowohl in Prag als auch in Zagreb ihre Tätigkeit ein, bevor sie von den Behörden aufgelöst werden konnte.

6. SOZIALE

BEWEGUNGEN

Das Ausbleiben der überfälligen Reform des Verhältnisses des untertänigen Bauerntums zu den Großgrundbesitzern und der damit zusammenhängenden Ablösung der patrimonialen Verwaltung bis zum Frühjahr 1848 machte aus der Bauernbefreiung eine der Grundfragen der Revolution in der ganzen Habsburgermonarchie. Bis weit in die Adelskreise hinein erkannte man die Unproduktivität des Untertanensystems, aber weder die Wiener Regierung noch die Grundherren wagten bis 1848 mehr als eine territorial beschränkte Robotablösung. Die Habsburgermonarchie als ein Ganzes war noch ganz überwiegend ein Agrarland, aber das wirtschaftliche Niveau der Landbevölkerung und ihre Mentalität waren in verschiedenen Teilen des Vielvölkerstaates recht unterschiedlich. In Galizien trauten ruthenische und auch polnische Bauern der staatlichen Bürokratie unvergleichlich mehr als dem polnischen Adel, und der patriarchalische Glaube ein den gütigen fernen Kaiser wirkte stärker als in den böhmischen Ländern, geschweige denn in Ungarn, wo die Abschaffung der herrschaftlichen Renten und Dienstleistungen und die Bauernbefreiung der ungarischen Revolution zugute kamen. In Böhmen erfreute sich der Nationalausschuß vom April bis Mitte Juni 1848 einer außerordentlichen Autorität bei verschiedenen Schichten der Landbevölkerung, wie es 580 erhaltene Petitionen von Bauern und ärmeren Dorfbewohnern aus mehr als 1.200 Gemeinden bezeugen.40 Obgleich das ursprüngliche Kaiserpatent die Aufhebung der Untertanenpflichten erst zum 51. März 1849 vorsah, hörte die Robot in den meisten Fällen bereits während des Frühjahrs und Sommers von 1848 auf, und bis auf wenige Ausnahmen wurde sie nicht erzwungen. In Mähren41 und in Kroatien42 39 J. Novotny: Slovanská Lipa 1848-1849, Teil 2. In: Acta Musei Pragensis 1976, S. 48. 40 F. Roubik (Hrsg.): Petice venkovského lidu ζ Cech k Národnímu vyboru ζ roku 1848 [ Die Petitionen des Landvolkes aus Böhmen an den Nationalausschuß von 1848]. Praha 1954. 41 J. Radimsky/M. Wurmová (Hrsg.): Petice moravského lidu k snëmu ζ roku 1848 [Die Petitionen des mährischen Volkes zum Landtag von 1848], Praha 1955. 42 J. Sidak: Seljaíko pitanje u hrvatskoj politici 1848 [Die Bauernfrage in der kroatischen Politik von 1848]. In: ders.: Studije iz hrvatske povijesti, S. 145-174.

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richteten die Bauern ihre Petitionen an den jeweiügen Landtag. Nur wenige Petitionen befaßten sich mit politischen Angelegenheiten. Für die relativ selbständige Haltung der Bauernvertreter in den parlamentarischen Körpern, vor allem auf dem österreichischen Reichstag in Wien und Kremsier, war es höchst bezeichnend, daß die meisten Bauernabgeordneten von den Demokraten und deutschösterreichischen Liberalen als Werkzeuge der Reaktion, von manchen Konservativen dagegen als Verbündete der Linken verdächtigt wurden. 4 3 Die bäuerlichen Rechtsvorstellungen waren zum größten Teil auf d e m Gewohnheitsrecht begründet, beriefen sich auf die alten Zeiten, als die Bauern noch frei waren, und steuerten einer angemessenen Interessenvertretung der Bauern in der bürgerlichen Gesellschaft zu. Noch vor der Annahme des Gesetzes vom 7. September 1848 über die Bauernbefreiung gab es in der Landbevölkerung der böhmischen Länder und Innerösterreichs wenig Verständnis für etwaige radikale Parolen, nicht zuletzt infolge sozialer Spannungen zwischen den bemittelten Bauern und den dörflichen Unterschichten. 44 In einigen ungarischen Komitaten kam es jedoch zu Bauernunruhen, in deren Verlauf die Dorfbewohner das ihnen zuvor enteignete Land wieder in Besitz nahmen, die früheren Gemeinschaftsweiden besetzten, die Pacht an die Grundbesitzer nicht mehr bezahlen wollten und die herrschaftlichen Wälder zu fällen begannen. Es war keine isolierte Erscheinung, daß Aufständische die verhaßten Grundbücher beschlagnahmten oder vernichteten. In den von anderen Nationalitäten bewohnten landwirtschaftlichen Gebieten wurden sogar die Herrenhäuser ungarischer Adeliger abgerissen und ihre Familien überfallen. 45 Zur Verteidigung der Gemeinschaftsfelder erhoben sich im Herbst 1848 auch ruthenische Bauern in der Bukowina und in Nordostungarn. Qualifizierte Manufaktur- und Handarbeiter in Wien, Prag und Pest knüpften im Frühjahr 1848 an ihre Organisationstätigkeit aus den vorhergehenden Jahren an. Sie fühlten sich durch die Anwendung von Maschinen und Ausdehnung der Frauen- und Kinderarbeit in ihrer Existenz bedroht und griffen zum kollektiven Widerstand, der bereits im Juni/Juli 1844 in den Maschinenstürmen in Prag und anderen Industriezentren Böhmens 43 R. Rosdolsky: Die Bauernabgeordneten im konstituierenden österreichischen Reichstag 1848-1849. Wien 1976, S. XI. 44 P. Heumos: Die Bauernbefreiung in den böhmischen Ländern 1848. Anmerkungen zu den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen der Agrargesellschaft. In : Jaworski/Luft (Hrsg.): 1848/49. S. 221-257. 45 I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. (Anm. 14), S. 108 f.

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Grundlegungen

gipfelte. Den Charakter eines planmäßigen Maschinensturms nahmen Arbeite runruhen in den Vororten Wiens am 14. und 15. März 1848 an: Es wurde nicht geplündert, nichts gestohlen, aber die Fabrikshallen mit Maschinen wurden demoliert und zum Teil angezündet.46 Auch die Prager Kattundrucker erneuerten Mitte März 1848 ihre älteren Forderungen und legten dem allgemein anerkannten Sankt-Wenzelsbad-Ausschuß eine Petition gegen die Einführung der Druckmaschinen und für das Verbot der Aufnahme neuer Lehrlinge vor.47 Zu gleicher Zeit forderten verschiedene Arbeitergruppen in Pest die Abschaffung der Zünfte, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Erhöhung der Löhne. Da diese Forderungen nicht erfüllt wurden, brachen auch Streiks aus. In Wien und Umgebung kam es zu Arbeitsniederlegungen in mehreren Industrie- und Gewerbezweigen, besonders unter den Maurern, den Schneider-, Weber-, Zeugmacher- und Schmiedegesellen. Sogar Lehrjungen traten in die Bewegung ein und hielten in Wien am 6. April 1848 eine Demonstration ab. Liberale Führungsgruppen, die im Frühjahr 1848 die eigentlichen Nutznießer der revolutionären Ereignisse waren, betrachteten die sozialen Bewegungen als eine Störung der angestrebten Einheitsfront gegen die Kräfte des alten Systems. Aus diesem Grunde versuchten einige Liberale und gemäßigte Demokraten mancherorts, mit den Arbeitern Kontakte aufzunehmen und ihre Handlungen zu beeinflussen. Die Direktion der WienGloggnitzer Eisenbahngesellschaft bewilligte den Maschinenarbeitern, die an der Bahn am besten bezahlt waren, den Zehnstundentag.48 Der Prager Bürgerausschuß betraute den demokratisch gesinnten Arzt Frantisek Cyril Kampelík, die Verbindung mit den unzufriedenen Druckarbeitern herzustellen und für sie eine Zeitschrift Hlásník [Der Bote] herauszugeben, von der allerdings wahrscheinlich nur eine Nummer erschien.49 Der in Ungarn an die Macht gelangte Adel fühlte sich von den Arbeitern weniger bedroht, setzte die Arbeitszeit auf elf Stunden herab und gestattete neben anderen ähnlichen Maßnahmen den Handwerksgesellen, an den Zunftsitzungen teilzunehmen. Der ungarischen Regierung gelang es, die Druckereibesitzer 46 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. (Anm. 52), S. 147-151. 47 K. Novotny: Uiast dëlnictva ν burzoazní revoluci roku 1848-1849 ν Ceskych zemích [Die Teilnahme der Arbeiterschaft an der bürgerlichen Revolution der Jahre 1848-1849 in den böhmischen Ländern]. In: Slovanské historické Studie. Bd. 15, 1982, S. 145-164. 48 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. (Anm. 52), S. 179. 49 K. Novotny: První Cesky iasopis pro dëlnictvo [Die erste tschechische Zeitschrift für Arbeiter], In: Novinâïsky sborník. Bd. 10, 1965, S. 175-179.

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und die Arbeiter zu gemeinsamen Lohnverhandlungen und zur Annahme eines Tarifvertrages zu bewegen. Auch in Wien erkämpften Gesellen und Hilfsarbeiter in mehreren Gewerben zum erstenmal Kollektivverträge, die eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung der Löhne festsetzten. Angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit wurden in Wien öffentliche Bauarbeiten neu organisiert. Nur in der Metropole Wien wuchs die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung im Laufe des Jahres 1848 bis zu den ersten Anfängen der politischen Organisation der Arbeiterschaft. Am 24. Juni 1848 schlössen sich qualifizierte Handwerksgesellen und Facharbeiter im Wiener Arbeiterverein zusammen, der dann zur Zeit seiner Blüte 7.000 bis 8.000 Mitglieder zählte und unter allen Vereinen Wiens als der zahlreichste galt. 50 Durch die Vermittlung des publizistisch tätigen Vereinspräsidenten Friedrich Sander, der seiner Herkunft nach ein Buchbindergeselle war, nahm der Wiener Arbeiterverein Kontakte zum Berliner Zentralkomitee für Arbeiter und zur Generalversammlung sächsischer Arbeitervereine auf. Der Verein bekannte sich unzweideutig zur Gewerbefreiheit und betonte die Notwendigkeit eines politischen Zusammenschlusses der Arbeiter über den Rahmen gewerkschaftlicher Verbindungen hinweg. Dem Protest des Arbeitervereins gegen die Ausschließung der Arbeiter von den Reichstagswahlen folgte die Aufforderung, Vertrauensmänner für die Vorbereitung eines Arbeiterparlaments in Wien zu wählen. Zu anderen Forderungen gehörte die Gleichstellung der politischen Rechte der Arbeiter mit anderen Ständen, Vertretung der Arbeiter im Arbeitsministerium, freies Niederlassungsrecht, Errichtung von Bildungsanstalten für Arbeiter und von Kranken- und Invalidenkassen, Einführung paritätischer Schiedsgerichte, Aufhebung des Paßzwanges und unbeschränkte Heiratserlaubnis. 51 Alle anderen, auf bürgerlich-philantropischen Prinzipien beruhenden Arbeitervereinsgründungen, wie der Verein Concordia oder der Wiener allgemeine Gesellenverein zur wechselseitigen Aushilfe, Organisation der Arbeit und Wahrung staatsbürgerlicher Rechte, waren weniger einflußreich. Soziale Forderungen der in den Zünften vereinigten selbständigen Handwerker in Wien, Salzburg, Prag, Brünn und vielen anderen Städten der Habsburgermonarchie waren von tiefwurzelndem Mißtrauen gegenüber der 50 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. (Anm. 52), S. 516 f. 51 G. Otruba: Wiener Flugschriften zur sozialen Frage 1848. Bd. 1 : Arbeiterschaft, Handwerk und Handel. Wien 1978, S. 154, 141.

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Grundlegungen

Fabrikindustrie und Arbeiterschaft erfüllt. Die Wiener Innungsmeister richteten im Juli 1848 an den österreichischen Reichstag eine Petition, die im vorhinein gegen jeden Beschluß auf Gewerbefreiheit protestierte. Im September 1848 wurde im Reichstag beantragt, ein zinsenfreies Darlehen des Staates für die Gewerbetreibenden Wiens zu gewähren, aber tschechische Abgeordnete waren mit der beabsichtigten privilegierten Stellung der Hauptstadt zum Nachteil anderer Städte nicht einverstanden. 52 In Prag sandten viele Handwerkerzünfte bereits im Frühjahr 1848 Petitionen an den Nationalausschuß mit Beschwerden gegen den unlauteren Wettbewerb der Fabriken und gegen den allfalligen Zollverein mit Deutschland. Im August 1848 trat der Handwerkerverein in Prag an die Öffentlichkeit mit fünfzehn Forderungen, die insgesamt auf eine strengere Aufsicht und Entscheidungsmacht der Zünfte in einzelnen Gewerbezweigen zielten. Ein Gremium aller Zunftvereine in jeder Stadt und ein Verwaltungsrat im ganzen Land sollten die Durchsetzung der zünftigen Beschränkungen überwachen. 53 In der schwierigen sozialen Lage der Arbeiter erblickten aktive Teilnehmer an der Handwerkerbewegung mit Schrecken eine Vorwegnahme ihres eigenen Schicksals.

7. A L L T A G DER

REVOLUTION

Zeitgenossen erinnerten sich noch nach vielen Jahrzehnten an eine Reihe herrlicher Sonnentage Mitte März 1848 und waren davon überzeugt, daß auch das schöne Wetter zur allgemeinen Begeisterung und Erleichterung beigetragen hatte. „Alle, mit starkem Wein der Freiheit betrunken (den ihre Lippen nie vorher berührt hatten), trugen damals das Herz auf der Zunge, und was sie sich wünschten, setzten sie auch gleich ins Werk", kommentierte mit Rückblick ein scharfsinniger tschechischer Beobachter. 54 Man fühlte sich frei von Heuchelei und Kriecherei, frei von der Zensur und von der Bürokratie. In einer konservativen Monarchie, wo bis März 1848 kein einziges politisches Tagblatt geduldet wurde, erschienen Dutzende von großen und kleineren Tages- und Wochenzeitungen verschiedenster Rich52 F. Palacty Spisy drobné [Kleine Schriften]. Bd. 1, (Anm. 22), S. 55 f. 53 Národní Noviny (Prag), Nr. 105 vom 12.8.1848, S. 407. 54 J. Pekaï: Besprechung von Heinrich Friedjung, Österreich von 1848-1860. Bd. 1. In: Cesky Casopis historicity. Jg. 14, 1908, S. 100.

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tungen. Vormals offiziöse Blätter gingen wenigstens auf einige Monate in die Hände oppositioneller Journalisten über, neue Zeitungen, wie die NárodníNoviny [Nationalzeitung] unter der Redaktion von Karel HavliCek in Prag, die Jutrzenka [Morgenstern) in Krakau oder der SlavenskiJug [Slawischer Süden] unter der Redaktion von Dragutin Kuslan in Zagreb, wuchsen zu hochangesehenen Organen der jeweiligen Nationalbewegung empor. Ein ins Auge fallender Unterschied bestand allerdings zwischen den meisten größeren Städten einerseits, Kleinstädten, Märkten und Dörfern andererseits. Mit Ausnahme Ostgaliziens, der Bukowina und der Nationalitätengebiete des Königreichs Ungarn konzentrierte sich die revolutionäre Aktivität fast ausschließlich auf die kaiserliche Metropole Wien und auf einige (jedenfalls nicht alle) Landeshauptstädte. In Wien, Prag und Pest fanden zahlreiche Aufzüge mit Fahnen und Fackeln, Aufläufe und Zusammenrottungen statt. Zu einer charakteristischen Begleiterscheinung des revolutionären Frühjahrs 1848 zählten in diesen Städten die ,Katzenmusiken' bei Nacht unter den Fenstern unbeliebter Personen. Fortwährend waren viele Menschen in den Straßen. Winzige Anlässe oder Scheingründe genügten, daß sich die Energie einer Massenansammlung gegen die Besitzenden entlud. Mehrere Flugblätter und Plakate beschuldigten hauptsächlich die Juden der Ausbeutung und des Wuchers. Antisemitismus war bereits bei den Maschinenstürmen in der Umgebung Wiens im März 1848 mit im Spiel, aber am stärksten war er unter den Zunfthandwerkern verbreitet. Eine ganze Serie antisemitischer Gewalttätigkeiten begann am 21. März 1848 in Preßburg, wo jüdische Läden demoliert und jüdische Einwohner mißhandelt wurden. Sie gipfelte am 24. April 1848 in Plünderungen und Ubergriffen, denen in Preßburg und Südungarn auch Menschenleben zum Opfer fielen.55 Am 1. und 2. Mai 1848 setzten antisemitische Ausschreitungen mit einem Überfall auf die Prager Judenstadt fort, bei d e m zwar kein einziger Gewehrschuß fiel, aber einige Menschen auf beiden Seiten verwundet wurden. 56 Demgegenüber gewährten die konservative Landeshauptstadt Tirols Innsbruck vom 17. Mai bis zum 12. August 1848 und die eizbischöfliche Residenz Olmütz in Mähren nach d e m 6. Oktober 1848 d e m Kaiserhof Zuflucht vor den revolutionären Erschütterungen.

55 I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. (Anm. 25), S. 82 u. 106. 56 K. Kazbunda: Ceské hnutí roku 1848 [Die tschechische Bewegung des Jahres 1848]. Praha 1929, S. 168.

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Grundlegungen

Der Alltag der Revolution im österreichischen Vielvölkerstaat scheint sehr farbig, pittoresk gewesen zu sein. Verschiedene neu entworfene Anzüge und Uniformen, Kokarden und Schleifen, Binden und farbige Mützen drückten die Zugehörigkeit zum Verein, zum Beruf oder zur nationalen Idee aus. Das Beispiel der polnischen, kroatischen, serbischen, ruthenischen und slowakischen Kleidungen veranlaßte auch tschechische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler zur Gründung eines Komitees zur Beratung über die slawische Nationaltracht und zu Entwürfen des tschechischen Nationalkostüms für Männer und Frauen. Der damals entstandene tschechische Schnürenrock, als Camara bekannt, galt als ein nationalpolitisches Symbol über die Revolutionsjahre 1848-1849 hinaus. 5 7 Frack, Zylinder und Zöpfe galten dagegen als Symbole des alten Systems und der Reaktion. Eine bedeutende Neuigkeit des Jahres war die aktive Teilnahme der zumeist jüngeren Frauen und Mädchen in den verschiedenen Sphären des öffentlichen Lebens, hauptsächlich in Wien und Prag, wo die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft am weitesten fortschritt. In den beiden großen Städten konnte man ähnliche, manchmal fast identische Vorgänge und Symbole beobachten, nur mit entgegengesetzten nationalpolitischen Konnotationen. Das trat im öffentlichen Bekenntnis zu den deutschen oder böhmischen (beziehungsweise slawischen) Farben in der Kleidung und im Schmuck, in den Fahnenweihfesten und Wohltätigkeitsunternehmungen zutage. Die Barrikadenmädchen von Wien im Mai 1848 und von Prag im Juni 1848 wurden übereinstimmend Amazonen genannt. Vielleicht war der am 28. August 1848 gegründete Wiener Demokratische Frauenverein in politischer Richtung ausgeprägter als die im September 1848 in Prag entstandenen Spolek Slovanek [Verein der Slawinnen] und Slovanská Dennice [Slawischer Morgenstern], die eine Bildungstätigkeit unter Frauen und Mädchen in den Vordergrund stellten. 58 Der im Dezember 1848 in Krakau nach den Berliner und Wiener Vorbildern konstituierte Demokratische Frauenverein bemühte sich, die Kenntnis des Lesens und Schreibens unter den bürgerlichen Frauen und bei den Dienstmädchen zu verbreiten. 59 Man 57 M. Moravcová: Národní odëv roku 1848. Ke vzniku národne politického symbolu [Das Nationalkleid von 1848. Zur Entstehung eines nationalpolitischen Symbols]. Praha 1986, S. 87-95. 58 G. Hauch: Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848. Wien 1990. M. Moravcová: Die tschechischen Frauen im revolutionären Prag 1848/49. In: Jaworski/Luft (Hrsg.): 1848/49. S. 75-96.

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kann nicht übersehen, daß viele politisch aktive Männer keine Frau in ihren Vereinen und Versammlungen, geschweige denn bei den Wahlen, dulden wollten. Aber es gibt auch entgegengesetzte Beispiele, daß bürgerliche Frauen mit großem Unbehagen die politische Tätigkeit ihrer Männer verfolgten und sich offen dagegen aussprachen. Der fuhrende tschechische Historiker und Politiker Frantisek Palacky sah sich als Reichstagsabgeordneter in Kremsier ständigen Vorwürfen durch seine Frau Therese ausgesetzt, die ihn an seine Familie mahnte und bat, der Politik abzusagen und nach Hause zurückzukehren,60 - eine Einstellung, die unter den Frauen der Jahre 18481849 kein Einzelfall war.

8. BEWAFFNETE

KÄMPFE

Die Revolutionen in der Habsburgermonarchie spielten sich nicht nur als ein Wettstreit von Ideen und Konzeptionen ab, nicht nur als eine Gegenüberstellung von Petitionen und Wahlkandidaten, sondern vor allem als unerbittliche Machtkämpfe, in denen Straßenkämpfe mit Barrikaden, Aufstände und schließlich militärische Operationen den Ausschlag gaben. Die österreichische Armee unter den erfahrenen Befehlshabern Grafen Josef Wenzel Radetzky in Norditalien und Fürsten Alfred Windischgrätz in Prag, Wien und Ungarn griff während der fast anderthalb Jahre wiederholt in die politische Entwicklung ein und verteidigte die unbeschränkte Macht des Kaisers, manchmal gegen etwaige politische Entscheidungen des Herrschers und seiner Regierung. Kompliziert wurde die Lage auch dadurch, daß nicht nur die reguläre Armee, sondern auch die bürgerlichen Nationalgarden und Studentenkorps die bewaffnete Macht repräsentierten. „In Groß- und Kleinstädten steckte ziemlich alles, was männlichen Geschlechtes und über die Knabenjahre hinaus war, in Waffen und Uniform" 61 , erinnerte sich ein gut informierter Zeitgenosse. Neben dem diplomatischen Dienst, der ungeachtet der innenpolitischen Entwicklung im alten Geleise fortwirkte, war die österreichische Armee (von einigen ungarischen Einhei59 J.A. Freiherr von Helfert: Geschichte Österreichs vom Ausgang des Wiener Oktoberaufstandes 1848. Bd. 2: Revolution und Reaction im Spätjahre 1848. Prag 1870, S. 450. 60 Archiv des Nationalmuseums Prag, Nachlaß FrantiSek Palacky, Inv. Nr. 826, Antwortbriefe Palackys an seine Frau Therese vom 9.9., 16.9., 2.10. und 15.12.1848, 9.1. und 1.2.1849. 61 J.A. Freiherr von Helfert: Geschichte Österreichs vom Ausgang des Wiener Oktoberaufstandes 1848. Bd. 2, S. 294.

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Grundlegungen

ten abgesehen) die weitaus stärkste Stütze der Gegenrevolution im habsburgischen Vielvölkerstaat. Die erste und für die folgenden Wochen entscheidende bewaffnete Auseinandersetzung fand am 15. März 1848 nachmittags in der Wiener Innenstadt zwischen den Demonstranten und dem Militär statt, und die fünf Todesopfer setzten breite Bevölkerungsschichten in Bewegung. Die Wiener Nationalgarde und die Akademische Legion bewahrten ihren bürgerlichen Charakter, wenn auch einzelne Handwerksgesellen, Taglöhner und Lehrjungen in das bürgerliche Zeughaus eindrangen. Parallel dazu ereigneten sich Arbeiterunruhen in den Wiener Vorstädten und Vororten, die von den bewaffneten Bürgern gemeinsam mit dem Militär niedergezwungen wurden; die überwiegende Mehrheit der Märzgefallenen, etwa zwischen 48 und 60 Toten, stammte aus den Reihen der Handwerksgesellen und Arbeiter. Am 15. März 1848 früh morgens führten ungarische Demokraten mit Sándor Petöfi an der Spitze eine große Demonstration der Pester Bürger und Studenten vom Nationalmuseum zum Rathaus und zur ungarischen Statthalterei, wo sie die Aufhebung der Zensur und die Freilassung des einzigen politischen Gefangenen erzwangen, während die militärische Garnison als unzuverlässig galt. Gleich am 15. März 1848 wurden die ersten Kompanien der Nationalgarde in Pest zum Schutz des Privateigentums und der neuen politischen Errungenschaften gebildet, und in wenigen Tagen folgte die Aufstellung der Nationalgarden fast im ganzen magyarischen Siedlungsgebiet Ungarns, nicht zuletzt für den Kampf mit den widerstrebenden Nationalitäten. Aus den ständigen Bataillonen der Nationalgarde entstand allmählich der Kern der ungarischen nationalen Honvédarmee. Der Erfolg der ungarischen Revolution ermunterte zunächst die Serben in Südungarn und an der Militärgrenze, ihre ursprünglich gemäßigten Forderungen nicht nur mit Petitionen durchzusetzen, da sie sich auf gute Soldaten und Waffen, zum Teil auch auf die Unterstützung aus dem Fürstentum Serbien und aus Kroatien verlassen konnten. Am 13. Mai 1848 antwortete eine repräsentative Versammlung der ungarischen Serben in Karlowitz (Sremski Karlovci) auf den von der ungarischen Regierung verhängten Ausnahmezustand mit der Bildung der autonomen serbischen Provinz Vojvodina und mit der Ernennung des orthodoxen Metropoliten Josip RajaCic zum Patriarchen „aller Slawen, Serben und Walachen". In wenigen Tagen, am 25. Mai 1848, begann der bewaffnete Kampf gegen die ungarische Revolution, wobei auf beiden Seiten Offiziere und Soldaten der habsburgischen Armee kämpften und beide ihre Treue zum König (nicht einmal zum

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österreichischen Kaiser) beteuerten; in der ersten Schlacht waren die serbischen Grenzer erfolgreich.62 Ihren zeitweiligen Prestigeverlust gegenüber der fast unabhängigen ungarischen Regierung versuchten die in jedem österreichischen Kronland wirkenden Armeekommandanten mit einem eigenwilligen, von der Wiener Regierung erst nachträglich zur Kenntnis genommenen Vorgehen wiedergutzumachen. Fast alle bewaffneten Kämpfe zwischen demokratischen Radikalen und der Armee in den bedeutendsten Zentren der österreichischen Revolution wurden von den Militärs mehr oder weniger bewußt herausgefordert. Das siegreiche Fortschreiten der österreichischen Gegenrevolution begann in der bis zum Frühjahr 1846 noch unabhängigen polnischen Stadt Krakau (Krakow). Nachdem der Statthalter von Galizien Graf Franz Stadion die Waffenproduktion in der Stadt und die Rückkehr polnischer Emigranten aus Frankreich und anderen Ländern verboten hatte, versuchte die Armee der polnischen Nationalgarde die Waffen zu nehmen. Darauf antwortete der unzufriedene Teil der Krakauer Bevölkerung am 25. April 1848 mit einer Massendemonstration, mit einem Angriff auf das Regierungsgebäude und mit dem Bau von Barrikaden. Der kommandierende General Johann Castiglione ließ die Soldaten aus dem Stadtzentrum zurückziehen und zwang die Stadt durch eine massive Bombardierung zur Kapitulation. Der Krakauer Nationalrat und die Nationalgarde wurden aufgelöst, die Emigranten ausgewiesen, und die Stadt Krakau verlor an Bedeutung für den weiteren Verlauf der Revolution. Fast dieselbe Herausforderung seitens des erklärten Feindes der konstitutionellen Entwicklung, des Fürsten Alfred Windischgrätz, betraf die böhmische Landeshauptstadt Prag im Juni 1848. Gegen den Aufstieg radikaler Stimmung in der Stadt führte die Armee ihre Macht mit einer Truppenparade und mit der Aufstellung von Kanonen auf den Anhöhen um die Stadt herum vor. Am 12. Juni 1848 begann der Prager Aufstand mit einem Zusammenstoß der Grenadiere mit den Demonstranten, setzte sich mit dem Bau von etwa 400 Barrikaden fort und endete trotz der Vermittlung von Wien aus nach fünf Tagen mit der Kapitulation der bombardierten Stadt. Einen Krieg auf vielen Fronten mußte vom Spätsommer 1848 an die ungarische Revolution führen. Die mit dem Zusammenstoß mit den serbischen Grenzern auf wenige Wochen unterbrochenen Kämpfe brachen erneut am 7. September 1848 aus, nachdem der Wiener Hof dem kroatischen 62 I. Deák: Die rechtmäßige Revolution. (Anm. 25), S. 117 f.

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Grundlegungen

Banus JelaCic in seinem Streit mit der ungarischen Regierung die Rückendeckung gesichert hatte. JelaCic trat dabei nicht mit nationalkroatischen Forderungen auf, sondern als Anhänger einer einheitlichen und zentralisierten Vielvölkermonarchie. Das kroatische Heer war jedoch zahlenmäßig weder überlegen noch so gut bewaffnet, um einen entscheidenden Sieg zu erringen. Erfolglos war auch ein Vorstoß des von evangelischen Slowaken geführten Freiwilligenkorps in der zweiten Septemberhälfte von 1848. Ständige Unruhen wurden zudem aus Siebenbürgen gemeldet. In einer sehr schwierigen Lage gelang es der ungarischen Revolution unter der Führung Kossuths, mit der regulären österreichischen Armee und gegen die widerstrebenden Nationalitäten monatelang, bis in die Sommermonate von 1849, einen unentschiedenen Kampf mit mehreren Teilsiegen und Teilniederlagen zu führen. Militärisch gesehen war die erfolgreiche Aufstellung und Versorgung der Honvédarmee in Verbindung mit Freischaren zweifellos einmalig in der europäischen Revolutionsgeschichte der Jahre 1848-1849. Für das Schicksal der Revolutionen in der Habsburgermonarchie war allerdings die Entwicklung in der Metropole des Vielvölkerreiches entscheidend. Wien erlebte seit dem Frühjahr 1848 wiederholt bewaffnete Auseinandersetzungen, in denen drei verschiedene Kräfte - die österreichische Armee, die Nationalgarde mit der Akademischen Legion und die Arbeiter auf den Kampfplatz traten. Der Aufmarsch der Legion und großer Teile der Nationalgarde am 15. Mai 1848, unter dessen Einfluß der Wiener Ministerrat allen Forderungen der Demonstranten nachgab, spielte sich noch ohne Schießerei ab, wenn auch Rufe zum Barrikadenbau nach französischem Muster erschallten.63 Nur elf Tage später führte die militärische Besetzung der Wiener Universitätsaula zum Bau von etwa 160 Barrikaden auf den Straßen und Plätzen der Wiener Innenstadt, wo neben Studenten auch zahlreiche Arbeiter Widerstand leisteten und den Abzug der Soldaten aus den engen Gassen ertrotzten; ein Gerbergeselle war das einzige Opfer der Wiener Maitage. Ganz anders sahen die drei Tage vom 21. bis 23. August 1848 aus, als die wochenlangen Spannungen zwischen dem Wiener Bürgertum und den Beschäftigten bei Notstandserdarbeiten in eine empfindliche Lohnkürzung, in Demonstrationen und Zusammenstößen der Arbeiter mit der Munizipalwache und Nationalgarde mündeten. Die Bilanz der sogenannten Praterschlacht waren achtzehn tote Arbeiter, je ein Toter bei der Sicherheitswache und Nationalgarde und über 350 Verletzte. Schließlich 63 W. Häusler: Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. (Anm. 32), S. 226.

Revolutionen in der Habsburgermonarchie

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brachte die Volkserhebung des 6. Oktober 1848, die allem Anschein nach von der Gegenrevolution nach dem Vorbild von Krakau und Prag provoziert wurde, einen beispiellosen bewaffneten Kampf zwischen der regulären Armee einerseits, der Nationalgarde im Bündnis mit den Handwerksgesellen und Arbeitern andererseits. Die zeitgenössischen Schätzungen von 2.000 Zivilopfern und 189 toten Soldaten scheinen eher zu gering gegriffen zu sein.64 Es ist daher dem folgenden Resümee zuzustimmen: „Durch den Sieg der militärischen Gegenrevolution über Wien war mehr vernichtet worden als Menschenleben: die Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der Demokratie in Osterreich."65

9. E R G E B N I S S E UND

NACHWIRKUNG

Trotz der politischen Niederlage der revolutionären und reformfreudigen Kräfte in der Habsburgermonarchie waren die Jahre 1848-1849 eine wichtige Stufe im Prozeß der Modernisierung des österreichischen Vielvölkerstaates.66 Die Bauernbefreiung öffnete den Weg zur kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft und ermöglichte die Herausbildung einer integrierten Wirtschaft auf der Basis der freien Unternehmertätigkeit. Eine umfassende Reform der staatlichen Wirtschaftspolitik, die 1848 initiiert wurde und im nachrevolutionären Jahrzehnt ihre Fortsetzung fand, begünstigte einen mächtigen Aufschwung der Industrialisierung wenigstens in den westlichen Ländern der Habsburgermonarchie. Zum erstenmal wurde auf dem Territorium der Monarchie das Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger anerkannt und in den Wahlen auf verschiedenen Ebenen nur mit wenigen Beschränkungen ins Werk gesetzt. Fast sechs Jahrzehnte lang, bis zur Wahlreform von 1907, wartete das allgemeine Männerwahlrecht auf eine Wiederholung in den nichtungarischen Kronländern, in Ungarn noch länger. Breite Bevölkerungsschichten edler Nationalitäten der Monarchie wurden mehr oder weniger freiwillig in die gesellschaftliche und politische Aktivität hineingezogen und auf verschiedenen Ebenen organisiert. Die habsburgische Vielvölkermonarchie war in den Jahren 1848-1849 bahnbre64 Ebd. S. 395 f. 65 Ebd. S. 597. 66 O. Urban: 1848 - Eine Modemisierungsetappe in der Habsburgmonarchie. In: Der Donauraum. Jg. 35, 1995, S. 6-14.

