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German Pages [642] Year 2010
LATEINAMERIKANISCHE FORSCHUNGEN Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas
Herausgegeben von
Silke Hensel, Ulrich Mücke, Renate Pieper, Barbara Potthast Begründet von
Richard Konetzke (†) und Hermann Kellenbenz (†) Fortgeführt von
Günter Kahle (†), Hans-Joachim König, Horst Pietschmann, Hans Pohl, Peer Schmidt (†)
Band 37
Verfassungskultur in Michoacán (Mexiko) Ringen um Ordnung und Souveränität im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen
von
Sebastian Dorsch
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Constitucion Politica del Estado de Michoacan, Sancionada por su Congreso Constituyente en 19 de Julio de 1825, Mexico: Imprenta de la Aguila 1825, Titelblatt.
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20632-1
In memoriam Peer Schmidt (1958-2009)
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Karten, Abbildungen und Tabellen Abkürzungsverzeichnis Vorwort Einleitung Michoacán: Naturräumliche, demographische und ökonomische Skizze
X XI XIII 1 22
TEIL I: VERFASSUNGSKULTUR MICHOACÁNS IM ANTIGUO RÉGIMEN A. DIE KRISE VON REPRÄSENTATION UND KONSTITUTION: MICHOACÁNS ELITE AM ENDE DER KOLONIALZEIT (CA.1767-1821) I. Die koloniale Verfassung in Neu-Spanien und Michoacán a. Die frühkoloniale Verwaltungs- und Verfassungsordnung b. Die bourbonischen Reformen und die Einführung des Intendantensystems in Michoacán II. Die Ausbildung einer spätkolonialen Verfassungskultur und die neue Elite Michoacáns a. Die Reformpolitik gegenüber den Repúblicas de indios b. Kirche und Religion in Michoacán c. Die Herausbildung einer regionalen Elite in den Repúblicas de españoles III. Die hispanische Verfassungsrevolution (1808-1812) und Bürgerkrieg in Michoacán (1810-1821) a. Wachsende Krisenstimmung am Ende der Kolonialzeit b. Die Kulmination der Krise (1808-1810) c. Die hispanische Verfassungsrevolution (1810-1812) d. Die Verfassung von Cádiz 1812 e. Der Zusammenbruch der hispanischen Verfassungsordnung: Bürgerkrieg und Kommunalisierung in Michoacán (1810-1821) IV. Das Ende der hispanischen Verfassungsordnung: Die Unabhängigkeit Mexikos 1821
35 36 36 42 51 52 55 61 75 75 79 89 93 105 121
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Inhaltsverzeichnis
TEIL II: DIE KONSTITUANTE UND DIE VERFASSUNG VON 1825 B. DIE GRUNDLEGUNG DER VERFASSUNG MICHOACÁNS VON 1825 I. Die Verfassung der Estados Unidos Mexicanos von 1824 II. Die Väter der Verfassung von Michoacán III. Der Weg zur Verfassung von 1825 und ihr Aufbau IV. Ziele und Legitimation der Verfassung a. Die Verfassung – ein Organisationsstatut? b. Verfassungsauftrag zwischen Gott und souveränem Volk c. Die Gründung des Estado libre federado de Michoacán V. Die Ordnung der Gesellschaft a. Menschenpflichten und Menschenrechte b. Staatsbürgerschaft und Naturaleza
137 138 146 151 159 160 164 175 181 182 189
C. DIE KONSTITUIERUNG DER NEUEN STAATSGEWALTEN I. Die Gewaltenteilung: Der Kongress als Ersatz-Monarch a. Volksvertretung gegen exekutive Privilegien b. Die Aufgaben des Poder judicial: Der Aufbau des Rechtsstaates II. Auseinandersetzung um eine zentral gesteuerte Verwaltung a. Die Organisation des Territoriums b. Staatlicher Verwaltungsapparat gegen Kommunalismus c. Aufgaben der Verwaltung zwischen Ruhe, Ordnung und Zivilisation III. Zwischenresümee: Michoacáns Verfassung im Horizont des atlantischen Frühkonstitutionalismus
213 214 218 239 256 258 263 277 282
TEIL III: DER KONGRESS UND DAS VOLK IN DER ERSTEN FÖDERALEN REPUBLIK (1824-1835) D. DIE WAHL DER ABGEORDNETEN ALS ASYMMETRISCHE VERTRAUENSBEZIEHUNG I. Prosopographie der Abgeordneten und Überblick über die Legislaturperioden a. Prosopographie der Abgeordneten (1822-1835) b. Michoacán bis 1835: Entstehung einer Zivilgesellschaft, Resistenzen gegen und Unterstützung für den Kongress II. Das aktive und passive Wahlrecht a. Das repräsentierte Volk b. Die aktive Wahlberechtigung c. Das passive Wahlrecht III. Vertrauensbildung durch Reform des Verfahrens? a. Das Verfahren nach dem Wahlgesetz von 1825
297 297 297 302 322 327 333 336 344 345
Inhaltsverzeichnis
b. Wahlpraktiken und deren Perzeption durch die Gesetzgeber c. Die Stärkung des Individuums und des Kongresses in den Reformen des Wahlrechts E. PARLAMENTARISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK: DIE IDEALISIERUNG DES STAATSBÜRGERS IN DER GESELLSCHAFT I. Das ideale Gesellschaftsmitglied a. Die Vagabunden als „Motte der Gesellschaft“ b. Die unmündigen und ignoranten Pueblos Exkurs: Die Indigenen als besonderer Teil des Ganzen c. Die guten, verantwortungsbewussten Staatsbürger – die Hombres de bien II. Das natürliche und das inszenierte Gesellschaftsideal a. Das Ideal der natürlichen Familia michoacana b. Die gefeierte und inszenierte nationale Opfergemeinschaft F. PARLAMENTARISCHE INSZENIERUNG: „WIE ES EIN VATER SEINEN KINDERN ERKLÄRT ...“ I. Der interne Auftritt: Der Kongress als kritisch miteinander umgehender Cuerpo colegiado II. Der persönliche Auftritt der Abgeordneten: Die zwei Körper des Kongresses a. Der Kontakt mit Nicht-Parlamentariern im Kongress b. Der Auftritt der Parlamentarier nach außen III. Der Palacio del congreso zwischen Repräsentativität und Funktionalität IV. Die schriftliche Inszenierung des Kongresses a. Die Präsentation der Gesetze und der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur (Druckerei- und Postwesen) b. Die Präsentation der Parlamentsprotokolle in der Zeitung: „Die Uniformierung der öffentlichen Meinung“ G. RESÜMEE: DIE ERRICHTUNG EINES „GOVERNMENT OF INSTITUTIONS, NOT OF MEN“ UND DER KONGRESS ALS ERSATZMONARCH Anhang I – V Archiv- und Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Register
IX 357 370 390 391 393 397 399 416 421 422 431 463 466 484 484 495 511 524 525 543
563 575 595 598 630
Verzeichnis der Karten, Abbildungen und Tabellen
Michoacán in Mexiko Die Regionen Michoacáns Neu-Spanien nach Einführung der Intendencias Die Vereinigten Mexikanischen Staaten nach der Constitución federal (1824) Politische Verfassung des Föderierten Freistaates von Michoacán Die territoriale Gliederung Michoacáns Graphik Adler auf Kaktus Stempel „Estado de Michoacan“ Stadtplan von Valladolid (um 1800) Anhang I: Besetzung der Kongresse Michoacáns (1822-1835) Anhang II: Abgeordnetenverzeichnis Anhang III: Der Staatshaushalt Michoacáns gemäß den Denkschriften der Regierung Anhang IV: Kongressämter Anhang V: Datum der Installation der Constituyentes und der Verfassungen der Estados Unidos Mexicanos
22 24 47 140 158 259 443 444 514 576 580 588 590 594
Abkürzungsverzeichnis
ADPM AGN AHAM AHCM AHPE AHR AyD CdDO GG HAHR HM HyD HZ JbLA JLAS LAF LARR LM RdL TAm ZHF
Actas de la Diputación Provincial de Michoacán (1822-1823) Archivo General de la Nación (Mexiko-Stadt) Archivo Histórico del Ayuntamiento de Morelia Archivo Histórico del Congreso de Michoacán (Morelia) Archivo Histórico del Poder Ejecutivo (Morelia) American Historical Review Actas y Decretos del Congreso Constituyente del Estado de Michoacán (1824-1825) Colección de los decretos y órdenes que han expedido las Cortes Generales y Extraordinarias (1811-1813) Geschichte und Gesellschaft Hispanic American Historical Review Historia Mexicana Hernández y Davalos Historische Zeitschrift Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas Journal of Latin American Studies Colección Lafragua der Biblioteca Nacional (Mexiko-Stadt) Latin American Research Review Legislación Mexicana Recopilación de Leyes, Decretos, Reglamentos y Circulares expedidas en el Estado de Michoacán The Americas Zeitschrift für Historische Forschung
Vorwort
Das Schreiben einer geisteswissenschaftlichen Dissertation ist ein Abenteuer – es ist ein Abenteuer, bei dem man am Beginn nicht weiß, wohin die Reise geht und es ist ein Abenteuer, das über Jahre das Leben nicht nur zeitlich strukturierend prägt. Vielen Menschen in meinem Umfeld bin ich sehr dankbar, dass sie mich bei diesen Erfahrungen begleiteten und unterstützten. An erster Stelle ist Peer Schmidt zu nennen, seit meinen Studienanfängen in Erfurt mein akademischer Mentor, der den Begriff des Doktorvaters sehr ernst nahm. Ohne seine zahllosen Anregungen und das nicht müde werdende kritische Nachfragen wäre diese Studie, die im Sommersemester 2008 an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt als Dissertation angenommen wurde, nicht denkbar. Für die Druckfassung wurde sie leicht überarbeitet. Für die Übernahme des umfangreichen und sehr hilfreichen Zweitgutachtens danke ich Gunther Mai, der durch seine Hinweise den Blick auf viele Aspekte zu schärfen verstand. Durch die Diskussion zahlreicher Abschnitte unterstützten insbesondere Horst Pietschmann, José Antonio Serrano Ortega, Moisés Guzmán Pérez, Juvenal Jaramillo, Marta Terán und Gisela von Wobeser die Konturierung des Textes. Horst Pietschmann förderte sie zudem durch einen regen E-MailGedankenaustausch. Besonders dankbar bin ich auch den KollegInnen und FreundInnen aus dem Mittelbau der Universität Erfurt für die intellektuell äußerst anregende und hilfsbereite Arbeitsatmosphäre. Genannt seien als partes pro toto (in alphabetischer Reihenfolge) Melanie Henne, Sebastian Jobs, Thoralf Klein und vor allem Michael Wagner. Renate Pieper, Barbara Potthast und Peer Schmidt danke ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe „Lateinamerikanische Forschungen“. Die Studie basiert zu einem sehr großen Teil auf Material (ungedruckt und gedruckt), das ich ohne die großzügige Unterstützung zahlreicher Archivare/innen und Bibliothekare/innen in folgenden Institutionen in Mexiko und Deutschland nicht hätte bearbeiten können: Archivo General de la Nación, Archivo Histórico del Ayuntamiento de Morelia, Archivo Histórico del Congreso de Michoacán, Colección Lafragua und Hemerothek der Biblioteca Nacional, Ibero-Amerikanisches Institut (Berlin) und Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha. Ihnen sei hier herzlich gedankt. Ebenso gedankt sei dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der den Archivaufenthalt in Mexiko finanziell wesentlich unterstützte. Für die großzügige Übernahme der Druckkosten danke ich dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.
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Vorwort
David Rose übernahm, zusammen mit meiner Frau, die nicht einfache Aufgabe, das Manuskript Korrektur zu lesen und mich von zahlreichen Verbesserungen im Text zu überzeugen. Für die jahrelange, in Worten nicht auszudrückende Unterstützung, die mich zu meinem Studium und schließlich zur Promotion führte, danke ich meinen Eltern. Ohne die Unterstützung meiner Frau, die mir nicht nur den Rücken frei hielt und auf viel gemeinsame Zeit verzichtete, sondern die auch immer wieder kritische Fragen stellte, mir in den Krisen Rückhalt gab, die – kurzum – mit mir das Abenteuer meisterte, das eine geisteswissenschaftliche Dissertation darstellt, ohne ihre Unterstützung hätte ich die vorliegende Studie nicht schreiben können. Ihr und unseren beiden Söhnen Nikolai und Simon ist diese Studie gewidmet. Weimar / Erfurt, Oktober 2009
Nachwort zum Vorwort
Am 26. Dezember 2009 ist Peer Schmidt verstorben. Überraschend und viel zu früh ist er von uns gegangen und hinterlässt eine nicht schließbare Lücke weit über den akademischen Teil meines Lebens hinaus. Danke für die gemeinsame Zeit. Weimar / Erfurt, April 2010
Einleitung
„Gesetze müssen so eindeutig geschrieben sein, dass keiner über ihre Bedeutung zweifelt, so wie wenn ein Vater etwas seinen Kindern erklärt“1. Mit dieser Forderung brachte der Abgeordnete Juan Gómez de la Puente 1828 eine Grundüberzeugung des Kongresses des westmexikanischen Bundesstaates Michoacán auf den Punkt: Der Kongress sollte die Gesetze erarbeiten, diskutieren und schreiben. Und zwar sollte er sie so verfassen und kommunizieren, dass er mit ihnen den Gesetzesadressaten, dem Volk, gegenüber eine väterlich-erklärende Position einnehmen konnte. Die Gesetzgeber hatten die Verantwortung zu übernehmen, dass die „Kinder“ die Ordnung der Welt verstehen. Gleichzeitig war die Abgrenzung von diesem Gegenüber aber auch ein essentieller Bestandteil für das Selbstverständnis der Abgeordneten. Die Verwendung der Familienmetapher verweist zudem auf gesellschaftliche Idealvorstellungen. Gómez de la Puente war 1827 wie 14 weitere Männer „vom Volk“ – wie es in der Verfassung heißt – Michoacáns zu seinem Vertreter im zweiten ordentlichen Kongress gewählt worden. Nach einer enorm schnellen und umfassenden Transformationsphase waren sie dazu bestimmt worden, den Konsolidierungsprozess zu gestalten. Bis 1821 hatte Michoacán zum Vizekönigreich Neu-Spanien gehört und war damit zugleich Teil der erdumspannenden spanischen Monarchie gewesen. Nach einer sich zuspitzenden jahrzehntelangen Krise und einem elfjährigen Bürgerkrieg, der vielfältige (Vertrauens-)Beziehungen und Institutionen zerstört hatte, erklärte sich Mexiko 1821 für unabhängig. Michoacán präsentierte sich immer wieder als zentraler Schauplatz dieser Auseinandersetzungen, die sich mit den Schlagwörtern gerechte Konstitution und Repräsentation fassen lassen. Die Ordnung des Ancien régime war auf vielfache Weise zerstört. 1824 gründete die föderale Verfassung der Estados Unidos Mexicanos, der Vereinigten Mexi1
Sitzung Nr. 26 vom 29.01.1828, in: AHCM, Actas, c. 7, e. 2. Das Zitat heißt im Wortlaut: „Las leyes se han de poner tan claras que nadie dude su sentido, tal como si expresa un Padre con sus hijos, para que lo entiendan, de modo que no tengan necesidad de buscar letrados que se las aclaren“. Anmerkung: Alle Übersetzungen der vorliegenden Studie aus dem Spanischen erfolgten durch den Verfasser, das spanische Original wird aus Platzgründen nur in Ausnahmefällen zitiert. Zur Zitation der Protokolle vgl. die Hinweise in Teil D.
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Einleitung
kanischen Staaten, Michoacán als einen Bundesstaat. Mitte der 1820er Jahre hatte Michoacán gut 400.000 Einwohner und eine Fläche von gut 80.000 Quadratkilometern (also etwas mehr als das heutige Bayern).2 Gegenüber Mexiko-Stadt behielten sich die regionalen Entscheidungsträger die zentralen Kompetenzen vor. Ab 1824 erarbeiteten sie eine Verfassung, die Constitución política del estado libre federado de Michoacán (1825), und eine Vielzahl von Gesetzen. Als Hauptaufgabe der Verfassung- und Gesetzgebung galt ihnen die Etablierung einer neuen Ordnung. Die Verfassungsväter und später die Abgeordneten sahen sich in der Pflicht, nicht nur für die Konstitution neuer staatlicher Institutionen Verantwortung zu übernehmen, sondern auch für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Sie gingen einen ähnlichen Weg wie die Mehrzahl der Gesellschaften im atlantischen Raum des betrachteten Zeitraums, im Gegensatz zu den meisten europäischen Verfassungen der Zeit existierten hier allerdings keine etablierten Strukturen mehr, die es zu modifizieren galt. Die Parlamentarier mussten diese selbst erst schaffen. Insbesondere und besonders konkret gab es keinen Monarchen mehr, der Ordnung und Stabilität repräsentierte und den es als eine der primären Aufgaben einer Verfassung zu mäßigen galt. Die vorliegende Untersuchung analysiert die diese Prozesse begleitenden Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmuster der Abgeordneten. Wie gingen die neuen Entscheidungsträger mit dem Zusammenbrechen der alten Ordnung um? Wie positionierten sie sich in der durch die Atlantischen Revolutionen neu entstandenen Welt? Wie sollte eine neue Ordnung aussehen und wie sollte sie etabliert werden? Welche Rolle dachten sie dabei der Verfassung- und Gesetzgebung zu? In welchen ideellen und praxeologischen Kontexten verorteten sie sich selbst? In welches Verhältnis stellten sich die Abgeordneten gegenüber dem neuen Souverän, „dem Volk“? Lange Zeit galten in der Historiographie trotz der eben dargestellten Umbrüche nur die Revolutionen im anglo-amerikanischen und französischen Nordatlantik als untersuchenswert. Liberal-konstitutionelle Traditionen schienen sich in Lateinamerika nicht verorten zu lassen. So sprach Robert Palmer Anfang der 1960er Jahre für den Untersuchungszeitraum von einem „Age of democratic revolution“ im atlantischen Raum, betrachtete die iberische Welt jedoch nur am Rande, nur als Folgeerscheinung der zentralen Ereignisse bis 1800.3 Jacques Godechot behandelte 1965 die Epoche der „Atlantischen Revolution“, indem er die Ausbreitung der Ideen der Französischen Revolution in die atlantischen 2 3
Vgl. mit dem Verweis auf die „Berechnung des celebre Humboldt“, gemeint ist der MexikoReisende Alexander von Humboldt: Memoria 1828, S. 14. Vgl. Palmer: Age.
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Anrainerstaaten untersuchte.4 Auch Eric Hobsbawm fasste unter den Terminus „Age of revolution“ in erster Linie die industrielle englische sowie die Französische Revolution und erst im Anschluss daran die „world revolution spread outwards from the doble crater of England and France“, was er als „conquest of the rest of the world“5 beschrieb. Auch konstruierte eine einschlägige Historiographie, dabei eine seit der europäischen Aufklärung diskursiv fest verankerte Tradition fortführend, Ibero-Amerika als „das perfekte Paradigma der Alterität der Moderne“6, als das nicht zur Moderne passende Paradebeispiel.7 Prägend für die Bewertung der Ereignisse der Zeit – und dies trifft für Michoacán im Besonderen zu – weiterhin die von Zeitgenossen wie Lucas Alamán, Fray Servando Teresa de Mier, José María Mora oder Carlos María Bustamante verfassten klassischen Interpretationen: In Kontrastierung zur kolonialen Ordnung und zum bereits vom Neu Spanien-Reisenden Alexander von Humboldt festgestellten „wirtschaftlichen Blühen“8 wird die Zeit nach der Unabhängigkeit meist als Zeit der Unordnung, der Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen und als Zeit der Caudillos gezeichnet und somit als die Epoche des Rückschritts im Vergleich zur nordatlantischen Welt.9 Zu diesen Interpretationen passt die häufig wiederholte These von der Inkompabilität von rationaler Gesetzesherrschaft, Konstitutionalismus und latein(amerikan)ischen Gesellschaften.10 Als sich ab Ende der 1970er Jahre viele Militärregierungen Lateinamerikas zurückzogen und zivilen Amtsträgern die Verantwortung überließen, ordnete der Soziologe Samuel P. Huntington die Region der „dritten Demokratisierungswelle“ zu.11 Die Transitionsforschung (Transitología) zog in viele Wissenschaftsbereiche ein. Die Geschichtsschreibung erkannte in der Umbruchphase der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die Grundsteine einer demokratischen Tradition, die es nun (wieder) zu beleben galt. Jaime Rodríguez veröffentlichte diesen Optimismus ausdrückend 1994 den Sammelband „Mexico in the age of democratic revolutions, 1750-1850“12, Antonio Annino 4 5 6 7
Vgl. Godechot: France. Hobsbawm: Age, S. 3. Portillo Valdés: Revoluciones, S. 5. Vgl. hierzu bspw. die in Kapitel F zu behandelnde Studie zur politischen Kultur: Almond / Verba: Culture. 8 Bernecker / Buve: Mexiko, S. 501. 9 Vgl. bspw. Bernecker / Buve: Mexiko, S. 500-503; Fowler: Mexico, S. 1f.; Vázquez: Constitución, S. 9-11. 10 Vgl. Rodríguez: Introduction, S. 1; Annino: Constitucionalismo, S. 140; Portillo Valdés: Revoluciones, S. 2f. 11 Huntington: Wave, insb. S. 21-25. 12 Rodríguez (Hg.): Mexico.
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Einleitung
im Jahr darauf die „Geschichte der Wahlen in Iberoamerika, 19. Jahrhundert“13. Wie Eduardo Posada-Carbó 1996 stellte er dabei für Lateinamerika eine „Avantgardesituation“14 im Vergleich zu Europa fest.15 Schon 1992 legte François-Xavier Guerra sein, die Historiographie der folgenden Jahre prägendes Werk „Modernidad e independencias“ vor, in dem er Lateinamerika in den atlantischen Revolutionszyklus um 1800 einordnete. Josefina Vázquez publizierte Mitte der Dekade eine Reihe grundlegender „Interpretationen“ zur mexikanischen Geschichte der Epoche,16 nachdem sie noch 1989 für die Zeit nach 1821 von den „vergessenen Jahren“17 gesprochen hatte. Man attestierte nun Lateinamerika beziehungsweise Mexiko eine schnelle, vielleicht sogar zu schnelle und zugleich nur partielle Transformation in die Moderne sowie beispielsweise im Wahlrecht im atlantischen Kontext einen hohen Grad an Fortschrittlichkeit. Dabei orientierten sich die Autoren an den schon in den 1950er und 1960er Jahren verfassten und bis heute starken Einfluss ausübenden „interpretaciones clasicas“18 von Jesús Reyes Heroles und Charles Hale, die die mexikanische Geschichte als eine Geschichte der Etablierung des Liberalismus und des Fortschritts skizzierten.19 Gleichzeitig haben neuere Forschungsergebnisse gezeigt, dass die hispanische Welt integraler Bestandteil der „political, socio-economic, philosophical, and cultural transformation processes and revolutions which the USA and the majority of the European countries experienced around 1800“20 war. Sie lösten sich dabei auch zunehmend von der vermeintlichen Epochengrenze der Unabhängigkeit und betrachteten die Veränderungen der späten Kolonialzeit zusammen mit denen der frühen Unabhängigkeit.21 Jüngst gehen begriffsgeschichtliche Arbeiten in Anschluss an Reinhart Koselleck der grundlegenden Veränderung der begrifflichen Erfassung der Welt im Zeitraum 1750 bis 1850 13 14 15 16 17 18 19
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Annino (Hg.): Historia. Annino: Introducción (1995), S. 10. Posada-Carbó (Hg.): Elections. Vgl. Vázquez (Hg.): Interpretaciones; Vázquez (Hg.): Interpretaciones (1995); Vázquez (Hg.): Interpretaciones (1997). So der Titel eines Aufsatzes von 1989 von Josefina Vázquez: Años. Breña: Torno, S. 188. Vgl. Hale: Liberalism; Reyes Heroles: Liberalismo. Ähnlich für den hispanischen Konstitutionalismus allg.: Sánchez Agesta: Revolución; Chust: América; Gil Novales: Revolución. Schmidt: Philosophy, S. 138. Vgl. paradigmatisch: Guerra: Modernidad; Schmidt: Elite; Rodríguez (Hg.): Mexico; Bailyn: History, v.a. S. 26-30; Uribe-Uran (Hg.): State; Hensel: Review. Kritisch: Lynch: America. Dies ist freilich keine ganz neue Tendenz wie beispielsweise die Werke von Tulio Halperín Donghi: Reforma (1985) und Hans-Joachim König: Wege (1988) zeigen.
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nach.22 Insbesondere regionalgeschichtlich fokussierte Studien überwanden die traditionelle Periodisierung – zu nennen sind die Werke von Jochen Meißner zu Mexiko-Stadt (1993), von Peter Guardino zu Guerrero und Oaxaca (1996 und 2005), von Silke Hensel ebenfalls zu Oaxaca (1997), von Escobar Ohmstede zur Huasteca (1998), von Margaret Chowning zu Michoacán (1999) sowie von José Antonio Serrano Ortega zu Guanajuato (2001).23 Ergänzt wurden diese Studien durch lokal- und kommunalgeschichtliche Perspektiven.24 Nicht zuletzt diese Studien zeigten, dass die Regionen und Staaten je eigene, endogene Transformationsprozesse durchlebten, dass die regionalen Akteure mit den Umbrüchen je unterschiedlich umgingen, weswegen man auch nicht von dem idealen Weg in die eine, vom europäischen Zentrum aus entworfene Moderne sprechen kann. Der Soziologe Shmuel Eisenstadt spricht treffenderweise von der „Vielfalt der Moderne“25. „Europa“ ist als Vorreiter und epistemologische Norm der Modernisierung – um mit Dipesh Chakrabarty zu sprechen – zu „provinzialisieren“.26 Michoacán wird in der vorliegenden Studie entsprechend nicht als „das perfekte Paradigma der Alterität der Moderne“ (Portillo Valdés) verstanden, sondern als atlantische Region, deren Akteure einen eigenen Weg gingen, bei dem ‚Europa’ und die USA durchaus als wichtige, aber nicht als einzige Bezugspunkte fungierten. Die Abgeordneten werden als Akteure erfasst und nicht als Opfer kolonialistisch(orientalisierender) europäischer Diskurse (Edward Said) oder als antikolonialistisch-‚hybridisiert’ (Homi Bhabha). Ausgangspunkt ihrer Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmustern war nicht die Abgrenzung gegenüber ‚Europa’, sondern die eigenen Erfahrungen, zu 22 Koselleck bezeichnet die Transformationsepoche, insbesondere ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als „Sattelzeit“, in der eine fundamentale begriffliche Neuerfassung der Welt stattfand. Dieses Konzept liegt dem mehrbändigen Werk „Geschichtliche Grundbegriffe“ zugrunde; vgl. Koselleck: Einleitung, v.a. S. XV-XIX; Koselleck: Zukunft, S. 300-348; vgl. auch das von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt herausgegebene „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820“; insb.: Reichardt: Einleitung, S. 40ff. Vgl. für den iberischen Sprachraum jüngst die Vorstellung des „Diccionario político y social iberoamericano. Transición e independencias, 1750-1850“ in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 45 (2008), v.a. die Presentación des Projektleiters Javier Fernández Sebastián; vgl. hierzu auch: www.iberconceptos.net und das Themenheft der Zeitschrift Ayer 53 /1 (2004). Vgl. zu ähnlichen Tendenzen in anderen Ländern: Koselleck: Stichwort, S. 102; Schorn-Schütte: Geistesgeschichte, v.a. S. 271-273. 23 Vgl. Meißner: Elite; Guardino: Peasants; Guardino: Time; Hensel: Entstehung; Escobar Ohmstede: Costa; Chowning: Wealth; Serrano Ortega: Jerarquía. 24 Vgl. paradigmatisch: Ortiz Escamilla / Serrano Ortega (Hgg.): Ayuntamientos. 25 Vgl. bspw. aus soziologischer Sicht: Eisenstadt: Vielfalt. 26 So der Titel seiner 2000 erschienenen Studie: Chakrabarty: Europe.
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Einleitung
deren Bewältigung sie als Atlantiker auf atlantisches Ideengut zurückgriffen.27 Auch wenn ex post häufig eine gewisse Zwangsläufigkeit hin zum heutigen liberal-demokratischen Verfassungsstaat europäischer Prägung angenommen wird, zeichnete das hier betrachtete Zeitalter der Revolutionen eine große Offenheit gegenüber dieser neuen (politischen) Konzeption aus. Viele unterschiedliche theoretische und noch mehr praktische Vorschläge zum Verfassungsstaat wurden im atlantischen Raum erarbeitet – und selbst innerhalb Mexikos entstanden trotz vieler Gemeinsamkeiten sehr unterschiedliche Verfassungsregelungen. Der ideologisierte Fokus auf den Grad der Ausbreitung liberaler beziehungsweise konservativer Vorstellungen verhindert dabei häufig den Blick auf die Perspektiven der zeitgenössischen Akteure. Betrachtet man die Historiographie zu Michoacán fällt auf, dass bis heute die frühe Unabhängigkeitszeit im Vergleich zur (späten) Kolonialzeit relativ wenig Interesse findet. Während für das 18. Jahrhundert zahlreiche Studien zu Institutionen wie Kirche/Klerus (David Brading, Juvenal Jaramillo Magaña), Militär (Josefa Vega Juanino), zur politischen Organisation (Moisés Guzmán Pérez, Iván Franco Cáceres) vorliegen, wie auch zur Aufklärung (Germán Cardozo Galué, Carlos Herrejón Peredo), zur Wirtschaft (Claude Morin) sowie zu den regionalen Eliten (Carlos Juárez Nieto) und zum ländlichen, indigen geprägten Raum (Felipe Castro, Marta Terán),28 fehlen solche grundlegenden Arbeiten für die Zeit nach 1821 weitgehend. Neben der bereits zitierten Studie von Margaret Chowning zur Elitenbildung sind hier beispielsweise Überblickswerke für die frühe Unabhängigkeit, eine kurze Monographie zum Südwesten Michoacáns (Gerardo Sánchez Díaz), eine über das Banditenwesen in Michoacán (Laura Solares Robles) und eine weitere zum Strafrecht (Jaime Hernández Díaz) zu erwähnen.29 Auch wenn also für eine umfassende Kontextualisierung entsprechende Vorarbeiten fehlen, bietet sich Michoacán für eine Studie mit der skizzierten Fragestellung an. Die Region florierte in der späten Kolonialzeit, war stark integriert und seit vorspanischer Zeit sehr selbstbewusst; die sich vermehrt abgrenzende Elite entwickelte eine eigene Politik- und Verfassungskultur; auch bei den Umbrüchen um 1800 spielte die Region eine herausragende Rolle. Mit „Michuacan“ („Land der Fischer“) hatten die Azteken / Mexica das westlich ihres Herrschaftsbereiches liegende Reich der Purhepecha bezeichnet. Während 27 Vgl. hierzu die Überblicksessays: Grimm: Ansätze (u.a. zu Said und Bhabha); GerbigFabel: Eurozentrismus (zu Chakrabarty und Harry Harootunian). 28 Vgl. die entsprechenden Zitationen v.a. im ersten Teil der vorliegenden Studie. 29 Vgl. Sánchez Díaz: Suroeste; Solares Robles: Bandidos; Hernández Díaz: Orden. Zu den Überblickswerken vgl. insb. die mehrbändige Historia general, hg. von Enrique Florescano, sowie die etwas ältere Historia sucinta von José Bravo Ugarte.
Einleitung
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ihrer prähispanischen Dominanz, die sie über weite Teile des mexikanischen Hochlandes ausübten, gelang es, wie die regionale Historiographie immer wieder betont, den Azteken nicht, diese Region zu unterwerfen. Die Spanier benannten die dortige indigene Bevölkerung nach der Landnahme 1521 als Tarasken, den Namen Michoacán übernahmen sie für die Provinz und für das 1536 begründete Bistum. Spanische Chroniken und Berichte der folgenden Jahrhunderte stellten die vormalige Eigenständigkeit gegenüber den Azteken ebenso als Besonderheit heraus wie die friedliche Unterwerfung unter Hernán Cortés und die nachfolgende, freiwillige Taufe des letzten Purhepecha-Königs Calzontzi. Die Region charakterisierte man dabei häufig rhetorisch überhöht als „weltliches Paradies“. Noch 1766 wurde Vasco de Quiroga, der erste Bischof von Michoacán und der Gründungsvater des Colegio de San Nicolás in der regionalen Hauptstadt Valladolid (heute Morelia), als Begründer einer an Thomas Morus’ Utopia orientierten Gemeinschaft gefeiert.30 An diese Facetten anknüpfend entstand in unserem Betrachtungszeitraum zumindest in den Eliten ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein. Am Ende der Kolonialzeit war Valladolid das „center of a bustling regional economy“31 gewesen, es galt als eines der wichtigsten Bildungszentren NeuSpaniens und als „Kirchenstadt schlechthin“32. Das örtliche Priesterseminar stand im Ruf, Aufklärungszentrum zu sein und wurde gleichsam zur Kaderschmiede der aufständischen Geistlichen nach 1808. Gleichzeitig erlebte die Stadt in dieser Zeit sowohl demographisch als auch städtebaulich ein großes Wachstum und war das Zentrum einer Region, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirtschaftlich, verwaltungstechnisch und sozio-kulturell immer stärker zusammengewachsen war; dabei gerieten auch die unterschiedlichen Teile der per Gesetz ethnisch segregierten Gesellschaft häufiger in Kontakt beziehungsweise in Konflikt. Parallel differenzierte sich in den genannten Bereichen (wirtschaftlich, verwaltungstechnisch und sozio-kulturell) eine selbstbewusster werdende regionale Elite aus. Gegenüber dem Zentrum Madrid forderte sie vermehrt eigene Gestaltungsspielräume ein, und zwar in Form einer gerechten Konstitution und Repräsentation. Dabei traf sie auf entgegengesetztbevormundende Bestrebungen in Madrid, die darauf abzielten, die Teilreiche der Monarchie stärker auf die Zentrale hin auszurichten. Die Konfliktaustragung blieb lange Zeit friedlich. Erst in der finalen Krisenzeit nach der 30 Vgl. zu den zeitgenössischen Beschreibungen beispielsweise Villaseñor y Sanchez: Theatro, S. 7-10; Relación de Michoacán; vgl. auch die Auseinandersetzung mit der Relación de Michoacán und mit der indigenen Historiographie: Roskamp: Historiografía; Brading: Church, S. 20-39. 31 Chowning: Wealth, S. 40. 32 Morin: Michoacán, S. 36.
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Festsetzung der spanischen Monarchen durch Napoleon 1808 kulminierten die Konflikte: 1809 ging von Valladolid eine erste, gegen Übergangsregime in Madrid (und Mexiko-Stadt) gerichtete Verschwörung aus. Ab 1810 entbrannte in Neu-Spanien ein schließlich elf Jahre dauernder Bürgerkrieg, der in Michoacán viele Jahre sein Zentrum besaß. Die Mehrzahl der Anführer der Aufständischen kam aus Michoacán oder hatte sehr enge Verbindungen dorthin. Hier hatte der Krieg vielen Menschen das Leben gekostet beziehungsweise die Lebensgrundlagen zerstört sowie zahlreiche Ortschaften ebenso vernichtet wie vielfältige soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Institutionen und (Vertrauens-)Beziehungen. Valladolid blieb als „Insel im Sturm“33 noch weitgehend verschont, verlor aber trotzdem durch Auswanderung und Flucht zwischenzeitlich über 80 Prozent seiner Einwohner. Nicht zufällig wurde in Michoacán 1814 die erste mexikanische Verfassung erarbeitet und erlassen. Ein in Valladolid Geborener, Agustin de Iturbide, rief 1821 die Unabhängigkeit Mexikos aus und wurde im Jahr darauf zum Kaiser Mexikos gekrönt. Die ehemals florierende Region hatte eine enorme Krise durchlebt. Dieses Krisengefühl prägte die nachfolgenden Aufbauarbeiten nachhaltig. Wie die vorliegende Studie zeigen wird, blieb der Aufbau einer neuen Ordnung zumal im politisch-kulturellen Bereich in den folgenden Jahren in sehr starkem Ausmaß eine Aufgabe der regionalen und nicht, wie von der Historiographie oftmals implizit oder explizit angenommen, der gesamt-mexikanischen Entscheidungsträger. Die föderale Verfassung hatte beispielsweise weder ein Staatsbürgerschaftsrecht etabliert noch ein Wahlrecht, sie blieb weitgehend ein zwischen den Einzelstaaten vermittelndes Organisationsstatut. Die Abgeordneten der Teilstaaten hatten die Aufbauaufgaben zu übernehmen und lösten diese Aufgabe durchaus unterschiedlich. Die Verfassungsväter in Michoacán etablierten – so ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Studie – ein politisches System, in dem sie dem Kongress eine Monarchen-ähnliche Position zuschrieben. Sie versammelten im Parlament34 viele politische und kulturelle Funktionen und Kompetenzen, die vorher beim Monarchen gelegen hatten. So ‚übersetzten’ sie überkommene Ordnungsvorstellungen in die neue politische Situation. Gleichzeitig legten sie als weitere Prinzipien im Juli 1825 nach 15monatigen Diskussionen die Souveränität des Volkes, die Staatsbürgergesellschaft und die populäre Wahl der Repräsentanten fest und folgten damit weit verbreiteten liberalen Ansprüchen. Auch die Abgeordneten der 33 So ein Aufsatztitel: Young: Islands. 34 Die Begriffe „Kongress“ und „Parlament“ werden in dieser Arbeit als Synonyme verwendet; vgl. zum Parlamentarismusbegriff: Hübner: Parlament, S. 13-20; Hofmann / Riescher: Einführung, S. 1-8.
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ordentlichen Kongresse bis 1835 sahen sich immer wieder der Spannung zwischen Ordnungs- und liberalem Freiheitsanspruch ausgesetzt. Durch Institutionalisierung und Entpersönlichung der Herrschaft sollte gegenüber den Regierten – das Eingangszitat deutet es bereits an – das Bild einer geordneten Welt evoziert werden. Als Gómez de la Puente 1828 den eingangs zitierten Anspruch formulierte, saß er im mittlerweile fertig gestellten Plenarsaal des Palacio del congreso – einem monumentalen Bau, der bis 1766 als Jesuitenkolleg genutzt worden war und der noch heute im Zentrum der regionalen Hauptstadt steht. Als Sohn eines europa-spanischen Händlers und Großgrundbesitzers stammte er wie einige, aber bei weitem nicht die Mehrheit seiner Kollegen aus der spätkolonialen Wirtschaftselite und wie viele hatte er an einer der großen Bildungseinrichtungen Valladolids studiert. Hingegen war Gómez de la Puente einer der wenigen, die im Bürgerkrieg auf regalistischer Seite gekämpft hatten. 1828 waren die Abgeordneten noch mit dem Aufbau von Regierungsinstitutionen, vor allem mit dem der Gerichte und der Landes- und Steuerverwaltung, beschäftigt. Die Infrastruktur des Kongresses, wie der umgebaute Plenarsaal, das Sekretariat, aber auch die Versorgung mit Papier und Druckereikapazitäten, war bereits etabliert, der Kongress insofern funktionsfähig. Auch eine interne politische, sachlich-kritische Kultur hatte sich ausgebildet. Die erste eigene Zeitung erschien hingegen erst im nachfolgenden Jahr. Die Zeit bis zum Ende der so genannten ersten föderalen Republik (1824-1835/36) zeichnete sich nach einer gewissen Stabilisierung und nach ersten Erholungstendenzen durch vermehrte, teils militärisch ausgetragene Konflikte aus. Die vorliegende Studie nimmt, wie soeben angedeutet, nicht nur die vermeintlich großen und wichtigen politischen Materien wie das Staatsbürgerschafts- oder das Wahlrecht in den Blick, sondern auch retrospektiv oft vernachlässigte Themen wie die subjektive Wahrnehmung und Begründung von Kleiderordnungen, den Aufbau des Plenarsaals oder des Presse- und Zeitungswesens. Auch dort lassen sich – und teilweise noch konkreter – die hier zu untersuchenden Vorstellungen, Erwartungen und Argumentationsmuster der Abgeordneten finden, lässt sich dem Selbst- und Rollenverständnis des Kongresses im politischen Alltag nachspüren. Abgeordnete werden hier nicht nur als denkende Personen der atlantischen Ideengeschichte untersucht, sondern auch als konkret in ihrem Kontext handelnde und leidende Menschen. So lässt sich der hier gewählte Ansatz als eine „veralltäglichte und akteursbezogene Ideengeschichte“ oder als eine „ideengeschichtliche Alltagsgeschichte“ beschreiben.
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Trotz einer konstatierten „Wiedergeburt einer politischen Historie“35 und einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber neuen methodischen Ansätzen, die sich in Anlehnung an den Titel eines Werkes von Lynn Hunt unter dem Label der „New cultural history“ verorten lassen,36 fehlt für Mexiko – und weit darüber hinaus – eine an diesen neuen methodischen Ansätzen orientierte eingehende Untersuchung zum konstitutionellen und parlamentarischen Handeln und Denken. Ähnlich wie in Deutschland arbeitete die politikgeschichtliche Forschung zu Mexiko lange Zeit in erster Linie staatstheoretisch, im Rahmen einer „sozialkontextunabhängigen Ideengeschichte“37, konzentriert auf die Perspektive des Staates und der ‚großen Männer’, „beschränkt auf das Analysieren der Verfassungstexte“ und auf das Nachzeichnen von „Stammbäumen und ideologischen Moden“38. Zumeist waren die Studien im Anschluss an die zitierten „interpretaciones clasicas“ von Reyes Heroles und Hale in den nationalgeschichtlichen Diskurs eingeschrieben und darum bemüht, Mexiko als liberal, und damit als modern und fortschrittlich, zu zeichnen.39 So verwies Ernesto de la Torre Villar 1964 auf den liberalen und die Geschichte Mexikos bis heute prägenden Charakter der Verfassung von Apatzingán von 1814, geschrieben von den Aufständischen im Umkreis des Unabhängigkeitshelden José María Morelos.40 Jorge Sayeg Helú deutete 1991 die mexikanische Verfassungsgeschichte seit Apatzingán (und eigentlich schon seit dem 16. Jahrhundert) als eine Geschichte der Durchsetzung sozial-liberaler Ideen.41 Ideen- und institutionengeschichtliche Abhandlungen zur Verfassungsgeschichte förderten wichtige Erkenntnisse zu Tage, blieben aber meist der national-zentralstaatlichen Ebene und dem liberalen (Fortschritts-)Diskurs verbunden.42 Auch ein kürzlich erschienener 35 Pietschmann: Constitucionalismo, S. 235. Vgl. auch die Auflistung neuerer Werke bei Pietschmann: Constitucionalismo, S. 236-240 bzw. jüngst Portillo Valdés: Revoluciones. Zu einer ähnlichen Entwicklung in Deutschland und Europa vgl. das häufig zitierte Werk „Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (1999) von Wolfgang Reinhard bzw. das von Peter Brandt, Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch herausgegebene, in mehreren Bänden geplante Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bonn 2006ff. 36 Vgl. beispielhaft das Sonderheft der Hispanic American Historical Review „Mexico’s New Cultural History: Una lucha libre”, Bd. 79/2 (1999) und die dort zitierten Werke. 37 Dutt: Nachwort, S. 529. 38 Pietschmann: Constitucionalismo, S. 235. 39 Vgl. weiter hierzu: Portillo Valdés: Revoluciones, S. 3-6. Anders als in Deutschland verdrängten Formen der Sozialgeschichtsschreibung das Politische in Mexiko weit weniger. 40 Torre Villar: Constitución. 41 Sayeg Helú: Constitucionalismo. 42 Vgl. bspw. Sierra Brabatta: Constitución: Ferrer Muñoz: Formación.
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Sammelband von Jaime Rodríguez setzte sich trotz eines anders lautenden Titels (The divine charter. Constitutionalism and liberalism in nineteenthcentury Mexico, 2005) kaum mit dem konstitutionellen Handeln und Denken auseinander, sondern wollte vielmehr zeigen: „liberalism was not an alien ideology unsuited for Mexico’s supposedly traditional, conservative, and multiethnic society“43. In jüngster Zeit interessierte man sich zudem vermehrt für die Entstehung konstitutionellen Denkens bereits in der späten Kolonialzeit und für die Umsetzung der hispanischen Verfassung von Cádiz (1812) in Mexiko oder deren Verhältnis zur „amerikanischen Frage“; zu nennen sind hier beispielsweise Beiträge von Horst Pietschmann (2005 und 2007)44 beziehungsweise der 2007 von Juan Ortiz Escamilla und José Antonio Serrano Ortega herausgegebene Sammelband zu kommunalen Ratsgremien und gaditanischem Liberalismus45 (also dem in Cádiz geprägten Liberalismus), Werke von Manuel Chust (1999 und 2006)46 oder auch das Teilprojekt „Die symbolische Konstituierung der Nation: Mexiko im Zeitalter der Revolutionen, 1786-1848“ des Münsteraner Sonderforschungsbereiches „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. Ähnlich auffällig wie der Mangel an einer eingehenden Untersuchung konstitutionellen Denkens und Handelns ist derjenige zum Parlamentarismus in der frühen mexikanischen Republik. Die genannten Desiderate aufgreifend verortet sich die nachfolgende Studie im Kontext einer in der deutschen Geschichtsschreibung so genannten „Neuen Politikgeschichte“ beziehungsweise „Kulturgeschichte des Politischen“.47 Diese methodische Orientierung geht bezüglich ihres Gegenstandsbereichs, der Politik, davon aus, dass die so genannten Fakten, die Wirklichkeit, nicht per se Sinn oder Bedeutung haben, sondern dass ihnen Sinn und Bedeutung durch menschliches Handeln subjektiv gegeben wird.48 Kulturgeschichte interessiert sich entsprechend für die „Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der zeitgenössischen Menschen“49. Der Untersuchung der 43 44 45 46 47
Rodríguez O.: Preface, S. xi. Vgl. Pietschmann: Constitucionalismo; Pietschmann: Mexiko, v.a. S. 95-118. Ortiz Escamilla / Serrano Ortega (Hgg.): Ayuntamientos. Chust: Cuestión; Chust (Hg.): Doceañismo. Vgl. bspw. Frevert: Politikgeschichte; Mergel: Überlegungen; Stollberg-Rilinger (Hg.): Verfahren. 48 Vgl. Daniel: Kompendium, S. 11f., 17f. u. 381-400; Landwehr: Einführung, v.a. S. 10-22. 49 Daniel: Kompendium, S. 17. Gleichzeitig postuliert Daniel – was, betrachtet man beispielsweise die unten folgenden Ausführungen zu Immanuel Kant und Kritik, freilich nicht neu ist –, dass der Forscher, der Kritiker als Interpret der ihm über das Quellenmaterial übermittelten vergangenen Interpretationen der ‚Fakten’, dass er als
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Sprache als zweifacher Vermittlungsinstanz zwischen vergangenen Fakten und dem Verfassen der Quellen sowie zwischen diesen und der Arbeit des Historikers kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Forschung nähert sich mit Hilfe unterschiedlicher Ansätze der historischen Semantik, häufig unter dem Signum der Diskursanalyse zusammengefasst. An dieser Stelle soll keine ausführliche Erörterung dieser methodischen Konzepte folgen, vielmehr ein zielorientierter Einblick.50 Mit Ute Daniel wird Kulturgeschichte hier nicht als „Logo für einen Kampfanzug“ verstanden, „in dem man in den Ring steigen kann, um andere Ansätze zu bekämpfen“51, was dann häufig auf abstrakter und prinzipieller Ebene geschieht. Vielmehr wurde der gleich zu skizzierende Zugang gewählt, da er konkret für die hier entwickelten Fragestellungen zielführend ist. Die Studie interessiert sich also dafür, wie die Abgeordneten Michoacáns ihre Welt wahrnahmen und wie sie ihr Sinn und Bedeutungen zuwiesen. Konkreter, sie fragt danach, wie die Abgeordneten in den Diskussionen der Verfassung und der Gesetze sowie mittels Gesetzgebung versuchten, die Außenwelt zu erfassen, sie diskursiv zu verorten und zu gestalten. Sie analysiert also einer gängigen Politik-Definition folgend den „Handlungsraum …, in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen geht“52. Sie untersucht gleichzeitig, wie sich die Deputierten sprachlich selbst entwarfen und sich in ihrer Lebenswelt positionierten. Da all diese Akte primär sprachliche Handlungen sind, verwendet die Studie insbesondere im zweiten und dritten Teil die Methodik der Conceptual history beziehungsweise der Intellectual history der Cambridge school um Quentin Skinner und John Pocock: In Rückgriff auf die Sprechakttheorie John Austins („How to do things with words?“) formulierte Skinner den Anspruch für sein zentrales Werk „The foundations of modern political thought“ (1978) folgendermaßen: „For I take it that political life itself sets the main problems for the political theorist, causing a certain range of issues to appear problematic, and a corresponding range of questions to become the leading subject of debate“53. „Politisches Denken“ entsteht demnach „im Widerspiel von Problemdruck und Problemlösung“54, in der Auseinandersetzung mit alltäglichen politischen Problemen und nicht in einem vermeintlich luftleeren Theorieraum. Gegenüber
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solcher selbst Teil des Forschens ist, also keinen objektiven Blick hat: Geschichten können demnach „auch unterschiedlich erzählt werden …, ohne dass jeweils den ‚Fakten’ Gewalt angetan würde“ (Sarasin: Geschichtswissenschaft, S. 56). Vgl. ähnlich: Schilling: Normsetzung, S. 22-26. Daniel: Kompendium, S. 15. Bspw. Stollberg-Rilinger: Einleitung, S. 14. Skinner: Foundations, S. XI. Lottes: State, S. 41.
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anderen Ansätzen der Ideengeschichte hat die Intellectual history zudem den Vorzug, dass sie sowohl „die Gestaltungsmacht von Ideen und von Sprache“55 als auch den Akteur stärker in den Blick nimmt, beispielsweise auch stärker als die Begriffsgeschichte Koselleck’scher Prägung, eine andere Form der historischen Semantik.56 Politisches Sprechen und Schreiben wirkt in die Denkund Wahrnehmungswelten hinein und verändert diese: „All speech … is performative in the sense that it does things to people. It redefines them in their own perceptions, in those of others and by restructuring the conceptual universes in which they are perceived“57. Politisches Theoretisieren, Denken und Handeln ist also zu kontextualisieren und zu historisieren. Im Bereich des hier untersuchten Politikfeldes der Gesetz- und Verfassunggebung, also im Bereich der Generierung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, bietet sich dieser Ansatz besonders an, da hier die Abgeordneten über Gesetze und über Gesetzgebung versuchten, Realität beziehungsweise ihre Wahrnehmung sprachlich zu fassen und zu konstituieren. Gesetze und Verfassung im Besonderen werden also nicht nur als Rechtsphänomen, sondern auch als Kulturphänomen ernst genommen – wie dies die freilich noch wenig etablierte Verfassungskultur-Forschung postuliert.58 Zwar ist „kaum zu bestreiten, dass sich die Herausbildung der modernen Staatlichkeit vornehmlich als Rechtsphänomen vollzog“59. Die folgende Studie wählt aber einen darüber hinausreichenden, integrierenden Ansatz: Sie untersucht nicht nur die Gesetzesnormen ‚an sich’, sondern auch die mit ihnen verbundenen Vorstellungen bei den Akteuren, die diese Normen erarbeiten.60 Sie nimmt also auch die „Dimension der Subjektivität“61 in die Untersuchung auf. Der Fokus liegt dabei nicht auf der individuellen, sondern vielmehr auf einer kollektiven Subjektivität der Abgeordneten als Gruppe. Ihnen wird ihre Individualität freilich nicht abgesprochen, weshalb sie auch häufig in Form von Zitaten zu Wort kommen, primärer Untersuchungsgegenstand ist hier aber die Gruppe der Abgeordneten als eine sich neu etablierende Elite.62 55 56 57 58 59 60 61 62
Lottes: State, S. 34. Vgl. Lottes: State; Reichardt: Semantik; Schorn-Schütte: Geistesgeschichte, S. 274-277. Pocock: Act, S. 41. Vgl. einführend mit weiterer Literatur: Schlegelmilch: Verfassungskultur, S. 12-14; Dippel: Constitutionalism. Schlegelmilch: Verfassungskultur, S. 9. Vgl. zu einem ähnlich pragmatisch orientierten Ansatz bezüglich Frankreichs der Religionskriege: Schilling: Normsetzung. Schlegelmilch: Verfassungskultur, S. 13; vgl. ähnlich: Annino: Constitucionalismo, v.a. S. 141. Als Eliten werden nach dem positionsanalytischen Konzept „alle Personen, die Mitglied in einer Regierungsinstitution sind“ (Hensel: Entstehung, S. 30) verstanden, hier im
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In diesem Sinne werden die Abgeordneten in der nachfolgenden Studie nicht nur als abstrakte Gesetzgeber verstanden, sondern auch als diskutierende und gesetzgebende Akteure, die in den Diskussionen der Verfassung und der Gesetze und mittels Gesetzgebung versuchten, die Außenwelt zu erfassen, zu beschreiben, diskursiv zu verorten und zu gestalten. Gleichzeitig entwarfen die Abgeordneten sich damit selbst und positionierten sich in ihrer Lebenswelt und gegenüber den Adressaten der von ihnen verfassten Gesetze und Diskussionsprotokolle. Diese beiden Quellengattungen sind insofern zentral für die vorliegende Arbeit. Die Protokolle und Gesetze, wie auch weitere Dokumente, sollen hier neben der juristischen Betrachtung auch auf die „Selbstwahrnehmung“ der Abgeordneten als Kollektiv in ihrem Umfeld hin untersucht werden. In den Dokumenten wird denjenigen „Aussagen oder Aussagepartikeln“ nachgegangen, in denen sie „menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln“63. Dies lässt sich für die Protokollsammlungen und die Gesetze gut über ihre ‚kollektive’ Entstehung begründen, falls es denn einer solchen Begründung bedarf: Die Gesetze wurden gemeinsam erarbeitet und verabschiedet, die Protokolle von Kongressmitgliedern nach der Genehmigung durch das Plenum erstellt.64 In ihnen äußert sich also das kollektive Selbstverständnis. Dieser Zielstellung folgend rücken in der vorliegenden Studie auch nicht Abgeordnete als Individuen in den Fokus, sondern als (Sprach-)Akteure eines Kollektivs.65 Die Abgeordneten handelten in einem spezifischen, oben kurz angerissenen und noch weiter auszuführenden historischen Kontext. Durch die regionale Besonderen die Abgeordneten. Nicht die Frage, ob sie tatsächlich Macht hatten, wird untersucht, sondern vielmehr der zu entwickelnde hegemoniale „common discursive framework“ (Guardino: Time, S. 8); vgl. weiter mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept: Hensel: Entstehung, S. 16f. u. 27-31; Guardino: Time, S. 7-9. 63 Schulze: Ego-Dokumente, S. 28. Die Zitate entstammen einer Definition der Quellengattung „Ego-Dokument“ von Winfried Schulze. Die skizzierte Herangehensweise ähnelt derjenigen, die die Frühneuzeitforschung für Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse, die sich beide durch die Selbstthematisierung des Autors auszeichnen, entwickelt hat. Man könnte entsprechend von „kollektiven Ego-Dokumenten“ sprechen. Selbstzeugnisse grenzen sich von „der umfassenderen Quellengruppe Ego-Dokumente“ insbesondere dadurch ab, dass sie „aus eigenem Antrieb, also ‚von sich aus’, ‚von selbst’ entstanden sind“ (von Krusenstjern: Selbstzeugnisse, S. 470) und dass nicht wie im vorliegenden Fall die Autoren „durch besondere ‚Umstände’ zu Ausagen über sich selbst veranlaßt“ (Schulze: Ego-Dokumente, S. 21) worden sind. 64 Vgl. hierzu ausführlicher das Kapitel F. 65 Damit soll nicht unterstellt werden, dass eine solch individuelle Herangehensweise nicht auch lohnend wäre.
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Perspektive gewinnt die Studie gegenüber dem vormals gängigen nationalen Blickwinkel an konkretem Charakter.66 Die Region Michoacán stellte – auch das kann im Folgenden gezeigt werden – für die Eliten den primären Erfahrungsund Handlungsraum dar, insbesondere im Politischen, Rechtlichen und SozioKulturellen.67 Die hier verfolgte intensive historische Kontextualisierung der Texte in den jeweiligen historischen Rahmen folgt einem wichtigen Postulat der Intellectual history.68 Die in der vorliegenden Studie untersuchten Quellencorpora – bislang kaum für Fragestellungen dieser Art herangezogen – liefern auf einem gewissen Abstraktions- und Reflexionsniveau einen intensiven Einblick in die Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmuster der beteiligten Personen.69 Sie erfüllen damit meines Erachtens sehr gut die von Skinner erhobene Forderung nach der Auseinandersetzung mit einer „mittleren Textebene“. Im Vergleich zum zentralen Untersuchungsgegenstand der ‚traditionellen’ Ideen- und Verfassungsgeschichte, den so genannten „klassischen Texte[n] … der großen Denker“, ist diese Textgattung weniger abstrakt und stärker in den historischen Kontext eingebunden. Die hier untersuchten Texte besitzen einerseits ein gewisses Abstraktions- und Reflexionsniveau, andererseits spiegeln sie alltägliche Diskussionssituationen wider. Sie können damit unmittelbarer auf die spezifisch-konkreten „Problemlösungs- und Reflexionskapazitäten“70 der Autoren hin befragt werden. Gleichzeitig bieten sie einen konkreteren Einblick in den Alltag und in die Aktivitäten der Verfassung- und Gesetzgebung sowie in die Aktivitäten der Staatsbildung als die bisherige Konzentration auf die Untersuchung von abstrakten Ideen.71 Wie erarbeiteten die Abgeordneten welche Gesetze? Welche Ziele verfolgten sie mit der Verfassung? Welche Vorstellungen über Menschen, über die Gesellschaft et cetera kamen in den Diskussionen zum Tragen? Welche diskursiven Muster lassen sich erkennen? Aber auch: Wie entwerfen sich die 66 Vgl. Forderungen in diese Richtung bspw. Archer: Review, S. 197f.; Anna: Mexico, S. 120. Die ‚föderalistische Wende’ – oder, um im Sprachduktus der jüngeren Historiographie zu bleiben, der ‚federalistic turn’ – verdeutlicht sich besonders eindrücklich in dem von Josefina Zoraida Vázquez herausgegebenen Föderalismusband von 2003; vgl. Vázquez (Hg.): Establecimiento. 67 Vgl. hierzu auch die Magisterarbeit des Verfassers: Dorsch: Staatsbürgerschaft. 68 Vgl. zum Verhältnis von Text und Kontext: Skinner: Meaning. 69 Vgl. Schmidt: Wahlen, S. 54. 70 Lottes: State, S. 40. Vgl. auch: Skinner: Meaning, v.a. S. 50-53 und zur Problematisierung des Begriffs der „mittleren Ebene“: Lottes: State, S. 40; Reichardt: Semantik, S. 15-18. 71 Vgl. zur Forderung der Neuen Politikgeschichte nach der Veralltäglichung und Entstaatlichung des politischen Untersuchungsbereiches: Frevert: Politikgeschichte, S. 156f. u. 162f.
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Abgeordneten selbst, wie verorten sie sich über die von ihnen erlassenen Gesetze, über ihr Diskutieren und das Aufschreiben der Diskussionen in der Gesellschaft? Auffallend hierbei ist für Michoacán die intensive Auseinandersetzung der Abgeordneten mit atlantischem Gedankengut, verbunden mit Idealvorstellungen des Konstitutionalismus, die sie sich auf ihre konkrete Situation bezogen aneigneten, für ihre eigenen Bedürfnisse modifizierten. Dies macht die Charakterisierung Michoacáns als atlantische Region und eine entsprechende beziehungsgeschichtliche und (punktuell) vergleichende Perspektive unbedingt notwendig. Gleichzeitig will die Studie damit einen Beitrag leisten zur theoretischen und methodischen Weiterentwicklung des Konzepts der Atlantischen Geschichte.72 Warum aber lohnt sich zur Untersuchung der konkret-regionalen Ausprägung der mit diesen Prozessen verbundenen Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmustern, warum lohnt sich hierfür der Blick auf die (Praktiken der) Verfassung- und Gesetzgebung beziehungsweise auf die Verfassung- und Gesetzgeber? Dieser Zugang bietet sich meines Erachtens für die Fragestellung auf zweifache Weise an: Bezüglich des ersten Vorzugs muss hier theoretisch-allgemein – in der vorliegenden Studie wird das konkret anhand Neu-Spaniens beziehungsweise Michoacáns nachgezeichnet – auf ein grundsätzlich gewandeltes Verständnis der Konzepte Politik und Recht aufmerksam gemacht werden, das sich wiederum in eine veränderte Welterfahrung einbettet. Immanuel Kant (1724-1804) beschrieb sein Zeitalter als „das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“73: Alles, was zuvor von transzendenten Wahrheiten geprägt war, stand nun zur Disposition. Alles wurde – wie es der Historiker Reinhart Koselleck beschrieb – vor den „hohe[n] Gerichtshof der Vernunft“74 gestellt, schließlich sogar „der göttliche, bis dahin undurchsichtige Heilsplan selber“75. Auch die eigene Zeitlichkeit stand damit zur Disposition, die Vergangenheit wie die Zukunft. Erstere wurde als Geschichtsphilosophie subjektiv interpretierbar, letztere offen und damit plan- und gestaltbar. Gleichzeitig wuchsen damit die Möglichkeit und der Zwang, sich beziehungsweise seine Gesellschaft qua Vernunft zu per-
72 Vgl. zu Fragen einer „Atlantischen Geschichte“ u.a. das von Bernard Bailyn an der Harvard University initiierte Projekt des „Atlantic History Seminar“ (seit 1995), den Sammelband von Pietschmann (Hg.): History von 2002 und die von Renate Pieper und Peer Schmidt edierte Festschrift: America (2005). Zu Fragen beziehungsgeschichtlicher und ver-gleichender Geschichtsschreibung: Osterhammel: Geschichtswissenschaft, v.a. S. 11-45; Kaelble: Vergleich; Kocka: Comparison; Werner / Zimmermann: Vergleich. 73 Kant: Vorrede, S. 9, Anmerkung. 74 Koselleck: Kritik, S. 6. 75 Koselleck: Kritik, S. 7.