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Grundlegungen

chend in der gesetzlichen Verankerung des Prinzips der sprachlichen und politischen Gleichberechtigung der Nationalitäten.67 Die Tatsache des uneinigen, ja zumeist gegensätzlichen Vorgehens einzelner nationalpolitischer Bewegungen in Mitteleuropa in den Jahren 1848-1849 fand ihre Fortsetzung auch in der Tradition und im Geschichtsbild.68 Die österreichische konservative Historiographie bemühte sich, das Jahr 1848 als „tolles Jahr", sozusagen als eine Zeit vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit sonst braver und treuer Untertanen, abzutun. Der Name Reichstag geriet in Österreich in Verruf und wurde nie wieder aufgefrischt; bei der Wiederaufnahme des Konstitutionalismus 1860/61 sollte die Bezeichnung Reichsrat offenbar nur die beratende Rolle der parlamentarischen Vertretung betonen. So verlagerte sich das Schwergewicht der Tradition der Wiener März-, Mai- und Oktobererhebungen von 1848 eindeutig in die österreichische Arbeiterbewegung. Demgegenüber hinterließ das Jahr 1848 in der ungarischen Öffentlichkeit tiefere Spuren als bei allen anderen Nationalitäten der Vielvölkermonarchie. Bis heute ist der 15. März der ungarische Nationalfeiertag, jeder Ungar blickt stolz auf März und April 1848 zurück. Zählt auch das Jahr 1848 im tschechischen Geschichtsbild nicht zu den eindeutigen Höhepunkten, so gelten doch die Bauernbefreiung, die revolutionäre Entschlossenheit der Jugend und in erster Linie die Besonnenheit und der übernationale Blick der liberalen Führungsgruppe als Leistungen; nicht zufällig ist der Kremsierer Reichstag heutzutage viel populärer als die Prager Barrikaden. Auch in anderen nationalen Geschichtsbildern ist die bereits vor hundertfünfzig Jahren bestehende Spannung zwischen Freiheit und Nationalität, zwischen staatsbürgerlicher und nationaler Emanzipation nicht wegzudenken. Und nicht zuletzt beeinflußte die Erfahrung von 1848/49 alle späteren Lösungsversuche des Zusammenlebens mündiger Nationen auf dem geopolitisch exponierten Territorium zwischen Deutschland, Rußland und dem Balkan.

67 G. Stourzh: Die Gleichberechtigung der Nationalitaten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918. Wien 1985, S. 17-28. 68 Zutreffend W. Häusler: Zur sozialen und nationalen Problematik der Revolution von 1848/49 in der Donaumonarchie. In: E. Zöllner (Hrsg.): Revolutionäre Bewegungen in Österreich. Wien 1981, S. 110-128.

E d u a r d Beutner

„Metternich und seine elende Umgebung". S T R A T E G I E N DER S A T I R E AUF E X P O N E N T E N DES , S Y S T E M S ' BEI F R A N Z G R I L L P A R Z E R IM V O R F E L D VON 1 8 4 8 .

Franz Grillparzer notiert in seinem Aufsatz Fürst Metternicht in d e m er unter d e m Eindruck des zu befürchtenden Todes des Fürsten Mitte August 1859 den Versuch einer von der Tagespolitik abgehobenen, bilanzierenden Wertung der Außenpolitik wie der innenpolitischen Leitlinien unternahm ( S W III 1347).:1 Der Fürst hatte von jeher geliebt, sich mit Lumpen aller Art zu umgeben. Die vorzüglichste Rolle darunter spielten die Renegaten und Konvertiten, überhaupt die Uberläufer religiöser und politischer Gattung. Wer von jeher den Meinungen zugetan war, die Fürst Metternich als sein Evangelium predigte, den verachtete er als einen Dummkopf; hatte er doch selbst diese Meinungen nur zum Behuf seiner Rolle vorangestellt. Wer aber von der entgegengesetzten Partei, mit Bewußtsein der Lügenhaftigkeit, seines Bauches, seines Säckels, seiner Dienstkarriere wegen, zu ihm übertrat, der galt ihm als ein kluger Mann, und verstand er noch die Kunst ihn zu amüsieren - wäre es auch nur durch Schwächen gewesen, die etwas zu lachen gaben - so war er willkommen. Die meisten dieser Lumpe nun waren religiöser Art. Daß ein dummes und bigottes Volk am leichtesten zu regieren sei, mochte ihm wohl schon früh vorgeschwebt haben, daher duldete er diese Energumenen schon zu einer Zeit wo er selbst noch ziemlich Freidenker war. Nun aber kam bei ihm nach und nach das Alter mit der Perspektive des Todes heran ... und - der alternde Fürst hatte zum drittenmale geheiratet. Da der Leitstern seiner Handlungen im Privat- wie im öffentlichen Leben immer das Gelüsten war, so nahm er sich ein junges, rasches, ungebildetes, von einer hochmütigen und bigotten Mutter geleitetes Weib. So sehr sich der Fürst durch großartigen Leichtsinn und vornehmes Behagen konserviert hatte, mußte doch mancher Wunsch der rüstigen Magyarin unerfüllt bleiben. Um desto mehr galt 1

Zitiert wird nach der Ausgabe: Franz Grillparzer: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Peter Frank und Karl Pömbacher. München 1964.

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Grundlegungen

es, die erfüllbaren Wünsche zu befriedigen. Schenken, Geben, Zuvorkommen war die Losung. Aber Hals- und Arm-Schmuck, Perlen und Diamanten hatte sie zu Genügen. Was blieb da zu geben als: zum Geburtstagsangebinde die Jesuiten, zum Neujahrsgeschenke die gemischten Ehen? Der Fürst ward in dieser Umgebung zum Frömmler, oder wußte wenigstens selbst nicht mehr was er war. (SW III 1051 f.)

Der Eindruck, Grillparzer setze hier seine den Metternich-Aufsatz weitgehend dominierende nüchtern abwägende politische Analyse fort, trügt. Der Textausschnitt ist vielmehr auch von literarischen Strategien der Ironie und Satire bestimmt, die auf dem Wege der Entmythisierung einer staatlich verordneten propagandistischen Mythenbildung gegensteuern. Grillparzer demontiert Metternich, indem er ihn zum von Privatinteressen geleiteten Protagonisten einer gleichermaßen peinlichen wie traurigen Staatskomödie herabsetzt. Das hier skizzierte Figurenensemble weist Ähnlichkeiten mit Charaktertypen aus Nestroys Possen auf. Grillparzer verfremdet damit jene geläufigen Elemente des Verfahrens, mit dem historische Figuren mythisiert zu werden pflegen: politische Aktionen und Akteure werden nicht, wie es seiner dramenpoetologischen Uberzeugung eher entsprochen hätte, als Tragödienkonstellation, sondern als Komödiengeschehen entworfen. Politik und Geschichte werden naturalisiert, familiaristische Konstrukte und Metaphern, die gewöhnlich die Mythenbildung historischer Figuren unterstützen, durch satirische Elemente der Lächerlichkeit preisgegeben. 2 Mit dem Verfahren, Metternichs Nimbus als großer Staatsmann mit stereotypen negativen Charakterzuschreibungen und familialen Bindungen zu entzaubern, verkehrt Grillparzer die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geläufigen Strategien der Mythisierung historischer Figuren in ihr Gegenteil. Wenn Mythen über Leben und Taten geschichtlicher Persönlichkeiten die Funktion zukommt, „irritierenden historischen Ereignissen", nicht erst im nachhinein, ,,,Sinn' zu verleihen" 3 , so steht die Entmythisierung Metternichs im Zeichen von Grillparzers Auflehnung und resignativer Einsicht in die Nichtreformierbarkeit des ,Systems'. In Grillparzers Aufsatz nimmt die Reihe der negativen Eigenschaften Metternichs und seines Umfelds ähnlich wie in Weh ' dem, der lügt Anleihen an Stereotypen der com-

2 3

Vgl. Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918. München 1991, S. 10. Ebd., S. 3.

„Metternich und seine elende Umgebung"

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media dell'arte: Prinzipienlosigkeit, Eitelkeit, häufig die gekränkte, der Hang zu Denunziantentum und Intrige, die Zitierung der Schmähung Metternichs durch den auf St. Helena verbannten Napoleon als „bugiardo", als Lügner (SW III, S. 1024) und nicht zuletzt die Konstruktion des Gegensatzes zwischen schlechtem Staatsmann und findigem Diplomaten. Das mythisierende Modell der Laufbahn eines Helden vom schnellen hohen Aufstieg zum raschen tiefen Fall, das etwa den Napoleonmythos4 kennzeichnet, wird satirisch diminuiert: Metternich habe seine Laufbahn als „gran tacaño", als großer Betrüger, begonnen und als an der Realität scheiternder Don Quichote beendet. (SW III, S. 1025) Was Grillparzers Metternich-Aufsatz in Verfolgung einer politischen Analyse an Negativstereotypen vorgibt, spitzen seine nicht zur Veröffentlichung bestimmten Epigramme noch weiter zu, indem sie das Repertoire ergänzen durch die Abwertung Metternichs als keck changierenden „Taschenspieler", dessen „Becher leer" sind (SW I, S. 407) und Verlierer des „diplomatischen Whistspiels" gegen Preussen. (SW I, S. 423) Seit den beginnenden Vierzigerjahren verschärfte Grillparzer den Ton wie andere Vormärzautoren, vor allem jene im Exil. In Tagebuchnotizen werden mythisierende Versatzstücke wie Phantasien der Vorzeit und des Paradieses, die Heldenmythen auszuschmücken und der Zeitlichkeit zu entheben pflegen, satirisch destruiert: Metternichs Ansichten werden mit wunderlichen Geschöpfen der Vorzeit assoziiert und als „antideluvianisch", d. h. vorsintflutlich (Tgb. 5503, 1839/ 40. In: SW III, S 1035) beschrieben. „Fossile Mammutknochen" stehen als Metapher für die unzeitgemäße Immobilität des Metternichschen ,Systems'. (SW I, S. 451) Knapp vor der Revolution von 1848 verkehrt Grillparzer, epigrammatisch zugespitzt, den Topos der Weisheit und Abgeklärtheit des Alters, der politische Akteure gemeinhin glorifiziert, in Spott über Torheit und Altersschwäche als Ursachen für die Immobilität des ,Systems', das von Graf Kolowrat, Metternich, Erzherzog Ludwig und Kaiser Ferdinand repräsentiert wird:

4

Vgl. Wulf Wülfing: Zum Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Helmuth Koopmann. Frankfurt a. M. 1979, S. 84f.

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Grundlegungen

Ein ALTER MANN, Ein altes Weib, Ein alter Junggesell Die Träger unsrer Krone sind, Als Stützen für ein altes Kind. Soll es da nicht beim alten bleiben, Wo Altersschwächen ihr Handwerk treiben. (SW I, S. 488)

Daß Metternich von Grillparzer zwar satirisch überzeichnet, aber nur selten dämonisiert wird, hat seine Ursache in einer insgesamt ambivalenten Haltung des Dichters gegenüber dem Fürsten, die zwischen partieller Anerkennung für seine Talente und Geringschätzung für die Fehler seiner Politik schwankt 5 . Mit seiner ebenfalls ambivalenten Haltung gegenüber Napoleon ist Grillparzers zwiespältiges Verhältnis zu Metternich allenfalls vom Resultat her vergleichbar. Die stärker auf der Ebene der Emotion angesiedelte Haltung gegenüber Napoleon ist geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen magischer Anziehung und Bezauberung auf der einen und Abscheu gegenüber Napoleons Tyrannei auf der anderen Seite 6 . Besonders unter dem Eindruck der von ihm aus patriotischen wie generationsbedingten Motiven abgelehnten 1848er- Revolution analysiert Grillparzer in den „Erinnerungen aus dem Revolutions jähre 1848" Beispiele für Metternichs „Liberalitäts-Paroxysmen", wie die widersprüchlichen Vorgänge um die Entstehung der Wiener Akademie der Wissenschaften im März 1846. (SW IV, S. 215) Als Bestätigung der These von Claude Levi-Strauß, mythisches Denken gehe „von der Bewußtmachung bestimmter Gegensätze" aus und führe „zu ihrer allmählichen Ausgleichung" hin7, läßt sich der Schluß von Grillparzers Metternich-Aufsatz lesen, der seine in den Tagebüchern zu verfolgenden Selbstvergewisserungs- und Selbstrechtfertigungsstrategien 8 wieder aufgreift: Wenn der hier ausgesprochene Tadel etwa den Schein der Geringschätzigkeit angenommen hätte, so muß man sich dagegen hiemit ausdrücklich verwahren.

5

Ausführlich bei Moriz Enzinger: Grillparzer und Metternich. Dichtung und Politik. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft. 1972, S. 11-11. 6 Wülfing/Bruns/Parr: Historische Mythologie der Deutschen. (Anm. 2), S. 28. 7 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt am Main 197, S. 247.

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Fürst Metternich war von Hause aus ein Mann von Ehre und Gefühl, entschlossen und mutig, der Verstand aber, in den diplomatischen Salons unter Weibern und Höflingen ausgebildet, mehr poliert, als gestählt, mit der Spitze ritzend, statt mit der Schneide trennend und durch eine glückliche Auffassungsgabe verführt, das Resultat der Untersuchung vor der Operation des Untersuchens antizipierend. (SW III, S. 1034)

Eine solcherart differenzierende Einschätzung Metternichs deckt sich weitgehend mit jener ebenfalls um Ausgewogenheit bemühten und nicht mit satirischen Strategien arbeitenden Darstellung, die Charles Sealsfìeld bereits 1828 in Osterreich, wie es ist formuliert hatte, wo er Tendenzen zur Dämonisierung Metternichs die „unparteiische Erforschung" seines Charakters und seiner Politik gegenüber zu stellen trachtet: Niemals hat es einen mehr gehaßten und gefürchteten Mann gegeben als Metternich. Von der Ostsee bis zu den Pyrenäen, von den Grenzen der Türkei bis nach Holland ertönt nur eine Stimme über diesen Minister: die des Abscheues. Da er der wichtigste Mitarbeiter an der Neugestaltung Europas, der Anreger und die treibende Kraft der Heiligen Allianz, diese Keimes künftiger Verwicklungen, gewesen ist, verdienen sein Charakter und seine Politik unparteiische Erforschung.9

Sealsfields bildlich gestützter Befund gleicht dem Grillparzers: Metternich habe wie „eine ungeheure Spinne [...] sein Netz über Europa gespannt, und seine Spione sitzen in jeder Hauptstadt" 10 . Wie Grillparzer hält Sealsfìeld den Staatskanzler für einen „reichbegabten" Mann, aber für einen einseitigen Politiker, schlechten Juristen und Finanzmann sowie den höchst gefährlichen Feind der „menschlichen Freiheit". Sealsfields Metternichbild bedient sich gleichfalls einiger Stereotypen aus der commedia dell'arte: Anmut der äußeren Erscheinung, Oberflächlichkeit, die Haltung „eines Höflings im schlechtesten Wortsinn", ränkeschmiedender Intrigant, „unnachahmliche Liebenswürdigkeit in der Lüge" 11 .

8 Vgl. Eckart Henning: Untersuchungen an den Tagebüchern von Franz Grillparzer. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 1972, S. 105. 9 Charles Sealsfìeld: Osterreich, wie es ist oder Skizzen von den Fürstenhöfen des Kontinents. Wien 1919, S. 138-151. ZitatS. 158. 10 Ebd., S. 146. 11 Zitate ebd., S. 149.

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Grundlegungen

In der Analyse und Einschätzung der Persönlichkeit und Politik Metternichs hält Grillparzer eine Differenzierung mit ironischen und satirischen Mitteln für angebracht, welche Tendenzen zur Dämonisierung weitgehend ausklammert. Auf weitere von Grillparzer beschriebene Exponenten und Einflußträger des Systems trifft dies nicht zu. Zu den literarischen Verfahrensweisen der Dämonisierung als einer Mythisierung im Negativen 12 zählen nicht nur bei Grillparzer durchwegs negative Charakterisierungen politischer Akteure oder abwertende Metaphern und Aussagen, die Begründungen für ihre Behauptung nicht vorsehen oder zulassen. Sie bieten und öffnen sowohl dem Autor als auch dem Leser in seiner Unterlegenheitsposition Leerstellen, die mit individuellen Aggressionen oder ideologischen Abwehrhaltungen aufgefüllt werden können, was aufschlußreiche Widersprüche zutage treten läßt. So widerspricht Grillparzer in den Erinnerungen aus dem Revolutionsjahre 1848 seinen früheren und gleichzeitigen Versuchen, auch die positiven Seiten Metternichs anzuerkennen : Der Umstand, daß Metternich in Alleinverantwortung den „elenden Polizeypräsidenten Graf Sedlnitzky" als Vertreter und Exekutor geistiger Knechtschaft „stützte und hielt", reiche „für sich schon hin um allen Lobrednern Metternichs Stillschweigen aufzuerlegen". (SW IV, S. 206) Dasselbe gilt für den auf Metternich unheilvoll Einfluß nehmenden Friedrich von Gentz, der zwar ein Mann von „hellem Verstand, aber eine sybaritische, feige Natur" sei und Metternich „die Idee von System" nahezubringen vermochte. (SW III, S. 1024) Auch in der eingangs zitierten Passage sind nicht begründete Allaussagen Teil einer Strategie der Dämonisierung von Metternichs „elende(r) Umgebung", die im kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Kontext von Grillparzers bürgerlichem, antiklerikalem und antiaristokratischem Affekt angesiedelt sind. Dieser ist ideologisch wie hinsichtlich seiner literarischen Strategien und seiner polemischen Grundhaltung aus der josephinischen Tradition herzuleiten, welche unter den Schriftstellern und Intellektuellen des österreichischen Vormärz nach wie vor manifest war und mit zunehmender Nähe zur Revolution von 1848 - nicht ohne innere Widersprüche mit den Inhalten des Liberalismus verknüpft wurde. Als „Lumpen aller Art", als Konvertiten und Renegaten in Metternichs Umgebung bezeichnet Grillparzer unter anderen Friedrich Schlegel, Friedrich von Gentz, den romtreuen Papsthistoriker Friedrich Emanuel von 12 Wülfing/Bruns/Parr: Historische Mythologie der Deutschen. (Anm. 2), S. 54.

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Hurter und den zum ,System' übergelaufenen vormals liberalen Schriftsteller Joseph Christian von Zedlitz. Energumenen sind, wie der Kommentar erläutert, „vom Dämon besessene Schwärmer". (SW III, S. 1348) Seit Ignaz von Borns Monachologie nach Linnäischer Methode aus dem Jahr 178313, einer polemisch-satirischen Abrechnung mit dem Mönchtum und seit der josephinischen Broschürenliteratur insgesamt, mit der Grillparzer seit früher Jugend bestens vertraut war, zählte die Dämonisierung von Vertretern des Mönch- und „Pfaffentums" sowie des romtreuen Klerus zum feststehenden Repertoire der österreichischen Gesellschaftssatire, bis hin zu Anastasius Grüns Priester und Pfaffen oder Die Dicken und die Dünnen in Spaziergänge eines Wiener Poeten14. Auch für Grillparzer hatte sie angesichts der umfangreichen Zugeständnisse an die Jesuiten im Jahr 1836 erneut Aktualität erlangt. Auch die durch die Rücknahme der josephinischen Reformen unter Metternich wieder erstarkte Aristokratie als weitere Säule des ,Systems' wird unter Mithilfe einer auf Pauschalverurteilung ausgerichteten Dämonisierung zum Gegenstand verbitterter Abrechnung: Im Blick auf Ungarns „wurmstichige, zeitunangemessene Konstitution" hält Grillparzer den vorübergehenden Druck „eines einzelnen Gewaltherrschers" noch für leichter zu ertragen, als den durch „Privilegien verewigte(n) einer unwissenden, rohen, hab- und machtgierigen Adels-Clique, die nur in der Niederhaltung jeder Entwicklung eine Bürgschaft für ihre unsinnigen Vorrechte finden konnte". (SW III, S. 1029) Metternich und das ,System' hätten aus der Julirevolution von 1830 die falsche Konsequenz gezogen, nämlich dem „auftauchenden demokratischen Prinzip ein aristokratisches entgegenzusetzen". (Ebd.) Grillparzer bedient sich in seiner nicht zur Veröffentlichung bestimmten Auseinandersetzung mit Metternich und dem , System' unterschiedlicher satirischer Strategien. Nur einmal knüpft er ganz explizit an die auch in Osterreich seit den josephinischen Broschüren im Gefolge von Swift und Liscow populäre Tradition der Gattung Satire 15 an, indem er die Textsorte der Traueranzeige adaptiert:

13 Ignaz von Born : Monachologie nach Linnäischer Methode. Wien 1785. 14 Anastasius Grün : Spaziergänge eines Wiener Poeten. In : Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Anton Schlossar, Bd. 5. Leipzig (1906), S. 129f. 15 Vgl. Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-1795. Frankfurt a. M. 1977. S. 565ff.

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Grundlegungen

Klemens, Wenzel, Lothar Fürst von Metternich Winneburg Ochsenhausen gibt im Namen seiner Frau, des Papstes, des Teufels und der sonstigen absoluten Mächte Nachricht von dem betrübten Tode ihrer gemeinschaftlichen Pfleg- und Nähr-Mutter, der gegenwärtig in Gott ruhenden Legitimität, die auf ihrem Witwensitz in Spanien nach empfangenen Sakramenten und sonstigen Flüchen an gänzlicher Entkräftung selig im Herrn entschlafen ist. Da in ihren Nachlaß von östreichischen Talern sich bereits die nächste Dienerschaft geteilt hat, so bleibt den Angehörigen nichts übrig als die Nachfahrt, deren sich die Leidtragenden in Gott getrösten mögen. Der entseelte Leichnam wird auf dem Schloß zu Blayes in der Stille beigesetzt, die heiligen Messen in den Kirchen der PP Jesuiten und Ligorianer gelesen und die Glocken dazu von der Gazette de France und dem östreichischen Beobachter geläutet werden. Beileidbezeugungen werden nur von Blödsinnigen angenommen. (Tgb. 3749, 1844. SW III, S. 100) Indem Grillparzer die Rhetorik der ritualisierten Textsorte ,Partezettel' satirisch verfremdet, illustriert er Viktor Freiherr von Andrian-Werburgs nüchternen Zeitbefund vom „gänzlichen Mangel an Zuneigung und Teilnahme für die Regierung". Ahnlich wie Grillparzer verfuhren später Vertreter der Revolutionsdichtung und der anonymen Volksdichtung von 1848. Variationen des Vaterunsers demonstrierten unter anderen die weit verbreitete Metternich-Feindlichkeit unter den Schriftstellern des Vormärz: Vater Metternich, der du bist in Wien, entheiligt werde dein Name, zu uns komme eine bessere Regierung, der Wille deiner Untertanen geschehe wie in Ungarn so auch in Osterreich. Gib uns ein wohlfeiles Brot, und vergib uns unser gerechtes Schimpfen und Schreien, wie auch wir dir vergeben das neue unchristliche Anlehen. Und führe uns nicht in Versuchung durch unnachahmliche Banknoten, sondern erlöse uns durch reale Silbermünze vom bevorstehenden Übel, Amen.17

16 Victor Frh. von Andrian-Werburg: Österreich und dessen Zukunft. 1. Teil. Hamburg 1843, S. 12. 17 Zitiert bei: Antal Mádl: Politische Dichtung in Österreich (1830-1848). Budapest 1969, S. 310.

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.Metternich und seine elende Umgebung"

Grillparzers Partezettel bedient sich wie jede Satire lediglich einer erheiternden Form unter Einsatz von Witz und Ironie zur Entlarvung gesellschaftlicher Zustände. Das Gesamtwerk des Dichters zeigt vielmehr eine lebenslange moralische und emotionale, von Ernst und Sorge getragene affektive und von Distanzlosigkeit geprägte Beteiligung an der politischen Entwicklung Österreichs. Auf Grillparzer trifft András Horns These zu, der Satiriker könne „des Lebens [...] nicht froh werden". 18 Die kompromißlose Subversivität von Grillparzers Kurzsatire Partezettel findet unter anderen eine politisch-weltanschauliche wie gattungstypologische Vorläuferin in Paul Weidmanns radikaler systemkritischer Herrschersatire u n d Stilparodie Der Eroberer,

Eine poetische Phantasie

inßinfKapriz-

zen (1786), die von der Zensur, welche noch in der zweiten Hälfte des josephinischen Jahrzehnts liberaler gehandhabt wurde als später unter Metternich, sofort aus dem Verkehr gezogen wurde 20 . Grillparzers Rückgriff auf eine Gattungstradition des josephinischen Jahrzehnts, die das gesellschaftliche System satirisch demontiert, steht nicht zuletzt im Zeichen eines in der Ara Metternich zunehmend populären Gegenmythos um Joseph II. im Vorfeld der Revolution von 1848. m

18 András Horn : das Komische im Spiegel der Literatur. Versuch einer systematischen Einführung. Würzburg 1988, S. 209. 19 Paul Weidmann: Der Eroberer, Eine poetische Phantasie in fünf Kaprizzen. Wien und Leipzig 1786 20 Vgl. Eduard Beutner: Aufklärung versus Absolutismus? Zur Strategie der Ambivalenz in der Herrschersatire der österreichischen Literatur des josphinischen Jahrzehnts. In: Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann. Hrsg. v. Gerhard Ammerer und Hanns Haas. Wien München 1997, S. 241-252, bes. 251.

Jane Regenfelder

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

Ι.

R E V O L U T I O N UND A M B I V A L E N Z B O L Z A N O UND D I E

-

„POSTMODERNE"

Bernard Bolzano (1781-1848) gilt als einer der größten Philosophen und Mathematiker des 19. Jahrhunderts, aber auch seine sozialen und politischen Ansichten und Ziele finden zunehmend Beachtung. Bolzano war ein kritischer Beobachter und Analytiker der politischen und gesellschaftlichen Zu- und Mißstände seiner Zeit, ferner ein bedeutender Pädagoge, der aufgrund seiner z. T. unkonventionellen Erziehungsansätze bei seinen Zeitgenossen auf Ablehnung und Unverständnis stieß. Seine Bildungsziele waren Toleranz, Akzeptanz, Selbstreflexion, Kritikfähigkeit und Demokratie. Es scheint, als hätte der „Weise von Prag" geahnt, was dem Jahrhundert, an dessen Anfang er stand, an moralisch-politischen Aufgaben bevorstehen würden. Als „Aufklärer" erhoffte Bolzano Sicherheit aus der Kritik. Der Ansatzpunkt der Kritik lag für den Priester Bolzano in der Religion. Seit Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Religion durch die rege publizistische Tätigkeit der französischen Enzyklopädisten und der englischen Deisten an Bedeutung verloren. Obwohl die meisten Denker die Kirche, vor allem die katholische, wegen ihres Machtmonopols und ihres Dogmatismus kritisierten, lehnten sie dennoch die Religion nicht grundsätzlich ab, sondern vertraten eher einen gemäßigten Deismus. Der Glaube an die Kraft der menschlichen Ratio trat in den Vordergrund. Mit dem endgültigen Durchbruch der Aufklärung und mit der fortschreitenden Rationalisierung des Unterrichts verschwand die Religion auch aus der höheren Bildung. Die Philosophie der Aufklärung hatte eine große Breitenwirkung und verursachte eine radikale Abkehr von aller Tradition. Vernunft wurde zur Quelle aller Erkenntnis, zur Richtschnur menschlichen Handelns und zum Maßstab aller Werte. Die daraus resultierende religiöse Gleichgültigkeit bildete aber auch einen Nährboden für revolutionäre Ideen insofern, als daraus ein Wertevakuum entsprang, das zu Orientierungslosigkeit bzw. - so aus dem Blickwinkel der wertkonservativen Institutionen - zu Verwirrung führte. In dieser Situation waren die Menschen

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vennächtnis

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im allgemeinen und die Jugend im besonderen für neue sozialethische und utopisch-politische Lehren bzw. Strömungen sensibel und zu begeistern, womit die Suche nach einer „Ersatzreligion" in staatspolitischer Hinsicht sich als „anstößig", subversiv erweisen sollte. Die kritische Position der Aufklärung mußte aber nicht zwangsläufig zur politischen Revolution führen. Gerade Philosophen wie Leibniz und Wolff bemühten sich um „eine zeitgemäße Darstellung des Glaubens" 1 und versuchten zu beweisen, daß der traditionelle Glaube und die neue Vernunft durchaus miteinander vereinbar wären. Sie entwickelten „in der Abwehr gegen die radikal-freisinnige Aufklärung eine „gemäßigte" Aufklärung, die durchaus christlich und bewußt protestantisch oder katholisch bleiben wollte". 2 In diesem Kontext wäre nach den Forschungen von Eduard Winter Bolzano geistig zu verankern: nicht vordergründig als „Revolutionär", sondern als aufklärerischer „Reformer". Andrerseits fiel das Leben und Wirken des Sozialethikers Bolzano in eine Epoche, die von großen gesellschaftlichen und geistigen Umwälzungen geprägt war. Von der Ambivalenz seiner Zeit blieb auch Bolzano nicht verschont. Nicht die Alternative „zu Unrecht verfolgter Revolutionär" oder „bloß verkannter Reformer" begründet das Interesse an Bolzano, sondern die Frage nach dieser „Ambivalenz", die eine Antwort weitaus komplizierter macht. Die Parodíele zur Gegenwart liegt auf der Hand. Kirche und Staat verlieren an Image und Autorität, die Auflösung von anerkannten Mythen und Organisationen führte zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im „postm o d e r n e n " Europa. Jean-Francois Lyotard spricht in diesem Zusammenhang vom „Ableben der großen Erzählungen (Staat, Kirche)" 3 . An die Stelle dieser „großen Erzählungen" m u ß ein neuer Wertekanon treten : - Erziehung zur Toleranzfahigkeit gegenüber widersprüchlichen Positionen, - Gleichberechtigung und Akzeptanz von Differenzen, - Pluralität von Meinungen, - Bekämpfung von Rassismus, Nationalismus und Diskriminierungen aller Art.

1 Eduard Winter: Bernard Bolzano und sein Kreis. Leipzig 1933, S. 15. 2 Ebd., S. 15. 3 Zit. n. Heinz-H. Krüger: Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Opladen 1997, S. 166.

78

2.

Grundlegungen

„FORTSCHREITEN

SOLL ICH" -

DER

PREDIGER

ALS

„REVOLUTIONÄR"

Für die Verwirklichung dieser Ziele hatte sich in einem vergleichbaren zeitgeistlichen Kontext auch Bernard Bolzano während seiner Tätigkeit als Professor an der Prager Universität eingesetzt. Auch nach Ansicht Bolzanos war nur durch „Aufklärung" der Abbau der auf Unwissen beruhenden Vorurteile möglich.4 Weil Bolzano von seiner persönlichen Berufung als Aufklärer, Menschenverbesserer und Reformator überzeugt war, wurde er katholischer Priester. Als Priester und Professor für Religionswissenschaft glaubte er, seine Vorstellungen von der bestmöglichen Gesellschaft verwirklichen, und so zum Wohl der Menschheit beitragen zu können. Zu den Pflichten des „Universitätskatecheten", wie der Professor für Religionswissenschaft genannt wurde, zählten neben den Vorlesungen auch die Sonntagsansprachen an die Studenten (Erbauungsreden bzw. Exhorten). Priestertum und Professur waren für Bolzano Institutionen, von denen her er als Erneuerer in einem durchaus revolutionären Sinn wirken wollte. Dafür war allerdings die ihm anvertraute akademische Stelle eigentlich nicht vorgesehen. Durch die Errichtung von Lehrstühlen der Religionswissenschaft an den philosophischen Fakultäten der österreichischen Universitäten erhoffte sich die Wiener Regierung zuerst eine katholische Neuorientierung der Studenten. Dadurch sollten die neuen philosophischen Systeme der Aufklärung zurückgedrängt werden. Auch eine politische Aufgabe war dem Professor zugedacht und zwar die der systemstabilisierenden Wirkung, der Erhaltung des „Status quo". Einer der Mittel zum Zweck bildete die römisch-katholische Religion als Werkzeug der katholischen Restauration in Österreich. Kaiser Franz I. 5 war ein entschiedener Gegner von Reform und Aufklärung, die er mit Revolution gleichsetzte.6 Für seinen Staatsminister, den Europapolitiker Metternich, war die Erhaltung und Sicherung des europäi4

Bolzanos Kampf gegen Nationalismus und Rassismus. Hrsg. v. Edgar Morscher u. Otto Neumaier. Sankt Augustin 1996, S. 7. 5 Vgl. Walter Ziegler: Franz I. von Österreich 1806-1835. In: Die Kaiser der Neuzeit 15191918. Heiliges Römisches Reich, Osterreich, Deutschland. Hrsg. v. Anton Schindling u. Walter Ziegler. München 1990, S. 309-328. 6 Eduard Winter: Bernard Bolzano. Ein Denker und Erzieher im österreichischen Vormärz. Wien 1967, S. 13.