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fektionieren, auf der Fortschrittlichkeitsskala voranzubringen.76 Alles wurde machbar. Und durch das Fortschrittsdiktum wurde aus den neuen Handlungsmöglichkeiten häufig ein Zwang. Das Denkmuster von unterschiedlichen Entwicklungsstufen in einer geschichtsphilosophisch als Einheit konzipierten Welt und damit von der „Ungleichzeitigkeit verschiedener, aber im chronologischen Sinne gleichzeitiger Geschichten“ hatte auch in Amerika Fuß gefasst.77 Für die Elite Michoacáns wird dies die folgende Studie unterlegen. Freilich versuchte man hier – auch das wird die Studie zeigen –, das Fortschrittlichkeitsdiktum umzudrehen, damit es nicht mehr hieß: „Blickte man vom zivilen Europa auf das barbarische Amerika, so war das auch ein Blick zurück“78. Die als solche wahrgenommene Fortschrittlichkeit Amerikas in puncto republikanisch-liberaler Verfassungsordnung gegenüber dem monarchischen Europa spielte hierbei eine zentrale Rolle. Für das Verhältnis von Politik und Gesetz hatte die veränderte Welterfahrung weitgehende Konsequenzen. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm umschreibt das pointiert folgendermaßen: „Recht galt“ gemäß der alten Vorstellung „kraft unvordenklicher Tradition oder göttlicher Stiftung“ und war entsprechend „kein Gegenstand von Entscheidung, sondern von Erkenntnis“79. Politik hatte Recht also „nicht zu gestalten, sondern zu bewahren und im Falle der Verletzung wiederherzustellen“80. Nach der gewandelten Vorstellung galt dann: „Recht war machbar geworden“81. Der Verfassungsbegriff wandelte sich entsprechend „vom Seins- zum Sollensbegriff“82. Ernst-Wolfgang Böckenförde spricht vom Entwurf einer „Zukunftswelt“, die der „Herkunftswelt“ als anzustrebendes Ideal gegenübergestellt wurde.83 Bei diesem Verständniswandel handelt es sich in Europa laut Forschung um einen sehr langsamen, in der Renaissance einsetzenden Prozess, der auch im 18. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen war.84 Der Verfassung wurde idealtypisch die Aufgabe zugeschrieben, sowohl eine neue Staatlichkeit zu konstituieren als auch das Verhältnis von Staat zu Gesellschaft neu zu regeln. Für diese Aufgaben gaben sich selbst Monarchen schriftliche Grundgesetze, weshalb man für die betrachtete Zeit passenderweise von einem Zeitalter der atlantischen Verfassungen spre76 Vgl. hierzu auch: Koselleck: Fortschritt; Koselleck: Jahrhundert. 77 Vgl. für weitere Teile lateinamerikanischer Eliten: Heimann: Liberalismus, S. 59f.; Schmidt: Minuto. 78 Koselleck: Zukunft, S. 323. 79 Grimm: Politik, S. 91. 80 Grimm: Politik, S. 92. 81 Grimm: Politik, S. 94. 82 Grimm: Zukunft, S. 11. 83 Vgl. Böckenförde: Staat, v.a. S. 169-172. 84 Vgl. im Überblick: Schilling: Normsetzung, S. 1-3; Eberl: Verfassung, S. 438f.
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chen kann. Dem atlantischen (Früh-)Konstitutionalismus waren zudem bezüglich der Gesellschaft Idealvorstellungen eigen, die es umzusetzen galt. Die Staatsbürgergesellschaft wurde zum atlantischen Ideal und Movens vieler Politiker auf beiden Seiten des Ozeans. Gleichzeitig griffen einzelne Regionen auf eigene Verfassungs- und Politiktraditionen zurück, Michoacán beispielsweise – wie zu sehen sein wird – auf ein ausgeprägtes historisch gewachsenes Regionalbewusstsein, eine starke katholisch-aufgeklärte Prägung, die Multiplikation überlokal tätiger Akteure oder die Verschriftlichung von Herrschaft, um nur einige Facetten zu nennen. Das für die Abgeordneten Sag- und Machbare hatte sich enorm erweitert. Gleichzeitig sahen sie sich im Spannungsfeld atlantisch(-theoretisch)er und regionaler sowie lokaler Ansprüche zur Konzeptualisierung und Systematisierung der Ideen über Menschen, über Konzepte wie Staat, Nation und Gesellschaft, kurz über die Außenwelt, gezwungen, und zwar im Rahmen konkreter Problemlösungen.85 Politik wird – wie bei Gómez de la Puente im Eingangszitat – als Kommunikationsakt in zwei Richtungen verstanden. Sie ist nicht nur „Sprechhandlung“ von oben nach unten, sondern auch „Verstehenshandlung“86. Als neue politische Entscheidungsträger – mit der Unabhängigkeit war der alte Staatsapparat komplett aufgelöst – mussten sie sich diesen Aufgaben stellen. Sie übernahmen in kürzester Zeit Verantwortung und Machtpositionen, die die Parlamentarier in Europa bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts „nicht ernsthaft angestrebt“87 hatten. Über die skizzierte Herangehensweise können diese neuen Sag- und Machbarkeiten besonders gut erfasst werden. Für den zweiten, eng mit dem ersten verbundenen Vorzug des Zugangs über die Verfassung- und Gesetzgebungsthematik wird der Blickwinkel quasi um 180 Grad gewendet, und auf die Abgeordneten selbst gerichtet: Er besteht in der Möglichkeit der Untersuchung der Selbstverständigungs- und Selbstverortungsprozesse einer sich neu etablierenden Elite, und zwar über den engeren politischen Bereich hinaus. Die Verfassung von 1825, die Gesetze und ihre jeweilige Erarbeitung können somit als erste umfassende regionale Bewältigungsversuche einer viele Lebensbereiche erfassenden Krise verstanden werden. Für das erste zentrale Quellencorpus, die Gesetze, wurde für die vorliegende Studie eine in den 1880er Jahren edierte umfassende Gesetzessammlung 85 Vgl. zu Anregungen für die Diskursgeschichte in diese Richtung: Lottes: State, S. 44f. 86 Frevert: Politikgeschichte, S. 158. 87 Wahl: Konstitutionalismus, S. 589. Rainer Wahl spricht für Europa weiter von einer „Selbstbegrenzung der Parlamente“ und einem „Unverständnis für die Anforderungen des Regierens“ (Wahl: Konstitutionalismus, S. 587).
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verwendet, in der die insgesamt knapp 500, zwischen 1824 und 1835 verabschiedeten Gesetze zu finden sind.88 Die Protokolle als zweiter Hauptfundus sind nur partiell ediert, nämlich diejenigen der Konstituante (1824/25), während für diejenigen der ordentlichen Kongresse (1825-1835) auf die umfassenden handschriftlichen Bestände des Archivo Histórico del Congreso de Michoacán (AHCM) zurückgegriffen wurde. Beide Bestände sind bis auf wenige Protokolle der Konstituante und des ersten ordentlichen Kongresses vollständig. Sie spiegeln die Debatten meist ausführlich wider, die Edition der Konstituante umfasst beispielsweise gut 900 Druckseiten, die Handschriften der weiteren Kongresse haben einen ähnlichen Umfang. Pro Sitzung wurde im Schnitt ein schätzungsweise vier- bis fünfseitiges Protokoll angelegt. In die Untersuchung flossen außerdem Dokumente aus dem Archivo Histórico del Poder Ejecutivo (AHPE), insbesondere die jährlich erscheinenden Regierungsberichte (Memorias), ein. Für die Untersuchung der Wahlen konnte zudem Material des Archivs der regionalen Hauptstadt (Archivo Histórico del Ayuntamiento de Morelia, AHAM) verwendet werden. Die ab 1829 beziehungsweise 1830 erscheinenden beiden ersten regionalen Zeitungen sind in der Mikrofiche-Sammlung der Bibliothek des Museo antropológico in Mexiko-Stadt zu finden. Eine zeitgenössische Sammlung aller mexikanischen Verfassungen der Föderation und der Einzelstaaten stand im Ibero-Amerikanischen Institut (Berlin) zur Verfügung. Für diese Texte sei zudem auf das mittlerweile veröffentlichte Projekt „Constitutions of the World from the late 18th Century to the Middle of the 19th Century“89 verwiesen. Insbesondere für den ersten Teil konnten edierte, häufig digitalisierte Dokumente- und Gesetzessammlungen der späten Kolonialzeit und der Zeit der Verfassung von Cádiz herangezogen werden. Ergänzt wurden diese Corpora durch Protokolle des Stadtrates der Hauptstadt von Michoacán, die im erwähnten Lokalarchiv lagern, sowie durch Dokumente der Colección Lafragua (LAF) der Biblioteca nacional und des Archivo General de la Nación (AGN) in Mexiko-Stadt. Die vorliegende Studie ist in drei Teile und sechs Kapitel untergliedert. Der erste, aus einem Kapitel bestehende Teil geht Fragen bezüglich der Ausbildung einer spätkolonialen Verfassungs- und Politikkultur innerhalb der regionalen Elite nach. Gleichzeitig übernimmt dieser Teil mittels stärker deskriptiver Passagen die Funktion einer vertieften Kontextualisierung. Auf Grund noch zu ex-plizierender politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren kam es in der späten Kolonialzeit zu einer verstärkten Integration der 88 Vgl. hierzu für die genaue Zitation das Materialverzeichnis im Anhang. 89 Im Internet stehen unter www.modern-constitutions.de digitalisierte Versionen der Erstausgaben der Verfassungen zur Verfügung. Die Mexiko-Bände erschienen 2009/10; vgl. Dorsch (Hg.): Documentos.
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Region Michoacán und zur Multiplikation überlokal tätiger Akteure. Innerhalb der Region bildete sich eine Elite heraus, die vermehrt Ansprüche auf erweiterte Gestaltungsfreiräume, auf die Repräsentation ihrer Interessen und auf eine entsprechende Verfassungsordnung erhob. Dabei geriet sie, wie angedeutet, zunehmend mit entgegengesetzten Ansprüchen der Zentrale in Madrid in Konflikt. Gleichzeitig kristallierte sich – und dies kann hier auf Grund des vorliegenden Quellenmaterials und des gewählten Schwerpunktes der Gesamtstudie auf der Zeit nach der Unabhängigkeit zunächst ‚nur’ für die hispanische Ebene gezeigt werden – der oben angedeutete Wandel des Gesetzesverständnisses heraus: Gesetze wurden zunehmend positivrechtlich als Mittel der Gesellschaftsgestaltung wahrgenommen und eingesetzt. Einen ersten Höhepunkt fand dies in der Verfassung von Cádiz (1812), die als erste geschriebene transatlantische Verfassung zu lesen ist. Der zweite, in zwei Kapitel untergliederte Teil untersucht unter den oben genannten Prämissen die Erarbeitung und die Inhalte der ersten Verfassung von Michoacán (1825). In ihr verwirklichten sich einerseits die Ansprüche der Regionalelite auf Repräsentation und Konstitution, andererseits manifestiert sich hier der Wandel des Gesetzesverständnisses. So fragt Kapitel B zunächst nach den Rahmendaten wie der föderalen Verfassung und der Zusammensetzung der Konstituante und dann nach den grundlegenden Vorstellungswelten und Erwartungshaltungen der Abgeordneten bezüglich der Konzepte ‚Verfassung’, ‚Gesellschaft’ und ‚Staat’. Hier wird deutlich, dass die Abgeordneten mit der Verfassung nicht nur auf die Verwaltung des Staates, sondern auch auf die Gestaltung der Gesellschaft abzielten, also ein stark positivrechtliches Verfassungsverständnis aufwiesen. Im nächsten Kapitel C kann anhand der Untersuchung der Gewaltenteilung beziehungsweise des Verwaltungsaufbaus gezeigt werden, dass die Verfassungsväter im Kongress zentrale Kompetenzen zu vereinen suchten, die vormals dem Monarchen oblagen – zusammengefasst als These vom Kongress als Ersatzmonarch.90 Den Teil II abschließend folgt eine Verortung der Verfassung Michoacáns in den Horizont des atlantischen Frühkonstitutionalismus. Vergleichende Elemente werden im Sinne Michoacáns als atlantischer Region freilich schon im gesamten Verlauf immer wieder aufgegriffen, sollen hier aber synthetisiert werden. Der dritte Teil der Arbeit analysiert in drei Kapiteln die von den Abgeordneten aufgebauten Beziehungen des Kongresses zum Souverän, dem Volk, während der ersten föderalen Republik (1824-1835). Dadurch leistet es einen wichtigen Beitrag zur (lateinamerikanischen) Parlamentarismusforschung. Zu Beginn des Kapitels stehen einige kontextualisierende Bemerkungen über 90 Vergleiche mit anderen Verfassungen der mexikanischen Einzelstaaten spielen hier eine besonders wichtige Rolle.
Einleitung
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die Region bis 1835. Ein prosopographisches Sozialprofil beschreibt die Abgeordneten als Teil einer in Fluss geratenen Gesellschaft, viele stammten aus einer sich entwickelnden (bürgerlichen) Mittelschicht. Kapitel D untersucht im Anschluss das für die institutionelle Beziehung zentrale Wahlrecht und stellt dabei einerseits ein sehr weit gefasstes Wahlrecht fest, andererseits ein permanentes Vertrauensdefizit der Abgeordneten gegenüber dem Souverän – also eine asymmetrische Vertrauensbeziehung, die trotz einer großen Reformbereitschaft bezüglich der Wahlgesetze fortlebte. Gleichzeitig wird evident, dass entgegen geläufiger Annahmen konkrete Wahlpraktiken und damit die Wähler Einfluss auf die Gesetzgebung und Reformen hatten. Kapitel E fragt dann allgemeiner nach Gesellschaftskonzeptionen der Abgeordneten, wie sie sich in den Diskussionen und Gesetzen wieder finden. Die Untersuchung zeigt eine starke, dem aufgeklärten Denken verhaftete Verortungs- und Kategorisierungsintention der Abgeordneten in gute und schlechte Bewohner. Das Ideal stellte der Staatsbürger dar, der sich für die „natürliche“ Familia michoacana, also für die familiäre Gemeinschaft aller Bewohner Michoacáns, beziehungsweise für die zu schaffende Nación michoacana opfert. Das Definitionsmonopol beanspruchten die Abgeordneten als Patres familias freilich auch hier für sich. Im abschließenden Kapitel wird verschiedenen Formen des Auftritts der Abgeordneten in die Öffentlichkeit nachgegangen, nämlich zuerst dem persönlichen, dem architektonischen und schließlich dem schriftlichen Auftritt. Damit verbindet sich die Frage, wie die Abgeordneten sich wem gegenüber inszenierten und wie sie mit wem kommunizierten. Es kann gezeigt werden, dass Kommunikation nach außen für die Abgeordneten einen zentralen Stellenwert hatte, dass mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich kommuniziert wurde und dass die Kommunikation deutlich auf die Abgeordneten zurückwirkte. Bei diesen unterschiedlichen Formen der Inszenierung des Kongresses gegenüber dem Volk stand dabei die Figur des Monarchen Pate, die eine nicht zu hinterfragende, institutionelle Ordnung versprach. Dem Auftritt nach außen wird mit Hilfe der Untersuchung der politischen Kultur innerhalb des Kongresses derjenige nach innen gegenübergestellt, die sich durch eine große Kritikfähigkeit auszeichnete. Im abschließenden Resümee werden die Ergebnisse zusammengefasst und verortet.
Michoacán: Naturräumliche, demographische und ökonomische Skizze
Vor der eigentlichen Bearbeitung des Themas werden auf den folgenden Seiten zunächst einige grundlegende naturräumliche, demographische und wirtschaftliche Tendenzen der Region Michoacán in der späten Kolonialzeit portraitiert. Für die vorliegende Studie wird, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, mit „Michoacán“ das Gebiet der 1786 errichteten Intendencia de Valladolid de Michoacán beziehungsweise des 1824 geschaffenen Staates Michoacán bezeichnet. 1 Michoacán war (und ist) gekennzeichnet durch eine große geographische, kulturelle und sozioökonomische Diversität.2
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Das Bistum Michoacán hingegen umfasste neben der Intendanz Michoacán im Wesentlichen die zwei nördlich angrenzenden Intendanzen Guanajuato und San Luis Potosí und erhielt in Abgrenzung häufig den Namen „Gran Michoacán“. Während der Kolonialzeit erfuhr die administrative Einteilung der Region sowohl im säkularen als auch im kirchlichen Bereich mannigfache Veränderungen. Insbesondere im Grenzgebiet zum westlich gelegenen Guadalajara und gen Norden kam es im 18. Jahrhundert zu Gebietsverlusten; vgl. Mazin: Cabildo, S. 47-76; Morin: Michoacán, S. 16-21; Jaramillo Magaña: Iglesia, S. 111-154. Das an der Pazifikküste liegende Colima war bis 1795 Teil des Bistums und der Intendanz Valladolid, danach unterstand es Guadalajara.
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Michoacán lässt sich grosso modo in drei zentrale Räume einteilen. Der relativ ebene, im gemäßigten Hochland liegende Norden, das Bajío michoacano, von Maravatío im Osten über Valladolid (heute Morelia) im Süden bis nach Zamora entwickelte sich für die Spanier schon bald nach ihrer Ankunft zum Siedlungsschwerpunkt (in der Karte als „Southern Bajío“ bezeichnet). Bereits 1580 wurde Valladolid Sitz eines der im 18. Jahrhundert reichsten Bistümer Amerikas, gegen Ende der Kolonialzeit löste die Stadt schließlich endgültig den ständigen Rivalen Pátzcuaro auch als politisches Zentrum ab. Wirtschaftlich war die Region geprägt durch eine hohe Anzahl von unterschiedlich großen Getreideund Viehhaciendas sowie durch die zunehmende Handelsorientierung gen Mexiko-Stadt beziehungsweise im Nordwesten gen Guadalajara, dem Zentrum des westlichen Mexikos. Vor allem aber gewannen die Silberzentren im Norden, im so genannten Bajío, um Guanajuato und San Luis Potosí als Handelspartner an Bedeutung. Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich das Bajío auf Grund der Erschließung neuer Silberminen und des Ausbaus der Landwirtschaft zu einem der am dichtesten besiedelten und urbanisierten Wirtschaftszentren des Vizekönigreichs Neu-Spanien. 3 Die Versorgung dieser Region führte zu einer verstärkten Integration des Bistums, bei der das Bajío michoacano zum Teil als Produzent (Getreide, Fleisch), zum Teil als Zwischenstation der Waren aus dem Süden (Zucker, Baumwolle, Anil-Farbstoff, Kupfer und Salz) fungierte. Die Verbindungen nach Mexiko-Stadt waren hingegen deutlich schlechter ausgebaut, wenngleich auch die Hauptstadt, wie Guadalajara, als Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte Michoacáns in den Handelsverzeichnissen stand. 4 In Mexiko-Stadt, dem ökonomischen Zentrum des Vizekönigreiches, galt weitgehend nur das Bajío michoacano als wirtschaftlich interessantes Gebiet der Intendanz und war entsprechend eingebunden.5 2 3
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Vgl. im Folgenden insb. Chowning: Wealth, S. 3-5 u. 13-31; Morin: Michoacán: S. 21-38. Zum Bajío und Guanajuato insgesamt: Brading: Miners, S. 223-339; Tutino: Insurrection, S. 41-98. Als Indikator für die starke Prosperität sei hier lediglich das imposante Bevölkerungswachstum von 144% zwischen 1742 und 1793 genannt – der Durchschnitt für das gesamte Vizekönigreich lag bei 33%. Die Stadt Guanajuato besaß mit seinen Minen- vororten 1790 ca. 55.000 Einwohner und war damit nach Mexiko-Stadt und Puebla zur drittgrößten Stadt des Vizekönigreiches aufgestiegen; vgl. Ortiz Hernan: Caminos, S. 189 (Cuadro 4); Garner: Silver, S. 907; Brading: Silver-mining, S. 667-669. Morin: Michoacán, S. 142-146. Das Straßennetz des Bistums Michoacán war nach Adriaan C. van Oss das zweitdichteste des Vizekönigreichs, die Verbindungen in die Nachbarregionen waren dagegen eher schlecht ausgebaut. Die Verbindung zwischen Mexiko-Stadt und Guadalajara, dem Zentrum im Westen, lief auf Grund der relativen Isolation Michoacáns durch Gebirgszüge im Norden an Michoacán vorbei. Die Hauptroute von Valladolid nach Mexiko-Stadt lief südlicher über Maravatio, war aber schwieriger zu befahren; vgl. van
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Die Regionen Michoacáns
Quelle: Chowning: Wealth, S. 4.6
Im Süden an das Bajío anschließend durchzieht der Gebirgszug der Sierra madre central in Ost-West-Richtung Michoacán. Diese Subregion bildete insbesondere um den See von Pátzcuaro mit Tzintzuntzan und später mit Pátzcuaro für die Purhepecha und zunächst auch für die Spanier das administrative Zentrum. Es ist bis heute Siedlungskern der Indigenen, die hier in Form von kleinen Familienbetrieben und insbesondere von Dorfgemeinschaften Landwirtschaft betrieben, mit deren Produkten sie neben dem Eigenbedarf auch zur Versorgung der Städte beitrugen. Die Spanier lebten vor allem in Pátzcuaro und den relativ stark gen Mexiko-Stadt orientierten Silberbergbauzentren im Osten
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Oss: Activity, S. 143-145; Solares Robles: Bandidos, S. 258f. u. 269f.; Ortiz Hernan: Caminos, S. 98, 104 u. 202ff. (mit Karte). Die Auswertung von John Tutino bezüglich des Landbesitzes der in Mexiko-Stadt ansässigen Landbesitzerelite verdeutlicht diese Aufteilung: Demnach war nur der Norden Michoacáns als Zielgebiet der Investitionen vermerkt. Jochen Meißner fasste zusammen, dass „Michoacán für die in Mexiko-Stadt ansässigen Großgrundbesitzer kaum von Interesse“ (Meißner: Elite S. 194) war; vgl. hierzu: Meißner: Elite, S. 126-131 (u.a. die auf den Daten Tutinos basierende Karte auf S. 127). Auch nach Christiana Renate Borchart de Moreno stellte Michoacán eine semi-periphere Region dar: Für die 1760er und 1770er Jahre konstatiert sie lediglich Handelsverbindungen von Mexiko-Stadt in den Norden Michoacáns: Borchart de Moreno: Mercaderes, S. 72-95, abgebildet auf Karte S. 289. Copyright 1999 erteilt vom Board of Trustees of the Leland Stanford Jr. University.
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um Tlalpujahua und Zitácuaro sowie den Kupferminen um das südliche Ario. Letztere zeichneten am Ende der Kolonialzeit für circa zwei Drittel der neuspanischen Produktion verantwortlich.7 Wie andernorts breiteten sich auch hier einige große, sich in spanischen Händen befindende Haciendas aus, so dass die wachsende indigene Bevölkerung auf immer stärker eingeschränktem Raum lebte. Gleichzeitig beschleunigte dies die von Spaniern ausgehende Integration der Region.8 Bessere Arbeits- beziehungsweise Verdienstmöglichkeiten machten ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die im südlichen Flachland liegende und von Flüssen durchzogene Tierra caliente („heiße Erde“), die dritte Subregion, für die Besiedlung und für Investitionen attraktiver. Die Investitionen flossen insbesondere in den, auf großen Haciendas betriebenen Anbau von Zuckerrohr und Reis, von Baumwolle und des Anil-Farbstoffes. Im Bezirk Coalcomán wurden gen Ende der Kolonialzeit auch eisenhaltige Mineralien abgebaut.9 Vor allem die zwei erstgenannten Produkte wurden häufig von in Valladolid sitzenden Hacendados in die Silberzentren in Guanajuato exportiert, die Baumwolle vor allem nach Guadalajara. Im Gegensatz zum Osten des Vizekönigreiches verließen allerdings nur wenige Agrarprodukte Neu-Spanien, Michoacán produzierte stark für den internen Markt. 10 Die Tierra caliente zeichnete sich durch einen besonders hohen Grad an gemischt-ethnischer Bevölkerung, unter anderem einem hohen Anteil an Mulatten, aus.11 Die noch weiter gen Süden liegende und kaum besiedelte Sierra Madre del Sur und die
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Die Straße von Tlalpujahua nach Mexiko-Stadt über Zitácuaro und Toluca wurde 1759 eröffnet, verbesserte die Handelssituation der Region merklich und galt dann als die zweitbeste Verbindung Michoacáns in das Zentrum; vgl. Solares Robles: Bandidos, 258260: Pastor / de los Angeles Frizzi: Crecimiento, S. 196. Insbesondere verbesserte Techniken und die durch die Krone gesenkten Anschaffungskosten bei den königlichen Monopolgütern Quecksilber und Schießpulver sowie bessere Finanzierungsbedingungen machten größere Investitionen im Silbersektor wieder attraktiv und lösten somit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Silberboom aus, der auch Michoacán ergriff; vgl. allgemein: Brading: Silver-mining, S. 667-669; vgl. zum Kupfer: Barrett: Copper, v.a. S. 77-80. 8 Vgl. Morin: Michoacán, S. 210ff. u. 284-293; Pastor / de los Angeles Frizzi: Crecimiento, S. 196f. 9 Vgl. Juárez Nieto: Oligarquía, S. 314.; Chowning: Wealth, S. 28; Sánchez Díaz: Suroeste, S. 32f. u. 60-63. 10 Vgl. Morin: Michoacán, S. 144f.; Brading: Miners, S. 16. Juárez Nieto nennt beispielsweise die noch zu behandelnden reichen Familien Foncerrada, Michelena, Huarte und Peredo als Investoren; vgl. Juárez Nieto: Oligarquía, S. 53f. 11 Die Sklaverei, eine in dieser Region vormals weiter verbreitete Institution, war im letzten Drittel des Jahrhunderts fast völlig verschwunden; vgl. Morin: Michoacán, S. 257f.
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Pazifikküste spielte weder im Wirtschaftsleben – es sei denn in der Salzgewinnung – noch im Bewusstsein der regionalen Eliten eine größere Rolle. Nach Claude Morin wuchs die Bevölkerung der gesamten Intendanz von 1760 bis 1792 um 44% von 154.549 auf 222.771 Einwohner, nach den Berechnungen von Alexander von Humboldt, der zu dieser Zeit die Region bereiste, besaß Michoacán 1803 376.400 Bewohner von insgesamt 5.837.100 im Vizekönigreich, was in etwa 6,4% der Gesamtbevölkerung entspricht. 12 Das Bajío michoacano trug auf Grund seiner wirtschaftlichen Attraktivität überproportional zu diesem Anstieg bei, während die Bevölkerung der Sierra tarasca nur unterdurchschnittlich wuchs, wozu nicht zuletzt auch die Abwanderung in die beiden Nachbarregionen beitrug. Mitte der 1780er Jahre ließen Hungerkrisen und Epidemien viele Personen aus dem nördlichen Bajío nach Michoacán, insbesondere in die nördlichen Regionen um Puruándiro und Zamora sowie in die Tierra caliente, einwandern. Auch die urbanen Zentren erlebten auf Grund ihrer besseren Versorgungseinrichtungen (öffentliche Getreidespeicher etc.) eine starke Expansion: Valladolid verdoppelte seine Bevölkerung von 9.300 Einwohner 1760 auf 18.000 um die Jahrhundertwende, in Zamora, das Anfang des 18. Jahrhunderts noch 2.000 Einwohner zählte, waren es 1792 bereits 6.000.13 Um die Städte bildeten sich halburbane, gemischt-ethnische Barrios.14 Aber auch die spanische Immigration spielte im Falle Valladolids insbesondere in den 1770er Jahren eine gewisse Rolle.15 Neben dem Bevölkerungswachstum fand in vielen Gebieten durch das Neben-, Gegen- und Miteinanderleben verschiedener Gruppen entgegen der rechtlich verordneten, unten zu behandelnden ethnischen Trennung eine zunehmende Mestizisierung der lokalen Gemeinschaften statt, die sich im 18. Jahrhundert deutlich beschleunigte. Betroffen hiervon waren nicht nur die Städte, die Zentren der spanischen Besiedlung – neben den beiden Ciudades Valladolid und Pátzcuaro besaßen in Michoacán Zamora und Zitácuaro als
12 Humboldt: Mexico-Werk, S. 241f. Die Angaben von Morin und Humboldt sind auf Grund unterschiedlicher Berechnungsweisen nicht vergleichbar, lassen sich also nicht als Wachstum fassen. 13 Vgl. Morin: Michoacán, S. 156f.; Hamnett: Roots, S. 103. 14 Bezeichnenderweise wurde Valladolid, wie andere neuspanische Städte auch, 1797 in kleinere Verwaltungseinheiten unterteilt und mit eigenen Stadtteilrichtern, den Alcaldes de barrio, ausgestattet. Bei dieser Anweisung wurde speziell auch auf indianische Bevölkerungsteile eingegangen; vgl. Ordenanza (1797). 15 Allgemein zur Bevölkerungsentwicklung vgl. Morin: Michoacán, S. 39-91; Pastor / de los Angeles Frizzi: Crecimiento, S. 198-202; Solares Robles: Bandidos: S. 257f.; Terán: Gobierno, S. 40 u. 46f.; Brading: Miners, S. 14f.; Ortiz Hernán: Caminos, S. 97.
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Villas, also als kleinere Städte, Stadtrecht.16 Vielerorts musste man auch an Stelle der Repúblicas de indios eher von gemischt-ethnischen Siedlungen (Vecindarios) sprechen.17 Nach einem vom Vizekönig, dem zweiten Grafen von Revillagigedo (1789-1794) angeordneten Zensus von 1792 hatten sich in vielen Dörfern (Pueblos), vor allem in den Hauptorten (Cabeceras) der Repúblicas, vornehmlich im Handwerk, Handel und in der Kirchen- sowie Zivilverwaltung Spanier und gemischtstämmige Castas etabliert. 18 Der Anteil der Indigenen, der nicht in Repúblicas de indios lebte, sondern beispielsweise auf Haciendas oder in städtischen Randgebieten, war nach zeitgenössischen Zählungen um die Jahrhundertwende mit 22,7% mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt Neu-Spaniens. 19 William Taylor beziffert den Bevölkerungsanteil der Indigenen in Michoacán auf nur noch 42,5%, während derjenige der Spanier mit 26% angegeben wurde, den Rest der Bevölkerung stellten demnach Mestizen, Mulatten und Schwarze.20 Der Anteil an Sklaven dürfte wie im gesamten Neu-Spanien außerhalb der
16 Weiterhin genossen auch die ehemalige, in der Nähe von Pátzcuaro gelegene Hauptstadt der Purhepecha, Tzintzuntzan, bzw. das zum Marquesado del Valle de Oaxaca gehörende Charo trotz ihres politischen und wirtschaftlichen Niedergangs den Titel einer „Ciudad“ bzw. einer „Villa“. Als eine zweite Exklave, die Teil einer Adelsherrschaft war, existierte ein zur Markgrafschaft von Atlixco gehöriges Dorf bei Maravatio. Vgl. den Überblick: Heimann: Liberalismus, S. 28f.; zu Michoacán: Terán: Gobierno, S. 39f.; Juárez Nieto: Oligarquía, S. 39; Castro Gutiérrez: Tzintzuntzan; zum Marquesado del Valle: García Martínez: Marquesado, v.a. S. 68, 80-86 u. 141f. 17 Vgl. für einen gesamtmexikanischen Überblick mit Verweis auf weitere Literatur: Heimann: Liberalismus, S. 30-32 und zur Auflösung rein ethnisch-ständischer Sozialstrukturen im Überblick mit weiterer Literatur: Hensel: Entstehung, S. 51-59. 18 Vgl. die zeitgenössischen Beschreibungen der Ortschaften in: Inspección Ocular. Schon eine Beschreibung der Provinz um die Jahrhundertmitte hatte bei der Bevölkerungsaufzählung fast durchgängig Gruppen von Spaniern, Indigenen, Mestizen und häufig auch Mulatten in den Pueblos ausgewiesen; vgl.: Villaseñor y Sanchez: Theatro Americano, S. 11-28; vgl. besonders anschaulich auch die Tabelle mit Dörfern um 1680 mit starken nicht-indigenen Anteil: Castro Gutiérrez: Indeseables, S. 63; außerdem: Terán: Gobierno, S. 42-55; Morin: Michoacán, S. 122, 210ff. u. 284-293. Zum Begriff der Castas: Heimann: Liberalismus, S. 31. Vgl. auch die Studien einzelner Pueblos: Castro Gutiérrez: Tzintzuntzan; Castro Gutiérrez: Indios; Castro Gutiérrez: Undameo; Miranda Arrieta: Participación. 19 Vgl. Estado General de Tributos, in: Boletin AGN, 3. Serie, I, 3 (1977), S. 1-43; Tanck de Estrada: Pueblos, S. 112. Mit diesem Prozentsatz lag Michoacán weit nach Guanajuato (68%), Zacatecas (35%) und San Luis Potosí (32%), aber auch weit vor den sieben anderen aufgezählten Intendanzen (zwischen 0 und 3,8%). Der Durchschnitt wird mit 10% angegeben. Die nicht in Pueblos lebenden Indigenen firmieren dort als „arbeitsame [laboriosos] Indios und Vagabunden“. 20 Vgl. Taylor: Drinking, S. 26.
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Küstenregionen von Veracruz und Acapulco von einem geringen Ausgangsniveau im 18. Jahrundert weiter gesunken sein.21 Auch wenn die Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren sind, lässt sich doch die Tendenz festhalten, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Michoacán nicht mehr indigen war, während beispielsweise das weiter im Süden liegende Oaxaca nach Taylor noch 88,3% indigenen Anteil besaß, Puebla 75% und das zentrale Mexiko 62,5%.22 Auch innerhalb der indigenen Bevölkerung, die im 18. Jahrhundert erstmals seit der Ankunft der Spanier wieder anstieg, differenzierte sich die Situation stark aus: Während 1792 etwa ein Fünftel der Dörfer – ihre Zahl lag gegen Ende der Kolonialzeit in Michoacán nach Abspaltungen und Bevölkerungswanderungen bei 271 – nicht über den ihnen nach Gesetz zustehendem Mindestbesitz an Land (Fundo legal) verfügten, besaßen andere weit mehr als diesen und verpachteten ihn zum Teil. Nach dem Zensus von 1792 verfügten Indios über ein Viertel der Ranchos der Intendanz. Einige partizipierten aktiv am Handelswachstum und unterhielten über die gesamte Region verzweigte Netzwerke.23 Auch innerhalb der Dorfgemeinschaften existierten wie in den Städten große sozioökonomische Unterschiede. 24 Die gestiegene Attraktivität für Investitionen im ländlichen Raum beschleunigte die Landkonzentration, was unter dem Strich in eine, allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägte Verarmung der indigenen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten der Kolonialzeit mündete.25 Insbesondere zwischen den ausgewanderten Indios und Castas, aber auch zwischen Mestizen und Spaniern verloren im Bewusstsein der Eliten ethnische Unterscheidungskriterien an Bedeutung. 26 Die Wahrnehmung dieses Phänomens spiegelt sich in einer Gesetzgebung wider, die diesen Prozess zu stoppen versuchte. Die Mulatten verortete man in den Tributlisten als „vagos“, also als Vagabunden, und somit im gesellschaftlichen und „institutionellen ‚Niemandsland’“27. Vagabunden sollten vermehrt als Gefahr für den sozialen Frieden verfolgt, die komplexer werdende Gesellschaft immer häufiger durch
21 Vgl. allgemein zur Sklaverei in Spanisch-Amerika: Andrés-Gallego: Esclavitud, hier insb. S. 18-20. Wie im Kapitel B I zu sehen sein wird, existierten bei der Verabschiedung der Verfassung von 1825 noch sechs Sklaven im Staat. 22 Vgl. Taylor: Drinking, S. 26. 23 Zum Handelsnetz vgl. die Karte bei Pastor / de los Angeles Frizzi: Crecimiento, S.202. 24 Morin: Michoacán, S. 284-295; Terán: Gobierno, S. 131. 25 Marta Terán hat herausgearbeitet, dass das Jahr 1776 das mit dem höchsten Eigentumswerten der Pueblos darstellt, danach setzte ein erhöhter Geldabfluss ein; vgl. Terán: Gobierno, S. 452-454. 26 Terán: Gobierno, S. 42. 27 Castro Gutiérrez: Movimientos, S. 142.
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Zählungen geordnet beziehungsweise beschrieben werden. 28 Nicht zuletzt in der Infragestellung der Distinktionsmerkmale der Indigenen und in der NichtVerortung der Castas ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kann man zum einen eine Ursache für sich verstärkende innergesellschaftliche Konflikte entdecken, aber auch Anzeichen für die Auflösung ethnisch-korporativer Gesellschaftsschranken hin zu einem für die neuspanischen Verhältnisse vergleichsweise hohen Grad an Mobilität und Individualisierung.29 Das Mobilisierungspotenzial über ethnische Grenzen hinweg lässt sich besonders deutlich an Hand von Aufständen der Jahre 1766 und 1767 erkennen: In der Anfangsphase der Aufstände nahmen Spanier in Pátzcuaro zur Nutzung eigener Interessen die Unruhe bei den Indigenen und Castas gegen die Aushebung von Milizionären für die neu zu gründenden Milicias auf. Später schlossen sich Mulatten in einer „alianza táctica“ 30 mit den indigenen Aufständischen zusammen. 31 Die gesetzlich verordnete Trennung der Ethnien war somit zunehmend gescheitert, vielmehr fand auf vielfache Weise eine soziokulturelle und biologische Mestizisierung statt. Das Bevölkerungswachstum und die stark gewachsene Nachfrage aus den Silberzentren führte im landwirtschaftlich geprägten und vor allem für den internen, neuspanischen Markt produzierenden Michoacán wie angedeutet zu einer starken wirtschaftlichen Expansion. 32 Exogene Faktoren wie die Einführung eines freieren Handelssystems innerhalb der spanischen Monarchie – Neu-Spanien wurde 1789 einbezogen – und die Errichtung neuer Kaufmannsgilden (Consulados) in Guadalajara und Veracruz (1795) hatten für Michoacán vor allem indirekte Auswirkungen. 33 Michoacán wies zusammen mit dem
28 Vgl. die Auflistung: Gerhard: Handbook, S. 405-417; Franco Cáceres: Intendencia, S. 47. 29 Vgl. Castro Gutiérrez: Movimientos; Chávez Carbajal: Negros. Vgl. zur Race-ClassDebatte im Überblick: Meißner: Elite, S. 27-35. Sowohl Meißner für Mexiko-Stadt als auch Taylor für die Intendanz México und Oaxaca haben herausgearbeitet, dass beide Regionalgesellschaften eine Tendenz von der Orientierung an v.a. ethnischen Kriterien hin zu Klassengesellschaften aufweisen; vgl. Meißner: Elite, S. 36-57; Taylor: Drinking. 30 Castro Gutiérrez: Movimientos, S. 146. 31 Vgl. allg. zur Aufstandskultur: Castro Gutiérrez: Uso. 32 Vgl. zur wirtschaftlichen Situation am Jahrhundertende: Morin: Michoacán, S. 141-208. 33 Die allmähliche Liberalisierung des bislang auf wenige Häfen monopolisierten Handels über ein Flottensystem im Rahmen der Einführung des Comercio libre ab 1765 führte zu einer wirtschaftlichen Belebung auf beiden Seiten des Atlantiks. Neu-Spanien wurde allerdings erst 1789 in das System miteinbezogen, also drei Jahre bevor der Handel durch fortwährende Kriege Spaniens stark gestört wurde; 1797 erlaubte man den Handel mit neutralen Schiffen, allerdings unter der oft nicht eingehaltenen Auflage, dass diese nur spanische Häfen anlaufen durften. Die Aufhebung dieser Maßnahmen zwei Jahre später wurde durch andauernde Ausnahmen nicht umgesetzt; vgl. Fisher: Comercio, S. 45-63;
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nordwestlich gelegenen Guadalajara und dem Bajío die dynamischste Wirtschaftsentwicklung am Ende der Kolonialzeit auf.34 Die größere Nachfrage nach den Agrarprodukten führte gleichzeitig zu größeren Investitionen in die Haciendas Michoacáns durch die städtischen Eliten aus dem Norden Michoacáns. 1792 existierten in Michoacán nach dem oben zitierten Zensus 426 Haciendas und 1.243 selbständige Ranchos, wobei flächenmäßig der Großgrundbesitz im Vordergrund stand. Der Besitz der selbständigen Ranchos konzentrierte sich in vielen Bezirken in den Händen weniger Hacendados. Die ökonomische Expansion zeitigte für einige Bevölkerungsteile somit negative Auswirkungen, die Gegensätze zwischen Arm und Reich wuchsen. Die Hacendados lebten meist in den Städten des Nordens und überließen einem Verwalter die Arbeit vor Ort. Diesem unterstanden auf den Haciendas teilweise über 800 Personen in unterschiedlichen (Abhängigkeits-) Verhältnissen, sei es als Pächter, Tagelöhner (Jornalero) oder Hilfsarbeiter (Peón).35 Somit lässt sich mit Claude Morin feststellen: „Die allgemeine Situation der Landbewohner ... ist die, dass sie auf fremder Erde arbeiten“36.
Fisher: Commerce; Lynch: Spain, S. 224. Die Bedeutung des Comercio libre für das Wirtschaftswachstum Gesamtspanischamerikas schätzte John Lynch allerdings als eher bescheiden ein, er stellt fest: „The role of America remained to consume, to mine, and to cultivate plantations. In this sense Comercio libre was another instrument of recolonization“ (Lynch: Spain, S. 360f.). 34 Margaret Chowning stellt heraus, dass Michoacán in den 1730er Jahren erst knapp 28%, 1761 35,5% und 1805-1809 knapp 42% zu den Kirchenzehnt-Einnahmen der Diözese beitrug und damit schneller wuchs als im stark expandierenden Bajío; vgl. Chowning: Wealth, S. 43; vgl. auch Florescano/Gil: Descripiciones, S. 148ff. ; van Young: Crisis, S. 447. Als ein weiterer, wenn auch auf Grund von Unregelmäßigkeiten bei der Erhebung kritisch zu betrachtender Indikator lässt sich hierbei die Entwicklung der Alcabala, also der Verkaufs- steuer, anführen: Während sich die Einnahmen in Michoacán zwischen 1788 und 1809 von 36.813 auf 183.400 Pesos verfünffachten, blieb sie für Neu-Spanien relativ konstant. Am Ende der Epoche trug die Intendanz mit dann 5,56% zu den insgesamt knapp 3,3 Millionen er- hobenen Pesos bei. Vgl. die Auflistung bei Morin: Michoacán: S. 150f. bzw. die Zusammen- stellung aller Einnahmen und Ausgaben bei TePaske/Klein, Abschnitt Michoacán. Valladolid hatte erst 1788 eine eigenständige eine eigene Steuereinzugsstelle (Caja real) erhalten. 35 Viele Haciendas hatten den Charakter in sich geschlossener Märkte und Gemeinschaften mit eigenem Geschäft (Tienda de rayas), in dem die Bevölkerung meist in Verrechnung mit ihrem Lohn einkaufen musste, Schuldknechtschaft beim Hacendado galt als Regel. Eine genauere Untersuchung des Sistema hacendario, u.a. die Beschreibung von vier Haciendas findet sich bei Morin: Michoacán, S. 215-283. Vgl. auch Juárez Nieto: Oligarquía, S. 314; Chowning: Wealth, S. 28; Solares Robles: Bandidos, S. 262-264. Die große Mehrzahl der wirtschaftlichen Transaktionen fand per Tauschhandel und Schuldverschreibungen statt. Geprägtes Geld war wie im gesamten Vizekönigreich sehr
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Die Preise für Großgrundbesitz stiegen zwischen den 1770er und den 1800er Jahren um über 50%, die Zahl der Verkäufe stieg von 1,2 pro Jahr auf 3,2. Die Pachtpreise für Getreide-Haciendas verdreifachten sich im gleichen Zeitraum fast.37 Gleichzeitig führte dies zu einer stärkeren Vernetzung der Region.38 Chowning bezeichnet entsprechend Valladolid als „center of a bustling regional economy“39, das mittels Maultiertracks mit der gesamten Region Handel trieb.40 Städtebaulich drückte sich das Bevölkerungs- und Wirtschaftwachstum in einer regen Bautätigkeit im zivilen und kirchlichen Bereich aus: Valladolid erhielt unter anderem ein Aquädukt, eine Handelsniederlassung (Factoría) der Tabakverwaltung und einen Getreidespeicher (Alhóndiga). Mit der Errichtung des Priesterseminars, des Seminario Tridentino, stärkte Valladolid zudem seinen Ruf als überregionales Bildungszentrum. Dieser gründete auf einem der ältesten höheren Bildungseinrichtungen des Kontinents, dem schon erwähnten Colegio de San Nicolás. Neue religiöse Orden ließen sich nieder und neue Kirchen wurden errichtet.41 Ein Stadtplan von 1794 lässt 18 Straßen in Nord-Süd- und zwölf in Ost-Westrichtung sowie circa 150 Häuserblocks erkennen.42 Resümierend ist in Michoacán der späten Kolonialzeit also eine Gesellschaft zu erkennen, die demographisch, wirtschaftlich und sozio-kulturell viele Veränderungen zu gegenwärtigen hatte, neben der Mestizisierung ist hier insbesondere die sozioökonomische Ausdifferenzierung zu nennen.
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knapp und Kleingeld existierte überhaupt nicht, was die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit ärmerer Bevölkerungsschichten weiter einschränkte. Morin spricht von einem „Quasi-Monopol des geprägten Geldes“ (Morin: Michoacán, S. 183) in den Händen der Großhändler; vgl. Morin: Michoacán, S. 178-188 u. 236f. Der Vizekönig Revillagigedo kritisierte 1790, dass es nur große Münzen oder Tlacos (also von durch Ladenbesitzer, Händler etc. herausgegebenem Geld) gab, als großes soziales Problem sowie als schädlich für die Wirtschaft und forderte die Prägung von Kupfermünzen, vgl. den Abdruck des Schreibens von Revillagigedo bei Pietschmann: Anmerkungen; Pietschmann: Dinero, S. 41. Die Zahlen entstammen dem zitierten Zensus, wie allerdings Claude Morin feststellt, wurden dabei wohl nur die selbständigen Ranchos mitgezählt, nicht aber diejenigen, die zu einer Hacienda gehörten; vgl. Morin: Michoacán, S. 210-214, Zitat S. 214. Vgl. Chowning: Wealth, S. 45. Vgl. Franco Cáceres: Intendencia, S. 51; Morin: Michoacán, S. 81 u. 214; Chowning: Wealth, S. 42-47; Juárez Nieto: Oligarquía, S. 50ff. u. 314. Chowning: Wealth, S. 40. Zu Maultieren als Transportmittel für Menschen und Güter existiert keine einschlägige Studie, sie werden jedoch nicht nur in Michoacán immer wieder erwähnt; vgl. bspw. Brading: Miners, S. 85; Ibarrola, S. 128; Hardy: Travels; Hensel: Entstehung, S. 65. Vgl. bspw. Mazín: Cabildo, S. 333, 339 u. 362. Vgl. im Überblick: Las cuatro edades de Morelia; den Stadtplan in: Ordenanza (04.10.1797), S. 176-186; für einen Stadtplan von ca. 1800 vgl. hinten auf S. 514.
A. Die Krise von Repräsentation und Konstitution: Michoacáns Elite am Ende der Kolonialzeit (ca. 1767-1821)
Der folgende erste Teil der Studie behandelt das Ringen der sich ausbildenden regionalen Elite Michoacáns um eine gerechte Konstitution und Repräsentation im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen bis zur Unabhängigkeitserklärung Mexikos im Jahre 1821. Er erfüllt damit zwei in die Thematik einführende Funktionen: Einerseits führt er analytisch in sich wandelnde Staats-, Rechtsund Gesellschaftsvorstellungen ein, anderseits untersucht er die Auseinandersetzungen der sich ausbildenden und integrierenden Regionalelite Michoacáns mit diesem Wandel, den sie mit wachsendem Selbstbewusstsein mitzugestalten suchte. Dabei traf sie auf Bestrebungen Madrids, die Teilreiche der Monarchie stärker auf die Zentrale hin auszurichten. Der Wandel weg von der frühkolonialen Ordnung wurde in Amerika häufig als Krise wahrgenommen. Stärker deskriptive und ereignisgeschichtliche Elemente übernehmen die zweite Funktion dieses Teils, nämlich die einer vertieften Kontextualisierung und sollen den Leser an die Region heranführen. Der erste Teil geht dazu in vier Schritten vor: Zunächst werden zur Grundlegung die frühkoloniale Verfassungsordnung und einschneidende Reformen des 18. Jahrhunderts skizziert. Grundsätzliche Veränderungen hinsichtlich der Staats- und Rechtsvorstellungen auf hispanischer Ebene werden sichtbar (I). Der zweite Abschnitt zeichnet diese Modifikationen, verbunden mit Veränderungen des Menschen- und Gesellschaftsbildes, konkret am Beispiel Michoacáns nach. Damit analysiert er die Herausbildung einer spätkolonialen Verfassungskultur in der sich etablierenden und politisierenden Regionalelite Michoacáns (II). Im Anschluss daran folgt die Untersuchung der hispanischen Verfassungsrevolution nach 1808, die sich in der Verfassung von Cádiz (1812) niederschlug. Wie bei den ebenfalls zu behandelnden Bürgerkriegen zwischen 1810 und 1821 in Michoacán treten dabei die schon länger schwelenden Konflikte zwischen der Zentrale in Madrid und diversen Akteuren auf amerikanischer Seite offen zu Tage (III). Das endgültige Auseinanderbrechen der hispanischen Verfassungsordnung erfolgte schließlich 1821 mit der Unabhängigkeit Mexikos, die das Thema des vierten und letzten Abschnitts des ersten Teiles ist (IV).
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Krise von Repräsentation und Konstitution
I. Die koloniale Verfassung in Neu-Spanien und Michoacán Nach einer einschlägigen Forschungsmeinung zeichnet sich die Entwicklung der frühneuzeitlichen Staatlichkeit durch konzeptionelle Veränderungen aus: An die Stelle der Vorstellung des Personenverbandsstaates, in dem Herrscher und Vasallen durch persönliche Treueverhältnisse verbunden sind, trat das Konzept der Territorialstaatlichkeit, in dem der ‚absolute’ Herrscher über die sein Territorium bewohnenden Untertanen herrscht. Aus dem Rechtsprechungsstaat, der die Rechtsverhältnisse kasuistisch und nach inhaltlich und territorial unterschiedlichen Jurisdiktionsgebieten regelt, wird konzeptionell der Gesetzgebungsstaat mit dem Anspruch, allgemeine Gesetze für alle Gesetzesunterworfenen zu erlassen.1 Erst nachdem in der Neuzeit „politische Herrschaft sich nicht mehr primär durch die Bewahrung, sondern durch die Setzung von Recht definiert sieht“, differenzierten sich Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus. Zuvor war nach diesem Modell die Setzung neuen Rechts unmöglich gewesen. Der ursprüngliche, unverfälschte Zustand galt als unantastbar, Modifizierungen waren allenfalls als Reformen im Sinne von Rückführungen zu diesem Status denkbar. Insbesondere „im Zuge der Glaubensspaltung und der ihr nachfolgenden Bürgerkriege läßt sich Politik nicht mehr als Bewahrung einer (jenseitiges) Heil verbürgenden Ordnung begreifen“2. Die Regionen Europas beziehungsweise darüber hinaus die der europäisch geprägten atlantischen Welt erlebten diesen Wandel in unterschiedlicher Weise. Im folgenden Abschnitt sollen insbesondere anhand von Sekundärliteratur Veränderungen in der Staats- und Rechtsvorstellung innerhalb der hispanischen Monarchie mit einem besonderen Fokus auf Neu-Spanien und Michoacán überblicksartig nachgezeichnet werden. Idealtypisch wird dabei zunächst eine frühkoloniale Verfassungs- und Verwaltungsordnung (a) von einer spätkolonialen (b) unterschieden. Der anschließende Abschnitt (II) wird diese Typisierung anhand der Elite Michoacáns konkretisieren und hinterfragen.
a.
Die frühkoloniale Verwaltungs- und Verfassungsordnung
Der folgende Teil ist zweigeteilt: Zunächst steht die Darstellung des Verwaltungsaufbaus des spanischen Reiches mit Fokus auf die Überseegebiete, dann folgt eine Skizze der zentralen Bausteine der frühkolonialen 1 2
Vgl. klassisch zu dieser Aufteilung: Mayer: Ausbildung. Zu weiterer Literatur vgl. im Folgenden. Eberl: Verfassung, S. 438-440, Zitate S. 438 u. 440; vgl. auch Grimm: Politik.
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Verfassungsordnung. Die spanische Krone, insbesondere Karl I. (1516-1556, als Karl V. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) und Philipp II. (1556-1598), intendierte schon bald nach der Inbesitznahme der amerikanischen Gebiete die Unterdrückung „der von den Eroberern ausgehenden Feudalisierungsbestrebungen“3. So etablierte sich für die überseeischen Reiche bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Verwaltungssystem, das sich auf den zentralen Verwaltungsebenen sowohl in Madrid als auch in den Hauptstädten der Vizekönigreiche durch einen systematischen Aufbau auszeichnete.4 In Amerika bildeten zunächst zwei in den 1530er Jahren gegründete Vizekönigreiche die oberste Verwaltungsebene: Peru, welches das spanische Südamerika umfasste, und Neu-Spanien (in etwa das heutige Mexiko plus Mittelamerika und der Westen der USA). Nach der Trennung von Peru im 18. Jahrhundert traten zwei weitere hinzu: Neu-Granada, bestehend aus dem heutigen Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Panama, und Río de la Plata (v.a. das heutige Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien). Die Gebiete des späteren Staates Michoacán unterstanden in allen Rechtsprechungs- und Verwaltungsbereichen direkt Verwaltungsinstanzen in Mexiko-Stadt, d.h. in der Zivil-, Militär und Finanzverwaltung dem Vizekönig beziehungsweise in der Justizverwaltung dem Appelationsgerichtshof (Audiencia).5 Auf der mittleren Ebene gab es im Gegensatz zur zentralen Ebene kein einheitlich strukturiertes Verwaltungssystem, obwohl sie als „Achillesferse der gesamten kolonialen Administration“6 galt. Die ursprünglich von den zentralen Stellen – ab dem 17. Jahrhundert meist direkt von der Krone – zur Kontrolle der Kommunalverwaltung eingesetzten Alcaldes mayores beziehungsweise Corregidores7 verloren ihre Unabhängigkeit spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Sie mussten sich in die Ämter einkaufen und waren finanziell dann von den selbst erzielten Einnahmen, häufig aus dem immer wieder verbotenen Zwangshandel, abhängig.8 Der Einkauf in die unterschiedlichen Ämter wurde ebenfalls immer wieder mit dem Epiteph der Korruption versehen, lässt sich aber auch als eine der wenigen Möglichkeiten für die überseeischen
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Pietschmann: Organisation, S. 27. Vgl. zur Verwaltung der überseeischen Gebiete: Pietschmann: Organisation, S. 14-42 u. 102-154; zur territorialen Einteilung Neu-Spaniens vgl. Pietschmann: Einführung, S. 82100; Gerhard: Spain, S. 63-137. Vgl. hierzu u.a.: Gerhard: Spain, insb. die Karten auf S. 72 u. 78. Pietschmann: Organisation, S. 131. In Neu-Spanien musste man noch bis ins 17. Jahrhundert hinein die Corregidores auf regionaler Ebene von den Alcaldes mayores auf Distriktsebene abgrenzen, ab dann wurde jedoch meist kein Unterschied mehr gemacht; vgl. Pietschmann: Organisation, S. 128-131. Vgl. Pietschmann: Alcaldes.
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Führungsschichten zur Vertretung ihrer Interessen betrachten. 9 Auch für das Steuerwesen konnte keine effiziente, zentral gesteuerte Verwaltung etabliert werden: Die Krone verpachtete die Steuereinziehung, insbesondere die der Verkaufssteuer und einiger Kronmonopole, ab dem 17. Jahrhundert zum Teil an die gleich zu behandelnden kommunalen Ratsgremien, zum Teil an Privatpersonen. Die Inhaber der unteren Verwaltungsämter stellten statt den verlängerten Arm der Zentrale vielmehr den Prototyp des Mal gobierno dar: die von der Bevölkerung und der Krone oft beklagte schlechte Verwaltung. Zudem waren die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Verwaltungsgebieten nur selten eindeutig und einheitlich.10 Somit lässt sich festhalten, dass auf regionaler und lokaler Ebene eine effiziente, zentral gelenkte Administration weitgehend fehlte. Eine eigene Provinzverwaltung existierte in Michoacán bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht. Auf der untersten Ebene existierten von Beginn an kommunale Selbstverwaltungsgremien, und zwar unterteilt in zwei rechtlich getrennte Gemeinwesen, auf die im Folgenden etwas ausführlicher eingegangen wird. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die spanische Gesetzgebung eine Trennung in so genannte Repúblicas de indios und Repúblicas de españoles vorgesehen, um die indigene Bevölkerung nach hohen Bevölkerungsverlusten in der Zeit der spanischen Eroberung zu schützen. Die indigenen Repúblicas besaßen im Gegensatz zu den spanischen Städten jedoch kein Stadtrecht, sie waren ihnen als Landgemeinden nachgeordnet. Mit Ausnahme des indianischen Adels erhielten die Indigenen entsprechend den rechtlichen Status von Minderjährigen. 11 Die Selbstverwaltungsgremien der spanischen Städte, die Ayuntamientos de españoles (Stadträte)12, bestanden aus einer unterschiedlich hohen Anzahl an Regidores, was in etwa den deutschen Stadträten entspricht. Sie 9 Vgl. bspw. Annino: Constitucionalismo, S. 145. 10 So war zum Beispiel im Falle der an der Küste gelegenen Gebiete von Zacatula und Colima strittig, ob sie dem Audiencia in Guadalajara oder – wie Valladolid – dem in Mexiko-Stadt unterstanden. 11 Vgl. die Bestimmungen der noch zu behandelnden Gesetzessammlung Leyes de indias, nach denen die Indigenen in eigenen Reduktionen zusammengefasst werden und nicht außerhalb dieser leben sollten sowie die Bestimmung, dass in diesen Pueblos keine Spanier, Schwarzen, Mestizen oder Mulatten leben durften; vgl. Buch VI, Titel III, Gesetze I u. XVIII-XXIII, in: Recopilación de leyes de los reynos de las Indias (1681), Bd. II, México, D.F. 1987 (Faksimile-Ausgabe), f. 198, 198v, 200, 200v. (abgekürzt mit „Leyes de indias“). 12 Die vorliegende Untersuchung verwendet für die weltlichen Ratsgremien durchgängig die Übersetzung Ayuntamientos. Der ebenfalls gebräuchliche Terminus Cabildo soll hier zur besseren Unterscheidbarkeit ausschließlich die kirchlichen Ratsgremien, die Domkapitel, bezeichnen.