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

79

sehen Gleichgewichts durch die Verhinderung nationaler und sozialer Revolutionen das wichtigste politische Ziel. Diese Position vertrat auch sein Sekretär Friedrich Gentz. Aus diesem Grund wurden andere Ideologen, wie z.B. Friedrich Schlegel und Adam Müller, der sogar des Sozialismus verdächtigt wurde, aus dem Kreis der inneren Politik ausgeschlossen. 7 Die Schreckgespenster im österreichischen Vormärz hießen „Nationalismus, Sozialismus und Revolution", die es um jeden Preis zu bekämpfen galt. Die österreichische Regierung bemühte sich sehr um die Erhaltung der staatlichen Ordnung und des österreichischen Gesamtstaates. Deshalb war das „Ziel der Vorlesungen", die Bolzano als Professor der Religionswissenschaft zu halten hatte, „weder wissenschaftlich noch religiös, sondern ausschließlich politisch, sie sollten „dazu anleiten, daß die Untertanen auch weiterhin gute Untertanen ihrer Obrigkeit bleiben möchten"8. Für diese Aufgabe hatte man aber mit Bolzano eine wenig geeignete Persönlichkeit gewählt. Sein Denken und Streben war auf die praktische Umsetzung des pädagogischen Modells von der „Vervollkommnungsfähigkeit" der Menschen, der Gesellschaft, wohl aber auch der Politik ausgerichtet: Diese Auffassung ließ ein Beharren oder Stehenbleiben auf einem „Status quo" nicht zu. Das war mit Bolzanos Lebensmotto unvereinbar: „Fortschreiten soll ich!" 9

3 . D I E „ E R B A U U N G S R E D E N " - R E L I G I O N UND „ F O R T S C H R I T T "

Irreligiosität und Skeptizismus herrschte unter den Studenten an der Prager Universität. Sie lasen die Werke der Enzyklopädisten, ihre geistige Haltung war geprägt vom Gedankengut der Aufklärung: Glaube an den auf Vernunft gegründeten Fortschritt der Wissenschaften; moralische, soziale und politische Entwicklung der Menschheit; kritische Position gegenüber der Religion. Zu Beginn seiner Tätigkeit fand Bolzano ein nicht gerade günstiges Klima bei seinen Studenten vor: Mißtrauen und Unwillen gegen den 7

Helmut Rumpier: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1790 - 1914. Wien 1997, S. 94.

8

Vorrede von Karel Petr (Professor an der Karls-Universität in Prag). In: Bernard Bolzanos Schriften. Hrsg. v. der königlich - böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. Bd. 1, Functionenlehre, Prag 1930, S. VII.

9

Zit. Peter Webhofer: Bernard Bolzano. Ein akademischer Fall oder ein pastoraler Auftrag auf Abruf. Theol. Diss., Wien 1992, S. 93.

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Grundlegungen

neuen Gegenstand empfingen den jungen Lehrer. Über diese anfangliche Problematik berichtet er in seiner Lebensbeschreibung: Die Studierenden waren aus sehr begreiflichem Grunde gegen den neuen Lehrgegenstand im Voraus eingenommen; denn er vermehrte nicht nur die Summe dessen, was sie lernen sollten, sondern auch schon der Name Katechet, unter dem mein ihnen den neuen Professor ankündigte, war ihnen in hohem Maße zuwider. ,Das System der Natur' die Schriften Voltaire's und anderer Freigeister waren unter ihnen bisher im Umlaufe gewesen, und somit war ihnen Alles, was sich auf Religion bezog, theils lächerlich, theils verächtlich geworden. Die Worte: Andacht, Erbauung, Frömmigkeit; Buße, Beichte, heil. Abendmahl und hundert andere, die zur Bezeichnung religiöser Gegenstände dienen, klangen beleidigend in ihren Ohren.10

Aber Bolzano konnte die Skepsis überwinden. Zu seinen jungen Studenten als ersten sprach Bolzano über seine Gedanken zur Reform der Gesellschaftsordnung, er löste damit von Anfang an große Begeisterung aus. Denn in seinen, vom Geist der Aufklärung und den Ideen der Französischen Revolution geprägten Erbauungsreden sprach er über die Gleichheit aller Menschen, die Schädlichkeit der Kriege, die Notwendigkeit des Fortschritts u.v.m. Dieses Programm erregte umgehend den Unwillen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit. Die Reden Bolzanos an die akademische Jugend stellen nicht nur von deren Ausmaß her das Schlüsselwerk in seinem Leben dar. Die Exhorten sind für das Verständnis seines philosophischen Systems von großer Bedeutung, weil im Rahmen der Erbauungsreden bereits jene eigentümlichen sozialethischen, religionsphilosophischen und utopischpolitischen Gedanken formuliert wurden, die dann in den späteren Werken (Lehrbuch der Religionswissenschaft, Wissenschaftslehre, Von dem besten Staate) ihren Ausdruck fanden. Nach den bisherigen Feststellungen hat er insgesamt ca. 600 Erbauungsreden gehalten, von welchen nur 67 als Autographen und weitere 376 in Abschriften seiner Hörer erhalten geblieben sind.11 Den Er-

10 Dr. Bernard Bolzano's Selbstbiographie. Neue Ausgabe. Wien 1875, S. 51. 11 Bernard Bolzano: Erbauungsreden fur Akademiker (1813). Bernard-Bolzano- Gesamtausgabe. Hrsg. v. Eduard Winter. Reihe 1 : Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Jaromir Louzil. Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 7.

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

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bauungsreden maß Bolzano selbst große Bedeutung zu, er bereitete sich auf jede sehr sorgfaltig vor. Was die Thematik der Ansprachen betrifft, so stehen erzieherische und ethische Inhalte über den religiösen. Intensiv beschäftigte sich Bolzano auch mit der Bewältigung des alltäglichen Lebens, er ging auf aktuelle Probleme oder Tagesfragen seiner Zuhörerschaft ein. In diesem Sinne fungierte der „Weise von Prag" auch als „Lebensberater" und „Psychotherapeut". Eine Sonderstellung nehmen jene Ansprachen ein, in denen Bolzano seine gesellschaftlichen Reformgedanken zum Ausdruck brachte, wie z.B. in der am 25. Februar 1810 gehaltenen Rede „Über den Muth". Darin fordert er seine Studenten auf, die Schreibfeder zu ergreifen, um so auf die herrschenden Mißstände der Zeit aufmerksam zu machen. Denn nicht die Gewalt sei das beste bzw. wirksamste Mittel, um eine Bewußtseinsänderung herbeizuführen, sondern die publizistische Tätigkeit. Die folgende Textpassage enthält einen Aufruf an den zukünftigen Lehrerstand, Mut zu beweisen: Ihr endlich, die nicht der Staat allein, nein, die Gott selbst durch seine außerordentlichen Gaben beruft, L E H R E R und AUFKLÄRER des menschlichen Geschlechts zu werden! O, welche herrlichen Gelegenheiten werden nicht euch sich darbiethen, der ganzen Welt zu zeigen, daß euer Muth nicht geringer als eure Weisheit sey! Der echten Aufklärung nehmlich stammt man sich jederzeit entgegen; die reine Wahrheit findet in allen Ländern ihre Hasser. Euere erhabene, heilige Pflicht wird es seyn, jede gemeinnützige Wahrheit auf Erden auszubreiten. Man wird es euch verbieten wollen; ihr aber werdet muthvoll erwiedern müssen, was jene heiligen Apostel einst erwiederten: „Man muß Gott mehr, denn Menschen gehorchen!" Und sollt' es sich fügen, daß man euch, wie jene ersten Verkündiger des Evangeliums, um eurer Grundsätze wegen zu tödten drohete; doch sollt' ihr keinen Finger breit von Gottes Lehre weichen, sollt' euch vielmehr mit herzlicher Freude freuen, daß Gott euch würdiget, um seines Nahmens willen, das heißt, fur Wahrheit und Tugend , zu bluten und zu sterben! 12

Wie mußte diese Exhorte, in der er die Forderung erhob, der Mensch müsse für den Fortschritt sogar sein Leben einsetzen, auf seine Hörer wirken! Immer wieder betonte Bolzano in seinen Erbauungsreden, daß sich

12 Ebd., S. 113.

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Grundlegungen

die Studenten ihrer Pflicht gemäß auf ihre zukünftige Aufgabe als „Volksfiihrer" und „Volksaufklärer" vorbereiten sollten. 13 Diese Erziehungsgrundsätze übernahmen aus den Reihen seiner Schüler sowohl deutsche wie auch tschechische Wissenschaftler, Beamte und Politiker, wie z.B. Robert Zimmermann und Anton Krombholz einerseits, Franz PalaCky und Karel Havlicek andererseits. Letzterer hat seine berühmten „Kuttenberger Episteln" (Epistoly kutnohorské) von 1852 nach dem Muster der „Erbauungsreden" gestaltet. Auch nach dem Verlassen der Universität sollten seine Schüler zu Verfechtern des allgemeinen Fortschritts werden. Sehr genau erkannte also Bolzano die wichtigen Zusammenhänge zwischen Pädagogik und Gesellschaft. „Die maßgeblichen Männer in Wien, die die Stelle des Universitätskatecheten geschaffen hatten, u m die akademische Jugend", die gleichzeitig auch die künftige geistige Elite der Monarchie war, „durch Anhaltung zur Gottesfurcht dem absoluten Kaisertum und der Restauration gefügig zu machen" 14 , sahen in Bolzano, der so sehr für den Fortschritt eintrat, einen Gegner. Denn seine Aufgabe hätte ja darin bestehen sollen, die Studenten, die den Fortbestand des Systems garantieren sollten, zu erziehen. Es war unvermeidlich, daß ein akademischer Lehrer, der die sozialen und politischen Verhältnisse so gründlich geändert wissen wollte, von den regierenden Kreisen als gefährlicher Demagoge und „Volksaufwiegler" betrachtet wurde. 15 Aus den genannten Gründen haben diese Reden, denen außer den Studenten auch zahlreiche gebildetere Prager Bürger beigewohnt haben, bereits zur Zeit ihres Vortrags großes Aufsehen erreg; Abschriften fanden im ganzen Land Verbreitung. Das große Interesse der breiten Öffentlichkeit an seinen Exhorten bewog Bolzano im Jahre 1813, eine Auswahl von 16 Reden aus den Jahren 1808 bis 1812 in Buchform herauszugeben. Obwohl diese Ausgabe von Bolzano sorgfaltig redigiert wurde, erwiesen sich diese Erbauungsreden als „Fundgrube" für die Anklage im politischen Sinne. 16 13 Eduard Winter: Die Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos. Humanistischer Patriotismus oder romantischer Nationalismus im vormärzlichen Österreich. Bernard Bolzano contra Friedrich Schlegel. Wien 1977, S. 14. 14 Winter, Ein Denker und Erzieher, S. 12f. 15 In einer am Palmsonntag des Jahres 1811 gehaltenen Exhorte beklagte sich Bolzano darüber, daß er zu Unrecht als „Wahnsinniger, geheimer Volksaufwiegler und Ruhestörer" bezeichnet wurde. Vgl. Bolzano: Erbauungsreden, S. 137. 16 Vgl. Webhofer, S. 24.

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

4. D E R

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PROZESS

In e i n e m a m 2. F e b r u a r 1819 v o n B a r o n Stifft, d e m k a i s e r l i c h e n Leibarzt, Staats- u n d K o n f e r e n z r a t , v e r f a ß t e n Bericht a n d e n Kaiser w u r d e eine Passage aus d e n E x h o r t e n als b e s o n d e r s r e v o l u t i o n ä r h e r v o r g e h o b e n : Jedes Jahrhundert liefert uns, bevor es ins Meer der Ewigkeit verrinnt, neue Beweise, wie schädlich Kriege sind; zu welchen Mißbräuchen gewisse Einrichtungen in der Gesellschaft nothwendig verleiten; bey welchen Verfassungen sich die Völker glücklicher befinden: und unserm Gott sollte es unmöglich seyn, und durch dieß Alles klüger zu machen, unsere Verschlossenen Augen endlich zu öffnen, auf daß wir mit Verwunderung erkennen, wie doch so leicht wir es längst hätten besser haben können? 0 , das vermag er gewiß, unser Gott; das wird er auch gewiß zu Stande bringen. Es wird - ich sage es mit ciller Zuversicht - es wird eine Zeit erscheinen, wo man den Krieg, dieß widersinnige Bestreben, sein Recht durchs Schwert zu beweisen, eben so allgemein verabscheuen wird, wie man den Zweykämpf jetzt schon verabscheuet! Es wird eine Zeit erscheinen, wo all die tausendfältigen Rangordnungen und Scheidewände unter den Menschen, die so viel Böses anrichten, in ihre gehörigen Schranken werden zurückgewiesen seyn, wo jeder umgehen wird mit seinem Nächsten, so wie ein Bruder mit dem Bruder soll! Es wird eine Zeit erscheinen, wo man Verfassungen einführen wird, welche dem Mißbrauche nicht mehr so schrecklich ausgesetzt werden, als unsere gegenwärtigen; eine Zeit, wo man den Menschen auf naturgemäße Art erziehen, und keinen Ruhm mehr darein setzen wird, von der Natur sich weit entfernt zu haben; wo Niemand glauben wird, Achtung und Ehre zu verdienen, weil er, ein Einziger, so viel an sich gerissen hat, als zur Befriedigung für die Bedürfnisse Tausender hinreichend wäre!17 In d i e s e m Text tritt deutlich d e r E i n f l u ß von Rousseau ( „ Z u r ü c k zur N a t u r " ) zutage, die Idee von d e r G e w a l t e n t e i l u n g in e i n e r konstitutionellen M o n a r chie, d i e F o r d e r u n g n a c h d e r S o u v e r ä n i t ä t d e s Volkes; b e m e r k e n s w e r t ist auch d a s Postulat von e i n e r n a t u r g e m ä ß e n E r z i e h u n g . M i t Bolzanos Sozialethik s t e h t a u c h die E t h n o e t h i k in Z u s a m m e n h a n g : O b w o h l e r sich selbst als „ B ö h m e d e u t s c h e r Z u n g e " 1 8 b e z e i c h n e t e , trat e r entschieden für die Rechte d e r benachteiligten „ B ö h m e n tschechischer 17 Bolzano: Erbauungsreden, S. 83f. 18 Vgl. Winter: Sozialethik, S. 13.

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Grundlegungen

Zunge" ein. Die Grundlage seiner ethnoethischen Überlegungen bildete das für ihn oberste Sittengesetz: „Befördere das allgemeine Wohl, indem Du glücklich bist, daß Du glücklich machst; fortschreiten sollst Du".® Bolzano trat für die Gleichberechtigung beider Bevölkerungsteile ein und verurteilte sowohl die „Tschechomanie" als auch die „Deutschtümelei". 20 Verschärft wurde die Situation durch das Wartburgfest 1817, einem der Wendepunkte und einem ersten geistigen Fanal des deutschen Nationalismus. In romantisch-schwärmerischer Manier beschworen die Teilnehmer die Aufbruchszeit der Befreiungskriege gegen Napoleon I., forderten die nationale Einheit Deutschlands und protestierten gegen die Politik der Restauration. Die Botschaft des Wartburgfestes beeindruckte auch die führenden Köpfe des tschechischen und tschechoslowakischen Frühnationalismus: Josef Jungmann, Ján Kollár und Pavel Safarik 21 . Sowohl in Wien als auch in Prag war man sich des damit verbundenen Wandels der nationalen Bewegung von einer „böhmisch-patriotischen" zu einer „böhmisch-nationalen" voll bewußt. In Wien lautete jedenfalls das Urteil auf „staatsgefährlich" 22 , und so wurde Bolzano der Prozeß gemacht. Die Exhorten haben am Ende - zusammen mit den heterodoxen Ansichten die Religionswissenschaft betreifend - zu Bolzanos Entlassung durch die kaiserliche Entscheidung vom 24. Dezember 1819 geführt. Er erhielt ein Predigtverbot und nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurde die Veröffentlichung seiner Bücher untersagt. Die erste Auswahl seiner „Erbauungsreden für Akademiker" aus dem Jahr 1815 wurde 1828 auf den Index librorum prohibitorum gesetzt. Gleichzeitig wurde ein Schüler Bolzanos, der Theologieprofessor Michael Josef Fesl, als Staatsverbrecher nach Wien gebracht. Fesl hatte mit einem Kreis von Gleichgesinnten in Leitmeritz den geheimen „Christenbund" gegründet: Die Mitglieder fühlten sich als Christen, die durch ihre gemeinsame Philosophie verbunden waren und daher über den jeweiligen Konfessionen standen. Möglicherweise war diese Aktion eine Reminiszenz an den von François Babeuf gegründeten Geheim-

19 Zit. ebd., S. 15. 20 Wolfgang Künne: Bernard Bolzano über Nationalismus und Rassismus in Böhmen. In: Bolzanos Kampf gegen Nationalismus und Rassismus. Hrsg. v. Edgar Morscher u. Otto Neumaier. Sankt Augustin 1996, S. 97-154, Zit. S. 114. 21 Vgl. Rumpier, Eine Chance, S. 183. 22 Heinrich Fels: Die Verurteilung Bolzanos, dargestellt auf Grund der Prozeß-Akten. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 44 (1931), S. 419-447, Zit. S. 441.

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Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

bund „Die Verschwörung der Gleichen". Bolzano selbst distanzierte sich entschieden von diesem „törichten Schritt". 23 Der sogenannte Bolzano-Prozeß bestand aus einem staatlichen Absetzungsverfahren und aus dem kirchlichen Prozeß, der sich von 1820 bis 1825 hinzog. Durch den kirchlichen Prozeß sollte Bolzano als Lehrer für immer unschädlich gemacht werden. Doch die öffentliche Meinung im Lande stand beinahe geschlossen hinter ihm. Besonders unter dem hohen Klerus und den Adeligen, die noch vom Geiste des Josephinismus geprägt waren, befanden sich viele „Bolzanisten". Auch der „Vater der Slawistik" Josef Dobrovsky setzte sich für Bolzano ein; ebenso Dobrovskys Schüler und Nachfolger Jernej Kopitar.24 Der römische Papst und österreichische Kaiser reichten sich im Kampf gegen Bolzano die Hände: Gemeinsames Ziel war, wie der päpstliche Nuntius am 4. März 1820 nach Rom berichtete, die „principi rivoluzionari in Germania" gemeinsam mit Fürst Metternich zu vernichten.25 Doch am Ende des kirchlichen Prozesses blieb Bolzano trotzdem Sieger: Im Gegensatz zu Fesl leistete er keinen Widerruf. Die Schlußerklärung vom 51. Dezember 1825 endete mit den Worten: „Daher kann ich denn auch nicht bereuen, diese Lehren vorgetragen zu haben und ohne mich an unserer heiligen Religion selbst zu versündigen, sie auch nicht widerrufen."26 Bolzano war von der Rechtgläubigkeit seiner Lehren zutiefst überzeugt. Trotz seiner Entfernung aus dem Lehramte und dem Scheitern seiner Reformbestrebungen blieb er ungebrochen und widmete sich seinen wissenschaftlichen Arbeiten.

5. „VON DEM BESTEN S T A A T E " -

SOZIALUTOPIE

ODER

SOZIALISMUS?

Bolzanos sozial-ethische und politische Reformbestrebungen fanden ihren Niederschlag in dem Werk „Von dem besten Staate", das er 1831 seiner „Le23 Gregor Zeithammer: Biographie Bolzanos. Hrsg. v. Gerhard Zwerschke. Bernard-BolzanoGesamtausgabe. Hrsg. v. Eduard Winter. Reihe 4, Bd. 2: Dokumente. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 91. 24 Vgl. Winter, Ein Denker und Erzieher, S. 16. 25 Ebd., S. 15f. 26 Eduard Winter: Der Bolzanoprozeß. Dokumente zur Geschichte der Prager Karls-Universität im Vormärz. Brünn 1944, S. 236.

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Grundlegungen

benserhalterin" Anna Hoffmann widmete. Dieses Werk basiert auf seinem obersten Sittengesetz, welches dem Menschen die sittliche Verpflichtung auferlegt, immer so gut wie nur möglich für das allgemeine Wohl einzutreten. Ursprünglich plante Bolzano die Veröffentlichung dieser sozial-utopischen Schrift mit Etienne Cabets „Voyage en Icarie" in deutscher Ubersetzung als Beilage 28 . Der konfessionslose Christ Cabet trat in seinem Idealstaat für die Aufhebung des Zölibats ein; er verurteilte jede Art von Gewalt. Zwischen den Werken von Bolzano und Cabet bestehen bemerkenswerte Parallelen. Eduard Winter vertritt die Auffassung, daß Bolzanos Sozialutopie nicht mit jener von Cabet verglichen werden könnte, obwohl auch er Ubereinstimmungen zwischen den Überlegungen der beiden zugeben muß 29 . Ebenso wie bei Bolzano bildet auch bei Cabet die Erziehung die Grundlage für das Privat- und Staatsleben 30 . Der unbeirrbare Glaube Bolzanos an den Fortschritt der Menschheit durch Erziehung und Unterricht zieht sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben und Wirken. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den verschiedenen Erziehungsformen zu, wobei erstaunlicherweise die physische Erziehung ein erster Stelle gereiht wird. Durch „vom Gesetz verordnete Leibesübungen", wie z.B. „turnen", „militärisch marschieren", werden Leib und Geist gestärkt, und dies führt in weiterer Folge zur „Veredelung der Rasse" : Ja, durch die Bildung wird der Mensch erst ein Mensch. Und durch die Bildung, geistige wie sittliche und körperliche, wird er erst zu einer bestimmten Persönlichkeit ausgeprägt. Ideen, Gefühle, Gemütsbewegungen, Gewohnheit und Sitten, Sprache, Religion, Profession, Wissen: alles dies ist ein Produkt der Erziehung, ist Erzeugnis der Einwirkung, welche die Gesellschaft auf den Einzelnen übte. Das Kind ist bildungsfähig. Man nehme zwanzig Kinder aus zwanzig Ländern. Zwanzig Erziehungen machen sie zu zwanzig sehr verschiedenen Menschen [.. ,]31

27 Bernard Bolzano: Von dem besten Staate. Hrsg. v. Arnold Kowalewski. Prag 1932. 28 Jaromir Louzil: Bolzanos Sitten- und Gesellschaftslehre. In: Bernard Bolzano. 29 Eduard Winter: Bernard Bolzano. Ein Lebensbild. Bernard-Bolzano-Gesamtausgabe. Hrsg. v. Eduard Winter. Einleitungsband, Erster Teil: Biographie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, S. 169. 30 Vgl. Etienne Cabet: Reise nach Ikarien. Eine Auswahl. München 1919, S. 9fF. 31 Ebd., S. 39.

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

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Bolzano betrachtete wie Cabet den Stellenwert der Vergleichenden Erziehungswissenschaft als Politikum, er las die Werke des französischen Philosophen Victor Cousin 32 . Cousin gilt als Begründer der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in Frankreich. In Bolzanos Utopie hängt die praktische Umsetzung des obersten Sittengesetzes hauptsächlich vom Erfolg der sittlichen Erziehung und allgemeinen Aufklärung ab. Der Bolzano-Forscher Jaromir Louzil kommt zu dem Schluß, daß „Bolzanos bester Staat [...] in der Tat eine allumfassende Erziehungsanstalt [ist], welche unermüdlich und unerbittlich um sittliche Vervollkommnung aller bemüht ist" 33 . Zu diesem Ergebnis gelangte auch Emerich Franzis 34 . In diesem Idealstaat tritt daher der weise und edle Lehrer und Erzieher (Bolzano selbst) als „Führer" auf. In diesem Sinne erscheinen die Bürger des besten Staates, der totalitäre Züge aufweist, als unmündige Wesen, die einer steten Erziehung und Führung bedürfen. Eduard Winter deutete diese Schrift als Formulierung eines kommunistischen Programmes. Die Ideen, welche er darin äußert, sind aber keineswegs als kommunistisch im marxistischen Sinne zu verstehen, sondern vom Gedankengut der utopischen Sozialisten geprägt, wie auch Ernst Glaser festhält. 35 Große Sympathie hegte Bolzano für den liberal-katholischen Theologen und Philosophen Hugues-Félicité-Robert Lamennais sowie für dessen Mitstreiter Graf Charles Montalembert. Am 29. Dezember 1837 teilte er Fesl mit, daß er mit den Gedanken Lamennais' in dessen „Affaires de Rome" weitgehend übereinstimme 36 . Lamennais hatte durch die Veröffentlichung seiner „Affaires de Rome" den Bruch mit der römischen Kirche vollzogen. Er wurde zum Verfechter einer neuen, sozial-demokratischen Gesellschaftsform, die im reinen und konfessionslosen Christentum verwurzelt sein sollte. Im Gegensatz zu Lamennais ließ sich Bolzano nicht aus der Kirche hinausdrängen, weil er an den Grundprinzipien seines Ordnungs- und Pflichtdenkens zeitlebens festhielt. Obwohl er sich für einen radikalen Reformkatholizismus engagierte, hat er selbst aber den Schritt in die praktische Politik nicht getan. 32 Vgl. Winter: Ein Denker und Erzieher, S. 57. 33 Louzil: Bolzanos Sitten- und Gesellschaftslehre, S. 20. 34 Emerich Franzis: Bernard Bolzano. Der pädagogische Gehalt seiner Lehre. Münster 1933, S. 224. 35 Ernst Glaser: Im Umfeld des Austromarxismus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des österreichischen Sozialismus. Wien-München-Zürich 1981, S. 43. 36 Winter, Ein Denker und Erzieher, S. 57.

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6. D E R

Grundlegungen

ENTTÄUSCHTE

„REVOLUTIONÄR"

Vom Revolutionsjahr 1848 zeigte sich Bolzano enttäuscht: Er war kein begeisterter Revolutionär, da er das Ungeniigen der bürgerlichen Revolution vom März 1848 erkannte. Außerdem sah er keine praktische Möglichkeit für die Realisierung seiner Ideen, wie er sie in seinem Buch „Von dem besten Staate" vorgeschlagen hatte37. Bolzano war nur ein Aktivist des Geistes. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Ernst Freiherr von Feuchtersieben kannte Bolzano keine Resignation und kein Aufgeben. Wie Bolzano war auch Feuchtersieben von seiner Aufgabe als Erzieher und Reformator überzeugt gewesen. Das Ziel und höchste Ideal war auch für ihn die „Bildung, d. h. der sich selbst erziehende Mensch, der dauernd an der Vervollkommnung seiner selbst arbeitet" 58 . Er arbeitete eine neue Erziehungs- und Studienordnung aus. Enttäuscht vom blutigen Oktober-Aufstand der 1848-Revolution trat er von seinem Amt als Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium zurück. Alle seine Reformvorschläge wurden zunächst aufgehoben. Das Scheitern seiner Reformbestrebungen stürzte Feuchtersieben in schwere Depressionen, von denen er schließlich im Tod Erlösung fand. 39 Was andere zeitgenössische Denker, wie Grillparzer und Stifter, mit Feuchtersieben und Bolzano verband, war die Uberzeugung, daß der Fortschritt nicht um jeden Preis durchzusetzen sei. So verzichtete Bolzano im Revolutionsjahr 1848 ganz bewußt auf die Publikation seiner Sozialutopie, weil er die Folgen fürchtete. Es ist verständlich, daß Bolzanos Gedankengut auch nach seinem Tod Verbreitung fand. Vor allem lebte Bolzano in seinen Schülern als Erzieher und Reformator weiter. Viele seiner Schüler leisteten einen wesentlichen Beitrag zur österreichischen Schulreform von 1849-1853 und 1867-186940. Vor allem Franz Exner ist zu nennen, der seit 1831 an der Universität Prag als Profes37 Eduard Winter: Bernard Bolzano und die nationale Frage. In: Bolzanos Kampf egen Nationalismus und Rassismus. Hrsg. v. Edgar Morscher und Otto Neumaier. Sankt Augustin 1996, S. 81-93, Vgl. S. 90 38 Ernst Freiherr von Feuchtersieben: Zur Diätetik der Seele und andere Schriften. Hrsg. v. Renate Riemeck. Stuttgart 1980, S. 46. 39 Karl Pisa: Ernst Freiherr von Feuchtersieben. Pionier der Psychosomatik. Wien 1998, S. 176f. 40 Winter, Ein Denker und Erzieher, S. 27f.

Bernard Bolzanos Revolutionäres' Vermächtnis

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sor für Philosophie tätig war. Bolzanos Schüler und Gönner, Unterrichtsminister Graf Leo Thun, verhalf den Schülern Bolzanos zu einflußreichen Positionen im Unterrichtswesen; ganz im Sinne des „Christenbundes". Der Pädagoge Anton Krombholz bemühte sich um gute Bildungsmöglichkeiten für alle Schichten des Volkes. Ebenso nahm Franz Schneider seine Aufgabe als Erzieher sehr ernst. Von ihm stammt eine Reihe pädagogischer, vom Gedankengut Bolzanos geprägter Schriften. Als Student besuchte der junge Sigmund Freud die Vorlesungen der Bolzano-Schüler Franz Exner und Franz Schneider 41 . Inwieweit das Gedankengut Bolzanos auf Freud Einfluß genommen hat, ist bislang noch nicht erforscht worden. Dagegen sind die Beziehungen zwischen den Grundpositionen Johann Friedrich Herbarts zur späteren Psychoanalyse Freuds bereits nachgewiesen worden. Aber auch in der tschechischen Literatur lebte Bolzanos geistiges Erbe weiter, z.B. in dem vierteiligen Roman Unás von Josef Jirasek. Hinter der Zentralfigur des Priesters Havlovsky verbirgt sich die Gestalt von Josef Regner, einem Bolzano-Schüler. Natürlich wird in diesem Roman nicht nur die nationale Frage angesprochen, sondern auch die soziale. Regner hatte sich eingehend mit der Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung beschäftigt. Auch der Priester Havlovsky führt einen Kampf gegen Armut, Intoleranz und Unwissen. Abschließend kann festgestellt werden, daß die Wirkung des Bernard Bolzano viel revolutionärer war als seine wirklichen persönlichen Absichten. Seine wirklich praktischen Schüler wie Exner und Krombholz waren keine Revolutionäre, sondern subtile und intelligente Reformer. Bolzano hatte sich zu Lebzeiten stark darum bemüht, daß seine sozialen und politischen Ideen durch Bildung von aufgeschlossenen Personen unter das Volk gebracht und verwirklicht wurden. Nicht der Aufbau von vielen Organisationen war dazu notwendig, sondern die Schaffung E I N E R Bewegung, die von einer Gruppe Gleichgesinnter getragen, immer weitere Kreise zu bilden vermag. In den Erbauungsreden warb er um die Jünger, die später als „Apostel" ins Land hinausgehen sollten. Es erscheint deshalb nicht verwunderlich, daß seine wirklichen „Apostel-Schüler" später als Pädagogen und Publizisten ihre Reformen erfolgreich durchführen konnten. 41 Wilhelm W. Hemecker: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München 1991, S. 135f.

Wulf Wülfing

„Phantasie" und „Wirklichkeit" : Zu Franz Grillparzers Reisenotizen Innerhalb von Metternichs Vormärz-System war der Blick auf eine alternative Welt allenfalls als Blick ins Reich der Phantasie, des Traumes, der Narren oder der Irren literarisch präsentierbar. Um so mehr lockte die Welt außerhalb des Systems. Und genau an dieser Stelle kommt die Reiseliteratur ins Spiel. 1 Die Reiseliteratur ist im Vormärz deswegen eines der beliebtesten Genres, weil sie - aus vielerlei Gründen - das privilegierte Medium ist, wenigstens mental Bewegung ins Reich der Immobilität zu bringen. Wer im Vormärz die Grenzen des Deutschen Bundes überschreitet, begibt sich also in eine Revolutionäre' Situation in nuce: Er verläßt die bekannten, durch die Obrigkeit abgezirkelten Wege des Binnenraums und steht nun vor der Wahl, sich dem Draußen, also dem Neuen, zu öffnen oder nicht. Die Reisesituation mit einer Revolutionären' Situation zu vergleichen, mag arg hyperbolisch erscheinen und ist deswegen einer Begründung bedürftig. An dieser Stelle muß ein einziges Beispiel genügen: Ida Gräfin Hahn-Hahn berichtet 1842 von einer Reise nach Spanien und Frankreich, die sie - wohlgemerkt - in einer Kutsche unternimmt, die ihr selbst gehört: Ihr ,home' ist also ein ,castle' auf Rädern. In den Pyrenäen ärgern sie die Bettler, die diese ihre Kutsche bedrängen, sehr: Die Mehrzahl dieser Raubvögel besteht aus Frauenzimmern, und haben die einmal den Entschluß gefaßt, sich nicht abweisen zu lassen, so könnte man ein KARTÄTSCHENFEUER auf sie richten, es würde nichts helfen. Frauenzimmer in Geschäften und Gewerben verfallen für mich ins Geschlecht der Monstra. 2

Als sechs Jahre später in Berlin die Revolution ausbricht, ist Hahn-Hahn darüber, daß der Protestant Friedrich Wilhelm IV. die K A R T Ä T S C H E N nicht einsetzt, so erschüttert, daß sie zum Katholizismus konvertiert.3 1 Vgl. dazu grundsätzlicher den Beitrag von Harald Schmidt in diesem Band. 2 Ida Gräfin Hahn-Hahn: Erinnerungen aus und an Frankreich, 2 Bde. Berlin: Alexander Duncker 1842, Bd. 1, S. 115 (Hervorhebungen durch Kapitälchen hier wie im folgenden von mir; W.W.). 3

Vgl. Richard M. Meyer: Hahn-Hahn. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 49. Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 711-718, hier: S. 717.

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Reisen und Inspektionen

Reisen - besonders im Vormärz - bedeutet generell : sich Unbequemlichkeiten edler Art auszusetzen. Und das gilt nicht nur für die Gräfin, sondern besonders für Franz Grillparzer. Ihm war - wie er gelegentlich schreibt „immer das Reisen zuwider". 4 Und trotzdem verschrieb er sich Reisen wiederholt als Therapeutikum, als „vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände". 5 Wenn er 1819 nach Italien reist - übrigens in Prugg die Reiseroute ändernd, indem er nicht den Weg über Klagenfurt nimmt - , schreibt er z.B.: „Die Marter der ersten, oh Ausruhen und Schlaf durchreisten Nacht bedeckt edles übrige." 6 Derlei Klagen über das - ja doch mit Fleiß gesuchte - besondere Erlebnis von KÖRPERLICHKEIT 7 ist aus fast jedem Reisebericht im Vormärz bekannt. Und so ist die Frage erlaubt, ob nicht der Reisebericht jener Jahrzehnte auch eine psychopathologische, vielleicht sogar eine psychotherapeutische Seite haben kann: Man darf mit Fug und Recht über die Reisestrapazen stöhnen, ohne gleich als Hypochonder zu gelten.

Ι.

ITALIEN:

F U R C H T VOR D E R -

UNVOLLKOMMENEN

-

„WIRKLICHKEIT"

„Seit 6 Stunden nichts gegessen und 2 Nächte gefahren statt zu schlafen". 8 Sind diese Strapazen endlich überstanden, beginnen Schwierigkeiten ganz anderer, fundamentalerer Art. Zunächst scheinen sich die Entbehrungen 1819 für Grillparzer allerdings gelohnt zu haben. Vor Triest ist es ihm, als hätte ihn „ein Z A U B E R E R während der Nacht in ein weitentferntes Land versetzt" 9 ; die 4

Franz Grillparzer: Selbstbiographie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Histor.-krit. Gesamtausg. Im Auftrage der Bundeshauptstadt Wien hrsg. v. August Sauer, 16. Bd.: Prosaschriften IV. Wien: Anton Schroll & Co. 1925, S. 61-231, Zit. S. 229. 5 Ebd., S. 181. 6 Franz Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien. 24. März - Ende Juli 1819. In: Grillparzers Werke. Im Auftrage der Reichs- und Residenzstadt Wien hrsg. v. August Sauer, 2. Abt., 7. Bd.: Tagebücher und literarische Skizzenhefte I: 1808-1821. Wien, Leipzig: Gerlach & Wiedling 1914, S. 147-227, Zit. S. 149. 7 Bei der Überfahrt von Triest nach Venedig in einer vom „Theergestank zum ersticken" erfüllten Kajüte will das - genußvolle - Erlebnis des Aufgangs der „majestätischen Sonne hinter den Bergen von Istrien" nicht glücken : Grillparzer sieht zwar, „aber beinahe ohne Seelenerhebung, so sehr wird das Innere durch den Körper bestimmt" (ebd., S. 157). 8 Ebd., S. 151. 9 Ebd., S. 152.

„Phantasie" und „Wirklichkeit" : Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

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bei den Vormärz-Reisenden übliche MÄRCHENmetaphorik10 stellt sich also auch bei Grillparzer ein. 11 Auch heißt es dann: „Ein Hügel! - Hinauf! - Ah! und da lag es vor uns weit und blau und hell, und es war das Meer." 1 2 ,Thalatta, thallata!' - Xenophon läßt, noch vor Heines Meergruß 5, aus Grillparzers Zeilen grüßen. Danach freilich beginnen die Schwierigkeiten des senti mentalischen Menschen gegenüber der Natur 14 , der sich „auf den wirklichen Anblick fast mehr gefürchtet als gefreut" hat15: „Früher schon hatte ich mich aus Erzählungen überzeugt, daß der Anblick des Meeres mich bei weitem nicht mit dem Gefühl der Erhabenheit erfüllen würde, das es in der Phantasie in mir hervorbrachte". 16 Das Dilemma ist offensichtlich: Vom Reisen erhofft sich Grillparzer ein „Heilmittel fur verworrene Zustände" oder - verfremdungstheoretisch gesprochen - ein ,neues Sehen', das den Wahrnehmungsautomatismus der Alltäglichkeit durch ABWEICHUNG, durch neue SENSATIONS, entautomatisiert 17 ; und nun, am mühselig erreichten Ziel ange-

10 Vgl. Wulf Wülfing: Medien der Moderne: Londons Straßen in den Reiseberichten von Johanna Schopenhauer bis Theodor Fontane. In: Reisen im Diskurs: Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne. Tagungsakten des internationalen Symposions zur Reiseliteratur University College Dublin v. 10.-12.5.1994. Hrsg. v. Anne Fuchs, Theo Harden. Heidelberg: C. Winter 1995, S. 470-492, hier: S. 473, 485. 11 Wenig später heißt es anläßlich eines Sonnenuntergangs, den Grillparzer auf dem Meer erlebt: „ich dachte mir im FEENLANDE ZU seyn" (Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien [Anm. 6], S. 155). Die Klimax der Seh-Erlebnisse scheint dann bei Rovigo erreicht, wo sich nach durchfahrener Nacht - nach d e m Winter des Nordens - eine grüne Welt auftut: „Ich schaute um mich her und schaute wieder, aber es war kein Traum. Schien es doch, als ob die Welt der MÄRCHEN wieder gekehrt wäre und irgend ein wohlthätiger ZAUBERER uns in der Nacht in einen andern Welttheil geführt hätte [...]; mit einem Worte: wir waren in Italien angelangt" (ebd., S. 162f.). 12 Ebd., S. 152. 13 Vgl. Heinrich Heine: Meergruß. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Ausgabe [DHA]). Hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 1/1: Buch der Lieder. Text bearb. v. Pierre Grappin. Hamburg: Hoffmann u. C a m p e 1975, S. 594-599. 14 Wenig später heißt es : „ich gieng heim mich zu erhohlen von den Entzückungen die mir die Natur, und von d e m Verdruß, den mir die Menschen (oder vielmehr die Polizei) bereitet hatten" (Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien [Anm. 6], S. 155). Damit wird der Gegensatz Natur - Mensch explizit formuliert, wobei Repräsentant des Menschen - für die Metternich-Ära bezeichnenderweise - die Polizei ist. 15 Ebd., S. 153. 16 Ebd., S. 152. 17 Vgl. Viktor Sklovskij : Die Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allge-

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Reisen und Inspektionen

kommen, droht sich zwischen die - neue - „Wirklichkeit" und den Betrachter der - alte - Blick zu stellen : „Das Bild vom Meere in meiner PHANTASIE war allerdings mächtiger, gewaltiger gewesen als die WIRKLICHKEIT".18 Damit ist eine fatale Dialektik beschrieben: Auf der einen Seite führt - wie oben angedeutet - innerhalb des Metternich-Systems der Weg zu einer - alternativen Wirklichkeit nur über das Medium Phantasie; auf der anderen Seite schafft diese Phantasie eine - neue - Wirklichkeit, und dies womöglich im Modus der Überbietung, dem die ,wirkliche' Wirklichkeit nicht gewachsen ist. *

Verläßt man für einen Augenblick den Bereich der Reisenotizen, und dies mit der Frage, ob der mit ihrer Hilfe zu gewinnende Befund Parallelen in anderen Lebensfeldern Grillparzers hat, kann man auf Sätze stoßen, die durch ihre - parallele - Wortwahl verblüffen. So heißt es in einem „vermutlich [...] fiktiven Brief an Georg Altmütter"®: „Ich glaube bemerkt zu haben, daß ich selbst in der Geliebten nur das Bild liebe, das sich meine PHANTASIE von ihr gemacht hat, so daß mir das WIRKLICHE zu einem Kunstgebilde wird, das mich durch seine UBEREINSTIMMUNG mit meinen Gedanken entzückt, bei der kleinsten ABWEICHUNG aber nur um so heftiger zurückstößt". 20 Nun könnte man geneigt sein, Grillparzer zu bedauern, weil er immer wieder - auf Reisen wie auch sonst - auf dieselben Strukturen oder Konstellationen stößt, deren Erleben auf Enttäuschung hinausläuft. Grillparzer zwingt den Leser jedoch förmlich, in eine ganz andere Richtung zu denken: Der Leser muß den Eindruck gewinnen, derlei Konstellationen seien nicht etwa Zufall, sondern das Ergebnis eines sorgfaltigen Arrangements: Grillparzer schreibt z.B., er fühle sich „zu solchen [Frauen] am meisten, oder vielmehr ausschließlich hingezogen ... die eigentlich am wenigsten für mich passen : zu denen nämlich von entschiedenen Charakterzügen, die meinem Hang zu psychologischer Forschung [...] die meiste Nahrung geben; auf der anderen Seite aber durch ihr Sprödes und Abgeschlossenes im WIRKLICHEN jedes ZUSAMMENSCHMELZEN nur noch unmöglicher machen". 21 meinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. u. eingel. v. Jurij Striedter. München: Fink 1971 ( U T B 40), S. 5-55. 18 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien (Anm. 6), S. 155. 19 Gerhard Scheit: Franz Grillparzer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek: Rowohlt 1989 (rowohlts monographien 596), S. 57. 20 Zit. ebd., S. 58. 21 Zit. ebd., S. 58f.

.Phantasie" und „Wirklichkeit" : Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

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Wenn für Grillparzer die „Wirklichkeit" nur von Interesse ist, sofern sie sich zum „Kunstgebilde" transformieren läßt, fragt sich, was für Grillparzer ,Kunst' ist. In seiner ästhetischen Schrift Uber den gegenwärtigen Zustand der dramatischen Kunst in Deutschland stößt man in diesem Zusammenhang auf eine Kategorie, die auch in Grillparzers Reisenotizen einzutreffen ist: „Es ist die Aufgabe der Philosophie die Natur zur EINHEIT des Geistes zu bringen; das Streben der Kunst, in ihr eine EINHEIT für das Gemüt herzustellen". 22 E I N H E I T , ZUSAMMENSCHMELZEN - verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe Ideal; und damit dieses Ideal für ihn selbst nicht Lebenswirklichkeit wird, scheut Grillparzer - glaubt man seinen eigenen Worten - keine Mühen. Warum? Vielleicht ist Grillparzers Scheu zurückzuführen auf das Bestreben, dieses Ideal ,rein' zu erhalten dadurch, daß es der Gegenwart entzogen und in die Vergangenheit projiziert wird, in die es - z.B. als ins Politische gewendete Utopie - von aller ,Wirklichkeit' ungetrübt,weiterleben' kann; etwa in Form jenes „habsburgischen Mythos" 23 , dessen Herold Grillparzer dann ab Juni 1848 auch in seinen Tagesgedichten wird. *

Auf seiner Italienreise im Jahre 1819 scheint Grillparzer allerdings doch noch Glück gehabt zu haben: Gleichsam im letzten Augenblick scheint trotz aller Widrigkeiten doch noch die ,wirkliche' „Wirklichkeit" gesiegt zu haben, und zwar - bezeichnenderweise - durch ihre ästhetische Dimension: „ich hatte mir das Meer nämlich nicht so S C H Ö N gedacht, nicht so UNBESCHREIBLICH schön". 24 Und so stellt sich, als „Gewinn fur einen Dichter" 25 , doch noch jener UNSAGBARKEITSTOPOS ein 26 , der in den Reisebeschreibun22 Franz Grillparzer: Über den gegenwärtigen Zustand der dramatischen Kunst in Deutschland . In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 4), 14. Bd. 1925, S. 8 1 - 8 5 , Zit. S. 85. 25 Claudio Magris: D e r habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. 24 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien (Anm. 6), S. 155 (Hervorhebungen Grillparzers sind hier und im folgenden gesperrt wiedergegeben; W.W.). 25 Ebd. 26 Mit Hilfe des Unsagbarkeitstopos werden BEIDE Extreme narrativ inszeniert, das Erlebnis des Hohen („Erhabenheit", ebd., S. 152) wie des Niedrigen: „Wie unerträglich die Nacht in unserer Kajüte war, läßt sich mit Worten nicht beschreiben" (ebd., S. 157).

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Reisen und Inspektionen

gen des Vormärz vielerorts anzutreffen ist und der sich bei Grillparzer ausdrücklich auf die Wahrnehmungssensation bezieht: Das Meer ist „so weich ANZUSCHAUEN, daß die Sprache KEIN W O R T hat es zu bezeichnen [ . . . ] - S o hatte ich mir's nie gedacht, und darum überaschte und feßelte es mich im höchsten Grade". 27 Aus - wie oben geschehen - verfremdungstheoretischer Perspektive heraus zu argumentieren, ist hinsichtlich Grillparzers kein willkürliches Vorgehen, sondern seinem Blick gemäß: „alles ist ansprechend und NEU" - so notiert er in Triest.28 Und gleich der nächste Satz lautet: E i n e n b e s o n d e r s F R E M D E N A n b l i c k g e w ä h r t es, m i t t e n a u f d e n Plätzen d e r S t a d t b e d e u t e n d e M e e r s c h i f f e in d e n K a n ä l e n l i e g e n zu s e h e n , d e r e n M a s t e n d i e u m stehenden Häuser weit überragen. [ . . . ] W i e F R E M D k a m m i r alles vor. 2 9

Auch dies ein Faszinosum, auf das mim in den Reiseberichten des Vormärz immer wieder stößt: das Erlebnis der GLEICHZEITIGKEIT von Heterogenem, dessen Klimax die COINCIDENTIA OPPOSITORUM sein kann.30 Der Eindruck, als sei das Erlebnis ,Wirklichkeit' für Grillparzer in Italien letztlich doch noch geglückt, konnte im Vorhergehenden allerdings nur dadurch erweckt werden, daß - anderslautende Passagen einfach ausklammernd - in Grillparzers Notizen eine ,glückliche' Linie hineingelegt wurde. Um diese ,glückliche' Linie präsentieren zu können, mußte für einen Moment von der Komplexität jener Wahrnehmungsprobleme abgesehen werden, die Grillparzer peinigen. Diese Wahrnehmungsprobleme rühren nämlich nicht nur daher, daß das - neue - Wirklichkeitsbild, das er sieht, es schwer hat, sich gegen das - alte - Phantasiebild, das er mitbringt, durchzusetzen. Die Wahrnehmungsprobleme werden vielmehr dadurch verschärft, daß sich - ,vor Ort'! - vor das die - neue - Wirklichkeit erblickende Auge gleichsam die Linse eines - neuen - Phantasiebildes schiebt, das er nicht mitbringt, sondern das sich erst - ,vor Ort' ! - in seinem Kopfe konstituiert. 27 Ebd., S. 153. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 153f. 30 Vgl. Wulf Wülfing: GLEICHZEITIGKEIT als „Unendlichkeit". Zur Darstellung von Raum- und Zeiterfahrungen in Texten des Vormärz. In: Vormärz und Klassik. Hrsg. v. Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke, Michael Vogt. Bielefeld: Aisthesis 1999 (Vormärz-Studien, Bd. 1), S. 199-219, bes. S. 216f.

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,Phantasie" und „Wirklichkeit": Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

Gleich nach dem Unsagbarkeitstopos, mit dem die Schönheit des Meeres eingefangen werden soll, heißt es nämlich : Einen eigentlich

GROSSEN

Anblick gewährt das M e e r bei Triest nicht. Die Uner-

meßlichkeit, welche die Vorstellung d e s M e e r e s in der Vorstellung begleitet und sie zur erhabensten macht, die die sichtbare Welt hat, verschwindet hier ganz, da auf 3 Seiten die Ufer sichtbar sind, und auf der 4 t e n schrankenlosen, das Auge aus Wolken und Dünsten sich leicht auch ein Ufer bildet. 3 1

Was der „Wirklichkeit" - angeblich - ,fehlt', wird also durch die Phantasie ,ergänzt'. So auch bei Grillparzers Ankunft in Venedig: M a n hat oft d e n ersten Anblick von Venedig als so w u n d e r b a r beschrieben, ich habe es k a u m so g e f u n d e n . E s hat zwar allerdings etwas

BEFREMDENDES

und Pallaste g e r a d e aus d e m M e e r e heraufsteigen sehen, aber die

Häuser

PHANTASIE

er-

setzt leicht das f e h l e n d e Erdreich u n d m a n glaubt eben einen breiten Fluß mit vielen Inseln vor sich zu sehen. 3 2

Kurz: Grillparzer scheint durch die klassizistische Ästhetik derart korrumpiert worden zu sein, daß ihm gegenüber die ,Wirklichkeit' - noch - keine Chance hat. Dort, wo in der Wirklichkeit, Beispiel Triest, nichts anderes als „drei Seiten" sichtbar sind, zwingt diese Ästhetik Grillparzers Blick, in diesen Seiten die „drei Seiten" eines Rechtecks zu sehen und sich - entsprechend - eine vierte Seite hinzuzudenken. Auf diese Weise entsteht dann jene ästhetische ,Ganzheit', auf die hin der Klassizismus die Wirklichkeit ,läutert'. Entsprechend wird umgekehrt die ,Wirklichkeit' in die Belanglosigkeit dort zurückgestoßen, wo es der Phantasie nicht gelingen will, jene ,Ganzheit' hineinzuretouchieren : „Auch fehlt es in solcher Nähe 33 als ich 31 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien (Anm. 6), S. 153. 32 Ebd., S. 157. 33 Das Erlebnis NÄHE steht für Grillparzer offenbar wiederholt für eine enttäuschende Erfahrung; so z.B. auch in Prag: „Von der FERNE stellt sich auch das Schloß herrlich dar, in der NÄHE [...] gefallt es mir nicht" (Franz Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Deutschland. 21. August - Anfang Oktober 1826. In: Ders.: Sämtliche Werke [Anm. 4], 2. Abt., 8. Bd.: Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Zweiter Teil. 1822 bis Mitte 1830. Wien 1916, S. 219-287, Zit. S. 225). - Ähnliches scheint für Grillparzers Verhältnis zu Frauen, z.B. Katharina Fröhlich, zu gelten: „Unsere Art zu denken scheint zu verschieden und unsere Art zu fühlen ist vielleicht zu ähnlich, als daß ein NÄHERES Verhältnis mit Glück zwischen uns

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Reisen und Inspektionen

beim Anbruch des Tages die Stadt bereits sah, dem Anblick an E I N H E I T " . 3 4 In diesem Fall ist Grillparzer also zu ,nah dran'; es fehlt ihm diejenige Distanz, die offenbar auch ihm als Bedingung der Möglichkeit ästhetischen „Wohlgefallens" 35 erscheint. *

Der bisherige Befund läßt sich ungefähr folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt bei Grillparzer neben dem Objektbereich des Erlebens einen Metabereich der Reflexion; und genau dieser Metabereich ist es, der seine Urteile über den Objektbereich steuert. Diese Steuerung steht - wie eben angedeutet - unter dem Primat des Ästhetischen; genauer: unter dem Primat einer ganz bestimmten Ästhetik: Die ,Wirklichkeit' wird zum „Kunstgebilde" transformiert; und das ,Leben' besteht dann darin, auf denjenigen Moment zu lauern, da die ,Wirklichkeit' von der dem „Kunstgebilde" zugeschriebenen ,Vollkommenheit' abweicht und damit die - mit Fleiß selbst inszenierte - Enttäuschung verbucht werden kann nach dem Motto : Quod erat demonstrandum ! Man hat formuliert, „bei Grillparzer" sei „wohl zum erstenmal die belebende Wirkung des klassischen Südens für einen deutschen bzw. europäischen Schriftsteller ausgeblieben". 36 Und man hat darauf verwiesen, daß

bestehen könnte. Laß uns daher versuchen, ob wir durch ENTFERNUNG für einige Zeit unserem Gefühl für einander jene reizbare Leidenschaftlichkeit benehmen können, die uns wechselseitig quält" (Zit. Scheit [Anm. 19], S. 59). 34 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Italien (Anm. 6), S. 157. - Auch hier folgt auf die erste Enttäuschung dann die Euphorie: „Wenn man sich aber erst ein wenig erhohlt hat und den TOTALEINDRUCK dieser schwarzen Steinmassen gesondert auf sich wirken läßt, dann wird man eben so ergriffen als man vorher verstimmt war" (ebd., S. 158). - Daß die ästhetische Kategorie der EINHEIT auch Grillparzers Bildbetrachtung lenkt, sei an lediglich einem einzigen Beispiel illustriert: „Das Paradies von Tintoret kann mir nicht recht gefallen. Es wimmelt von Figuren, die kaum ein GANZES ausmachen" (ebd., S. 161). Andererseits singen die „Schiff e r j u n g e n [ . . . ] so REIN u n d HARMONISCH, d a ß m a n s t a u n e n m u ß " (ebd., S. 156). - „EINHEIT

in seine Leistung zu bringen", ist auch das - vergebliche - Bemühen des armen Spielmanns (Grillparzer: Der arme Spielmann. Erzählung. In: Ders.: Sämtliche Werke [Anm. 4] fortgeführt v. Reinhold Backmann, 1. Abt., 13. Bd. Wien 1930, S. 35-81, Zit. S. 41). 35 Franz Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England. 30. März - 28. Juni 1836. In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm. 4), 2. Abt., 10. Bd.: Tagebücher und literarische Skizzenhefte. Vierter Teil: 30. März 1836 bis Anfang 1842. Wien: Anton Schroll & Co., o.J., S. 1-135, Zit. S. 3. 36 Scheit (Anm. 19), S. 50.

.Phantasie" und „Wirklichkeit": Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

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dann auch bei dem Italien-Reisenden Heine „solche disharmonischen Gefühle im Angesicht des Klassischen" sichtbar würden. Nur habe Grillparzer - im Gegensatz zu Heine - „die Ironie und ihr weltanschaulicher Bezugspunkt" gefehlt. 37 Heine ist gewiß einer der ersten deutschen Modernen. Es gibt allerdings gute Gründe für die Behauptung, Grillparzers Reisenotizen seien nicht weniger modern: Da sie nicht für die Veröffentlichung gedacht sind, stehen sie nicht unter dem Druck,,Ganzheit' - obwohl nicht vorhanden - präsentieren zu müssen. Und dadurch - daß sie also das Disparate (das im Modus der G L E I C H Z E I T I G K E I T narrativ zu inszenieren Heines Bestreben ist) nebeneinander stehenlassen können - ist der dokumentarische Wert von Grillparzers Tagebuchnotizen zunächst einmal kostbar: Sie zeigen von Passage zu Passage, daß sich hier jemand außerstande sieht oder zumindest Schwierigkeiten hat, die ,Wirklichkeit' bruchlos auf die klassizistische Reihe zu bringen.

2.

PARIS: „ D I E NICHT

S T R A S S E N [ . . . ] K Ö N N E N SIE MIR DOCH

WEGNEHMEN"

Gleich zu Beginn seiner Reise nach Frankreich und England notiert Grillparzer 1856 das für ihn Übliche: Mit völligerer Gleichgiltigkeit hat wohl noch Niemand eine Reise angetreten und während der schlaflosen Nacht fand ich es höchst lächerlich sich so vielen Beschwerlichkeiten auszusetzen, ohne daß der Zweck nur irgend einen Genuß verspreche. Ja es gibt Augenblicke wo mich der Gedanke anwidert in einer fernen Stadt unter fremdreden Menschen mich herumzutreiben, ich, der ich mich überhaupt nicht gerne herumtreibe. Aber ,alea jacta est'. Es gilt eine homöopathische Kur. Wem die gewöhnlichen Widerwärtigkeiten zu schwer fallen, der kann nur durch ungewöhnliche kurirt werden. 3 8 37 Ebd. 38 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (Anm. 35), S. 3; vgl. Hubert Lengauer: „Von eurer Freiheit habt ihr nichts behalten, Als das ungewaschne Maul". Grillparzer und England. In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive I: Öffentlichkeit und nationale Identität. Hrsg. v. Helmut Koopmann, Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 123-145, hier: S. 136. - In der Tat droht die Reise zu mißlingen, z.B. am 16. April: „Meine Hypochondrie kommt wieder. Fürchte diese Reise umsonst gemacht zu haben" (ebd., S. 19).

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Reisen und Inspektionen

Und später heißt es: „Ich w e r d e nach Wien zurückkommen, wie ich es verlassen, der Zweck der Reise läge im Gegentheile." 3 9 In Grillparzers Parisnotizen häufen sich solche B e m e r k u n g e n : Wäre froh, Paris wieder im Rücken zu haben. Was brauch' ich all das Zeug zu sehen und zu hören. Werde Wien wieder angenehm finden, wo ich wenigstens allein seyn kann. Wenn nur dort der schändliche Geistesdruck nicht wäre und die Erniedrigung der Nebenmenschen. 40 U n d unter d e m 50. April heißt es: Heut gerade ein Monat, daß ich diese wunderliche Reise antrat. Ich nenne sie wunderlich, denn, was war ihr Zweck? Zu sehen? Ich sehe. Zerstreuung? Zerstreut wäre ich wohl genug. Wenn ihr Zweck aber Sammlung, Faßung, Ermutigung gewesen wäre, so bin ich davon so weit entfernt als da ich vom Hause abgieng.41 D i e s e s U n b e h a g e n wird bei Grillparzer in Paris dadurch noch gesteigert, daß ihn eine - geradezu mechanisch anmutende - Phasenverschiebung ereilt, die ihn daran hindert, die jeweilige Gegenwart mit ihren Möglichkeiten zu nutzen; denn jedesmal stellt sich heraus, daß er das Pensum der unmittelbar vorausgegangenen Vergangenheit noch nicht erledigt hat: Wir [Grillparzer und sein fürs Englische zuständiger Mentor Brant] lasen an zwei Stunden englisch. Mir gehts hier wie einst in den Schulen. Während des philosophischen Kurses höhlte ich die alten Sprachen nach, die ich im Gymnasium hätte lernen sollen, in den juridischen Hörsälen, die Philosophie; so daß ich die Rechte eigentlich nie lernte. Eben so treibe ich in Paris englisch, das ich zu Hause hätte betreiben sollen, und mein französisch vergesse ich da, wo ich mich darin hätte völlig ausbilden können. Es gibt eben absurde Menschen! 42

39 Ebd., S. 21. 40 Ebd., S. 39. 41 Ebd., S. 51. - Wenig später: „Ich bin beinahe froh bald wieder von Paris w e g zu k o m m e n " (ebd., S. 52). U n d : „Wäre m e i n e Heimath nicht gar so entwürdigt, ich würde mich dahin zurücksehnen" (ebd., S. 61). Schließlich: „Paris fangt mir an zur Last zu werden, und der G e d a n k e an m e i n e Heimat ist m i r unerträglich. Untergehen; versteht sich von Gottes Hand, aber nicht durch eine widerliche Krankheit in der F r e m d e " (ebd., S. 71). 42 Ebd., S. 62. Vgl. L e n g a u e r (Anm. 38), S. 137. - „ D a s eigentliche Unglück ist, daß ich das Fehlerhafte, das Absurde meiner Stimmungen und Eigenthümlichkeiten völlig einsehe und mir alle M ü h e g e b e " (ebd., S. 31).

P h a n t a s i e " und „Wirklichkeit": Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

103

Die Tatsache, daß Grillparzer in diesem Zusammenhang den Ausdruck ABSURD verwendet, ist zur Unterstützung der bisherigen Argumentation sehr willkommen: Wie nämlich das lateinische Äquivalent INEPTUS 45 zeigt, ist ABSURD das Antonym zur klassizistisch-rhetorischen Tugend des APTUM, des ANGEMESSENEN, nach der man alles IN RECHTEM MASSE und vor allem ZUR 44 RICHTIGEN ZEIT zu tun hat; nach Möglichkeit den Kairos nutzend. Während der Revolutionär i m m e r zumindest einen Schritt voraus ist, ist Grillparzer immer zumindest einen Schritt zurück und u.a. genau deswegen - wenigstens ,νοη Natur aus' - kein Motor für jene Bewegung, die dem Reich der Immobilität auf die Sprünge helfen könnte. Grillparzer, der so sehr auf die ,glücklichen' Werte der Vergangenheit Fixierte, verschließt sich allerdings nicht dem, was ihm vom Elend der französischen Gegenwart berichtet wird. So werden ihm z.B. „merkwürdige Details über die arbeitende Klasse" erzählt, die - wie es heißt - „eine angestrengtere Existenz" führe „als selbst die Negersklaven". 45 Oder: Gewohnheit unter allen Ständen, ihre kleinen Kinder aufs Land zu geben. Nicht aus Herzlosigkeit, denn die Mütter seyen selbst in Verzweiflung darüber, sondern aus Unmöglichkeit sie zu behalten. Die Mütter nämlich haben sämtlich ihren angewiesenen Platz im Geschäft. Ungeheurer Lohn der Ammen. 4 6

Doch derlei Berichte verstärken nur Grillparzers Unbehagen und bestätigen ihm den Eindruck, die ,Wirklichkeit' sei ihm verschlossen: „Fühle mich unglücklich, von solchen Dingen nichts zu verstehen, ja selbst die Erklärungen darüber nicht zu begreifen". 47 Ein solcher Satz, niedergeschrieben 1836 als Reaktion auf Berichte über soziales Elend, scheint einen Blick voraus auf das Jahr 1848 nahezulegen und damit die Vermutung, daß Grillparzer es schwer haben wird, wichtige Ursachen für die Revolution zu erfassen. 43 Vgl. R. Fabian: Art. ABSURD. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitw. von m e h r als 1200 Fachgelehrten [...] hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Bd. 1. Basel: Schwabe & Co. bzw. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1971, Sp. 66f. Zit.: Sp. 66. 44 Vgl. M . Kerkhoff, E. Amelung: Art. KAIROS, ebd., Bd. 4, 1976, Sp. 667-669; J. L. Kinneavy, C. R. Eskin / L. G.: Art. KAIROS. In: Historisches Wörterbuch d e r Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Mitbegr. v. Walter Jens. [...] Unter Mitw. v. m e h r als 300 Fachgelehrten, Bd. 4. Tübingen: Niemeyer bzw. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1998, Sp. 836-844. 45 Grillparzer: Tagebuch auf d e r Reise nach Frankreich u n d England (Anm. 35), S. 39. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 40.

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Reisen und Inspektionen

Sind also die Klagen über die Parisreise mindestens so stark wie die über die Italienreise, so überraschen die Pariser Notizen durch eine entscheidende Abweichung vom Sehverhalten im Süden, das ja auf den „Totaleindruck" aus war. 48 Diesen sucht Grillparzer auch in Paris, findet ihn sogar, aber offenbar nur, um ihn als deplaciert abzuwählen. So notiert er unter dem 16. April 1836 über den Blick vom Pantheon in Paris : „Ungeheure Aussicht, doch sollte man eigentlich gar nie die Gränzen eines großen Gegenstandes zu sehen begehren, Paris ist größer, wenn man seine endlosen GASSEN DURCHWANDERT, als wenn man die Massen Stein und Kalk vom Pantheon aus überschaut." 49 Das ist eine innerhalb der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts seltene Stelle: Auf der einen Seite gelingt Grillparzer, was alle Reisenden damals suchen, aber zunehmend nicht mehr erobern können: der panoramatische Blick, der die „Gränzen" erkennt und damit auch den größten Gegenstand als ,Einheit' wahrnehmbar macht. 50 Auf der anderen Seite aber hat Grillparzer den Eindruck, er bringe sich durch diesen panoramatischen Blick gerade um jenen Erfahrungsmodus, der seit Jahrzehnten als der den Metropolis-Reisenden angemessenste erscheint: um den durch Einsatz der eigenen Körperlichkeit 51 erreichten Spaziergang durch die „endlosen Gassen". Wie wichtig ihm - wie anderen Vormärz-Reisenden - diese „Gassen" der Metropolis sind, macht Grillparzer wenig später deutlich, als er bei einem Besuch im Hause des österreichischen Gesandten „einige Aufhorchereien" registriert, „ob man mit Börne und Heine schon gesprochen". Grillparzer hat ein ungutes Gefühl und formuliert in diesem Zusammenhang explizit, was einzig ihm Paris interessant macht: „Mir ist als witterte ich etwas Uriasartiges bei meinen hiesigen Landsleuten [· · ·]· Gut, gut! Wird sich ja aufklären, oder auch nicht. Die STRASSEN von Paris können sie mir doch nicht wegnehmen und die Theater auch nicht". 52 48 Vgl. Anm. 34. 49 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (Anm. 35), S. 20. 50 Vgl. Wulf Wülfing: „Das Gefühl des Unendlichen": Zu Fontanes Versuchen, seinen deutschen Leserinnen und Lesern die fremde Semiotik der „Riesenstadt" London zu vermitteln. In: Fontane Blätter 58 (1994), S. 2 9 - 4 2 , hier: S. 33f.; ders.: Wonnen der GLEICHZEITIGKEIT: F o r m e n PANORAMATISCHEN S e h e n s . I n : W ü l f i n g : GLEICHZEITIGKEIT ( A n m . 3 0 ) ,

S. 214ff. 51 Vgl. Wülfing: Medien der Moderne (Anm. 10), S. 474ff., 483 52 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (Anm. 35), S. 27f. Vgl.