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wählten jährlich weitere für die Stadtverwaltung (Steuereinzug, Policey etc.) zuständige Personen. Den Ayuntamientos saß der Alcalde mayor des Bezirkes vor, in dessen Abwesenheit der Alcalde ordinario.13 Diese relativ starke Stellung der Alcaldes, am ehesten mit dem Dorfschulzen im deutschsprachigen Raum vergleichbar, ließ das in vielen Fällen erblich und käuflich gewordene Amt des Regidor oftmals zum Ehrentitel mit wenigen Kompetenzen und das Ayuntamiento insgesamt zum Honoratiorengremium werden. 14 Wie die spanischen Kommunen besaßen die Repúblicas de indios eigene Gremien, die Ayuntamientos de indios, welche allerdings mit geringeren Kompetenzen ausgestattet waren. An ihrer Spitze stand der Gobernador de indios, die Anzahl der Mitglieder war nach der Einwohnerzahl unterschiedlich groß und setzte sich aus jährlich „in Anwesenheit der Pfarrer“15 gewählten Alcaldes und Regidores indios zusammen.16 Die lokale Verwaltung und die erstinstanzliche Rechtsprechung unter den Indigenen sowie die Eintreibung des Indianertributes17 unterstanden, unter der Aufsicht des Corregidor de indios, somit relativ autonomen Korporationen. Nach diesem Überblick über den Verwaltungsaufbau folgt nun in knapper Form die Darstellung zentraler Elemente einer frühkolonialen Verfassungsordnung. Gemäß der herrschenden Forschungsmeinung hatte sich insbesondere im 17. Jahrhundert in Amerika ein hoher Grad an informeller Selbstverwaltung auf allen Ebenen etabliert, der sich durch eine konsensuale Beziehung der Bevölkerung zur Krone auszeichnete. Die einzelnen Reiche, wie beispielsweise das Reino de Nueva España, aber auch lokale Korporationen wie die Repúblicas und die Ayuntamientos als Vertreter personaler Verbände beanspruchten den Status vollberechtigter Vertragspartner gegenüber der Krone für sich. Demnach waren sie also nicht einem der spanischen Teilreiche, etwa Kastilien oder Aragon, untergeordnet, sondern standen wie diese in einem unmittelbaren Treueverhältnis zum Monarchen. Dieser Anspruch war stark geprägt von dem aus antiken und mittelalterlichen Wurzeln stammenden Vertragsrechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts in der Ausformung der sich um Francisco de Vitoria, Domingo de Soto und Francisco de Suárez konstituierenden
13 Vgl. Pietschmann: Organisation (1994), S. 347; Pietschmann: Organisation, S. 132-136; Pietschmann: Einführung, S. 98; für Michoacán Franco Cáceres: Intendencia, S. 205-207. 14 Vgl. hierzu allgemein Meißner: Elite, S. 66f. Ähnliches ist auch für Valladolid erkennbar. 15 Buch VI, Titel III, Gesetz XV, in: Leyes de indias, Bd. II, f. 200. 16 Vgl. Tanck de Estrada: Pueblos, S. 33. 17 Für die Erhebung des Tributes, der einzigen Kopfsteuer, die neben den Indios auch Mulatten und freigelassene Schwarze zu zahlen hatten, mussten laufend neue Bevölkerungszählungen stattfinden; vgl. Pietschmann: Organisation (1994), S. 347; Pietschmann: Organisation, S. 136-138; Castro Gutíerrez: Movimientos, S. 62f.
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neoscholastischen Schule von Salamanca.18 In diesem Sinne etablierte sich die Vorstellung des Reiches als ein aus verschiedenen, gleichberechtigten (Gebiets-) Körperschaften zusammengesetztes Gebilde, als Estado mixto. 19 Gegen Ende der 200 Jahre währenden Dynastie der spanischen Habsburger am Ende des 17. Jahrhunderts war laut Forschung der Höhepunkt der Verselbständigung der spanisch-amerikanischen Gebiete in der „Epoche der Unmacht“ 20 erreicht: 1680 wurde mit der Recopilación de leyes de los reynos de las indias eine eigene Gesetzessammlung für die überseeischen Territorien verabschiedet. Mit der Recopilación schien die Annahme der amerikanischen Gleichberechtigung nun rechtlich verbürgt zu sein: Die amerikanischen Gebiete waren hier erstmals an herausragender Stelle wie die europa-spanischen Teilreiche als „Reynos“, als Reiche, definiert. Als aufgewertet konnte hiermit auch die verbreitete, altrepublikanische Idee einer zwischen den Ständen und der Krone geteilten Souveränität betrachtet werden, aus der sich für die Praxis weitgehende Entscheidungsfreiheiten und Autonomien vor Ort ableiten ließen. Da in Hispano-Amerika keine ständischen Vertretungsorgane etabliert worden waren, übernahmen die kommunalen Gebietskörperschaften die Vertretungs- und Autonomieansprüche. 21 Annick Lempérière spricht in diesem Sinne von einem lokal geprägten „republicanismo sui generis“ 22 . Den Autonomieansprüchen ordnete die Forschung das weit verbreitete „obedecer, pero no cumplir“, also das Gehorchen, ohne den Befehl in die Tat umzusetzen 23 , ebenso zu wie die Korruption als ein zwischen unterschiedlichen Interessen vermittelndes Institut.24 Zwar lässt sich die Recopilación auch als ein Systematisierungsversuch einer stark kasuistischen Rechtsprechungspraxis verstehen, eine Vereinheitlichung gelang durch dieses Werk allerdings kaum: Es handelte sich vielmehr um die Ansammlung, eben um die Recopilación, von für unterschiedliche Geltungsbereiche getroffenen, alten Rechtsverordnungen und weniger um einen 18 Im 18. Jahrhundert erfuhr dieses Denken durch natur- und vertragsrechtliche Theorien wie die von Gaetano Filangieri, Christian Wolff, Emmerich de Vattel und Samuel Pufendorf Reinterpretationen; vgl. zum Naturrechtsdenken: Timmermann: Monarchie, S. 152-157 u. 170-173; Rodríguez: Introduction, S. 4-6. 19 Vgl. Schmidt: Reiche; Schmidt: Felipe; Annino: Introducción; Annino: Constitucionalismo, S. 149-153; Rodríguez: Introduction, hier v.a. S. 3-6. 20 Annino: Constitucionalismo, S. 149. 21 Vgl. zu den ständischen Vertretungsorganen der frühen Kolonialzeit: Pietschmann: Organisation, S. 36-38. 22 Lempérière: República (2003), S. 321. 23 Zur Entwicklung dieser Institution in Spanien seit dem 14. Jahrhundert: Gil: Politics, v.a. S. 268. 24 Vgl. Pietschmann: Burocracia.
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systematischen, vereinheitlichten und vereinheitlichenden Neuentwurf. Dominant blieb zunächst die Kasuistik. Wie Kastilien blieb auch Neu-Spanien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ein „Verwaltungs- und Rechtsprechungsstaat“ 25 . Die „dejuridification“ 26 , wie I.A.A. Thompson sie nennt, und damit der Schritt zum Gesetzgebungsstaat setzte erst im 18. Jahrhundert ein, mit der „complete transformation of the structure and ideology of government“ 27 unter der neuen Dynastie der Bourbonen. Die Durchsetzung der „Gesetzgebungsmacht als ‚Kernstück der Souveränität’“28 des Monarchen gelang in Kastilien – und Ähnliches lässt sich für Hispano-Amerika annehmen – auf Grund dieser Tradition nur unvollständig. Der König war „oberste“, nicht „absolute Macht“ 29 , stand nicht über dem Gesetz, sondern war „contained within law“ 30 . Auch für das vermeintliche Paradebeispiel des europäischen Absolutismus, Frankreich, stellt Lothar Schilling in einer Studie über die königliche Normsetzungsfähigkeit in ähnlicher Weise fest, dass die „These von der grundlegenden Umgestaltung und staatlichen Durchdringung der frühneuzeitlichen Gesellschaften durch staatliche Gesetzgeber“31 kaum zutrifft. Insofern ist Absolutismus auch „nicht als real existierendes Zwangssystem“ zu fassen, „sondern primär als kulturell konstituierte Vorstellungswelt“32. Jürgen Schlumbohm widerspricht der These vom modernen europäischen Gesetzgebungsstaat ebenso, indem er behauptet, dass „offenbar das Erlassen und – zunehmend – das Publizieren von Gesetzen seinen Sinn in sich selbst“33 hatte: „Die Obrigkeit zeigte sich als Obrigkeit, und zwar gegenüber den eigenen Untertanen wie nach außen gegenüber anderen Herrschaften. … Das war schon ein wesentlicher Teil dessen, was von der Herrschaft erwartet wurde“34. Das Publizieren von Gesetzen galt als Machtsetzung. Diese Thesen sollen für die Zeit nach der Unabhängigkeit für Michoacán untersucht und fruchtbar gemacht werden. Unterstützt wurde das Fehlen monarchischer Gesetzgebungsmacht nach Víctor Tau Anzoátegui durch eine Tendenz im Derecho indiano, die neben schriftlichen Rechtsquellen insbesondere auch das Gewohnheitsrecht als
25 Asch / Duchhardt: Einleitung, S. 19. Resümiert wird hier ein gleich zitierter Aufsatz von I.A.A. Thompson im gleichen Band. 26 Thompson: Absolutism, S. 228. 27 Thompson: Absolutism, S. 224. 28 Schlumbohm: Gesetze, S. 645. 29 Thompson: Absolutism, S. 199. 30 Thompson: Absolutism, S. 207. 31 Schilling: Normsetzung, S. 9. 32 Schilling: Normsetzung, S. 7. 33 Schlumbohm: Gesetze, S. 659. 34 Schlumbohm: Gesetze, S. 660.
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Grundlage der Rechtsprechung anerkannte und sich somit von der stärker römisch-rechtlich beeinflussten Praxis in Spanien unterschied.35 Damit lassen sich folgende Elemente als zentrale Bausteine einer kolonialen Verfassungsordnung bezeichnen: der Charakter des vertragsrechlich verbundenen Personenverbandsstaates, die Gleichberechtigung der Teilreiche, der republikanische Autonomie- und Repräsentationsanspruch der Eliten sowie die Kasuistik. Brian Hamnett spricht diesbezüglich von einer „unwritten constitution“36, Horst Pietschmann sieht in der Recopilación die Verschriftlichung einer angenommenen historischen und in der Praxis gewachsenen Verfassung.37
b. Die bourbonischen Reformen und die Einführung des Intendantensystems in Michoacán Im 18. Jahrhundert vermehrten sich die Stimmen, die die Reform dieser frühkolonialen Ordnung intendierten. Da ab 1700 beziehungsweise nach dem Spanischen Erbfolgekrieg 1714 die Dynastie der Bourbonen die Habsburger abgelöst hatte, spricht man bei den Reformen des 18. Jahrhunderts pauschalisierend auch von den Bourbonischen Reformen. Sie können zwar nicht als einheitliches Programm, jedoch als Reformversuche an der historischen Verfassung gedacht werden, die ähnliche Ziele verfolgten. Viele Maßnahmen waren zum einen durch den Wunsch einer Rationalisierung der Verwaltung geprägt, zum anderen durch die merkantilistische Intention einer höheren finanziellen Nützlichkeit der Überseegebiete für die Zentrale. Sie betteten sich in eine Politik des so genannten aufgeklärten Absolutismus in Spanien ein, die nicht zuletzt durch die Bekämpfung traditioneller Lebensformen die Gesellschaft und die Wirtschaft zu ‚rationalisieren’ trachtete.38 Die Bevölkerung in den spanischen Reichen sah sich zunehmend einem „staatliche[n] Dirigismus“39 gegenüber, der alle Lebensbereiche an den Idealen von Vernunft und Nützlichkeit auszurichten versuchte. Als neues Leitbild etablierte sich in dieser Reformpolitik das „eigenverantwortlich
35 Vgl. grundlegend zum Kasuismus in der spanischen Monarchie Tau Anzoátegui: Casuismo, insb. S. 121-146 u. 354-367; zur Verdrängung anderer Rechtsquellen seit dem 18. Jahrhundert im Überblick Tau Anzoátegui: Casuismo, S. 367-373. Zu den Rechtskulturen vgl. auch: Annino: Cádiz, S. 181ff. 36 Hamnett: Process, S. 283. Vgl. auch Rodríguez: Introduction, S. 2-6; Annino: Constitucionalismo, S. 145-155; Rojas: Frustración, S. 396. 37 Vgl. neu Pietschmann: Mexiko, S. 66-73 u. 95-101. 38 Vgl. im Überblick: Schmidt: Absolutismus, S. 227ff.; Pietschmann: Einführung, S. 23-29. 39 Schmidt: Hispanoamerika, S. 108.
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wirtschaftende[n] Individuum“ 40 . Die „Suche nach dem nützlichen Menschen“ 41 für die Gesellschaft rückte in den Mittelpunkt. Wie andere atlantische Kolonialmächte (Großbritannien, Frankreich, Portugal) versuchte die spanische Krone seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die überseeischen Gebiete stärker an die Metropole anzubinden. Insbesondere nach dem für Spanien an der Seite Frankreichs gegen die britisch-portugiesische Allianz verloren gegangenen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) lag das Hauptaugenmerk der Reformpolitik am Hofe des 1759 gekrönten und als besonders aufgeklärt geltenden Karls III. (1759-1788) neben dem Ausbau der Verteidigung auf dem Umbau des vermeintlich ineffizienten Verwaltungs- und Steuersystems. 42 Für Karls Amerika-Politik zeichnete in erster Linie José de Gálvez, zwischen 1776 und 1787 Indienminister, verantwortlich. Als einflussreiche Persönlichkeiten sind zudem der Graf von Floridablanca (1728-1808) 43 und Pedro Rodríguez Campomanes (1723-1802)44 zu nennen.45 Bei den Reformen handelte es sich um eine Politik, die von den am französischen Vorbild orientierten Bourbonen zunächst im europäischen Teil der Monarchie und später dann, weniger weitreichend, auch in Amerika versucht wurde.46 Der für diese Zeit geprägte Begriff des „Absolutismus“ wird hier vorsichtig verwendet. Er steht für „ein politisches Programm, das die Monarchen verfolgten, das aber nie tatsächlich verwirklicht werden konnte“. Die jüngere Forschung hat den Absolutheitsanspruch des Konzepts in Frage gestellt. 47 Nach neueren Darstellungen von Horst Pietschmann lässt sich die 40 Schmidt: Freiheit, S. 311. 41 So der Titel einer aktuellen Monographie: Covarrubias: Busca. 42 Dem aktuellen Auslöser entsprechend, der Niederlage im Siebenjährigen Krieg und der zeitweiligen Besetzung des für das Imperium zentralen Havannas 1762 durch Großbritannien, galt dabei in der Anfangsphase den Militärreformen die Hauptaufmerksamkeit, insbesondere das Milizsystem wurde neu strukturiert, der Festungsbau insbesondere in den Hafenstädten ausgebaut und die Truppenstärke von einem sehr geringen Ausgangslevel kommend deutlich erhöht; vgl. Schmidt: Militärwesen, S. 373-375. 43 Floridablanca, von 1776 bis 1792 Secretario del estado, wurde von John Lynch als „guide, mentor, and policy maker“ (Lynch: Spain, S. 253) von Karl III. beschrieben; vgl. auch Lynch: Spain, S. 327f. 44 Campomanes war seit 1762 Mitglied im zentralen Kastilienrat (Consejo de Castilia) und ab 1782 dessen Präsident; vgl. Brading: America, S. 502-507; Lynch: Spain, S. 252; Timmermann: Monarchie, S. 52f. u. 57-60. 45 Allgemein zum Beraterstab Karls III. vgl. Lynch: Spain, S. 252-254; Schmidt: Absolutismus, S. 226-228 46 Für Spanien: Pietschmann: Gründung, S. 201-216; für Mexiko: Pietschmann: Mexiko, S. 95-118. 47 Vgl. im Überblick zur Absolutismusdebatte in Europa: Asch / Duchhardt (Hgg.): Absolutismus, Zitat S. 3. Auch wenn sich dieser Band mit dem 16. und 17. Jahrhundert
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Reformpolitik als Versuch der Ablösung des Konzepts des Personenverbandsstaates durch das des Territorialstaates begreifen – und damit als eine weitausgreifende Reform der frühkolonialen Verfassungsordnung. Pietschmann spricht diesbezüglich vom „Zusammenstoß zweier verschiedener Justizkulturen“ und verortet die systematisierenden Ansätze in „protoliberalen“ Diskursen, die auf beiden Seiten des Atlantiks auf den Widerstand von an alten Privilegien festhaltenden Kreisen trafen.48 Das vorliegende Kapitel wird diese Skepsis aus der regionalen Perspektive Michoacáns unterstreichen. Viele Reformmaßnahmen lassen sich in diese Interpretation einordnen. So versuchte die Krone seit 1747, ein staatliches Tabakmonopol mit einer über das gesamte Vizekönigreich sich erstreckenden Verarbeitungs- und Verteilungsverwaltung einzurichten, was zunächst an lokalen Widerständen scheiterte. 49 Seit 1765 wurde das Recht zur Eintreibung der Verkaufssteuer Alcabala ebenso unter Protest und Widerständen der Betroffenen nicht mehr an Private verpachtet, sondern durch staatliche Beamte durchgeführt, was schnell zu erhöhten Einnahmen führte.50 Auch das Postwesen erfuhr durch die Erklärung zum staatlichen Monopol (1747) und durch gesetzliche Verordnungen zum besseren Schutz und zur Einführung von festen Zeitplänen, insbesondere durch die Ordenanza general de correos (1794), rationalisierende Veränderungen.51 Für das Vizekönigreich Neu-Spanien bedeutete die Visitation des Generalbevollmächtigten und späteren Indienministers José de Gálvez von 1765 bis 1771 eine starke Beschleunigung der Reformanstrengungen, die sich zunächst in den zwei folgenden Maßnahmen niederschlugen: Zum einen sollte die Aushebung neuer Milizionäre die Grundlage für ein neues Verteidigungssystem bilden, nachdem das alte im Siebenjährigen Krieg eklatante Schwächen gezeigt hatte. Und zum anderen wurden die Mitglieder des Jesuitenordens 1767 aus den Gebieten der spanischen Monarchie vertrieben, ähnlich wie in derselben Zeit aus Frankreich und Portugal. Diese Maßnahme kann als Teil einer
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beschäftigt, trifft das Zitat noch für das 18. Jahrhundert zu. Zur weiteren Debatte mit weiteren Literaturverweisen: Duchhardt: Absolutismusdebatte. Pietschmann: Conciencia, S. 240-259, Zitat S. 256; vgl. auch: Pietschmann: Protoliberalismo. Zum Tabak vgl.: Deans-Smith: Bureaucrats, insb. S. 34-38. In Zamora beispielsweise wurden vor der Umstellung 6.176, danach bis zu 37.500 Pesos eingesammelt; vgl. Morin: Sentido, S. 80. 1776 schuf man in der Provinz fünf Einsammelstellen in den Städten des Nordens, 1784/85 folgten weitere vier, drei davon im Süden. Zu den Protesten z.B. von Juan Manuel Michelena und José Bernardo Foncerrada, vgl. Juárez: Oligarquía (1994), S. 51-53. Castro führt die effektivere AlcabalaEintreibung als eine Ursache der gleich zu behandelnden Aufstände von 1766/67 an; vgl. Castro Gutíerrez: Movimientos, S. 77-90; allg.: Pietschmann: Alcaldes, v.a. S. 21-37. Vgl. zum Postwesen das Kapitel F IV.
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Reformpolitik bezeichnet werden, die auf „die vollständige Ausübung der königlichen Souveränität“ 52 im klerikalen Bereich abzielte, wozu nicht zuletzt die Verdrängung der Ordensgeistlichen zählte, um somit der Bildung von Staaten im Staat vorzubeugen. 53 Die Jesuiten galten bis dato weithin als die Erzieher fast aller gesellschaftlichen Gruppen und waren als solche eng mit ihnen verbunden. Ihre Ausweisung sorgte entsprechend für Unruhe über alle Bevölkerungsgruppen hinweg – wie in anderen Teilen des Reiches auch in Michoacán.54 Als José de Gálvez 1767 nach Michoacán kam, galten seine ersten Amtshandlungen der Beilegung von Aufständen, die sich an diesen zwei größeren Reformmaßnahmen entzündet hatten. Nach brutalen Niederschlagungsversuchen seitens der Verwaltung beruhigten sich die wohl heftigsten Aufstände bis zu den Unabhängigkeitskämpfen in Michoacán 1767 schließlich erst nach der Vermittlung des Bischofs Sánchez de Tagle.55 Als das zentrale bourbonische Reformwerk gilt die Einführung des Intendantensystems, die Gálvez für Neu-Spanien 1786/87 forcierte. Dieses neue Verwaltungssystem war seit Anfang des Jahrhunderts schrittweise zunächst in Spanien und seit 1764 in Amerika installiert worden.56 Als Motive für die Einführung nannte Karl III. in der Präambel der Real ordenanza para el establecimiento e instrucción de intendentes de ejército y provincia en el reino de la Nueva España zum einen die „väterliche Liebe“ zu seinen Vasallen, zum anderen den seit seiner Thronbesteigung vorhandenen „lebhaften Wunsch, ... die Regierung der großartigen Reiche [imperios!] zu vereinheitlichen“57. Beide Motive finden sich in der 306 Artikel umfassenden Anweisung zum einen in der patriarchalen 52 Mazín Gómez: Cabildo, S. 313. 53 Schon in den Jahren zuvor war die Ordensgeistlichkeit in den Blickpunkt geraten: Nach einem königlichen Erlass (Real cedula) sollten unter der Aufsicht von Mönchen stehende Gemeinden säkularisiert werden, deren Besitz wurde i.d.R. dann von Bischöfen verwaltet. Im Bistum Michoacán erfuhr diese Maßnahme eine strenge Umsetzung, was an der Übertragung von 16 der insgesamt 25 doctrinas der Augustiner und von ca. 26 der 36 bei den Franziskanern im Zeitraum 1758-72 abzulesen ist. Die beiden genannten Orden waren die am stärksten in Michoacán etablierten, über weite Strecken der Kolonialzeit hatten sie die Mehrzahl der Pfarrstellen inne; vgl. Mendoza Biones / Terán: Repercusiones, S. 230f.; Mazín Gómez: Majestades, S. 37-45; Castro Gutíerrez: Movimientos, S. 70f.; Farriss: Crown; Brading: Church, S. 3-11 u. 62-81. 54 Vgl. Mazín Gómez: Pátzcuaro. 55 Zur Abschreckung vor weiteren Aufständen wurden 85 der Festgenommenen exekutiert und danach enthauptet, ihre Häuser zerstört und ihre Familien vertrieben; vgl. Castro Gutiérrez: Prológo, S. 10f.; Castro Gutíerrez: Movimientos, S. 69. 56 Vgl. allgemein: Pietschmann: Einführung. 57 Real ordenanza para el establecimiento e instrucción de intendentes de ejército y provincia en el reino de la Nueva España (1786), eingeführt v. Ricardo Rees Jones, México, D.F. 1984, S. 1. Im Folgenden wird sie als Real ordenanza (1786) abgekürzt.
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Grundhaltung und zum anderen im Systematisierungsversuch des weitgehend kasuistischen Verwaltungs- und Rechtssystems. Die Systematisierung entspricht einer im aufgeklärten Denken erkennbaren Tendenz, allgemein gültige Kodifikationen auszuarbeiten. An die Stelle kasuistischer, an der jeweiligen Seinsordnung orientierter, analoger Gesetzessammlungen sollten im Idealfall universal gültige, die Seinsordnung normierende und systematisierende Gesamtkodifikationen treten. Die der Natur immanenten, Gott gegebenen Gesetze der alten Rechtsvorstellung treten demnach gegenüber den an der Ratio orientierten, vom Menschen gesetzten, positiven Bestimmungen zurück. 58 Victor Tau Anzoátegui spricht für die hispanische Welt seit Mitte des 18. Jahrhunderts von einem „generalisierten Ansinnen, neue normative Werke zu redigieren. Schon damals setzte sich die Bezeichnung als Codex durch – unterschieden von den gültigen Recopilaciones“ 59 . Häufig handelte es sich jedoch nicht um einen Neuentwurf, sondern „noch weitgehend um eine Bereinigung und Systematisierung der überlieferten Normen“60. Zentrales Element der Intendantenreform war die Bündelung sehr weitgehender Kompetenzen in allen Regierungsbereichen bis hin zum Vizepatronat über die Kirche 61 in der Institution des Intendanten. Auf regionaler Ebene hatte, wie gesehen, eine solche Zentralinstanz bislang gefehlt. Auf dem Gebiet des Vizekönigreiches Neu-Spanien schuf die Ordenanza eine Intendencia general de exército y provincia in Mexiko-Stadt und elf weitere Intendencias de provincia, darunter die in Valladolid. Sie trug damit im wesentlichen Maße zur Regionalisierung des Vizekönigreiches bei (vgl. Karte). Die Intendanten unterstanden laut Ordenanza in der Finanz- und Militärverwaltung direkt der Zentrale in Madrid und nicht dem Vizekönig in Mexiko-Stadt, was eine deutliche Schwächung dieses Amtes bedeutete. In der Justiz- und 58 Grimm: Politik, S. 94. Seine wohl radikalste Umsetzung erfuhr dieses Konzept in den noch zu behandelnden Menschenrechtserklärungen von Virginia 1776 und von Frankreich 1789. Aber auch andere Projekte zielten auf „Rechtseinheit als Staatseinheit gerichtete[r] systematische[r] Kodifikationen“ (Reinhard: Staatsgewalt, S. 302) ab, wie der Code civil (1804), das Allgemeine Landrecht für Preußen (1794) oder das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB, 1812). Vgl. hierzu insgesamt: Grimm: Zukunft, S. 11f. u. 35-39; Reinhard: Geschichtet, S. 302-304; zum preußischen Landrecht: Koselleck: Preußen, hier v.a. S. 24-51; für das ABGB stellte Wilhelm Brauneder heraus, dass sich dieses „als staatlich, länder- oder gar nationalitätenmäßig nicht gebundenes, sondern prinzipiell universal verwendbares Gesetzbuch dar[stellte]“ (Brauneder: Recht, S. 137). 59 Tau Anzoátegui: Casuismo, S. 191. 60 Grimm: Politik, S. 94. 61 Diese Kompetenz besaß zwar der Intendant von Valladolid, nicht aber alle Intendanten; vgl. Real ordenanza (1786), Art 7f.
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Zivilverwaltung mussten sie jedoch den Vizekönig und die Audiencia – im Falle Valladolids wiederum die von Mexiko-Stadt – als Zwischeninstanzen anerkennen. Neu-Spanien nach Einführung der Intendencias
Quelle: Pietschmann: Einführung, S. 309.
Aufgelöst werden sollten im selben Zuge die auf Grund ihrer lokalen und regionalen Verankerung als Hindernis rationaler Verwaltung angesehenen Alcaldes mayores beziehungsweise Corregidores, damit – wie es in der Ordenanza heißt – „auf diese Weise von nun an die Regierung aller Provinzen verein-
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heitlicht werde“62. Direkt den Intendanten unterstehende Subdelegados sollten sie auf lokaler Ebene in neu zu schaffenden Bezirken (Subdelegaciones beziehungsweise Partidos) ersetzen.63 Um eine größere Unabhängigkeit von lokalen Verhältnissen zu erreichen, erhielten die Intendanten ihr finanzielles Auskommen ausschließlich von der Krone, und sie mussten, wie auch die Subdelegados, Spanier sein sowie möglichst aus Europa, stammen.64 Zwar lassen sich auch für die untere Verwaltungsebene vereinheitlichende Intentionen in dem Gesetzeswerk feststellen. So besaßen die Untertanen nun beispielsweise nicht mehr wie die Vasallen im Personenverbandsstaat das Recht, direkten Kontakt mit Madrid aufzunehmen, vielmehr musste der Dienstweg über den Subdelegado und den Intendanten eingehalten werden. 65 Die vereinheitlichenden Tendenzen reichten dort aber nicht weit. So hatte die Ordenanza nur ungenau festgelegt, dass jeder „Bezirkshauptort“ einen Subdelegado erhalten solle und darüber hinaus diejenigen Pueblos, für die es der Intendant für „notwendig“ 66 halte. Somit war für die sub-regionale Ebene keine „angemessene, proportionierte territoriale Neugliederung“ vorgesehen, in vielen Regionen wurden „die Subdelegados zu den unmittelbaren Nachfolgern der Alcaldes mayores“67. Auch konnte das überkommene Finanzierungsproblem der Lokalverwaltung nicht strukturell behoben werden, sie war weiterhin von den lokalen Verhältnissen abhängig: Die Subdelegaten erhielten als Gehalt fünf Prozent der eingesammelten Tribute. Mit der Zusammenfassung früher unterschiedlicher Zuständigkeitsbereiche in einer von lokalen Verhältnissen unabhängigen Person mit (halb-)souveränen 62 Real ordenanza (1786) Art. 9. Weiter heißt es dort bezüglich der Abschaffung der relativ wenigen ständischen Privilegien: „Und obwohl es mein souveräner Wille ist, in die Abschaffung auch die Corregimientos und Alcaldías mayores der Estados del Valle y de Atlixco miteinzubeziehen, um die Lebensbedingung aller meiner Vasallen Neu-Spaniens anzugleichen, bleiben sie weiter bestehen“. Für die zukünftige Abgabe ihrer Vorrechte sollten die Besitzer der beiden Estados eine „gerechte Entschädigung“ erhalten; vgl. zum Aufgabengebiet der Intendanten und den ihm dabei zur Verfügung stehenden Institutionen: Pietschmann: Einführung, S. 162-178. 63 Vgl. Real ordenanza (1786), Art 9. 64 Real ordenanza (1786), Art. 12. Der Intendant von Valladolid erhielt nach Artikel 303 (S. 404) ein Gehalt von jährlich 6.000 Pesos. Andere Vergütungen waren ihm verboten; vgl. Art. 303, S. 405f. 65 Vgl. Pietschmann: Mexiko, S. 95. Ob auch im Spanischen zwischen den Termini des eher feudalrechtlichen „Vasall“ und dem „Untertan“, der sich im frühneuzeitlichen europäischen Staat als „Oberbegriff … über die ständischen Gliederungen legt[e]“ (Grawert: Staat, S. 40), unterschieden wurde, bedürfte einer genaueren Untersuchung. 66 Real ordenanza (1786), Art. 12. 67 Pietschmann: Alcaldes, S. 44-51, Zitat S. 51. Vgl. außerdem Franco Cáceres: Intendencia, S. 106-108.
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Kompetenzen über ein weitgehend vereinheitlichten Rechtsraum und mit der Etablierung eines systematisch geordneten Verwaltungsapparates lassen sich, resümierend betrachtet, die Intention einer territorialstaatlichen Neuordnung erkennen. Das „Prinzip geschlossener Grenzen“ stellt nach Reinhold Zippelius das zentrale Merkmal des territorialstaatlichen Konzepts dar: Mit der „Entstehung einer homogenen Herrschaftsgewalt über ein räumlich abgegrenztes Gebiet ist die Umwandlung vom Personenverbandsstaat zum ‚institutionellen Flächenstaat’ vollendet“ 68 . Die Tendenz zu – nicht die Vollendung! – einer solchen Homogenisierung und die Abkehr vom Personenverbandsstaat scheint auf normativer Ebene in der Intendantenreform deutlich zu werden.69 Zudem stärkten diese Maßnahmen die regionale Ebene, die nun einige Aufgaben, die vorher der vizeköniglichen Verwaltung oblagen, übernahm. Die Ausbildung der Region Michoacán schritt voran. Die Intendencia de Valladolid de Michoacán umfasste laut Ordenanza die 1776 zum Corregimiento erhobene ehemalige Alcaldía mayor Valladolid-Pátzcuaro und neun weitere, einem Alcalde mayor unterstehende, kleinere Provinzen.70 Der erste Intendant Michoacáns Juan Antonio Riaño (1787-1791) gilt als einer der überzeugtesten Reformer der Zeit. Er stammte aus Santander und war – wie auch zwei Vizekönige zwischen 1784 und 1786 – mit der Gálvez-Familie verwandt. Riaño setzte das Reformwerk anders als in vielen Regionen des Vizekönigreiches relativ strikt um: Nach einem guten Jahr hatte er bereits 19 Subdelegados ernannt, bis 1791 folgten weitere neun.71 Die große Mehrzahl der neuen Bezirke lag in den dichtbevölkerten Gebieten des Nordens, an der Küste schuf er hingegen nur einen (Motines del Oro). Damit orientierte sich die Aufteilung an den traditionellen Siedlungs- und Wirtschaftszentren der Region. Daneben richtete Riaño in seiner kurzen Amtszeit 24 weitere Posten, vor allem in der Steuerverwaltung, ein. Er galt somit als „treuer Vollstrecker des Steuer-Reformvorhabens“72. Auf die finanzielle Versorgung der neuen Amts68 Zippelius: Staatslehre, S. 86. 69 Dass die Homogenisierung noch nicht vollendet wurde, zeigt sich u.a. darin, dass der Intendant nicht alle Regierungskompetenzen in der gesamten Provinz ausüben sollte; vgl. zu der Kompetenzverteilung: Pietschmann: Einführung, S. 168-171. 70 Diese neun Alcaldías waren: Charo, Zitácuaro, Tlalpujahua, Cuiseo, Zamora-Xacona, Colima, Tanzíntaro-Pizándaro, Guimeo-Zirándaro, Xiquilpa-Periban; vgl. Real ordenanza (1786), Anhang. 71 Die Angaben über die Anzahl der Subdelegaciones gehen auseinander, Pietschmann nennt 30; Franco Cáceres weist 28 tatsächlich bis 1791 geschaffene aus, geht an anderen Stellen jedoch von 30 aus; in einem Schreiben an den Vizekönig Revillagigedo am 10. Mai 1791 werden gar 32 Subdelegaciones erwähnt; vgl. Pietschmann: Einführung, S. 125; Franco Cáceres: Intendencia, S. 107f., 115 und Karten auf S. 166 u. 308f.. 72 Franco Cáceres: Intendencia, S. 122.
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inhaber achtete er hingegen kaum, was in der Folge zur Reduktion der Subdelegaciones führte: Unter Riaños Nachfolger, dem aus dem nord-spanischen Burgos stammenden Oberstleutnant Felipe Díaz de Ortega (1791-1809) stabilisierte sich die Anzahl schließlich bei 20.73 Dies entspricht damit in etwa der Zahl der zehn Alcaldes mayores plus der 14 Stellvertreter in der Alcaldía mayor in der Zeit vor der Intendantenreform – hier ist also entgegen der Intention eine gewisse Kontinuität zu konstatieren.74 Auch wenn die Tribute, über die die Subdelegaten ja ihr Einkommen erhielten, schnell von 41.085 (1788) auf 81.072 Pesos (1791) stiegen, um dann konstant bei über 91.000 Pesos zu bleiben, 75 konnten entgegen der Gesetzesintention meist keine, nicht lokal eingebundenen Spanier für die Ämter gewonnen werden. Vielmehr musste auf die jeweiligen lokalen, das heißt auf die meist kreolischen Machtgruppen zurückgegriffen werden. 76 Nach einer Anfangszeit, in der Díaz de Ortega versuchte, das Reformwerk ähnlich strikt wie sein Vorgänger zu realisieren, zeichnete sich der zweite Abschnitt seiner Amtszeit durch eine stärkere Kompromissbereitschaft beziehungsweise einen entsprechenden -zwang gegenüber den örtlichen Eliten und Gegebenheiten aus. Ihm wurden mit zunehmender Amtszeit und Vernetzung mit den lokalen Eliten immer häufiger Vetternwirtschaft und Korruption vorgeworfen. Gemäß der Untersuchung der Intendantenreform in Michoacán von Iván Franco Cáceres lässt sich resümierend somit nur für den fiskalischen Bereich „ein gutes Effizienzniveau“77 feststellen. Die neuen Institutionen blieben stark auf diesen Teilbereich konzentriert und fungierten nur sehr eingeschränkt als „steuerndes Element der Wirtschaft und Gesellschaft“ 78 Michoacáns. Das Ausbleiben weitergehender Aktivitäten nach der reformfreudigen Anfangsphase erklärt Franco Cáceres zumindest zum Teil mit einem „international stark 73 Von den 28 vom Intendant Juan Antonio Riaño geschaffenen Subdelegaciones ist von acht bekannt, dass sie an Nachbarbezirke angeschlossen wurden, nämlich Cocupao, Erongaríquaro und Santa Clara del Cobre an Pátzcuaro, Chucándiro und Huango an Cuitzeo de la Laguna, Indaparapéo an Zinapécuaro, Carácuaro an Ario sowie Angamacutíro an Puruandiro. Während der Unabhängigkeitskämpfe schuf der Intendant Merino mit Sitz in Piedad einen neuen Bezirk; vgl. hierzu: Franco Cáceres: Intendencia, S. 128-153; Martínez de Lejarza: Análisis, Tabelle (División política) zwischen S. 32/33 u. S. 173. Der Vizekönig Revillagigedo hatte 1790 die Zusammenlegung mehrerer Subdelegaciones gestattet, um sie so finanziell attraktiver zur gestalten; vgl. den Hinweis bei Pietschmann: Einführung, S. 125, Fußnote 21. 74 Vgl.: Theatro Americano, Teil II, Buch III, S. 11-28. 75 Vgl. Terán: Gobierno, 104-113; Franco Cáceres: Intendencia, S. 109-125: TePaske/Klein (Hgg.): Ingresos, Abschnitt Michoacán. 76 Vgl. Franco Cáceres: Intendencia, S. 128-183 u. 269; Terán: Gobierno, S. 41. 77 Franco Cáceres: Intendencia, S. 273. 78 Franco Cáceres: Intendencia, S. 103; vgl. ähnlich Pietschmann: Alcaldes, S. 49f.
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kriegerischen Klima und mit folgenden lokalen Agrarkrisen im Falle Valladolid de Michoacáns“ 79 . Die Reformen an der frühkolonialen Verfassungsordnung zeitigten also nur in eingeschränktem Maße Erfolg, lokale Resistenzen blieben einflussreich. Nichtsdestotrotz führten die Reformintentionen, gewollt oder nicht, zu Veränderungen in der regionalen Verfassungs- und Politikkultur, wie es das folgende Kapitel für Michoacán zeigen wird.
II. Die Ausbildung einer spätkolonialen Verfassungskultur und die neue Elite Michoacáns In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts lässt sich für die Gesellschaft Michoacáns die Ausdifferenzierung einer kohärenten regionalen Elite feststellen. Sie ist zwar relativ offen und von Neuaufsteigern und -einwanderern geprägt, aber Abgrenzungstendenzen werden insbesondere im Lebensstil sichtbar. Geprägt ist sie weiterhin von einem steigenden Grad an Politisierung, die sich in der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung der eben genannten Reformen ebenso niederschlug wie in der Übernahme von Verantwortung für die Region und in der Verstärkung des Regionalbewusstseins. Versteht man Verfassungskultur in dem in der Einleitung ausgeführten Sinne als „spezifischen Aggregatzustand“ 80 der politischen Kultur und somit als „Verhaltens- und Denkmuster, symbolische Arrangements und ‚Diskurs’“81, die sich auf die Verfassungsordnung beziehen, versteht man Verfassungskultur also in diesem Sinne, lässt sich mit den zuletzt genannten Aspekten gleichzeitig die Herausbildung einer solchen Kultur konstatieren. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, gehören hierzu zudem eine starke (aufgeklärt-)katholische Prägung sowie eine gewisse patriarchale Grundhaltung. Die Ausbildung regionaler Eliten ist auch für andere hispanische Regionen für das Ende der Kolonialzeit konstatiert worden. 82 Inwiefern die bourbonischen Reformen oder ihr Scheitern diesen Prozess prägten, ist hingegen unklar – klar scheinen lediglich der politisierende und der die Elitenbildung fördernde Impetus. Im Folgenden sollen anhand von drei Bereichen, den Repúblicas de indios (a), der Kirche beziehungsweise Religion (b) und den Repúblicas de españoles (c) die eben genannten Elemente einer spätkolonialen Verfassungskultur Michoacáns 79 80 81 82
Franco Cáceres: Intendencia, S. 273. Häberle: Verfassungslehre, S. 91. Schlegelmilch: Verfassungskultur, S. 12. Vgl. bspw. Hensel: Entstehung; Meißner: Elite.
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herausgearbeitet werden. Insbesondere bei der Betrachtung der beiden letzten Aspekte lässt sich zudem die Ausbildung einer regionalen Elite verdeutlichen.
a.
Die Reformpolitik gegenüber den Repúblicas de indios
Beide Motive für den Erlass der Ordenanza, die Vereinheitlichung und die patriarchale Grundhaltung, lassen sich bei der Behandlung der Repúblicas de indios besonders gut nachvollziehen – und zwar nicht nur im Gesetzestext, sondern auch bei den die Vorgaben umsetzenden Personen, also den lokalen und regionalen Amtsträgern, die, wie oben gesehen, meist aus der regionalen Oberschicht kamen. Allgemein galt es laut Ordenanza als „sehr wichtiges Ziel“, „die Naturales dazu zu ermutigen, sich dem Ackerbau und dem Gewerbe zu widmen sowie Castellano zu sprechen“83. Spezifiziert wurde diese Zielstellung für die Subdelegaten: Sie sollten die „Naturales in guter Ordnung, Gehorsam und Zivilität“84 halten. Hier wird evident, dass die intendierte Vereinheitlichung eine Angleichung der Lebensstile bedeuten sollte, die sich am Homo oeconomicus als gesamt-gesellschaftlichem Leitbild und an der europäisch-spanischen Zivilität zu orientieren hatte.85 In diesem Sinne sollte die Verwaltung in den Pueblos gestärkt werden: Die Dörfer, die bisher keinen Alcalde ordinario besaßen, aber über ein „competente vecindario“86 verfügten, sollten zwei Alcaldes erhalten, sei es durch Wahl oder durch Ernennung, falls noch kein „formales Ayuntamiento“87 vorhanden war. „In Anerkennung des Vasallentums und des höchsten Schutzes, der ihnen gewährt wird“88, sollte für alle Pueblos das „alte“ Wahlrecht für die Ämter des „reinen Verwaltungsregimes“ und für die Ämter zur Eintreibung des Tributes der Indianer beibehalten werden. Der patriarchalische Impetus drückte sich dadurch aus, dass der Subdelegado den Wahlen immer vorstehen sollte, was nach den Leyes de indias noch Aufgabe des Dorfpfarrers gewesen war. Diese Maßnahme sollte ausdrücklich dem „Ziel“ dienen, „die Störungen, Beschwerden und Aufwiegeleien zu vermeiden, die häufig zwischen jenen Naturales entstehen“89. Nach den Wahlen war das Ergebnis an den Intendanten zu melden, der es zu bestätigen oder zu verwerfen hatte – ohne weitere Angaben, wann es 83 84 85 86
Real ordenanza (1786), Art. 14. Real ordenanza (1786), Art. 12. Vgl. hierzu auch: Annino: Constitucionalismo, S. 163; Pietschmann: Conciencia. Real ordenanza (1786), Art. 11. Diese Maßnahme lässt sich als Anpassung an die gewachsene Zahl an Dörfern interpretieren; vgl. Annino: Constitucionalismo, S. 153-155. 87 Real ordenanza (1786), Art. 11. 88 Real ordenanza (1786), Art. 13. 89 Real ordenanza (1786), Art. 13.
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der Reform bedurfte. In diesem Fall sollte der Intendant jedoch bezeichnenderweise diejenigen bevorzugen, die Castellano sprechen können und/oder sich im Ackerbau oder im Gewerbe auskennen. Noch deutlicher wird das Ziel der Akkulturation über die Verordnung, die „relative Autonomie“90 der Repúblicas in Finanzfragen zu beenden und sie einer externen Regelung zu unterwerfen. Der Intendant war gemäß der Ordenanza zur Vereinheitlichung der Steuerverwaltung „der Gemeinschaftsgüter der Pueblos de indios“ 91 aufgerufen. Dafür sollte er Richtlinien aufstellen, „wobei er die Ausgabenposten, die ihm maßlos oder überflüssig erscheinen, zu mäßigen oder zu verwerfen“ 92 hatte. Die vormals weitgehend autonom für Gemeinschaftsaufgaben zu handhabenden Gemeindekassen (Cajas de comunidad)93 erhielten in der Praxis den Rang von reinen Ausführungsorganen in den Händen der neuen Beamten.94 Diese hatten unter der Oberaufsicht der Junta superior de hacienda die „nützlichen Ziele“95 für Ausgaben zu definieren. Marta Terán konnte in zahlreichen Einzelstudien zeigen, dass diese Maßnahme in Michoacán relativ konsequent umgesetzt wurde, hier also durchaus der Einfluss der Zentrale gesteigert werden konnte. Entsprechend verfügten die Pueblos im Durchschnitt im Jahre 1802 nur noch über 32% ihres Vermögens.96 Das Geldvermögen der Pueblos war zwar vor allem durch von den Subdelegados angeordnete Zwangsverpachtungen von Gemeindeland stark gewachsen.97 Die Pueblos konnten es aber, wie gesagt, nicht wie vorher nach ihrem Gutdünken investieren, insbesondere die als „überflüssig“ betrachteten religiösen und zivilen Feste wurden mittels Ausgabenregulierung unterbunden.98 Als „nützliche Ziele“ hingegen galten Investitionen in den Kreditmarkt von Valladolid, von Mexiko-Stadt oder in königliche Kreditanstalten wie die erste Nationalbank Banco de San Carlos und die Compañia de Filipinas.99 Eine Statistik aus dem Jahre 1822 bezeichnete ca. 95% der verliehenen Gelder als „ver-
90 91 92 93 94 95 96 97
Terán: Gobierno, S. 4. Real ordenanza (1786), Art. 28. Real ordenanza (1786), Art. 33. Vgl. Terán: Gobierno, S. 62-64. Vgl. Terán: Gobierno, S. 1-10 u. 450f. Real ordenanza (1786), Art. 47. Vgl. Terán: Gobierno, S. 64-103 u. 153-159. 1802 stammten 69% der Einnahmen der Cajas aus Verpachtungen; vgl. Tanck de Estrada: Pueblos, S. 104. Vergl.: In México betrug die Quote 24%, in Guadalajara 52%. 98 Zu den Zwangsverpachtungen und dem Anstieg des Geldvermögens; vgl. Terán: Gobierno, S. 116-153; zur Eindämmung der Festkultur, vgl. Terán: Políticas. 99 Vgl. zum Banco Nacional de San Carlos und dessen Politik: Schmidt: Desamortisationspolitik, S. 85-87.
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loren“100. Insbesondere über die Normierung und Nivellierung der Ausgaben sowie dem damit verbunden Entzug des Vermögens griff die Intendantenrefom also stark in das Alltagsleben der Repúblicas ein, positive soziale Auswirkungen zeitigte sie hingegen nach der Studie von Terán kaum. 101 Ihr Resümee fällt entsprechend aus: „Auf allen Seiten sahen die Indios sich der Möglichkeiten beraubt, in korporativer Freiheit zu leben“102. Um die den Subdelegados gestellte Aufgabe zu erfüllen, galt ein Großteil der Ausgaben dem Aufbau der staatlichen Präsenz in den Dörfern in Form von Gefängnissen 103 und Schulen, die „Sitz und Symbol“ für „Gehorsam und Zivilität“ 104 waren. Insbesondere der Ausbau des Schulwesens in Michoacán erwies sich in diesem Sinne als erfolgreich: Laut Ordenanza sollte in jedem spanischen oder indigenen Ort mit einer „competente vecindad“105 eine Schule errichtet werden. Das bereits vor 1787 vorhandene Schulwesen stark ausbauend, konnte dieses Ziel zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohl erreicht werden: Laut Marta Terán besaßen über zwei Drittel aller Pueblos einen in den meisten Fällen durch die Cajas de comunidad bezahlten Lehrer. Auch wenn Tanck de Estrada auf Grund einer anderen Zählweise auf einen deutlich niedrigeren Prozentsatz kam, nämlich auf nur 37%, stellte sie im neu-spanischen Vergleich doch fest, dass die Intendanz 1803 über das mit Abstand beste Verhältnis von indigenen, männlichen Kindern pro Schule beziehungsweise Lehrer verfügte, nämlich 129 zu 1.106 Fast immer handelte es sich bei den Lehrern um geistliche, teils auch um zivile sowie ausdrücklich nur um spanische Amtsträger.107 Das 100 Terán: Gobierno, S. 157-165 u. Martínez de Lejarza: Analisís, Tab. 7, o. S.: Dort heißt es, dass von den knapp 30.000 Pesos der „größte Teil verloren“ sei, lediglich 1.400 Pesos seien noch einforderbar. 101 Terán: Relación; Miranda Arrieta: Participación, S. 404f. Das Verbot des Zwangshandels, ein wichtiges Anliegen der Ordenanza, hatte in Michoacán kaum Auwirkungen, da diese Institution hier auch vor 1787 kaum verbreitet war; vgl. hierzu Hamnett: Roots, S. 78-84; Morin: Michoacán, S. 175f. 102 Terán: Gobierno, S. 227. 103 Der Bau der Gefängnisse folgte vorgegebenen Kriterien und erfolgte häufig, wie der der Schulen und der Wohnsitze der Subdelegados, durch Zwangsarbeit. Laut Terán wurden in den Gefängnissen meist Indigene, auch schon bei kleineren Vergehen, eingesperrt, spanische Vecinos hingegen erst bei größeren Vergehen; vgl. Terán: Gobierno, S. 241272; Inspección Ocular, u.a. S. 87. 104 Terán: Gobierno, S. 244. 105 Real ordenanza (1786), Art. 34. 106 Tanck de Estrada: Pueblos, S. 229-235 u. 285-287. Die zweitbeste Relation besaß danach die Intendanz México mit 162 Schülern pro Lehrer. 107 Terán: Gobierno, S. 301-338. Nach einem Konflikt in Uruapan, ausgehend von einem Antrag der dortigen República de indios auf einen indigenen Lehrer, wurde entschieden, dass der Lehrer Spanier sein muss, und dass es keine getrennten Schulen geben dürfe.
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Ergebnis dieser Akkulturationsprogramme lässt sich besonders gut in der Zurückdrängung der indigenen Sprachen, vor allem des Purhepecha, erkennen, die sich fast nur noch in abgeschiedenen Gebieten hielten.108 Nach den soeben ausgeführten Maßnahmen schien den Obrigkeiten die indigene Bevölkerung als im besonderen Maße reformbedürftig. Diese Obrigkeiten konnten sich dabei auf die nicht nur unter Spaniern tief verwurzelte Tradition berufen, die die Indios als minderjährig und somit als grundsätzlich erziehungsbedürftig einstufte. Viele der im vorherigen Abschnitt zitierten Studien folgen diesem Bild zumindest implizit. Es wäre noch viel stärker danach zu fragen, wie unterschiedliche Akteure der indigenen Bevölkerung – die, wie oben gesehen, auch nicht als isoliert zu betrachten sind – in dieser Zeit agierten, welche Vorstellungen sie einbrachten, wie sie sich Reformanliegen aneigneten oder bekämpften. Ein erster Schritt in diese Richtung sind Studien zu Auseinandersetzungen um Landbesitz. Wie insbesondere Felipe Castro herausgearbeitet hat, gingen indianische Akteure häufig unter Ausnutzung legaler und extra-legaler, gewaltsamer Mittel und in Kooperation mit lokalen Behörden in die „Kontraoffensive“109, indem sie alte Besitzrechte gegen Hacendados, Geistliche, aber auch gegenüber benachbarten Dörfern erfolgreich einforderten. 110 Auch für andere Bereiche fehlen derartige Studien, das Hauptproblem scheint aber immer noch die Perspektive zu sein. 111 Festzuhalten bleibt hier für die Frage nach der Verfassungskultur der spanischen Eliten zunächst eine patriarchale Grundhaltung und ein pädagogisch-zivilisatorischer Impetus.
b. Kirche und Religion in Michoacán Als weitere Körperschaft rückte die Kirche in den Blickpunkt der Reformpolitik. Mit ihr traf man allerdings auf eine Institution, deren Stellung in weiten Teilen der Gesellschaft Michoacáns nach Franco Cáceres als „absolut hegemonial“112 einzustufen war. Anders als die Repúblicas wurde sie nicht nur als Reformobjekt wahrgenommen, sondern auch auch als Akteur. Valladolid galt in der späten Kolonialzeit als die „Kirchenstadt schlechthin“ 113 . In allen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppen besaß sie Einfluss und kann als ver108 Vgl. die Untersuchung und die Karten bei West: Geography, S. 11-15. 109 Vgl. Castro Gutiérrez: Undameo; allgemeiner: Castro Gutiérrez: Uso. 110 Zu den Landkonflikten vgl.: Morin: Michoacán, S. 284-286; Castro Gutiérrez: Undameo, S. 232; Castro Gutiérrez: Indios, S. 101-116; Solares Robles: Bandidos, S. 257f.; Hamnett: Roots, S. 6. 111 Vgl. zur Forschungslage: Heimann: Liberalismus, S. 16-22; Gledhill: Others. 112 Franco Cáceres: Intendencia, S. 203. 113 Morin: Michoacán, S. 36.
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bindendes Element angesehen werden. Für 1793 sind in den 82 Gemeinden Michoacáns 300 gezählt worden, 1810 gab es 282 Priester und zudem 276 Mönche und Nonnen bei einer Bevölkerung von knapp 350.000 Personen.114 Auch die sehr hohe Anzahl von 277 Bruderschaften spricht für eine feste Verankerung des Katholizismus im Alltagsleben Michoacáns.115 Über alle Bevölkerungsgruppen hinweg waren die Bruderschaften zentraler Bestandteil des religiösen Lebens auf kommunaler Ebene. In den Pueblos de indios stellten sie zusammen mit den Hospitälern und den dort angeschlossenen Kapellen die traditionellen, religiösen Zentren und „vielleicht den repräsentativen Kern des religiösen Synkretismus in Michoacán“ 116 dar. Manuel Abad y Queipo aus Asturien, Beauftragter für Testamente und fromme Werke, zählte für 1805 1.331 fromme Stiftungen mit einem Gesamtwert von knapp 3,5 Millionen Pesos, von denen ein „großer Teil über irreguläre Einlagen in Haciendas, in Handelsunternehmungen und in den Minen der Diözese“ 117 investiert war. Somit waren auch die Wirtschaftstätigkeiten stark kirchlich-religiös beeinflusst. Im Bildungsbereich konnte mit der Einweihung des Priesterseminars Seminario Tridentino 118 unter Bischof Pedro Anselmo Sánchez de Tagle (17581772) die dominante Stellung der Kirche untermauert werden. Bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts besaß Valladolid mit dem Primitivo Colegio de San Nicolás eine über die Grenzen des Bistums hinaus angesehene, höhere Bildungsstätte, die erst in den 1760er Jahren vier neue Lehrstühle für indigene Sprachen erhalten hatte. 119 An diese beiden Einrichtungen schickten weite Teile der regionalen Elite ihre Kinder zur Ausbildung. Vor der Vertreibung der Jesuiten 1767 lehrte dort unter anderem der wegen seiner später im Exil geschriebenen Geschichte Mexikos berühmte kreolische Pater Francisco Javier Clavijero.120 Ähnlich wie bei den Reformanstrengungen gegenüber den Repúblicas de indios zielten die Reformer bei der Kirche hier neben den eigentlichen Institutionen 114 Zum Vergleich: In der Intendanz Guanajuato (576.600 Einwohner), aufgeteilt in 23 Gemeinden, existierten 1810 225 Priester und 248 Mönche bzw. Nonnen, in den elf Gemeinden von San Luis Potosí (173.651 Einwohner) 23 Priester und 63 Mönche; vgl. Brading: Church, S. 106f. u. 135. 115 Die 277 Bruderschaften Michoacáns verfügten über ein Eigentum von 468.340 Pesos, wieder zum Vergleich: Die 132 Fraternidades in Guanajuato besaßen 338.811, die 59 in San Luis Potosí 134.943 Pesos; vgl. Brading: Church, S. 135. 116 Mendoza Briones: Visita, S. 170. 117 Mazín Gómez: Cabildo, S. 401. 118 Mazín Gómez: Cabildo, S. 332f.; Mazín Gómez: Majestades, S. 10f. 119 Mazín Gómez: Majestades, S. 34-38. 120 Nach seiner Ausweisung schrieb er in Florenz die Storia antiqua de Messico, ein Werk, das sich insbesondere gegen die Geringschätzung Amerikas durch Autoren wie de Pauw, Buffon etc. wandte; vgl. Brading: America, S. 450-462.
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zudem auf die mit ihr verbundene, als reformbedürftig eingestufte Kultur ab. So geriet der sowohl bei den Eliten als auch in der weiten Bevölkerung tief verwurzelte post-tridentinische, barocke Katholizismus – häufig mit den nunmehr vertriebenen Jesuiten in Verbindung gebracht – in die Kritik. Insbesondere nach dem Tod von Bischof Juan Ignacio de la Rocha (1782) und mit dem Antritt des Erzdiakons José Pérez Calama als Administrator des Bistums kam diese Kritik auch verstärkt aus den eigenen Reihen. Zusammen mit Kanzler Antonio de Tapia sowie ab 1784 mit dem neuen Bischof Antonio de San Miguel Iglesias (1784-1804) und dem mit ihm aus Guatemala gekommenen Abad y Queipo versuchte er, aufgeklärtes Gedankengut in Kirche und Gesellschaft zu verbreiten.121 Personell schlug sich dieses Ansinnen in der Übernahme zentraler Positionen durch Europa-Spanier nieder: Neben den eben genannten stellten beispielsweise im Domkapitel zur Jahrhundertmitte die Europa-Spanier gut ein Viertel der Personen, 50 Jahre später stieg ihr Anteil auf über die Hälfte. 122 1784 hatte in diesem Sinne Pérez Calama die „extreme Notwendigkeit von Europäern“ an Gálvez gemeldet.123 Auch wenn sich die Anhänger und Gegner von Reformen im aufgeklärten Sinne nicht eindeutig nach dem Muster Europa-Spanier gegen Kreolen unterteilen lassen, so ist doch eine Tendenz erkennbar. Aus Spanien wurden eher aufgeklärte Reformer für die höheren Posten nach Übersee gesandt. Dem amerikanischen Niederklerus waren dadurch Aufstiegschancen entzogen. 124 Als Gegenbeispiel diente auf Grund seiner späteren Bedeutung in der Unabhängigkeitszeit insbesondere der Kreole Miguel Hidalgo, der als Rektor am Colegio de San Nicolás und späterer Pfarrer in Dolores (Guanajuato) unter anderem mit Abad y Queipo in engem Kontakt stand. Wegen seiner Affinität zur französischen Kultur taufte man 121 Zu Pérez Calama: Brading, Church, S. 192-213; Jaramillo Magaña: José; Mazín Gómez: Cabildo, S. 377f. 122 Der Anstieg der Europa-Spanier lässt sich an folgenden Zahlen festmachen: 1730-1760 waren es 26,4%, 1760-1786 47,2% und am Ende des Jahrhunderts mehr als die Hälfte, evtl. sogar 70%; vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 371. Brading stellte nach seiner Untersuchung weiter fest: „The wealth and status of the ecclestical elite was thus matched by the endemic poverty of the clerical proletariat“ (Brading: Church, S. 116). Neben den Posten des Cabildo waren insbesondere die wenigen reichen Gemeinden bei den meist aus reichen Familien stammenden Geistlichen begehrt. Nach einer bischöflichen Visite 1791 zeigte das Ergebnis die ungleiche Verteilung: Es gab neun Gemeinden mit über 4.000 Pesos Einnahmen für den Pfarrer, vier davon konnten sich gar zwei Pfarrer leisten, auf der anderen Seite existierten 37 Dorfpfarrer mit Einnahmen von weniger als tausend Pesos, im Schnitt nur 649, vor allem in der Sierra tarasca und der Tierra caliente; vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 396; Brading: Church, S. 145-149. 123 Mazín Gómez: Cabildo, S. 371. 124 Vgl. hierzu im Überblick: Farriss: Clergy.