105

„Phantasie" und „Wirklichkeit" : Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

3. L O N D O N :

„WAHRLICH,

DIES L A N D

HAT

EINE

GESCHICHTE"

Die Tatsache, daß Grillparzer sich die Reise von Paris nach London „als eine Art Buße, als einen Versuch auferlegt", „mich an Menschen und äußere Thätigkeit wieder zu gewöhnen" 5 3 , wird nun kaum noch überraschen und braucht deswegen an dieser Stelle nicht weiter vertieft zu werden. Statt dessen seien zwei Metropolis-Erfahrungen Grillparzers hervorgehoben; und zwar solche, die ihn mit dem London-Reisenden Heine verbinden, der wenige Jahre vorher geschrieben hatte, man müsse „einen Philosophen nach London" schicken und „ihn an eine Ecke von Cheapside" stellen, dann werde er „den Pulsschlag der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen"; denn „jene Straße, die von der Börse nach Downingstreet führt," sei „als die Pulsader der Welt zu betrachten." 54 Auch bei Grillparzer findet sich diese - schon von seinen Paris-Notizen her bekannte - Einsicht, daß eine solche Stadt sich erstens nur durch ihre STRASSEN erschließt und daß dieses Sich-Erschließen zweitens zu Fuss zu geschehen hat. Hinzu kommt nun drittens die Überzeugung, daß dies nur gelingen kann, wenn das Abenteuer der Stadtwanderung durch eine präzise Strategie vorbereitet wird. In diesem Zusammenhang spielt der STADTPLAN bei Grillparzer schon eine Rolle; sie ähnelt derjenigen, die dann im 20. Jahrhundert Walter Benjamin am Beispiel Paris exponieren wird. 55

Lengauer (Anm. 38), S. 136. - Ein weiteres Mal sucht dann Grillparzer in Paris den panoramatischen Blick; und wird wieder enttäuscht, diesmal allerdings deswegen, weil sich kein Alteritätsgefuhl einstellen will: „Den Montmartre bestiegen und von da die Stadt betrachtet, was einen gewaltigen Anblick gibt, doch um nichts bedeutender und um vieles weniger schön als die Ansicht Wiens, allenfalls vom Kobenzl aus" (ebd., S. 36). 53 Ebd., S. 78. 54 Heinrich Heine: Englische Fragmente. 1828. In: DHA (Anm. 13), Bd. 7/1: Reisebilder III/IV. Text bearb. v. Alfred Opitz. Hamburg: Hoffmann & Campe 1986, S. 207-273, Zit. S. 213f. - Vgl. Wülfing: Medien der Moderne (Anm. 10), S. 474fT. 55 „Es gibt ein ultraviolettes und ein ultrarotes Wissen um diese Stadt, die sich beide nicht mehr in die Form des Buches zwängen lassen : Photo und STADTPLAN, - das genaueste Wissen vom Einzelnen und vom GANZEN" (Walter Benjamin: Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die „Hauptstadt der Welt". In: Ders.: Denkbilder. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV/1. Hrsg. v. Tilmann Rexroth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 356-359, Zit. S. 357).

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Reisen und Inspektionen

Hier der Sachverhalt: Es geht darum, einen Bankier aufzusuchen, der „ungefähr 4 Meilen (englisch)" entfernt von Grillparzers Domizil wohnt: Ich beschloß dennoch zu F U S S E ZU gehen, weil man nur so eine große Stadt bald und genau kennen lernt. Es ward daher der P L A N genommen und die Lage der Strassen, zum Glücke blos große, auf ein Blatt Papier nachgezeichnet, da man doch nicht immer zur Belustigung der Vorübergehenden die große Karte zu Rathe ziehen konnte.56

So zeichnet sich Grillparzer immer wieder seinen „ungeheuern Weg" auf; gelangt auf diese Weise zur „ungeheuren Dampfmaschine", die den Tunnel unter der Themse bewerkstelligen soll; bestaunt das „Riesenwerk, von Gaslampen taghell beleuchtet"; und wünscht „ d e m Werke allen Fortgang": Grillparzer öffnet sich also in London in der Tat der fremden Gegenwart, ja dem Zukunftsprojekt Tunnel, wenn er auch „am Gelingen" zweifelt. 57 Das zweite, was Grillparzer mit dem Autor der Reisebilder gemeinsam hat, ist die Bewunderung für fremde Vergangenheit. Wenn Heine angesichts der Napoleon-Biographien formuliert, im deutschsprachigen Bereich gäbe es nur ein „Bagatell-Leben", dem eine „Bagatell-Literatur" entspräche 58 , so formuliert Grillparzer angesichts der „Monumente" in Westminster Abbey: Kaum ist eines dieser Denkmäler schön zu nennen, aber alle zusammen, was machen sie für einen Eindruck. Und das ist nicht tod wie die Geschichte Deutschlands, sondern lebt im gegenwärtigen Leben, in noch bestehenden Instituzionen. Wahrlich dieß Land hat eine Geschichte, wir haben nur Kuriositäten und Begebenheiten." 59 *

Trotz der permanenten Beschwerlichkeiten physischer und psychischer Art, die Grillparzer das - dennoch immer wieder selbst verordnete - Reisen ver56 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (Anm. 35), S. 87. 57 Ebd., S. 95. 58 Heinrich Heine: Die Nordsee. Dritte Abtheilung. In: DHA (Anm. 13), Bd. 6: Briefe aus Berlin. Über Polen. Reisebilder I/II (Prosa) bearb. v. Jost Hermand. Hamburg: Hoffmann & Campe 1973, S. 164. 59 Grillparzer: Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (Anm. 35), S. 93; vgl. Lengauer (Anm. 38), S. 131.

„Phantasie" und „Wirklichkeit" : Zu Franz Grillparzers Reisenotizen

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leiden, ist der Gewinn für ihn beachtlich; und fur den heutigen Leser auch: Vor allem in den westlichen Metropolen erschließen sich dem Städtewanderer, der geradezu rastlos den Straßenspuren der Alterität nachgeht, wichtige Elemente einer Moderne, die am Ende dann eine konturenreiche, farbige Folie abgeben, vor der sich die deutschsprachige und insbesondere die Wiener Provinzialität als um so trister abhebt. Das, was Richard Alewyn bereits 1935 Grillparzers „defensiven ,Quietismus"' genannt hat 60 , kommt also - um im Bilde zu bleiben - reisend auf Trab. Wenn dann freilich - wieder daheim - die dort gewohnte Ruhe um so mehr genossen wird, so bleibt doch eine Erinnerung, die potentiell den Keim für die nächste Reise und damit die nächste Fremderfahrung enthält. Denn der anfangs zitierte Satz geht weiter: „Mir war immer das Reisen zuwider, nur die Nachwirkung tat mir wohl." 61

60 Richard Alewyn: Grillparzer und die Restauration. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M.: Insel 1974, S. 281-298. Zit. S. 286. 61 Grillparzer: Selbstbiographie (Anm. 4), S. 229.

Harald Schmidt

Reise in die „Ungeniertheit". ADOLF GLASSBRENNERS

Bilder und Träume aus Wien

(1836)

Glaßbrenner und Wien: das sind Reizworte einer pikanten Konstellation. Was wäre nicht von dem witzigen Charakteristiker des Berliner unter- und kleinbürgerlichen Lebens der 30er und 40er Jahre zu erwarten, von einem zugleich - nach Heinrich Laubes Zeugnis 1 - „enragiert" Liberalen mit erheblichen Zensurproblemen, wenn er über Wien schriebe, der Metropole in den „ehernen Fängen des Doppeladlers". 2 Die Übertragung einer äußerst erfolgreichen witzigen Schreibe von Berlin auf Wien, dies im Rahmen einer eingespielten Kultur- und Großstadtantithese und - möglicherweise - die Produktion eines absatzfreudigen Skandalbuchs über Österreich - diese politisch-kommerzielle Konstellation dürfte ziemlich genau den Erwartungshorizont des rührigen Leipziger Verlegers Friedrich Volckmar bezeichnen 3 , der sich 1834 an den jungen Erfolgsautor wandte : mit dem Angebot, ihm für

1

Heinrich Laube: Erinnerungen 1810-1840. In: H. L. Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Unter Mitwirkung von Albert Hänel hrsg. v. Heinrich Hubert Houben. 40. Bd., Leipzig 1909, S. 228.

2

Charles Sealsfield: Osterreich wie es ist, oder Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents. Aus dem Englischen übersetzt und hrsg. v. Victor Klarwill. In: Charles Sealsfield (Karl Posti 1793-1864): Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl J. R. Arndt. Bd. 3, Hildesheim/ New York 1972, II. Halbband, S. 202.

3

Daß sich der Buchmarkt das Zusammenspiel von Provokation, Zensur und Absatzsteigerung gezielt zunutze zu machen versucht, beobachtet etwa zu Beginn der Vierziger Jahre ein zeitgenössischer Konfident an der Geschäftspraktik des Hamburger Heine-Verlegers Julius Campe. Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz. Hg. v. Karl Glossy. Wien 1912 [Reprint Hildesheim 1975], S. 242. Ahnliches dürfte aber auch schon - mit Abstrichen - fiir den Leipziger Komissionär Campes, nämlich Friedrich Volckmar, Mitte der Dreißiger Jahre, und zwar noch vor dem Verbot des Jungen Deutschland, gelten.Volckmar taucht wiederholt in den Geheimberichten der 40ger Jahre auf, er vertreibt u.a. den aufsehenerregenden Bericht Wilhelm Schulz' über den Kerkertod des Pfarrers F. L. Weidig. Weidig hatte zusammen mit Georg Büchner den „Hessischen Landboten" verfaßt. Hans Adler (Hg.): Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten, Bd. I (1840-1843), Köln 1977, S. 251.

Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume

aus

Wien

109

die Lieferung einer Wienschilderung eine längere Reise in die Donaumetropole vorzufinanzieren.4 Die zweibändigen Bilder und Träume aus Wien (1856), Resultat eines gut halbjährigen Aufenthalts Glaßbrenners in der Hauptstadt Österreichs 18355, dürften den skizzierten verlegerischen Erwartungen nur bedingt entsprochen haben, obwohl sie das durchaus einkalkulierte Gütesiegel der Zensur erwerben und einen geschäftlichen Erfolg - mit immerhin vier Auflagen noch im Jahr 1836 - einbringen. 6 An Glaßbrenners Text ist vielmehr zu zeigen, daß der Blick der oppositionellen norddeutschen Reisenden auf Österreich-Wien nicht ausschließlich durch die Doppeloptik von Unterdrückung und zeitgeistvergessenem Hedonismus gelenkt wird, sondern daß sich - partiell und prekär - in der Habsburger Metropole ein Projektionsraum öffnen ließ, in dem Hedonismus und Fortschrittsgeschichte vereint, das Heterostereotyp süddeutsch-österreichischer Gemütlichkeit und politische Emanzipation zusammengedacht werden konnten. Aufzuweisen ist im folgenden der Anschluß dieser gewagten Konjunktion an unterschiedliche Entwicklungsstufen eines binnenkulturellen Nord-Süd-Diskurses, der Versuch Glaßbrenners, im Moment des „Ungenierten" Hedonismus und Emanzipationsgeschichte engzuführen, schließlich aber auch die Selbstdurchkreuzung dieser Konstellation durch querliegende Textoperationen. Glaßbrenners Bilder und Träume erfordern allerdings vorab eine genauere gattungspoetische Einordnung.

4

Zum Angebot Volckmars und zu Glaßbrenners Aufenthalt in Wien vgl. die spärlichen Angaben bei Schmidt-Cabanis: Adolf Glaßbrenner. Eine biographisch-literhistorische Skizze. Berlin 1881, S. 14 und Robert Rodenhauser: Adolf Glaßbrenner. Ein Beitrag zur Geschichte des „Jungen Deutschland" und der Berliner Lokaldichtung. Nikolassee 1912, S. 6 f.

5

Glaßbrenner macht während seines Wiener Aufenthalts die Bekanntschaft seiner späteren Frau, der Schauspielerin und Raimund-Schülerin Adele Peroni, die mit ihm zufällig im selben Haus logiert.

6

Martin Stern: Literarisches Klischee und politische Wirklichkeit: Zum deutschen und schweizerischen Osterreich-Bild im Vormärz und Nachmärz. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Hg. v. Herbert Zeman. Graz 1980, S. 76. Zum Verbot der „Bilder und Träume aus Wien" vgl. Rodenhauser (Anm. 4), S. 7; Heinrich Hubert Houben : Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger. Bd. I, Hildesheim 1965, S. 209.

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Reisen und Inspektionen

Ι. L I T E R A R I S C H E R R E I S E B E R I C H T U N D B U N T E S TABLEAU. G L A S S B R E N N E R S S E L S P I E L ZWEIER

Bilder und Träume

STADTIM W E C H -

GENRES

Die Forschung hat Glaßbrenners zweibändige Bilder und Träume aus Wien seit Rodenhausers grundlegender Biographie wiederholt als besonders gelungene Prosadichtung gewürdigt. 7 Die mit dem einhelligen Lob einhergehende vage gattungspoetische Einordnung kündet indes von den Schwierigkeiten, vor die man sich bei dem Versuch gestellt sieht, Glaßbrenners Text einem bestimmten Genre zuzuweisen. Die Bilder und Träume sind in einer ersten Annäherung zwar als literarischer Reisebericht zu qualifizieren, der sein pragmatisches Fundament, die Bewegung und zeitliche Begrenzung der real unternommenen Reise, aufnimmt; zwei ihrer Stationen Prag und Dresden - bilden aber nur Marginalien gegenüber dem auf Wien beschränkten Gros des Textes. Er kann adäquat nur in der Durchdringung und Uberlagerung von zwei publizistiknahen Genres beschrieben werden, von literarischem Reisebericht und Stadtbeschreibung, genauer, von zwei formal konvergierenden Typen in beiden offenen, vielgestaltigen Textsorten. 8 Die Bilder und Träume folgen d e m in beiden Genres am Ende der 7

Rodenhauser (Anm. 4), S. 32; Gert Ueding: Berlin, eine Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Adolf Glaflbrenner: Leben, Werk und Zeit. In: Adolf Glaßbrenner. Welt im Guckkasten. Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. G. Ü., Bd. 1, S. 14. Dieser Wertschätzung entspricht die wiederholte Neuauflage des Textes in den - allerdings entstellenden - Auswahlausgaben des Rikola-Verlags (Berlin; Leipzig; München 1922) und Grohs ( A. G.: Bilder und Träume aus Wien. Hg. v. Otto Emmerich Groh, Wien und Berlin 1942) sowie die auszugshafte Präsenz des Textes in den Anthologien Jost Hermands (Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1966, S. 133-142, S. 256 f = Kap. 1 und Vorrede) und in Gert Uedings o.a. Werkausgabe, die den ersten Band nahezu ungekürzt wiedergibt (Ueding II, S. 288-383). Ein vollständiger Neudruck des Buchs steht nach wie vor aus. Die „Bilder und Träume aus Wien". 2 Bde., Leipzig 1836, werden im folgenden unter der Sigle BTW zitiert; die Passagen des ersten Bandes zusätzlich nach der leichter zugänglichen Werkausgabe Uedings (= Ueding I, II).

8

Zur Typologie der Reiseliteratur vgl. Stefan Neuhaus: Warum sollen keine Poeten nach London fahren? Zur Intention literarischer Reiseberichte am Beispiel von Heinrich Heines ,Englischen Fragmenten'. In: Heine-Jahrbuch 36 (1997), S. 22-39; zu Publizistiknähe und formaler Proteushaftigkeit des literarischen Reiseberichts im Vormärz vor allem Wulf Wülfing: Reiseberichte im Vormärz. Die Paradigmen Heinrich Heine und Ida Hahn-Hahn. In: D e r Reisebericht. Hrsg. v. Peter J. Brenner. Frankfurt/ M. 1989, S. 333-362, hier bes. S. 334, S. 336. Zur Gattungspoetik der Stadtbeschreibung vgl. bes. Karl Riha: Die Beschrei-

Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume aus Wien

111

Aufklärung einsetzenden Prozeß der Subjekt!vierung und Fiktionalisierung, der die Welterfahrung in beiden Textsorten zur Autopsie einer individuellen, originalen Sicht wandelt. 9 Dazu zählt die Einlagerung narrativer Schemata sowie die entsprechende Verwandlung des distanziert berichtenden und räsonierenden Autors in ein unmittelbar erlebendes Ich. Besonders für das neuere Genre der Stadtbeschreibung gilt die formale Diversifikation. Die im Straßenleben der Großstädte Paris und London erfahrene verwirrende Simultaneität disparater und flüchtiger Eindrücke verabschiedet die geschlossene Darstellung alter städtetopographischer Beschreibungschemata; ein ihre Stelle rückt die lockere, unsystematische Präsentation heterogener Objekte in vielen rasch aufgenommenen „Skizzen" und „flüchtigen Gemälden".® Nur beiläufig sei für diesen Entwicklungsprozeß auf Merciers Tableaux de Paris (1776 ff) wie auf Bertuchs Zeitschrift London und Paris (1798 ff) verwiesen." Glaßbrenners Bilder und Träume folgen also einerseits dem literarischen Reisebericht, und zwar dem Heineschen Typus der witzig-assoziativen Kombinatorik12, andererseits indizieren sie mit dem Gattungssignal „Bilder" auch das unsystematisch „bunte" Genre der Stadtbeschreibung, das sich mit seinen „Skizzen" nicht mehr den architektonischen Zelebritäten der alten Topographien, sondern dem öffentlichen und privaten Menschenleben der Stadt zuwendet. 15 Ein persönlich als Erzähler auf-

9

10 11 12 13

bung der „Großen Stadt". Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750 - ca. 1850). Bad Homburg u.a. 1970; Heinz Brüggemann: „Aber schickt keinen Poeten nach London!" Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen. Reinbek 1985 Für die Reiseliteratur vgl. Uwe Hentzschel: Die Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Vom gelehrten Bericht zur literarischen Beschreibung. In: IASL 16 (1991), S. 5185, hier bes. S. 52. Für das Genre der Stadtbeschreibung vor allem Riha (Anm. 8), S. 46 f. Dazu Riha (Anm. 8), S. 46 f; S. 59. Eine mit einleitenden Bemerkungen versehene Textauswahl der Zeitschrift bietet Brüggemann (Anm. 8), S. 207 ff. Zur Tableautradition vgl. Anm. 13. Zu dieser Klassifikation vgl. Wülfing (Anm. 8), S. 542 f. Zum gattungspoetischen Index der „Reisebilder" als Form des literarischen Reiseberichts vgl. Neuhaus (Anm. 8), S. 26. Zur auf Mercier zurückgehenden „Tableau"-Tradition der Großstadtbeschreibung vor allem Kai Kauffmann: „Es ist nur ein Wien!" Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien u.a. 1994, S. 210 ff; für die biedermeierlichen Wiener Lebensbilder ebd., S. 319 ff. Dem ethnographischen Blick der „Tableau"-Tradition auf den städtischen Menschen verpflichten sich Glaßbrenners „Bilder und Träume" gleich zu Beginn im Kapitel „Reise nach Wien". BTW I, S. 6 (= Ueding II, S. 294).

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Reisen und Inspektionen

tretendes Ich vermittelt eine Pluralität von literarischen und pragmatischen Kleinformen14, die weit über die im Titel indizierte Dualität von „Bildern" und „Träumen" hinausführt: einleitende Reflexion, ein Straßenbild des lärmenden Wien, eine Charakteristik der Wiener und Wienerinnen, ein kommentiertes Glossar einiger typischer Formeln des Stadtdialekts, Beschreibungen von Volkslustbarkeiten im Prater und der Brigittenau mit eingelagerten Genredialogen und Liedern, sogar einer Harfenistenkomödie, eine versifizierte Stände- und Typensatire („Der Graben"), allgemeine Reflexionen über Theater und Literatur in Wien, zu regelrechten kleinen Novellen verdichte amouröse Abenteuer des fiktiven Ich, ferner eine Statistik der in Wien verzehrten Nahrungsmittel, allgemeine Reflexionen über die Zensur und über Österreich, kurze Bemerkungen und Aphorismen aus dem Reisenotizbuch des Autors, schließlich eine den Text in Abständen durchziehende Sequenz von insgesamt fünf Traumallegorien. Die Aufzählung suggeriert die rapide literarische Performanz schneller Schnittsequenzen, der Glaßbrenners Text allerdings nur streckenweise folgt.15 Die eingestreuten novellistischen Passagen16 schalten zuweilen eine zielorientierte, kapitelübergreifende Spannung ein; außerdem stauen breite Einzelcharakteristiken über Wiener Literaten und Schauspieler mehrfach den Lesefluß. Der Beliebigkeit der Objektwahl hingegen wird gesteuert durch die Präsenz erwartbarer Wien-Sujets und Wiener Lokalitäten, außerdem aber leistet eine durchgehende Auseinandersetzung des Erzählers mit den Hetero- und Autostereotypen des binnenkulturellen Nord-Süd-Diskurses eine thematische Synthese der Textvarianz.

14 Aufgenommen ist damit auch das Potpourri der Kleinformen in Glaßbrenners Groschenheften über Berlin („Berlin wie es ist - und trinkt", Berlin 1852 ff). In seiner späteren poetologischen Standortbestimmung, der „Dedication an Apollo" (zuerst als Vorrede der „Schilderungen aus dem Berliner Volksleben", Berlin 1841, S. 1-16, hier S. 12 f) wird Glaßbrenner diese Pluralität der Kleinformen mit der bunten Wechselhaftigkeit des Volkslebens legitimieren und gegen die „Formen der ästhetischen Konvention" ausspielen. 15 Angedeutet ist damit die Konvergenz von großstädtischer Wahrnehmungsirritation und interruption - sie exponiert Glaßbrenner bes. im Kapitel „Das lärmende Wien", BTW I, S. 17 ff ( = Ueding II, S. 299 ff) - und formaler Diversifikation des Genres. 16 Vgl. die Liebesabenteuer des Verf. in „Der Gang durch St. Stephan" (BTW I, S. 228 ff; = Ueding II, S. 378 ff) und „Der Kahlenberg" (BTW II, 1-19) sowie in „Baden" (BTW II, S. 67-89); außerdem die triviale Liebes- und Duellgeschichte in den Kapiteln „Brigittenau" (BTW II, ab S. 33) und „Todt" (BTW II, S. 47-57).

Adolf Glaßbrenners Bilder und Träume aus Wien

113

2 . D E R N O R D - S Ü D - D I S K U R S UND D I E O P T I K DER NORDDEUTSCHEN

ZEITGEISTREISENDEN

„Deutsches China" und „Schlaraffenland" - diese Dualität einer Unterdrückungs- und einer fragwürdigen Beglückungsphantasie kennzeichnet das Österreich-Klischee der Deutschen im Vormärz über die Parteien hinweg und prägt nachhaltig die Erwartungsstruktur der Reisenden, wie sich etwa an Willibald Alexis oder Heinrich Laube zeigen ließe.' 7 Den Beitrag der österreichischen Exilliteraten - etwa Charles Sealsfìelds alias Karl Postls zur Formierung dieser Doppeloptik hat man verschiedentlich unterstrichen. 18 Erinnern muß man dabei aber auch an eine aus „norddeutscher" Sicht hausgemachte Diskurstradition, an die Rede von dem kulturellen Binnengefälle zwischen Nord-und Süddeutschland. 19 Die spätaufklärerische Wahrnehmung auch des deutschen Binnenraums als Aggregat unterschiedlich entwickelter Stadien der einen Fortschrittsgeschichte, deren gleichzeitige Ungleichzeitigkeit in der reisenden Bewegung quasi simultan erfahren werden kann - dieser von Koselleck skizzierten temporalen Grunderfahrung schreibt die norddeutsche Aufklärung den kulturhegemonialen Diskurs eines Entwicklungsvorsprungs der norddeutsch-protestantischen vor den süddeutsch-katholischen Territorien ein. 20 Die Affinität von Protestantismus, Gedankenfreiheit und zugleich asketischem Arbeitsethos und Affektdisziplinierung bilden Grundpfeiler einer verbreiteten Selbsteinschätzung, die das Faktum einer katholischen Aufklärung nicht wahrnehmen will 17 Dazu vor allem Stern (Anm. 6). Zu Heinrich Laubes Rückblick auf seine eigenen „schablonenhaften norddeutschen Vorurteile über das zurückgebliebene katholische Reich der Phäaken" vgl. Laube (Anm. 1), S. 168-178. Willibald Alexis' „Wiener Bilder" (Leipzig 1833) exponieren die Differenz von mitgebrachtem Vorurteil und Erfahrung vor Ort im Kapitel „Was nicht paßt" (ebd., S. 153-163). 18 Vgl. Stern (Anm. 6), S. 69 f. Zur österreichischen Exilöffentlichkeit vor allem in den Verlagszentren Hamburg und Leipzig vgl. Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien 1989, S. 59 ff. 19 Für den hier verwendeten Diskursbegriff beziehe ich mich auf die Definition in: Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann: Literatur - Wissen - Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Hrsg. v. Karl Richter u.a., Stuttgart 1997, hier S. 19 f. 20 Vgl. dazu Reinhart Koselleck: „Neuzeit". Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ M. 2 1992, S. 300-348, hier S. 323 f.

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oder in ihrer Wirksamkeit marginalisiert. Erinnert sei nur an einen exponierten reiseliterarischen Großtext dieser kulturhegemonialen Phantasie, Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz (1783 ff) mit ihrer bösen Polemik auf Wiener Faulheit und Backhendl-Manie. 21 Auf einer zweiten Entwicklungsstufe formiert sich aus der Erfahrung der Französischen Revolution und ihrer imperialen Expansion die romantische Umkehr dieses Blicks. Der süddeutsch-österreichische Kulturraum bildet das Projektionsfeld romantischer Konzepte, die das als rückständig Inkriminierte sowohl für eine Kulturerneuerung wie für eine neue nationale Synthese von Nord und Süd, Katholizismus und Protestantismus zu nutzen bestrebt sind. 22 Das kann hier nur in seiner knappsten Form angedeutet werden. Wesentlich ist, daß für die Reisenden des Vormärz eine hochkomplexe, antinomisch strukturierte Diskursformation vorlag, die bis dahin schon in ganz unterschiedliche konzeptuelle und politische Funktionalisierungen eingegangen war, etwa in die antipreußische Publizistik der süddeutschen Rheinbundstaaten, in den bayerischen Partikularismus nach 1814, in den borussophilen Nationalismus oder in den systemdefensiven Wien-Mythos in Osterreich. 23 Die Doppeloptik von „China" und „Schlaraffenland" der Wien-Reisenden im Vormärz repräsentiert gegenüber dieser Komplexität des binnenkulturellen Nord-Süd-Diskurses nur einen Ausschnitt. Sie ist eine polemische Außensicht, die erkennbar an die spätaufklärerische Superioritätsattitüde anknüpft. Die politisch und literarisch am Modell der norddeutschen Öffentlichkeit gemessene Rückständigkeit Österreichs als „Geisteswüste" schien durch das

21 Dazu mit weiterer Literatur Harald Schmidt: Fremde Heimat. Die deutsche Provinzreise zwischen Spätaufklärung und nationaler Romantik und das Problem der kulturellen Variation: Friedrich Nicolai, Kaspar Riesbeck und Ernst Moritz Arndt. In: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Hrsg. v. Helmut Berding. Frankfurt 1994, S. 394-442. 22 Vgl. Günter Oesterle: Die Romantiker in Wien. In: Joanna JaWkowska (Hrsg.): Osterreichische Literatur - Wie sie ist. Beiträge zur Literatur der habsburgischen Kulturmoderne. Lodz 1995, S. 82-91.Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Uber religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus. Mainz 1992, hier S. 136 ff. 23 Umfassend dazu Altgeld (Anm. 22); ders.: Akademische „Nordlichter". Ein Streit um Religion, Aufklärung und Nation nach der Neueröffnung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1807. In: AKG 67 (1985), S. 339-388. Zum Funktionselement des NordSüd-Gegensatzes im biedermeierlichen Wien-Mythos Kauffmann (Anm. 13), S. 362 ff.

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Restaurationssystem Metternichs zementiert. Freilich - eine Außensicht, die zu Beginn der 30ger Jahre unter Empiriedruck und Differenzierungsnöte gerät. „Knute", „Koch- und Gebetbücher", so bemerken bereits Börnes Briefe aus Paris im Januar 1831, reichen nicht mehr hin, die österreichische Situation nach der Pariser Julirevolution zu charakterisieren. 24 Die habsburger Feinmechanik der Macht erfordert andere Bildwelten, etwa die einer „seelenlosen Dampfmaschine" ohne hohen Druck. Die genannte Vorurteilsstruktur wird also in den Berichten der norddeutschen Reisenden meist nicht nur appliziert, sondern oft exponiert und differenziert. Auch Glaßbrenners Bilder und Träume benennen im Vorwort die übliche binnenexotische Verwandlung Österreichs in das deutsche China und fordern zugleich mit dem Bekenntnis zu den „Interessen der Gegenwart" die Korrektur dieses Vorurteils durch „lebendige Auffassung" und „Beobachtungs-Geist". 25 Freilich ist das nicht als jene empirisch-analytische Durchdringung mißzuverstehen, die den neuen Typus der Stadtbeschreibung in den vierziger Jahren auszeichnet, etwa in Ernst Drenkes Berlind Vielmehr ist mit „Lebendigkeit" und „Geist" der oben skizzierte freie, originelle, im weiten Sinne „literarische" Verfügungsmodus über die Realien in Reisebericht und buntem Stadttableau gemeint. Glaßbrenners Text ersetzt nicht Stereotype durch genaue Wirklichkeitsanalysen, sondern nutzt anders besetzte Stereotype des Diskurses, u m sie witzig, überzogen, pointiert und undifferenziert mit der Botschaft der Freiheit aufzuladen. Das geschieht mit dem „ungenierten Wesen" Wiens.

5. DAS „ U N G E N I E R T E " W I E N S UND EMANZIPATIVE

DISKURSIVE

TRADITION

AUFLADUNG

Das „Ungenierte" bezeichnet im Oeuvre Glaßbrenners einen Komplex, in dem naturrechtlich-emanzipative, habituelle und ästhetische Bestimmungen in unterschiedlichen Aufeinanderbezügen zusammentreten. Auf dem

24 Ludwig Börne: Briefe aus Paris. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Inge und Peter Rippmann. Bd. 5, Dreieich 1977 , S. 151 (Dreißigster Brief, vom 27. Jan. 1831). Das folgende „Dampfmaschinen"-Zitat ebd. 25 BTW I, S. XIII (= Ueding II, S. 290). Vgl. auch ebd., S. 18 (= Ueding II, S. 299) die Einforderung einer einfühlend-verstehenden Perspektive. 26 Dazu Riha (Anm. 8), S. 76 ff, bes. S. 81.

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Gebiet des Ästhetischen meint es erstens den hochliterarisch verpönten Bereich des Grobsinnlichen und Niedrigkomischen 27 , zweitens die von dem Autor wie besonders seinen niedrigen Berliner Figuren in ihrer sprachlichen Spontaneität ausgeübte Strategie des Witzes, die - sozial und politisch anstößig - getrennte Semantiken zusammenführt und augenblickshaft die Perspektive auf andere Denkmuster freigibt. 28 Drittens indiziert es den Bereich eines naturrechtlich grundierten emanzipativen Egalitätsideals, das gegen die künstlichen gesellschaftlichen Hierarchien die Gleichheit der einen Menschennatur aufbietet. Damit verbindet sich viertens die zivilisationskritische Terminante der „Ungeniertheit": das sozial unpräzise Aufbegehren gegen moderne Bildung und Gelehrsamkeit, insofern sie als „Rationalisierung" und „Affektmodellierung" (N. Elias) bzw. „Sozialdisziplinierung" (G. Oestreich) das eudämonistische Telos der Emanzipation verhindern. 29 Das impliziert den „ungenierten" Umgang der Geschlechter ebenso wie die rousseauistische Kommunikationsutopie unverstellt-natürlichen Affektausdrucks, der restlosen Repräsentanz des Innen im Außen.50 Fünftens meint „Ungeniertheit" aber bestimmte habituelle Formen plebejischer Durchbrechung der Mechanik von „Status und Scham" 3 1 , die Aufhebung des sozialdefensiven Genierens vor den „Vornehmen" und ihren distinktiven Attributen, ihrer Bildung, ihres Geldes, ihrer Prestigeobjekte, durch das 27 Die „Dedikation an Apollo" (Anm. 14, S. 2) belegt dieses Aufbegehren der „lustigen Volksgestalten" gegen die ästhetischen Konventionen explizit mit dem Terminus des „Ungenierten". In dem literarischen „Gedränge von Gespenstern und vornehmeren Personen" hätten sich Glaßbrenners Figuren „ganz ungeniert" bewegt und „Platz" gemacht. 28 Michael Schmitt: Der rauhe Ton der kleinen Leute. ,Große Stadt' und ,Berliner Witz' im Werk Adolf Glaßbrenners. Frankfurt/ M. u.a., 1989, bes. S. 157. Freilich erschöpfen sich die Funktionen des „ungenierten" rauhen Tons nicht, wie Schmitt plausibel herausarbeitet, im Sozialemanzipativen. 29 Norbert Elias: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. In: ders.: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Frankfurt "1992, S. 312 - 454, hier S. 369 ff. Zu Gerhard Oestreich vgl. Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff der ,Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit'. In: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 264-302. 30 Dazu Michel Foucault: Vorwort zu den Dialogues von Rousseau. In: ders. : Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt/ M. 1991, S. 32-32, hier S. 47 ff. 31 Vgl. das lesenswerte Buch von Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt/ M.; New York 1991, hier bes. die ausführliche Auseinandersetzung mit Norbert Elias' Zivilisationstheorie des Schämens, S. 121 ff.

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„unverschämte", dreiste Verhalten der Tagelöhner, Sandbuben und Holzhauer.52 Bezieht man diesen mehrstelligen sozialemanzipativen Komplex des „Ungenierten" auf die Bilder und Träume, so ergibt sich, verglichen mit den Berliner Broschürenheften und bezogen auf die Semantik des Nord-SüdDiskurses eine unterschiedliche Gewichtung. Denn daß mit der Reise vom Norden in den Süden gewohnte habituelle Schamgrenzen überschritten werden, gehört zur reiseliterarischen Topik der binnendeutschen Kulturdifferenz.33 Festzustellen ist eine starke Ausbildung der 5. und der 4. Komponente, der Aufweis eines egalitären „ungenierten" Umgangs der Schichten und einer spontanen, unverstellt-unmittelbaren Affektivität in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Beobachtet wird, daß der Wiener Adel seine gesellschaftliche Bedeutung verloren habe, jedermann sei in der täglichen Anrede „Herr von" und „gnädig". In den Wirtshäusern träfen sich die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zum zwanglosen Beisammensein. In d e m s e l b e n W i r t h s h a u s e , w o L a k a i e n , H o l z t r ä g e r i n n e n , F i a k e r u n d Packknechte ihre S e i d e l Bier o d e r Wein trinken, siehst D u b e r ü h m t e Künstler, Kaufleute, B e a m t e u n d reiche C a v a l i e r e m i t ihren g e p u t z t e n F r a u e n , T ö c h t e r n u n d G e l i e b t e n , die es gleichfalls nicht genirt, w e n n n e b e n i h n e n eine H e t ä r e ihren l o c k e n d e n Blicke schießt. 3 4

Diese habituelle Zwanglosigkeit der Wiener gehört spätestens seit Nicolais Reisebericht zur Wahrnehmung der norddeutschen Reisenden bis in den Vormärz. Während sie hier aber konstatiert und zugleich als Oberflächenphänomen kritisch relativiert wird - etwa in Willibald Alexis' feinsinnigen Bemerkungen über die spezifischen Sozialstrukturen Wiens 35 , affimiert 32 Explizit formuliert diese Mechanik von Status und Scham ein spätes, das 26. Heft der Broschürenreihe „Berlin wie es ist - und trinkt", die Genreskizze „Verein der Habenichtse zur sittlichen Bildung der höhern Stände" (1847). In: Adolf Glaßbrenner: Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. v. Horst Denkler u.a., Bd. 1, Köln 1981, S. 278 ff, hier S. 286 f. 33 Vgl. etwa W. Alexis' (Anm. 17, S. 276 ff: „Sittliches") Auslassungen über den ungenierten Wiener Ton in bezug auf nichteheliche Allianzen und den konträren „norddeutschen protestantischen Sittenbegriff". 34 BTW I, S. 37 f ( = Ueding II, S. 309). 35 Alexis (Anm. 17), S. 390-398 (Kap. 37: „Aristokratie") mit der Beobachtung, daß der

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Glaßbrenners Erzähler das Stereotyp, um es scharf gegen das krasse soziale Gefalle der Norddeutschen auszuspielen: Wohin wir uns auch wenden, wir finden keinen Menschen; immer nur zwei Füße, die einen Titel umhertragen. Hochmut und Dünkel des vornehmen Pöbels und die Rohheit der Hinternehmen drücken unser soziales Wesen nieder; in Wien dagegen findet man weder eine Spur solches Kasten- noch Schnaps-Geistes. Daran schließt der Text die kommunikationsutopische Variante emanzipativer Ungeniertheit an: Der Wiener zirkelt nicht lange mit seinen Ausdrücken; er läßt Herz und Kopf gehen und ist überhaupt mehr Mensch als wir Norddeutsche, die wir entweder Justizrath oder Strumpfwirker oder Graf sind und immer genau berechnen und messen, ob wir unserer Ehre auch nichts vergeben, oder der anderen zuviel gethan [...] Vergnügen sucht der Wiener, und er kümmert sich wenig darum, ob alle Nachbarn sein lebhaftes Gespräch und seinen lauten Jubel hören, denn er weiß, daß man nicht die Nase darüber rümpft. Wird es ihm zu heiß, so zieht er den Rock aus; zwickt es ihn in den Beinen, so tanzt er; gefällt ihm ein Mädchen, so macht er ihr den Hof; will er spielen, so spielt er; will er trinken, so trinkt er; kurz er ist immer Mensch, immer ungenirt! 0 dieses verfluchte Geniren der Deutschen! 36

Diese gegen Norddeutschland, vor allem gegen Preußen ausgepielte sozialemanzipative Phantasie des ungenierten Kommunizierens der Stände in der Öffentlichkeit und der ungenierten, spontanen Äußerung der Affekte verschwistert sich mit einer entschieden regionalisierten Bildungskritik. Die Polemik gegen das „schädliche deutsche Hausthier", das „gelehrte Vieh" tatsächlich ungenierte Umgang des Wiener Adels mit den anderen Ständen nur Ausdruck einer ungefährdeten privilegierten Stellung sei. Vgl. auch Karl Gutzkow: Wiener Eindrücke (1845). In: Gutzkows Werke. Elfter Teil: Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte. Reiseeindrücke. Hrsg. v. Reinhold Gensei Berlin u.a. o. J., S. 256 mit der Apostrophierung des gegenseitigen Baronierens als bürgerliche „Notwehr". Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen des Wiener „Baronierens", nämlich der Nobilitierung des Großbürgertums siehe Susanne Walther: Der „Zweite Adel". Kultur und Gesellschaft vor 1848. In: Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848. Wien 1988, S. 315-318. 36 BTW I, S. 38 ( = Ueding II, 309).

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und gegen die sozialdistinktive Funktion der Bildung bei den „Vornehmen" bildet eine Grundfigur im Oeuvre Glaßbrenners, die sich mit seinem Wandel zu radikaldemokratisch-republikanischen Positionen in den Vierziger Jahren noch verschärft. Sie lehnt sich an Börne an und ist partiell vergleichbar mit Büchners Abgesang auf die abgelebte moderne Bildung. 37 Diese höhere, kultivierte Geistigkeit der Gegenwart wird in den „Bildern und Träumen" als lustfeindliche Reflexionslastigkeit norddeutsch-preußischer Lebensführung identifiziert. Wiederholt spielt Glaßbrenners Text Wiener Lebens- und Festfreude gegen norddeutsche Bildungshypertrophie aus; im Wurstelprater, dem kleinbürgerlich-plebejischen Hinterhof des mondänen Schaupraters, will sich der Erzähler im Lachen über die unsinnigsten Späße „den kritischen Norden" „aus den Gliedern" schütteln, ein „Wiener sein" und die „geistigen Kleider" abwerfen, „in denen der Fluch der Welt liegt" „wir sind lauter nackte, fröhliche Menschen". 38 Die revolutionäre Topik des nackten, natürlichen Körpers59, den es hinter den sozialdistinktiven und affekthemmenden Kleidern zu entbergen gilt, impliziert eine Bestrafungsphantasie: die karnevalisierende Beschämung und Entblößung der Würdenträger. Ihr Opfer wird ein vornehmer und genanter preußischer Geheimrat im Kapitel über die „Kaffee- und Bierhäuser", den der Erzähler in eine Kaschemme hineinkomplimentiert. Lustvoll inszeniert er eine auf Versagen der Anstands- und Abstandsregeln angelegte Peinlichkeitssituation :

37 Georg Büchner an Gutzkow, Straßburg, Anfang Juni 1856. In: ders.: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Pörnbacher u.a., München 31992, S. 320. Die Kammerjägerperspektive Glaßbrenners auf das „gelehrte Vieh" in der „Dedication an Apollo (Anm. 14), S. 16. Zur Konvergenz von Bildungskritik und bewußtem Rückgriff auf populäre literarische Formen bei Glaßbrenner vgl. bes. die Arbeit von Ingrid Heinrich Jost: Literarische Publizistik Adolf Glaßbrenners (1810-1876). Die List beim Schreiben der Wahrheit. München u.a. 1980, hier S. 212 ff. 38 BTW I, S. 37 f (= Ueding II, S. 335). 39 Stellvertretend für die aus der Französischen Revolution überkommene Topik sei die bibelsprachlich grundierte Passage aus dem „Hessischen Landboten" über den Fürsten angeführt: „Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf (eurem) Nacken [. ..]"· Georg Büchner; Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Juli-Fassung. In: Büchner (Anm. 37), S. 48.

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Reisen und Inspektionen

Aber, lieber Herr Hofrath, sein Sie doch gescheidt! Glauben Eurer Wohlgeboren denn, daß die Wiener Plebejer so roh und ungeschliffen sind als ihre Berlinischen? Euer Wohlgeboren irren sich; der Schnaps hat ihre Seelen noch nicht vergiftet. 40

Die schließlich mit dem Hinweis auf die Präsenz auch der feinen Gesellschaft Wiens erfolgreiche Einladung schreitet fort zur nächsten Schamgrenze : Aber warum ziehen sich denn Euer Wohlgeboren den Rock nicht aus? Ich sehe, Ihnen ist warm geworden,

GENIREN

Sie sich vielleicht der eleganten Damen we-

gen, die von jenem Tische ihre feurigen Augen strahlen lassen? Mein Gott, Herr Hofrath, die Engel gehen ja auch splitternackt, und die Wienerinnen sind viel zu gutmüthig, viel zu liebenswürdig, einem Manne irgendetwas übel zu nehmen. 41

Mit diesem sozialemanzipativen Muster egalisierender Ungeniertheit ist eine bei vielen oppositionellen Zeitgeistreisenden feststellbare variantenreiche Grundfigur durchbrochen. Sei es, daß die Wiener Lebenslust als Instrument der Ablenkung, Unterdrückung und Verdummung, als babylonische Verirrung von einem asketisch definierten Fortschrittsideal (Dingelstedt) oder als bedrohlich-faszinos zur Kenntnis genommene Ausbruchsmöglichkeit aus der Verantwortung des Zeitgeists (Laube) bestimmt wird 4 2 ; stets handelt es sich um die Entgegenordnung von Hedonismus und politischemanzipativem Bewußtsein, um die Antinomie von Lebenslust und Politik. Glaßbrenners Zusammenführung beider Sphären ruht zum einen sicherlich auf dem emanzipativen Sensualismus Heines. 43 Sein metaphysisches Sub-

40 BTW I, S. 156 ( = Ueding II, S. 557). 41 BTW I, S. 142 (= Ueding II, S. 559 f). 42 Zu Dingelstedt vgl. Stern (Anm. 6), S. 76 ff. Zu Laube ebd., S. 71 ff. Heinrich Laube: Reisenovellen. Dritter Band. In. H. L. (Anm.l), Sechster Band. Kap. „Nationales", S. 55. Mit der Apostrophierung Wiens als „verzauberte Feenwelt" und „Insel der Circe", in der die „Spekulationen, Forschungen und kecken Zivilisationsgedanken" binnen weniger Wochen verschwunden seien. 45 Zur zentralen Sensualismus-Spiritualismus-Debatte im Vormärz: Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des „Hessischen Landboten". In: Georg Büchner I/II, Sonderband Text + Kritik. Hrsg. von H. L. Arnold. München 21982, S. 69 ff. Hier auch die wichtigsten Belegstellen für Heines lebensheiteren „Hellenismus". Differenziert enwickelt Martin Bollacher die positive

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strat, einen sympathiephilosophisch ausgelegten Pantheismus, präsentieren die Bilder und Träume in stets neuen poetischen Variationen, und sie schreiben ihn Osterreich als „geistigen Fonds" der Freiheit zu. Unter dem dünnen Firnis des entbehrungsheischenden Katholizismus ist es ein „pantheistisches Land." 4 4 Zu bedenken sind für Glaßbrenners Kreuzungsversuch aber auch die unterschiedlichen Weiterbildungen und Inversionen des kulturhegemonialen Nord-Süd-Diskurses, die mit der krisenhaften Erfahrung der Französischen Revolution entschieden einsetzen. Das zivilisationskritisch variierte Fortschrittsmodell der Spätaufklärung hatte bereits vor 1789 in den ländlichen Regionen der Schweiz und in anderen Gegenden Süddeutschlands eine vorbildhafte naturnahe Simplizität der Sitten wahrgenommen. 4 5 Mit der Französischen Revolution schien aber auch das großstädtische Zentrum des Menschheitsfortschritts, die „Zivilisationsmetropole" Paris, in den „Naturzustand" versetzt. 46 Naturrechtliche Gleichheit und zwanglose Kommunikation der vorher in Stände getrennten Pariser Bevölkerung als ungenierte Menschen in der frühliberalistischen Wahrnehmung Joachim Heinrich Campes, das tugendhafte oder sinnlich entfesselte natürliche Volk der Jakobiner-Diktatur 47 - das sind Voraussetzungen einer politisch verschieden ausgedeuteten Konjunktur von zivilisationskritisch korrigierter Emanzipationsgeschichte und Großstadtbevölkerung, die variantenreich für die Pariser Julirevolution zu aktualisieren waren. 48 Sie sind als Folie für Glaßbrenners Wien-Beschreibung nicht wegzudenken. Freilich dürfte für die Transposition Paris-Wien eine politisch Korrelation von Emanzipationsgeschichte, S e n s u a l i s m u s und Pantheismus bei Heine. M. B . : Aufgeklärter Pantheismus. D i e D e u t u n g der Geschichte in Heines Schrift ,Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland'. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.): Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Stuttgart 1977, S. 144-186, bes. S. 164 ff. 44 B T W I, S. 39 ( = Ueding II, S. 310), Kap. „ D i e Wiener". Vgl. zu d e m pantheistischen Credo des Erzählers, das Glaßbrenner bisweilen strategisch den rezeptionsfreundlichen Liebesepisoden einlagert: B T W I, S. 228 ff ( = Ueding II, S. 378 f ) : „ G a n g durch St. S t e p h a n " ; B T W II, S. 39 f: „Brigittenau"; außerdem der zentrale Vierte Traum ( B T W II, S. 58 ff), der die emanzipative Potenz des Pantheismus gegen dessen Indifferentismus-Implikationen zu behaupten und mit einem allgemeinen Liebespostulat zu definieren sucht. 45 François Knopper: L e Regard du voyageur en Allemagne du Sud et en Autriche dans les relations d e voyageurs allemands. Nancy 1992, S. 498 f. 46 Jörn Garber: Die Zivilisationsmetropole im Naturzustand. Das revolutionäre Volk von Paris als Regenerations- und Korruptionsfaktor der „Geschichte der Menschheit". In: ders.: Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaitstheorie im Übergang zur Moderne. Frankfurt/ M. 1992, S. 364-408, hier bes. S. 369.

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querliegende Vermittlung zwischenzuschalten sein - die romantische Umkehr des kulturhegemonialen Nord-Süd-Diskurses, die Osterreich resp. Wien zum Projektionsraum einer antifranzösischen und antirevolutionären Kulturerneuerung konstruiert. Der diesem romantischen Umfeld und seinem Regenerationswillen zuzuordnende literarische Reisebericht des Komponisten Johann Friedrich Reichardt ( Vertraute Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien) entwirft 1808/09, am Vorabend des vaterländischen Kriegs Österreichs gegen Napoleon, kontrastiv zur breiten, aber „hohlen" „sogenannte^) Aufklärung und Veredlung" Norddeutschlands den Mythos eines geeinten, gemütlich-fröhlichen und in sich zufriedenen Wiener Volkslebens, in dem Kunst und Genuß integriert sind, geistige Kultur und Glück noch nicht zugunsten eines falschen Fortschritts auseinanderfallen. 49 Der Preis solcher Zivilisationskritik ist doppelt; er besteht einerseits in einer Affirmation herrschender Diskursverknappung und Informationsverzögerung besonders in der beschränkten Journallektüre. Eingefordert wird - elitär - das gründliche Studium. 50 Hinzutritt, zweitens, die entschlossene Infantilisierung des österreichischen Volkscharakters. „Diese reinen und guten Kinder", stellt Reichardt fest, „findet nun der edle Pestalozzi und Fichte hier

47 Zu Campes „Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben" (Braunschweig 1790) und ihrer emphatischen Wahrnehmung der revolutionären Großstadtmenge Garber (Anm. 46), S. 371 ff) sowie Brüggemann (Anm. 8), S. 72 ff, der Ziel- und Gipfelpunkt dieser Perspektive, die Beschreibung des Menschengewühls im Palais Royal zit. ebd, S. 234 ff, hier bes. 236 f. Schon vor der Revolution sieht Campe hier in der großstädtischen „Unerschrockenheit" die „Keime der französischen Freiheit" und ihrer schichtenübergreifenden ungezwungenen Kommunikation. Zu weiteren reiseliterarischen Blicken auf das wilde Volk während und nach der Jakobinerdiktatur vgl. Garber (Anm. 46), S. 375 ff (Oelsner) und S. 384 ff (Rebmann). 48 Vgl. etwa die ambivalente, zwischen Schrecken und Faszination schwankende Wahrnehm u n g des bacchantischen Pariser Volkes bei Heine: Michael Perraudin: Heine und das revolutionäre Volk. Eine Frage der Identität. In: Martina Lauster/ Günter Oesterle (Hrsg.): Vormärzliteratur in europäischer Perspektive II. Politische Revolution - Industrielle Revolution - Ästhetische Revolution. Bielefeld 1998, S. 41-55. 49 Johann Friedrich Reichardt: Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Osterreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809. Eingeleitet und hrsg. v. Gustav Gugitz. 2 Bde., München 1915, hier bes. der Zweiundzwanzigste Brief, ebd., Bd. 1, S. 282 ff. 50 Ebd., S. 234 ff (Siebzehnter Brief), S. 259 ff (Zwanzigster Brief) zur norddeutschen Lesewut und zur „hohle(n) leere(n) Journallektüre". Das Gegenbild echten Kunstgenusses und gründlichen Studiums ebd., S. 268.

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sicherer und im ganzen Volk lebend, als irgendwo in der Welt."51 Gewiß, Glaßbrenners Blick auf Wien ist damit nicht gleichzusetzen. Seine Bildungskritik ist zugleich radikaler und reduzierter. Sie erfaßt gerade das „gründliche Studium" der Gelehrten52; und sie exiliert nicht den politischen Zeitgeist der Emanzipation aus dem Entwurf des unverbildeten, lebensfrohen und naiven Wiener Volkslebens. Der Besuch einer Wiener Schenke mit dem preußischen Geheimrat endet so in einer letzten „Ungeniertheit" : dem ungescheuten Politisieren.53 Glaßbrenners Wienschilderung registriert eine trotz Zensur und Geheimpolizei enthusiastisch für den Zeitgeist eingenommene Stimmung außerhalb des entfalteten publizistisch-literarischen Markts Norddeutschlands. Die Zensur wird ebenso wie das Sealsfieldsche Schreckgespenst einer in alle Hütten kriechenden Geheimpolizei, der „Naderer" 54 , als unwirksam benannt. Die verbotenen Bücher seien überall zu haben und nur sie würden enthusiastisch rezipiert. 55 Doch tritt dieses Modell eines ungelehrten, im breiten „Volk" vermittelten Freiheitsenthusiasmus in einige der gelegten romantischen Spuren. Etwa, wenn er dem gelehrten Philistertum Norddeutschlands entgegengeordnet wird und zusammen mit der Lebensfreude wiederholt als Resultat des Bildungsrückstands und der Diskursverknappung erscheint. „Man schreibt hier nicht so viel und so frei, wie in Preußen, aber man lebt hier mehr und freier." 56 Vermittlungsinstanz solcher romantischen Inversionsfiguren könnten die verstreuten bildungskritischen, auf den Nord-Süd-Diskurs bezogenen Reflexionen der Glaßbrennerschen Orientierungsfigur Börne in den Briefen aus Paris sein.57 Abgesehen von diesen romantischen Einlagerungen sind auch Annä51 Ebd., S. 284. 52 Vgl. bes. die satirische Fiktion der auf dem Karussell reitenden „gelehrten Narren" („Der Prater", BTW I, S. 89 (= Ueding II, S. 335), die den prätendierten Wissensfortschritt mit der zyklischen Prozeßfigur komisch durchkreuzt. 53 54 55 56 57

„Kaffee- und Bierhäuser", BTW I, S. 127 ff (= Ueding II, S. 360). Sealsfield ( A r n . 2), S. 127. Vgl. bes. das Kapitel „Naderer", BTW I, S. 147 ff (= Ueding II, S. 562 ff). BTW I, S. 144 (= Ueding II, S. 361). Börne (Anm. 24), 52. Brief, S. 306: „Eigentlich habe ich die Wiener gern. Sie lesen weniger, besonders Journale, und haben darum keinen verschlemmten, abgenutzten Geist. Wenn sie Verstand haben, ist er selbständiger, origineller als der der Nordländer." Außerdem der 34. Brief (S. 174 ff) mit der Klage über den Verlust affektiver sozialemanzipativer Energien durch die Gelehrsamkeit Luthers. Vgl. bes. auch den zivilisationskritisch unterlegten Gegensatz von sozialdistinktiver „äußerer Bildung" der „höheren Stände" und edlem Volk in den „Studien über Geschichte und Menschen der Französischen Revolution".

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herungen an den biedermeierlichen Wien-Mythos 58 zu beobachten - an einen von der österreichischen Reaktion geduldeten und wohl auch geförderten systemtreuen Lokalpatriotismus, der die preußisch-österreichische Rivalität in den Wiener Unterhaltungszeitungen publizistisch ausschlachtet. Zu nennen sind besonders Braun von Braunthals Antithesen oder Herrn Humors Wanderungen durch Wien und Berlin (Wien 1834). Die Opposition von norddeutschem Kopf und süddeutschem Magen weicht hier, in Auszeichnung romantischer Linien, der Antithese von Kopf und Herz, Verstandesund Gemütsleben, asketisch-nüchterner, philiströs-selbstverleugnender und ästhetisch impotenter Kultur auf der Seite der Norddeutschen und frischer Lebenslust und ästhetischer Bildung, die Mode und Poesie gleichermaßen umfaßt, bei den Süddeutschen und besonders in Wien. 59 Der Auflösung des Nord-Süd-Diskurses bei Braunthal in pointierte antithetische Aphorismen folgt Glaßbrenners Text passagenweise inhaltlich und formal. 60 Zu beachten ist dabei die gefährliche Nähe, in die Glaßbrenners sozialemanzipativ intendierte Rede vom ungenierten Umgang der Schichten zum restaurativen Sozialkitsch gerät. Ähnlich wie Braunthal stellt Glaßbrenner das breite, auf das „Gemüt" gegründete Wiener Volksleben der scharfen sozialen Scheidung von oben und unten und der Verrohung des schnapstrinkenden „Pöbels" in Berlin gegenüber. 61 In dieser weitgehenden Annäherung

In: Börne (Anm. 24), Bd. 2, S. 1061 f. Zu Glaßbrenners Börne-Verehrung vgl. die bei Heinz Gebhardt zitierten Tagebucheintragungen Glaßbrenners vom 2. März 1837 zum Tode Börnes (H. G.: Glaßbrenners Berlinisch. Berlin 1955, Anhang, S. 117). 58 Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966, hier S. 40 ff zum „Zeitalter des Biedermeier"; bes. aber Kauffmann (Anm. 13), S. 519 ff. 59 Karl Johann Braun von Braunthal: Antithesen; oder Herrn Humors Wanderungen durch Wien und Berlin. Eine Sammlung Skizzen aus dem Wiener und Berliner Volksleben, nach der Natur gezeichnet.Wien 1854, hier S. 16, S. 75. Braunthal war Spitzel Metternichs. Vgl. Lengauer (Anm. 18), S. 62. 60 Vgl. bes. das Kapitel „Die Wienerinnen": „Die Wienerinnen sind ganz Weib; die Berlinerinnen bis zum Kopfe. Die Wienerinnen sind voll Leben, die Berlinerinnen voll Lebensregeln." BTW I, S. 45 (= Ueding II, S. 313). Bei Braunthal (Anm. 59), S. 72-102: „Wien und Berlin", S. 90 ff der Abschnitt „Frauen", der die Überlegenheit der Wienerinnen anders als Glaßbrenner auch auf die großstädtische Geschmackskultur zurückführt: „Die Berlinerin macht schöne Toilette, die Wienerin macht die Toilette schön, jene ist elegant, jene geschmackvoll; jene macht die Mode mit, diese macht sie." Direkt anschließbar an Glaßbrenners BTW dagegen ist Braunthals Gegensatz von süddeutscher Lebenslust und norddeutscher „Selbstverleugnung, Mässigung und Nüchternheit." (ebd., S. 75) 61 Braunthal (Anm. 59), S. 78 f („Volksleben"), S. 95 („Volkscharakter"); BTW I, S. 37 (= Ue-

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an Grundfiguren des biedermeierlichen Wien-Mythos werden leicht Nuancen übersehbar, etwa, daß Glaßbrenner von plebejischem Schnapsgeist und Kastengeist des vornehmem Pöbels spricht, während Braunthals zensurfahige Antithesen nur die Differenz von Pöbel und Gelehrten aufmachen. 62 Konsequent fallen diesem ständeintegrativen Entwurf in den Bildern und Träumen zwar nicht alle63, aber doch eine Reihe von sozialen Konflikten und Schwellen des Wiener Sozialgefüges zum Opfer oder werden zumindest überspielt - etwa zwischen plebejischen Vorstädten und vornehmer Innenstadt - , die schon vor dem Verelendungsschub der Vierziger Jahre sichtbar sind und die dann zum „Maschinensturm" und den Praterkämpfen der Revolution von 1848 führen. 6 4 Das witzige, geläufige Klischees des NordSüd-Diskurses sozialemanzipativ ausphantasierende Textverfahren verzichtet bewußt auf die Möglichkeiten eines empirisch-analytischen Zugriffs. Zwar lassen sich auch in Glaßbrenners Broschürenreihe Berlin wie es ist und trinkt, besonders in den späteren Heften, deutlich ästhetisierende und idealisierende Überhöhungen des kleinbürgerlich-plebejischen Volkslebens feststellen. 65 Sie sind Ausdruck einer zwischen Mimesis und wirklichkeitsvorgreifender Poiesis schwankenden Volksliteraturkonzeption Glaßbrenners. 66 Dennoch verzeichnen die Berliner Hefte sehr genau soziale Mikro-

ding II, S. 357). Zum Übergang solcher ständeintegrativen Mythisierungen in den sozialdefensiven Sozialkitsch und die ästhetisierende Domestikation der „Fabrikleute" vgl. bes. das Kap. „Städter und Vorstädter" bei Braunthal (Anm. 59), S. 66 ff. 62 Braunthal (Anm. 59), S. 94 f. BTW I, S. 37 (= Ueding II, S. 309): „Die Wiener" . 63 Vgl. bes. die Auseinandersetzung zwischen einem „vornehmen L u m p " und dem harmlosen Fiaker, in die sich der Erzähler parteilich einmischt: mit Prügeln für den „Herrn" und Solidarisierungsgesten gegenüber dem „Bruder Fiaker." BTW I, S. 123 ff (= Ueding II, S. 351 f). Zu beachten auch das marginale Notât zum vorstadtischen „Lerchenfeld" und seinem „Jubel der untersten Volksklassen": „Das Volksleben in seiner Wahrheit, ohne Veredlung." B T W II, S. 146 (Kap.: „Mein Notizbuch"). 64 Wolfgang Häusler: Von der Manufaktur zum Maschinensturm. Industrielle Dynamik und sozialer Wandel im Raum von Wien. In: Renate Banik-Schweitzer u.a. (Hrsg.): Wien im Vormärz. Wien 1980, S. 32-56; ders. : ,Siegende Geschlagene' - Demokratie und soziale Bewegungen in der Wiener Revolution von 1848. In: ebd., S. 637-641, hier S. 639. 65 Dazu vor allem Schmitt (Anm. 28), S. 62 f. 66 Vgl. bes. die poetologische „Dedication an Apollo" (Anm. 14), die einerseits die assoziativwitzige Verwandlung der Wirklichkeit als poesienotwendige Veredelungsoperation verteidigt, andererseits aber als marktgeschuldete Verfehlung einer realitäts-, d.h. leidensnahen Volksliteratur bekennt: „ich [...] ließ gleichsam die Schmerzensthränen meines ,Volkes' moussieren, um mich zu Freudenthränen des Humors zu berauschen." Ebd., S. 10 f.

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differenzen etwa zwischen verschiedenen Typen von Kutschern, und die literarische Sicht der Berliner Volksfeste als Befreiung vom „Joch der Zivilisation" wird nicht von scharfen sozialen Konflikten entlastet.67 Hinzu kommt, daß Glaßbrenner die Differenz von norddeutschem Philistertum und österreichischer Authentizität auf die Restaurationspolitik Metternichs transponiert - dies offenbar in Anlehnung an einen argumentativen Querschläger Heines im Vorwort zu den Französischen Zuständen, über den sich noch Gutzkow 1845 ärgert.68 Heine hatte hier die Opposition von offenem östereichischem Repressionssystem und liberaler Camouflage im reaktionären „steife(n), heuchlerische(n), scheinheilige(n) Preußen" aufgetan, diesem „Gemengsei von Weißbier, Lüge und Sand", und konstatiert: „Osterreich ist immer ein offener, ehrlicher Feind gewesen". 69 Glaßbrenners Reisebericht extemporiert diese heinesche Differenz verschiedentlich, etwa im Kapitel über die Wiener Geheimpolizei, die „Naderer", oder in der Charakteristik der Wiener Bierhäuser. Hier wird der preußische Träger des Adlerordens so ins Gebet genommen: Die österreichische Regierung glaubt, daß ihre Principien zur Aufrechterhaltung eines so großen Landes und so heterogener Völker die weisesten sind; sie macht auch kein Hehl aus diesen Principien, wie gewisse andere Regierungen, Herr Hofrath! Sie weiß, daß der freidenkende Ausländer Vieles an ihr tadeln muß, was er vielleicht bei näherer Kenntniß als notwendig erkennen würde; sie verfolgt ihn deshalb nicht, sie achtet die heiligsten Rechte des Menschen mehr, als sie glauben macht.- Und das heiligste Recht des Menschen ist freie Mittheilung, freier Austausch seiner Ideen. 70

Erkennbar ist die Absicht Glaßbrenners, den im kulturellen Superioritätsgestus der Borussophilen verstellten Blick auf die eigenen, preußischen Chi-

67 Vgl. das Kapitel „Stralower Fischzug" in den „Schilderungen aus dem Berliner Volksleben" (Anm. 14). Dazu Schmitt (Anm. 28), S. 97. Schmitts Arbeit betont zwar die Verwurzelung der witzigen Berlinhefte Glaßbrenners in der Fiktion einer vormodemen Stadtgesellschaft, weist aber zugleich den zynischen, aggressiven und fatalistischen Unterton der Genreskizzen nach (ebd., S. 191). 68 Gutzkow (Anm. 35), S. 252. 69 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. Bd. 5: Schriften 1831-1837. Hrsg. v. Karl Pörnbacher. Frankfurt/M.; Berlin; Wien 1981, S. 94 f. 70 BTW I, S. 143 (= Ueding II, S. 360).

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noiserien offenzuhalten71, ebenso die appellative Adresse solcher Passagen an die österreichische Regierung. Dennoch sind das sehr weitgehende Zugeständnisse, die die konservative Apologie streifen und kaum als ironische Querlesung zu retten sind.

4. D I E UMKEHR ZUM

DER BLICKRICHTUNG:

VOM

BONSAUVAGE

BARBAREN

Nur partiell und prekär, darauf wurde eingangs hingewiesen, öffnen die Bilder und Träume aus Wien im Moment des Ungenierten einen Raum, in dem sich der hedonistische Partialmythos mit dem emanzipativen Zeitgeist zusammendenken ließ. Glaßbrenners Text zeigt aber eine Reihe von Einsprengseln, in denen sich der Blick radikal verkehrt. Der naturrechtlich-zivilisationskritische Diskurs kippt in den einer asketischen Zivilisierung, der in der Wiener Konversations- und Festkultur Exzesse einer bedrohlichen, ungebändigten Sinnlichkeit wahrnimmt. Der edle Wilde Wiens wandelt sich in einer binnenexotischen Umpolung zum Barbar, das Ungenierte, Ausweis einer unverdorbenen Natur, erhält als Schreckbild das Rohe und Gemeine, die geistverlassene Natur. Und - der Wiener Hedonismus wird zur präzise kalkulierten obrigkeitlichen Verdummungsveranstaltung. Die übliche norddeutsche Perspektive, die normative Dualität von Fortschritt und Askese, das gegenbildliche, im Blick auf Osterreich entworfene Junktim von „China" und „Schlaraffenland" scheint wieder eingeholt. Das verdichtet sich in der Stilisierung des Wiener Walzers zum wollüstigen, fieberhaften Tanz der Bacchantinnen, zum „wilden, wahnsinnigen Herumschleifen", dies gerade nicht wie bei Heine als dionysische Befreiungsveranstaltung gemeint 72 , das zeigt sich in der Empörung über den Skandal öffentlichen Zotenreißens und in den für Glaßbrenner unerwartet verständnislosen Bemerkungen übers Volkstheater73' außerdem in der drastisch rollenkonserva71 Vgl. Glaßbrenners auf Preußen gemünzte „Specielle Mittheilungen über China" in seiner „humoristischen" Zeitschrift „Das Brennglas" (1854). In: Denkler (Anm. 32), Bd. 5, S. 159 - 166. 72 BTW I, S. 68 ff (= Ueding II, S. 325 ff); zum Konnex von sinnlicher Emanzipation und bacchantischem Volkstanz bei Heine vgl. bes. Perraudin (Anm. 48), S. 49 ff. 73 BTW I, S. 217 ff (= Ueding II, S. 375 ff) mit den Attributen „Gemeinheit", „elendeste Possenreißerei", „Stall" und „großer Misthaufen", von denen einzig Raimund ausgenommen wird.