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seine Pfarrei „Francia Chiquita“125. Aber beispielsweise auch die an den beiden höheren Bildungsinstitutionen ausgebildeten Söhne der neu Eingewanderten teilten häufig das aufgeklärte Gedankengut, wie auch der in Pátzcuaro gebürtige und am Seminario ausgebildete Manuel de la Torre Lloreda, 1824 und 1825 eine der zentralen Figuren im verfassunggebenden Kongress. Bei der versuchten Verdrängung der barocken Volksfrömmigkeit durch eine stärker an rationalen Kriterien und den Kirchenvätern ausgerichteten, schmucklosen, strengen Piedad austera – häufig mit der Reformbewegung des Jansenismus konnotiert – lassen sich somit vor allem im Hochklerus Übereinstimmungen mit der Politik der Krone feststellen.126 „Die Spaltung von Hochund Niederklerus von Michoacán korrelierte mit den Unterschieden zwischen katholisch-jansenistischer Aufklärung und dem großen Teil der Gläubigen“. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der in Michoacán schließlich weitgehend gescheiterte Versuch, per Erlass von 1791 alle Bruderschaften aufzulösen, die sich nicht der „Hilfe armer Gefangener, der Kranken oder anderen nützlichen Sachen des Vecindario“127 widmeten. 1794 waren im Erzbistum Mexiko von 951 Bruderschaften schon 500 abgeschafft, für Michoacán stellte Terán hingegen eine relative Konstanz fest.128 Aber auch die oben gezeichneten Regulierungsversuche der Festkultur lassen sich in diesen Kontext verorten. Zu den für Michoacán immer wieder genannten Maßnahmen zählt auch die Reform der Priesterausbildung am Colegio 1784, orientiert an den genannten neuen Prinzipien.129 In einigen Bereichen sind also klerikale und zivile, an aufgeklärten Ideen orientierte Erneuerungsprojekte kaum zu unterscheiden. In anderen Teilgebieten hingegen werden insbesondere mit der Intendantenreform regalistische Absichten in der bourbonischen Politik erkennbar, die auf 125 Hidalgo besaß zudem Grundbesitz im Westen Michoacáns, weswegen er dorthin intensive Kontakte pflegte; vgl. Herrejón Peredo: México, v.a. S. 107-115. 126 Allerdings darf man die über Spanien hinaus verbreitete Reformbewegung des Jansenismus nicht mit Regalismus oder der katholischen Aufklärung gleichsetzen; vgl. Schmidt: Élite, S. 72-75. 127 Mazín Gómez: Cabildo, S. 396. 128 Vgl. Terán: Gobierno, S. 273-295; Brading: Church, S. 141-143; Mazín Gómez: Cabildo, S. 397. 129 Calama hatte, stellvertretend für die neuen Tendenzen im Bildungswesen, 1784 kritisiert, es gebe in Valladolid keine Einrichtung, an der man „Moralphilosophie, Geschichte, und Wirtschafts- sowie Politikwissenschaft“ (zitiert nach Brading: Church, S. 114) studieren könne. 1799 erhielt das Colegio neue Lehrstühle für Kirchen- und Zivilrecht; vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 384-387; zur Entwicklung bis in die 1770er Jahre, vgl. Mazín Gómez: Majestades; Herrejón Peredo: México; Cardozo Galué: Michoacán; Jaramillo Magaña / Juárez Nieto: Cabildos.
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Widerstände in Kirchenkreisen stießen: Als einschneidendes Datum gilt hier die oben dargestellte Jesuitenvertreibung von 1767. Der Kirchenhistoriker Óscar Mazín bezeichnete die königliche Politik nach der Jesuitenausweisung als „offenen Krieg“ 130 . Der Versuch, die Eintreibung und Verwaltung des Kirchenzehnts in Mexiko einer zivilen Aufsicht (Junta de diezmo) zu unterwerfen, scheiterte nicht zuletzt am entschiedenen Widerspruch des Bistums Michoacán. Die Reform war damit begründet worden, dass der Krone als Patron der Kirche (seit 1501) alle Einnahmen zustehen. 131 Den Angriff auf die persönliche Immunität des Klerus – also auf die Nichtunterwerfung unter die zivile Gerichtsbarkeit – verurteilte Abad y Queipo 1799 in einer Representación mit dem Hinweis, Krone und Kirche hätten ähnliche Interessen, und nur letztere könnte „der Krone die Unterordnung und den Gehorsam des Volkes“ sichern – was als Warnung vor französischen Verhältnissen zu werten ist.132 Deswegen seien sie, die Kirche zusammen mit dem Klerus, „notwendige Mitglieder der Constitución monarquica“133. Nach Abad y Queipo „kann der amerikanische Klerus für sich die Titel als Erhalter der Eroberungen und als Lehrer der eroberten Gebiete beanspruchen“134. Zusammen mit Protesten weiterer Diözesen konnte so erwirkt werden, dass die Krone dieses kirchliche Privileg insbesondere bezüglich des Strafrechts schließlich nicht abschaffte.135 Ähnlich konfliktreich gestalteten sich die Auseinandersetzungen um die Besetzung der Pfarrstellen, ein Recht, das der Intendant als Inhaber des Vizepatronats oftmals vergeblich für sich in Anspruch nahm.136 Trotz dieser Angriffe konnte sich die Kirche als zentrale gesellschaftliche Institution der Region erhalten und zwar auch über den rein religiösen Bereich hinausreichend, so beispielsweise bei der von Calama und San Miguel angestoßenen Einrichtung einer Sociedad vascongada de amigos del país in Valladolid. 137 Diese ursprünglich aus dem Baskenland stammende Institution 130 Mazín Gómez: Majestades, Titel Kap. IV; Cardozo Galué: Michoacán; Taylor: Magistrates. 131 Vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 384-391; Franco Cáceres: Intendencia, S. 245f. 1777 und 1795 wurden vermeintlich zur Schwächung des Bistums wiederum unter Protest Gebiete abgetrennt; vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 398-400. 132 Vgl. Mazín Gómez: Cabildo, S. 397f.; Herrejón Peredo: México, S. 115ff. 133 Representación sobre la inmunidad personal del clero, reducida por las leyes, por Abad y Queipo, in: HyD, II, Nr. 261, S. 821-851, hier S. 827. 134 Representación sobre la inmunidad personal del clero …, in: HyD, II, Nr. 261, S. 845. 135 Zur Immunität des Klerus: Escamilla González: Inmunidad, v.a. S. 47-49 u. 65f.; im allgemeineren Rahmen: Farriss: Crown. 136 Vgl. Franco Cáceres: Intendencia, S. 270. 137 Vgl. Mazín Gómez: Majestades, S. 39-49; Mazín Gómez: Cabildo, S. 375f.; allgemein im Überblick: Pietschmann: Sociedades, S. 151-167.
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hatte sich der Förderung und Verbreitung der nützlichen Wissenschaften, wirtschaftlicher Ideen und konkreter Projekte verschrieben. Sie wurde ein wichtiger Treffpunkt der regionalen Elite, für 1785 meldet ein Mitgliederverzeichnis für Valladolid 17 – unter ihnen die europa-spanischen Großeigentümer Juan Manuel de Michelena, Juan Bernardo de Foncerrada und José Joaquín de Iturbide – für Pátzcuaro 20, für Zamora drei und für Santa Clara zwei Socios. Von 17 Mitgliedern des Ayuntamiento von Valladolid waren sechs gleichzeitig Mitglieder der Sociedad vascongada, von den zehn in Pátzcuaro sieben, aus dem 21-köpfigen Domkapitel kamen weitere vier. 138 In einer ebenfalls von Pérez Calama initiierten Diskussionsrunde (Tertulia de truco y malílla) lasen und diskutierten Elitemitglieder aktuelle Themen aus Religion, Geschichte, Ökonomie und Politik, damit „sich die Freiheit und die anständige Zwanglosigkeit vereinend jeder mit der Ausbildung des Verständnisses [ilustración del entendimiento] erholen und unterhalten kann“ 139 . Auch in vielen weiteren Diskussionsrunden, bei denen die Lektüre von durch die Inquisition verbotenen Büchern und Autoren wie Montesquieu, Bentham, Rousseau, Smith, Locke et cetera gängig war, spielten Geistliche eine zentrale Rolle.140 Nach der Untersuchung einer Reihe von Manuskripten in den Archiven Valladolids durch Moisés Guzmán war die „Infiltration mit den politischen Ideen Nordamerikas in den gebildeten Kreisen“ Michoacáns „bemerkenswert“, insbesondere bezüglich der US-Verfassung und diverser Menschenrechtskataloge.141 1801 bemerkte der Beauftragte der Inquisition in Valladolid Ramón Pérez Anastariz: „Die Bibliothek des Seminario ist voll von verbotenen Büchern, die nachdem ich sie verließ, eingeführt wurden; und die Jugendlichen lesen in ihnen“ 142 . Abad y Queipo las neben Autoren der katholischen Aufklärung auch Montesquieu, Adam Smith und Jean Jacques Rousseau. 143 Die Französische Revolution beziehungsweise vor allem deren antikirchliche Stoßrichtung zeitigte, wie 138 Cardozo Galué: Michoacán, S. 129-132; Jaramillo Magaña / Juárez Nieto: Cabildos, hier v.a. S. 274; Brading: Church, S. 198 u. 209. 139 Vgl. insbesondere die Projektbeschreibung vom 27. Juli 1787, in: Cardozo Galué: Michoacán, S. 133-135, Zitat S. 135. Dort heißt es, dass jeder das „sprechen könne, was ihm zum Thema angemessen scheint, indem er einen familiären, achtsamen und politischen Stil verwendet, der für jedes Zusammentreffen von Ehrleuten [gentes de honor] gewöhnlich ist“. Der nächste Abschnitt legt fest, dass „die tertulianos in der Kleidung, die ihnen am bequemsten ist, zu der Zeit, zu der man kann, teilnehmen“ können, außerdem gab es keine „distinción bei der Sitzordnung“ (Cardozo Galué: Michoacán, S. 134). 140 Vgl. dies zusammenfassend: Juárez Nieto: Insurgentes, S. 31f. 141 Guzmán: Hidalgo, S. 80-94, Zitat S. 80. 142 Juárez Nieto: Oligarquía (1990), S. 64. 143 Vgl. im Überblick: Herrejón Peredo: México, v.a. S. 115ff.
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gesehen, in erster Linie eine abstoßende Wirkung, die Bezeichnung als deren Anhänger galt als Schmähung.144 Festhalten lässt sich freilich die Verankerung der Elite in den atlantischen Diskussionen. Als hervorstechender Ausdruck einer öffentlich tätigen „teología políticocaritativa“ gilt die Bekämpfung der Hungerkrisen von 1785 und 1786 in Valladolid und Umland. Der Cabildo organisierte in Zusammenarbeit mit der Sociedad vascongada Gegenmaßnahmen in Form von Lebensmittelbeschaffung und -verteilung, mit der Vergabe von Krediten zur Aussaat von Getreide sowie in Form von Beschäftigungsmaßnahmen.145 Die Kirche und mit ihr verbundene Persönlichkeiten betätigten sich als gesellschaftlich verantwortliche Institutionen. Bei der Eindämmung der Pockenepidemie 1797 hob Humboldt bei seiner Mexiko-Reise (1802-1804) den erfolgreichen Einsatz Riaños und Abad y Queipos für groß angelegte Impfunternehmungen der Bevölkerung hervor.146 Insbesondere letztgenannter und Bischof San Miguel schlugen auch in der Folgezeit weitergehende Sozialreformen wie die Abschaffung des Tributs sowie Landverteilungen vor und warnten vor Verhältnissen wie im revolutionären, anti-katholischen Frankreich.147
c.
Die Herausbildung einer regionalen Elite in den Repúblicas de españoles
Die Politik gegenüber den Repúblicas de españoles als weitere alteingesessene Institutionen war zwar noch nicht Gegenstand einer systematischen Untersuchung. Einiges deutet freilich darauf hin, dass sie von den Reformversuchen weniger betroffen waren als die Repúblicas de indios und der Kirchenbereich. Wie zu zeigen sein wird, differenzierte sich aus der Gruppe der spanischen Repúblicas am Ende der Kolonialzeit eine zunehmend kohärente regionale Elite mit in Ansätzen eigenem Regionalbewusstsein und einer beginnenden Ideologisierung. Als eine zentrale Reformmaßnahme, die schließlich zur Integration der Elite betrug, lässt sich die Veränderung der Zusammensetzung des Ayuntamiento von 144 Vgl. auch im Überblick Guerra: Modernidad, S. 36-42; zum kaum verankerten, mit der französischen Revolution verbundenen „revolutionären Liberalismus“: Timmermann: Monarchie, S. 68-72. 145 Beispielsweise fallen in diese Zeit die Restauration des Aquäduktes von Valladolid und weitere Straßenbauarbeiten; vgl. Hamnett: Roots, S. 102-115; Mazín Gómez: Cabildo, S. 380-382; Jaramillo Magaña: Iglesia, S. 45-66; Lemoine Villicaña: Estudio, v.a. S. 13-27. 146 Humboldt: Mexico-Werk, S. 153f. 147 Vgl. u.a. die zitierte Representación von Abad y Queipo und die Predigt von San Miguel von 1793, in der er als einer der ersten im Vizekönigreich die Auswüchse der Revolution anprangert; vgl. den Text in Cardozo Galué: Michoacán, S. 137-140; Jaramillo Magaña: José, S. 107-154; Molina de Villar: Crisís; Terán: Sociedad.
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Valladolid heranziehen. Zwischen 1770 und 1776 hatte das Ayuntamiento sechs neue Regidores-Posten sowie zwei neue, zu wählende Regidores honorarios erhalten. Damit zeichnete sich einerseits die Vorherrschaft Valladolids gegenüber Pátzcuaro ab, insbesondere ist dies jedoch als erfolgreiche Maßnahme zur Stärkung des europa-spanischen Elements im Ratsgremium gedeutet worden. Ähnliches kann man auch in Mexiko-Stadt und anderen Städten verfolgen.148 Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende waren von insgesamt 22 Ratsmitgliedern in Valladolid 17 vermögende Europa-Spanier, unter ihnen die Großgrundbesitzer Isidro Huarte, José Joaquín Iturbide, José María Peredo, Gabriel Garcia de Obeso, Benigno Antonio de Ularte und Juan José Martínez de Lejarza, aber teilweise auch schon deren kreolische Nachkommen wie Isidro Huarte junior, José Nicolás de Michelena und José María Garcia de Obeso.149 Erst gegen Ende der Kolonialzeit entzündeten sich bei Neubesetzungen in den Ayuntamientos oder auch bei der Vertretung vor dem Consulado in Mexiko-Stadt vermehrt Konflikte zwischen Europa-Spaniern und Kreolen. Aber auch zwischen den Mitgliedern der zwei ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts politisch und wirtschaftlich dominierenden Einwanderergruppen intensivierten sich die Auseinandersetzungen: nämlich zwischen den Montañeses, also zwischen den Einwanderern aus den nord-spanischen Regionen um Santander (beispielsweise die Garcia de Carrasquedo, Garcia de Obeso, Mier y Terán und Peredo), und den Vascos aus dem Baskenland (unter ihnen Huarte, Iturbide, Martínez de Lejarza und Michelena).150 Für das Ayuntamiento von Valladolid ist noch keine Renaissance wie für diejenigen in den Vizekönigreichen Río de la Plata und Peru sowie für Mexiko-Stadt nachgewiesen worden. 151 Nachdem sie im 17. Jahrhundert an politischer Bedeutung verloren hatten, gewannen sie nun, teils als „bulwarks of Creole interests“ 152 gegen die aufgeklärte Reformpolitik bezeichnet, wieder an Einfluss. Die enge Verbindung zu den gleich zu behandelnden Milizen – deren Organisation und Personalausstattung hatten sie als Aufgabe von den Intendanten übernommen – und die selbstbewusstere Pos148 Vgl. Franco Cáceres: Intendencia, S. 205-207, zu Mexiko-Stadt und andere Städte: Meißner: Elite, S. 81-87. 149 Vgl. die Listen bei Juárez Nieto: Oligarquía, S. 341-349; Juárez Nieto: Oligarquía (1994), S. 55. 150 Vgl. Juárez Nieto: Sociedad, S. 236-242; Juárez Nieto: Oligarquía, S. 141-159 u. 319 sowie die Tabellen auf S. 351-354; Juárez Nieto: Trabajos. 151 Vgl. Meißner: Elite, S. 87 mit den Verweisen auf Arbeiten von John Lynch (Río de la Plata) und John Fisher sowie John Preston Moore (Peru). Richard Garner konnte eine solche Entwicklung für den Rat von Zacatecas in seiner Dissertation hingegen nicht feststellen; vgl. Hensel: Entstehung, S. 97 / Fußnote 196 mit Verweis auf: Garner: Zacatecas. 152 Schmidt: Philosophy, S. 140.
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itionierung gegenüber Intendant und dem Cabildo deuten jedoch auf ähnliche Tendenzen in Michoacán hin. 153 Das Eintreten neuzugewanderter Elitemitglieder in das Ratsgremium verweist ebenfalls auf dessen hohes Sozialprestige. Carlos Juárez Nieto kommt in einer Elitenstudie zu Valladolid zu dem Schluss, dass sich erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine kohärente regionale Elite ausbildete, deren zentrale „Integrationsachse“ 154 familiäre Beziehungen darstellten. Über Eheschließungen mit reichen kreolischen Familien oder untereinander, über die Übernahme von Patenschaften, über familiäre und landsmannschaftliche Kontakte konnten sich insbesondere einige neueingewanderte Europa-Spanier meist zunächst im Handel, dann als Grundbesitzer in der Region und später in den vornehmen Korporationen beziehungsweise Ämtern der Region etablieren.155 Chowning bezeichnet diese Elite als „relatively inclusive and mobile“ 156 . Neben der Familie und der verstärkten wirtschaftlichen Integration – Stichworte: steigendes Handelsaufkommen und vermehrte Investitionen in die Landwirtschaft – spielten das dichte kirchliche und das wachsende staatliche Verwaltungsnetz bei der regionalen Integration der Elite eine tragende Rolle. An den beiden Institutionen Kirche und spanische Ratsgremien sowie ihren Besetzungen lässt sich die enge Verbundenheit einer sich allmählich ausbildenden regionalen Elite mit Kirche und Staat erkennen. Die in anderen Ländern für die Aufklärung grundlegende anti-kirchliche und anti-etatistische Kritik war entsprechend, wie im gesamten hispanischen Bereich, wenig verbreitet.157 Allerdings lassen sich neben der Verbreitung aufgeklärten Gedankengutes insbesondere durch den Bedeutungszuwachs nicht-kirchlicher Institutionen Säkularisierungstendenzen feststellen. Entsprechend minderte sich der Einfluss der Geistlichen. Neben der Intendantenverwaltung konnte sich vor allem das Ayuntamiento von Valladolid als alternative Statusabsicherungsinstanz der
153 Vgl. Juárez Nieto: Oligarquía, S. 152-158; Annino: Constitucionalismo, S. 150-152. 154 Juárez Nieto: Oligarquía, S. 309. Vgl. auch die Untersuchung bei Chowning: Wealth, S. 56-59 155 Vgl. ausführlicher und auf einige Biographien eingehend das Kapitel; außerdem: Juárez Nieto: Oligarquía; zur Familienforschung vgl. bspw.: Gonzalbo Aizpuru (Hg.): Familias. 156 Chowning: Wealth, S. 59. 157 Vgl. hierzu: Koselleck: Kritik. Er bringt das folgendermaßen auf den Punkt: „Der bisherige Prozeß der Aufklärung und das heißt der Kritik an Staat und Kirche, die den dualistischen Widerpart gestellt hatten, an dem sich das bürgerliche Selbstbewußtsein entfaltete, bedroht offen und unverblümt die bestehende Herrschaft“ (Koselleck: Kritik, S. 144).
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regionalen Elite etablieren. 158 Als weitere, nicht kirchliche, Status erhöhende beziehungsweise sichernde Einrichtung hatten sich die Milizen nach ihrer Gründung in den 1760er Jahren zu einem zentralen Baustein der kolonialen Militärstruktur entwickelt. Trotz der Bemühungen der Krone um ein stehendes, mit Europa-Spaniern bestücktes Heer, musste auf Grund des Personalmangels insbesondere auf die Bewohner Amerikas zurückgegriffen werden. In den zwei Milizeinheiten Michoacáns, dem Regimiento de infantería de Valladolid und dem Regimiento de dragones de Michoacán in Pátzcuaro, waren um 1800 von 77 Offiziersposten 47 mit Kreolen, der Rest mit Europa-Spaniern besetzt.159 Ab 1794 finanzierten sich die Milizen vor allem über „Schenkungen“ der an den höheren Rängen interessierten Personen. Die über die gesamte Intendanz verteilten Standorte machten die Milizen zu einer „machtvollen Verstärkung der Herrschaft, die diese [spanischen und kreolischen Elite-]Familien über die Region ausübten“160. Unter diesen Familien finden sich illustre Namen wie die Stadtratsmitglieder José Bernardo de Foncerrada, José María Garcia de Obeso, Martínez de Lejarza, José María Peredo und de Ularte, deren Söhne wie Ramón Huarte, Agustín de Iturbide und José Mariano Michelena, der Subdelegado José María Abarca oder der eingangs zitierte Juan José Gómez de la Puente, später mehrmaliger Abgeordneter im regionalen Kongress und Sohn eines europaspanischen Händlers in Puruándiro,161 oder Nicolás Ruiz de Chávez aus einer alteingesessenen vornehmen Familie Michoacáns. 162 Die höheren Ränge der Milicias galten zwar als militärisch anspruchslos, erhielten jedoch einen hohen Prestigewert und waren fest in das Alltagsleben integriert, was unter anderem an der Bemerkung Humboldts abzulesen ist, dass viele Mitglieder der Oberschicht auch bei zivilen Tätigkeiten in ihren Uniformen auftraten.163 Die Rekrutierung der unteren Ränge war hingegen, trotz der Gewährung der militärischen Sondergerichtsbarkeit (Fuero militar), immer mit Konflikten ver- bunden.164 Die Etablierung einer regionalen Elite lässt sich meines Erachtens auch an der Herausbildung eigener, distinguierender Lebensstile erkennen. Zwar liegen für Spanien und für Spanisch-Amerika bislang kaum Studien über die Entstehung einer „bürgerlichen Mentalität“ 165 vor. Allerdings konnte 158 Vgl. Chowning: Wealth, S. 53-55; Juárez Nieto: Oligarquía, S. 310f.; Juárez Nieto: Sociedad, S. 235; Vega Juanino: Institución, S. 56-63 u. 79-157. 159 Vgl. Vega Juanino: Institución, S. 87-89 u. die Tabellen auf S. 180-183. 160 Vega Juanino: Institución, S. 165. 161 Sein Vetter Gabriel, Doktor der Theologie und Chorherr in Valladolid, unterrichtete am dortigen Seminario. 162 Vgl. Listen bei Juárez Nieto: Oligarquía, S. 355-358. 163 Vgl. Vega Juanino: Institución, S. 14. 164 Zu den Milizen in Michoacán vgl. v.a. Vega Juanino: Institución. 165 Pietschmann: Conciencia, S. 246,
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beispielsweise Jochen Meißner für das Mexiko-Stadt der späten Kolonialzeit „am Beispiel der Haushaltsgrößen, der Dienerschaften, der Wohnlage, der Haushaltsausstattung, des städtischen Grundbesitzes und dem finanziellen Engagement für Kirche, Staat und öffentliches Wohl … zeigen, daß die Ratsmitglieder, über die entsprechende Informationen vorliegen, sich in ihrem Lebensstil eindeutig abzuheben versuchten“166. Anzeichen für die Ausbildung eigener, distinguierender Lebensstile lassen sich zumindest für die Hauptstadt Valladolid finden, so beispielsweise das hohe Prestige, das die Übernahme von Ämtern in der Zivil-, Kirchen- und Militärverwaltung bedeutete, ebenso wie das Interesse an den Bildungseinrichtungen, an die man seine Kinder schickte. Ausdruck hierfür ist weiterhin, dass es zum guten Ton gehörte, neben Landgütern ein großes Haus in Valladolid zu besitzen.167 Die Teilnahme an örtlichen Diskussionsrunden war ebenso Bestandteil der neuen Elitenkultur wie philanthropes Engagement. Auch wurde versucht, bestimmte, oft utilitaristisch geprägte Lebensweisen als zu befolgendenes Ideal zu etablieren. Dies zeigt die Aufgabenstellung für die Alcaldes de barrio, die mit der Einteilung Valladolids in Bezirke (Barrios) von 1795 durch Díaz de Ortega eingerichtet wurden: „Müßiggänger“ ohne Anstellung oder Beschäftigung sollten als „schädlich für die República“ behandelt werden und „Ihrer Majestät in den Gefängnissen dienen“. „Trunkenheit und Spiele“ seien „mit Nachdruck zu verfolgen“, „die Menschen des untersten Plebs daran zu erinnern, dass sie einen guten Gebrauch dessen machen, was sie verdienen“168. Die Alcaldes sollten darauf achten, dass in den Häusern ihres Stadtviertels nur „nützliche Vecinos“ wohnen, welche in der „heiligen Verbindung der Ehe“ leben und ihre Kinder in die Schule schicken sollten, wobei jene nicht getrennt von einander durch die Stadt zu laufen hatten, da sie sonst „Laster erwerben“. „Verdächtige Personen“ 169 seien auszuschließen. Neben diesen – und weiteren – die Lebensweisen vereinheitlichenden Anordnungen, waren die Alcaldes im Sinne der „väterlichen Liebe“ auch für eine ausreichende Kranken-, Waisen- und Witwenversorgung oder für die Förderung des Gewerbes verantwortlich. 170 Inwieweit sich diese Projekte durchführen ließen, ist bisher kaum erforscht worden. Wie bei den erwähnten Uniformen der Miliz sollten auch die zivilen Amtsträger „als Distinktiv und Zeichen der königlichen Justiz“ Uniform und 166 Vgl. Meißner: Elite, S. 179-193, Zitat S. 193. 167 Vgl. Beschreibungen der Häuser der großen Familien Valladolids in: Ibarrola: Familias. 168 Ordenanza, que para el establecimiento de alcaldes de barrio en esta ciudad de Valladolid de Michoacán ... (1797), in: Boletín del Archivo General de la Nación, Zweite Serie, Bd. XII / Nr. 1-2 (1971), S. 99-115, Art. 9. Im Folgenden Ordenanza (1797) abgekürzt. 169 Ordenanza (1797), Art. 18. 170 Vgl. hierzu: Ordenanza (1797), Art. 21-23 u. 27.
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einen „Amtsstab“171 tragen. Auch sollten durch eine Heiratsordnung von 1776 (Pragmática de matrimonio), wie im gesamten Reich, die Autorität des Pater familias als Basis der Gesellschaft gesichert und die Reinheit des Blutes gewährleistet werden – offensichtlich zwei Aspekte, die man in Gefahr sah. Die Bewertung der Pragmática fällt zwar schwer, festzuhalten bleibt jedoch nach einer einschlägigen Studie auch in Valladolid ein obrigkeitlicher Gestaltungswille bis in den Privatbereich hinein mit dem Ziel, die sich in der Wahrnehmung offenbar auflösenden ethnischen Grenzen aufrecht zu erhalten.172 Auch wenn also umfassende Studien über den Wandel der Lebensweise am Ende der Kolonialzeit für Michoacán bislang fehlen, lässt sich doch auf Grund der hiesigen Andeutungen vermuten, dass sich die Gesellschaft in ihren Lebensstilen stärker ausdifferenzierte beziehungsweise die Oberschichten sich qua Lebensstil zu distinguieren versuchten. Ob es sich dabei um europäischbürgerliche Stilisierungen handelte, müsste noch ausführlicher zu untersuchen sein – auf den abgrenzenden und zugleich nach innen integrativ wirkenden Charakter deutet jedoch vieles hin. In einer Studie über Neu-Spanien, die sich allerdings weitgehend mit Mexiko-Stadt beschäftigt, hat Juan Pedro Viqueira Albán einen ähnlichen Prozess festgestellt und spricht von „two related phenomena: a gallicization of the elite and a restructuring and strengthening of plebeian culture in the cities“173. Während er der ersten Tendenz öffentliche Vergnügungen wie Cafés, Spaziergänge, Ausflüge und Tanzabende sowie insbesondere das Theater zuordnet, fallen in die zweite Kategorie nach immer wiederholten Klagen „lascivious dances, public drunkenness, fights in pulquerías [Trinkstuben], women of ill repute, disorders in the theater, and insults at games of pelota“174. Solche populären Vergnügungen auf der Straße galten als rückschrittlich, als Perversion der Sitten und als zu beseitigende Übel. Wie gesehen, lassen sich ähnliche Abgrenzungsmaßnahmen auch für Valladolid feststellen, beispielsweise bei den oben beschriebenen Akkulturationsversuchen gegenüber den Pueblos. Welchen öffentlichen Betätigungen die Eliten außerhalb der (halb-)öffentlichen Diskussionsrunden, den Kirchgängen und Prozessionen nachgingen, ist hingegen noch nicht herausgearbeitet worden. Öffentliche Feste schienen eher die Ausnahme zu sein.175 Festzuhalten bleibt jedoch, dass der öffentliche Raum 171 172 173 174
Ordenanza (1797), Art. 3. Marín Tello: Hija; Potthast: Müttern, S. 105-107. Viqueira Albán: Propriety, S. xvi. Viqueira Albán: Propriety, S. xviii. Vgl. zur Trunksucht in neu-spanischen Dörfern allgemein: Taylor: Drinking; vgl. für die Zeit der Unabhängigkeit: Kapitel E. 175 Vgl. hierzu die Ausführungen unten zu den als außerordentlich beschriebenen Festlichkeiten zum Thronantritt von Ferdinand VII. 1808.
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wohl auch in Michoacán zunehmend zur Bühne gesellschaftlicher Distinktionspraktiken wurde. Nach Peer Schmidt äußerte sich die neu-spanische Elite, und insbesondere der Klerus, nicht nur zustimmend zu den aufgeklärten Reformmaßnahmen der Krone. Als weiteres Merkmal der Ausbildung einer Elite lässt sich somit eine zunehmende Politisierung und Ideologisierung annehmen. Als für die Region Verantwortung übernehmende Personen positionierten sich die Elitemitglieder gegenüber der Politik der Krone. Die Forschung hatte bislang in den bourbonischen Reformen eine deutliche Orientierung an aufgeklärt-(proto-) liberalem Gedankengut betont. Insbesondere nach Ausbruch der Französischen Revolution traten allerdings vermehrt kritische Stimmen an einer zu stark an rationalen, individuellen und ökonomistisch-utilitaristischen Kriterien orientierten Reformpolitik zu Tage. „Der Pakt zwischen Krone und Kirche zur Bekämpfung der ‚Exzesse’ der Französischen Revolution und der säkularisierenden Effekte“176 von Revolution und napoleonischer Regierung erfuhr eine Verstärkung. Ein zentrales, immer wieder zitiertes Werk stellte die umfangreiche Abhandlung des spanischen Geistlichen Fernando de Cevallos von 1773/76 mit dem Titel „Die falsche Philosophie, oder der Atheismus, Deismus, Materialismus“ dar, die den Ursprung dieser falschen Philosophie auf Luther zurückführt und die Distanzierung von Krone und Kirche beklagt.177 In Michoacán, einem Zentrum dieser Kritik, äußerte sie sich beispielsweise in den zitierten Forderungen nach Sozialprogrammen und in der Verteidigung von Religion und Kirche als Institutionen des sozialen Zusammenhalts. Auch der Widerstand der Pueblos lässt sich mit ihrer Berufung auf alte Rechte in diesen Kontext einordnen. Besonders prägnant formulierte Bischof San Miguel ein entsprechendes Programm bei seiner Verurteilung der Französischen Revolution am 10. Juli 1793, was gleichsam als Warnung gegenüber weiteren Rationalisierungsanstrengungen lesbar ist: Er brandmarkte als Ursachen der Revolution die von Descartes in die Welt gesetzten und von den „falschen Philosophen“ wiederholten „irrigen Sekten“ „Atheismus, Deismus [und] Materialismus“, die in die gesamte französische Gesellschaft hineinwirkte: „Für die Errichtung eines neuen Systems der zivilen Gesellschaft ... wurde die Zerstörung und Umwandlung aller überkommenen Begriffe und Ideen von Unterordnung, von guten Sitten und von Religion betrieben, durch die sich die Franzosen bis dahin glücklich und achtbar gemacht hatten“178.
176 Schmidt: Elite, S. 68. 177 Vgl. Schmidt: Rabe, S. 150f. Ausführlicher: Mücke: Aufklärung, S. 67-79. 178 San Miguel: Carta, S. 137.
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Nach Schmidt trafen „the reforms and the ideal of the organization of social life which should be as rational as possible over and above tradition“ nicht überall auf Zustimmung: „In many places this was met with rejection“179, und zwar schon vor der Französischen Revolution von 1789. Neben dem Klerus verortet er vor allem alte kreolische Institutionen, wie beispielsweise den Stadtrat von Mexiko-Stadt, als Ausgangspunkt dieser proto-konservativen Strömungen. Er sieht darin Elemente einer auch in anderen Regionen des atlantischen Raums verbreiteten gegenaufklärerischen Weltsicht, die den Ausgangspunkt einer konservativen Ideologie bildete.180 Ob für Michoacán eigenständige, im eben beschriebenen Sinne aktivierbare Diskurse stattfanden beziehungsweise sich im betrachteten Zeitraum stärker ausprägten, ist noch nicht zusammenhängend untersucht worden. Allerdings weist einiges darauf hin: Zwischen 1776 und 1780 schrieb der Franziskaner Pablo Beaumont mit der Crónica de Michoacán eine umfassende Geschichte der Zeit vor und kurz nach der Ankunft der Spanier, die später häufig zum Goldenen Zeitalter der vor-absolutistischen Zeit stilisiert wurde. Der kreolische Geistliche, Schriftsteller und Politiker der frühen Unabhängigkeitszeit Fray Servando Teresa de Mier bezeichnete in diesem Sinne das 16. Jahrhundert als „Zeitalter der wahren Verfassung Amerikas“181. Die Crónica gilt mit ihrer „Tendenz, die indigene Vergangenheit zu glorifizieren“ als „Beispiel einer konservativ kreolischen Ideologie“ 182 . Gleichzeitig lassen sich diese historisierenden Diskurse in eine, auch „im gesamten westlichen Europa“ verbreitete, in Spanien besonders betonte „Tendenz“ des Historismus einordnen, die „gegenüber der vermeintlichen Geschichtsvergessenheit der Revolutionsepoche die Einheit und Kontinuität der Geschichte zu betonen“183 versuchte. Die hier gezeichnete Kombination von Abgrenzung und Integration fand jedoch nicht nur gegenüber der Politik der Krone statt, sondern auch bezüglich einer regionalen Identität. Auch sie sind meines Erachtens Zeichen einer Integration und Politisierung der Eliten. Die Forschung hat für SpanischAmerika schon seit Beginn der Kolonisation kreolische Zugehörigkeitsdiskurse festgestellt, die sich später auch von europa-spanischen Zugehörigkeiten abgrenzten. Häufig in der konkret erlebten Konkurrenz um Ämter und bessere Bedingungen im Handel differenzierten sich nach Tamar Herzog zwei überlokale Zugehörigkeiten (Naturalezas): Die echten Naturales, die Kreolen, grenzten sich von naturalisierten Ausländern ab, zu denen eben immer stärker 179 180 181 182 183
Schmidt: Philosophy, S. 155. Vgl. Schmidt: Philosophy; Schmidt: Transformación. Zitiert nach Herzog: Nations, S. 142. Krippner-Martínez: Rereading, S. 147f. Timmermann: Monarchie, S. 118.
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auch zugewanderte Europa-Spanier gezählt wurden. Die Abgrenzung schlug sich besonders als Argumentation in Konfliktsituationen nieder. Herzog bezeichnet als Ausgangspunkt dieser Differenzierung den „discourse of love“ 184, also die Liebe zum Geburtsort. Demnach unterstellte man diese Liebe den am Ort geborenen Personen als natürlich gegeben. Von Zuwanderern wurde hingegen ein Beweis für ihre Integration eingefordert, insbesondere über einen langen Aufenthalt, familiäre oder wirtschaftliche Verbindungen. Herzog stellte heraus, dass dieser Beweis nur in Ausnahmefällen über ein formales Verfahren stattfand, der gängige Weg lief über die Praxis. 185 Bei der Abgrenzung gegen außen spielte unter vielen, meist kreolischen Schriftstellern und Politikern der Rekurs auf die rechtliche Eigenständigkeit – Stichwort ‚frühkoloniale Verfassung’ – beziehungsweise auf die Gleichberechtigung der Reinos ebenso eine Rolle wie die Betonung vorspanischer und frühkolonialer Wurzeln. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkte sich diese Antagonisierung, wofür nicht zuletzt das durch die wirtschaftliche und politische Prosperität Mexikos gewachsene Selbstbewusstsein einerseits und die Reaktion auf die „zweite Conquista“ und die sie begleitenden abfälligen Bewertungen Amerikas andererseits verantwortlich gemacht wurden. Als herausragendes Beispiel dieser Abgrenzungstendenzen gilt hierbei die Eingabe des Stadtrates von Mexiko-Stadt von 1771 an Karl III.: Dort beschwert er sich über „den bösen Willen“, der „nicht zum ersten Mal … das Ansehen der Amerikaner attackiert“, indem sie als „ungeeignet für jede Klasse von Ehrerweisungen“ skizziert worden waren. Anlass waren hier die zunehmende Besetzung von Ehrenämtern in Neu-Spanien mit Europa-Spanien und die zugehörige Begründung, die sich abfällig über die Amerikaner äußerte. Dies bezeichnete der Rat als „Krieg“ gegen die Amerikaner, deren „Rationalität“ und „Mensch-Sein“ durch solche abfälligen Äußerungen in Frage gestellt würden. Wenn dies weiter geschehe, hieße das, „nicht nur auf den Verlust dieses Amerika zuzusteuern, sondern auch auf den Ruin des Staates“186. Der Rat forderte als „Haupt(-stadt)“ von „América septentrional [Nordamerika]“ 187 , dass nur die im Lande geborenen Naturales Anspruch auf die neu-spanischen Ehrenämter hätten, denn in diesem Punkt – nicht aber generell – müssten die „Españoles Europeos“ als 184 Herzog: Nations, S. 93. 185 Vgl. im Überblick: Herzog: Nations, S. 64-117 u. 143-163. Vgl. weiter zum Komplex der Naturaleza die Verhandlungen der Verfassung von Cádiz bzw. der von Michoacán in den Kapiteln A III und B V. 186 Representación que hizo la Ciudad de México al rey don Carlos III en 1771 sobre que los criollos deben ser preferidos a los europeos en la distribución de empleos y beneficios de estos reinos (Copia coctanea), in: HyD, I, Nr. 195, S. 427-455, hier S. 428. 187 Representación que hizo la Ciudad de México ..., in: HyD, I, Nr. 195, S. 427.
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„Estrangeros“ 188 , als Auswärtige oder Ausländer, gelten beziehungsweise als „Durchreisende in Amerika mit dem Ziel, zur Ruhe ihrer Heimat zurückzukehren“ 189 . Wie Guerra und Mónica Quijada zeigen konnten, überlagerten sich dabei Zugehörigkeitsdiskurse auf unterschiedlichen Ebenen, angefangen von der lokalen über verschiedene regionale bis hin zur Nación americana. Quijada spricht diesbezüglich von „círculos concéntricos“190, Guerra von der Monarchie als einer „Pyramide von Gemeinschaften“191. Das ausgeprägte Regionalbewusstsein stellte auch Alexander von Humboldt bei seiner Reise durch die Region 1803 fest: Ihm wurde die Wichtigkeit des auch in anderen Abhandlungen immer wieder betonten Umstands vermittelt, dass Michoacán „jederzeit von dem mexikanischen Reiche unabhängig war“, also gegen das Zentrum die Eigenständigkeit gewahrt hatte. Auch die Tatsache, dass man die Intendanz, wie er feststellte, „gewöhnlich die von Michoacán im Lande selbst genannt“192 hat und nicht, wie laut Ordenanza vorgegeben, mit dem Namen der Hauptstadt Valladolid, lässt sich als Betonung vorspanischer Wurzeln und als Abgrenzung gegen europa-spanische Bevormundung interpretieren. Ebenso scheint die frühkoloniale Geschichte Michoacáns Ansatzpunkte für die Ausprägung eines regionalen Sonderbewusstseins aufzuweisen, wie beispielsweise 1811 aus einer Predigt des Mönches Miguel Santos Villa in Valladolid hervorgeht: „Provincia de Michoacan: Ihr trübt nicht mehr die glorreichen Klänge, die Euch unter den anderen dieses Neu-Spaniens adeln, da Ihr unter den ersten wart, die das Joch der Idolatrie abgeschüttelt habt und, da Ihr Euch freiwillig dem Katholizismus und der spanischen Beherrschung unterworfen habt.“193
Wiederum nach Humboldt bezeichneten „die Indianer“ den ersten Bischof Michoacáns Vasco de Quiroga „noch heutzutage [als] ihren Vater (Tata don Vasco)“ und als „auszeichnungswerten Mann ..., dessen Andenken noch nach drittehalb Jahrhunderten von den Indianern verehrt ist“ 194 . Inhaltlich 188 189 190 191 192 193
Representación que hizo la Ciudad de México ..., in: HyD, I, Nr. 195, S. 429. Representación que hizo la Ciudad de México ..., in: HyD, I, Nr. 195, S. 430. Vgl. mit einer ausführlichen Diskussion der Forschung: Quijada: Nación, S. 290-299. Guerra: Independencia, S. 24. Humboldt: Versuch, I, S. 209. Sermon que en los solemnes cultos que se tributaron a San Francisco Xavier por haberse libertado esta ciudad de Valladolid de los estragos con que la amenazaban los insurgentes, predicó en la iglesia de la Compañia el dia 15 de Enero el. Br. Don Miguel Santos Villa, Capellan del Hospital Real de dicha ciudad, 1811, in: LAF 1280/5, S. 23. 194 Weiter heißt es dort: „Quiroga wurde besonders der Wohlthäter der taraskischen Indianer, deren Industrie er anfeuerte. Er schrieb jedem einzelnen Dorfe einen eigenen
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übereinstimmend arbeitete James Krippner-Martínez heraus, dass „Don Vasco“ 1766 durch eine von Juan José Moreno aus Valladolid verfasste Biographie „wiederentdeckt“ wurde. Seitdem avancierte er zum festen Bestandteil und „wichtigen Symbol in einem entstehenden Regionaldiskurs“195. Jorge Cañizares Esguerra spricht bei der kreolischen, insbesondere der jesuitischen Geschichtsschreibung von einer „Patriotic epistemology“196. Wie bei den Verfassungsdiskussionen in Michoacán 1824 und 1825 noch zu sehen sein wird, war die regionale Identität am Ende der Kolonialzeit zumindest in der kreolischen Elite bereits fest etabliert. Zu resümieren ist zudem, dass die Söhne eingewanderter Spanier, wie beispielsweise die Garcia de Obesos, die Huartes und Michelenas schnell kreolisiert waren und sich stark mit Amerika beziehungsweise Michoacán identifizierten. Insbesondere über die wirtschaftlichmerkantile Vernetzung und Prosperität, den Ausbau der regionalen Verwaltungsinstitutionen, den Besuch gemeinsamer Bildungseinrichtungen und womöglich der Betonung eigenständiger, vor- und frühspanischer Wurzeln entwickelte sich in den Eliten am Ende der Kolonialzeit ein Regionalbewusstsein. Bevor in den nächsten beiden Abschnitten die finale Krise der spanischen Monarchie behandelt wird, soll hier zunächst ein kurzes Zwischenresümee des bisher Dargestellten gezogen werden. Dies dient der Ergebnissicherung sowie der Grundlegung der folgenden, stärker ereignisgeschichtlichen Ausführungen: Einige der bislang angeprochenen Konflikte brechen dann aus. Der Neuordnungsversuch der frühkolonialen Verfassung zeichnete sich durch die Tendenz aus, die Karl III. in der Präambel der Ordenanza de intendentes als „lebhaften Wunsch nach Vereinheitlichung der Regierung der Reiche“ bezeichnete. Diese, von rationalistischen Gedanken geprägte Konzeption löste sich von der Idee des Personenverbandsstaates, in dem die Untertanen als Teile ihrer (Gebiets-)Körperschaften vertragsrechtlich mit der Figur des Monarchen verbunden waren. Diese Idee lebte in der von Karl in der Präambel angezeigten Handlungszweig vor, und diese seine nützlichen Anstalten haben sich großenteils bis auf unsere Zeit erhalten“ (Humboldt: Versuch, I, S. 217f.). In Mexiko war beispielsweise der Mythos verbreitet, dass der Heilige Thomas schon vor den Spaniern nach Mexiko/Amerika gekommen war und seine Einwohner missioniert hatte. Die Azteken nahmen auf Grund ihrer fundamentalen Bedeutung für das Zentrum des Vizekönigreiches eine herausgehobene Rolle ein. Ein in der Unabhängigkeitsbewegung sichtbares Zeichen hierfür war die Erhebung des aztekischen Adlers zum nationalen Symbol, das später vom unabhängigen Mexiko übernommen wurde; vgl. hierzu im Überblick: Brading: America; Guerra: Modernidad, S. 62-66; Anna: Mexico (1998), S. 6-10 u. 39f.; Favre: Raza, S. 32f.; Ferrer / Bono López: Pueblos, S. 220-224. 195 Vgl. Krippner-Martínez: Rereading, S. 151-179, Zitat S. 165. 196 Cañizares Esguerra: History, S. 204-265.
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„väterlichen Liebe“ fast ausschließlich in der Rhetorik weiter fort. Ansonsten überwogen patriarchale und absolutistische Tendenzen. Die Reformen hatten das territorialstaatliche Konzept mit dem Ziel der Schaffung „einer homogenen Herrschaftsgewalt über ein räumlich abgegrenztes Gebiet“ 197 vor Augen. Sie stellten also dem alten Konzept des Estado mixto die unitarische Vorstellung des „cuerpo unido de nación“198 gegenüber. Die Besonderheiten und das Nebeneinander der Teilreiche sollten zu Gunsten einer Vereinheitlichung ebenso aufgegeben werden wie ihre traditionell angenommene Gleichberechtigung zu Gunsten einer stärkeren Anbindung an und Unterordnung unter das europäische Zentrum. In der Nomenklatur drückte sich dies in der Bezeichnung und Behandlung der überseeischen Gebiete als ‚Kolonien’ aus. So lässt sich einerseits festhalten, dass die Maßnahmen zur Reform der kolonialen Verfassung mit der Ausnahme der Territorialisierung und der effektiveren Steuerverwaltung relativ wenig konkrete Auswirkungen zeitigte. Auf der anderen Seite trugen die Bestrebungen, seien sie erfolgreich oder nicht, zu einem Bewusstsein der Krise und der Fremdbestimmung bei. Der zentrale Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Zentrum und überseeischen Reichen war nach der hiesigen Interpretation derjenige, auf dem unterschiedliche Konzeptionen einer angemessenen Konstitution und Repräsentation verhandelt wurden. In diesem Kontext lässt sich nicht zuletzt Michoacán in den Rahmen der (vor-)revolutionären Verhältnisse im atlantischen Raum einordnen: Sowohl in Frankreich als auch in den USA spielten Monopolisierungsbestrebungen, Konflikte über die Verfassungsordnung und Repräsentationsforderungen eine gewichtige Rolle.199 Wie dort trugen sie auch in Michoacán zu einem Legitimationsverlust der bestehenden Ordnung bei. Historisierende, an das Goldene Zeitalter erinnernde Diskurse können als Reaktion auf diese Veränderungen verstanden werden. Was nach der alten Ordnung durch Aushandlung zwischen Krone und regionalen beziehungsweise lokalen Amtsträgern erreicht werden sollte, versuchte Madrid nun stärker durch einseitig induzierte Reformmaßnahmen durchzusetzen. Die in der Schwächephase der Monarchie gewachsenen Autonomie- und Repräsentationsansprüche der überseeischen Eliten sollten weniger Berücksichtigung finden. Die autonomen Interpretations- und Handlungsspielräume, wie sie sich in der kasuistischen und gewohnheitsrechtlich orientierten Rechtssprechungspraxis äußerten, galt es nun durch eindeutigere, schriftlich festgehaltene und formalisierte Verfahren ebenso zu er197 Zippelius: Staatslehre, S. 86. 198 Vgl. zu diesem Konzept auch: Pietschmann: Mexiko, S. 76; Schmidt: Reiche, S. 193-195. 199 Für die USA vgl. die klassische, immer noch instruktive Studie: Pocock: Moment, Teil III (S. 333-552); für das vorrevolutionäre Frankreich: Koselleck: Kritik.
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setzen wie die analoge, den Umständen angepasste Rechtssprechung durch allgemein gültige Kodifikationen. Auf mannigfache Weise eng mit diesen Reformbestrebungen im verfassungsrechtlichen Bereich verbunden sind grundlegende Veränderungen des Welt-, Gesellschafts- und Menschenbildes, welche sich in der als Aufklärung bezeichneten Epoche ankündigten. Zentrales Ziel dieser Veränderungen ist das rational und nützlich in der Welt und in der Gesellschaft agierende Individuum. Der Wunsch der Vereinheitlichung wurde wie gezeigt auch auf den Bereich der Reformen der Lebensformen übertragen. Verfassungsrechtlich drückt sich dieses Ziel in der Vorstellung von der „nación compuesta de individuos“200 aus. Die Historiographie betont für Hispano-Amerika besonders den wirtschaftlichutilitaristischen Aspekt, und zwar in der Form der Suche nach dem für die Gesellschaft nützlichen, eigenverantwortlich handelnden Individuum. Die „väterliche Liebe“ drückt sich demgegenüber vor allem in der patriarchal-bevormundenden Grundhaltung der Reformen insbesondere gegenüber der indigenen Bevölkerung aus. Zunehmend waren sie auf die fiskalischen Beiträge fokussiert. Die Person des Königs blieb zwar, wie die Zeit nach 1808 zeigt, weitgehend unhinterfragt, in die Kritik geriet jedoch zunehmend das Mal gobierno. Gemeinsam ist den hier analytisch getrennten, in der Wirklichkeit eng verbundenen Reformbereichen die Idee der systematisch-rationalen Reformierbarkeit und Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch Politik. Zunehmend fand ein „Politik“-Konzept Anwendung, das versuchte das Gemeinwesen durch allgemeingültige Regeln zu gestalten.201 Nach dem Anspruch der Zentrale sollten diese Regeln von ebendieser ausgehen und insofern lokalen Entscheidungsträgern Kompetenzen und Interpretationsspielräume abgenommen werden. Brian Hamnett spricht in diesem Zusammenhang von einem „vacuum of representation“202. Die Reform-‚Objekte’ gingen mit diesem Anspruch höchst unterschiedlich um: Einerseits regte sich in unterschiedlicher Form gegen die als „zweite Conquista“ 203 oder als „staatliche[s] Projekt“ 204 beschriebene Politik aktiver und passiver, wie gesehen häufig erfolgreicher Widerstand. Auf der anderen Seite gestalteten sie die Veränderungen auf vielfältige Weise mit, sei es durch die Umsetzung von beziehungsweise die Forderung nach Sozialprogrammen, durch Bildungsinstitutionen, Infrastrukturmaßnahmen oder die Teilnahme an politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Aktivitäten. Gegen200 201 202 203 204
Pietschmann: Nación, S. 52. Vgl. zu diesem Wandel: Grimm: Politik. Hamnett: Process, S. 292. Lynch: Revoluciones, S. 26. Schmidt: Hispanoamerika, S. 113.
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über den Veränderungen, seien es die politischen Reformmaßnahmen oder die Veränderungen des Weltbildes, positionierten sich, so die neuere Forschung, die Eliten auch zunehmend ideologisch, sei es als „proto-liberale“ Befürworter, als „proto-konservative“ Skeptiker oder als sich gesellschaftsintern als Elite und als Michoacano beziehungsweise Kreole abgrenzende Bevölkerungsgruppe. Nicht zuletzt die Verteidigung der in der frühkolonialen Verfassungsordnung gewonnenen Kompetenzen verstärkte das sich entwickelnde kreolische, in Michoacán stark ausgeprägte Eigenbewusstsein. Dazu beigetragen hatten ex negativo zudem die durch Autoren wie Buffon, de Pauw oder Robertson verbreitete Geringschätzung Amerikas in Europa, die sich auf personal-politischer Ebene durch die verstärkte Einsetzung von EuropaSpaniern auf die Posten in Amerika manifestierte. Dies führte zu einer latenten Frontstellung zwischen den oft europa-spanischen Reformbefürwortern und den häufig in Amerika geborenen Gegnern, die sich durch die Personalpolitik in ihren Aufstiegschancen eingeschränkt sahen. Auch wenn sich diese Frontstellung wie auch die zwischen Vascos und Montañeses in Zeiten der wirtschaftlichen und institutionellen Expansion nur selten explizit manifestierte, zog sie doch eine allmähliche Entfremdung und eben die Betonung von Eigenheiten nach sich. Allerdings basierte dieses Eigenbewusstsein nicht nur auf einer besitzstandswahrenden Abwehrhaltung, sondern knüpfte einerseits an ältere regionale Diskurse an, welche von spanischer Seite schon seit dem 16. Jahrhundert eigenständige religiöse beziehungsweise historische Wurzeln für Michoacán betonten. Und andererseits erlebten sie durch den wirtschaftlichen Aufschwung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine weitere Stärkung. Michoacán kann in dieser Hinsicht, wie gesehen, als stark umkämpfte Region gelten. Darauf verweist einerseits der gerade in der Anfangszeit ausgeprägte Reformwillen sowohl bei der Intendantenreform als auch im kirchlichen Sektor. Auf der anderen Seite scheinen aber auch die Widerstände stärker auszufallen als in anderen Regionen Neu-Spaniens. Deutlich wird das, unter anderem bei den Aufständen von 1766/67, bei der gewichtigen Rolle des Bistums Michoacán gegen regalistische Tendenzen und dann insbesondere bei der noch zu behandelnden Führungsrolle sehr unterschiedlicher Akteure nach der Legitimitätskrise von 1808. Auf Ursachen hierfür soll in den nächsten Kapiteln ausführlicher eingegangen werden, die die Zeit behandeln, als die hier angelegten Konflikte eskalierten.
Hispanische Verfassungsrevolution und Bürgerkireg in Michoacán
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III. Die hispanische Verfassungsrevolution (1808-1812) und Bürgerkrieg in Michoacán (1810-1821) Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der finalen Zeit der spanischen Herrschaft in Mexiko zwischen 1808 und 1821. Viele implizite und explizite, teils schon lange schwelende Konflikte bezüglich einer gerechten Repräsentation und Konstitution traten in zweierlei Gestalt offen zu Tage: zum einen in der hispanischen Verfassungsrevolution (b-d) und zum anderen im Bürgerkrieg (e). Beide Aspekte werden hier als Konflikte um eine gerechte Repräsentation und Konstitution zwischen einer stetig wachsenden Anzahl an Akteuren gedeutet. Während Michoacán im Bürgerkrieg ein zentraler Austragungsort der Konflikte und von ihm stark betroffen war, konnte die Verfassung von Cádiz dort eben wegen der Kampfhandlungen zunächst keine praktische Wirkung entfalten. Allerdings war sie für die später zu untersuchenden Verfassungsväter und Parlamentarier Michoacáns der 1820er und 30er Jahre von zentraler Bedeutung. Zunächst folgt die Darstellung der wachsenden Krisenstimmung am Ende der Kolonialzeit (a).
a.
Wachsende Krisenstimmung am Ende der Kolonialzeit
Am Ende des 18. Jahrhunderts schwächten einige Rahmendaten die Position der Reformbefürworter nachhaltig: 1787 war Gálvez und ein Jahr später Karl III., und somit die Protagonisten der Reformpolitik, gestorben. Die außenpolitische Situation unter dessen Nachfolger Karl IV. (1788-1808) erschwerte die Lage zusätzlich: Die Unabhängigkeit der USA 1776 und die Revolution 1789 in Frankreich wurde vielerorts, wie gesehen nicht zuletzt in Michoacán, als Warnung vor zu weitgehenden Reformen wahrgenommen. Hinzu kam, dass die dauernden Kriege der spanischen Krone gegen den atlantischen (Handels)Rivalen England zunächst auf Seiten der USA, dann zusammen mit Frankreich (1779-1783, 1796-1802 und 1804-1808) sowie die Kriege gegen das revolutionäre beziehungsweise napoleonische Frankreich (1793-1795 beziehungsweise 1808-1814) den Finanzbedarf erheblich erhöhten. Gleichzeitig schränkten sie die Kommunikationsmöglichkeiten mit den überseeischen Gebieten stark ein und ließen die Erträge aus dem Überseehandel für die Metropole ab 1797 zwischenzeitlich fast gänzlich schwinden.205 Die sich vorher schon anbahnende Krisenstimmung wuchs stark. 205 Morin: Michoacán, S. 400f.; zum Überblick für die Gesamtmonarchie: Schmidt: Absolutismus, S. 242-246; Lynch: Spain, S. 350 u. 367-370.
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Dies führte einerseits zu einer Fokussierung der Politik gegenüber den überseeischen Gebieten auf möglichst hohe fiskalische Beiträge, mithin auf eine klare Zuordnung als koloniale Extraktionsgebiete.206 Gleichzeitig wuchs durch die immer wieder unterbrochenen Kommunikations- und Handelsbeziehungen deren Eigenständigkeit. Nach einer Analyse von John Fisher genoss NeuSpanien im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts de facto freien Handel mit Ausländern. 207 Zudem gewann das Vizekönigreich nach Pietschmann immer stärker die Position als eigenständige atlantisch-karibische Regionalmacht: Dazu trug neben der Außenhandelspolitik (Versorgung der Karibik mit Getreide et cetera) insbesondere die Investition eines großen Anteils neu-spanischer Abgaben in den Ausbau von Befestigungsanlagen und in den Unterhalt von Flotteneinheiten im gesamten karibischen Raum bei, vor allem zum Schutz vor den expandierenden Briten.208 Der Hauptteil der Abgaben stammte aus der stark gewachsenen Silbergewinnung und tangierte somit in Michoacán nur kleine Bevölkerungsteile.209 Bei den fiskalischen Abgaben ist zunächst grundsätzlich zwischen ordentlichen und außerordentlichen zu unterscheiden. Bei den ordentlichen handelte es sich um die regelmäßigen Einnahmen aus Steuern und Abgaben. Eine vollständige Auswertung ist auf Grund fehlenden Materials zwar nicht möglich, dennoch spiegeln sich beispielsweise in den deutlichen Steigerungen des Betrachtungszeitraums zum einen die positive wirtschaftliche Entwicklung, aber eben auch die gesteigerte Effizienz in der Steuerextraktion wider.210 Unter die außerordentlichen, unregelmäßigen Abgaben fallen zum einen die zwischen 1781 und 1809 fünf Mal eingeforderten „Patriotischen Schenkungen“ und Anleihen (Donativos y prestamos), beide mit einem hohen Grad an Zwangscharakter verbunden. Und andererseits zählen hierzu die so genannte 206 Nach Claude Morin erhöhte sich das Steueraufkommen deutlich und gleichzeitig der Anteil, der aus dem Vizekönigreich abgeführt wurde; vgl.: Morin: Sentido, S. 85. 207 Vgl. Fisher: Comercio, S. 45-63; Fisher: Commerce. 208 Vgl. zu diesem Neuansatz: Pietschmann: Mexiko, S. 96f. u. 103f. 209 Vgl. zum relativ geringen Anteil Michoacáns an den Abgaben: Franco Cáceres: Intendencia, S. 235-265. 210 Die Alcabala beispielsweise wurde zweimal (20. Oktober 1780 bis 27. Juli 1791 sowie 4. September 1810 bis 24. Dezember 1816) von normalerweise 6% auf 8% angehoben, im Kirchenbereich sollte ab 1804 ein weiteres Neuntel des gleichfalls immens gestiegenen Kirchenzehnts der Diözese – von durchschnittlich 184.294 Pesos in den 1840er Jahren auf über eine halbe Million zwischen 1805 und 1809 – an die Krone gehen; vgl. Brading: Church, S. 183-187, 216 u. 255-257 (Appendix 1); Mazín Gómez: Cabildo, S. 375; die Auflistung der jährlichen Einnahmen von 1680 bis 1810 bei Morin: Michoacán, S. 103, 149 u. 402f. Auch die Einrichtung sieben neuer Steuerbezirke, unter anderem in Valladolid, sollte die Extraktionseffizienz steigern; vgl. hierzu TePaske/Klein: Prologo, S. 15f.