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tiven Fixierung der Wienerinnen auf tugendhafte, geistig-poetische Sinnlichkeit und Bildungsabstinenz. 7 4 Zwei Beispiele des Perspektivwechsels seien besonders hervorgehoben. Z u m einen die drastischste Phantasie roher Wildheit, die sich erneut an einer bedrohlichen Tanzkunst entzündet, diesmal aber nicht den walzenden Wienern, sondern den musizierenden Zigeunern der Brigittenau gilt. Sie müssen als Projektionsfiguren eines traditionellen Horrorinventars der Barbarei herhalten, von Schmutz, Inzucht und Kannibalismus: Seid ihr das Volk, das sich in d i e s e m polirten Europa nicht civilisiren lassen will, das Knoblauch und Tabak kaut, keinen Priester bei der E h e braucht, die Schwester heirathet, w e n n sie hübsch braun und schmutzig ist, und seine Weiber fortjagt, wenn sie keinen Reiz m e h r bieten? [...] Gesteht, ihr haßt die stabilen M e n schen, diese cultivirten Bestien, die sich das bischen L e b e n hindurch abquälen, ihre Natur zu verbergen, ihre G r a u s a m k e i t zu m i l d e r n , ihre Wollust zu bezähm e n . Ihr möchtet sie schlachten, d i e s e cultivierten Bestien, und ihr schönes Fleisch verzehren, aber ihr furchtet ihre Gesetze und ihre Henker. U n d also tanzt ihr lieber, begleitet die T ö n e m i t charakteristischen, wollüstigen M i e n e n und n e h m t dafür das G e l d von den unnatürlichen M e n s c h e n . 7 5

Mit dem Blick auf die kryptokannibalistische Tanzästhetik nivelliert sich die binnendeutsche Kulturgrenze. Eingereiht in die Familie europäischer Zivilisation, arbeitet der „ungenierte" Österreicher am Bollwerk gegen die Unvernunft. 76 Das zweite Beispiel betrifft die fünf den Text durchziehenden Traumallegorien. 7 7 Sie entwerfen, in deutlicher Anlehnung an Jean Pauls Rede vom toten Christus im Siebenkäs, mit schauerästhetischem Inventar die grandiose

74 BTW I, S. 44 ff (= Ueding II, S. 313 ff). 75 BTW II, S. 29 f. 76 Vgl. auch das Kapitel „Österreich" im 2. Bd. der „Bilder und Träume" (BTW II, S. 164177), in dem der Erzähler für die retrospektive Deutung des Gelesenen sowohl den norddeutschen Rückständigkeitsdiskurs wie die entgegengesetzte austriaphile, auf die Zivilisierungsfunktion Österreichs gegenüber dem bedrohlichen slawischen Osten zentrierte Perspektive anbietet. Bezeichnenderweise fehlt darin die emanzipative Phantasie des ungenierten Österreichers. 77 BTW I, S. 31 ff, S. 113 ff, S. 199 ff (= Ueding II, S. 306 ff, S. 347 ff, S. 373 ff); BTW II, S. 5866, S. 203f.

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Phantasmagorie eines nächtlichen, hermetisch abgeschlossenen Landes, in dem ein kindliches Volk von hohen Beamten und schwarzen Männern in Schlaf gehalten wird. Einzig die Dichter und Weisen flehen im weiten nächtlichen Palast den Menschenfürst um Lösung der klirrenden Ketten an. Erst mit dem letzten Traum erwacht das Volk im Lerchenjubel des anbrechenden Morgens. Diese durchschaubaren chinoisen Oskurantenphantasien der „Träume", sie bezeichnenderweise der primäre textuelle Ansatzort für die Intervention der preußischen und der österreichischen Zensur 78 , entwerfen das genaue Gegenbild zu der Wahrnehmung einer freiheitsbegeisterten österreichischen Öffentlichkeit, die sich gegen die unwirksamen Unterdrückungsmechanismen längst konstituiert habe. Wie sind diese krassen Widerspruchstrukturen aufzulösen? Die skizzierte Selbstdurchkreuzung scheint bei aller Ausgekochtheit des fiinfundzwanzigjährigen Autors nicht vordringlich Resultat eines raffiniert kalkulierten, einen aktiv ausdeutenden Leser einbeziehenden Camouflageverfahrens zu sein, das die Vorrede der Bilder und Träume im Blick auf die Zensurpraxis postuliert.79 Zunächst senkt sicher der bei aller Emanzipationsemphase witzige, stellenweise offenkundig spielerische Umgang mit den Nord-Süd-Klischees die Hemmschwellen vor einer kontradiktorischen Strukturierung des Textes. Zu bedenken sind aber auch tieferliegende Spaltungen und geheime Vermittlungen der Rede über Wildheit und Zivilisation. So ruht die emanzipative Nacktheitsemphase der Bilder und Träume letztlich auf einem spröden Fundament. Glaßbrenners von kleinbürgerlichen Affektidealen durchsetzter Naturbegriff produziert zwangsläufig die Schreck- und Gegenbilder gemeiner, geistloser, exorbitanter Sinnlichkeit. In unmittelbare Nachbarschaft dazu gehört die über literarische Repräsentationsprobleme hinausführende prinzipielle und sicher zeittypische Ambivalenz sowohl in der Fortschritts- wie in der Volkskonzeption Glaßbrenners. 80 Das „Volk" ist Ideal der Kulturerneuerung und zugleich Objekt der Erziehung. „Aus

78 Houben (Anm. 6), S. 209, mit dem Blick auf das Berliner Oberzensurkollegium und Rodenhauser (Anm. 4), S. 7 mit dem Hinweis auf die österreichische Intervention auf dem Bundestag. 79 BTW I, S. IV f ( = Ueding II, S. 289). 80 Zur Dualität von liberalistischer Fortschrittsemphase und festgefügtem Traditionalismus bei Glaßbrenner vgl. Schmitt (Anm. 28), S. 99; zu den vielfältigen Widersprüchen im Œuvre Glaßbrenners und ihrem sozialen Hintergrund vor allem Horst Denkler: Einleitung und Editionsbericht zu ders. (Anm. 32), Bd. 1, S. 24 ff.

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einem Volk läßt sich viel machen, z.B. ein Volk".81 Auch zwischen heiteren und vermeintlich harmlosen „Bildern" auf der einen und finsteren und zensurwidrigen „Träumen" auf der anderen Seite läßt sich kein unüberbrückbarer Gegensatz ableiten, auch wenn die „Vorrede" das suggeriert. 82 Vielfaltige Vermittlungen und Spiegelungen sind auch hier auszumachen. Das betrifft zum einen das zensurfähige Material, das sich beileibe nicht auf die „Träume" beschränken läßt. In welchem Maße im Heiteren des „ungenierten" Volkslebens die - vor allem gegen Preußen gerichtete - politische Opposition eingegangen ist, dürfte nach den voraufgegangenen Überlegungen klar sein. Aber auch die auf die spezifisch österreichischen Verhältnisse gemünzten Provokationen sind in den „Bildern" zu beachten, und zwar in seiner ganzen Bandbreite vom moralisch über das religiös bis zum politisch Anstößigen: sei es das obszöne, in der Zensurterminologie „sittenwidrige" „Ampellied" im Prater-Kapitel, sei es die durchgehende Polemik gegen Mönchsgeist und Katholizismus zugunsten des Pantheismus 83 oder die provozierende Zusammenführung von Metternich, Mißgeburten und Räubern in der Wachsfiguren-Szene ebenfalls des Prater-Kapitels, dies ein handgreifliches Exempel der von Wulf Wülfing herausgearbeiteten Konjunktion von assoziativem Witz, Diskursintegration und Opposition im vormärzlichen „Reisebericht à la Heine". 8 4 Ein entscheidendes Inzitament des Diskurswechseis dürfte schließlich in der Sonderstellung Glaßbrenners und seiner prekären Autorrolle im jungdeutschen Umfeld begündet liegen. Liest man die Bilder und Träume als Widerspiel eines Ausbruchs in eine querliegende Perspektivierung Österreichs und eines gewissenhaften Wiedereinscherens in ein geläufiges austriaphobes Klischee, erscheinen die Kehrtwendungen der „Bilder", am deutlichsten aber die „Träume" als literarischer Reintegrationsversuch einer 81 So ein bezeichnendes Aperçu Glaßbrenners in dem wichtigen poetologischen Heft „Puppenspiele" der Reihe „Berlin wie es ist - und trinkt." Ueding I, S. 144. 82 Vgl. Stern (Anm. 6), S. 74. 83 Den Klerus exiliert Glaßbrenners ständeintegrativer Wienmythos wiederholt. Vgl. etwa die bezeichnende Bemerkung über die Pfaffen im „Naderer"-Kapitel. : „...alle mischen sich friedlich untereinander! Freilich - von den Pfaffen zieht sich das Volk zurück, und die Pfaffen vom Volke - da sitze ich fest." BTW I, S. 152 ( = Ueding II, S. 364). Diese polemische Außensicht reicht bis zu direkten Anleihen an der karikaturesken Diktion Nicolais, etwa im Straßenbild „Das lärmende Wien" BTW I, S. 27 f ( = Ueding II, S. 503). 84 Wülfing (Anm. 8), S. 341 f. Die genannten Passagen des „Prater"-Kapitels BTW I, S. 91 f (Wachsfigurenkabinett, = Ueding II, S. 336), S. 102 f („Ampellied", = Ueding II, 342).

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randständigen Schriftstellerexistenz in den unterstellten, freilich längst in Differenzierungsnot befindlichen jungdeutschen Gruppendiskurs über Osterreich. 85

85 Zentral scheint mir dabei das ausgesprochen schwierige Verhältnis Glaßbrenners zu seinem ehemaligen Schulkameraden Gutzkow zu sein. Der über die akademische Bildung sozialisierte Gutzkow bleibt trotz seiner öffentlichen Kritik an der „raffinierten" Gemeinheit der Hefte Glaßbrenners, trotz seines dünkelhaften Verdikts über die unstudierten Journalherausgeber (vgl. Heinrich Jost, Anm. 37, S. 214, außerdem die versteckte Glaßbrenner-Rezension Gutzkows: Laubes neue Reisenovellen. In: Beurmann's Telegraph. Neueste Folge. No. 50, September 1837, S. hier S. 395 ff) und trotz der späteren Glaßbrennerschen Antikritik am „Gutzkow'sche(n) Haschee a la Iffland mit jungdeutscher Sauce" (zit. bei Heinrich· Jost, Anm. 37, S. 242) eine zentrale Orientierungsfigur der literarischen Produktion Glaßbrenners bis in den Nachmärz. Vgl. den Brief an Gutzkow vom 28. 6. 1836: „Wenn Du mir antwortest, so sage mir, ob Dir meine Bilder & Träume a. Wien gefallen haben, was gut, was schlecht, was ich zu vermeiden habe etc." Denkler (Anm.32) Bd. 3, S. 231.

Martina Lauster

Das Lüften des Schleiers : Gutzkows Wiener Eindrücke (1845) I. PROTESTANTISCHE ,BEWEGUNG' GEGEN

KATHOLISCHEN

,STILLSTAND' Seitdem Friedrich II. [...] den Zauber des österreichischen Namens für Deutschland zerstörte, seitdem (man lese nur Göthe's Jugendgeschichte) alles Kühne, Aufstrebende, Neuernde in Deutschland an den preußischen Namen sich knüpfte und Lessing seine Minna von Barnhelm schrieb, seitdem hatte Alles, was in Deutschland fortschreiten und sich bewegen wollte, für Preußen, Alles, was still stehen, für Osterreich Sympathie. 1 Diese Worte Gutzkows aus d e m Revolutionsjahr 1848 pointieren eine Osterreichkritik, die der Verfasser bereits drei Jahre zuvor in seinen Wiener Eindrücken geäußert hatte. Gutzkows Gesammelte Werke 2 waren i m ,Reich der Immobilität' daraufhin verboten, seine D r a m e n durften a m Burgtheater nicht gespielt werden, und über ihn selbst war ein Einreiseverbot verhängt. 3 Inoffiziell w u r d e gegen Gutzkow offenbar auch Politik gemacht, i n d e m die österreichische Regierung E x e m p l a r e der Wiener Eindrücke ankaufte und sie zu negativer Besprechung an Rezensenten der Augsburger Allgemeinen 1

Karl Gutzkow: Deutschland am Vorabend seines Falles oder seiner Größe. Hrsg. v. Walter Boehlich. Frankfurt / M.: Insel 1969, S. 52. Das Gegensatzpaar,Bewegung / Stillstand' findet sich explizit auch in den Wiener Eindrücken; hier mit Bezug auf Metternich: „Ein Volk, was sag' ich - fünf Völker Opfer der Consequenz eines Mannes, der nie eine eigene Idee hatte, nie eine große That sein nennen konnte und der sich die Politik durch ein ewiges Neinsagen so leicht gemacht hat, daß er freilich alle die Staatsmänner, welche seit 1815 strauchelten, weil sie sich bewegten, überragte, weil er stillstand" (Gesammelte Werke 3, [Aran. 2], S. 325; Hervorhebungen im Original).

2

Karl Gutzkow: Gesammelte Werke 1-13. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1845-1852. Alle Seitenangaben ohne Sigle beziehen sich auf Band 3 dieser Ausgabe, in dem die Wiener Eindrücke 1845 erschienen.

3

Vgl. Wolfgang Rasch: Bibliographie Karl Gutzkow 1-2. Bielefeld: Aisthesis 1998, 1: Primärliteratur, S. 42 (Abschn. ,Zensur'); 2: Sekundärliteratur, S. 160, Nr. 13/2.45.11.26 (Rezension der Wiener Eindrücke in der Bremer Zeitung mit Hinweis auf Sanktionen gegen Gutzkow).

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Zeitung verschenkte. 4 Diese größte Zeitung im Deutschen Bund verfolgte einen österreichfreundlichen Kurs 5 und war das wichtigste politische Organ auch in Osterreich. Die Maßnahmen gegen den preußischen Autor werden von der guten Gesellschaft Wiens mit Sicherheit begrüßt worden sein 6 , da Gutzkow sich keineswegs nur über Metternich, sondern auch über den Wiener Adel kritisch geäußert hatte. Es läßt sich vermuten, daß auch Teile der deutschsprachigen Intelligenz eine gewisse Schadenfreude über die Sanktionen empfanden, hatte Gutzkow doch die Habsburg-Dynastie mit ihrer zentralistischen Tradition zum Ursprung aller Übel erklärt. Am kontroversesten allerdings, und für eine Diskussion des Textes ergiebiger, scheint mir die kulturkritische Dimension von Gutzkows Schilderungen: Den Kern seiner Argumentation bildet nämlich eine Auseinandersetzung mit der Wiener ,Kultur der Freude', von der sich das politische Räsonnement herleitet und auf die es i m m e r wieder zurückführt. D e r Text verkörpert somit ein wichtiges Dokument im Zusammenhang mit d e m binnendeutschen NordSüd-Diskurs, den Harald Schmidts Beitrag zu diesem Band behandelt. Oberflächlich betrachtet, besteht die kulturkritische Auseinandersetzung in einer Abrechnung der norddeutsch-protestantischen, aufklärerisch fundierten ,Freiheit des Geistes' mit der süddeutsch-katholischen ,Beschränkung'. Gutzkow trägt dieses Klischee stellenweise dick auf, wobei er vor einer kräftigen Sympathieerklärung an Preußen nicht zurückschreckt: [...] in den meisten katholischen Landen erfaßt uns denn doch der Stolz, einem protestirenden Geschlechte anzugehören. Die Poesie des Katholicismus hört auf, wo die Beschränkung des Geistes [...] anfängt (278).

4 Vgl. Anmerkung des Herausgebers in Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Hrsg. v. Reinhold Gensei. Berlin u.a.: Bong & Co. (Hempels Goldene Klassiker-Bibliothek) o.J., Tl. 12, S. 273 (im folgenden zitiert mit Sigle G, Teil- und Seitenzahl). 5 Vgl. Harald Schmidt: Geschichte in Trümmern und Häuserverfall. Adalbert Stifters Großstadterzählung „Turmalin" (1853) und ihre Auseinandersetzung mit Dilettantismus, Vergessen und Melancholie. In: Vormärzliteratur in europäischer Perspektive III: Zwischen Daguerreotyp und Idee. Hrsg. v. Ian Hilton u. Martina Lauster. Bielefeld: Aisthesis (erscheint demnächst). 6

Die Reaktion von Graf Dietrichstein auf Gutzkows Werk war besonders negativ; siehe Genseis Kommentar (s. Anm. 4). Graf Dietrichstein war allerdings nicht Burgtheaterdirektor, sondern Oberstkämmerer und damit Oberster Hoftheaterdirektor; vgl. Franz Hadamowsky : Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (Geschichte der Stadt Wien 3). Wien: Jugend und Volk 1988, S. 261-263.

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Reisen und Inspektionen

Ist für die ursprünglichsten Rechte der Menschen nicht Preußen bei allem, was ihm vorzuwerfen wäre, doch ein Paradies und Osterreich ein Kerker [...]? (284). Es ist möglich, daß man [in Wien] eine gewisse Freiheit gestattet, die man nach der Anarchie der Fiaker Fiakerfreiheit nennen könnte. Aber wer wahrhaft geistig zu leben gewohnt ist, ein West-, ein Norddeutscher wird augenblicklich fühlen, daß ihm seine Gefühlsfaden aller Orten hier abgeschnitten werden (292).

Hinter der angeblichen Düpierung der norddeutschen, vom protestantischen Intellekt geprägten Sensibilität durch die chaotische Wiener Praxis des Durchwursteins steckt zu einem Großteil auch Gutzkows Unvermögen, sich der anderen Kultur zu öffnen, die er so plakativ als Gegenteil der eigenen hinstellt. In seiner Nestroy-Kritik z.B. äußert sich der preußische Puritaner, den es bei der anarchischen Freiheit witziger Zweideutigkeiten und fundamentaler Ironie fröstelt: Man denke sich die bis zum Giebel gefüllten Theater, besetzt von Handwerkern und ihren Frauen und Töchtern und sehe diese Gestikulationen, diese Mienen, höre diese Spaße, dieses Anwitzeln jeder überlieferten edlen Empfindung, diese zweideutigen Randglossen zu den Motiven von Tugend und Edelmuth . . . es überlief mich kalt, ein ganzes Volk so wiehern, Weiber lachen, Kinder klatschen zu sehen, wenn die Equivoque gezündet hat [...] (289).

Hinter dieser scheinbar völligen Abwertung der populären Wiener Vorstadtkomödie steckt aber ein gehöriges Maß an Ambivalenz. Hier spricht nicht nur das Unbehagen des Preußen vor südlichem Libertinismus, sondern auch das Dilemma des deutschen Kopfarbeiters, der Schwierigkeiten hat, sobald ihm diese Öffentlichkeit in großstädtisch-sinnlicher Form begegnet. Wie das Eingeständnis eines Mangels an Großstadterfahrung wirkt es denn auch, wenn Gutzkow es als das Ziel seiner Reise angibt, von Wien, „der großen Stadt", ja der ,,größte[n] deutsche[n] Stadt", „lernen" zu wollen (283). Ausgerechnet im fernen katholischen Südosten hat sich nämlich das entwickelt, was nirgendwo sonst im Deutschen Bund zu finden ist: die Kultur einer Metropole, in der von ,Stillstand' nicht die Rede sein kann. Neben Gutzkows politisch-moralischer Kritik läuft also ein anderer Darstellungsmodus einher, der dieses ,Lernen' von der Großstadt, vor allem von ihrem geselligen Leben, schildert. Verbunden damit wiederum stellt sich die ,nationale Frage'. Wenn das vergleichsweise provinzielle Berlin für Gutzkow die „Hauptstadt der Intelligenz" ist (G 11, 261), so besteht kein

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Zweifel, daß er der Stadt Wien die Rolle eines potentiellen deutschen Kulturzentrums zuerkennt. Der Duktus von Gutzkows Schrift läuft also der ostentativ dargestellten Überlegenheit des norddeutschen Intellekts in vieler Hinsicht zuwider. Ein nationalstaatliches Konzept wird hier vorgezeichnet, das die Metropole Wien und damit Deutschösterreich, aber nicht die nicht-deutschen Teile der Monarchie einbezieht. 7 So ist Gutzkows Kulturkritik viel komplexer, als dies das Schema protestantischer Geist' gegen ,katholische Sinnlichkeit' bzw. ,Bewegung' gegen ,Stillstand' nahelegt.

I I . E L E M E N T E VON G U T Z K O W S

KULTURKRITIK

Dem Berliner Autor geht es um zweierlei: erstens um den Aufweis eines doppelten Verdeckungsmechanismus, der einer Integration Deutschösterreichs in einen deutschen Nationalstaat entgegensteht; zweitens um den Erweis von Entwicklungen, die dieser Integration forderlich sind bzw. für einen deutschen Nationalstaat gewinnbringend wären. Die erstaunlich geringe Zahl politischer Schriftsteller West- und Norddeutschlands, die den fernen Habsburgerstaat überhaupt zur Kenntnis nehmen - so Gutzkow - beschäftige sich dennoch nicht mit dem ,wahren' Gesicht Wiens und Österreichs, da sie seinen kulturellen „Schleier" dafür hielten oder die Verhältnisse bewußt verschleierten : Ist es nicht eigen [...], daß unsre politische Literatur sich vorzugsweise mit den Fehlern beschäftigt, die uns Preußen, Bayern, Hannover zu machen scheinen, und diese österreichischen Zustände, diese tief eingreifende Durchwühlung Deutschlands durch Metternich und seine veraltete Politik, dies Alles wird mit geheimnißvollen Schleiern bedeckt, umgangen, ja von einigen Schriftstellern mit der Wiener Farbe der Freude und der Lustigkeit verdeckt! (284).

Zusätzlich dazu, daß er den ,externen' Blick deutscher Reisender trübt, wirkt sich diese ,Decke' der „Freude und der Lustigkeit" für Gutzkow aber auch innerösterreichisch aus, nämlich als Opium für die Bevölkerung. Im 7

Wie auch dann in Gutzkows Argumentation im Revolutionsjahr (s. Anm. 1), die auf einen Abschied von ,Osterreich' im Sinne des Vielvölkerstaates drängt, aber eine Eingliederung Wiens und der deutschsprachigen österreichischen Provinzen in den deutschen Nationalstaat befürwortet (S. 20-26, 50ff.).

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Verein mit Religion und Zensur lenke die Genußkultur von emanzipativen Bestrebungen ab und sorge für „ein heiteres Vegetiren" (291, Hervorhebungen im Original). Der Aufklärer Gutzkow also nimmt sich vor, diesen aus Unkenntnis, Tabuisierung und schönem Schein gewobenen Schleier, der einen Blick auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse Österreichs verhindert, zu lüften, d.h. die unbekannte Größe gewissermaßen dem norddeutschen Logos zu erschließen. Damit in engem Zusammenhang steht das zweite Element seiner Kulturkritik, nämlich die kritische Prüfung des österreichischen Modernisierungspotentials. Von hier aus ergibt sich auch eine Verbindung zu Gutzkows Reflexionen über moderne Kultur im allgemeinen, mit denen ich mich abschließend kurz beschäftigen werde.

II.l Das Lüften des Schleiers a) Sinnlicher Schein gegen politisches Räsonnement Die Wiener Eindrücke sind bewußt nicht als „Tageschronik" (283) verfaßt, sondern als Schrift, die den Leser politisch über Osterreich ins Bild setzen soll. Die Enthüllung der politischen ,Wahrheit' vom sinnlichen ,Schein' wird aber schon praktiziert, bevor der Text sich überhaupt mit Österreich und Wien beschäftigt. Gutzkow beginnt nämlich mit einer Schilderung seiner Anreise nach Wien. Die Funktion dieses ,Vorspanns' zu den Wiener Eindrücken ist es, die geographisch-kulturelle Ferne Wiens zugleich zu betonen und zu relativieren. Die ,andere' Kultur, die katholisch geprägte, sinnlich attraktivere, beginnt bereits südlich des Mains, in Nürnberg und Fürth: Frühlingsstimmung, Bierlokale, „schöne Judenmädchen" und ihre „orientalischen Jünglinge" auf den Straßen, die Mondnächte genießend (271 f.); ein Regensburger Gasthaus mit dem Neimen „Drei Helme", atmosphärische Erinnerungen an das Heilige Römische Reich, nochmals gutes Bier, bayrisches Militär und Gymnasialjugend, bei deren Sonntagnachmittagsvergnügungen dem Autor die Reichssentimentalität vergeht; der Anblick der (am Sonntag) geschlossenen „Convertiten- und Ultramontanen"-Verlagsbuchhhandlung Manz; eine zufallige Begegnung mit dem siebzigjährigen Bürgermeister von Würzburg, dem Juristen Professor Behr (seit Mitte der 30er Jahre wegen politisch mißliebiger Äußerungen bayerischer Staatsgefangener in Passau, aber seit 1842 ohne offizielle Begnadigung in Regensburg lebend), über dessen Haupt hinweg am Ende der Promenade König Ludwigs Walhalla in der Sonne leuchtet, was Gutzkow Anlaß zu einer Reflexion über das ,nahe Beieinanderstehen' der „Gegensätze unserer Zeit" gibt (272). Dann folgt, als krönender

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Abschluß des ,deutschen' Reiseteils, die Schilderung eines Besuchs dieses gerade seit zwei Jahren vollendeten Monuments. Die sinnlichen Reize werden mit zunehmender Entfernung von Frankfurt intensiver; den Reisenden umfängt eine zwar wiederholt als ,deutsch' bezeichnete, jedoch ,andere', betont als südländisch dargestellte Welt. Geradezu überschwenglich ist die Beschreibung des Eindrucks von der Walhalla, jenes ,majestätischen Tempels', der mit nichts in Berlin oder Paris, sondern nur mit der Schönheit Pästums und der Akropolis zu vergleichen sei, „würdig, ein Wallfahrtsort unseres Volkes zu sein, eine Zierde Deutschlands" (275). Aus dieser enormen Fallhöhe, sozusagen vom luftigen Felsen bei Donaustauf, gelangt der Text auf den Boden politischen Räsonnements, bzw., um die Leitmetapher des Textes aufzugreifen, der Schleier wird zum ersten Mal gelüftet. Der ,poetische Sinn' des Walhalla-Erbauers widerspreche dem „politisch gestimmten Zeitalter", nicht weil Gutzkow die Inhalte und Absichten der Walhalla als unpolitisch, sondern weil er sie als antiaufklärerisch betrachtet. Durch Verbannung des Urhebers deutscher Aufklärung, und das ist für alle Jungdeutschen einschließlich Heine der protestierende' Luther, aus dem „Reigen großer deutscher Männer" (ebd.) zeige sich die wahre Natur von König Ludwigs poetischem Katholizismus, der eben nicht,national', inklusiv, umfassend sei, sondern geographisch und politisch beschränkt. Daß der Bau dem deutschen Norden, dem „Heerde der Intelligenz" (276), auch tatsächlich den Rücken kehrt, indem die Fassade nach Süden blickt, ist für Gutzkow ein weiteres Indiz. Fazit: Mit der Walhalla habe Ludwig von Bayern kein „Pantheon der Nation" errichtet, wie er beansprucht, sondern die „Privatkapelle eines Einzelnen" (275), ein Monument seiner selbst als poetisch geneigter katholischer Fürst, dem die partizipatorischen Bewegungen des Zeitalters widerstreben. Dieses Räsonnement gegen die Öffentlichkeitshemmende, der nationalen Einigung im Weg stehende Kraft des Katholizismus dominiert dann in der Schilderung der Grenzüberfahrt im Donau-Dampfschiff. Der Intellekt des Reisenden sperrt sich geradezu dagegen, vom malerischen Reiz der Landschaft vereinnahmt' zu werden. Sie und ihre Klöster werden nur als traurige Zeugen einer Unterdrückung der Reformation und des „deutschen Genius" (278) beschrieben und interessanterweise mit dem ebenfalls katholischen Rheinland kontrastiert. Eine summarische Kritik an Österreichs gegenwärtiger ,frivoler Politik', in der die Religion als ,Beschönigung' gedankenloser Sklaverei' diene, und eine vorwegnehmende Beschreibung des ,Ekels', den der Protestant bei den „ewigen Kapellchen, [...] hölzernen Crucifixe[n] und [...] geklexten Votivtäfelchen" empfinde (278), scheint jede weitere Empfänglichkeit

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für die sinnlichen Reize des bereisten Landes auszuschließen und auch jede weitere intellektuelle Auseinandersetzung mit ihm überflüssig zu machen. Nun folgt aber eine Kehrtwendung: Die durch politische Kritik scheinbar erledigte Kultur Österreichs beginnt den Reisenden in einer Stadt, nämlich Linz, zu umfangen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Theater als Sphäre zwischen Sinnlichkeit und Kritik, in der der Dramatiker Gutzkow sich bespiegeln, sich zu Hause fühlen und am Ende - bei seiner Ankunft in Wien Zuflucht nehmen kann. Nach dem wirklichen Theaterbesuch in Linz werden das Gewitter, das bei der Ankunft aufzieht, die Überschwemmung einer Wiener Vorstadt und der Brand einer anderen mit etwas gezwungenem Witz als theatralischer Empfang des Dramatikers beschrieben; und dann folgt die gedrängte Beschreibung eines Bündels erster Großstadteindrücke, die sich den anfänglichen satirischen Deutungsversuchen (Brand als Revolution, Feuerwehr als Zensur) deutlich entziehen. Der Autor gibt zu, er sei nach der Ankunft im Hotel so überwältigt gewesen, daß er keine „Idee" mehr gehabt hätte, an die er sich „halten konnte". Wiederum bietet das Theater den Ausweg, diesmal nicht aus der Übermacht des Räsonnements, sondern aus der chaotischer Eindrücke. Selbstironisch bekennt der Verfasser: Hier [im Theater] war mein Asyl, hier könnt' ich mich sammeln, hier war eine Art Heimath. Die Elsler [sie] tanzte im Kärnthnerthortheater, Nestroy führte [...] an der Wieden eine neue Posse auf, es war mir aber Gewissenssache, zuerst das Burgtheater zu besuchen. Wir welüichen Leute haben auch unsre Religion (283).

Wo in der Flut der Eindrücke keine „Idee" mehr Anhaltspunkte bietet, erscheint die Theaterwelt als ordnende Instanz, mit deren Hilfe es sich in der Großstadt zurechtfinden läßt. Als „Religion" der „weltlichen Leute" besitzt sie außerdem eine bindende Kraft eigener Art, mit deren Hilfe das Fremde und das Eigene, Sinnlichkeit und Verstand, Religion und Weltlichkeit, und eben auch Süd und Nord zusammengebracht werden können. Zu Beginn der eigentlichen Schilderung der Eindrücke von Wien hat sich also schon herausgestellt, daß das Wiener Theater keineswegs eindeutig zur Sphäre sinnlicher Verschleierung des Politischen gerechnet werden kann. b) Das Opium der Scheinmodernisierung Der Bereich, in dem Gutzkow dem Theater allerdings anlastet, als bloßes Ventil politischer Unfreiheit und damit als Organ sittlicher „Verwilderung" (288) zu wirken, ist die Vorstadtkomödie. Hier werde ein Maß an morali-

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schem Libertinismus gewährt, das zu der Strenge der politisch-moralischen Zensur der innenstädtischen Theater in reziprokem Verhältnis stehe. Gutzkows puritanische Ablehnung vor allem der Nestroyschen Darstellungsweise wird also wie folgt Rationalisiert': Im Burgtheater darf kein Stück gegeben werden, das die königliche Würde von einer menschlichen Seite darstellt, Heinrich IV. von Shakespeare ist verboten [...]; aber Ehre, Liebe, Freundschaft, Sitte und Zucht, Kindererziehung, die ewigen Güter des Daseins dürfen in den Vorstadttheatern verspottet werden. Es stimmt dies vortrefflich zu einer Politik, die aus sybaritischer Genußsucht (Friedrich von Genzens [sie] Lebensprinzip!) das außerordentlich bequeme Princip der Stabilität gemacht hat (290, Hervorhebungen im Originell).

Im österreichischen Kontext sieht Gutzkow den Hedonismus also als Instrument der Staatserhaltung an, mithin als das genaue Gegenteil dessen, was er im jungdeutschen Kontext, z.B. in Gutzkows eigenem Roman Wally, die Zweiflerin, bedeutete: eine Haltung ,staatsgefährdender' Moralkritik. „Genußsucht" wird dann zum „Princip der Stabilität", wenn sie als aristokratisches „Lebensprinzip" unangetastet bleiben und zugleich als Kompensation politischer Unmündigkeit den Massen gestattet werden kann. Dabei entsteht sogar der Schein einer Abschaffung von Privilegien, wie überhaupt in der gesamten Vergnügungskultur Wiens, an der alle Gesellschaftsschichten teilhaben. „Selbst die untersten Klassen", bemerkt Gutzkow, erscheinen im Prater in ausgesuchter Balltoilette (288). Der Schein der demokratischen Modernisierung wird dadurch verstärkt, daß die Bedürfnisse aller großstädtischen Schichten nach Unterhaltung raffiniert geworden sind und eine wahre Vergnügungsindustrie sie massenhaft befriedigt; ein billiges, jedoch keineswegs preiswertes Vergnügen für jedermann. Dieselbe kulturgeschichtliche Entwicklung beobachtet Gutzkow zwar auch in Berlin, aber in Wien scheint sie ihm wohl politisch bedenklicher. Sie geht einher mit der rapiden Industrialisierung Österreichs, die, vom Staat aus Selbsterhaltungszwecken kräftig gefordert, den allgemeinen Wohlstand hebt und damit das intellektuelle Freiheitsbedürfnis dämpft. In einer das Schleiermotiv auf die ,Materie' anwendenden Passage heißt es : Man rühmt Österreichs materiellen Flor und es ist wahr, dem Dampf und den Elementen der Natur hat man jede Conzession gemacht. Eisenbahnen [...], Militärstraßen sind mit Muth und Ausdauer angelegt worden. Handel und Industrie breiten ihre Arme nach allen Richtungen aus. Der Strom des materiellen Lebens

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ist nirgends in ein beschränktes Bett zurückgedrängt w o r d e n . [...] Aber genügt dies materielle W o h l b e f i n d e n ? D e r Geist ist d e r Zweck des Daseins u n d d e m Geiste knicken sie die Flügel. Eine bunte, glitzernde Industrieausstellung löst die Räthsel des Daseins nicht. Diese Spiegel, diese Tapeten, diese Shawls u n d seidn e n Tücher bedecken nicht die ganze Fläche unserer Ahnungen, u n s e r e r W ü n sche, unserer tieferen Anschauungen (327f.).

Die Mitwirkung der Industrie bei der Erzeugung des wohlgefälligen Scheins führt nach Gutzkows Ansicht also dazu, daß sich der Schleier über den politischen Mißständen bis zur Undurchdringlichkeit verdichtet - Mißstände, die er vor allem im Bereich der Zensur, der Kontrolle von Publikationen aus dem deutschen ,Ausland' und der Schikanierung österreichischer Intellektueller drastisch schildert (vgl. bes. 299ff. u. 318ff.). Allerdings räumt er kurz und knapp ein, daß der glänzende „Flor" des Wohlstands doch einen erheblichen sichtbaren Riß hat, nämlich einerseits Armut, z.B. in Böhmen, andererseits bedenkliche „Intimität mit der Börsenwelt" aufseiten der stets in Finanznot befindlichen Regierung. Diese Misere werde auch im Lande selbst wahrgenommen, vor allem von der jüngeren Beamtenschaft, die versuche, „von unten auf den Weg der Reformen zu ebnen und anzubahnen" (327). Hier sieht Gutzkow offensichtlich einen wichtigen Hebel zur Modernisierung, der d e m vielleicht zu erwartenden Reformschub ,νοη oben' - durch eine weltläufigere und zugleich an den Josephinismus anknüpfende Generation innerhalb der Dynastie (vgl. 328f. u. 331) - , von der Basis des Verwaltungsapparats aus entgegenarbeitet.

II.2 M o d e r n i s i e r u n g s p o t e n t i a l Trotz dieses milden Optimismus wirkt die folgende hegelianisch-zuversichtliche Voraussage unvermittelt: Die Metternichsche Reaktion, die sich so eklatant dem allgemeinen „Fortschritt der Völker" widersetze, sei vom Gott der Geschichte und seinem „Weltplan" zum Untergang bestimmt (328). Die abschließenden Ausführungen zu den Modernisierungschancen, die ein von Dynastie, Adel und katholischer Geistlichkeit dominiertes System bietet, wecken allerdings wenig Hoffnung. Den größten Spielraum für fortschrittliche Politik scheint Gutzkow noch im Kaiserhaus selbst zu sehen; dessen jüngere Mitglieder, durch Weltreisen belehrt, hätten begonnen, von ihrer jahrhundertealten Politik dynastischer Abschottung gegen Forderungen vor allem der nichtdeutschen Völker Abstand zu n e h m e n ; denkbar

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scheint es, daß z.B. durch gewisse Zugeständnisse an Böhmen die alte „Sucht zum Centralisiren" (329) und damit der stärkste unpopuläre Faktor der Monarchie geschwächt wird. Wie der österreichischen Intelligenz, so gilt auch Gutzkow die Regierung Josephs II. als Modell für die Modernisierung ,νοη oben', deren das System potentiell fähig ist; allerdings auch als ein Reformversuch, dessen Radikalität sich durch einen heftigen konservativen Rückschlag gerächt habe. Nicht einmal ein heutiger Herrscher brauche oder könne gar in der Brüskierung des Adels und der Kirche so weit gehen wie Joseph. Stattdessen bedürfe es vielmehr der Anregung des ,Bürgergeistes', der Stärkung der „Säulen einer Monarchie", d.h. derjenigen Klassen, „die da arbeiten müssen, um zu leben" (351). Auf einen solchen aufgeklärten Anstoß durch einen Monarchen oder Staatsmann der nächsten Generation hoffend, beschließt Gutzkow wenig befriedigend seiner Wiener Eindrücke. Der Optimismus scheint aufgesetzt, durch nichts in der eigentlichen Kritik der Wiener Verhältnisse begründet und zudem in seiner gouvernementalen Perspektive eine bloße Bestätigung des zuvor kritisierten Prinzips der Bevormundung. Der Leser m u ß also zurückblättern, u m Hinweise darauf zu sammeln, daß eine „dem Zeitgeist feindliche Politik", die „ihre knöcherne Hand noch krampfhaft über d e m geistigen Leben ausgespannt hält", tatsächlich „vor ihrem baldigen Ende" steht (334). Der norddeutsch-hegelianische Z e i t geist', das ,geistige Leben', d e m auch die österreichische Regierung eines Tages nicht m e h r werde widerstehen können, m u ß also bereits irgendwo im Lande sein Wesen treiben. Daß er in den nicht-deutschsprachigen, auf nationale Autonomie drängenden Teilen der Monarchie besonders ausgeprägt ist, legt Gutzkow mehrfach nahe. Wo aber findet sich in dem ihn interessierenden deutschen Teil jener zukunftsweisende „Bürgergeist", auf den jede reformierende Politik ,νοη oben' angewiesen ist, wenn sie die Bastionen der Reaktion, Adel und Klerus, unterhöhlen will? Inwiefern ist die verschleiernde Kultur der Metropole Wien doch mit dem „Licht des Jahrhunderts" (ebd.) erleuchtet, und was könnte sie zu einem geeinten deutschen Nationalstaat beitragen? Bei der Beantwortung dieser Frage fallt es auf, daß Gutzkow einem zentralen Bestandteil der Kultur der Freude, nämlich dem Witz, eine emanzipatorische Funktion zuspricht. Mit Witz schlägt der eigentlich ,conservativ' geneigte Moritz Saphir das Zensursystem (und ab und zu eben auch den „Zeitgeist", was Gutzkow tautologisch findet, denn ,,[d]er Witz wird immer liberal sein" [316]). Mit Witz behauptet sich auch der bürgerliche Wiener

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gegen die kulturelle Exklusivität der Aristokratie, indem er z.B. jedermann' mit Adelstiteln versieht: Das Publikum fühlt die Last dieser gesellschaftlichen Prärogative [des Adels] und hilft sich dadurch, daß es Jedermann baronisirt, Jedermann zu adligen Gnaden erhebt. Das ist nicht Höflichkeit, wenn man in Osterreich alle Welt Herr von anredet, sondern Nothwehr. Es ist zu drückend, zu demüthigend, inmitten dieser allgemeinen Hochgeborenheit als ein Bürgerlicher aufzutreten. [...] Hätte der bürgerliche Wiener nicht seinen Witz, er bliebe in dem Gefühl, von dieser vornehmen Kaste zur Canaille gerechnet zu werden, ohne alles Gegengewicht (329f.).

Was als bürgerliche Anbiederung an den Adel erscheint, ist also in Wirklichkeit eine witzige Subversion aristokratischer Macht. Im Licht dieser Beobachtung könnte selbst das Fiakerwesen, das Gutzkow für eine der modernen Großstadt unangemessene, vorzivilisierte Einrichtung hält, als Domäne der gewitzten kleinbürgerlichen Selbstbehauptung erscheinen. Zwar äußert sich der Autor besonders verärgert über das Fehlen einer staatlich fixierten Taxe, das vor allem den Ortsunkundigen zum Opfer der ,Gaunerei' werden läßt, indem er den Fahrpreis jeweils erst aushandeln muß. Doch gibt die angebliche Scheu, diese „Anarchie" anzutasten, einen merkwürdigen Aufschluß über die ,moralische Kraft der österreichischen Regierung' gegenüber den gewieften Herren über das öffentliche Transportwesen (vgl. 285f.). Witz und Anarchie dienen also nicht nur zur ,Verschleierung' politischer Unmündigkeit, sondern wirken ihr in gewisser Weise - man könnte sagen, als Bestandteile einer ,Nischenkultur' - entgegen. Das Gepräge der Marginalisierung und Demütigung haftet ihr freilich eher an als das einer freien Bürgerkultur, und diese Beobachtung scheint Gutzkow besonders bezüglich der zeitgenössischen literarischen Kultur Österreichs zu machen. Intellektuelle führen eine Nischen- bzw. „Vorzimmer"-Existenz im aristokratisch beherrschten Leben der Wiener Gesellschaft: Es fehlen für die tüchtigsten Bestrebungen Anlehnungen und Mittelpunkte. Hier in Wien, wo man nur Werth hat durch seine Geburt, bemerkt man nirgends, daß irgend eine bedeutende intellektuelle Kraft, etwa wie in Berlin Alexander von Humboldt, einen Ausschlag geben, ein Gewicht in die Waagschale der öffentlichen Meinung legen könnte. Die Aristokratie empfangt und die Wissenschaft steht im Vorzimmer (310).

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Ein Gegenstück, so wird angedeutet, hätte Alexander v. Humboldt vielleicht doch in den sozial hochstehenden Literaten Ladislaus Pyrker und Graf Auersperg (Anastasius Grün), besonders aber in Hammer-Purgstall; der Einfluß selbst dieses gesellschaftlich wie wissenschaftlich prominenten, weltberühmten Gelehrten prallt jedoch an Metternichs aristokratischer Machtpolitik ab. Die intellektuelle Welt Wiens hat keine Möglichkeit, sich etwa im Rahmen einer akademischen Öffentlichkeit zu institutionalisieren8, sondern bleibt auf „Kaffeehäuser", den „kaufmännischen" und den „juridischen Verein" (291) und letztlich auf den privaten Raum beschränkt: „Die Stelldicheins des Geistes finden nur bei einigen wissenschaftlichen Berühmtheiten und einigen reichen Kaufleuten statt" (310). Redefreiheit und Unterhaltungen selbst über verbotene Bücher sind in diesem Rahmen zwar gestattet, aber diese Freiheit im Kleinen hat zu deutlich den Charakter einer Ersatzfunktion, um Gutzkow zu überzeugen. Außerdem sind diese Nischen der Liberalität gefährlich, denn: die geheime Polizei [ist] schwerlich eine Mythe [...]. Das ist der Fluch der Zwitterzustände, daß man dem Freunde nicht traut. [...] Wer kann wissen, wer hinter diesen liberalen Versicherungen mancher sich uns vorstellender neuer Bekannten steckt? Wovon lebt jener liberale Schwätzer, wovon dieser junge Lyriker, der den Mißvergnügten spielt? Man lese manche Stellen im Tacitus, es ist, als hätte der antike Geschichtsforscher Wien gekannt (292).

Auf offizieller Ebene bezieht die Stadt substantielle politische Information nur aus dem ,deutschen Ausland', da die ,stoffarmen' Wiener Zeitungen sich vorwiegend mit Theater und Konzerten befassen. Hier spielt die Augsburger Allgemeine Zeitung mit ihrer „auf Osterreich vorzugsweise berechneten und darum imposanten Wirkung" die wichtigste Rolle (291). Aufgrund ihres beschränkten öffentlichen Spielraums, meint Gutzkow, mangele es der österreichischen Literatur auch dermaßen an Selbstbewußtsein, daß sie sich in „eine rührende Abhängigkeit [...] vom Urtheil des deutschen ,Auslandes'" begeben habe und sich selbst verachte:

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Zur Verdeutlichung des beschränkten Wirkungskreises selbst Hammer-Purgstalls erwähnt Gutzkow dessen Plan einer Akademie, der jedoch a m Widerstand Metternichs scheiterte: „eine Akademie [hätte] in Wien der Intelligenz ein kleines Gegengewicht gegen die Aristokratie [...] geben können und dies wäre völlig gegen die Absicht dieser geistreichen Anomalie des neunzehnten Jahrhunderts, die man die Politik des Fürsten Metternich zu nennen pflegt" (311).

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Die tüchtigsten Kräfte stehen hier nicht fest auf ihren Füßen. Ihre Werke, mit der Firma Wien gedruckt, widern sie selbst an; Alles, was aus Osterreich kommt, scheint ihnen dem Untergange geweiht (311).

Parallel zur Beschreibung der Marginalisierung der Wiener Intelligenz und daher nicht ohne weiteres offensichtlich, liefert Gutzkow aber eine positive Darstellung, die im Hinblick auf die Modernisierungschancen Österreichs, gerade von Gutzkows eigenem Standpunkt als Journalist, Dramatiker und Kämpfer um Öffentlichkeit, größte Bedeutung hat: Durch extreme Schikanierung von oben habe sich unter Dichtern und Kritikern ein viel ausgeprägteres Bewußtstein vom Wert der Literatur entwickelt als bei ihren Pendants in Deutschland - wenn dies auch aus Mangel an Status keine poetisch oder wissenschaftlich dauerhaften Erzeugnisse und für Gutzkows unlyrischen Geschmack etwas zu blumige Ausdrucksweisen mit sich bringt (vgl. 311) - , zudem aber ein unpedantischer, von jedem Wissenschaftsdünkel freier, solidarischer Stil der Kritik (vgl. 310). Und Solidarität, ein „breiteste[r] Konsens" 9 beim Eintreten für Prinzipien einer literarischen Öffentlichkeit, ist das Kennzeichen der österreichischen Intelligenz, das Gutzkow in Unterscheidung vom Konkurrenzdruck des deutschen Literaturbetriebs ganz besonders lobend hervorhebt. Die Abwesenheit einer auch bei Hofe gewichtigen, mittelpunktbildenden Stimme wie der Alexander v. Humboldts, also ein gewisser Dezentraiismus, mag sich unter der Hand ebenfalls eher als Vorteil für das Zusammenhalten verschiedenster gebildeter Kreise erweisen, die viel weiter gespannt sind als die im Norden für das Projekt Öffentlichkeit' arbeitenden Schriftsteller-, Journalisten- und Kritikerzirkel Jungdeutschlands. Um dem Leser einen Einblick in die breite soziale und politische Streuung derjenigen zu geben, die in Österreich für eine Liberalisierung der literarischen Öffentlichkeit und damit nolens volens als Opposition auftreten, listet Gutzkow sämtliche Unterzeichner von Bauernfelds moderater, gerade abgewiesener Zensurpetition auf, die von Regierungsseite „wie eine Emeute behandelt" worden sei (318). Der Katalog der Unterzeichner wird, wo möglich und sinnvoll, von Gutzkow mit biographischen Anmerkungen gefüllt, so daß eine Art ,Who is who' der ,Meuterer' 9

Hubert Lengauer: Ästhetik und liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österreichischen Literatur um 1848. Wien: Böhlau 1989, S. 45. D i e zentrale Forderung der ,,kompromißbereite[n]" Zensurpetition wird dort wie folgt beschrieben: „Beseitigung des irrationalen M o m e n t s in der praktizierten Z e n s u r durch Publikation und damit öffentliche Kontrolle des Zensurgesetzes."

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entsteht. Der (nord)deutsche Leser muß erstaunen, außer den direkt von der Zensur betroffenen, ohnehin meist der liberalen Opposition angehörenden Berufsliteraten bzw. Publizisten auch den ,Archiv-Direktor' und ,resignierten' Grillparzer, den „Maler mit dem Pinsel und der Feder, ein seltnes Talent für gemiithliches Still-Leben", nämlich Stifter (316), und den greisen Castelli, „ganz der Ausdruck des treuherzigen Wieners" (314), vor allem aber z.B. folgende Personen zu finden: A. von Ettingshausen, der berühmte Physiker. [...] A. Baumgartner. Fr. von Feuchtersieben. Otto Prechtler. C.L. von Littrow. A. Schrötter. Fast alles Angestellte, die den Muth hatten, ihre eigne Regierung auf ihre Gebrechen aufmerksam zu machen. Selbst wenn es wahr wäre, daß von den Unterzeichnern mancher sich später beim Polizeiminister entschuldigte, so beweist doch die Nothwendigkeit, diese Gebrechen anerkennen zu müssen, die zwingende Macht der öffentlichen Meinung. [...] Hofrath Jenuli, ein gefeierter Jurist, in dessen Beitritt zur Petition eine moralische Kraft lag. [...] Fürst Friedrich von Schwarzenberg. der vielgereiste, ritterliche Paladin, dessen lebensvolle Sitten- und Völkerschilderungen leider nur als Manuscripte gedruckt sind. [...] Joseph Baron Zedlitz. Den gefeierten Dichter der „Todtenkränze", der bisher zu außerordentlichen Diensten von der Staatskanzlei verwendet wurde, gleichfalls unter den Protestirenden zu erblicken, hat allgemein überrascht. Man kann an diesem Widerspruche nur in der That die mathematische Nothwendigkeit einer Censurreform erblicken (512-315).

Die bescheidenen Forderungen der Petition an sich sind für Gutzkow nicht das Ausschlaggebende, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit der Wiener Intelligenz, über beträchtliche politische, statusmäßige und persönliche Differenzen und selbst ihre Staatstreue hinweg eine Ubereinstimmung im öffentlichen Gestus des ,Protestirens' zu erreichen. Gerade eine solche Bündelung der ,intellektuellen Kräfte' im Dienste einer nationalen Staatsbürgerkultur ist Gutzkows eigenes Ziel, gescheitert im Projekt der Deutschen Revue, erneuert auf schmalerer Basis in seiner publizistischen Tätigkeit der späteren dreißiger und frühen vierziger Jahre. Es besteht kein Zweifel, daß Gutzkow in der „Einigkeit und Gesinnung unter den verschiedenartigsten intellektuellen Kräften der Kaiserstadt" (311f.) ein Vorbild und einen wertvollen Beitrag zu einer aufklärerisch geprägten Nationalkultur sieht, und eine treibende Kraft in Richtung des unaufhaltsamen Fortschritts, den er am Schluß der Schrift beschwört.

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Seit Beginn der vierziger Jahre als Dramatiker und ab 1846 als Dramaturg in Dresden tätig, bemüht sich Gutzkow auf lokaler und nationaler Ebene um die Schaffung von Rahmenbedingungen öffentlichen Wirkens durch die Bühne. Das Wiener Theaterleben stellt diese Bedingungen auf unvergleichliche Weise zur Verfügung. Als nationale Institution ist „Deutschlands Musterbühne", das Burgtheater (297), allerdings - ähnlich der Walhalla - nur potentiell wirksam, da es durch eine geradezu lächerlich pedantische Zensur alles Historisch-Politischen keine zeitgemäße öffentliche Bildung, sondern aristokratische Exklusivität kultiviert. Seinem Leiter, Graf Dietrichstein, bescheinigt Gutzkow zwar keine Vorliebe für das unpolitisch ,Frivole', aber doch genug Konservativismus, um eine Rückkehr zum ,Trochäen- und Jambenstil' von Grillparzers und Zedlitz' Trauerspielen anzustreben und „die neuern dramatischen Entwickelungen" zu unterdrücken (508f.). Dabei sind die Wirkungsmöglichkeiten für eben solche „Entwickelungen" in einer Publikumsstadt wie Wien hundertfach potenziert, wo ein theatersüchtiges „Volk" neuen Dramatikern ihre ästhetischen Schwächen gern nachsieht: Diese Wiener Theater [...]! Wie das Volk ihnen zuströmt! Wie feurig der Beifall! Wie linde das Urtheil! Wie schonend die Zeichen des Tadels! [...] Ein neues Stück bewegt die ganze Bevölkerung. Die Erfolge sind belohnend; scheiternde Versuche werden dem Autor nicht nachgetragen, wenn er später Besseres liefert (293).

Den einzigen, allerdings schwerwiegenden Grund, warum das Wiener Theater unter diesen idealen Bedingungen nicht wie im 18. Jahrhundert als aufklärerisches nationales Forum wirken könne, sieht Gutzkow in der Tatsache, daß Zensur und höfische Bevormundung es um seine politische, und das bedeutet auch ,nationale', Dimension berauben. Wenn er nationalistische Töne anschlägt und z.B. das Burgtheater gern als „Burg des Geschmacks" sähe, „eines Walles gegen fremdländische Nachahmung und heimische Entartung", bei dessen „Aufbau" es „eine Freude" wäre, „Hand mit anlegen zu dürfen" (293), ist dies weniger als Abwehr ausländischer oder sonstiger für ,undeutsch' gehaltener Einflüsse zu werten denn als Wunsch, bei der Politisierung eines inhaltslosen Vakuums, des ,kulturellen Schleiers' also, mitzuwirken. Und am schließlichen Gelingen dieses Unternehmens kann für Gutzkow kein Zeifel bestehen. Gerade der Charakter des Burgtheaters als großstädtische Institution, ..die täglich Schauspiele gibt"

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(298, Hervorhebung im Original) und auf dramatische Talente angewiesen ist, ermöglicht es auch gewissen kritischen, ,neueren' Dramatikern wie Bauernfeld, zur Institution zu werden, wenn sie das Publikum auf ihrer Seite haben - eine Situation, von der der dramatische ,Neuerer' Gutzkow in Deutschland nur träumen kann. Bauernfelds ,,edle[n] Wein kann die Censur nicht u m seine Gährungen bringen", denn sein „großes dramatisches Talent ist eine zu wesentliche Stütze des Burgtheaters, als daß man es ganz mit ihm verderben kann" (312). Die Beschreibung von Bauernfelds Der deutsche Krieger, in dem das Prinzip der veralteten „Büreaukratie" und das der modernen „That", „die Unterwürfigkeit unter den knöchernen Buchstaben und der stolze Muth des sich selbst Gesetze vorschreibenden edlen Willens", kurz: „die Feder und das Schwert" gegeneinandergestellt werden (ebd.), klingt wie eine Kurzdarstellung von Gutzkows eigenem Stück Zopfund Schwert. Im Unterschied zu Bauernfelds Drama, das unzensiert am Burgtheater gespielt wurde, konnte Zopf und Schwert jedoch nicht an Ort und Stelle seiner kritischen Bezüge, in Berlin, uraufgeführt werden, und schon gar nicht am dortigen Königlichen Schauspielhaus. In Wien kam es erst nach der 48er Revolution auf die Bühne des Theaters an der Wien, schließlich auch auf die des Burgtheaters, von der es aber 1866 wieder abgesetzt wurde. Gutzkows Wiener Besuch im Jahre 1845 geschieht mit Sicherheit auch in eigenen theaterpolitischen Angelegenheiten. Die ,Enthüllung' nicht nur der ,verschleiernden', sondern auch der potentiell wegweisenden Funktion der kulturellen Öffentlichkeit Wiens erweist sich allerdings in beiden Fällen als ungeeignetes Mittel, um seine Sache zu fördern. Der gesamte Bereich der Wiener Geselligkeit, den Gutzkow immer wieder bewundernd erwähnt, die ,belebte Tageschronik' der Großstadt (vgl. 291), die Kultiviertheit des Umgangs, die südländische Opulenz der Bewirtung und der Pariser bzw. Mailänder Luxus der Einrichtungen (vgl. 285), verweisen auf die Doppelnatur des kulturellen ,Schleiers'. Die entpolitisierte kulturelle Öffentlichkeit Wiens ist durch ihre reine großstädtische Kommunikationsdichte, ihr intellektuelles und geschmackliches Niveau und ihren klassenübergreifenden Charakter an sich schon ein emanzipatives Politikum. Daß, wie schon in anderem Kontext zitiert, ,ein ganzes Volk', d.h. auch die weniger gebildete Schicht, ins Theater geht, und daß selbst Handwerker mitsamt Frauen und Kindern in die Finessen jenes höchst entwickelten Kulturphänomens, des Witzes, eingeweiht sind, zeigt diesen prinzipiell politischen Charakter der scheinbar auf Kultur beschränkten Öffent-

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lichkeit der Metropole. Da politische (und das bedeutet immer auch: nationale) Inhalte gewaltsam von ihr ferngehalten werden, ist es für Gutzkow nur noch eine Frage der Zeit, bis diese höchst entwickelte Form der Geselligkeit sich auch die ihr entsprechenden Inhalte verschaßt und damit zur nationalen Kulturmetropole werden kann. Diese Lesart, die auf das zuversichtliche Ende des Textes hinfuhrt, muß diesem aber in vieler Hinsicht gegen den Strich abgewonnen werden.

I I I . PROTESTANTISMUSKRITIK UND R E F L E X I O N E N MODERNE

ÜBER

KULTUR

Die Kultur der Freude, des Genusses, des Witzes und der Geselligkeit erscheint in den Wiener Eindrücken also als Doppelgesicht politischer Unterdrückung; als vom Politischen abgehobene Sphäre, die aber auf jeden Fall eine politische Funktion ausübt, sei sie affirmativ oder emanzipativ. Das Politische ist die ,Wahrheit', auf die der aufklärerische, entschleiernde Gestus der Schrift immer wieder hindeutet. Es ist nun interessant festzustellen, daß sich beim späteren Gutzkow dieses Verhältnis zwischen Wahrheit, d.h. Politik, und Schleier, d.h. vor allem sinnlicher Kultur, zugunsten des Schleiers verschiebt. Das heißt nicht, daß der Anspruch auf politische Wahrheit' sich verringert, sondern daß diese Wahrheit sich durch den Schleier der Kultur selbst mitteilt, sozusagen als verbergendes Enthüllen. Um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen, die kulturelle Dichotomie Protestantismus Katholizismus, könnte man sagen, daß das ,Katholische' dem späteren, nachmärzlichen Gutzkow geradezu zum Inbegriff dieses verbergenden Enthüllens wird. Der Zauberer von Rom (1858-1861) - ein neunbändiger Roman, der ursprünglich Der römische Zauber heißen sollte10 - beleuchtet durch die facettenreiche Darstellung der katholisch geprägten Kultur des Rheinlandes und der Anziehungskraft ultramontaner Bewegungen indirekt die politische Wahrheit, nämlich das Versagen des Protestantismus, d.h. Preußens, als integrativer Kraft auf dem Weg zur nationalen Einigung. Es ist also nicht nachmärzliche Resignation, sondern im Gegenteil prononcierte Preußen- und Protestantismuskritik, die Gutzkow veranlaßt, den katholischen Schleier zum Vorscheinen der Wahrheit zu benutzen. Oder den Schleier der Sinnlichkeit, und dies nirgends drastischer als in der Beschreibung eines populären Balletts mit dem Titel Satanella im Berlin der fünfziger Jahre :

Das Lüften des Schleiers: Gutzkows Wiener

Eindrücke

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Dieser Marie Taglioni [Tänzerin der Titelrolle] sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre Himmel des Publikums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild als Göttin der Wahrheit. [...] Dieser kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen [...] ist das enfant chérie des Berliner Balletts, und das Berliner Ballett ist das enfant chéri der Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. [...] Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere Mission - was ist das alles gegen einen Sonntagabend, wenn Berlin in „Satanella" seine wahre Physiognomie zeigt! [...] Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte Berliner, in der Treibhauswärme der speziellsten, Königlich Preußischen Haustraditionen großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen ! O so werft doch, ihr besternten Herren, eure Masken ab ! Verratet doch nur, daß euer Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands, und daß nicht etwa hier der Kultus des Schönen, sondern draußen euer offizielles System eine Komödie ist! (Gil, 272f.) Hier hat sich das Verhältnis von Wahrheit und Schleier gegenüber den Wiener Eindrücken genau umgekehrt. Die Sinnlichkeit auf der Bühne enthüllt die Unfreiheit draußen, statt sie zu verhüllen; sie demaskiert das religiös ummäntelte politische Geschehen als Komödie unterdrückter Sinnlichkeit. Durch den enthüllenden Schleier des Südlichen scheint aber noch mehr auf als die Heuchelei nachmärzlich-protestantischer Politik, nämlich ein modernes Kulturproblem, das Gutzkow am Schluß seiner Woche in Berlin andeutet. Das frivole Ballett Satanella und das diakonissengeleitete Krankenhaus Bethanien, die beiden Extreme entfesselter Sinnlichkeit und herrnhuterischer Nächstenliebe, umspannen das Spektrum der Großstadterfahrung, das Gutzkow auf die Formel eines zeittypischen Leidens an unversöhnlichen Widersprüchen bringt, nämlich: „daß [...] in unserer Zeit überhaupt [...] noch mehr Menschen krank sind, als die da offen eingestehen, des Arztes bedürftig zu sein" (283). Daß die Metropole Wien und der Weg dorthin diese enthüllende Erfahrung von den Grenzen des politischen Logos bereits vermittelten, durfte im Vormärz wohl noch nicht,offen eingestanden' werden. 10 Vgl. Wolfgang Rasch (Hg.): „Ihm war nichts fest und alles problematisch". Karl Frenzeis Erinnerungen an Karl Gutzkow. Mit einigen ungedruckten Briefen Gutzkows an Frenzel. Bargfeld 1994, S. 17.

Christian Soboth

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Alexander von Ungern-Sternbergs Ein Fasching in Wien (1851) I. Keine drei Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Revolution am 51. Oktober 1848 besucht - zur Faschingszeit - der russische Freiherr, Schriftsteller und ehemalige Mitarbeiter der konservativen preußischen Kreuzzeitung sowie vom russischen Zaren beauftragte Beobachter der Frankfurter Nationalversammlung und des Erfurter Parlaments die noch immer von den kaiserlichen Truppen besetzte Hauptstadt der k.u.k. Monarchie. Daß der Fasching bereits wenige Monate nach Ungern-Sternbergs Wien-Besuch in Buchform vorliegt, wird thematisch begründet, ästhetisch-poetologisch reflektiert, in die Form aufgenommen und schließlich didaktisch gewendet. Aufgabe des Buches ist es, „ein Bild der Gesellschaft zu geben, wie sie sich in den gegenwärtigen Zuständen der socialen Gruppierungen unserer civilisirten Welt darstellt." (CB 21f.)' Da erstens vielleicht „bald schon wieder die Dämonen sich eilen die Welt in Brand [zu] stecken" (FW l)2, muß Ungern-Sternberg schneller sein und reist - nicht ohne Bedauern, statt wie Goethe zu Fuß und Yorick in der Postkutsche - mit der Eisenbahn. Daß er für sein Vorhaben die Faschingszeit wählt, begründet Ungern-Sternberg mit der „uralthergebrachte[n] Sitte, daß sich in ihr die Gesellschaftsschichten, um deren Leben und Treiben es sich hier handelt, auf einige Wochen zusammenfinden." (CB 22) Er entscheidet sich für eine Ausnahmesituation und weckt so Erwartungen, die aber nicht erfüllt werden. Weder tritt die erwartete Entdifferenzierung ein : Volk, Bürgertum und Aristokratie bleiben unter sich, an ihren „Vereinigungsorte [n]" (FW 162), in „gemüthlicher Umschränkung" (FW 154). Noch stimmt, wie und was Ungern-Sternberg berichtet, sonderlich heiter. Weder bedient er sich eines karnevalesk-turbu1 2

Alexander von Ungern-Sternberg: Ein Carneval in Berlin. Leipzig: F.A. Brockhaus 1852. Im fortlaufenden Text zitiert als CB mit Seite. Alexander von Ungern-Sternberg: Ein Fasching in Wien. W i e n : Jasper, Hügel & Manz 1851. Im fortlaufenden Text zitiert als F W mit Seite.

Alexander von Ungern-Sternbergs Ein Fasching

in Wien

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lenten Erzählens, verwendet Masken oder unterschiedliche Töne, noch weiß er von außergewöhnlichen Festivitäten oder gar von Ausschweifungen zu berichten. Wien feiert, aber - und das insbesondere in den besseren Kreisen - Wien feiert jeden Tag. Da zweitens die Welt einem Panorama, einer Laterna magica und einem Kaleidoskop mit rasch wechselnden Bildern und einem Schauspiel mit überraschenden Handlungsumschwüngen und schnellen Auf- und Abgängen des Personals verglichen wird (FW 42), muß Ungern-Sternberg, statt wie vor 1848 Zeit-Romane zu schreiben, zur vormärzlich-jungdeutschen Tagesschriftstellerei greifen. Da drittens UngernSternberg ein Ab-Bild der Gesellschaft geben will, vergleicht er sein journalistisch-feuilletonistisches Schreiben am, vom und für den Tag, statt mit einem Gemälde, mit der ,,flüchtig[en], nicht nachlässigen]" Skizze (CB 27, vgl. FW 190) und der Daguerrotypie. Und da schließlich viertens UngernSterberg hofft, vom „Anschein der Oberfläche zur „Erscheinung der >Tiefe