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„consolidación de vales reales“ (Konsolidierung der königlichen Schuldscheine).211 Diese Maßnahme traf in Amerika insbesondere die Kirche als die Haupteigentümerin vinkulierten Besitzes, den es zu desamortisieren galt, ab 1806 wurden zudem die Überschüsse der indigenen Gemeinden zur Konsolidierung herangezogen. Da gerade die kirchlichen Einrichtungen als größte Kreditanstalten viele Unternehmungen finanzierten, drohte diese Maßnahme auf die gesamte Wirtschaft durchzuschlagen. Nach Berechnungen von Carlos Marichal machten diese beiden Posten im Jahrzehnt vor beziehungsweise nach der Jahrhundertwende 28% beziehungsweise dann immerhin 63% der Einnahmen Neu-Spaniens aus.212 In Michoacán trugen kirchliche Einrichtungen und indigene Kommunen die Hauptlast,213 Margaret Chowning konnte jedoch „mild effects“214 sowohl für die Gesamtwirtschaft als auch für einzelne Bevölkerungsgruppen nachweisen, explizite Widerstände waren Einzelfälle. 215 Anders als vormals angenommen, spitzte sich die Krisenstimmung somit nicht auf Grund eines extensiven objektiven Zahlungsmittelentzugs zu, sondern viel211 Die Consolidación de vales reales bezeichnet eine seit 1798 in Spanien und ab 1804 bis 1809 in den amerikanischen Reichsteilen angewandte Politik, die zur Konsolidierung der königlichen Schuldscheine insbesondere vinkulierten Besitz zu verkaufen trachtete. Die Schuldscheine hatte die Krone seit 1780 zur Deckung des immensen jährlichen Haushaltsdefizits ausgegeben. Den verkaufenden Körperschaften wurde eine jährliche Entschädigung von 3% beziehungsweise 5% des Gesamtwertes zugesichert. Da der vinkulierte Besitz als unproduktiv galt, wurde er auch als Besitz der toten Hand bezeichnet beziehungs- weise dessen Rückführung in den produktiven Bereich als Desamortisation; vgl. hierzu Schmidt: Desamortisationspolitik, S. 87-117; zur Desamortisation im Mutterland vgl. Schmidt: Privatisierung. 212 Marichal: Bancarrota, S. 162. 213 Bei den Donativos y prestamos entfielen auf Michoacán insgesamt ca. 582.935 Pesos, wovon bei den letzten vier Zahlungen (im Wert von 550.106 Pesos) kirchliche Einrichtungen für 289.450 (52,6%) und die indigenen Kommunen für gut 200.000 Pesos (36,4%) verantwortlich zeichneten, der Rest fiel auf spanische Ayuntamientos, Vecinos, Militärs etc. 214 Chowning: Consolidación, S. 459. 215 Aus dem gesamten Bistum flossen in etwa eine Million Pesos ab. Wiederum die Kirche, allen voran Abad y Queipo konnte sich mit seinem „Protestschreiben im Namen der Arbeiter und Händler von Valladolid de Michoacán“ als Sprecher der Betroffenen in der Region etablieren; vgl. Juárez Nieto: Oligarquía, S. 320f.; Juárez Nieto: Sociedad, S. 238. Vgl. den Abdruck des Protestschreibens Representación a nombre de los labradores ... (1804), in: Torre Villar (Hg.): Independencia, S. 343-347. Von den insgesamt ca. 2.300 Personen, die in der Intendanz Michoacán aus frommen Stiftungen Kredite erhalten hatten, wurden nur 400 Fälle und zwar von den höchsten Kreditrahmen absteigend verhandelt. Von diesen zahlten die meisten freiwillig und meist auch nur einen Teil zurück, da die Maßnahme schon 1809 wieder eingestellt wurde. Zu den prominentesten Elitemitgliedern, die die Zahlung ver-weigerten, gehörten die Michelenas, Lejarza und Hidalgo; vgl. Wobeser: Crédito, S. 208; Chowning: Consolidación.
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mehr in Folge des „impliziten Kalkül[s] von vorenthaltenem, potentiellem Reichtum“ 216 und der Befürchtung vor weiteren, subjektiv ungerechtfertigten Geldforderungen der Metropole, denen man Folge zu leisten hatte. Das korrelierte, wie oben gesehen, mit dem gewachsenen Eigenbewusstsein und der Kritik an der absolutistischen Politik, die die vermehrt als „Kolonien“ bezeichneten überseeischen Gebiete der Krone zu Befehlsempfängern degradierte. Zur weiteren Diskreditierung Karls IV. und zur Schwächung der Krone insgesamt führte in seinen letzten Amtsjahren, dass der unbeliebte Günstling der königlichen Familie Manuel de Godoy zunehmend Regierungskompetenzen übernahm. Folge dieser gesamtpolitischen Lage war die Stärkung der Reformgegner, einzelne Maßnahmen mussten zurückgenommen werden.217 In der an sich prosperierenden Region Michoacán fiel die latente Krisenstimmung und Entfremdung vom Mutterland in den Jahren 1808 und 1809 mit einer erneuten Hungerkrise nach Ernteausfällen zusammen. Außerdem fehlte nach dem Tod von Bischof San Miguel 1804 das geistliche Oberhaupt, da dessen gewählter Nachfolger Abad y Queipo noch nicht durch Madrid beziehungsweise Rom bestätigt worden war. Auf Grund der zunehmend schweren Erkrankung des Intendanten Díaz de Ortega war auch die zivile Führung in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Letzteres führte zu einer verstärkten Frontstellung zwischen der Gruppe der Montañeses um Alonso Terán als geschäftsführendem Intendanten und dem einflussreichen Huarte-Clan mit Díaz de Ortega und Teilen der Kirchenhierarchie. Am 21. März 1809 verstarb Díaz de Ortega.218 Damit fehlten Michoacán die zwei höchsten Autoritäten. 216 Pietschmann: Mexiko, S. 109. 217 Das zeigt sich nicht zuletzt an der Kompromissbereitschaft gegenüber den Forderungen der Vizekönige nach weniger Kompetenzverlusten gegenüber den Intendanten. Hier tat sich der ansonsten die Reformprojekte unterstützende zweite Graf von Revillagigedo (1789-1794) hervor. Gegen die Schwächung des Vizekönigs formierte sich schon bald nach Verabschiedung der Ordenanza starker Protest, der insofern erfolgreich war, dass diesem 1790 die Generalalintendanz von México übertragen wurde. Auch das zunächst verankerte Recht des Intendanten, die Subdelegados selbstständig ernennen zu können, wurde bis 1792 auf den Vizekönig übertragen; vgl. die Auflistung zentraler Reformen an der Intendantenreform bei Rees Jones, S. LII-LXX, hier v.a. S. LV, LIX und LXVI. Vgl. insgesamt hierzu Franco Cáceres: Intendencia, S. 106-113; Pietschmann: Alcaldes, S. 4451; Lynch: Spain, S. 375-421. Lynch endet mit dem Resumee: „The fifteen years between 1793 and 1808 had been years of disaster and disillusion, during which the old regime embarked on a course of self destruction quickened by external shock“ (Lynch: Spain, S. 421). 218 Vgl. Franco Cáceres: Intendencia, S. 260f. u. 272; Mendoza Biones / Terán: Caída, S. 241-243. Obwohl sich die Huarte-Gruppe für einen Kreolen als Intendant aussprach, wurde Alonso de Terán als interimistischer Intendant eingesetzt, sein 1810 gewählter Nachfolger, der Europa-Spanier Manuel Merino y Moreno trat erst 1811 sein Amt an.
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b. Die Kulmination der Krise (1808-1810) In diese Krisenzeit hinein erhielt der Stadtrat Valladolids am 8. August 1808 offiziell die Nachricht von der Ablösung Karls IV. durch seinen Sohn Ferdinand VII. im vorangegangenen März. Ferdinand war seit einigen Jahren der Hoffnungsträger vieler von der Politik Karls beziehungsweise Godoys enttäuschter Untertanen geworden. Seit 1807 hatte Ferdinand offen gegen seinen Vater konspiriert, der ihn daraufhin hatte festsetzen lassen.219 Der Stadtrat Valladolids beschloss nach Erhalt der Nachricht vom Thronwechsel, die „Liebe und Loyalität zu seinem Souverän“ in einer „feierlichen Proklamation“220 und mit dem üblichen Schwur und der Herausgabe von Münzen zu manifestieren. Der Schwur fand dann am 25. August mit einem großen, von allen Teilen der Gesellschaft begleiteten öffentlichen Festzug statt.221 Unter die Feierlichkeiten mischten sich jedoch sehr schnell Befürchtungen „wegen der sehr schwerwiegenden Notlage, in der sich die Krone befindet“222. Die „Notlage“ spielte entweder auf die Einbestellung von Karl und Ferdinand durch Napoleon nach Bayonne im Mai an oder eventuell schon auf deren Ersetzung durch den Bruder Napoleons, Joseph, am 6. Juni. Der französische Kaiser Napoleon hatte sich, gestärkt durch die hohe französische Militärpräsenz in Spanien in Folge des Feldzugs gegen das mit England verbündete Portugal, die Differenzen bei der Abdankung Karls zu Nutze und sich zum Schiedsrichter gemacht.223 Das spanische Reich befand sich in einer tiefgreifenden Krise. Das Mitglied des Domkapitels Manuel de la Bárcena erinnerte in der den Schwur begleitenden Predigt an den „allgemeinen Nutzen, der den Völkern aus dem Gehorchen eines einzelnen Hauptes entsteht, wegen der positiven Vorteile, die diese Regierung hat, und wegen der unheilvollen Konsequenzen, 219 Vgl. u.a. Pietschmann: Gründung, S. 234-236. 220 Sitzung vom 08.08.1808, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 221 Nach einer zeitgenössischen Beschreibung war die Stadt mit „Pomp“ geschmückt worden, das Volk ließ die Arbeit stehen und begleitete den Festzug mit „Enthusiasmus“ und mit ständigen „Viva Ferdinand“-Rufen. In dem Zug „marschierten die vornehmen Indios mit spanischer Kleidung [!] vorne, die Musiker folgten mit den Blasinstrumenten in militärischer Tracht und dann die zwei Reyes de Armas und das noble Ayuntamiento, wobei der Alférez mit dem Stab des neuen Souveräns den ilustren Zug vorsaß“ (Relacion descriptiva de la funcion de jura ... (25.-26.08.1808), S. 4, in: LAF 169). Ein öffentlicher Ball und Kirchgänge rundeten die Feierlichkeiten am 26. August ab. 222 Sitzung vom 02.09.1808, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. Wahrscheinlich hat der Stadtrat schon am 31. August in einem nicht näher benannten Schreiben der Junta general de México, auf die gleich eingegangen wird, von den jüngsten Entwicklungen in Spanien erfahren; vgl. Sitzung vom 31.08.1808, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 223 Vgl. hierzu zuletzt: Schmidt: Absolutismus, S. 247-249.
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die die Anarchie und die demokratischen Regierungen mit sich bringen“. Wie an vielen Stellen des Reiches wurde der Abtritt der beiden Bourbonen nicht als rechtmäßig anerkannt, Ferdinand öffentlich als „legitimer, illustrer Prinz“224 beziehungsweise als „geliebter Prinz“ bezeichnet und Napoleon als „verräterisch“. Der Cabildo und das Ayuntamiento Valladolids „vereinbarten einheitlich in ihren frommen Gefühlen der Treue und des Patriotismus“ ein Neun-Tage-Amt (Noveno), damit die Jungfrau von Guadalupe „mit ihrem göttlichen Sohn für die Integrität der katholischen Religion eintrete, für das Glück der spanischen Waffen und für die Vernichtung der Heere, die den Fahnen des verräterrischen Bonaparte folgen“225. Die Korporationen der Stadt zeigten sich demonstrativ einig und riefen die Gläubigen zu weiteren Gebeten auf. Mit dem Auseinanderbrechen der politischen Ordnung galt es nun, sich über die Grundlagen des Gemeinwesens zu verständigen. Dabei traten einige lang schwelende Konflikte und mit ihnen einige Elemente der skizzierten Verfassungskultur offen zu Tage: „The issue of representation or the constitutional restructuring of the political process became uppermost for the American elites“226. In den folgenden 13 Jahren bis zur Unabhängigkeit Mexikos waren für Michoacán drei Handlungsschauplätze im besonderen Maße von Bedeutung: Die Ereignisse in Spanien als politischem Zentrum der Monarchie gaben dabei die „Rhythmen der amerikanischen Entwicklung“ 227 vor. Mexiko-Stadt beanspruchte – wie zu sehen sein wird mit unterschiedlichem Erfolg – die Führung des Vizekönigreiches. Diverse Gruppen in Michoacán, das ab 1809 für das gesamte Vizekönigreich eine tragende Rolle spielen sollte, vermochten sich immer wieder dem doppelten Suprematsanspruch zu entziehen. Nach der Schwächung der beiden regionalen Institutionen Intendanz und Bistum durch 224 Relacion descriptiva de la funcion de jura ... (25.-26.08.1808), S. 5f., in: LAF 169. 225 Relacion descriptiva de la funcion de jura ... (25.-26.08.1808), S. 5f., in: LAF 169. Abad y Queipo spricht zeitlich parallel bei seiner Rückkehr aus Spanien von Napoleon als „grausamen Tyrannen“, als „Genie des Bösen“ und als dem „absolutistischsten Despoten der Welt“, der den Charakter der Franzosen „denaturalisierte“ (Herrejón Peredo: Luces, S. 120f.). Es ist wird aus dem Material nicht deutlich, ob die Nachricht über den Antritt Ferdinands und dessen erzwungenen Abtritt gleichzeitig oder kurz hintereinander im offiziellen Valladolid eintrafen; spätestens Ende August kam jedoch auch die zweite Nach-richt an. Wahrscheinlich hat der Stadtrat schon am 31. August in einem nicht näher benannten Schreiben der Junta General de México, auf die gleich eingegangen wird, erfahren; vgl. Sitzungen vom 31.08. bzw. 02.09.1808, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 226 Hamnett: Process, S. 291. Vgl. hierzu auch Guerra: Modernidad; Rodríguez: Mexico; Schmidt: Philosophy, S. 138: „Thus in the last decades historical studies concerning the Independence movement have pointed with particular emphasis to the meaning of the fight for a constitutional order and the implementation of political participation“. 227 Guerra: Modernidad, S. 116.
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den Tod der jeweiligen Amtsträger übernahm für Michoacán insbesondere der Stadtrat von Valladolid Vertretungsfunktionen, häufig in Funktion eines Cabildo abierto, also als für weitere Korporationen der Stadt geöffneter Rat. Wie zu sehen sein wird, war dies jedoch nicht die einzige Gruppe mit Repräsentationsansprüchen. Immer wieder stellte sich in den folgenden Jahren die Frage nach einer repräsentativen Vertretung der eigenen Interessen. Wer konnte für sich mit Erfolg auf welcher Ebene in Anspruch nehmen, seine Interessen zu vertreten? Und: Konnte das jeweilige Zentrum diesen Anspruch gegenüber den Subalternen durchsetzen? Die Reaktionen auf die zitierte „schwerwiegende Notlage“ fielen in der Monarchie zwar auf unterschiedliche Weise aus. Für viele Beobachter aber, nicht zuletzt für Napoleon selbst, unerwartet war die fast einhellige Ablehnung des neuen Herrschers. Dieser hatte nicht zuletzt mit der Verabschiedung der Verfassung von Bayonne am 7. Juli 1808 die krisengeplagte und teils entfremdete Bevölkerung der Monarchie zu gewinnen versucht: Durch einen Grundrechtekatalog und insbesondere die konstitutionell verankerte Gleichberechtigung der amerikanischen Teilreiche sollte die amerikanische Bevölkerung auf die napoleonische Seite gezogen werden.228 Sowohl die Anhänger als auch die Gegner Napoleons intendierten in der Folgezeit, über die Verbreitung von Druckerzeugnissen in Spanien und Amerika die öffentliche Meinung zu gewinnen, die damit zu einem wesentlichen Schauplatz der Auseinandersetzung generierte – François-Xavier Guerra spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten „Krieg der Worte“.229 Die spanische Seite zeichnete beispielsweise in einem Katechismus von 1808 – wie in den obigen Zitaten aus Michoacán schon angedeutet – Napoleon als „Prinzip alles Bösen“ und „Ende alles Guten“. Als besonderes Gut der Spanier skizzierte der Katechismus die katholische Religion. Die Napoleon folgenden Franzosen galten als „ehemalige Christen und moderne Ketzer“, die durch die „falsche Philosophie“ der Aufklärung eine „Korruption der Sitten“ erlebt hatten. Während jene den Maximen Machiavellis, die auf „Egoismus“ beruhen, folgten,
228 Napoleon ließ im Juli 1808 150 Personen, unter ihnen sechs aus Amerika stammende, in Bayonne versammeln. Die von dieser Versammlung erarbeitete, weitgehend jedoch von Napoleon diktierte Verfassung trat zwar nicht in Kraft, hatte aber wohl ab 1810 einen gewissen Einfluss auf die gleich zu behandelnden verfassunggebenden Cortes; vgl. Guerra: Modernidad, S. 183-185; Kleinmann: Régime, S. 259f. 229 So die Kapitelüberschrift bei Guerra: Modernidad, S. 296-305; für Valladolid beziehungsweise Michoacán: Herrejón Peredo: Luces, S. 120-122. Die oben zitierte Beschreibung des Schwurs auf Ferdinand mit beigefügten Versen auf ihn und gegen Napoleon wurde bspw. Anfang September in Mexiko-Stadt zum Druck gegeben.
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folgten die guten Spanier den „Maximen Jesus Christus’“230. Wie an der unten zu behandelnden Verfassung von Cádiz noch verdeutlicht werden soll, lassen sich die christlich-katholische Religion und die Skepsis gegenüber einem betonten Egoismus als zentrale Elemente spanischer Identitätskonstruktionen lesen. Diese konnten dabei an die proto-konservativen Diskurse aus der späten Kolonialzeit anknüpfen. Aber der Protest reduzierte sich nicht auf den Krieg der Worte: In Spanien organisierten meist städtische Gruppen bewaffneten, oftmals populären Widerstand gegen die napoleonische Besatzung. Der Stadtrat Valladolids erklärte sich solidarisch und forderte von seinen Mitgliedern eine Spende für „unsere Brüder von der Halbinsel, die es vorgezogen haben, mit den Waffen in der Hand zu sterben, ehe sie dem Gegner der gesamten Nation zustimmen“231. In einigen Städten Spaniens und Amerikas bildeten sich nach dem Bekanntwerden des Rücktritts der Monarchen zur vorläufigen Übernahme der Regierungsgeschäfte Versammlungen (Juntas), unter anderem am 16. Juli 1808 in Mexiko-Stadt. Als die jeweiligen Hauptorte ihrer Reiche verstanden sie sich nach vertragsrechtlichem und korporativistischem Denken als rechtmäßige Stellvertreter des Volkes, auf die die Souveränität in Abwesenheit des Monarchen zurückfiel.232 Der Stadtrat von Mexiko-Stadt erklärte als „Metropoli y Cabeza del Reyno“233, als „Metropole und Haupt des Reiches“, auf einer außerordentlichen Sitzung am 19. Juli die Abdankungen der spanischen Könige für „gegenstandslos“234. Er nahm für sich in Anspruch, „die hohe Regierung anzuregen, damit sie rechtzeitig alle Vorsichtsmaßnahmen berät, beschließt und diktiert, die sie sowohl für die Sicherheit des Reyno als auch für die Vermeidung einer Machtübernahme der Franzosen für am angemessensten hält“ 235 . Diese Funktion sollte die Regierung, gemeint war hier der Vizekönig, solange übernehmen, „bis die übrigen Städte und der kirchliche und adlige Stand das in Verbindung mit der Hauptstadt für sich ausüben können“236. Der Rat ging also davon aus, dass in Abwesenheit des Königs „die Souveränität im gesamten 230 Die Zitate, zu denen sich viele weitere hinzufügen ließen, stammen aus einem spanischen Katechismus von 1808: Catecismo Español 1808, in: Brandt / Kirsch / Schlegelmilch (Hgg.): Quellen. 231 Sitzungen vom 27.09. bzw. 12.10.1808, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 232 Vgl. zur theoretischen Grundlegung zuletzt: Timmermann: Monarchie, S. 152f. 233 Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 475-495, hier S. 476. 234 Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 477. 235 Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 476. 236 Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 477. Diese Aussage ist auch insofern interessant, als dass Stände im klassischen Sinne nicht vorhanden waren.
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Reich“ sitze, vertreten durch die „Körperschaften, die die öffentliche Stimme führen“ 237 . Anweisungen der Bourbonen sollten, solange sie in Frankreich festgesetzt blieben, ebensowenig befolgt werden wie die des napoleonischen Hauses. 238 Die Öffentlichkeit verfolgte auch diese Beratungen: Nach der Sitzung feierte eine „sehr beachtliche Ansammlung von Leuten aller Klassen und Stände“239 auf der Straße den Stadtrat mit Viva-Rufen. Vizekönig José de Iturrigaray (1803-1808) unterstützte die Einberufung einer Junta general, zusammengesetzt aus Abgeordneten der Ayuntamientos des gesamten Vizekönigreiches. 240 Andere, wie insbesondere die Audiencias von Mexiko-Stadt und Guadalajara, oder auch der Intendant von Guanajuato, Riaño, sprachen sich wegen der Befürchtung vor Autonomiebestrebungen hingegen für die Anerkennung der Juntas in Spanien aus. 241 Die Spannungen innerhalb der Elite wuchsen. Nach einigen Sitzungen einer Versammlung der obersten Korporationen vor allem der Hauptstadt beendete ein Coup d’état von Europa-Spaniern, vornehmlich aus der mexikanischen Audiencia, gegen Iturrigaray am 16. September 1808 die Pläne eines eigenen Kongresses.242 Sie setzten den greisen Militär Pedro Garibay als neuen Vizekönig ein. Zu diesen Ereignissen liegen aus Michoacán keine Äußerungen vor. Der Plan einer neu-spanischen Interessenvertretung, für deren Einberufung sich Mexiko-Stadt als Hauptstadt eines eigenständigen, von Spanien getrennten Reino aus der Tradition heraus berechtigt sah, scheiterte also.243 Virginia Guedea
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Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 481. Vgl. Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 478. Acta del Ayuntamiento de México vom 19.07.1808, in: HyD, I, Nr. 199, S. 495. Vgl. El virrey D. José de Iturrigaray al Real Acuerdo le consulta sobre el modo de concurrir los ayuntamientos al congreso general: contestación y pedimiento de los fiscales, in: HyD, I, Nr. 223, S. 530f. 241 Vgl. El virrey D. José Iturrigaray remite al Real Acuerdo las segundas representaciones del ayuntamiento, avisándole tener ya resuelto la convocación de una junta general, y contestación de aquel, in: HyD, I, Nr. 209, S. 506f.; El intendente de Guanajuato, D. Juan Antonio Riaño, al Sr. Iturrigaray, manifestándole su opinion sobre la junta del 9, in: HyD, I, Nr. 221, S. 529; Contestación de recibo del acta de 9 de Agosto, dada por la Real Audiencia de Gudalajara estimándola nula, in: HyD, I, Nr. 225, S. 535. 242 Vgl. bspw. die Versammlung von 81 Personen unter dem Vorsitz Iturrigarays am 09.August, in: Junta general celebrada en México el 9 de Agosto de 1808, precidida por el Don José Iturrigaray, in: HyD, I, Nr. 214, S. 513-516. Vgl. auch Guerra: Modernidad, S. 122-133. 243 Mexiko-Stadt hatte im 16. Jahrhundert und zuletzt 1650 als die erste Stadt des Vizekönigreichs häufiger Städteversammlungen einberufen, noch 1771 wird der Anspruch, das Königreich vertreten zu dürfen, in einem Protestschreiben an den König gegen die Rückstufung kreolischer Interessen deutlich. Ein Antrag auf eine eigene neu-spanische
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bewertet diesen Akt als einmalig, da er „the rupture of the social compact“244 bedeutete. Nachfolgende Versuche, eine größere Autonomie zu erreichen, fanden von nun an in geheimen Verschwörungen statt. Die Entscheidungsmacht sowohl in Mexiko-Stadt als auch auf der Halbinsel blieb EuropaSpaniern vorbehalten. Denn die Frage nach einer gesamt-spanischen, weitgehend anerkannten Vertretung löste man dann am 25. September 1808 durch die Einsetzung der Junta suprema central y gubernativa de España y Indias in Aranjuez/Zentralspanien. Bezeichnenderweise wurde sie zunächst lediglich mit je zwei Mitgliedern der in Spanien gebildeten und im Gegensatz zu MexikoStadt weiter bestehenden Provinz-Juntas besetzt.245 Den Indias blieb die Bestimmung eigener Vertreter (zunächst) verwehrt. Der Junta gehörten unter anderem Gaspar Melchor de Jovellanos (Asturien, 1744-1811), der Universalgelehrte, frühere Minister Karls IV. und zentraler Wegbereiter des gemäßigten Liberalismus, und der Graf von Floridablanca (Murcia) als erster Präsident an. Trotz der nicht vorhandenen Repräsentation Amerikas beschloss das Ayuntamiento von Valladolid Anfang März 1809 die Prägung von Sondermünzen zur Eröffnung der Junta und dann – wie das Vizekönigreich insgesamt – die Anerkennung dieser „als Verwahrer der höchsten Souveränität“246 in Vertretung Ferdinands. Auch aus anderen Teilen der Region berichtete man von öffentlichen und feierlichen Vereidigungen mit großem Menschenandrang auf die Junta. Aus Apatzingán sind Ausrufe wie „Es lebe Ferdinand VII. und die Junta central“247 überliefert. Wie in Michoacán führten die Nachrichten in großen Teilen der Monarchie auf beiden Seiten des Atlantiks zu weitreichenden Diskussionen und Treuebekundungen in Form von öffentlichen Veranstaltungen, Predigten und Briefen. Erst am 22. Januar 1809 beschloss die bislang rein mit EuropaSpaniern besetzte Junta central die (stark unterproportionierte) Einbeziehung
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Cortes scheiterte 1567; vgl. Miranda: Ideas, S. 135-140; Meißner: Elite, S. 68; Schmidt: Philosophy, S. 141-150. Guedea: Process, S. 117. Vgl. u.a. die Aufträge zur Bildung einer Gesamtrepräsentation durch die Provinzialjuntas unter: Documentos de la etapa juntista (nähere Angaben vgl. Materialverzeichnis); Guerra: Modernidad, S. 122-125 u. 178-183; Timmermann: Souveränität, S. 575f.; Timmermann: Monarchie, S. 61-68. Sitzungen vom 01[?].03. bzw. 06.03.1809, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. AGN, Historia, v. 416, f. 132. Vgl. die Bestätigungen der Schwurakte auf die Junta aus Pátzcuaro, Apatzingán, Valladolid, Tlalpujahua und Indaparapeo vom März bis Mai, in: AGN, Historia, v. 416, fs. 81-81v. u. 131-139v. Zu diesen Akten kamen sowohl aus allen Teilen Personen, einmal heißt es bspw. „der Gobernador mit den Naturales seiner República von Tancitaro“ (ebd., f. 131), es fanden Feste mit Musik und Kirchenglockengeläut statt. Vgl. auch Juárez Nieto: Valladolid.
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amerikanischer Deputierter, nicht zuletzt um die (finanzielle) Unterstützung für die sich im Kriegszustand befindliche Halbinsel zu sichern. In diesem Beschluss tritt die weitverbreitete Verortung der überseeischen Reiche als (Europa)Spanien nachgeordnete Kolonien hervor: Auch wenn diese dort als „ein wesentlicher und integraler Bestandteil der spanischen Monarchie“ bezeichnet werden, spricht das Dekret weiter von den „Herrschaftsbereichen, die Spanien“ – also nicht der Monarch – „in den Indias besitzt“, von der „heroischen Loyalität und Patriotismus, die sie gerade gegenüber Spanien beweisen“, und davon, dass diese „eigentlich [keine] Kolonien oder Faktoreien wie die anderer Nationen“248 seien. Die Repräsentation Amerikas erscheint hier eher als ein Akt der Gunst der Junta als ein Rechtsanspruch. Numerisch deutlich wird die Ungleichbehandlung zudem in der Zusammensetzung der Junta: 36 Mitglieder (zwei pro Provinz) sollten aus Spanien, neun aus den überseeischen Teilen der Monarchie kommen, 249 obwohl diese circa 60% der Gesamtbevölkerung, nämlich 16 von insgesamt 27 Millionen Einwohner, stellten. Diese Behandlung traf in Amerika wie schon zuvor auf Kritik und Widerstand: Die Fremdkategorisierung und -degradierung als Kolonie oder gar als Faktorei stand im groben Gegensatz zum oben skizzierten Selbstverständnis als gleichberechtigtes ‚Reino’ unter dem gemeinsamen Monarchen. Drei Monate später, am 18. April 1809, erhielt der Stadtrat Valladolids über den Vizekönig den Wahlaufruf der Junta für die Wahl eines Vertreters der Intendanz für die Wahlversammlung in Mexiko-Stadt, wo dann der Abgeordnete Neu-Spaniens für die Junta central bestimmt werden sollte. Daraufhin sollte jedes Ratsmitglied „Listen mit Subjekten, die sie wegen ihres Verdienstes und ihrer politischen und moralischen Umstände als geeignet einschätzen“, anfertigen sowie „Anweisungen, die ihnen als zweckdienlich erscheinen für die perfekte Erledigung und Erfüllung“ 250 der Aufgaben des 248 Im Original heißt es: „la Junta Suprema central gubernativa del reyno, considerando que los vastos y preciosos dominios que España posee en las Indias no son propiamente colonias o factorías como las de las otras naciones, sino una parte esencial e integrante de la monarquía española y deseando estrechar de un modo indisoluble los sagrados vínculos que unen unos y otros dominios, como asimismo corresponder a la heroyca lealtad y patriotismo de que acaban de dara tan decisiva prueba a la España ... se ha servido S.M. declarar ... que los reynos, provincias e islas que forman los referidos dominios, deben tener representación inmediata a su real Persona por medio de sus correspondientes diputados“ (Real Orden, Sevilla, 22.01.1809, abgedruckt in: Guerra: Modernidad, S. 135); vgl. hierzu allgemein Guerra: Modernidad, S. 133-138 u. 185-190. 249 Jedes Vizekönigreich (Neu-Spanien, Neu-Granada, Peru, Rio de la Plata) und fünf Capitanías generales (Cuba, Puerto Rico, Guatemala, Venezuela und Chile) sollten je einen Abgeordneten stellen. 250 Sitzung vom 19.04.1809, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f.
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Delegierten. Dieses Prozedere zog sich bis zum 16. Mai hin und verstärkte den Politisierungsprozess, insbesondere da alte Zwiste aufbrachen. In der Sitzung am 15. Mai nannte dann jedes Mitglied die von ihm präferierten „Subjekte“, deren Namen auf einer Liste gesammelt wurden. Isidro Huarte junior versuchte vergeblich durchzusetzen, dass nur die-jenigen, die „wirklich Amerikaner“ sind, zur Wahl gestellt werden dürften. Er begründete diesen Schritt damit, dass „der in Amerika Geborene die Themen und Ziele des nationalen Interesses besser und mit mehr Eifer vorantreibe als ein Europäer, vor allem wenn es um Angelegenheiten des Handels gehe“ 251 . In der gleichen Sitzung ließ er vom Protokollführer noch ausdrücklich feststellen, dass er der einzige Amerikaner im Gremium sei. Damit griff er den Vertretungsdiskurs explizit auf und unterschied mit dem oben so bezeichneten discourse of love argumentierend amerikanische von europäischen Interessen: Einem Europa-Spanier als quasiAusländer könne man demnach die Vertretung der eigenen Anliegen nicht anvertrauen, Amerikaner und Europäer hätten unterschiedliche Interessen. Ein weiteres Ratsmitglied, Juan Antonio Aguilera, entgegnete ihm in der gleichen Sitzung, dass man auch als langjähriger Vecino mit Eigentum und Nachkommenschaft ein starkes Interesse an seinem Wohnort nachweisen könne. Nach einer gemeinsamen Messe des Rates am folgenden Tag erreichten in einer ausdrücklich geheimen Wahl das Mitglied des Indienrates Manuel de Lardizábal y Uribe mit sechs Stimmen und Melchor de Foncerrada mit fünf, Richter an der mexikanischen Audiencia, die beiden ersten Plätze. Der von den Montañeses unterstützte Abad y Queipo kam wie der peruanische Richter an der Audiencia in Mexiko Manuel de la Bodega mit je vier Stimmen gemeinsam auf den dritten Rang, vor Huarte junior mit zwei Stimmen. Der Montañes Terán „entschied“ als Präsident des Rates, dass Abad in das Losverfahren mit den beiden Erstplatzierten eintreten dürfe, welches er gewann. Daraufhin zweifelte der Baske Huarte das Verfahren an und verfasste ein Protestschreiben, das jedoch vom Vizekönig abschlägig beantwortet wurde. Die Wahlversammlung in Mexiko-Stadt bestimmte dann das Mitglied des Regierungsrates Miguel Lardizábal y Uribe zum Deputierten Neu-Spaniens, Abad erhielt dort keine Stimme.252 In der Anfang 1810 erarbeiteten Instruktion für Lardizábal beteuerte der Rat von Valladolid mit Hilfe der traditionellen Patrimonialtheorie einmal mehr seine Treue zu Ferdinand und nahm gleichzeitig den oben aufgeführten 251 Sitzung vom 16.05.1809, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 252 Vgl. Sitzungen vom 17. bzw. 20.05., 31.08. u. 05.09.1809, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. Vgl. zu den lang anhaltenden Auseinandersetzungen um die Wahl von Abad y Queipo die umfassende Dokumentation in: AGN, Historia, c. 417, fs. 124-197v. Vgl. auch Juárez Nieto: Oligarquía, S. 322f. und Juárez Nieto: Oligarquía (1990), S. 66f.; Benson: Elections, S. 12-16.
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Kolonialdiskurs auf: „Gleich welcher Art das endgültige Schicksal der Halbinsel oder irgendeines anderen Teils des spanischen Imperiums sei, Valladolid de Michoacán muss immer Eigentum [patrimonio] von Ferdinand VII. und seinen legitimen Nachfolgern bleiben“ 253 . Im zweiten Teil forderten sie dort die Gleichberechtigung von Neu- und Alt-Spanien ein, „da dieses Amerika keine Kolonie, sondern integraler und wesentlicher Bestandteil der spanischen Monarchie sei“254. Die wortgleiche Wiederholung und die Betonung der Phrase aus dem Wahlaufruf der Junta verdeutlicht das konfliktreiche Verhältnis zu Spanien ebenso wie der deutliche, mit der historischen Verfassung begründete Hinweis, man sei nur der Person des Königs zur Treue verpflichtet, das Schicksal des Mutterlandes spiele hingegen nur eine nachgeordnete Rolle. Ohne die Figur des Königs haben die Reiche untereinander keine Verbindung. Ähnliche Vorstellungen waren häufig anzutreffen: Sie beruhten auf der Annahme einer Monarquía dual, also auf der Annahme, dass die Monarchie auf zwei Säulen stand, dass aber die europäische Säule bereits verloren sei, weswegen die andere, die amerikanische, ohne Rücksicht auf Europa gerettet werden müsse.255 Aus amerikanischer Perspektive verstand man sich eben nicht als (nachgeordneter) Teil eines einheitlichen spanischen Imperiums, sondern dem Monarchen in einem Treue- und Vertragsverhältnis verbunden.256 Die Nachrichten aus Spanien von der Flucht der Junta vor den vorrückenden und mittlerweile fast ganz Spanien besetzenden Franzosen und von Gerüchten einer Kollaboration spanischer Afrancesados (Französlinge) ließen Mitte 1809 wie in vielen anderen Gebieten vor allem Südamerikas so auch in Michoacán zum einen die Vorstellung vom Verlust der einen Säule zum Allgemeingut werden und verschärften zum anderen die Rivalitäten zwischen Kreolen und Europa-Spaniern. In Valladolid fanden unter Führung der beiden Miliz-Offiziere José Mariano Michelena und José María Garcia Obeso, zudem ehemaliges Mitglied des Stadtrates von Valladolid, ab Mitte 1809 geheime Treffen einiger, meist wohlhabender Kreolen statt. Sie verfolgten nach dem Vorbild der aufgelösten Junta general von Mexiko-Stadt das Ziel, Neu-Spanien eine provisorische Regierung zu geben, um diese zweite Säule Amerika für Ferdinand VII. zu erhalten. Damit versuchte sich diese Gruppe dem Suprematsanspruch Spaniens und auch dem des europa-spanisch dominierten Zentrums von Neu-Spanien zu entziehen und die Führung der neu-spanischen Regierung auf diese Seite des Atlantiks zu verlagern. Die amerikanische Lesart der historischen Verfassung legitimierte ein solches Vorgehen. Michoacán wurde damit, 253 254 255 256
AGN, Historia, c. 417, fs. 285-285v. AGN, Historia, c. 417, f. 285v. Vgl. bspw. Guerra: Independencia, S. 25f. Vgl. hierzu auch die Diskussion in: Portillo Valdés: Revolución; Annino: Comentario.
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ähnlich wie Quito und Chuquisaca / Hochperu (heute Bolivien), wo 1809 auch Versammlungen gebildet wurden, zu einem zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Spanien und Spanisch-Amerika. Dafür intendierte diese Gruppe vor allem über die Milizen den Aufbau eines umfassenden Netzwerkes über die Grenzen Michoacáns hinaus. Anzuführen sind hier unter anderem aus Valladolid der Franziskaner Vicente Santa Maria, daneben das Stadtratsmitglied Benigno Antonio de Ugarte sowie der Kazike Pedro Rosales, der Gobernador de indios des Corregimiento von Valladolid, der nach Marta Terán circa 100 umliegende Pueblos integrieren konnte.257 Hinzu kamen die (ehemaligen) Subdelegados Luis Correa (Zitácuaro), José María Abarca (Pátzcuaro) und José Nicolas Michelena (Zamora, vormals Mitglied des Stadtrates von Valladolid) sowie aus einer Hacendado-Familie Uruapans José María Izasaga und die Pfarrer Manuel Torre Lloreda aus Santa Clara del Cobre und Manuel Ruíz de Chávez y Larrina aus dem nördlich gelegenen Huango.258 Mit José María Garcia Obeso und José Nicolas Michelena galten zwei Verschwörer noch bei der Wahl im Mai des gleichen Jahres als für die Provinz repräsentabel. Viele weitere Mitglieder gehörten der regionalen Elite an, einige von ihnen saßen in den 1820er und 30er Jahren im regionalen Kongress. Gleichzeitig gelang es, Verbindungen zu populären Kreisen aufzubauen. Aus anderen Provinzen erhielten sie insbesondere von den Militärs und späteren Unabhängigkeitskämpfern Ignacio Allende, Mariano Abasolo aus San Miguel el Grande und José María Liceaga aus Guanajuato Unterstützung. Als die Verschwörung im Dezember 1809 bekannt wurde, reagierte der Interimsintendant Alonso de Terán relativ mild, zum einen wegen der engen Verbundenheit der Verschwörer mit der (über-)regionalen Oberschicht, zum anderen, um die angespannte Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Die meisten Beteiligten ließ man gegen eine Strafzahlung wieder frei, Garcia Obeso und die Brüder Michelena wurden zeitlich befristet ins Exil geschickt, nur Santa Maria sollte der Inquisition übergeben werden.259
257 Wie bei den Aufständen von 1766/67, auch damals schon mit Rosales, existierte somit eine ethnische Grenzen überschreitende Allianz, der Anschluss der Indigenen lässt sich vor allem auf das Versprechen der Abschaffung des Tributs und der Cajas de comunidad zurück-führen. Die Kreolen versuchten so, die Indigenen, aber auch Mulatten und Schwarze einzubinden. Die von Rosales geknüpften Kontakte führten auch über Valladolid hinaus; vgl. Terán: Gobierno, S. 341-374 u. 387-389; Garcia: Documentos, Bd. 1, V, S. 467-471. 258 Vgl. insb. die Aufzählung bei Chowning: Wealth, S. 80. 259 Vgl. stellvertretend für die große Fülle an Literatur zur Verschwörung: Juárez Nieto: Oligarquía, S. 270-293 u. 324f.; Bravo Ugarte: Historia, S. 15-18; Herrejón Peredo: Luces, S. 122-124; Mendoza Biones / Terán: Caída, S. 243-247.
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Auffällig an den eben angeführten Debatten ist die häufige Argumentation mit der alten Verfassungsordnung, was als deutliches Zeichen dafür zu werten ist, dass diese als verteidigungswürdig galt.
c.
Die hispanische Verfassungsrevolution (1810-1812)
Parallel zu den eben dargestellten Debatten in Michoacán und Mexiko fanden auch auf der spanischen Halbinsel weiterhin Diskussionen über den Umgang mit der Krise des Reiches statt. Es entstand ein atlantischer Diskusionsraum, der sich zunächst durch ein gewissen Assymetrie auszeichnete: Während in Amerika eine intensive Rezeption der aus Spanien kommenden Druckerzeugnisse und Anweisungen, Berichte et cetera stattfand, verharrte die spanische Diskussion weitgehend im europäischen Rahmen.260 Auch in Spanien suchte man nach einer geeigneten repräsentativen Lösung. Der Tod des Präsidenten der Junta central Floridablanca Ende 1808 verlagerte die Gewichte zugunsten der Anhänger einer Einberufung der alten Ständeversammlung, der Cortes. Zu diesen waren die Überseegebiete bislang nicht zugelassen worden. Am 22. Mai 1809 verabschiedete die Junta ein Dekret zur „Wiedererrichtung und Einberufung der Cortes“, um so basierend auf den „Grundgesetzen der Monarchie“ eine „legale und bekannte Repräsentation in ihren alten Cortes“261 zu errichten. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war in Spanien – wie etwa auch in Frankreich – „eine wirkliche ständische Vertretung und Machtbeteiligung quasi zum Erliegen gekommen“262. Die nachfolgende Debatte, ob es sich dabei um die traditionelle Form der Cortes als Ständeversammlung oder aber im Sinne der französischen Nationalversammlung um eine moderne Repräsentation des Volkes handeln sollte, dauerte bis Anfang des nächsten Jahres an. Der zweiten Alternative folgend legte ein am 1. Januar 1810 verabschiedetes Einberufungsdekret für die Provinzen Spaniens eine zur jeweiligen Bevölkerung proportionale Vertretung der Provinzen fest, die amerikanischen Provinzen erhielten hier kein Vertretungsrecht. 263 Auf der anderen Seite erließ man drei Wochen später ein weiteres Dekret zur Einberufung der „sich im Amt befindlichen Prälaten und der Granden ... in einer getrennten Kammer“ – folgte hier also 260 Vgl. hierzu Guerra: Modernidad, S. 275-318. 261 Vgl. Decreto sobre restablecimiento y convocatoria de Cortes expedido por la Junta Suprema gubernativa del Reino (22.05.1809), in: Documentos de la etapa juntista. 262 Die seit 1709 zusammengefassten Cortes von Kastilien und Aragón hatten zwischen 1700 und 1808 nur achtmal getagt, allerdings nicht zur „eigentlichen legislativen und administrativen Ordnung des Reiches“ (Timmermann: Monarchie, S. 321). 263 Convocatorias de la Junta Central (01.01.1810), in: Documentos de la etapa juntista.
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eher dem Typus der Ständeversammlung. Dieses Dekret wurde zwar nicht mehr wirksam, spiegelt aber doch die Diskussionslage gut wider. 264 Zu diesem Zeitpunkt musste die Junta central vor den Franzosen – die Niederlage bei Ocaña am 19. November 1809 war entscheidend – bereits über Sevilla bis in die Hafenstadt Cádiz und auf die vorgelagerte Insel León weichen, wo sie durch ihre Lage und englische Verbände geschützt wurde. Die geschlagene und somit weitgehend regierungsunfähige Junta übergab ihre Geschäfte schließlich am 29. Januar 1810 an einen von ihr einberufenen Regierungsrat (Consejo de regencia). Die amerikanische Seite war wiederum vertreten, allerdings war sie wiederum unterrepräsentiert. 265 Ein weiteres Mal präjudizierten also Ereignisse und Entscheidungen auf der Halbinsel die amerikanische Entwicklung. Hauptaufgabe des Consejo war in der Folgezeit die Einberufung der Cortes. Dabei erhielt nun die Einbeziehung amerikanischer Abgeordneter zumindest rhetorisch eine hohe Bedeutung: In seinem ersten Dekret vom 14. Februar 1810 legte der Consejo den „Americanos Españoles“ zunächst die Vorkommnisse der letzten Wochen dar, um dann abermals zu erklären, Amerika sei „integraler und wesentlicher Bestandteil der Monarchie“, und dass „ihm als solcher die gleichen Rechte und Privilegien wie der Metropole zustünden“. Abschließend heißt es: „Españoles Americanos, Ihr seht Euch zur Würde von freien Menschen erhoben“266, weswegen eigene Repräsentanten zu den Cortes zugelassen werden sollten. Abermals schien erst die Gunst der Metropole die Amerikaner zu vollberechtigten, repräsentationswürdigen, „freien“ Menschen zu machen. Die Vertretung Amerikas erfolgte allerdings abermals nicht nach dem für Spanien gültigen Schlüssel: Statt nämlich einen Abgeordneter für je 50.000 Einwohner, galt hier: nur ein Deputierter pro Bezirk (Partido), wobei Partido nicht definiert, meist jedoch als Intendanz aufgefasst wurde. Ein Dekret vom 8. September, das für Amerika die Wahl von 30 in Spanien ansässigen Ersatzabgeordneten (Suplentes) festlegte, korrigierte die Proportion in der Praxis leicht, da diese auch nach Ankunft der eigentlichen Abgeordneten meist ihre Sitze behielten. In den außerordentlichen Cortes saßen somit insgesamt 27 Suplentes und 36 in den amerikanischen Provinzen gewählte Parlamentarier. 267 Diesen standen ins264 Resolución de la Junta Central sobre la convocatoria por estamentos (21.01.1810), in: Documentos de la etapa juntista. Vgl. zur Erarbeitung eines Einberufungsgesetzes: Morán Ortí: Formación, S. 24-36. 265 Vgl. zum militärischen Verlauf: Esdaile: War, hier bes. S. 192-221. 266 Instrucción para las elecciones por América y Asia (14.02.1810), in: Documentos de la etapa juntista. 267 Vgl. Instrucción para las elecciones por América y Asia (14.02.1810), in: Documentos de la etapa juntista. Die Zulassung von Ersatzmännern galt insbesondere als Zeichen gegenüber den in einigen Regionen (Venezuela, Buenos Aires, Quito und Neu-Granada) sich zuspitzenden Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen. An sich sollten die
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gesamt 208 Vertreter aus den Provinzen der Halbinsel gegenüber. Die Gleichberechtigung wurde also wieder prinzipiell anerkannt, um sie dann in den Formulierungen und bei der Verteilung der Sitze – auch wieder – zu negieren. Die Frage einer gerechten Vertretung und somit des Stellenwerts der überseeischen Territorien wurde damit wie schon in der Junta zu einem zentralen Brennpunkt. Die Wahlen fanden dann in weiten Teilen des spanischen Süd-amerikas wegen der aufflammenden Kriege schon nicht mehr statt. Hier entschied man sich vielmehr für die Einrichtung eigener Vertretungsorgane, teils noch im Namen Ferdinands, teils schon als gänzlich unabhängige Institutionen.268 Am 23. Mai 1810 und damit wenige Tage nach dem Eid auf den Consejo hatte das Wahl-Dekret für die Cortes über Mexiko-Stadt den Stadtrat von Valladolid erreicht. Dieser sollte als Vertretung einer der insgesamt 15 Partidos des Vizekönigreiches drei Namen nennen und dann per Los seinen Cortes-Abgeordneten bestimmen.269 Alonso de Terán forderte mit Verweis auf die geringe Besetzung und den starken Einfluss eines Vater-Sohn-Gespanns – ein Seitenhieb auf die beiden Huartes – vergeblich die Erweiterung des „parteiischen Stadtrates“270. Bei der Wahl am 14. Juni erhielten Melchor de Foncerrada, Isidro Huarte senior und José Cayetano de Foncerrada, Chorherr in Mexiko-Stadt, die meisten Stimmen. Beim anschließenden Losverfahren gewann der Letztgenannte. Der neue Abgeordnete der Provinz nahm die Wahl am 25. Juni an. Bis zum 11. August trafen wie angefordert Wahlanweisungen (Instrucciones) der anderen Ayuntamientos de españoles aus Patzcúaro, Zamora und Zitácuaro ein und Suplentes bei Antritt der eigentlichen Deputierten weichen, die meisten blieben jedoch anwesend; vgl. Rieu-Millán: Diputados, S. 10f. u. 31f.; Chust: Cuestión, S. 41-46. 268 Vgl. Schmidt: Wahlen, S. 40f.; Guerra: Traditions, S. 3. In Südamerika wurden nach dem Zusammenbruch der weitgehend als legitim anerkannten Junta central 1810 eigene Juntas gebildet. In einem Prozess der Radikalisierung brachen zwischen Spanientreuen und ihren Gegnern, von denen die nationale Souveränität nicht mehr mit der Zentralregierung verbunden wurde, sondern mit den Pueblos in den (Haupt-)Städten, tiefgreifende Konflikte aus. Sie führten letztlich in die Unabhängigkeit, aber auch in die Desintegration des Kontinents in viele Einzelstaaten; vgl. hierzu u.a. Guerra: Modernidad, S. 129-148 u. 338-350; Guerra: Independencia, S. 21-43; Rodríguez: Independence. 269 Vgl. Sitzungen vom 16., 17. bzw. 23.05.1810, in: AHAM, Libro de Actas 1810, s.f.; Berry: Election, S. 11f. Neben Valladolid de Michoacán galten demnach die neun Intendencias México, Puebla, Veracruz, Yucatán, Oaxaca, Guanajuato, San Luis Potosí, Guadalajara, Zacatecas als Partidos, ebenfalls diesen Status erhielten Tabasco, Querétaro, Tlaxcala, Nuevo León und Nuevo Santander. Die sieben nördlichen Provincias internas (Chihuahua, Coahuila, Durango, Nuevo México, Sinaloa, Sonora und Texas) und das südliche Yucatán, später Teil der mexikanischen Föderation, erhielten ihre Wahlaufforderungen separat. 270 Vgl. das Schreiben Teráns an die Audiencia Mexikos, in: AGN, Ayuntamientos, v. 136, s./exp. Diese lehnte den Antrag jedoch am 6. Juni ab.
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wurden zusammen mit denen aus Valladolid an den Chorherren gesandt. 271 Auch wenn sich Valladolid als Cabeza der Intendanz die Wahl vorbehalten hatte, galten daneben alle spanischen Ratsgremien als vertretungsberechtigt. Auch hier erfolgte somit eine Multiplizierung der Akteure. Foncerrada vertrat Michoacán vom 4. März 1811 an bis zur Auflösung der Cortes extraordinarias im September 1813. Auch in den ersten ordentlichen Cortes (1. Oktober 1813 bis 10. Mai 1814) übernahm er als Suplente diese Funktion, da das Territorium Michoacáns, das dann eigentlich drei Abgeordnete hätte stellen dürfen, wie zu sehen sein wird, weitgehend von Aufständischen besetzt war und dort somit keine Neuwahlen stattgefunden hatten. Foncerrada, als Geistlicher der größten Gruppe der amerikanischen Abgeordneten zugehörig, war Mitglied einer angesehenen kreolischen Händler- und Hacendado-Familie und hatte 1808 bereits an der Junta Mexiko-Stadts teilgenommen.272 Wie wiederum fast alle Abgeordneten kam er aus der Provinz, für die er gewählt wurde. Damit hatte sich die Kritik durchgesetzt, dass Fremde die Interessen nicht zufriedenstellend vertreten konnten.273 In Cádiz trat er insbesondere für den Freihandel ein.274 Ausdrücklich die in den Wahlanweisungen festgelegten Interessen Michoacáns vertrat er, als er 1812 die Einrichtung einer eigenen Audiencia für Valladolid forderte.275 Nach Rieu-Millan tendierte er in seinen Äußerungen immer mehr
271 Vgl. Sitzungen vom 07., 14. bzw. 25.06., 09., 17. bzw. 21.07., 08. bzw. 11.08.1810, in: AHAM, Libro de Actas 1810, s.f. Foncerrada forderte in einem Schreiben an den Stadtrat vom 18. August die Erhöhung der Reisekostenpauschale von 3.000 auf 5.000 Pesos. Der Rat hielt die Forderung zwar für „gerecht“, verwies aber auf die leeren Kassen, versprach aber zugleich, sich bei der Audiencia für ein Darlehen sowohl für die fehlenden 2.000 Pesos als auch für die Ausstattung des Abgeordneten mit sechs Pesos täglich einzusetzen; vgl. Sitzung vom 23.08.1810, in: AHAM, Libro de Actas 1810, s.f. 272 Junta general celebrada en México el 9 de agosto de 1808, in: HyD, I, Nr. 214, S. 513. 273 Zur Zusammensetzung lässt sich weiterhin sagen, dass nach den Geistlichen Männer mit höherem Bildungsabschluss, vor allem Juristen, ausgestattet teils mit Erfahrungen in öffentlichen Ämtern, gewählt wurden; nur wenige kamen wie Foncerrada aus der oberen Besitzelite; vgl. Rieu-Millán: Diputados, S. 58-61; Artola Gallego: España, S. 471-474. 274 Er gilt als Verfasser der Streitschrift „Comercio libre vindicado de la nota de ruinoso a la España y a las Américas“ von 1811, in der er die Abschaffung des eingeschränkten Freihandels mit Vorteilen für das gesamte spanische Reich postulierte; vgl. Hann: Role, S. 168; Rieu-Millán: Diputados, S. 203/205. 275 Er begründete die Forderung damit, dass so die „neuesten schlechten Ereignisse“ hätten verhindert werden können, beziehungsweise dass durch diesen Gerichtshof in Zukunft die Ordnung wiederhergestellt werden könne; die bearbeitende Kommission sprach sich für diese Maßnahme, die Cortes allerdings 1814 dagegen aus; vgl. Rieu-Millán: Diputados, S. 256; Anderson: Reform, S. 192f.
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zum Absolutismus, gehörte damit zur Minderheit der als Servile bezeichneten Parteiung in den Cortes.276
d. Die Verfassung von Cádiz 1812 Bei ihrem Zusammentritt am 24. September 1810 offenbarten die Abgeordneten der Cortes ein radikal verändertes Repräsentationsverständnis. Zur Eröffnung hieß es: „Die Abgeordneten, die diesem Kongress angehören und die spanische Nation repräsentieren, erklären sich für rechtmäßig in allgemeine und außerordentliche Cortes konstituiert, und in ihnen sitzt die nationale Souveränität”277. Anders als die Junta central konstituierten sich die Cortes generales y extraordinarias somit nicht mehr als korporativ verfasster Stellvertreter des Monarchen, sondern als die souveräne Vertretung der Nación española. Dieser radikale Wechsel lässt sich mit José Portillo Valdés als „revolución constitucional“ 278 verstehen. Diesem radikal neuen Verständnis folgend legten die Abgeordneten die Ausarbeitung einer geschriebenen Verfassung als ihre primäre Aufgabe fest. Diese am 19. März 1812 verabschiedete so genannte Verfassung von Cádiz gilt als herausragendes schriftliches Produkt der Cortes. Auf Grund ihrer enormen Bedeutung für das Michoacán nach 1820 sollen im Folgenden einige ihrer zentralen Aussagen kursorisch erläutert werden, auch wenn sie unmittelbar nach ihrer Verabschiedung kaum praktische Wirkung hatte. Die Verfassung von Cádiz übernahm allerdings nicht nur für die iberische Welt, sondern auch, was häufig vergessen wird, in vielen anderen Teilen des (früh-)konstitutionellen Europas eine Vorbildfunktion und prägte den Begriff liberal als Bezeichnung für die anti-absolutistische, konstitutionelle Parteiung der Cortes. 279 Immer wieder 276 Ausdruck davon ist, dass er nach der Restitution der monarchischen Ordnung die Auszeichnung „Cruz de la Orden de Carlos III“ erhielt; vgl. Rieu-Millán: Diputados: Diputados, S. 376. In diesem Sinne forderte er 1811 die „Einwohner der Provinz von Valladolid“ zur Liebe und Treue gegenüber dem Haupt des Staatskörpers, dem König, auf; vgl. Exhortacion que dirige a los habitantes de la Provincia de Valladolid su Diputado, in: LAF 314/2, S. 76-84. Zur amerikanischen Besetzung der Cortes allgemein: Rieu-Millán: Diputados. 277 Dekret Nr. 1 (24.09.1810), in: CdDO, I, S. 1. 278 Portillo Valdés: Revolución, S. 9. 279 Vgl. hierzu und zur weiteren Begriffs- und Verbreitungsgeschichte: Vázquez: México, S. 18; Vierhaus: Liberalismus, hier S. 751-757. Das Konzept der „idées liberales“ stammte demnach aus dem napoleonischen Frankreich der Zeit um 1799, fand seine Verbreitung in Europa dann allerdings über den spanischen Umweg. Insbesondere für die deutsche Historiographie ist ein sehr geringes Interesse an der Verfassung von 1812 festgestellt
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wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der Verfassung nicht um ein rein (europa-)spanisches, sondern vielmehr um ein hispanisch-atlantisches Produkt mit großem Einfluss der amerikanischen Seite handelt.280 Die durch die Verfassung konstituierte „Nación española“ verstand sich nun nicht mehr als Konglomerat diverser (Gebiets-)Körperschaften, sondern – wie es in Artikel 1 heißt – als „die Vereinigung aller Spanier aus beiden Hemisphären“ 281 . Dieses neue, vom Individuum ausgehende Verständnis einer Staatsbürgergesellschaft lässt sich nach François-Xavier Guerra als vorläufiger Höhepunkt eines revolutionären Prozesses deuten, der das politische und verfassungskulturelle Denken auf beiden Seiten des Atlantiks seit 1808 radikal verändert hatte. 282 Inwiefern es sich tatsächlich um ein revolutionäres Ereignis handelt, das über das beschriebene Papier hinausgeht, wird anhand von Michoacán für die Zeit nach der Unabhängigkeit zu untersuchen sein. Für Cádiz stellte Timmermann eine „weltanschauliche Zäsur“ und ein „individualistisches Menschenbild“283 fest. Dieser Umbruch greift, wie oben gesehen, auf theoretische Konzepte aus der bourbonischen Reformzeit zurück und lässt sich auch mit der besonderen historischen Situation erklären: Cádiz galt als Zufluchtsort einer mehrheitlich liberalen Elite. Als besonderer Ausdruck der Staatsbürgergesellschaft ist das sehr weit gefasste, keine ausdrücklichen Einkommensauflagen kennende Männerwahlrecht zu betrachten. Inwiefern die Staatsbürgerschaft in der Praxis durch ihre Bindung an das soziokulturell und lokal zu definierende Prestigekonzept der Vecindad eine Einschränkung erfuhr, lässt sich bislang nicht abschätzen, da Studien, die die örtlichen Praktiken, beispielsweise bei Wahlen, analysieren, noch weitgehend fehlen. 284 Für das
280 281
282 283 284
worden, was aber ihrer zeitgenössischen Bedeutung auch für den deutschen Frühkonstitutionalismus nicht gerecht wird; vgl. Dippel: Bedeutung; Gangl: Weg, S. 34f.; Heydemann: Konstitution, S. 82-88. Timmermann betont, dass der Großteil der Staatstransformation bereits vor 1812 statt-gefunden hat und in der Verfassung zusammenfassend präsentiert wurde; vgl. Timmermann: Souveränität, S. 576f. Vgl. bspw. Rodríguez: Independence, S. 239. Verfassung von Cádiz, Art. 1. Für die vorliegende Arbeit wird die Originalversion der Verfassung (Constitución política de la monarquía española) verwendet; genauere Anbagen vgl. Quellenverzeichnis. Auf die ausführliche Zitation wird im Text verzichtet, Artikelangaben in Klammern beziehen sich im vorliegenden Kapitel auf die Verfassung von Cádiz. Vgl. die Diskussionen um dieses nicht unumstrittene Konzept, dem insbesondere das ständische Modell entgegengehalten wurde: Guerra, Modernidad, S. 11-18 u. 319-350. Timmermann: Monarchie, S. 362 bzw. 240. Eine Ausnahme für Mexiko stellen die gut untersuchten Cortes-Wahlen von 1813 in Mexiko-Stadt dar: Guerra errechnete eine Wahlberechtigtenquote unter den Männern von 93%; vgl. Guerra: Soberano, S. 45; vgl auch: Guedea: Elecciones. Zum nicht eindeutig definierten Vecino-Begriff von 1812 vgl. Annino: Cádiz, S. 192f.
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Michoacán der Unabhängigkeitszeit erfolgt eine solche Untersuchung in der vorliegenden Arbeit. Die Neuartigkeit der Konstitution bestand neben dem eben genannten individualistischen Gesellschaftsverständnis, wie bei ihrem Vorbild, der französischen Verfasung von 1791285, in der Festlegung der abstrakten Konstruktion der Volkssouveränität. Bei Zeitgenossen galt die Verfassung insbesondere deswegen als liberal, da der Monarch nicht mehr, wie im zeitgenössischen europäischen Konstitutionalismus vorherrschend, eine Pouvoir constituant darstellte, sondern vielmehr zu einer der drei Pouvoirs constitués herabgestuft wurde. Seine Funktion als herrschaftslegitimierende Institution übernahm nach Artikel 3 die souveräne Nation durch die verfassunggebenden Cortes: „Die Souveränität wohnt ihrem Wesen nach in der Nation und deswegen steht nur ihr das Recht zu, sich Grundgesetze zu geben“286. In Artikel 2 heißt es ausdrücklich, dass die „spanische Nation“ nicht das „Eigentum [patrimonio] einer Familie oder einer Person ist noch sein kann“. Cádiz löste sich damit – in exakter Gegenüberstellung zur oben zitierten Instruktion von Valladolid – von der traditionellen, feudalen Vorstellung eines Lehens- und Treueverbandes: Der „Landesherr“ war nicht mehr „Obereigentümer des Gebietes“ im Sinne eines „vom Vater ererbte[n] Vermögen[s]“, das Territorium wurde vielmehr „räumlicher Geltungsbereich bestimmter Normen“287. Die Verfassung konstituierte ein gewaltenteiliges Regierungssystem, in dem der Monarch gegenüber den Cortes eine nachgeordnete Rolle einnahm: Die Verabschiedung von Gesetzen oblag allein den Cortes, der Monarch besaß lediglich ein aufschiebendes Veto (Art. 143-149). Auch die Zuständigkeitsvermutung in Verfassungsfragen war nach Artikel 131/26 beim Einkammerparlament angesiedelt, das außerdem erhebliche Mitspracherechte in der sonst in Europa 285 Miguel Artola begründet die große Ähnlichkeit zum einen mit dem stark instrumentellen Charakter der Verfassungen, vor allem aber mit den gemeinsamen, paneuropäischen Wurzeln; vgl. Artola Gallego: España, S. 476f. Allgemein zur Verfassung von Cádiz und ihre Bedeutung für Mexiko: Benson: Mexico; Rieu-Millán: Diputados, S. 219ff.; Ferrer: Formación, S. 177-180. Der Einfluss des britischen Konstitutionalismus blieb, obzwar rezipiert, eher schwach, da mit ihm vor allem ein starker Monarch verbunden wurde; vgl. Varela Suanzes: Debate; Clavero Salvador: Ultramaria. 286 Damit setzte sich die vor allem von Spaniern bevorzugte Variante durch: „Die Souveränität liegt ihrem Wesen nach [esencialmente] in der Nation“. Die von einigen amerikanischen Abgeordneten verteidigte, als scholastisch interpretierte Version fand keine Berücksichtigung: Sie wollte die Souveränität „ursprünglich [originariamente]“ oder „von der Wurzel her [radicalmente]“ in die Nation legen, um sie so gegen zu leichte Veränderungen der Staatsform zu schützen. Vgl. México en las Cortes de Cádiz. Documentos, México, D.F. 1949, S. 20f.; Annino: Soberanías, S. 243; Timmermann: Souveränität, S. 574; Timmermann: Monarchie, S. 190f. 287 Zippelius: Staatslehre, S. 87; vgl. auch S. 109f.
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weitgehend dem Monarchen allein überlassenen Außenpolitik beanspruchen konnte. Die noch stärker als in der französischen Verfassung von 1791 ausgeprägte legislative Präponderanz ist neben theoretischen Erwägungen auch mit der Abwesenheit des Königs bei der Verfassungsausarbeitung erklärt worden.288 Die von Guerra zumindest noch für 1810 konstatierte „doppelte Souveränität“ 289 , nämlich die des Königs neben der der Nation, ist 1812 meines Erachtens nicht mehr feststellbar. Dies wird aus der Gesamtkonstruktion und der dem König zugedachten Funktion im Vergleich zu den Cortes ebenso deutlich wie aus dem Zwang des Königs zum Schwur auf die Verfassung: Der König war damit explizit als eine – und zwar als eine nachgeordnete Pouvoir constitué – an die von der Nation erlassene Verfassung gebunden.290 Auch die folgenden Festlegungen, die sich später in der Verfassung von Michoacán wiederfinden lassen, machen das neue Verfassungsdenken deutlich. Die Cortes gingen aus indirekten Wahlen aller Staatsbürger hervor. Die Anzahl der Abgeordneten war nun weitgehend zur Einwohnerzahl und nicht wie zuvor zu (Gebiets-)Körperschaften proportional.291 Das imperative Mandat der VorVerfassungszeit mit seinen Instrucciones wurde vom freien Mandat abgelöst, was den Charakter jedes Abgeordneten als „Repräsentanten der Nation“ (Art. 78) unterstreicht.292 Eine Versammlung von Wahlmännern aus der Provinz wählte nach einem dreistufigen Wahlprozedere die Abgeordneten, die die jeweilige Provinz auf Grund ihrer Bevölkerungszahl stellen durfte: Dadurch behielten die Abgeordneten neben dem gesamt-spanischen Charakter auch Repräsentationsfunktionen für ihre jeweilige Provinz. Diese Doppelstellung kommt zudem darin zum Ausdruck, dass die Abgeordneten ihre Diäten und Reisekosten von ihren Provinzen erhielten. 293 An einen Cuerpo unido de la nación wurde hier 288 Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 39-41; Timmermann: Souveränität, S. 581; Marcuello Benedicto: Cortes, S. 82-103; Artola Gallego: España, S. 477-485; Chust: Rey, S. 51-75. 289 Guerra: Modernidad, S. 334. 290 Vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 173; vgl. auch: Timmermann: Souveränität, S. 577. 291 In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Verständnis deutlich von dem der französischen Verfassung von 1791, nach der je ca. ein Drittel der Abgeordneten nach Départements, nach Bevölkerung und nach Steueraufkommen gewählt werden sollten; vgl. Constitution française (1791), Titel III, Kap. I, Abschn. I, Art. 3-5 (vgl. Quellenverzeichnis). 292 Vgl. Timmermann: Souveränität, hier v.a. S. 577-583; Guerra: Modernidad, S. 206-213. Allerdings lebte die Praxis des imperativen Mandats auch über 1812 hinaus mit der Anfertigung von Wahlanweisungen weiter fort; vgl. den Hinweis auf deren Sammlung im Archivo de Indias (Sevilla): Annino: Cádiz, S. 192. 293 Vgl. Verfassung von Cádiz, v.a. Art. 34 u. 102 und die Aufteilung des Reino von NeuSpanien in Provinzen für die Wahlen von 1812. Michoacán hätte drei Abgeordnete und einen Ersatzmann bestimmen sollen. Die Bevölkerung erscheint mit insgesamt 273.681
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offensichtlich genauso wenig gedacht wie bei weiteren, gleich zu behandelnden Aufteilungen. Michoacán wird sich von dieser Doppelstrategie lösen und noch konsequenter das Modell des Gesamtvertreters verfolgen. Während sich die Verfassungsväter also in vielen Aspekten an der ersten Verfassung des revolutionären Frankreichs orientierten, wichen sie – wie später auch die Constitución michoacana – in zwei wesentlichen Punkten von diesem Vorbild ab, nämlich in der Einschätzung des Stellenwertes zum einen von Gott und zum anderen der Grundrechte in der Verfassung. Wie aus der Invocatio dei hervorgeht, ist die Nation nicht wie im Falle Frankreichs per se souverän, sondern wird es erst durch göttliche Übertragung: Gott wird dort als „Urheber und höchster Gesetzgeber der Gesellschaft“ angerufen. Hier lässt sich die weitverbreitete, neoscholastische Vorstellung von Gott als Urgrund der Souveränität erkennen, nach der „weltliche Herrschaft ... als unmittelbar durch das Volk und mittelbar von Gott verliehen“ 294 galt. Der Verfassungshistoriker Sánchez Agesta hebt zwar die „confusa dualidad“295 zwischen Invocatio und dem Postulat der Volkssouveränität hervor und bezeichnet die Formulierung der Invocatio als „klassisches spanisches Denken“296. In diesem Sinne lebte auch das Gottesgnadentum in der Präambel neben der Verfassung als zweite Legitimationsgrundlage für Ferdinand VII. weiter. Dort heißt es: „Wir Ferdinand VII., von Gottes Gnaden und kraft der Verfassung der spanischen Monarchie König beider Spanien …“. Über das symbolische hinausgehend unterschied sich Cádiz von der Verfassung von 1791, indem das zentrale Grundrecht der Religionsfreiheit nicht gewährt wurde. Cádiz erklärte vielmehr die „katholische, apostolische, römische und einzig wahre“ Religion zur Religion der „spanischen Nation“ und verbot die „Ausübung jeder anderen“ (Art. 12) 297 . Die Historiographie hierzu sparte dieses Thema meist entweder aus298 oder setzte die Betonung religiöser Werte mit einem noch nicht überwundenen, traditionellen Denken gleich. 299 Dabei gerät meines Erachtens aus dem Blick, dass die Verfassungsväter mit dieser Betonung religiöser Werte an einen Diskurs anknüpften, der die christlich-katholischen, „anti-egoistischen“ Elemente gegenüber der „falschen Philosophie“ mit ihren rationalistischen, individualistischen und ökonomistisch-utilitaristischen Facetten als Grundbausteine
294 295 296 297 298 299
und mit 215.088 Personen nach Abzug der „Castas von afrikanischem Ursprung“ im Vergleich zu obigen Angaben als relativ gering: AGN, Historia, c. 445, fs. 83-93. Timmermann: Souveränität, S. 574. Vgl. Rodríguez: Introduction, S. 2; Artola Gallego: España, S. 474f. Sánchez Agesta: Revolución, S. 70. Sánchez Agesta: Revolución, S. 68. Vgl. weiter die Ausführungen hierzu bei der Diskussion der Verfassung von Michoacán. Vgl. beispielsweise: Rodríguez: Origins. Vgl. Guerra: Modernidad, S. 336f.; Annino: Constitucionalismo, S. 169f.
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einer spanischen Kultur anerkannten. Timmermann bezeichnet den Schutz des katholischen Glaubens als eines der Grundgesetze („leyes fundamentales“) der spanischen Monarchie. 300 Dies spielte in den Auseinandersetzungen um die öffentliche Meinung gegenüber Frankreich nach 1808 eine große Rolle, konnte aber zudem auf eine lange spätscholastische Tradition zurückgreifen. 301 Die Entwicklung in Frankreich galt eben auch als „model to avoid“302. Diese gegenüber den radikaleren französischen Ansätzen als gemäßigt erscheinende Tendenz zeigt sich auch bei der zweiten zentralen Differenz zur Verfassung von 1791: Ein zunächst vorgeschlagener Katalog individueller Menschen- und Bürgerrechte, der in Frankreich staatslegitimierenden Charakter erhalten hatte, wurde nicht verankert. Stattdessen fixierten die Verfassungsväter einige wenige Bürgerrechte, wie die bürgerliche Freiheit (Art. 4), die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 248), den Schutz des Eigentums vor königlichem Zugriff (Art. 172/10) und vor allem die viel diskutierte, allerdings durch den Religionsvorbehalt eingeschränkte Pressefreiheit (Art. 371), an unterschiedlichen Stellen in der Verfassung. Timmermann beschreibt diese vergleichsweise wenig radikalen Tendenzen einerseits als das Ergebnis einer alten Tradition, die die Mäßigung als „staatspolitische Tugend“ 303 versteht, und zugleich als ein Bemühen um „Kontinuität, das der christlich-konservativen Prägung der herrschenden Staatslehre entsprach“ 304. Auf beide Aspekte – den Stellenwert Gottes und den der Menschenrechte – wird bei der Untersuchung der Verfassung von Michoacán näher einzugehen sein. Timmermann sieht in einer jüngst veröffentlichten Studie im „Prinzip der Mäßigung (moderación, templanza)“305, im „politische[n] Ringen um ‚Maß und Mitte’“ das wesentliche Charakteristikum der Verfassung von Cádiz. Darunter versteht er neben der „Bindung an eine Verfassung“306 und der Gewaltenteilung mit dem Historismus eine „national geprägte, historisierende Rechts- und Staatslehre, … die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die rechtswissenschaftliche Debatte in Spanien maßgeblich beeinflußte“307. Dieser Historismus machte sich zum einen in der „Idealisierung“ der „Vergangenheit und … traditioneller Ein-
300 301 302 303 304
Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 224-226. Vgl. zum Einfluss der Glaubenstradition auch Timmermann: Monarchie, S. 123-130. Herzog: Nations, S. 142. Timmermann: Monarchie, S. 112-114 u. 120. Timmermann: Souveränität, S. 570-575, Zitat S. 571. Vgl. hierzu weiter: Ferrer: Formación, S. 208-218; Neal: Freedom; Artola Gallego: España, S. 485-494. Zur Pressefreiheit: Timmermann: Monarchie, S. 259-266. 305 Timmermann: Monarchie, S. 108. 306 Timmermann: Monarchie, S. 111. 307 Timmermann: Monarchie, S. 109.
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richtungen“ 308 bemerkbar und zum anderen in der Betonung der eigenen religiösen Tradition. Ihm zufolge benutzten die Verfassungsväter diese historisierenden Rekurse auch aus strategischen Gründen, um „einer bürgerlichliberalen Verfassung Ansehen [zu] verschaffen“309. Sie bezogen sich symbolisch besonders aussagekräftig in der Präambel auf die „antiguas leyes fundamentales“ der Monarchie als „historisch legitimierten Grundbestand nicht veränderbarer Prinzipien“ 310 , die es nun festzuschreiben galt. Timmermann zählt darunter die monarchische Ordnung, die Thronfolgeregelung sowie die zentrale Rolle des Katholizismus. Damit betonte die Konstituante die maßvollen, Kontinuität versprechenden und weniger die neuartig-revolutionären Elemente der Verfassung. Ob sich dieses „Prinzip der Mäßigung“ in den amerikanischen Verfassungen durchsetzte, wird für Michoacán zu prüfen sein. Als weitere Besonderheit gegenüber Frankreich sieht Fernando Martínez Pérez, und mit ihm weitere Forscher, das Fortleben des stark ausgeprägten kasuistischen Rechtsverständnisses. Er geht davon aus, dass Spanien auch weiterhin in erster Linie ein Rechtsprechungsstaat war und kein Gesetzgebungsstaat. Dies findet er in der starken jurisdiktionellen Aktivität der Cortes bestätigt. Während also „im französischen Fall das Gesetz“ die alte Ordnung transformierte, war es „im spanischen das Urteil“ 311 . „Von diesen Daten ausgehend können wir die Behauptung wagen, dass die Rechtsprechung für die spanische Verfassungserfahrung das war, was die Gesetzeszentriertheit für die französische war“ 312 . Das machte nach ihm die spanische Erfahrung „einzigartig“ und zu einem „alternativen Konstitutionalismusmodell“313 und die Verfassung von Cádiz zu einer „Constitución jurisdiccional“314. Carlos Garriga sieht in den Cortes zwar starke legizentrische Tendenzen, die an Forderungen nach einem einheitlicheren Rechtskorpus aus den vorangegangenen Jahrzehnten anknüpften. 315 Gemeinsam mit Marta Lorente stellte er jedoch wie Martínez Pérez heraus, dass „die Besonderheit des gaditanischen Verfassungsmodells sicherlich nicht in der Inthronisation der Herrschaft des Gesetzes liegt“316: Es handelte sich nach ihnen um ein eigenes „modelo constitucional“, das sich dadurch auszeichnete, nicht eine unpersönliche „Gesetzesherrschaft“ zu 308 309 310 311 312 313 314 315 316
Timmermann: Monarchie, S. 119. Timmermann: Monarchie, S. 122 u. ausführlicher S. 108-130 u. 377-380. Timmermann: Monarchie, S. 225. Vgl. Martínez Pérez: Constitucionalismo, Zitat S. 89; Martínez Pérez: Constitucionalización. Martínez Pérez: Constitucionalismo, S. 92. Martínez Pérez: Constitucionalismo, S. 94. So der Titel eines 2007 erschienenen Bandes: Garriga Acosta / Lorente Sariñena: Cádiz. Vgl. Garriga Acosta: Constitución. Garriga Acosta / Lorente Sariñena: Modelo, S. 609.
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errichten, sondern eine „Herrschaft der [persönlichen] Verantwortung“ 317 einzelner staatlicher Autoritäten. Betrachtet man freilich die oben zitierte Studie zur königlichen Gesetzgebungskompetenz in Frankreich, liegt wohl der Schluss nahe, dass es sich hier kaum um eine spanische Besonderheit, um ein „alternatives Konstitutionalismusmodell“ handelt: Der vermeintlich moderne Gesetzgebungsstaat hatte sich auch im französischen Absolutismus und Frühkonstitutionalismus nicht vollständig etablieren können.318 Während die bisherige Forschung bei den eben behandelten Aspekten keine grundsätzlichen amerikanisch-europäischen Gegensätze festgestellt hat, war die Frage nach einem gerechten Verhältnis zwischen Metropole und den überseeischen Reichen stark von solchen Antagonismen geprägt: Sie tauchten in den Debatten explizit und implizit immer wieder auf, die alte Diskussion um eine gerechte Repräsentation war somit in einen expliziten Verfassungskonflikt überführt. 319 Besonders akut wurde er zunächst bei der Debatte um den letztlich angenommenen europa-spanischen Vorschlag, der die Staatsbürgerschaft auf die Personen einschränkte, die von beiden Elternteilen her Vorfahren aus den spanischen Territorien besaßen. Das schloss die Afrika-stämmige Bevölkerung, obgleich als Españoles Teil der Souveränität, aus. 320 Während der hierzu geführten Debatten wurde deutlich, dass die Peninsulares in erster Linie intendierten, die Mehrheit bei den Wahlberechtigten für sich zu konservieren: In Cádiz ging man davon aus, dass in Amerika circa sechs Millionen Personen mit afrikanischen Vorfahren lebten, die das amerikanische Gewicht in den Cortes deutlich erhöht hätten. Schon die Einbeziehung der vermeintlich sechs Millionen Indigenen galt als „revolutionär“ 321 und war es im Vergleich zur französischen Regelung von 1791 auch: Dort galten alle Bewohner der Kolonien als grundsätzlich nicht gleichberechtigt.322 Die spanischen Cortes hin317 Garriga Acosta / Lorente Sariñena: Modelo, S. 611; vgl. weiter: Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad. 318 Vgl. Schilling: Normsetzung; Schlumbohm: Gesetze. 319 Guerra: Independencia, S. 16f. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Andreas Timmermann bei der Analyse des Souveränitätsverständnisses, auch wenn er die traditionalen Elemente herausstellt; vgl. Timmermann: Souveränität; Timmermann: Monarchie, S. 166-168. 320 Vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 5, 18 u. 22. In Artikel 22 heißt es, dass „Spaniern ..., welche wie auch immer als afrikanischen Ursprungs gelten und gehalten werden, das Tor der Tugend und des Verdienstes offensteht“, um Staatsbürger zu werden; so werden die Cortes Staatsbürgerurkunden denjenigen zugestehen, die dem Vaterland qualifizierte Dienste geleistet haben. Vgl. weiter zum Staatsbürgerschaftsrecht die Behandlung im Kapitel B V. 321 Chust: Cuestión, S. 152. 322 In ihrem Titel VII, Artikel 8 legte die Verfassung von 1791 fest, die Kolonien stünden außerhalb der Verfassung. Nach Titel III, Kapitel I, Abschnitt I, Artikel 1 sollte die
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gegen definierten in Artikel 29 die Spanier, die „von beiden Seiten aus spanischem Gebiet stammen“, aber auch nicht alle Españoles, als Basis für die Repräsentation: Die amerikanischen und insbesondere die neu-spanischen Abgeordneten, unter ihnen Foncerrada, deklarierten die Ungleichbehandlung in langen Ausführungen als Ungerechtigkeit den Farbigen und allen Amerikanern gegenüber. 323 Auf prinzipiell-symbolischer Ebene standen die Zeichen also abermals auf Gleichberechtigung, bei der Frage nach den konkreten Mehrheitsverhältnisse in den Cortes hingegen wurde dies wiederum konterkariert. Wie schon in der Junta central und im Consejo de regencia wollten die spanischen Abgeordneten auch keine vollständige Gleichbehandlung der Amerika-Spanier. Gegen eine spanische Dominanz und für eine regionale Repräsentation wandte sich der Abgeordnete Michoacáns Foncerrada wie fast alle Americanos, indem er erfolgreich dafür plädierte, dass nur in der jeweiligen Provinz geborene Personen und nicht Auswärtige diese als Abgeordnete vertreten dürfen.324 An dem für die amerikanischen Deputierten zentralen Aspekt der Gleichberechtigung war Foncerrada insofern durchaus beteiligt, wenn auch nicht in erster Linie. Ebenso um die Repräsentation eigener Interessen ging es bei der Diskussion um die Einrichtung regionaler und lokaler Vertretungsorgane. Entgegen den vor allem europa-spanischen Unitaristen, die eine Zersplitterung der Monarchie befürchteten, erhoben vora allem Amerikaner die schon ältere Forderung nach einer Föderalisierung des Reiches in Form von eigenen Vertretungskörperschaften und somit nach einer größeren Autonomie der amerikanischen Regionen.325 Symbolisch hatte die Aufwertung Amerikas gegenüber 1808 schon im Verfassungstext stattgefunden: Dort ist nicht mehr von Besitzungen, Kolonien oder Faktoreien Spaniens die Rede, sondern vom „König der Spanien“ im Plural (Rey de las Españas) oder von den gleichberechtigten Spaniern beider Hemisphären. Insbesondere die spanische Historiographie beschreibt die amerikanischen Abgeordneten wegen der Föderalisierungsforderung häufig als Personen, die stärker an traditionellen (Souveränitäts-)Vorstellungen hafteten Nationalversammlung: „ohne Rücksicht auf diejenigen, welche den Kolonien bewilligt werden“, gebildet werden. Die Kolonien besaßen also keine Repräsentanten aus eigenem Recht. 323 Vgl. die Debatten und insbesondere den Beitrag neu-spanischer Abgeordneter in: México en las Cortes de Cádiz. Documentos, México, D.F. 1949, bes. S. 20-86; Garza: Expression, S. 47-53; Rieu-Millán: Diputados, S. 276-286; Chust: Cuestión, S. 102-114 u. 150-168. 324 Vgl. Rieu-Millán: Diputados, S. 282f. Vgl. hierzu die Wahlen zur Junta suprema 1809, bei der auch nicht in der Provinz gebürtige Kandidaten zugelassen wurden, einige Personen wurden von unterschiedlichen Stadträten genannt; vgl. Benson: Elections, S. 7-14. 325 Vgl. zu ähnlichen Tendenzen in anderen (ehemaligen) Kolonialreichen des atlantischen Raumes das Kapitel „From empire to federation“ in: Pagden: Lords, S. 178-200.
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und weniger der liberalen Idee eines Einheitsstaates anhingen. 326 Allerdings scheint die Differenz eher auf divergente Interessen als auf unterschiedliche ideologische Hintergründe zurückzuführen zu sein. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man die wenig einheitliche Exklusion der Africanos in Betracht zieht. Auf diese Definitionsversuche wird unten noch zurückzukommen sein. In der Verfassung erschienen die Vertretungskörperschaften schließlich als Provinzdeputationen (Diputaciones provinciales) beziehungsweise als verfassungsmäßige Stadträte (Ayuntamientos constitucionales). Für diese Einrichtungen hatten sich besonders die beiden Neu-Spanier Miguel Ramos Arizpe und José Miguel Guridi y Alcocer eingesetzt. Auch wenn die Verfassung den neuen Ayuntamientos rein administrative Aufgaben zuschrieb, trugen sie in Neu-Spanien doch zu einer weiteren Stärkung der lokalen Ebene bei. 327 Die Provinzdeputationen erhielten entgegen dem ursprünglichen Ansinnen zwar jeweils nur rein exekutive Aufgaben (vgl. Art. 335 bzw. 321), führten aber in der Praxis trotzdem zur Stärkung einiger Provinzzentren gegenüber Mexiko-Stadt, das den anderen Sitzen der Diputaciones nicht mehr übergeordnet war. Sie spielten nach der Unabhängigkeit als Sprachrohr der Föderalisierung Mexikos und als Vorläufer der einzelstaatlichen Kongresse eine große Rolle. Häufig vertieften die Diputaciones damit die regionale Integration, nach Annick Lempérière gaben sie Neu-Spanien „die Möglichkeit ... seine korporativen Strukturen und traditionellen Repräsentationen zu perfektionieren“. Sie spricht folgerichtig bezüglich der Provinzen von „kleinen Republiken“328, in denen das traditionell beanspruchte Recht auf Selbstregierung verwirklicht wurde. Im spanischen Nordamerika (exklusive der karibischen Inseln) sollte es laut Verfassung sechs Diputaciones provinciales geben. 329 Eine Provinz setzte sich meist aus mehreren
326 Vgl. Varela Suances-Carpegna: Teoría, S. 29-32 u. 427-429; Annino: Soberanías, S. 321. 327 Sie übernahmen auf Grund uneindeutiger Regelungen häufig die Steuereintreibung und verfügten somit über finanzielle Unabhängigkeit; ein weiteres Problem für die gesamtstaatliche Verwaltung stellt die nicht intendierte Verlagerung von Gerichtskompetenzen auf die Ebene der Ayuntamientos dar. Weiterhin sei hier auf die letztlich entscheidende Bedeutung der lokalen Institutionen bei den Wahlen hingewiesen; vgl. Annino: Soberanías, v.a. S. 246-248; Annino: Conclusión, S. 182-185. Vgl. auch die Ausführungen und weitere Literatur-hinweise im Abschnitt über Michoacán nach der Wiedereinführung der Verfassung 1820. 328 Lempérière: República (2003), S. 322. Vgl. insgesamt zur Debatte in Cádiz u.a.: Chust: Rey, S. 70-75; zur Bedeutung für die weitere Entwicklung: Benson: Diputación; Rodríguez: Introduction, S. 13; Ferrer: Formación, S. 182-188. 329 So bildeten nach Artikel 10 der Verfassung Nueva España, Nueva Galicia, Yucatán, Guatemala, die Provincias internas de oriente und die Provincias internas de occidente eine Vertretung erhalten; hinzu kam per Dekret vom 1. Mai 1813 noch San Luis Potosí.
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Intendencias de provincia zusammen, Nueva España umfasste beispielsweise unter anderem Valladolid de Michoacán.330 Die Verfassung blieb allerdings zunächst nur gut zwei Jahre in Kraft, denn abermals bestimmten Ereignisse in Spanien das weitere Geschehen in NeuSpanien: Kurz nach der Rückkehr des „ersehnten“ Ferdinands VII. (El deseado) aus dem Exil im Mai 1814 setzte dieser die über große Bevölkerungsteile hinweg akzeptierte Verfassung von Cádiz außer Kraft und kehrte zum absolutistischen Regierungsstil zurück. Damit geriet er auf beiden Seiten des Atlantiks in die Kritik.331 In Michoacán konnten die neuen Institutionen jedoch im Zeitraum 1813/1814 wegen der gleich zu behandelnden Kampfhandlungen kaum Fuß fassen: Weder zu den Cortes ordinarias ab 1813, wo die Provinz weiter von Foncerrada vertreten wurde, noch zur Diputación provincial wählte Michoacán Abgeordnete. Auch über die Einrichtung von Ayuntamientos constitucionales ist mit Ausnahme Valladolids nichts bekannt.332 Am 19. Mai 1813 meldete der neue Intendant Manuel Merino von Valladolid nach Mexiko-Stadt, dass „diese Stadt die einzige Siedlung der Provinz ist, wo man sie [die Verfassung] veröffentlichen kann ..., die übrigen“ seien unter der Kontrolle der Aufständischen „außer Zamora und eventuell irgendeine andere in jener Gegend“ 333 , aber auch mit diesen sei keine Kommunikation möglich. In Valladolid publizierte man die Verfassung am 7. Juni 1813, ließ auf sie einen öffentlichen Schwur ablegen und in dreitägigen Festivitäten feiern. In einem Brief beschreibt der Intendant die Umstände der Feier folgendermaßen: „Wenn dieser Akt hätte den Wünschen dieser Korporation [der Stadt Valladolid] und dem Enthusiamus der Bevölkerung entsprechen können, wäre er ohne Zweifel sehr viel prachtvoller gewesen“, aber „alle Mitglieder [des Ayuntamiento], wie auch die Allgemeinheit der Familien dieser Stadt [sind] wegen des grausamen und skandalösen Aufstandes auf die größte Armut reduziert“, so dass „wir nur auf die Groß330 Vgl. das klassische Werk: Benson: Diputación, S. 16f.; Hamnett: Process, S. 305-307. 331 Vgl. für die Kritik in Spanien: Bernecker: Unabhängigkeitskrieg, S. 247-250. 332 Die von Alicia Hernández Chávez mit Verweis auf zwei unveröffentlichte Manuskripte zitierten 90 Ayuntamientos constitucionales ließen sich im vorliegenden Material nicht finden. Auffällig ist allerdings, dass diese Zahl mit der für die Zeit nach der Unabhängigkeit übereinstimmt; vgl. Hernández Chávez: Tradición, S. 25. Tanck de Estrada verweist hingegen in ihrer Untersuchung der Ayuntamientos in Neu-Spanien darauf, dass in Michoacán keine Wahlen stattfanden und zählte entsprechend keine solchen Institutionen auf. Insgesamt geht sie für Neu-Spanien von ca. 300 errichteten Ayuntamientos aus; vgl. Tanck de Estrada: Pueblos, S. 547-553. Ähnlich: Cortés Máximo: Ayuntamientos, S. 36. Auch in den vorliegenden Unterlagen des AGN war kein Hinweis auf deren Existenz in Michoacán zu finden. 333 AGN, Historia, v. 29, fs. 544-544v.
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zügigkeit des Regidor Alcalde Provincial Don Isidro Huarte zählen können“ 334 . Nach dem Schwur erhielt der Hauptplatz wie von den Cortes angeordnet den Namen „Platz der Verfassung“335. Aus Dokumenten des Stadtrates geht hervor, dass er sich (spätestens) ab August 1813 und bis Ende 1814 als Ayuntamiento constitucional betitelte, über Wahlen ist hingegen wenig bekannt. 336 Bei den Wahlen von 1812 entzündeten sich Auseinandersetzungen, da eine Gruppe von Kreolen unter Führung der Geistlichen Martín Garcia de Carrasquedo und dem Dekan Martín Gil unter anderem beklagten, dass die vormaligen Regidores automatisch Mitglieder des neuen Stadtrates werden sollten. Am Schluss meldete Merino, unterstützt von Abad y Queipo und weiteren EuropaSpaniern, schließlich „gerechte und patriotische“ Wahlen nach Mexiko-Stadt, da ein Ausgleich zwischen Kreolen und Europäern im Rat gefunden worden sei.337 Auch ein Dokument des Stadtrates vom 28. Dezember 1813 zeigt, dass einige bisher nicht im Stadtrat vertretene Personen gewählt wurden. 338 Am 24. Dezember 1814 erhielt der Stadtrat aus Spanien die königliche Verfügung zur Wiedereinberufung des „alten Stadtrates“ 339 von 1808. Da einige Personen
334 AGN, Historia, v. 403, f. 275. Vgl. auch einen entsprechenden Lagebericht von Merino an den Vizekönig Calleja vom 14. August 1813, in: AGN, Historia, v. 403, f. 122-124v. Ob ähnliche Feierlichkeiten an anderen Orten stattfanden, ist nicht bekannt, aus einer Versandliste von Venegas vom 30. September 1812 geht lediglich hervor, dass die Verfassung nicht nur nach Valladolid (Stadtrat, Bischof und die Orden der Augustiner sowie Franziskaner), sondern auch nach Pátzcuaro und Zamora gesandt wurde, zudem soll Merino 30 Exemplare zur Verteilung erhalten haben; vgl. AGN, Historia, v. 402, fs. 220-225 u. AGN, Historia, v. 403, fs. 144-148v. 335 Vgl. Dekret Nr. 185 (14.08.1812), in: CdDO, III, S. 52f. Vgl. zu Michoacán: Juárez Nieto: Martín, S. 47; Juárez Nieto: Sociedad, S. 246; Mendoza Biones/Terán: Fin, S. 287-290. 336 Am 25. August 1813 schrieb der Stadtrat als Ayuntamiento constitucional an den Vizekönig; vgl. AGN, Ayuntamientos, v. 187, s./f. Ein Manifest des Cabildo vom 20. Juli 1813 spricht allerdings von mehreren, aber nicht näher spezifizierten „verfassungsmäßigen Wahlen“ 1813, bei einem dieser Urnengänge seien nur 17 Wahlmänner zugegen gewesen, davon 13 Geistliche; vgl. Manifiesto del ayuntamiento de Valladold, hoy Morelia. – Julio 20, in: HyD, V, Nr. 41, S. 86-91, hier S. 90. Am 8. Juli 1814 wird nochmals kurz die Wahl von Alcaldes constitucionales erwähnt; vgl. Sitzung vom 08.07.1814, in: AHAM, Actas 1814, Libro 3, s.f. 337 Juárez Nieto: Intendente, S. 199f. 338 Aus diesem Dokument gehen die Namen der für 1814 gewählten zwei Alcaldes, der sechs Regidores und des Procurador hervor; aufgezählt werden außerdem sieben Wahlmänner; vgl. Lista de los Individuos ... (28.12.1813), vor Sitzung vom 01.01.1814, in: AHAM, Actas 1814, Libro 3, s.f. Vgl. zur Besetzung der Vertretungsorgane der Region auch Kapitel D I. 339 Sitzung vom 24.12.1814, in: AHAM, Actas 1814, Libro 3, s.f.
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nicht mehr zur Verfügung standen, wurden neue Mitglieder bestimmt. Insgesamt ist jedoch eine Konstanz zu vorkonstitutionellen Zeiten zu konstatieren.340 Somit bleibt für Michoacán zumindest für die unmittelbar-praktische Ebene ein geringer, weitgehend auf die Hauptstadt reduzierter Einfluss der gaditanischen Verfassung in ihrer ersten Wirkungsperiode festzuhalten.341 Wie bei den Verfassungsverhandlungen von 1824 und 1825 zu sehen, war das gaditanische Verfassungsdenken dann trotzdem fest bei den Abgeordneten verankert. Viele hier als Neuerungen erscheinende Elemente galten dann als selbstverständlich.
e.
Der Zusammenbruch der hispanischen Verfassungsordnung: Bürgerkrieg und Kommunalisierung in Michoacán (1810-1821)
Es mag ungewöhnlich erscheinen, kriegerische Auseinandersetzungen in einer Arbeit über Verfassung und Verfassungskulturen zu behandeln. Für Michoacán im betrachteten Zeitraum ist eine solche Kontextualisierung jedoch meiner Ansicht nach unerlässlich: Michoacán war von 1810 an über ein Jahrzehnt lang zentraler Schauplatz eines Krieges, der schließlich mit der Erklärung der Unabhängigkeit 1821 endete. Die Untersuchung dieses Konfliktes lohnt sich nicht nur, da er stark in die Zeit der Unabhängigkeit und damit in die Zeit der unten zu untersuchenden ersten genuin mexikanischen konstitutionellen Bewegung hineinwirkte. Vielmehr lässt sich der Konflikt selbst zu einem guten Teil als Auseinandersetzung um eine repräsentative Vertretung und um eine sie regelnde Verfassungsordnung betrachten. Durch das Legitimitätsvakuum nach 1808 brachen nicht nur bei den Verhandlungen in Cádiz latent vorhandene, sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuspitzende Konflikte aus. Diese Konflikte wurden auf unterschiedlichen Schauplätzen und eben auch im Bürgerkrieg ausgetragen. Auch hier äußern sich die Verfassungskultur aktivierende, aber auch sie modifizierende Elemente. Der latente Gegensatz zwischen Madrid und den überseeischen Reichen, mit Neu-Spanien als besonders gewichtigem Beispiel, bestand, wie gesehen, nicht zuletzt in unterschiedlichen Ansichten darüber, wer für wen Entscheidungen fällen durfte, beziehungsweise wer die Interessen für wen vertreten konnte. Dieses Konfliktmuster hatte in ähnlicher Weise zuvor schon sowohl zwischen London und den späteren USA als auch zwischen Paris und dem späteren Haiti Unabhängigkeitsprozesse ausgelöst. Obwohl die europäische Seite im Falle der hispanischen 340 Vgl. Mendoza Biones / Terán: Fin, S. 290. 341 Vgl. zur Umsetzung mit einem feierlichen Umzug, Wahlen etc. bspw. in der Region Huasteca (San Luis Potosí): Ohmstede: Ayuntamientos, S. 149-153.
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Monarchie weitergehende Zugeständnisse gemacht hatte, scheiterte das Lösungsangebot der Cortes mit dem Versuch, eine neue hispanische Verfassungsordnung zu etablieren, in Spanisch-Amerika mit den Unabhängigkeitserklärungen, beginnend in Südamerika. Die Eliten Neu-Spaniens erklärten ihr Vizekönigreich erst ein Jahrzehnt später, 1821, für unabhängig. Die Betonung des elitären Charakters der Unabhängigkeitserklärung ergibt sich aus den beiden zentralen Motiven: Zum einen konnte die neue Ordnung von Cádiz wegen ihrer starken Orientierung auf das europäische Zentrum hin das langfristig in den Eliten entwickelte Krisenbewusstsein nicht lösen. Die Abhängigkeit von an anderen Stellen getroffenen Entscheidungen, die die eigenen Forderungen oftmals nicht berücksichtigten, trug, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, zur Verschärfung des Krisenbewusstseins bei. Die oben benannten Forderungen nach der Föderalisierung der Monarchie, welche auch nach 1820 wieder auftauchten, unterstreichen dies auf politischer Ebene. Die zweite zentrale, kurzfristige Ursache für die Unabhängigkeitserklärung stellen die Bürgerkriegserfahrungen der Eliten dar, die hier nachfolgend zu behandeln sein werden: Weder Cádiz noch dem restituierten Antiguo régimen war es gelungen, eine weitgehend als legitim anerkannte Ordnung durchzusetzen, sie schafften es beide mithin nicht, den Bürgerkrieg zu beenden. Die Eliten sahen sich somit der akuten und latenten Bedrohung ausgesetzt, die das Auseinanderbrechen einer überlokalen Ordnung für sie bedeutete: Die Multi-plizierung der überlokal wahrzunehmenden Akteure und die damit einhergehenden Kommunalisierungstendenzen gefährdeten ihren Ordnungsanspruch. Michoacán war von diesen Auseinandersetzungen in besonders starkem Maße betroffen. Im folgenden Kapitel sollen einerseits die Diversifizierung der Akteursebene und andererseits der Zusammenbruch einer überlokalen Ordnung aus der regionalen Perspektive Michoacáns beleuchtet werden. Die vorliegende Arbeit verwendet zur Charakterisierung der Auseinandersetzungen in Neu-Spanien zwischen 1810 und 1821 bewusst den Begriff „Bürgerkrieg“342 und nicht die ebenso gebräuchlichen Termini „(bürgerliche) Revolution“ oder „Unabhängigkeitskrieg“: 343 Diese Begriffe könnten fälschlicherweise suggerieren, dass die Beteiligten initial und in erster Linie auf die Revolutionierung des gesellschaftlichen und politischen Systems und/oder auf die Un342 Mit dem Begriff „Bürgerkrieg“ soll allerdings nicht unterstellt werden, dass es sich bei allen Akteuren um „Bürger“ handelte. Er wird trotzdem verwandt, da er sich im Deutschen wie das spanische „guerra civil“ als Bezeichung gesellschaftsinterner, kriegerischer Auseinandersetzungen durchgesetzt hat. 343 Vgl. bspw. die Gleichsetzung von Unabhängigkeitskrieg und bürgerlich-liberaler Revolution bei Soberanes Fernández: Introducción, v.a. S. 12 oder den Hinweis auf die Annahme, dass es sich von Beginn an um Unabhängigkeitskämpfe handelte bei Rodríguez: Independence, S. 107.
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abhängigkeit abzielten. Die große Mehrzahl der Akteure kämpfte zunächst vielmehr untereinander um bessere Möglichkeiten der Interessensvertretung innerhalb der alten politischen Ordnung mit Ferdinand als weitgehend unhinterfragtem Monarchen. Den Auslöser für die Kriege sowohl in Europa als auch in Amerika bildete der Wunsch, von französischer Besetzung frei zu werden beziehungsweise zu bleiben. Im Laufe der Auseinandersetzungen stellten (zumindest partiell als liberal zu bezeichnende) Konstitutionalisierungsversuche dann zwar einen Aspekt der Konflikte dar, aber eben nicht initial oder primär. Am Ende stand zwar die Konstitutionalisierung des unabhängigen Staates Mexiko (1821 bis 1824), ein Ergebnis, das sich zwar durchaus als liberal und auch als revolutionär beschreiben lässt, aber eben nicht der Prozess dorthin.344
Die Diversifizierung der Akteursebene und Institutionalisierungsversuche der Aufständischen Der Bürgerkrieg begann am 16. September 1810 mit dem Grito de Dolores, dem Schrei von Dolores, einer Gemeinde in Guanajuato. Miguel Hidalgo y Costilla, der örtliche Gemeindepriester und ehemalige Rektor des Colegio de San Nicolás in Valladolid, hatte mit diesem Aufruf die kurz vor dem Scheitern stehende Verschwörung in Queretáro in die Öffentlichkeit getragen. Ähnlich wie die Verschwörung von Valladolid im Jahr zuvor hatte diese nach Befürchtungen über den Verlust der europäischen Säule der Monarchie als Teil eines überregionalen Netzwerkes und ähnlich wie der Stadtrat von Mexiko-Stadt 1808 versucht, die Legitimationskrise im Namen des festgesetzten Ferdinands zu lösen. Nachdem aber die Etablierung einer eigenen Interessenvertretung zum dritten Mal zu scheitern drohte, riefen die kreolischen Verschwörer einen weiteren und in dieser Konstellation neuen Akteur auf den Plan, nämlich nichtelitäre Bevölkerungsgruppen. Diese hatten bislang in der Krise keine eigenständige, die Gesamtebene beeinflussende Rolle gespielt. Mit diesem neuen Akteur versuchten sich in den folgenden Jahren beide Bürgerkriegsparteien mit unterschiedlichem Erfolg zu verbinden, sei es unmittelbar über Netzwerke, sei es mittelbar über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung mit Flugschriften, Zeitungen, Aushängen et cetera, oder mit werbenden Entscheidungen, wie der Abschaffung der Tribute, der Sklaverei, der Kastenbezeichnungen oder mit
344 Vgl. zum jeweiligen Forschungsstand die folgenden Ausführungen. Besonders gut nachvollziehen lässt sich diese Debatte in: Kinsbruner: Independence; vgl. auch: Mücke: Aufklärung, S. 24ff.
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Amnestieangeboten. Wie in den Auseinandersetzungen gegen die Franzosen führten auch hier beide Seiten einen „Krieg der Worte“.345 Die Gefolgschaft Hidalgos wuchs nach dem Grito de Dolores beim Zug durch das Bajío rasch an. Als Banner führte Hidalgo die Jungfrau von Guadalupe mit folgender Aufschrift mit sich: „Es lebe die Religion! Es lebe unsere heiligste Mutter von Guadalupe! Es lebe Ferdinand VII.! Es lebe Amerika und es sterbe die schlechte Verwaltung [Mal gobierno]“ 346 . Damit setzte er, wie zuvor die Verschwörer, auf den Erhalt der als legitim anerkannten Ordnung, symbolisiert durch Ferdinand und die Jungfrau von Guadalupe als Emblem eines wahren, genuin neu-spanischen Katholizismus. 347 Amerika sollte als Säule der Monarchie erhalten bleiben, die Stoßrichtung richtete sich immer mehr gegen die als „denaturalisiert“ geltenden und von Frankreich beeinflussten EuropaSpanier, verächtlich als Gachupines bezeichnet. Die mit diesen verbundene schlechte Verwaltung sollte beseitigt werden. Hinter der genannten und weitverbreiteten Argumentationslinie sammelte sich eine Vielzahl von Akteuren mit einer Vielzahl lokal und wenig ideologisch geprägter Interessenlagen. 348 So setzte sich die Gefolgschaft zum einen aus vielen, durch die „agrarian transformation“349 des Bajío und die regionalen Krisen der Textil- sowie Minenwirtschaft verarmten Unterschichten, akut verstärkt durch die Hungerkrisen seit 1808, zusammen. Als deren lokale Anführer fungierten häufig „frustrated, marginal elites“ 350 . Diese Eliten sahen sich insbesondere durch die (europa-) spanische koloniale Politik von weiteren Aufstiegschancen und der Vertretung der eigenen Interessen ausgeschlossen und forderten mehr Entscheidungskompetenzen. Entsprechend der Zusammensetzung nahm das schnell auf circa 40.000 Personen angewachsene Heer am 28. September zunächst den symbolisch wichtigen Getreidespeicher (Alhóndiga) in Guanajuato ein, danach steuerte es 345 Vgl. hierzu neben den oben zitierten Seiten aus Guerra: Modernidad insbesondere die Untersuchung der Presse der Aufständischen: Miquel i Vergés: Independencia. 346 Decreto de excomunión de los insurgentes dado por el obispo Abad y Queipo (11.10.1810), abgedruckt in: Torre Villar: Independencia, S. 380-388, hier S. 382. 347 Vgl. zur Guadalupe und deren Weg zum Nationalsymbol: Poole: Lady. 348 Vgl. Hamnett: Roots. Vgl. zur Motivlage u.a.: Guerra: Modernidad, S. 56-66 u. 185-190; Anna: Mexico (1998), S. 73f.; Schmidt: Guerrillero, S. 181 u. 183. Nach Peter Guardino existierte ein großes Bündel von Gründen, neben der Frage der Legitimität der Herrschaft standen dabei insbesondere lokale sozio-ökonomische Ursachen im Vordergrund; Guardino: Peasants, S. 78-80. Eric van Young plädiert ebenso für einen multikausalen Ansatz und betrachtet insbesondere kulturelle Ursachen; vgl. Young: Rebellion. 349 Tutino: Insurrection, S. 131. 350 Tutino: Insurrection, S. 132. Vgl. zur wirtschaftlichen Entwicklung des Bajío und zu dessen Eliten: Tutino: Insurrection, S. 41-137; zum Aufstand Hidalgos: Hamill: Hidalgo.
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unter Anschluss vieler Pueblos auf dem Weg durch Nordmichoacán auf Valladolid zu. Die Aufständischen hatten in diese, auf dem Weg liegende Ortschaften meist Kommissionäre vorgeschickt, die die lokalen Netzwerke nutzten, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Die Netzwerke basierten teils auf längerfristigen Verbindungen, teils aus der Zeit der Aufstände von 1766/67 beziehungsweise der Verschwörung von 1809. Gleichzeitig versuchten die Aufständischen durch Dekrete, die auf Klagen der Pueblos eingingen, diese im Krieg der Worte zu gewinnen.351 Die Diversifikation der überlokalen Akteure und der damit eng verbundene Bedeutungsgewinn des öffentlichen Raums weitete sich so auf weitere Gebiete aus und spaltete die Bevölkerung. Die allgemein anerkannte überlokale Ordnung begann zu zerbrechen. Die Hungerkrisen seit 1808 beförderten ihr Anliegen, viele Menschen hatte es aus Nordmichoacán nach Valladolid getrieben. Die Verwaltung der Stadt lag weitgehend in den Händen des Stadtrates, da sich der interimistische Intendant Terán kaum eigenständig behaupten konnte.352 Als in Valladolid am 20. September der Beginn des Aufstandes bekannt wurde, reagierte die Elite gespalten. Zunächst versuchte das Ayuntamiento auf Sondersitzungen, teils zusammen mit den Mitgliedern des Domkapitels und der Militärführung sowie mit der finanziellen Unterstützung der Händler und der Kirche, militärische Sondertruppen aufzustellen. 353 Der gewählte, aber noch nicht geweihte neue Bischof Abad y Queipo verurteilte den Aufstand und ließ Hidalgo, mit dem er einige Jahre zuvor noch gemeinsam an den Diskussionsrunden von Riaño in Guanajuato teilgenommen hatte, und alle, die ihn unterstützen, am 24. September exkommunizieren. Er verglich die Geschehnisse seit dem 16. September mit der Französischen Revolution, rief die dortigen anarchistischen und zerstörerischen Verhältnisse als Drohpotential wach und die gläubigen Katholiken zu Gehorsam und öffentlicher Ruhe auf.354 Das Dekret sollte in allen Gemeinden veröffentlicht werden. Die Exkommunikation ist insofern bezeichnend, als dass sie anzeigt, dass der Krieg der Worte nicht zuletzt auf dem religiösen Feld geführt wurde: Auch in der Folgezeit brachten Geistliche die Aufständischen immer wieder mit der anti-katholischen „falschen
351 Vgl. ausführlicher die Untersuchung bei: Terán: Gobierno, S. 383-421. 352 Vgl. die Sitzungen des Stadtrats inbesondere seit Anfang 1809, auf denen das Thema der Versorgung der Stadt mit Mais, Fleisch etc. eine herausragende Rolle spielte; vgl. entsprechende Protokolle, in: AHAM, Libro de Actas 1808/09, s.f. 353 Vgl. die täglichen Sitzungen vom 20. bis 24.09. bzw. vom 04.10.1810, in: AHAM, Libro de Actas 1810, s.f. 354 Vgl. Decreto de excomunión de los insurgentes dado por el obispo Abad y Queipo (24.09.1810), abgedruckt in: Torre Villar (Hg.): Independencia, S. 380-388. Vgl. Herrejón Peredo: México, S. 130; Alamán: Historia, Bd. 1, S. 121.
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Philosophie“ und mit Luther als Inbegriff des Bösen in Verbindung,355 während Guadalupe zum Symbol des Aufstandes wurde und auch die Spanientreuen als Atheisten und Materialisten bezeichnet wurden.356 Als der Zug gen Valladolid scheinbar nicht mehr aufzuhalten war, floh der Großteil der Elite wie Alonso de Terán, Abad y Queipo und als Anführer einer Dragonerbrigade Agustín de Iturbide, während Mariano de Escadón y Llera, Graf der Sierra Gorda, als neuer Administrator des Bistums blieb und sich später gezwungen sah, die Exkommunikation gegen Hidalgo aufzuheben. Ihm wurden deswegen im Nachhinein Sympathien mit den Aufständischen vorgehalten, ähnlich wie anderen, zum Beispiel den Stadtratsmitgliedern José María Anzorena und Isidro Huarte junior, die auf einer eigens einberufenen Versammlung beschlossen, die Stadt kampflos zu übergeben. Am 17. Oktober betrat Hidalgo seinen ehemaligen Wohnort, auf der Straße „mit dem gleichen Enthusiasmus wie an den anderen Orten empfangen“357, während sich die noch verbliebene Elite zunächst verhalten zurückhielt: Der Cabildo beispielsweise hatte entgegen der Konvention die Türen der Kathedrale nicht geöffnet, was er später als Zeichen der Loyalität gegenüber der Krone gedeutet haben wollte.358 Schließlich übergab Escadón y Llera die Kathedrale, und Hidalgo besetzte Verwaltungsstellen neu, beispielsweise die Intendanz mit Anzorena und einige Subdelegaciones in den von Aufständischen besetzten Gebieten, jeweils mit Personen kreolischen Ursprungs. Nach kurzen Plünderungen der Aufständischen wurden einige Europa-Spanier festgenommen und deren Güter konfisziert. Anzorena erklärte am 19. Oktober öffentlich das Ende der Sklaverei und die Abschaffung des Tributes.359 Am 20. Oktober brach Hidalgo gen Mexiko-Stadt auf, wieder mit der Unterstützung einiger auf dem Weg liegender Pueblos.360 Er kehrte allerdings schon am 10. November zurück, nachdem er kurz vor der Hauptstadt in Las Cruces und später in Aculco entscheidend von den mittlerweile sich formierenden royalistischen Verbänden unter Félix María Calleja geschlagen worden war. Während seines zweiten, einwöchigen Aufenthalts in Valladolid äußerte sich die Aversion gegen die Gachupines besonders deutlich, als er mehr als hundert 355 Vgl. Schmidt: Rabe, S. 147-157; zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch den Klerus und die zentrale Rolle der Predigt: Schmidt: Elite, S. 98-102. 356 Vgl. Guerra: Modernidad, S. 304. 357 Memoria del último de los primeros soldados de la independencia, Pedro José Soleto, in: HyD, II, Nr. 178, S. 320-330, hier S. 326. 358 Vgl. Manifiesto del ayuntamiento de Valladold, hoy Morelia. – Julio 20, in: HyD, V, Nr. 41, S. 87. 359 Vgl. Guzmán Pérez: Miguel, S. 109-154; Mendoza Biones / Terán: Levantamiento, S. 256-259; Terán: Gobierno, S. 402-407. 360 Terán: Gobierno, S. 401.
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festgenommene Europa-Spanier enthaupten ließ, unter ihnen den auf der Flucht gefassten Alonso de Terán. Nach seinem erneuten Aufbruch, diesmal gen Guadalajara, wo er am 5./6. November die Rückgabe der indigenen Ländereien und das Ende der Sklaverei dekretierte,361 bereitete sich Valladolid auf den Angriff der Royalisten vor. Am 26. Dezember wurden nach einigen Übergriffen drei Europa-Spanier ermordet. Diesen Tag beschreibt eine spätere Predigt als „höllische Furie“, ausgelöst durch „ein schon denaturalisiertes und von der unmenschlichsten Raserei besetztes Volk“362. Am 29. Dezember übernahmen die königlichen Truppen die Stadt, wo der Kommandant José de la Cruz nach eigener Aussage von „ihren verräterischen Einwohnern“ mit Glockengeläut und vom Cabildo mit offenen Türen der Kathedrale empfangen wurde. Er stellte fest, dass mehr als zwei Drittel der Einwohner fehlten, zudem befänden sich „alle Bereiche der Verwaltung in der vollkommensten Anarchie“. 363 Am 3. Januar beschrieb er die Situation folgendermaßen: „Alles ist verrenkt [dislocado], und das schlimmste ist, dass die öffentliche Meinung so rebellisch ist wie sie am heutigen Tag wohl in Guadalajara ist“. Diese Stimmung, die er auch in anderen Teilen Michoacáns ausmachte, führte er auf die von vielen unter Hidalgo genossenen Vorteile und auf die fehlende royalistische Militärpräsenz zurück. 364 Während Hidalgo mit der Einnahme Guadalajaras einen seiner letzten Triumphe feiern konnte, zerfiel nach einer weiteren Niederlage am 17. Januar 1811 bei Puente de Calderón der Zusammenhalt seiner Anhänger zunehmend. Hidalgo floh mit seinen Anführern Ignacio Allende, Juan de Aldama sowie Mariano Abasolo, wurde aber schließlich in Coahuila festgenommen und am 30. Juli 1811 hingerichtet. Doch auch in der Folgezeit blieb Michoacán zentraler Schauplatz der Auseinandersetzungen, wobei sich der Aufstand auf regional unterschiedliche Führer verteilte. Nancy Farriss und William Taylor wiesen auf die Wichtigkeit einer besonderen Akteursgruppe hin, nämlich auf den entfremdeten und vom weiteren Aufstieg ausgeschlossenen Niederklerus, der häufig als lokale Führungsschicht fungierte. Michoacán kann diesbezüglich als Beispiel par excellence gelten: Die Diözese Michoacán stellte insgesamt 34 der 111 zuorden361 Vgl. die Dekrete bei Torre Villar: Independencia, S. 394-396. 362 Sermon predicado con termino de tres dias el 3 de enero de 1811 por el americano Dr. D. Josef Maria Zenon y Mexia ..., in: LAF 608/1, S. 1-20, hier S. 14f. 363 Weiter führte de la Cruz in dem Schreiben an den Vizekönig aus, dass er im selben Raum des Bischofspalastes wie Hidalgo untergebracht wurde, wobei jenem mehr Aufmerksamkeit entgegebracht worden sei. So schließt er: „diese Leute sind die ruchlosesten des gesamten Reiches“. Bei der Freilassung von 170 in Konventen festgehaltenen „Europeos“ wurde er als Befreier gefeiert; vgl. AGN, Infidencias, v. 134, s./exp. 364 AGN, Historia de Operaciones de Guerra, v. 4a, exp. 3, fs. 32-34v., Zitat f. 32v. Vgl. allgemein Guzmán Pérez: Miguel, S. 158-180.
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baren, aufständischen Geistlichen, Hidalgo und Morelos sind nur herausragende Beispiele.365 Der Niederklerus konnte über die traditionell starke Stellung der Kirche in der Gesellschaft Michoacáns und im Zusammenspiel mit weiteren entfremdeten Führungsgruppen aus der militärischen und zivilen Verwaltung über eine funktionierende regionale Netzwerkstruktur für das Projekt der aufständischen Elite günstige Voraussetzungen schaffen. 366 Diese Netzwerkstruktur lässt sich an einigen der Anführer ablesen. Ignacio López Rayón, ein aus Tlalpujahua im Osten Michoacáns stammender Rechtsgelehrter, war ein enger Vertrauter Hidalgos und beanspruchte in der von ihm mit José María Liceaga und José Sixto Berduzco367 am 21. August 1811 im Namen Ferdinands VII. gebildeten Junta suprema nacional americana die Führerschaft. Diese „amerikanische National“-Regierung etablierte sich in Zitácuaro, das ebenfalls im östlichen Michoacán lag und schon vorher wegen örtlicher Unterstützung, den Silberbergwerken sowie der strategischen Lage von großer Bedeutung für den Aufstand war. 368 Dort versuchte die Junta neben der Koordinierung der militärischen Einheiten die Institutionalisierung eines Regierungsapparates mit Ansätzen einer Gewaltenteilung bis hin zur Errichtung einer „Art von Obersten Gerichtshof“ 369 ebenso wie die Aufteilung des besetzten Gebietes in Verwaltungsbezirke, mit der Eintreibung eigener Steuern, Münzprägung und der Etablierung eines Zeitungswesens. Die Junta erhielt zwar in der Anfangszeit Unterstützung einiger Militärs, büßte allerdings vor allem nach der Vertreibung aus Zitácuaro am 2. Januar 1812 durch Calleja an Autorität ein. 365 Es wäre allerdings kritisch zu hinterfragen, ob man die Partizipation von Geistlichen in Führungspositionen „als Ausdruck einer gewissen aufgeklärten, ja liberalen Grundhaltung des lateinamerikanischen Klerus“ werten kann, wie es die Historiographie häufig tut. Dies bleibt angesichts der zitierten, katholischen und anti-individualistischen Äußerungen zumindest fraglich. Vgl. hierzu: Schmidt: Rabe, insb. S. 146-156, Zitat S. 146f. 366 Nach Taylor standen ca. 40% der aufständischen Priester mit Morelos im Kontakt, was den Netzwerkcharakter unterstreicht; vgl. zu den Priestern auf Seiten der Aufständischen im Überblick: Taylor: Magistrates, S. 453-457 u. 463-472; Farriss: Clergy, S. 237253. Zum Netzwerkcharakter vgl. auch die Studien für den zukünftigen Nachbarstaat Guerrero, für die Tierra caliente bzw. im Osten von Michoacán von: Guardino: Peasants; Miranda Arrieta: Participación, S. 403-417 bzw. Guzmán Pérez: Defensa. Dass solche Netzwerke nicht immer Erfolg hatten, zeigt der gescheiterte Staatsbildungsprozess der Huesteca; vgl. neben Escobar Ohmstede: Costa auch: Escobar Ohmstede: Pos. 367 Rayón studierte am Seminario Tridentino und am Colegio de San Nicolás. Liceaga kam aus einer reichen Familie in Guanajuato und schloss sich frühzeitig Hidalgo an; Berduzco stammte aus Zamora und war unter Hidalgo Schüler des Colegio de San Nicolás, das er später ebenfalls als Direktor leitete; vgl. Bravo Ugarte: Historia, Bd. III, S. 27; Guzmán Pérez: José. 368 Vgl. Guzmán Pérez: Defensa. 369 Guzmán Pérez: Junta, S. 171.
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Mitte Juni des gleichen Jahres trennten sich die drei Mitglieder der Junta, und unter Hinzunahme von José María Morelos teilte man vier Einflusssphären auf. Morelos, gebürtig in Valladolid, war dort Schüler Hidalgos gewesen und später Pfarrer in der Tierra caliente Michoacáns. Er hatte sich ab Oktober 1810 im Auftrag Hidalgos von dort ausgehend unter anderem mit Dekreten zur Abschaffung der Cajas de comunidad, der Tribute, der Zwangsverpachtungen und von Kastenbezeichnungen 370 und mit dem Knüpfen von Netzwerken, unter anderem mit den reichen und einflussreichen Familien Galeana und Bravo371 ein immer größer werdendes Heer geschaffen. Mit diesem hatte er insbesondere in den südlichen Gebieten Oaxacas, Mexikos, Pueblas und Veracruz’ militärische Erfolge erlangt.372 Verduzco, der den westlichen Teil – also in etwa Michoacán, Colima und Jalisco – erhielt, versuchte Anfang 1813 vergeblich Valladolid, neben Zamora letzte größere royalistische Bastion in Michoacán, einzunehmen. Ähnlich wenig militärischen Erfolg hatten Rayón im Osten, mit Zentrum in seiner Heimatstadt Tlalpujahua, und Liceaga im Norden, der bei Celaya Anfang 1813 eine größere Niederlage gegen Iturbide erlitt. Morelos errang als einzig militärisch erfolgreiches Mitglied in zunehmender Rivalität zu Rayón die Gefolgschaft von immer mehr lokalen Führern. Gleichzeitig setzte er sich von dessen Ferdinand freundlichen Äußerungen ab, womit er eine Ausnahme darstellte.373 Eine neuere Untersuchung hinterfragt die Deutung, dass die Anführer des Aufstandes Ferdinand lediglich als „Maske“ benutzten, um die Bevölkerung an sich zu binden. Demnach kämpften sie nicht nur scheinbar, zur Gewinnung populärer Unterstützung, sondern tatsächlich für den als legitim anerkannten Monarchen. 374 Von seinen Erfolgen getragen, unternahm Morelos einen weiteren Institutionalisierungsversuch, indem er am 28. Juni 1813 Wahlen zu einem Kongress in Chilpancingo ausrufen ließ. Dieser übernahm als Nachfolger der Junta deren Amtsgeschäfte ab dem 14. September.375 Auch wenn von den acht Mitglieder nur zwei gewählt wurden – die anderen sechs vertraten als militärische Führer qua Amt ihre Provinzen –, lässt 370 371 372 373
Terán: Gobierno, S. 424f. Hamnett: Insurrection, S. 142-149. Vgl. u.a. Miranda Arrieta: Participación, S. 405f. Vgl. bspw. das Schreiben der Junta von Zitácuaro am 4. September 1811 an Morelos: Sie begründete die Anrufung Ferdinands damit, dass sonst von den „tropas de los Europeos“ keiner überlaufen würde, sondern im Gegenteil, dass aus „unbegründeter Angst, gegen den König zu gehen“, eigene Anhänger verloren gingen: „wir machen tatsächlich keinen Krieg gegen den König“; La Junta de Zitácuaro hace explicaciones al Sr. Morelos sobre el motivo por el que aun se proclama a Fernando VII., in: HyD, I, Nr. 284, S. 874. 374 Vgl. Landavazo: Máscara. 375 Zur Junta von Zitácuaro vgl. insg. Guzmán Pérez: Junta.
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sich auch hier das Streben nach Repräsentation erkennen.376 In dieser Zeit trat außerdem, allerdings nur für ein paar Monate, der Oberste Gerichtshof der Aufständischen in Funktion, besetzt mit drei, aus Michoacán stammenden und am Seminario Tridentino ausgebildeten Richtern: José María Ponce de León, Antonio de Castro und Mariano Tercero. 377 Virginea Guedea berichtet von einigen wenigen Wahlen in Michoacán, bei denen jeweils die lokale Elite einen aus ihrem Kreis zum Wahlmann bestimmte.378 Morelos blieb, ausgestattet mit dem Ehrentitel Generalísimo, die bestimmende Figur. Am 6. November 1813 erließ der Kongress ohne größeren Widerhall die Unabhängigkeitserklärung Mexikos. In der Folgezeit musste der Kongress vor den weiter vorrückenden Royalisten fliehen, ab März 1813 wechselte er allein innerhalb der Tierra caliente von Michoacán sechsmal den Standort, bis er am 22. Oktober 1814 das Decreto constitucional, die so genannte Verfassung von Apatzingán erlassen konnte. Diese orientierte sich in weiten Zügen an den Verfassungen von Cádiz und an der französischen von 1791, schaffte aber in einem unabhängigen Staat die Monarchie und die ethnische Einteilung der Bevölkerung ab. Noch stärker als Cádiz stellte Apatzingán die Präponderanz des Parlamentes in den Vordergrund, Anna Macías spricht von einer „allmächtigen Legislatur“ 379 , Alfredo Ávila davon, dass eine Gewaltenteilung nicht stattgefunden hat, vielmehr die Exekutive, als Triumvirat konzipiert, und die Judikative von der Legislative abhängig waren. Er begründet dies mit einem republikanischen Misstrauen gegenüber der Macht.380 Macías folgert aus diesem Misstrauen, konkret insbesondere gegenüber der militärischen Führung, einen lediglich negativen Einfluss von Morelos auf die Verfassungsgeber. 381 Der Verfassung gingen unter anderem Entwürfe von Rayón („Elementos de nuestra constitución“) 382 und von Morelos, („Sentimientos de la nación“), voraus. In letzterem wird deutlich, dass Morelos die Grundrechte Freiheit und Gleichheit zwar theoretisch einführen wollte. Gleichzeitig blieb jedoch die Einordnung 376 Neben den Mitgliedern der Junta – Rayón für Guadalajara, Verduzco (Michoacán) und Liceaga (Guanajuato) – wurden als Stellvertreter Carlos María de Bustamente für México, José María Cos (Veracruz) und Andrés Quintana (Yucatán) bestimmt, José María Murguía (Oaxaca) und José Manuel Herrera für die neue Provinz Tecpán gewählt. Vgl. zu den Wahlen bei den Aufständischen: Guedea: Procesos, v.a. S. 214-222; Ducey: Elecciones, S. 182f. 377 Vgl. Juárez Nieto: Insurgentes, S. 39f. 378 Vgl. Guedea: Procesos, S. 225-232. 379 Macías: Autores, S. 511. 380 Vgl. Ávila: Pensamiento, S. 321f. u. 342; vgl. zur Verfassung und ihren Grundlagen auch: Macías: Génesis, v.a. S. 118-151. 381 Vgl. Macías: Autores. 382 Vgl. Torre Villar: Apatzingán, S. 423-429.
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jedes Einzelnen in eine Hierarchie wesentlicher Baustein der sozialen Ordnung, insbesondere die Kirche und die Regierenden hatten Verantwortung für alle zu übernehmen. Anders als in der Frühphase setzten die Revolutionäre somit nicht mehr auf tiefgreifende Gesellschaftsreformen. 383 Nach Jorge Sayeg Helú verankerten die Autoren der Verfassung erstmalig in Hispano-Amerika einen Menschenrechtskatalog, nach ihm Ausdruck eines starken liberalen Individualismus. 384 Eine größere Wirksamkeit entfaltete dieses Grundgesetz jedoch nicht, bei den Verfassungsvätern und Parlamentariern Michoacáns der 1820er und 30er Jahre war es kaum der Rede wert. Sowohl der Kongress als auch Rayón und Morelos versuchten über die Schaffung von Regierungsorganen und Gesetzen, den zuvor sehr disparaten Aufstandsbewegungen eine institutionelle Form zu geben und sie so unter dem Ziel der Autonomie beziehungsweise weitergehend der Unabhängigkeit zu einen. Nicht zuletzt damit gewannen sie auch Unterstützung aus städtischen Mittel- und Oberschichten: Anwälte, Angestellte und andere Unzufriedene schlossen sich an. Chowning hat herausgearbeitet, dass circa jeder dritte „wealthy household“ 385 Michoacáns Familienmitglieder besaß, die nach 1810 zumindest zeitweise mit den Rebellen sympathisierten. Sie konnten insbesondere dann Rückhalt bei den urbanen Eliten gewinnen, wenn ihnen wie unter Rayón und Morelos eine gewisse Institutionalisierung und somit eine Ordnungsbehauptung gelang. 386 Eine Verschwörung angesehener Einwohner Valladolids, insbesondere aus Kirchenkreisen, von 1813 mag dies exemplarisch verdeutlichen. 387 Für Neu-Spanien beispielhaft lässt sich hierfür das besser untersuchte Netzwerk beziehungsweise die Geheimgesellschaft der Guadalupes in Mexiko-Stadt anführen, die die Aufständischen unter anderem mit Geld, Personal, Waffen, Informationen und einer Druckerpresse versorgten. 388 José María Cos und Andrés Quintana Roo führten 1812 diese Presse nach Michoacán ein, um dort zwischen Juli 1812 und Januar 1813 drei Zeitungen (Semanario patriótico americano, Ilustrador nacional und Ilustrador americano) herauszugeben. Mit der Führung der Aufständischen durch die Region wandernd blieb 383 Vgl. Torre Villar: Apatzingán; Torre Villar: Decreto; Taylor: Magistrates, S. 470-472. 384 Vgl. auch: Sayeg Helú: Constitucionalismo, v.a. S. 124-127. Gleichzeitig führt er dort aus, dass in Apatzingán der „Socio-liberalismo“ von Morelos nicht zum tragen kam; vgl. auch Sayeg Helú: Constitucionalismo, S. 95-106. 385 Chowning: Wealth, S. 99. 386 Vgl. auch: Guedea: Process, S. 122f. u. 126-128. Vgl. zur Institutionalisierung Kapitel F. 387 Vgl. Chowning: Wealth, S. 109f.; Juárez Nieto: Martín, S. 47; zu weiteren Verschwörungen: Guedea: Conspiracies. 388 Vgl. hierzu: Guedea: Busca; Rodríguez: Revolutions, S. 170f. Über Verbindungen der Elite Valladolids oder anderer Städte Michoacáns zu den Aufständischen liegt bislang keine ausführliche Studie vor.
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sie vermutlich bis 1815 als „Presse der Nation“ in Michoacán. Eine weitere Presse existierte wohl 1816 und 1817 in Jaujilla, auf der ebenso einige Ausgaben einer Zeitung gedruckt wurden, über die wiederum in erster Linie die Anweisungen und einige doktrinäre Texte publiziert wurden. Über Auflagen und Verbreitung ist jeweils nichts bekannt.389 Nachdem Ferdinand VII. im Mai 1814 aus Frankreich züruckgekehrt war, war den Aufständischen in den Augen vieler die Legitimation und somit die Basis entzogen. Ein Jahr später wurde Morelos gefangen genommen und am 22. Dezember 1815 in Mexiko-Stadt hingerichtet. Spätestens nach der Festnahme Morelos’ spalteten sich die Verbände der Aufständischen immer weiter auf und verlagerten sich zunehmend auf Guerrilla-Kriegführung mit kleinen Banden, die immer wieder versuchten, die royalistischen Stellungen in den städtischen Zentren des Nordens der Intendanz zu schwächen. Für städtische Sympathisanten waren diese Bewegungen nicht mehr attraktiv.390 Der Anteil der „relatively firm and sometimes quite active supporters of the crown“391, nach der zitierten Auswertung von Chowning bislang etwa ein Drittel der Eliten, wuchs insbesondere im stark mit Valladolid vernetzten Norden Michoacáns. Von den sich ebenfalls ausbreitenden Banditengruppen, die die Verbindung zwischen den Städten und Subregionen weiter schwächten, ließen die Aufständischen sich oft ebensowenig unterscheiden wie von den Bewohnern der von ihnen gehaltenen Gebiete.392 Ihre bis 1820 nicht von den Royalisten einnehmbaren Bastionen besaßen sie in der Tierra caliente und im Küstengebiet Michoacáns, also in denjenigen Regionen, die kaum wirtschaftliche Interessen mit Spanien beziehungsweise auch wenig mit dem relativ spanien-treuen Mexiko-Stadt verbanden.393 Dort konnte sich der weitgehend unabhängig agierende Giordano Guzmán auch über den Unabhängigkeitskrieg hinaus fest389 390 391 392
Vgl. Flores: Imprenta, S. 41-44; Miquel i Vergés: Independencia; Macías: Constitución. Vgl. Rodríguez: Mexico, S. 5. Vgl. Chowning: Wealth, S. 99-107, Zitat S. 104. Vgl. beispielsweise die Gleichsetzung von Banditen und Aufständischen in einer Schlachtbeschreibung des royalistischen Oberst Juan de Dios Ortega vom 4. September 1813: Extracto de cuarenta y ocho acciones de guerra del 22 de Febrero al 18 de Setiembre de 1813, segun los partes de D. José de la Cruz, in: HyD, V, Nr. 72, S. 167175, hier S. 175. Die Zersplitterung der aufständischen Verbände verdeutlicht sich bei der Aufzählung im Vorfeld des Angriffs auf Valladolid im Dezember 1813, bei dem 31 Einheiten mit Größen zwischen 50 und 2.500 Personen unter diversen Anführern genannt werden; vgl. Fuerza armada de Morelos que vino a atacar a Valladolid, in: HyD, V, Nr. 101, S. 250. 393 Eric van Young bezeichnete, wie schon angedeutet, die Aufstände weitgehend als ländliche Bewegungen, während die Städte meist „islands in the storm“ darstellten; vgl. zusammenfassend: Young: Islands.
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setzen.394 Zudem fanden die Aufständischen bis 1816 auch in den reichen, aber schwach kontrollierten Grenzgebieten zu den Kommandaturen in Guanajuato und Guadalajara und in den Silberzentren im Westen Anlaufpunkte.395 Als militärische Kraft blieben sie somit zwar aktiv – wie Christon Archer herausgestellt hat –, als politische Kraft verloren sie jedoch nach 1815 an Bedeutung.396
Kommunalisierung und der Verlust einer überlokalen Ordnung Michoacán stellte mit dem benachbarten Guanajuato das am stärksten den Kämpfen des Bürgerkrieges ausgesetzte Gebiet des Vizekönigreiches dar. Das spiegelte sich neben den genannten Orten an den zahlreichen, aus Michoacán stammenden Anführern auf beiden Seiten wider.397 Auch bei der Anzahl der kriegerischen Zusammenstöße hat Doris Ladd mit 137 für Michoacán am meisten gezählt, Guanajuato folgte mit 133 auf Platz zwei, danach mit weit weniger Kriegshandlungen Veracruz und Puebla.398 Die Bevölkerung litt nicht nur unter Ernteausfällen 399 , Epidemien und dem Zusammenbruch der Ordnung, sondern auch unter Plünderungen, der „Politik der verbrannten Erde“ 400 . Auch musste sie die Soldaten beider Seiten immer wieder zwangsweise mit Lebensmitteln versorgen. Die von Archer festgestellte Militarisierung, Brutalisierung und Terrorisierung der Bevölkerung dürfte für Michoacán in besonderem Maße zutreffen.401 Der Historiker Gerardo Sánchez Díaz geht für Michoacán davon aus, dass circa 20.000 Frauen im Krieg ihre Männer verloren haben, was in etwa 10 Prozent der männlichen Bevölkerung entspricht.402 Der Handel und die wirtschaftlichen Aktivitäten kamen streckenweise gänzlich zum Erliegen, die ökonomischen Folgen waren trotz kontinuierlicher Erholung bis in die 1840er Jahre feststellbar.403 Valladolid besaß nach 20.000 Einwohnern vor 1810 im Jahre 1813 nur noch 3.000, 1820 schätzte der Intendant Merino die Einwohnerzahl auf 9.000 bis 10.000.404 Zwischen 1810 und 1815 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404
Vgl. Olveda: Giordiano. Vgl. Hamnett: Counterinsurgency. Vgl. Archer: Insurrection; Guedea: Process, S. 127f. Vgl. zusammenfassend Juárez Nieto: Nicolaitas. Vgl. die Auflistung bei Ladd: Nobleza, S. 204. Vgl. auch die Bände im AGN, Historia de Operaciones de Guerra, 4a, f. 580-587, die die Kriegshandlungen zusammenfassen. Vgl. Juárez Nieto: Producción. Archer: Causa, S. 92. Vgl. Archer: Peanes. Vgl. Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 8. Chowning: Management, S. 465-469. AGN, Historia, v. 405, f. 236v.
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herrschte in der Hauptstadt, die sich zwischen 1811 und 1813 fünf erfolglosen Attacken ausgeliefert sah,405 ein von Lebensmittelrationalisierungen, Geldforderungen und Konflikten mit der Militärregierung geprägter Kriegszustand. 406 Die Lage der Stadt war dermaßen prekär, dass man dort 1810 beziehungsweise 1811 das Seminario beziehungsweise das Colegio schloss und ein Großteil der Elite abwanderte, zwischenzeitlich auch der Intendant, der auf Grund des „miserable[n] Zustand[es] der Stadt“ diese in Richtung Querétaro verließ. 407 1815 verlor die Stadt zudem ihr kirchliches Oberhaupt, da Abad y Queipo zur Untersuchung seiner Beziehungen zu den Aufständischen nach Madrid gerufen wurde. Der frühere Rektor des Colegio Tridentino Manuel de la Bárcena, langjähriges Mitglied des Cabildo, übernahm als Administrator das Bistum.408 Die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln wurde zur zentralen Aufgabe des Stadtrates. Beispielsweise forderte er am 1. August 1814 Merino auf, eine „Junta der Händler, Hacendados und der übrigen Personen mit irgendeinem Besitz” einzuberufen. Anfang Dezember sprach der Rat von einer „sehr schwerwiegenden Notlage, in der sich die Stadt wegen des Fehlens von Mais befindet“409. Die Aufständischen ließen nichts in die Stadt passieren, weswegen Eskorten angefordert wurden. Die Verbindung in die vizekönigliche Hauptstadt 405 Beim letzten Eroberungsversuch am 23./24. Dezember 1813 war Morelos gescheitert. Gleichzeitig geriet Mariano Matamoros, sein engster Gehilfe, in Gefangenschaft und wurde am 3. Februar 1814 hingerichtet. 406 Vgl. hierzu unter anderem die Auseinandersetzungen des Ayuntamiento mit den örtlichen Militärs um die Zwangsversorgung der royalistischen Truppen nach deren Einmarsch Anfang 1811 in: AGN, Ayuntamientos, v. 155, s./exp. Auf einer Liste sind die zwischen dem 28. Oktober 1814 bis zum 18. April von Privatpersonen verliehenen Summen zusammengefasst: Von insgesamt knapp 95.000 Pesos entfielen dabei allein auf Isidro Huarte fast 40.000; etwa 45.000 Pesos waren bis zum Februar im Gegenwert von Zigarren zurückgezahlt worden; vgl. Historia de Operaciones de Guerra, v. 768, fs. 248248v. Eine weitere Liste zählt die Per-sonen auf, die noch im Juli 1817 vom Intendanten dazu verpflichtet wurden, wahrscheinlich je nach ihrem Vermögen, unterschiedlich hohe Summen zur Versorgung der Truppen beizutragen – wiederum stand Huarte mit täglich gut 32 Pesos zur Versorgung von 65 Soldaten an der Spitze. Eine Rückzahlung wurde (vage) in Aussicht gestellt; vgl. AGN, Historia de Operaciones de Guerra, v. 584, fs. 175-176v. 1813 wurde sogar Kirchenschmuck eingeschmolzen, um die Verteidigung zahlen zu können; vgl. Manifiesto del ayuntamiento de Valladold, hoy Morelia. – Julio 20, in: HyD, V, Nr. 41, S. 90. Für Valladolid oder andere Städte Michoacáns liegt noch keine Untersuchung des Alltagslebens im Bürgerkriegsjahrzehnt vor. Von einer Studie über San Luis Potosí ausgehend lassen sich jedoch starke Veränderungen vermuten; Bernal Ruíz: Sociedad. 407 Bravo Ugarte: Historia, Bd. III, S. 44-49 u. 52. 408 Bravo Ugarte: Historia, Bd. III, S. 35f. 409 Sitzung vom 01.08.1814, in: AHAM, Actas 1814, Libro 3, s.f. Vgl. auch Juárez Nieto: Producción, S. 75; Chowning: Wealth, S. 107-109.
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war lange Zeit unterbrochen, von Valladolid ausgehende Hilfsersuchen blieben häufig unbeantwortet, wodurch sich die Entfremdung gegenüber der Hauptstadt weiter ausprägte.410 Noch 1816 erfolgte auf Valladolid ein weiterer Angriff. Im Vergleich zu vielen anderen Regionen der Intendanz ist Valladolid allerdings noch als „Insel im Sturm“411 zu bezeichnen. Die Aufrechterhaltung beziehungsweise Reetablierung einer überlokalen Ordnung von der Hauptstadt aus schien allerdings kaum möglich: Weite Teile der Intendanz galten als nicht regierbar, viele Handelskontakte konnten, wenn überhaupt, nur durch Wegegeld aufrecht erhalten werden und ein Schutz von Reisenden außerhalb der Stadt war kaum möglich. Die vizekönigliche (Militär-)Verwaltung versuchte, oftmals vergeblich, über die Einrichtung von Patrouillen, über Wiederbesiedlungsprogramme zurückeroberter Gebiete und Amnestieversprechen die Brennpunkte des Aufstands dauerhaft zu beseitigen. 412 Einige Berichte über die Situation der Intendanz sollen das veranschaulichen. So berichtete Merino von Valladolid aus am 31. August 1812 von der NichtExistenz der Alcabala-Verwaltung, da „die Kommunikationswege dieser Stadt mit fast allen Siedlungen der Provinz weiterhin unterbrochen sind“, was zudem zur Folge habe, dass „man in naher Zukunft nichts für die Wiedererrichtung ... der Verwaltung unternehmen kann“413. Eine Beschreibung des Intendanten in Valladolid über benachbarte Ortschaften vom 9. Januar 1814 mag stellvertretend für die Wahrnehmung der Insellage stehen: „Seit dem 1. des Monats entzünden und verbrennen die Rebellen die Dörfer und Gemeinden von Sta. Maria, Undameo, Tiripetío, Tacícuaro und unterschiedliche Haciendas und Ranchos des Umkreises dieser Stadt. Die übrigen Siedlungen sind verschreckt, eine gleiche Behandlung zu erleiden ...“414.
Die Haciendas indias in Huetamo, Uruapan, Jiquilpán und Apatzingán kamen erst 1816/17 wieder unter royalistische Aufsicht.415 Manuel Abad y Queipo wurde 1815 auf der Strecke von Valladolid nach Mexiko-Stadt trotz einer Entourage von 400 Soldaten zweimal überfallen. 416 Noch Ende 1816 galten die an der
410 Juárez Nieto: Formación, S. 48. 411 So ein Aufsatztitel: Young: Islands. 412 Vgl. Hamnett: Counterinsurgency, S. 19-48; Archer: Causa, S. 85-108; Chowning: Management, S. 464; Bravo Ugarte: Historia, S. 30-55. 413 AGN, Intendencias, v. 62, s./exp. 414 Zitiert nach: Juárez Nieto: Producción, S. 74. 415 Vgl. Terán: Gobierno, S. 439 416 Archer: Causa, S. 85f.
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Küste gelegenen Pueblos als nicht durch Valladolid regierbar.417 Die Vertreibung und Emigration waren in einigen Gegenden so stark, dass ganze Orte (Zitácuaro, Paracho, Zacapu, Urecho et cetera) und manche Landstriche entvölkert waren. 418 Noch 1822 berichtet eine Statistik von sieben zerstörten Subdelegaciones. 419 Beispielhaft seien hier folgende Beschreibungen genannt: Zitácuaro, das „in anderen Zeiten sehr bedeutend [gewesen war], wurde angezündet und fast zerstört, aus Gründen, die die Geschichte wird offenbaren müssen“420. „Obwohl die Fincas“ in Ario „in den elf Jahren vollständig zerstört worden sind, beginnen sie sich zu erholen“. Trotzdem sei „es unmöglich, dass sie wieder den Grad an Üppigkeit und Überfluss, der vorher dort herrschte, erreichen“421. Für Jiquilpan stellte die Statistik fest, dass die Wirtschaftszweige fast vollständig paralysiert sind und der Handel, der in diesem Bezirk vormals sicherlich 300.000 Pesos ausgemacht habe, nun wohl kaum mehr den zehnten Teil erreicht. 422 Der Historiker Gerardo Sánchez Díaz spricht bezüglich der wirtschaftlichen Situation von einer „total desorganización“ 423 . Der englische Reisende und Zeitgenosse Robert William Hale Hardy stellte 1825 zwar den grundsätzlichen Reichtum Michoacáns („It is perhaps the richest province in Mexico“) fest, ging aber davon aus, dass der Wiederaufbau lange dauern wird, da „the devastation ocassioned by the revolution, here, where it may be said to have commenced, is very apparent in the ruinous condition of many of the lands“424. Vor dem Hintergrund des hier aufgezeigten Panoramas, dem Verlust einer überlokalen Ordnung und der Verlagerung von Kompetenzen auf die kommunale Ebene, hier als Kommunalisierung bezeichnet, sind die Entwicklungen und Diskussionen der nächsten Jahre zu verorten.
417 Sobre si la eleccion de autoridades de los pueblos indios de Coahuayana (1816), in: AHAM, c. 17, e. 30. 418 Vgl. Mendoza Biones / Terán: Levantamiento, S. 273ff.; Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 6; Terán: Gobierno, S. 458f. 419 Als zerstört galten Puruándiro, Tiripetio, Tacámbaro, Ario, Huetamo, Tlalpujuhua und Zitácuaro. 420 Martínez de Lejarza: Análisis, S. 57. 421 Martínez de Lejarza: Análisis, S. 100. 422 Vgl. Martínez de Lejarza: Análisis, S. 155. 423 Sánchez Díaz: Suroeste, S. 17. 424 Hardy: Travels, S. 44.
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IV. Das Ende der hispanischen Verfassungsordnung: Die Unabhängigkeit Mexikos 1821 Während sich die Intensität des Bürgerkrieges in Gesamt-Neu-Spanien nach 1815 deutlich abschwächte, die Region Michoacán aber bis zur Erklärung der Unabhängigkeit 1821 nicht vollständig zur Ruhe kam, gaben wieder Ereignisse auf der spanischen Halbinsel den Rhythmus der Entwicklung in Neu-Spanien und in Michoacán vor: Als Ferdinand VII. nach einer Militärrevolte in Spanien die Verfassung von Cádiz 1820 wieder in Kraft setzen und die Cortes erneut einberufen musste, traf dies wie in weiten Teilen Neu-Spaniens auch in Michoacán auf regionaler sowie lokaler Ebene auf große Akzeptanz. Dies zeigt zum einen die große Nachfrage an Exemplaren der Verfassung: Merino schrieb mehrmals im Juli an Mexiko-Stadt, dass die erhaltenen 30 Konstitutionen nicht ausreichten und forderte zunächst 15 bis 20 neue Exemplare an, am 14. August schon erbat er weitere 50 Stück. 425 Eine große Menge an Publikationen intensivierte die Politisierung.426 Der Erzdiakon Valladolids Manuel de la Bárcena drückte die Verfassungseuphorie aus, indem er bei seiner Ansprache vor der regionalen Versammlung für die Wahl der Cortes im September 1820 davon sprach, dass nach „einem desaströsen zehnjährigen Bürgerkrieg“ nun die Verfassung „die Fackel sei, die uns erleuchtet, und der Polarstern, der uns führt“. Bezeichnenderweise berichtet er von einem zehnjährigen Bürgerkrieg und weder von einem kürzeren Zeitraum noch von einem Unabhängigkeitskampf. Die zu wählenden „Gesetzgeber haben das Glück der heroischen Nation zu errichten. Seit Menschengedenken hat Michoacán keinen vergleichbaren Tag gesehen“427. In einer weiteren Predigt zum Schwur auf die Verfassung erinnerte Bárcena in einem historischen Überblick über die Zeit der spanischen Dekadenz seit Karl I (V). an die Notwendigkeit „fixierter Gesetze“, da „in den absoluten Regierungen die Prosperität flüchtig sei, nur von einem Menschen abhängt und mit ihm verschwindet“. In diesem Sinne klagte er den „schlecht beratenen“428 Ferdinand VII. heftig an, da er die Verfassung verworfen hatte. In beiden Predigten rief Bárcena zu Einigkeit auf, dazu, die alten Konflikte, „jeden ungeordneten Affekt und … die Leidenschaften“ beizulegen: „Alle sind wir 425 Vgl. den Schriftwechsel in AGN, Historia, v. 404, fs. 295-308. 426 Vgl. bspw. Rodríguez: Transition, S. 102-104. 427 Discurso á la Junta Electoral de Provinca en la Catedral de Valladolid de Michoacán, por el Dr. D. Manuel de la Bárcena, Arcediano de la misma Santa Iglesia y Gobernador de la Mitra, el dia 17 de setiembre de 1820, in: LAF 149/9, S. 3f. bzw. 1. 428 Exhortacion que hizo al tiempo de jurarse la Constitucion política de la Monarquía Española, en la iglesia catedral de Valladolid de Michoacan, el Dr. D. Manuel de la Barcena, Arcediano de la misma Santa Iglesia, in: LAF 149/9, S. 4.
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Spanier und alle haben wir die gleichen Rechte, einen König, ein Gesetz, ein Vaterland“429. Sehr deutlich zeigt sich die Akzeptanz der Verfassung auch bei der schnellen und flächendeckenden Annahme der Beteiligungsmöglichkeiten an den neuen, konstitutionell abgesicherten Repräsentationsinstitutionen: So bildeten örtliche Versammlungen der Pueblos innerhalb kurzer Zeit, angefangen mit Valladolid am 15. Juni 1820, Ayuntamientos constitucionales. 1822 wurden bereits mehr als 91 solcher Einrichtungen gezählt, und zwar in allen Teilen der Region. Auch viele ehemalige Repúblicas de indios wählten nun gleichberechtigte kommunale Repräsentationsorgane. 430 Die lokalen Akteure erhielten damit erstmalig eine abgesicherte Interessenvertretung. Da in anderen Regionen Neu-Spaniens ähnliche Diffundierungsprozesse zu beobachten waren, spricht Annino von einer „Ruralisierung des politischen Raumes“ 431 und davon, dass sich die Ayuntamientos als souveräne Einheiten definierten, „so als ob der Staat nicht existieren würde“432. Die mit dem Zusammenbruch translokaler Ordnungen im Bürgerkrieg verbundene Kommunalisierung weiter Regierungsbereiche wie die des Steuer-, Justiz- und Milizwesens erhielt damit in Michoacán erstmalig flächendeckend eine schriftlich-konstitutionell verankerte Legitimation. 433 Der hier angedeutete „Kampf der Souveränitäten“434 sollte den Aufbau des neuen Staatswesens über eine lange Zeit hinweg prägen.435 Auf regionaler Ebene war Valladolid zunächst wieder Teil der Diputación von Nueva España, zu der es 1820 erstmalig einen Abgeordneten wählte, und zwar den kreolischen Geistlichen und Bekannten Hidalgos Juan José Pastor Morales, der 1794 wegen Sympathien mit der Französischen Revolution vor der
429 Discurso á la Junta Electoral de Provinca, in: LAF 149/9, S. 2. 430 Vgl. die (unvollständige) Liste neu errichteter Ayuntamientos in: AGN, Ayuntamientos, vol. 120, s./f. sowie die Schreiben verschiedener Subdelegados vom Herbst 1820 über die Errichtung von neuen Ratshäusern in ihrem Bezirk, in: AGN, Ayuntamientos, v. 120, s./exp.; v. 168, exp. 6, s./f.; v. 183, exp. 6. Die Zahl 91 markiert dabei den unteren Rand, da einige Rathäuser in der zugrundeliegenden Statistik von Martínez de Lejarza nicht berücksichtigt wurden; vgl. Guzmán Pérez: Conformación, S. 389-401; Mendoza Biones / Terán: Fin, S. 290; Hernández Díaz: Michoacán, S. 292-296. 431 Annino: Conclusión, S. 186. Vgl. bspw. für den Estado de México: Guarisco: Indios, S. 171-192; für die Huasteca potosina: Ohmstede: Ayuntamientos, S. 153-158. 432 Annino: Perspectivas, S. 62. 433 Vgl. auch Annino: Cádiz, S. 220f.; Annino: Soberanías, S. 241-250; Ortiz Escamilla / Serrano Ortega: Introducción, v.a. S. 12. 434 So in Anlehnung an den Titel: Annino: Soberanías en lucha. 435 Vgl. hierzu das Kapitel C II.
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Inquisition angeklagt worden war. 436 Diese Vertretung hatte das Ayuntamiento Valladolids bei einer vorangehenden Beschwerde als „heiligstes Recht der Repräsentation“ 437 tituliert. Den Anspruch auf eine eigenständige Repräsentation unterstrich das neue Ayuntamiento der Hauptstadt mit der Forderung nach regionalen Vertretungsorganen: In einer Instruktion vom 30. September 1820, verfasst von den kreolischen Mitgliedern des Stadtrates José María Ortiz Izquierdo, einem Rechtsgelehrten, der auf Seiten der Aufständischen gekämpft hatte, und Juan José Martínez de Lejarza, erhielten die für die Cortes gewählten Abgeordneten Dr. Antonio María Uraga (für Zitácuaro), Juan Nepomuceno Gómez de Navarrete, Manuel Diego Solórzano (beide Anwälte an der Audiencia von Mexiko-Stadt, letzterer für Pátzcuaro) und als Stellvertreter der noch in Spanien weilende José Mariano Michelena438 folgende Anweisung: Sie sollten sich nicht nur für eine eigene Diputación einsetzen, sondern auch wie schon in den ersten Cortes wieder für eine eigene Audiencia und für Valladolid als Sitz einer eigenen Capitanía general, eines militärischen Oberbefehlshabers. Michoacán sollte seinem Rang entsprechend nicht auswärtigen Institutionen unterstehen. Insbesondere die Einrichtung der Diputación provincial begründete der Stadtrat mit der Vielzahl an Ayuntamientos constitucionales, die von MexikoStadt aus nicht zu regieren seien.439 Der Forderung nach einer Diputación gaben die für den 9. Juli 1820 einberufenen Cortes in Madrid schon am 6. November statt. Valladolid de Michoacán (mitsamt der Intendanz Guanajuato) stellte somit die zunächst einzige Region dar, der die Cortes ein solches Repräsentationsgremium zusprachen. Weitere Provinzdeputationen genehmigten jene erst im folgenden Jahr.440 Der positive Bescheid erreichte Valladolid am 22. Februar 1821, schon am 12. März fanden daraufhin Wahlen statt. Das Gremium konstituierte sich jedoch auf Grund der Ereignisse der nächsten Monate zunächst nicht.441 Auch die für die Cortes gewählten Abgeordneten traten bis auf Michelena ihr Amt 436 Dort bestätigte er den Verdacht mit der Aussage: „Man würde sich freuen, wenn die Spanier mit dem Schurken [pícaro peruétano] von König, der uns so unterdrückt hält, das selbe täten wie die Franzosen“ (zitiert nach Herrejon Peredo: México, S. 113). 437 Juárez Nieto: Formación, S. 52. 438 Michelena war nach seiner Betätigung bei der Verschwörung von Valladolid bis 1813 in Haft und wurde danach nach Spanien gesandt, wo er mit den spanischen Truppen gegen die Franzosen kämpfte, 1820 gehörte er immer noch dem Heer an und wurde zu einem der sieben Stellvertreter Neu-Spaniens gewählt; vgl. Benson: Diputación, S. 59. 439 Vgl. Hernández Díaz: Michoacán, S. 293; Júarez Nieto: Intendente, S. 202; Juárez Nieto: Diputación, S. 130-134. 440 Die zeitgleich beantragte Diputación für Sonora und Sinaloa genehmigten die Cortes hingegen nicht; vgl. Benson: Diputación, S. 59-64. 441 Juárez Nieto: Diputación, S. 134f.
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nicht mehr an. Dieser setzte sich dort zusammen mit Lucas Alamán und Ramos Arizpe federführend für einen Plan zur Dreiteilung Amerikas mit jeweils eigenem Monarchen und Parlament ein. In Kontinuität zu am Ende des 18. Jahrhunderts verbreiteten Plänen intendierten sie die Installation von bourbonischen Sekundogenituren. 442 Nach Vorlage vor den Cortes am 25. Juni 1821 scheiterte der Plan, und damit wiederholt eine Forderung nach mehr Eigenständigkeit.443 Denn obwohl nun im Gegensatz zum absolutistischen Regime Ferdinands vor 1820 einige Repräsentationsansprüche umgesetzt werden konnten, schien doch eine große Mehrzahl, insbesondere der kreolischen Entscheidungsträger in den Städten davon überzeugt, dass die Verfassungsordnung von Cádiz den Anforderungen Neu-Spaniens nicht mehr genügte. Chowning spricht von einem wachsenden „new consensus“ innerhalb der Eliten Michoacáns – ähnlich wie in anderen Regionen – und über die „appropriateness of independence“444. Die Verkündung der Unabhängigkeit schien eine Frage der Zeit. So schloss sich innerhalb kürzester Zeit eine große Mehrheit der Provinzen und der Ayuntamientos, der royalistischen und der aufständischen Militärverbände, also ein Großteil der lokalen und regionalen Eliten, dem Plan von Iguala vom 24. Februar 1821 an: In diesem proklamierte der royalistische, aus Valladolid stammende General Agustín de Iturbide nach einem Zusammentreffen mit Vicente Guerrero, als einem Führer der Aufständischen, die „Drei Garantien“ („Tres Garantías“) Religión, Independencia und Unión und damit die Grundbausteine einer „eigenen und angepassten Verfassung“445. Damit erklärte er das Mexikanische Kaiserreich („Imperio Mejicano“) für unabhängig: Mit der Garantie der Independencia sollte die Unabhängigkeit unter der Regierungsform einer konstitutionellen Monarchie sichergestellt werden. Der Bruch war insofern nicht vollständig, als dass man die Krone dem spanisch-bourbonischen Königshaus antrug, womit wiederum das Projekt der Einrichtung von Sekundogenituren belebt wurde. Mit Religión garantierte der Plan den Erhalt des Katholizismus als alleinige Staatsreligion, den Schutz vor Angriffen auf sie und den Erhalt der Vorrechte des Klerus, womit er sich deutlich gegen die „Bedrohung“ 446 der säkularisierenden Gesetzgebung der spanischen Cortes wandte.447 Die dritte Garantie der Unión hielt fest, dass „alle Einwohner ohne 442 Vgl. zu den Plänen und Überlegungen des Grafen von Aranda und in der Folgen auch von anderen: Benson: Diputación, S. 79-82; Rodríguez: Transition, S. 110f. 443 Vgl. Rodríguez: Transition, S. 111-115; Benson: Diputación, S. 79-82. 444 Chowning: Wealth, S. 112. 445 Plan de Iguala, in: Dorsch (Hg): Documentos, Art. 3. 446 Arenal Fenochio: Iturbide, S. 540. 447 Vgl. auch: Breña: Consumación, S. 60f.; Farriss: Clergy, S. 245-252; Rodríguez: Transition, S. 105-107; Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 278f.
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irgendeine Unterscheidung von Europeos, Africanos oder Indios Staatsbürger“448 seien. Auch damit wandte der Plan sich deutlich gegen die die Afrika-stämmige Bevölkerung diskriminierende Verfassung von Cádiz. 449 Gleichzeitig nahm er mit der Einheit aller ein Ansinnen auf, das wie gesehen wegen der offensichtlich so empfundenen Fragilität schon vorher Bedeutung hatte. Attraktiv wirkte der Plan zudem durch sein Potential einer gewaltfreien Transformation in einen selbstbestimmten Staat, durch die der Bürgerkrieg beendet und die Besitzstände gewahrt werden sollten. Möglichst schnell zu wählende Cortes sollten die „Verfassung des mexikanischen Kaiserreiches“ 450 erarbeiten. Mit dem Format des Plan und seiner öffentlichen Proklamation, vorbereitet meist durch persönliche Netzwerke, trat ein neues, für die folgenden Jahrzehnte charakteristisches Medium der Öffentlichkeitsgewinnung auf die politische Bühne.451 Wie im gesamten Reich schloss sich auch in Michoacán schnell eine Vielzahl der Entscheidungsträger dem Plan Iturbides an, der Intendant Merino und das Ayuntamiento von Valladolid beispielsweise am 7. März 1821. Auch wenn Merino später entschied, die Stadt gegen die Truppen Iturbides zu verteidigen, konnte er sich gegen die öffentliche Meinung in der Stadt nicht behaupten und musste am 22. Mai den friedlichen Einzug Iturbides in dessen Heimatstadt zulassen.452 Dieser hatte zuvor in einem Schreiben an die „Söhne und Bewohner der Stadt Valladolid“ diese zur friedlichen Kapitulation aufgefordert, da wegen des „aktuellen Aufruhrs des Reiches“ die „Unabhängigkeit unserer Provinzen eines der unvermeidbaren Ereignisse ist“453. Die öffentliche Meinung gewann wie im gesamten Reich nach der Wiederinkraftsetzung der Verfassung zunehmend an Bedeutung, Valladolid erhielt mit dem einziehenden Heer erstmalig eine eigene Presse, betrieben von Luis Arango. 454 Der Pfarrer und spätere Abgeordnete Manuel de la Torre 448 Plan de Iguala, in: Dorsch (Hg): Documentos, Art. 12. 449 Vgl. auch die Schlusssentenzen des Plans: „Es lebe die Heilige Religion, zu der wir uns bekennen! Es lebe das von allen Nationen des Globus unabhängige Nordamerika! Es lebe die Union, die unser Glück herstellte!“ (zitiert nach: Plan de Iguala, in: Dorsch (Hg): Documentos). Vgl. zum Plan: Arenal Fenochio: Iturbide; Annino: Soberanías, S. 245248; Annino: Conclusión, S. 183-185; Anna: Mexico (1998), S. 66-88; Benson: Diputación, S. 44-56; Vázquez: Conformación, S. 383-385; Rodríguez: Transition, S. 116-126. 450 Plan de Iguala, in: Dorsch (Hg): Documentos, Art. 11. 451 Vgl. Vázquez: Plans. 452 Vgl. Bravo Ugarte: Historia, S. 60-62; Júarez Nieto: Intendente, S. 202f. 453 Danach drohte er: „Wollt Ihr, dass ich mit Waffengewalt den Ort einnehme, an dem ich das erste Licht gesehen und für dessen Erhalt ich meine Existenz verachtet habe? Vallesoletanos, vergesst nicht die erinnerungswüdigen Tage des 23. und 24. Dezember 1813“ (El primer gefe del ejercito imperial mejicano ..., vom 12.05.1821, in: LAF 1392/8), also die Tage des gescheiterten Eroberungsversuches von Morelos. 454 Vgl. zum Pressewessen das Kapitel F IV.
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Lloreda rief die „Weisen der Provinz von Michoacán“ in einer Zeitung aus Puebla in Sonettform zur Gründung einer eigenen Zeitung auf: Ohne die Kraft der „Feder“ werde das mit Waffen „umkämpfte Vaterland ... zweifellos in den Sturm segeln“. Während „der Mexicano mit unglaublicher Aufrichtigkeit und Freiheit zwischen den Waffen spricht“ und „der Guadalajarajeño und der Poblano die Gerechtigkeit und die Wahrheit erhalten“, fragte Lloreda: „Müsste nur der Michoacano diese Gelegenheit verschmähend schweigen?“455 Eine eigene Zeitung erhielt Michoacán, wie noch ausführlich zu behandeln sein wird, allerdings erst 1829. Deutlich wird der der Öffentlichkeit beigemessene Einfluss in einem 1820 gedruckten Schreiben aus Zitácuaro mit dem Titel „Das Publikum macht Gerechtigkeit“, das „despotische Regierungen“ dadurch definiert, dass in ihnen die „öffentliche Meinung unterdrückt werde, um sie nicht zu fürchten“, während das „Tribunal der Meinung in den liberalen Regierungen den Menschen in den Grenzen seiner Pflichten hält, da kein Bürger der Nachwelt einen schmachvollen Namen übermitteln will“456. Im August 1821 hatte sich die öffentliche Meinung in Valladolid noch eindeutiger zu Gunsten von Iturbide ausgebildet: Seine Frau, Ana Huarte de Iturbide, Tochter von Huarte senior, erhielt bei ihrem Einzug in die Stadt am 21. August einen „Empfang …, der eines der prächtigsten und pompösesten Spektakel war, die die Stadt je gesehen hat“457, die Stadt war geschmückt, aus vielen Gegenden kamen feierlich bekleidete Personen und alle wichtigen Korporationen standen bereit. Die Beschreibung des Empfangs wurde sowohl in Valladolid als auch in Mexiko-Stadt gedruckt. Der Vertrag von Córdoba vom 24. August 1821 mit dem spanischen Generalkapitän Juan de O’Donojú besiegelte die Unabhängigkeit von spanischer Seite, wenn auch nicht im Einverständnis mit der spanischen Krone. Diese erkannte Mexiko erst 1836 nach dem Tode Ferdinands an.458 Ende September 1821 marschierte Iturbide triumphal in Mexiko-Stadt ein und proklamierte dort am 28. September 1821 feierlich die Unabhängigkeit des Mexikanischen Kaiserreiches. Um sich der Unterstützung möglichst vieler Provinzen zu versichern, erließ die einige Tage vorher gebildete Oberste Provisorische Regierungsjunta („Suprema junta provisional gubernativa“) als eine ihrer ersten Amtshandlungen am 18. November ein Dekret, nach dem alle ehemaligen
455 Suplemento al numero 38 de la Abeja Poblana (del jueves 16 de Agosto de 1821), in: LAF 416/76. 456 El público hace justicia, vom 05.07.1820, in: LAF 261/22. 457 Entrada pública En Valladolid de la Sra. Doña Ana Huarte de Iturbide, digna Esposa del Inmortal Héroe Mexicano, in: LAF 209/38. 458 Vgl. die Tratados de Córdoba, in: Dorsch (Hg.): Documentos.
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Intendanzen eine Diputación provincial errichten sollten; sie kam auf diese Weise den Selbstvertretungsforderungen bislang nachgeordneter Provinzen nach.459 In Valladolid installierte sich diese nach Wahlen am 1. Februar 1822. Ihr Vorsitzender war der am 19. Mai 1821 von Iturbide zum Intendanten und Jefe político ernannte Ramón Huarte, ein Schwager Iturbides. 460 Mit der Provinzdeputation erhielt Michoacán nun erstmalig ein eigenes regionales Repräsentationsgremium. In ihr saßen neben Huarte sieben Mitglieder plus zwei Ersatzdeputierte, der Großteil aus der Elite Valladolids, teils aus alteingesessenen Familien (Manuel Diego Solórzano, Pedro Villaseñor und Mariano Quevedo), teils aus Familien, die Ende des 18 Jahrhunderts nach Michoacán gekommen waren (Juan José de Michelena Gil, José María Ortiz Izquierdo, Juan José Martínez de Lejarza und José Díaz de Ortega). Fast alle hatten vorher hohe Posten in der Zivil-, Kirchen- oder Militärverwaltung der Region innegehabt, sie „reflektierten auf eine bestimmte Weise die Komposition der Macht in der Region“ 461 : Zwei waren Mitglieder des Stadtrates (Ortiz Izquierdo und Martínez de Lejarza) gewesen, drei des Cabildo (Díaz de Ortega und Michelena sowie als Ersatzmann Francisco de Borja Romero y Santa María) und drei in der Miliz (Martínez de Lejarza, Villaseñor, zudem Quevedo als Suplente). Solórzano war Anwalt an der Audiencia von Mexiko-Stadt und später einer der ersten Richter am obersten Gerichtshof Michoacáns. Mit Michelena, Martínez de Lejarza und Quevedo saßen auch drei der großen Handels- und Hacendado-Familien in der neuen Einrichtung. Als einziger Europa-Spanier wurde Díaz de Ortega, Sohn des ehemaligen Intendanten, direkt in das Gremium gewählt. Er verstarb allerdings noch vor dessen Zusammenkunft. Daneben war auch der Ersatzmann Borja Romero y Santa María Europa-Spanier. Bis auf Solórzano und den Militär Francisco Camarillo (beide Pátzcuaro) stammten sie alle aus Valladolid. Insgesamt deutet diese Besetzung in Übereinstimmung mit Guanajuato, aber im Gegensatz beispielsweise zu Oaxaca, auf eine relativ hohe Anerkennung des neuen Gremiums in der Elite der Region und vor allem der Hauptstadt hin. 462 Die Diputacíon galt als Ver459 Sie wiederholte damit die Entscheidung der spanischen Cortes vom 30. April 1821. Bis November 1822 wurden daraufhin insgesamt 18, bis Dezember des Folgejahres schließlich 23 eingerichtet; vgl. Benson: Diputación, S. 93-99 u. 113f. 460 Laut Verfassung von Cádiz, Art. 324 u. 325 übernahm der Jefe político die Regierungsaufgaben in den Provinzen und saß der Diputación provincial vor; sein Verhältnis zum weiter bestehenden Amt des Intendanten ist verfassungsrechtlich nicht eindeutig geklärt. 461 Juárez Nieto: Diputación, S. 135. 462 Vgl. zu Oaxaca: Hensel: Entstehung, S. 264-267, die zwischen Stadtrat und Diputación Kompetenzstreitigkeiten ausmachte; zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 167171. Für eine prosopographische Gesamtauswertung der Vertretungsorgane zwischen 1822 und 1835 vgl. das Kapitel D I.
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tretung der Region, veränderte somit – wie in Guanajuato – die territoriale Hierarchie. Entsprechend lag das Hauptbeschäftigungsfeld der Deputation in der Organisation und in der Auseinandersetzung der und mit den neuen Ayuntamientos.463 Aus den Wahlen für die verfassunggebende Versammlung Gesamt-Mexikos am 18. November 1821 gingen in Michoacán vor allem am Bürgerkrieg beteiligte Kreolen als Abgeordnete hervor. 464 Das Prozedere spiegelt die traditionellen Repräsentationsvorstellungen Iturbides wider, indem es eine Wahl nach Bezirken unter besonderer Berücksichtigung von bestimmten Bevölkerungsgruppen und Korporationen vorsah. 465 Der am 24. Februar 1822 zusammengetretene Kongress erklärte sowohl die mexikanische Nation als auch sich selbst als deren Vertretung für souverän. 466 In seiner die Sitzung einleitenden Rede verkündete Iturbide: Nachdem die „Beherrschung, die wir dreihundert Jahre erlitten, fast ohne Zeitaufwand, ohne Blut, ohne Finanz(-verluste), auf eine wunderbare Weise abgeschüttelt worden war, ... [haben] unsere Provinzen durch sich selbst die Basis der Regeneration gelegt“. Diese Basis müsse nun mittels einer „Verfassung den Stempel für unsere Prosperität prägen“467. In Übereinstimmung mit dieser Äußerung und auch mit dem Plan von Iguala, aber entgegen der älteren Forschung lässt sich feststellen, dass auch Iturbide während seiner politischen Führerschaft „eine zum Land passende Verfassung“ für notwendig hielt. 468 Auf Grund des gleich zu behandelnden
463 Vgl. Actas de la Diputaciön Provincial de Michoacán (1822-1823), hg. v. Xavier Tavera Alfaro, Morelia 1976. (Diese Protokollsammlung wird im Folgenden abgekürzt mit ADPM); Hernández Díaz: Ayuntamientos, S. 248-253; Juárez Nieto: Diputación, S. 139141. Vgl. auch die Studie über zwei Dörfer im Osten Michoacáns und deren Auseinandersetzung mit der Diputación provincial: Guzmán Pérez: Cádiz. 464 Zu nennen sind bspw.: Juan Nepomuceno Foncerrada y Soravilla, Antonio Castro, Mariano Anzorena, Antonio Cumplido, Francisco Argandar und Mariano Tercero; vgl. Juárez Nieto: Diputación, S. 146f. 465 Die Abgeordneten des Kongresses wurden ähnlich wie die der spanischen Cortes nach Provinzen bestimmt. Als Basis für die endgültige Abgeordnetenzahl wurde allerdings die Anzahl der Bezirke herangezogen, die, wie für Michoacán, dargestellt weitgehend unabhängig von der Bevölkerungszahl während der Kolonialzeit eingerichtet worden waren; dies führte zu einer hohen Disproportionalität und einer sinkenden Legitimität. Außerdem mussten bestimmte Korporationen bzw. Stände wie der Klerus, die Händler, die Gelehrten (Literatos) etc. vertreten sein; vgl. Anna: Mexico (1998), S. 91-93; Pietschmann: Einführung, S. 124-126; Rodríguez: Struggle, S. 210-214. 466 Vgl. Instalación del congreso (24.02.1822), S. 8. 467 Vgl. Instalación del congreso (24.02.1822), S. 2. 468 Vgl. zum konstitutionellen Denken zu Beginn der Unabhängigkeit: Arenal Fenochio: Modo, S. 141-164.
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Widerstandes gegen sein Regierungsverständnis konnte er dieses Projekt jedoch nicht umsetzen. Nach der Ablehnung der mexikanischen Krone durch die Bourbonen, denen sie gemäß dem Plan von Iguala angetragen worden war, wählte die verfassunggebende Versammlung am 19. Mai 1822 den populären Iturbide zum Kaiser.469 Er schwor als „Agustin, durch die göttliche Vorsehung und durch die Ernennung durch den Kongress der Repräsentanten der Nation, Kaiser von Mexiko“, die katholische Religion und die vom Kongress zu erarbeitende Verfassung zu schützen. 470 Damit anerkannte er symbolisch das von der Volksvertretung auszuarbeitende Grundgesetz. Valladolid feierte zwar den Aufstieg des Stadtsohnes, gleichzeitig wuchs aber wie an anderen Orten auch die Skepsis gegenüber zentralisierenden Bestrebungen, Verschwörungsgerüchte tauchten auf. Einige Vertreter der Diputación Michoacáns und des Kongresses propagierten eine republikanische Ordnung.471 Das Kaiserreich zerbrach schließlich schon nach zehn Monaten: Iturbide hatte den Kongress, der zunehmend als „the representative of the provincial elites and the foremost opponent of the executive“472 fungierte, am 31. Oktober 1822 aufgelöst und damit seine zentralistischen Ambitionen zu erkennen gegeben. Am 1. Februar 1823 proklamierte General José Antonio Echávarri den Plan von Casa Mata,473 der die Forderung nach der Reinstallation des Kongresses zusammenfasste.474 Die Diputación von Michoacán schloss sich, nach Einholung der Meinung verschiedener Korporationen, wobei jedoch kein Konsens erzielt wurde, wohl schon am 1. März an.475 Die mittlerweile 23 Provinzen des Reiches sahen durch den Plan ihre Forderungen nach Repräsentation erfüllt und schlossen sich ihm in der großen Mehrzahl ebenso an wie viele der größeren Städte und der provinziellen Militärführer. Diese Gewährung von Autonomie war eine von Echávarri wohl
469 470 471 472 473
Vgl. bspw. Rodríguez: Struggle, S. 219f. Vgl. den Abdruck des Schwurs bei Alamán: Historia, Bd. 5, S. 383. Vgl. Mendoza Biones / Terán: Fin, S. 294; Juárez Nieto: Diputación, S. 150f. Anna: Mexico (1998), S. 93. Diario de la Junta Nacional Instituyente del Imperio Mexicano, México 1823, S. 379f., abgedruckt in: Barragán Barragán: Introducción, S. 114-116. Man vermutete Ramos Arizpe und Michelena, die 1821 aus Spanien zurückgekehrt waren, als Propagandisten über ein Netz von Freimaurern, die sich über einige, ehemals in Spanien kämpfende Militärs in Mexiko ausbreiteten; vgl. Hernández Díaz: Michoacán, S. 296-299; Juárez Nieto: Diputación, S. 150f. 474 Er reagierte damit zum Teil auf den von Antonio López de Santa in Veracruz verkündeten Plan mit einer ähnlichen Stoßrichtung, der jedoch ohne durchschlagenden Erfolg blieb; vgl. Benson: Plan. 475 Vgl. Hernández Díaz: Michoacán, S. 296-299.
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nicht intendierte Wirkung.476 Iturbide konnte sich der Entwicklung nicht widersetzen, berief den Kongress am 4. März wieder ein und dankte am 19. März 1823 ab. Dies bedeutete den „final collapse of the Bourbon state“477. Nicht nur eine ältere Historiographie stellte die Gleichung Unabhängigkeit gleich (liberale) Modernisierung oder liberale Revolution immer wieder auf.478 Beispielsweise betonte auch François-Xavier Guerra in seinem einflussreichen Werk „Modernidad e independencias. Ensayos sobre las revoluciones hispánicas“ (1992) den revolutionären Weg der hispanischen Eliten in die liberal und normativ gedachte, eine Modernität.479 Die realhistorische Norm, das Ideal gaben nach diesen Deutungen die Revolution in den USA und insbesondere diejenige in Frankreich vor. Sie stellen sich als die bürgerlich-liberalen Revolutionen par excellence dar, als der ideale Weg in die Moderne. Es lassen sich in Mexiko beziehungsweise Michoacán zwar ähnliche grundlegende Konfliktlinien wie bei den anderen atlantischen Revolutionen beobachten: nämlich der Auftritt neuer selbstbewusster Akteursgruppen gegen die intensiver werdenden staatlichen Zugriffe. Auch ähnliche Forderungen der neuen Akteure sind erkennbar, nämlich diejenigen um gerechte Vertretungsmöglichkeiten eigener Interessen und diejenigen um eine diese Vertretung ermöglichende und sie absichernde Verfassungsordnung. Nicht zufällig stehen am Ende all dieser Umsturzprozesse (neu) geschriebene Verfassungen. Deren Untersuchung kommt insofern eine zentrale Bedeutung zu. Vom Ergebnis, der Verfassung, her kann man somit auch die hispanischen Ereignisse als im formalen Sinne liberal bezeichnen – zur Erinnerung: In Cádiz galten diejenigen als liberal, die sich für eine geschriebene Verfassung und gegen die absolutistische Ordnung eingesetzt hatten. Entgegen dieser Deutung vom Ergebnis und von einem normativen Ideal her interpretiert die vorliegende Studie die Zeit nach 1808 beziehungsweise 1810 als Bürgerkrieg, der auf ein Bündel spezifischer, teils langfristiger Konfliktlagen, Interessen und Ideen zurückzuführen ist und der kurzfristig ausgelöst wurde durch die Legitimationskrise infolge der französischen Invasion. 480 Ob damit auch ein über den Verfassungstext hinausreichendes liberales, an der Emanzipation der 476 Im Artikel 10 des Plans heißt es, dass die Diputación provincial von Veracruz in Verwaltungsangelegenheiten „berät“/„verhandelt“ („la diputación provincial … será la que delibere en la parte administrativa“); diesen Passus verstanden andere Provinzen als Garantie ihrer internen provinziellen Selbstbestimmung; vgl. Anna: Mexico (1998), S. 106f. 477 Anna: Mexico (1998), S. 97. 478 Vgl. die Hinweise bei Uribe: Enigma, S. 237f.; Breña: Consumación, v.a. S. 70-83. Vgl. für diese Richtung bspw.: Reyes Heroles: Liberalismo; Vázquez: Crisis; Soberanes Fernández: Introducción; Sánchez Agesta: Revolución; Torre Villar: Constitución. 479 Vgl. Guerra: Modernidad, bes. S. 305-318. 480 Vgl. ähnlich die in der Einleitung zum Age of revolution zitierten Werke.
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Individuen interessiertes Gesellschafts- und Menschenbild verbunden war, ist nach dem bisher Gesagten zumindest zu hinterfragen und wird für das Michoacán nach 1824 in den folgenden Kapiteln untersucht. Aber schon auf dem im vorherigen Kapitel skizzierten Weg hin zu den Zielen Repräsentation und Konstitution lassen sich deutliche Unterschiede und bewusste Abgrenzungen zu anderen atlantischen Revolutionen erkennen – wobei freilich auch bei diesen der genuin liberale oder gar demokratische Revolutionscharakter zu hinterfragen ist. 481 Besonders eindrücklich ist die Abgrenzung in der Religionsfrage: Der 1808 entbrannte Kampf gegen die Franzosen und Französlinge war nicht zuletzt ein Kampf zur Verteidigung des Katholizismus. Auch die monarchische Verfassungsordnung blieb über weite Strecken unantastbar. Auf dem Banner Hidalgos stand 1810 wie zitiert: „Es lebe die Religion! Es lebe unsere heiligste Mutter von Guadalupe! Es lebe Ferdinand VII.! Es lebe Amerika und es sterbe die schlechte Verwaltung“. Auch die Aufständischen zielten mit zunehmender Dauer der Kämpfe auf eine Gesellschaftsordnung ab, die stärker die Ordnung als die individuelle Freiheit betonte und die eine soziale Revolution ablehnte.482 „In the insurgency in New Spain“ lässt sich also nicht pauschal „the fate of enlightment thought and liberalism outside the European center“ 483 sehen. Die Infragestellung des traditionellen Menschen- und Gesellschaftsbildes in Form der aufgeklärt-individualistischen und utilitaristischen Diskurse ließen wie beschrieben auch schon vor dem Bürgerkrieg ein Krisenbewusstsein innerhalb der Eliten entstehen, auch wenn sie aktiv an den Debatten teilnahmen und die Individualisierung selbst im Alltag praktizierten. Insbesondere in Kirchenkreisen stößt man immer wieder auf skeptische, „proto-konservative“ Äußerungen – ob sie allerdings das Meinungsbild größerer Teile innerhalb der Elite darstellten, wäre noch zu prüfen.484 Für das unabhängige Mexiko betrachtet dies die vorliegende Studie anhand des Beispiels Michoacán. Skepsis gegenüber dem liberalen Deutungsmuster scheint angebracht. Konstitutionelle Ziele waren nicht gleichbedeutend mit liberalen, die Emanzipation von Spanien nicht gleichbedeutend mit individueller Emanzipation. Sowohl die gaditanische Verfassung von 1812 als auch die noch zu behandelnden des unabhängigen Mexikos stellen wie andere Projekte im atlantischen Raum zunächst einen schriftlich festgehaltenen Kompromiss, einen 481 482 483 484
Zum Konzept der „demokratischen Revolution“: Palmer: Age; Rodríguez: Mexico. Vgl. Anna: Mexico (1998), S. 73-77. So ebenfalls, allerdings aus einer anderen Perspektive kritisch: Young: Rebellion, S. 7. In diesem Kontext ließe sich zudem fragen, inwiefern „the large number of reform projects in a relatively short span of time“ tatsächlich als „accelerator“ (Schmidt: Philosophy, S. 139) wahrgenommen wurde, inwiefern sich also das Zeitverständnis veränderte.
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Definitions- und Ordnungsversuch zwischen einer Vielzahl von Akteuren mit spezifischen Interessen dar. Sie waren für viele zunächst gleichbedeutend mit einem Ausbau und mit der Absicherung der langfristig geforderten Repräsentations- und Partizipationsmöglichkeiten. Ein Zurück hinter konstitutionell abgesicherte Repräsentations- und Ordnungsmöglichkeiten schien es nach 1812 für die Eliten in Michoacán – und nicht nur dort485 – nicht mehr zu geben. Die Erfahrungen des Bürgerkrieges und des Zusammenbruchs der Ordnung ließen diese Forderungen als umso dringlicher erscheinen. Die Suche nach Ordnung tritt auch in dem Umstand zu Tage, dass die Bewegung der Aufständischen besonders dann interessant für weitere Eliten wurde, wenn sie erfolgreiche Institutionalisierungsversuche unternahmen. Die herausragende Rolle Michoacáns bei der Einforderung einer als angemessen eingeschätzten Repräsentation und Konstitution lässt sich meines Erachtens auf zwei zentrale, eng zusammenhängende Ursachen zurückführen: nämlich erstens auf die fortgeschrittene Diversifizierung der Akteursebene und zweitens auf die stark ausgebildete regionale Integration, deren unterschiedliche Facetten hier nochmals schematisch zusammengefasst werden sollen. Einerseits steht die Diversifizierung der Akteursebene für das Auseinanderbrechen einer als legitim anerkannten korporativen Ordnung sowie für den hohen Individualisierungs- und Mestizierungsgrad, was die Region anfällig für lokale Konflikte, aber auch für ethnienübergreifende Verbindungen machte. Vor allem mit dem Zusammenbruch der als legitim anerkannten Ordnung 1808/1810 versuchten unterschiedliche Führungsgruppen Anhängerschaften aus vielen Gesellschaftsbereichen für ihre Ziele zu mobilisieren. Charakteristisch hierfür ist die explosionsartige Ausweitung der Bedeutung des öffentlichen Raums im „Krieg der Worte“: Alle Führungsschichten versuchten, auf die Opinión pública Einfluss zu nehmen. 486 Die Eliten knüpften allerdings nicht nur über Publikationen Kontakt zu weiteren Bevölkerungsgruppen, sondern auch über persönliche Netzwerke. Dabei konnten sie auf die dargestellte starke regionale Integration und die ausgeprägte Diversifizierung der Akteursebene in Michoacán zurückgreifen. Das hohe Vernetzungspotenzial verweist auf die starke Ausdifferenzierung und Mobilität einer oftmals statisch-geburtsständisch gedachten Gesellschaftsstruktur. Immer mehr Gesellschaftsmitglieder traten auch über den lokalen Rahmen hinaus als Akteure auf und wurden entsprechend als potenzielle Verbündete wahrgenommen. Entfremdete (städtisch-) elitäre Führungsgruppen nahmen zum Erreichen ihrer Ziele immer wieder die Verbindung zu lokal-ländlichen, nicht-elitären Akteuren auf, was als Ausdruck 485 Vgl. den Überblick bei: Portillo Valdés: Crisis. 486 Vgl. allg. zur Entwicklung öffentlicher Räume seit dem Ende der Kolonialzeit: Lempérière: República; Uribe-Uran: Birth.
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einer Nähe, mithin einer Integration zu werten ist: 1766/67 genauso wie 1809 und in den Jahren 1810 bis 1814/15 und dann wieder ab 1820. Anderseits wies Michoacán ob seiner anerkannten Bildungseinrichtungen, über die durch die positive Wirtschaftsentwicklung verstärkten Handelskontakte und über das dichte Kirchenverwaltungsnetz sowie die Betonung eigener Wurzeln und der Ausbildung einer regionalen Elite gute Grundlagen für einen regionalen Integrationsprozess auf. Der Ausbau territorialer Staatlichkeit mit einem entsprechenden Verwaltungs- und Milizapparat auf Ebene der Intendanzen verstärkte die von Valladolid und den Eliten ausgehende regionale Integration vor allem im Norden und im Zentrum der Intendanz. Insbesondere nach dem Zusammenbruch der legitimen Ordnung 1808 übernahm Valladolid als Hauptstadt Repräsentationsfunktionen für die gesamte Region, was mit einem Anspruch qua historischer Verfassung begründet wurde. Die Forderungen nach eigenen regionalen Repräsentationsorganen vor den Cortes unterstreichen das regionale Selbstverständnis als „kleine Republik“ aus der Tradition des Rechts auf Selbstregierung. 487 Die Tatsache, dass mit der Verschwörung von 1809 ausgerechnet in Valladolid ein Projekt für GesamtNeu-Spanien ersonnen wurde, begründet Brian Hamnett mit der „cultural leadership“488 der Stadt. Ähnliches ließe sich bezüglich der Rolle von Hidalgo, aber auch von Abad y Queipo und weiter für die konstitutionellen Projekte von Rayón, Morelos, Iturbide oder Michelena sagen. Viele Mitglieder der Elite Michoacáns wollten von der Zentrale in Madrid beziehungsweise Mexiko-Stadt nicht mehr bevormundet werden, sondern selbst Verantwortung für die Region und darüber hinaus übernehmen. Auch dies hatte sich schon in der spätkolonialen Zeit herauskristallisiert, wie das obige Kapitel über die Verfassungskultur gezeigt hat. Die durch die spätkolonialen Reformen und den „lebhaften Wunsch nach Vereinheitlichung der Regierung der Reiche“ (Ordenanza de intendentes) (vermeintlich) in Gefahr geratenen Freiräume der Verfassungsordnung des Goldenen Zeitalters galt es wiederzuerlangen. In derselben Linie lassen sich die in Cádiz vorgetragenen amerikanischen Forderungen nach einer Föderalisierung der gaditanischen Verfassungsordnung lesen, aber auch der Einsatz dafür, dass nur aus der jeweiligen Provinz stammende Personen diese als Abgeordnete vertreten dürfen. Eine ähnliche Tendenz, nämlich die Rückberufung auf die mittelalterliche Rechtssordnung, ließ sich auch für das europäische Spanien feststellen.489 Dass mit der Rückkehr zu den alten Freiräumen nicht zwangsläufig 487 Vgl. hierzu die schon zitierten Ausführungen bezüglich der Umsetzung der Verfassung von Cádiz bei Lempérière: República (2003). 488 Hamnett: Process, S. 282. 489 Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 118-123.
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ein Zurück zur frühkolonialen Verfassungsordnung verbunden war, deutet sich hier freilich genauso an. Der Vorteil und die Gestaltungskraft von neuen, „fixierten Gesetzen“ (Bárcena) schien anerkannt. Vielmehr ging es wohl um die Frage nach der Partizipation bei der Erarbeitung der Gesetze, was, wie gesehen, zu einer starken Politisierung führte. Die folgenden Kapitel sollen unter anderem zeigen, wie sich nach 1824 die neue, in den Parlamenten versammelte regionale Elite welche Elemente der spätkolonialen Verfassungskultur aneignete, nachdem nicht nur die überkommunale Ordnung zusammengebrochen war, sondern auch viele soziale, wirtschaftliche und kulturelle Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Für Michoacán kommt dabei dem unten ausführlich zu behandelnden Verfassungssystem von 1825 auch insofern eine besondere Bedeutung zu, als dass es als erster umfassender regionaler Bewältigungsversuch der genannten Konflikte aufgefasst werden kann und aufgefasst werden soll. Die Unabhängigkeitszeit bietet zudem auf Grund des umfassenden Materials zu den ElitenDiskussionen Möglichkeiten, die für vorherige Epochen nicht in dem Maße gegeben sind.
B. Die Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
Nach dem „final collapse of the Bourbon state“1 durch den Rücktritt Iturbides am 19. März 1823 prägten der Selbstvertretungsanspruch der Provinzen und die Dynamik hin zu einem föderalen Staat die Politik der nächsten Zeit. In der Verfassung der Estados Unidos Mexicanos, der Vereinigten Mexikanischen Staaten, von 1824 fand die Föderalisierung ihren Abschluss. Als einer der insgesamt 19 Staaten wurde Michoacán gegründet und eine populär zu wählende Konstituante mit der Ausarbeitung einer eigenen Verfassung beauftragt. Die gewählten Vertreter verabschiedeten sie dann nach 15-monatiger Arbeit im Juni 1825. Damit waren die Forderungen nach Repräsentation und Konstitution erfüllt. Die föderale Verfassung bildete somit formaljuristisch den Rahmen für den neuen Estado de Michoacán, auf den hier zunächst eingegangen werden soll (I). Die beiden nächsten Abschnitte behandeln zwei weitere Grundlagen der ersten Verfassung Michoacáns: Kapitel II zeigt, wer diese Verfassung ausarbeitete, wer also die Verfassungsväter waren. Und Kapitel III skizziert den Verhandlungsprozess dieser Verfassungsväter hin zur Constitución michoacana. Die beiden letzten Kapitel behandeln dann grundlegende Elemente des Verfassungstextes, nämlich zum einen die Legitimation, die zwischen Gott und Volkssouveränität changierte, und die Ziele, die die Konstituante mit der Verfassung von 1825 verband (IV). Zum anderen werden im abschließenden Kapitel die den Verfassungsvätern vorschwebende Staats- und Gesellschaftsordnung anhand der Vorstellungen über den „Föderierten Freistaat von Michoacán“, der Menschenrechte und der Staatsbürgerschaft untersucht (V). Es wird deutlich, dass die Abgeordneten mit der Verfassung nicht nur auf die Verwaltung des Staates, sondern auch auf die Gestaltung der Gesellschaft abzielten, also ein stark positivrechtliches Verfassungsverständnis besaßen. Im nachfolgenden Kapitel C wird dann den Vorstellungen über den Staatsaufbau im Einzelnen nachgegangen.
1
Anna: Mexico (1998), S. 97.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
I. Die Verfassung der Estados Unidos Mexicanos von 1824 Die Mehrzahl der Provinzen setzte sich in der Zeit nach dem Rücktritt Iturbides, meist in Kooperation mit der lokalen Ebene und den regionalen Militärführern, schließlich mit der Forderung nach einem neu zu wählenden verfassunggebenden Kongress durch. Die neuen politischen Verhältnisse verlangten nach einer neuen Repräsentation. Das vornehmliche Ziel dieser neuen Repräsentation blieb wie selbstverständlich die Ausarbeitung einer gesamtmexikanischen Verfassung. Für die Grundlegung des neuen Staatswesens schien wie zuvor eine geschriebene Verfassung als unbedingt notwendig. Obwohl in einigen Regionen, unter anderem in der Provinzialdeputation von Michoacán und bei einigen Militärs, Pläne für eine weitere Absetzung von der Zentrale in Mexiko-Stadt reiften, stellten die Loslösung und die Errichtung eines eigenen, von Mexiko unabhängigen Staates keine Alternative dar. Besonders deutlich wurde dies bei einem Treffen von Vertretern aus Michoacán Anfang Juni 1823 in Celaya mit Gesandten aus San Luis Potosí, Guanajuato und Querétaro, wo zunächst das Potential für eine stärkere Kooperation gegen Mexiko-Stadt ausgelotet werden sollte, schließlich aber die alte und neue Hauptstadt vollständig anerkannt wurde. Bei den Wahlen am 7. September 1823 für den zweiten verfassunggebenden Kongress Mexikos gewannen in Michoacán schließlich moderate Kräfte gegen die radikalere Position der Deputation.2 Gewählt wurden neben Manuel Diego Solórzano (Pátzcuaro), dem Mitglied der Deputation, der Geistliche Tomás Arriaga und José María Cabrera (Valladolid) sowie die ehemaligen Aufständischen Ignacio Rayón (Tlalpujahua) und José María Izazaga (Uruapan). Im Dezember 1823 löste Antonio de Castro, der ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofs der Aufständischen, Ramón Huarte als Jefe superior político der Deputation ab. Die Zentralregierung in Mexiko-Stadt versuchte, sich in der Folgezeit auch mit Militärgewalt gegen die Föderalisierung zu behaupten. Dies gelang zwar nicht vollständig: Einige Provinzen (Guadalajara beziehungsweise Jalisco, Yucatán, Oaxaca und Zacatecas) gingen in ihren Autonomieforderungen weiter als Michoacán und erklärten sich zu eigenständigen und in inneren Angelegenheiten souveränen Staaten. Aber fast überall bestimmte der Wille zu einer „Konföderation“ in „Brüderlichkeit“3 das Verhältnis zu den anderen Provinzen beziehungsweise Staaten. 2 3
Vgl. Hernández Díaz: Michoacán, S. 299-304; Juárez Nieto: Diputación, S. 151-153. So beispielsweise im Plan de Gobierno Provisional del Nuevo Estado de Xalisco (21.06.1823), gedruckt in: El federalismo en Jalisco (1823). Selección de documentos e introducción por José María Muría, México, D.F. 1973, S. 47-49, hier S. 47. Ähnlich die Bases Provisionales Oaxacas vom 28. Juli 1823, vgl. Texto de las Bases Provisionales, in: Las
Verfassung der Estados Unidos Mexicanos von 1824
139
Die zentrifugalen Kräfte konnten somit erfolgreich gebannt werden, was aus der Perspektive der Zeitgenossen keine Selbstverständlichkeit darstellte. Der Blick auf Südamerika kann die diesbezügliche Sonderstellung Mexikos verdeutlichen: So entstanden dort aus den ehemaligen drei Vizekönigreichen (Peru, Neu-Granada und Rio de la Plata) nach diversen Einigungsversuchen – hier ist insbesondere Simón Bolívar zu nennen – schließlich zehn unabhängige Republiken (inklusive Panama). Obwohl auch im spanischen Mittel- und Nordamerika Zerfallserscheinungen auftraten, konnte das vormalig weitgehend autonome Generalkapitanat Yucatán mit Chiapas in das Territorium Mexikos integriert werden. Im Süden spaltete sich 1823 lediglich das Gebiet des ehemaligen Generalkapitanats Guatemala, das sich erst kurz vorher dem Kaiserreich Iturbides angeschlossen hatte, als eigene Föderation ab. 4 Auf die anderen Regionen übte Mexiko-Stadt ausreichend integrative Kräfte aus. Im neu gewählten verfassunggebenden Kongress Mexikos besaßen die Abgeordneten der zentralen Provinzen auf Grund der Bevölkerungsverteilung eine Majorität. Sie lehnten eine zu große Autonomie der Regionen ab. Die trotzdem vorhandenen, sehr konföderalen, auf einzelstaatliche Eigenständigkeit bedachten Tendenzen zwangen den Kongress zur Vorabveröffentlichung eines ersten Verfassungsdokuments, der so genannten Acta constitutiva am 31. Januar 1824. Sie legte einige wesentliche Aspekte bezüglich des Verhältnisses der Regionen zur Zentrale fest, unter anderem wurde in ihr der Estado de Michoacán gegründet. Während dieser Status Michoacán ohne längere Diskussion gewährt wurde, gab es bei anderen Regionen Verhandlungsbedarf.5 Bis zum 4. Oktober
4
5
Constituciones del estado de Oaxaca, hg. von Gustavo Perez Jimenez, Oaxaca 1959, S. 32-34. Aus dieser Republik der Vereinigten Provinzen Zentralamerikas gingen dann 1838 bis 1840 schließlich die fünf zentralamerikanischen Staaten (Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica) hervor. Chiapas stellte als ehemalige Provinz Guatemalas einen Sonderfall dar: Im Juni 1823 erklärte es sich von Guatemala und Mexiko für unabhängig, um sich erst im September 1824 wieder an Mexiko anzuschließen. Für Mexiko-Stadt besaß Chiapas einen besonderen strategischen Wert, so dass die Regierung die Tendenzen für einen Anschluss auf diplomatischer Ebene stark unterstützte. Vor dem verlustreichen Krieg Mexikos gegen die USA (1847/48) erklärte sich im Norden 1836 Texas mit US-amerikanischer Unterstützung zur unabhängigen Lone star republic, um sich dann in den 1840er Jahren den USA anzuschließen; vgl. hierzu u.a. Hamnett: Zentralamerika, hier v.a. S. 563; Vázquez: Conformación, S. 391f.; Costeloe: Republic, S. 52-55; Sordo Cedeño: Congreso, S. 237-244; Bellingeri: Autonomismo. Vgl. zu den Verhandlungen über die Ernennung zu Staaten Ende 1823: Benson: Diputación, S. 221-227. Nuevo México erklärte man in der Verfassung zu einem direkt der Zentralregierung unterstehenden Territorium, ebenso das jetzt in Baja und Alta California geteilte Kalifornien und das ehemals zu Guadalajara gehörende Colima. Tlaxcala, eine República de indios, die auf Grund ihrer Kooperation mit Hernán Cortés bei
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
desselben Jahres erarbeitete der Kongress das abschließende und wesentlich ausführlichere Verfassungsdokument, die so genannte Constitución federal. Beide Dokumente, die Acta und die Constitución, sind integraler Bestandteil der föderalen Verfassungsordnung von 1824. Michoacán war nach der Acta einer der insgesamt 17 – nach der Constitución federal einer der insgesamt 19 – Staaten der Estados Unidos Mexicanos (vgl. Karte). Die Vereinigten Mexikanischen Staaten nach der Constitución federal (1824)
Quelle: Benson: Diputación, S. 226.
Das der Constitución federal voran stehende Manifest, gleichsam als ein Musterdokument liberalen Denkens zu verstehen, weist auf die der ersten gesamtmexikanischen Verfassung beigemessene Bedeutung hin. Zur Hinführung an den zeitgenössischen Verfassungsbegriff soll es hier nur kurz dargestellt werden: Das Manifest erklärte das neue Grundgesetz zum umfassenden Hoffnungsbegriff, das die Probleme der Vergangenheit lösen und Mexiko in eine bessere der Eroberung des Aztekenreiches seitdem eine privilegierte Stellung besaß und in der Acta noch als Staat ausgewiesen worden war, erhielt durch ein Gesetz vom 24. November 1824 ebenfalls den Status eines Territoriums; vgl. Benson: Diputación, S. 205 / 207; Ferrer Muñoz / Bono López: Pueblos, S. 60. Der bis dato wenig erschlossene Norden Mexikos wies stark desintegrative Tendenzen auf: Die Staaten Interno de Oriente beziehungsweise Interno del Norte lösten sich jeweils in zwei auf (Coahuila y Texas und Nuevo León bzw. Chihuahua und Durango). Der Staat Interno de Occidente teilte sich 1830 in Sonora und Sinaloa auf.
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Zukunft führen sollte. Institutionelles Ziel sei es, „eine starke und liberale Regierung zu schaffen, ohne dass sie gefährlich sei“ 6 . Mit einer solchen Regierung, die sich durch Gewaltenteilung und -kombination auszeichnete, sei es möglich, „dem mexikanischen Volk den Rang, der ihm zwischen den zivilisierten Nationen gebührt, zukommen zu lassen …, die Gleichheit vor dem Gesetz regieren zu lassen, die Freiheit ohne Unordnung, den Frieden ohne Unterdrückung, die Gerechtigkeit ohne Strenge“ (S. 18f.) durchzusetzen sowie den „Sanftmut ohne Schwäche“ (S. 19). Die neue Verfassung, und damit die Loslösung aus dem spanisch-gaditanischen Verfassungssystem, war notwendig geworden wegen der „dauernden Anschläge auf den Patriotismus“, die „das Netz, das uns mit Spanien verbunden hatte“ (S. 17), zerrissen hatten. Nach diesem Auseinanderreißen hätte sich „das Schiff des Staates als im Sturm versenkt betrachten“ müssen, wenn nicht die Pueblos nach einer „Revolution von 14 Jahren“ (S. 17) dem Wahlaufruf gefolgt wären und damit der „Nation eine neue Existenz“ gegeben hätten: „Niemals befanden sich die Repräsentanten irgendeines Volkes in so vorzüglichen Umständen, um die Wünsche ihrer Auftraggeber zu kennen“ (S. 18). Auf diese Weise öffne die Verfassung das „Tor zum Glück“ 7 . Die Verfassung wird zum normativen, an der Ratio orientierten Zukunfts- und Sollensbegriff: Sie beschreibt die ideale Regierungsform, um „den Geist des Zwistes und der Unordnung einzudämmen“, wodurch „Friede und Ruhe wieder hergestellt“ (S. 21) werden könne. Solange aber „die Nation nicht verfasst [inconstituida]“ sei, sei sie der Gefahr „ausgesetzt, Spielball der Leidenschaften und Parteiungen zu sein“ (S. 20). Mit der Verfassung verbanden sich also nicht nur politisch-rechtliche Hoffnungen, sondern auch sozio-kulturelle. Ganz im Sinne der Aufklärung sollte die Verfassung also dazu beitragen, dem Gemeinwesen einen rationalen Rahmen zu geben. Damit grenzte sie sich laut eigener Aussage von den „alten Gesetzgebern“ ab, die „die Veröffentlichung ihrer Gesetze mit Prunk und Zeremonien begleiteten …, um Respekt und Bewunderung zu schaffen … Diese versuchten die Imagination aufzuerlegen, da sie die Vernunft nicht lehren konnten“. Hingegen habe jetzt „das Jahrhundert der Aufklärung und der Philosophie dieses Hilfsprestige verschwinden lassen“ (S. 24), jetzt haben sich „Wahrheit und Gerechtigkeit … vor den Völkern gezeigt, um ihre Prüfung und Diskussion zu erleiden“ (S. 24f.). „Wir haben von den Lektionen profitiert, die die Welt nach der Entdeckung der 6
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Manifiesto del congreso constituyente de la Constitución federal de los Estados Unidos Mexicanos, S. 18. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Text. Vgl. für die ausführliche Zitation die von Mariano Galván Rivera 1828 editierte Colección de constituciones de los Estados Unidos Mexicanos im Quellenverzeichnis. So der Verfassungsanhang der Primera secretaria de estado zur Constitución federal, S. 100.
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sozialen Wissenschaft gegen die Grundlagen der Tyrannei bewegt hat“ (S. 24). Die Verfassungsväter riefen die Gesetzgeber im aufgeklärt-pädagogischen Sinne auf: „Prägt Euren Begleitern die ewigen Regeln der Moral und der öffentlichen Ordnung ein“ (S. 29). Allerdings weisen die Verfasser auf die Begrenztheit einer rein an rationalen Ideen orientierten Ordnung hin. Vielmehr sollte auch auf eigene kulturelle Grundlagen Rücksicht genommen werden: So stellten sie fest, dass „wir ohne den geschuldeten Gehorsam gegenüber den Gesetzen und den Autoritäten, ohne einen tiefgreifenden Respekt gegenüber unserer bewundernswerten Religion einen nichtigen Codex voller liberaler Maximen“ (S. 28) hätten. Der Widerspruch zwischen einer liberalen Ordnung und fehlender Religionsfreiheit wird nicht einmal hier thematisiert, der „bewundernswerte“ Katholizismus galt als unhinterfragbare Grundlage der Gesellschaft. Gleichzeitig distanzierten sich die Verfasser dieses Manifestes vom Anspruch allgemeingültiger Gesetze: Nicht nur die globale Ratio, sondern auch die diesseitigen Umstände sollten im Sinne Montesquieus bei der Gesetzgebung Einfluss haben. So sollten sich die Einzelstaaten Mexikos nach der als „zweiter Revolution“ (S. 17) bezeichneten Föderalisierung nun selbst bestimmt eine jeweils passende Ordnung geben: Jetzt kann sich „jedes Volk selbst Gesetze geben, die seinen Sitten, seiner Umgebung und seinen übrigen Umständen entsprechen“ (S. 22f.). Das vorherige „koloniale System“ habe auf Grund der „ungeheuren Entfernungen die Interessen der Regierten aus dem Blick verloren“ (S. 23), die „spanischen Mandarine“ hätten intendiert, „ein so unermessliches Territorium trotz der enormen Unterschiede an Klimata, an Temperamenten und an des sich daraus ergebenden Einflusses durch ein und die selben Gesetze zu regieren“ (S. 22)8. Wie Präsident George Washington in den USA habe man sich nun an den örtlichen Sitten der Regierten orientiert, und komme damit einer guten Regierung näher (S. 30).9 8
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Diese These ausführend fragt das Manifest danach, welche Parallelen es zwischen der „sonnenverbrannten Erde von Veracruz und den verschneiten Bergen von Neu-Mexiko“ gebe, wie „die gleichen Institutionen die Einwohner Kaliforniens und Sonoras und die von Yucatán und Tamaulipas“ regieren könnten. „Die Bewohner Tamaulipas’ und Coahuilas mögen ihre Codices auf hundert Artikel reduzieren, während die Bewohner Méxicos und Jaliscos sich den großen Völkern annähern, da sie in der Stufenleiter der sozialen Ordnung fortgeschritten sind“ (S. 22). Thomas Nipperdey weist auf eine ähnliche Zweiteilung des deutschen (und europäischen) Frühliberalismus hin: Neben die, durch die französische Aufklärung geprägte „normativ-vernunftrechtliche Begründung des liberalen Programms“ (mit Karl Rotteck als Protagonisten) trat die stärker an England orientierte „historisch-realistische“ Begründung (Friedrich Christoph Dahlmann): „Nicht um eine an sich und überhaupt beste Verfassung kann es gehen, sondern um eine gute, die den Gegebenheiten von Land und Geschichte adäquat ist“ (Nipperdey: Geschichte, S. 298).
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Zusammen mit der „blühenden Republik“ (S. 21) der USA, auf deren Vorbild man auf Grund der so wahrgenommenen Zeitknappheit zurückgegriffen habe, „bietet die neue Welt“ mit dem föderal-republikanischen Verfassungsstaat „eine unbekannte und neue Ordnung an“, die, wie in der „Geschichte der großen Ereignisse“ üblich, „den ordentlichen Gang der Dinge verändern wird“ (S. 26). Die mit dieser neuen Konstruktion verbundenen „Fortschritte der Zivilisation“ und „Anhebung des Charakters ... erlaube es dem amerikanischen Volk nicht, vor dem Despotismus niederzuknien“ (S. 27). Das amerikanisch-freiheitliche System der Zukunft steht demnach im historischen Gegensatz zum europäischen Kolonialismus, Despotismus und Absolutismus.10 Die hier zur Hinführung erwähnten Aspekte des zeitgenössischen Verfassungsverständnisses, wie der Hoffnungs- und Zukunftsbegriff, der Vernunftglaube, die Selbstregierung und die atlantische Kontextualisierung, werden bei der Behandlung der Verfassung von Michoacán in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle spielen. An dieser Stelle werden, bevor auf die Constitución michoacana eingegangen wird, diejenigen Bestandteile der föderalen Verfassung untersucht, die sich auf das Verhältnis zwischen dem Zentrum und den Teilstaaten beziehen. Die Bewertung dieses Verhältnisses war von Beginn an stark umstritten. Eine ältere Strömung der Geschichtsschreibung hatte die Position zeitgenössischer Politiker und Historiographen wie Servando Teresa de Mier, Carlos María de Bustamante und Lucas Alamán aufgenommen und betont, Mexiko sei von seiner historischen Verfassung her zentralstaatlich organisiert und die föderale Struktur sei, so die Kritik, ein nicht den Verhältnissen angepasster Import aus den USA. Andere hingegen betonen, die föderale Ordnung sei das historisch zu Mexiko passende Regierungssystem.11 Die Diskussion hält
10 Vgl. hierzu die allerdings zu hinterfragende These vom Föderalismus als „außereuropäisches Modell der Staatsorganisation“ von Camargo: Federación, Zitat S. 300; im Anschluss daran ähnlich: Anna: Mexico (1998). Diese Aussagen passen gut in den historischen Kontext eines gesamt-amerikanischen Denkens: Nachdem 1823 die Verfassung von Cádiz nach der Besetzung Spaniens durch Truppen Frankreichs im Auftrag der Heiligen Allianz wieder außer Kraft gesetzt worden war, erklärte der Präsident der USA, James Monroe, die nach ihm benannte Doktrin zur Leitlinie der USamerikanischen Außenpolitik: Die europäischen Monarchien sollten sich nicht mehr in die amerikanische – republikanische – Hemisphäre einmischen. Allerdings hatte dieses gesamt-amerikanische Denken auch seine Grenzen: 1826 scheiterte der von Simón Bolívar anberaumte panamerikanische Kongress von Panama, aber auch ähnliche Integrationsversuche von Michelena als mexikanischem Vertreter in London. Vgl. zu den Ideen Michelenas: Palacios: Imperios, S. 563-568. 11 Vgl. zur zentralistisch orientierten Historiographie kritisch: Anna: Mexico (1998), S. 1-33 u. 144-146; Ferrer: Formación, S. 188-197 u. 239-243; Vázquez: Conformación, S. 394.
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bis heute – teils immer noch stark ideologisch aufgeladen – an.12 Im Folgenden sollen einige, für die Arbeit zentrale Aspekte erläutert werden. Der Kompromisscharakter der Verfassung zwischen Föderalisten und Zentralisten zeichnet sich in der Konstruktion der geteilten Souveränität besonders deutlich ab: Der Artikel 3 der Acta legte die Souveränität in die gesamte Nation, weshalb dieser „mittels ihrer Repräsentanten“ die Kompetenz zufiel, die grundlegenden Gesetze zu verabschieden. Auf der anderen Seite erklärte der Artikel 6 die „unabhängigen, freien und souveränen Staaten“ zu „integralen Bestandteilen“13 der Nation, wobei sich deren Souveränität ausschließlich auf Angelegenheiten der internen Verwaltung und Regierung bezogen, wie sie in der zentralen Verfassung aufgelistet sind. Das Konstrukt der doppelten Souveränität schien eine theoretisch gangbare Lösung. Der dahinter liegende Machtkonflikt zwischen Zentrum und Einzelstaaten war, wie die Auseinandersetzungen der nächsten Jahre zeigen sollten, freilich nicht gelöst. Insbesondere in finanziell-steuerlichen Fragen und in Fragen der Beteiligung an einer gesamtmexikanischen Armee war die Föderation auf die Kooperation(-sbereitschaft) der Einzelstaaten angewiesen.14 Gemäß der Verfassung blieb also die Definitionsmacht und somit die Kompetenz-Kompetenz bei der Föderation. Symbolisch spiegelt sich dies in der Namensgebung wider: Mit der Bezeichnung „Vereinigte Mexikanische Staaten“ setzte sich der Name der ehemals im Zentrum herrschenden Azteken-Mexica für das gesamte Gebiet durch. Auch machtpolitisch schlug sich die föderale Stellung nieder: Ausschließlich dem Zentrum oblag die Regelung des Verhältnisses zwischen den Teilstaaten und die Vertretung nach außen. Den Staaten war es verboten, „ohne vorherige Zustimmung des Congreso general“15 untereinander Verträge abzuschließen. Allein die Zentralgewalt durfte, neue Territorien und Staaten in die Union aufnehmen. Einen Antrag, dass die Einzelstaaten der Verfassung vor der endgültigen Verabschiedung zustimmen müssten, konnte
12 Vgl. insb. neben den zitierten Werke von Timothy Anna auch: Anna: Mexico und den Sammelband: Carmagnani (Hg.): Federalismos. 13 Die Verfassung nimmt hier wohl den oben diskutierten „Parte integrante“-Diskurs auf, mittels dessen die Amerikaner während der späten Kolonialzeit gegenüber Spanien eingefordert hatten, „integraler“, und nicht nach geordneter, kolonialer Bestandteil der Monarchie zu sein. 14 Vgl. im Überblick und mit weiterer Literatur: Anna: Mexico (1998); zu den Debatten um Steuern die Aufsätze, insbesondere zu Jalisco und México, im Sammelband: Serrano Ortega / Jáuregui (Hgg.): Hacienda. 15 Constitución federal, Art. 162/5.
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der Congreso general bezeichnenderweise erfolgreich ablehnen. 16 Mit der Verpflichtung zur Ausarbeitung von einzelstaatlichen Verfassungen und mit der detaillierten Festlegung auf die Gewaltenteilung legte Mexiko-Stadt aber auch zentrale Rahmenbedingungen für die interne Verwaltung der Bundesstaaten vor.17 Allerdings konzentrierte sich die Föderation – und hier wird die Macht der Einzelstaaten deutlich – auf organisatorische Vorgaben. Außerhalb der Festlegung der Staatsreligion schrieb sie zu den materiellen Grundlagen kaum etwas vor: Insbesondere errichtete die Bundesverfassung kein eigenes Staatsbürgerschaftsrecht und auch bei der Festlegung von Grundrechten blieb sie, mit Ausnahme des Schutzes der Pressefreiheit, zurückhaltend. 18 Die Zurückhaltung beim Aufbau eines direkten Verhältnisses zu seinen Bewohnern wird zudem aus der Definition der Nation nach Artikel 1 der Acta deutlich: Die Nación mexicana verstand sich als die Zusammensetzung der Provinzen auf dem Territorium des „früher so genannten Vizekönigreiches Neu-Spanien“, des „so genannten Generalkapitanats Yucatán“ sowie der „Generalkommandaturen der Provincias internas de oriente und occidente“ und nicht wie beispielsweise in der Verfassung von Cádiz als die „Versammlung aller Spanier“. So blieb die Etablierung eines direkten Verhältnisses zu den Bewohnern den jeweiligen Bundesstaaten vorbehalten. Nicht zuletzt auf Grund dieses Aspekts ist die Analyse der einzelstaatlichen Verfassungen von herausragender, bislang aber fast nicht untersuchter Bedeutung.
16 Vgl. zu den kontroversen Diskussionen um die Souveränität u.a. Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 412-417; Anna: Mexico (1998), S. 1, 127f. u. 141-148; Vázquez: Federalismo, S. 23f.; Ferrer: Formación, S. 41-48. 17 Vgl. Constitución federal, Titel VI. 18 Die Acta constitutiva verpflichtete die „Nación“ in Artikel 30 zwar zum Schutz der „derechos del hombre y del ciudadano“, führte diese Rechte allerdings genauso wenig aus, wie die Constitución federal; neben dem Anspruch auf einen gerechten Prozess war dort nur die Pressefreiheit ausdrücklich verankert (vgl. Constitución federal, Art. 50/3 u. 145156 und Galván Rivera: Presentación, S. [24]-[26]); Sayeg Helú: Constitucionalismo, S. 165f.
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II. Die Väter der Verfassung von Michoacán Ein föderales Dekret vom 8. Januar 1824 ermächtigte den neu gegründeten Staat Michoacán, eine „verfassunggebende Versammlung“ 19 einzurichten und analog zum Wahlgesetz vom 17. Juni 1823 wählen zu lassen. Damit hatte Michoacán nun die Umsetzung alter Forderungen erreicht, nämlich die Bestimmung einer eigenen repräsentativen Regierung und das Recht auf die Ausarbeitung einer eigenen Konstitution. Am 12. März 1824 versammelten sich nach Vorwahlen auf zwei Ebenen 37 Wahlmänner unter dem Vorsitz des Jefe superior político Antonio de Castro in der Aula general des Colegio seminario in Valladolid. Zwei Tage später wählten diese Electores elf Abgeordnete und sechs Stellvertreter.20 Von diesen 17 Personen nahmen insgesamt 14 an der Erarbeitung der Verfassung teil, einige von ihnen allerdings nur streckenweise – gleichzeitig saßen immer nur maximal elf Abgeordnete in der Versammlung. Im folgenden Kapitel sollen alle gewählten Vertreter kurz vorgestellt und der Frage nachgegangen werden, wer als repräsentabel für die Region galt. Während im Kapitel D I eine prosopographische Aus- und Bewertung aller Kongressmitglieder bis 1835 folgt, sollen hier zunächst die einzelnen Verfassungsväter und soweit möglich ihre familiären Hintergründe vorgestellt werden. 21 Allerdings deutet sich schon hier an, und die Prosopographie wird das bestätigen, dass in Michoacán nach der Unabhängigkeit keine Familie das politische Geschehen dominieren konnte. Für andere Regionen Mexikos und Lateinamerikas wurden solche personalistischen Netzwerke als Erklärungsmuster für regionalistischföderalistische Tendenzen herangezogen.22 19 Ley para establecer las legislaturas constituyentes (08.01.1824), in: Manuel Dublan / José María Lozano (Hgg.): Legislación Mexicana, genauere Angaben vgl. Materialverzeichnis. Diese föderale Gesetzessammlung wird im Folgenden abgekürzt mit LM. 20 In dem in einem Text zusammengefassten Protokoll der über drei Tage versammelten Junta electoral heißt es 37 Wähler; aufgezählt werden zwar nur 34, unterschrieben haben jedoch, neben dem Jefe político Antonio de Castro, 37 namentlich genannte Personen; vgl. Sitzung vom 14.03.1824, in: Actas y Decretos del Congreso Constituyente del Estado de Michoacán 1824-1825, Bd. I, S. 1-2. Genauere Angaben vgl. Materialverzeichnis. Diese Protokollsammlung der Konstituante wird im Folgenden abgekürzt mit AyD. Anmerkung zur Zitierweise: Wenn es im Folgenden „Sitzung vom …“ heißt, handelt es sich um Sitzungsprotokolle der Kongresse von Michoacán. Soweit nicht als „Geheimsitzung“ und/oder als „außerordentlich“ bezeichnet, sind es ordentliche, öffentliche Sitzungen. 21 Verwiesen sei hier auch auf die tabellarischen Überblicke im Anhang I (nach Legislaturperioden) und II (alphabetisch) 22 Vgl. zusammenfassend Hensel: Entstehung, S. 25f.
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Wie es sich bereits seit der Unabhängigkeitserklärung angedeutet hatte, waren unter den 17 Personen keine Europa-Spanier, alle waren in Amerika geboren und soweit ersichtlich kreolischer Herkunft. Eine Mehrzahl gehörte nach einer Auswertung von Margaret Chowning der wirtschaftlichen Elite an: Sie ging von zwölf Personen aus, von denen sie acht den „wealthy men“ zuordnete.23 „Die Mehrheit der Abgeordneten wurde“ laut Jaime Hernández Díaz, „in den Kollegs Valladolids, in San Nicolás und im Seminario Tridentino, erzogen“24. Sie können damit als Teil einer politisch interessierten Bildungselite charakterisiert werden. Viele hatten zudem schon in der späten Kolonialzeit herausgehobene politische Positionen in der Region inne. Auf Isidro Huarte junior treffen diese Aussagen par excellence zu. Er war der zweitälteste Sprössling des im Michoacán der späten Kolonialzeit dominanten Einfluss ausübenden Familienclans. Sein Vater, Isidro Huarte senior, von dem schon mehrmals die Rede war, war noch als Jugendlicher, wohl Mitte der 1760er Jahre, nach Valladolid eingewandert. Als Mitglied der baskischen Händlergemeinde heiratete dieser 1771, kurz zuvor verwitwet, Manuela Muñiz y Sánchez y Tagle, die Nichte des vermögenden Bischofs. Huarte senior stieg zunächst als Ladenbesitzer und Händler, dann als Eigentümer von über die gesamte Provinz verteilten Haciendas und als Kreditgeber zu einer der reichsten Personen der Region auf. Schon 1772 war er als Alcalde ordinario, seit 1781 bis zum Ende der Kolonialzeit als Regidor im Stadtrat von Valladolid und unterhielt enge Verbindungen mit den beiden ersten Intendanten. 1805 saßen außer ihm noch einer seiner Söhne, besagter Isidro junior, der Vater seines Schwiegersohns (Joaquín de Iturbide) und drei seiner Handelspartner im Stadtrat, auch danach war die Stellung des Huarte-Clans im Stadtregiment dominant. Erinnert sei an die Klage des Intendanten Alonso de Terán von 1810 über den „parteiischen Rat“. Aus der zweiten Ehe des Seniors gingen neun Kinder hervor, seine drei Töchter verheiratete er mit Handelspartnern, unter anderem mit seinem Cousin Pascual Alzúa, der ihm aus dem Baskenland nachgekommen war, und mit Agustín de Iturbide, dem kreolischen Sohn eines baskischen Händlers und späteren Kaiser. Von seinen Söhnen schlug Ramón nach der väterlichen Vermittlung eines Postens in der Miliz die Militärlaufbahn ein und übernahm als erster Alcalde constitucional von Valladolid 1821 mit dem Amt des Jefe político die politische Führung der Provinz. Isidro junior studierte unter anderem mit Miguel Hidalgo am Colegio de San Nicolás und später am Seminario tridentino, um dann in MexikoStadt das Studium der Jurisprudenz mit dem Licenciado-Titel abzuschließen. 1805 trat er in das Ayuntamiento von Valladolid ein und war in den 1820er Jahren drei Mal Abgeordneter im regionalen Kongress. 23 Vgl. Chowning: Wealth, S. 406 / Endnote 98. 24 Hernández Díaz: Michoacán, S. 305.
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Auch Juan José Martínez de Lejarza stammte aus einer reichen, neu zugewanderten Familie. Sein gleichnamiger, aus dem Baskenland stammender Vater war in der zweiten Jahrhunderthälfte einem Zweig der Familie nach Valladolid gefolgt, wo er sich schnell als Händler und vielfacher Hacienda-Besitzer im Stadtrat und in der Miliz etablierte, 1785 trat er in den hoch angesehenen Ritterorden von Santiago ein. Abad y Queipo wurde zum Paten seines 1785 geborenen gleichnamigen Sohnes, der in den 1810er Jahren im Stadtrat und später in der Diputación provincial und im verfassunggebenden Kongress saß. Wie viele Söhne der spätkolonialen Elite hatte er zunächst in San Nicolás, dann in MexikoStadt am Colegio de Minería studiert, wo ihn unter anderem Humboldt geprüft hatte. Später trat er in die Miliz ein und verfasste Schriften über naturwissenschaftliche Themen sowie Gedichte. Zu Beginn der 1820er Jahre erarbeitete er im Auftrag des Stadtrats eine über die Grenzen Michoacáns hinaus viel gerühmte Statistik der Provinz. Mit Juan Foncerrada y Soravilla galt ein weiterer Nachfahre einer der damals reichsten Familien als in der Konstituante repräsentabel. Auch seine Familie, nämlich sein Großvater war aus der Biskaya eingewandert. Sein Vater José Bernardo de Foncerrada erbte mit seinen Geschwistern eine reiche Hacienda und baute als Regidor alférez real den Handels- und Landwirtschaftsbetrieb weiter aus. Sein erster Versuch 1785, den Posten eines Regidor zu erhalten, scheiterte an der Bevorzugung eines Europa-Spaniers, was ihn zu anti-spanischen Äußerungen verleitete. Ein Prior zeigte diese Kritik bei den Obrigkeiten mit den Worten an, „wenn Foncerrada ... mit mehr Ressourcen rechnen könnte, wäre er im Stande, eine Revolution zu machen“25. Wie viele Denunziationen hatte auch diese kein Urteil nach sich gezogen, vielmehr wurde Foncerrada senior 1788, also kurz danach in den sehr angesehenen Ritterorden von Alcántara aufgenommen. 1780 trat er zudem als Capitán in die örtliche Miliz ein, 1797 erkaufte er sich für 1.200 Pesos den Posten des Teniente coronel bei den Dragonern von Pátzcuaro. Als solcher trat er 1810 den Aufständischen um Hidalgo bei. Sein Bruder José Cayetano saß für Michoacán ab 1811 in den Cortes von Cádiz, ein weiterer Bruder (Melchor) gehörte der Audiencia von Santo Domingo (Kuba) an. Sein Neffe José María Anzorena war 1810 unter Hidalgo Intendant von Valladolid. Der 1782 geborene Sohn Juan wuchs also in einer Spanien-kritischen Familie auf. Er schlug die Militärlaufbahn ein, nahm an der Verschwörung von 1809 als Schwager des Anführers José María Garcia Obeso teil und stand seit 1810 ebenfalls in engem Kontakt mit Hidalgo. 1824 wurde er zwar in die Konstituante Michoacáns gewählt, zog aber das Amt des Abgeordneten im föderalen Kongress vor, in das er vom Nachbarstaat México bestimmt worden war.
25 Alaman: Historia, Bd. I, S. 124f.
Väter der Verfassung
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Während die drei eben genannten Abgeordneten väterlicherseits aus neu eingewanderten, schnell aufgestiegenen Familien stammten, war Mariano Quevedo mütterlicherseits über Ana María Peredo „a member of Valladolid’s quasi-aristocracy“26. Er schlug ebenfalls die Militärlaufbahn ein, nahm an der Verschwörung von 1809 teil und saß 1820 im Ayuntamiento constitucional von Valladolid. Mit den Huarte, Foncerrada und Peredo waren also drei der um die Jahrhundertwende vier reichsten Eigentümer der Region vertreten. Die vierte Familie, die Iturbides, galten nach dem Rücktritt des Kaisers offensichtlich (noch) nicht (wieder) als repräsentabel, was sich erst 1829 änderte.27 Es fällt auf, dass vor allem Anhänger der Verschwörung von 1809 beziehungsweise der Aufständischen in der Konstituante vertreten waren, aktive Royalisten hingegen kaum. Neben den bereits genannten (Foncerrada und Quevedo) sind für die erste Gruppe die Geistlichen aus dem Niederklerus José María Rayón, Manuel de la Torre Lloreda und Juan José Pastor Morales aufzuzählen. Der 1767 in Tlalpujahua geborene Rayón hatte wie sein Bruder Ignacio, der Führer der Junta suprema nacional americana, und seine beiden anderen Brüder auf Seiten der Aufständischen gekämpft. Der 1776 in Patzcuáro geborene Torre Lloreda war bei der Verschwörung von Valladolid der örtliche Verbindungsmann gewesen. Vorher hatte er nach dem Studium am Seminario und in MexikoStadt enge Kontakte mit den führenden Kirchenleuten Antonio de San Miguel, Abad y Queipo und de la Bárcena unterhalten. 1812 war er in Santa Clara del Cobre Pfarrer geworden, von wo er 1824 in seine Heimatstadt wechselte. Der parallel als Literat und Übersetzer tätige Lloreda stand während der Herrschaft Iturbides diesem als Gesandter zur Verfügung.28 Auch Juan José Pastor Morales gehörte der Gruppe der Nicht-Royalisten und der Geistlichen an. Wie schon erwähnt war er wegen Sympathien mit der Französischen Revolution vor der Inquisition angeklagt worden und stand danach mit Hidalgo in engem Kontakt. 1820/21 vertrat er Michoacán in der Diputación provincial von Nueva España. Der Hacendado Manuel Ruíz de Chávez aus einer alteingesessenen Familie hatte 1809 von Huango aus an der Verschwörung mitgewirkt. An den Sitzungen des Constituyente nahm er allerdings nur kurzzeitig als Stellvertreter teil. Pedro Villaseñor hatte als Milizoffizier auf der Seite der Aufständischen gekämpft und arbeitete schon in der Diputación provincial, später noch dreimal als Abgeordneter im Kongress von Michoacán und zwischenzeitlich auch als Gouverneur. Wie 26 Chowning: Wealth, S. 236. 27 Diese vier Familien stellten gegen Ende des Jahrhunderts die größten Eigentümer der Provinz: Während sie über Summen zwischen 200.000-350.000 Pesos verfügten konnten, lag das Durchschnittsvermögen der Elite nach Juárez Nieto bei 60.000-150.000; vgl. Juárez Nieto: Oligarquía, S. 319. 28 Vgl. zu Lloreda zusätzlich: Sánchez Díaz: Introduccion, S. V-XXII.
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die knappe Mehrheit der Deputierten kam er aus Valladolid und wie Ruíz de Chávez aus einer alten, regional verankerten Familie, einer seiner Vorfahren galt als „Abraham Michoacano“29. Auch die Milizionäre José Trinidad Salgado und Juan Gómez de la Puente übernahmen in der folgenden Dekade immer wieder politische Ämter. Während allerdings Salgado auf der Seite der Aufständischen gekämpft hatte, war Gómez de la Puente, Sohn eines europa-spanischen Händlers, das einzige in die Constituyente gewählte Mitglied der regalistischen Verbände. Auch er hatte am Seminario studiert und war als Großgrundbesitzer Teil der spätkolonialen Regionalelite gewesen. Er war der einzige Ersatzmann, der nie an den Sitzungen teilnahm, ab 1827 wurde er allerdings fünf weitere Male in den Kongress gewählt. Politisch nicht eindeutig zuzuordnen sind die weiteren Verfassungsväter, wie Agustín Aguiar, „a wealthy landowner from the Zamora region“30, oder Manuel González Pimentel und José María Paulín, die beide Michoacán später im föderalen Kongress vertraten und Ämter in der Exekutive einnahmen. Von Mariano Menéndez ist leider nichts bekannt. José María Jiménez hatte wie Huarte ein Studium als Licenciado abgeschlossen, vermutlich ebenfalls als Anwalt. In diese sozio-professionielle Gruppe der (studierten) Freiberufler gehört neben dem bereits erwähnten Martínez de Lejarza auch José Antonio Macías, dessen Wahl ohne Angabe von Gründen für ungültig erklärt wurde und für den Lloreda nachrückte. Zu viert (Huarte, Jiménez, Macías und Martínez de Lejarza) stellten sie die zweitgrößte Berufsgruppe. Die größte Gruppe bildeten die fünf Militärs Foncerrada, Gómez de la Puente, Martínez de Lejarza, Salgado und Villaseñor. Die Geistlichen Rayón, Torre Lloreda und Pastor Morales gehörten der am drittstärksten vertretenen sozio-professioniellen Gruppe an. Auch bei ihnen lassen sich „bildungsbürgerliche“ Elemente erkennen. So lässt sich feststellen: „Der Kongress spiegelte in Personen und Prinzipien die politische Erfahrung des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts wider“ 31 : Neben Mitgliedern der neuen und alten spätkolonialen wirtschaftlichen und politischen Elite saßen dort drei Partizipanten der Verschwörung von 1809, auf beiden Seiten im Bürgerkrieg Beteiligte, drei Abgeordnete der Diputaciones provinciales und drei ehemalige Mitglieder des Ayuntamiento constitucional von Valladolid. Wie schon die Diputación kann somit auch der Constituyente als eine zumindest von der Elite anerkannte Institution gelten: Sie entsandte Mitglieder ihrer Familien dorthin. Ihm gehörten allerdings stärker als vorher auch Abgeordnete an, die nicht den spätkolonialen Oberschichtfamilien zugeordnet werden konnten. Die Politisierung und Mobilisierung der vorangegangenen 29 Ibarrola Arriaga: Familias, S. 501. 30 Chowning: Wealth, S. 128. 31 Mendoza Biones / Terán: Fin, S. 299.
Weg zur Verfassung von 1825 und Aufbau
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Jahrzehnte machte sich bemerkbar. Mit der Vertretung von Militärs, studierten Freiberuflern und Geistlichen aus dem Niederklerus deutet sich die fortschreitende soziale Diversifikation der Mitgliedschaft bereits an. Mehr noch als die Diputación besaß der verfassunggebende Kongress über seine Zusammensetzung einen regionalen und zugleich (bildungs-)bürgerlichen Charakter. Eine Auswertung und Einordnung dieser Daten erfolgt, wie gesagt, unter Hinzunahme der Abgeordneten der weiteren Kongresse bis 1835 im Kapitel D.
III. Der Weg zur Verfassung von 1825 und ihr Aufbau Am 6. April 1824 trafen in der Aula des Colegio folgende sieben Abgeordnete ein: Manuel González, Isidro Huarte, José María Jiménez, Juan José Martínez de Lejarza, José María Rayón, José Salgado und Pedro Villaseñor.32 Sie bildeten damit die notwendige Mehrheit, um den verfassunggebenden Kongress zu konstituieren. Als erste Amtshandlung beschloss er folgendes Dekret, das Antonio de Castro als Chef der Exekutive publizierte: „Antonio de Castro, provisorischer Jefe superior político, für den verfassunggebenden Kongress des Staates. An alle, die das vorliegende sehen und verstehen, wisset: der nämliche Kongress hat das Folgende verordnet: Num. 1 ‚Der verfassunggebende Kongress des freien, unabhängigen und souveränen Staates von Michoacán lässt in seiner Sitzung des heutigen Tages Folgendes erklären und verordnen. Legitimerweise installiert und in seiner Mehrheit von sieben Abgeordneten versammelt zu sein, und in vollständiger Freiheit zu verhandeln und seine Sitzungen fortzuführen. Dass der Jefe político seine Aufgaben fortsetzt, bis der Gouverneur des Staates gewählt ist. Dass diese Anordnungen an den genannten Jefe político gereicht werden, damit er sie an alle Autoritäten und Korporationen zu deren Kenntnis, und zur selben an alle übrigen Bewohner des Staates mitteilt, zu dessen Ziel er sie drucken, veröffentlichen und zirkulieren lässt. Valladolid, 6. April 1824. José María Rayón, Präsident – Pedro Villaseñor, Diputado secretario – Manuel González, Diputado secretario.’ Und damit es allen zur Kenntnis kommt, ordne ich [Castro] an, dass es durch Aushang in dieser Hauptstadt und in den übrigen Städten, Dörfern und Orten des 32 Die Namen der versammelten sieben Abgeordneten lassen sich über Erwähnungen im gleich zitierten Dekret und im Protokoll nur indirekt erschließen; vgl. Sitzungen vom 06. bzw. 10.04.1824, in: AyD, I, S. 3f. bzw. 9.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
Bereiches meines Amtes publiziert wird, indem es an den gewohnten Stellen ausgehängt, und an diejenigen verteilt wird, die es betrifft, sich um seine Observanz zu kümmern. Gegeben in Valladolid am 6. April 1824. – Antonio de Castro. – Verschickt durch seinen Sekretär, Rafael Huerta Escalante.“33
Mit diesem Dekret gab der verfassunggebende Kongress die Installation der ersten Regierung des neuen Staatswesens öffentlich bekannt, nämlich des Kongresses und des Jefe político. Gleichzeitig formulierte er das Ziel des Kongresses, nämlich die Ausarbeitung der Verfassung. Die folgenden Seiten sollen einen ersten Einblick in die Arbeitsweise des Kongresses liefern. Beim Lesen der Sitzungsprotokolle gewinnt man oft den Eindruck des unsicheren Neuanfanges: Vieles war vage und musste erst ausgehandelt werden. In der ersten Sitzung löste der Kongress die Frage nach der Verfahrensordnung, indem er die Geschäftsordnung vom Nachbarstaat Jalisco vorläufig übernahm. In der vierten Sitzung am 10. April ernannte der amtierende Präsident des Kongresses, der Geistliche und ehemalige Aufständische José María Rayón, gemäß der Geschäftsordnung fünf „ordentliche Kommissionen“ und betraute diese mit je eigenen Aufgabengebieten: eine für die Verwaltung des Kongresses, die sich wohl wie später aus dem dreiköpfigen Präsidium zusammensetzte, also neben dem Präsidenten aus den beiden Sekretären. 34 Ab dem 6. Mai führte der Kongress für diese drei Ämter sowie für das des Vizepräsidenten monatlich Neuwahlen durch, wobei immer ein Secretario im Amt blieb und nur der dienstältere ausschied. Entsprechend rotierte die Besetzung dieser Kommission im Gegensatz der der anderen. Eine ihrer primären Aufgaben bestand in der Organisation und Vorbereitung der Kongresssitzungen sowie in der Redaktion der verabschiedeten Gesetze und der Erstellung der Protokolle. Letztere wurden jeweils bis zur nächsten Sitzung erstellt, dort gelesen und gegebenenfalls korrigiert beziehungsweise genehmigt. Erst diese genehmigte Version wurde dann für die Protokollsammlung freigegeben. Die so erarbeiteten Protokolle und Gesetze, auf deren Erstellung im Kapitel F noch detailliert eingegangen wird, sind die Grundlage der vorliegenden Studie.
33 Dekret Nr. 1 (06.04.1824), in: Recopilación de Leyes, Decretos, Reglamentos y Circulares expedidas en el Estado de Michoacán, Bd. I, S. 13f. Weitere Angaben vgl. Materialverzeichnis. Diese einzelstaatliche Gesetzessammlung wird im Folgenden mit RdL abgekürzt. 34 Die Namen dieser drei Personen sind protokollarisch nicht für die Kommission vermerkt, allerdings werden sie später im Zusammenhang mit ihr genannt, auch werden sie als einzige keiner Kommission zugeordnet. Zudem sah die später verabschiedete endgültige Geschäftsordnung des Kongresses (ebenfalls) vor, dass das Präsidium diese Aufgaben übernimmt.
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Die zweite, dauerhafte Kommission beschäftigte sich mit den Beziehungen zur Föderation, mit Kirchenangelegenheiten und Bildung. In ihr saßen zunächst der reiche Milizangehörige und Gelehrte Martínez de Lejarza und der nachgerückte Ersatzmann Torre Lloreda, ein Geistlicher aus den Kreisen der Aufständischen. Der Ersatzmann José Manuel Ruíz de Chávez, ein Hacendado, und der Milizionär Salgado bestückten die Kommission für Finanzen und Wirtschaft. Die am gleichen Tag inkorporierten Ersatzleute Manuel Menéndez und der Milizionär Mariano de Quevedo übernahmen die Kommission, die sich mit den Themen Verfassungsbrüche, Pressefreiheit und Kriegsangelegenheiten auseinandersetzen sollte. Aus dieser Aufstellung wird schon deutlich, dass die Konstituante sich nicht nur und zunächst nicht einmal primär mit der Verfassunggebung auseinanderzusetzen hatte, sondern auch mit der Verabschiedung von Gesetzen in den genannten Bereichen. Die Aufgabenbereiche Verfassung, Gesetzgebung und Regierung waren schließlich in der letzten Kommission gebündelt, in ihr saßen die Licenciados Huarte 35 und Jiménez. Zusammen mit dem später in diese Kommission berufenen Torre Lloreda, arbeiteten sie wohl während der folgenden Monate am kontinuierlichsten am Verfassungsprojekt.36 Am 6. Mai beschloss der Kongress auf Antrag des am 24. April erschienen Juan José Pastor Morales, dass die Besetzung der Verfassungskommission möglichst nicht verändert werden solle, und dass anders als bei den anderen Kommissionen immer nur eines ihrer Mitglieder zum Kongresspräsidenten beziehungsweise Sekretär gewählt werden dürfe.37 Diese Regelung unterstreicht die wachsende Bedeutung, die die Abgeordneten der Arbeit dieser Kommission zumaßen. Dies geht auch aus einem Dekret vom 10. April hervor, in dem der Kongress dazu aufforderte, dass in allen Kirchen und Konventen des Staates „über drei Tage öffentliche Bittgebete abgehalten werden …, um die notwendige Hilfe des Allmächtigen für einen 35 Soweit ab hier nicht anders vermerkt, handelt es sich im Folgenden um Huarte junior. 36 Sitzung vom 10.04.1824, in: AyD, I, S. 9. Auf Antrag von Manuel González Pimentel vom 24. April hatte der Präsident die Kommission offensichtlich um Lloreda erweitert: Im Protokoll der Sitzung vom 10. August ist zu ersehen, dass Lloreda zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Kommission war; vgl. Sitzungen vom 24.04. bzw. 10.08.1824, in: AyD, I, S. 17 bzw. 208. 37 Den durch einen Wechsel ins Präsidium frei werdenden Posten übernahm zur Wahrung der numerischen Kontinuität einer Kommission zwischenzeitlich der gerade aus dem Amt ausscheidende Präsident beziehungsweise Sekretär, bis er wieder von dem ehemaligen ständigen Mitglied abgelöst wurde. Diese Regelung wurde allerdings nicht durchgängig eingehalten: Im September bspw. war Jiménez Präsident und Huarte Sekretär. In der Sitzung am 9. Oktober kündigte der Präsident an, die Kommission neu besetzen zu wollen. Ob dies geschah, geht aus den Unterlagen nicht eindeutig hervor; vgl. Sitzungen vom 06.05. bzw. 09.10.1824, in: AyD, I, S. 31 bzw. 321.
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besseren Erfolg in den Verhandlungen des Kongresses zu erflehen“38. Kurze Zeit später bat der Kongress „die Weisen des Staates“ per Dekret darum, mit ihrer „Bildung“39 am Verfassungsprojekt mitzuarbeiten. Das eigentliche Ziel des verfassunggebenden Kongresses spielte nach den Protokollen allerdings bis Anfang November weiterhin eine untergeordnete Rolle.40 Man gewinnt nicht den Eindruck, dass sich der Kongress primär zur Ausarbeitung einer Verfassung versammelt hatte, Nachrichten über die Arbeit an ihr sind zunächst kaum übermittelt.41 Das Augenmerk galt vielmehr vorerst dem Aufbau des Verwaltungs- und Justizsystems sowie des Finanzwesens. Am 8. April wählte der Kongress Francisco Manuel Sánchez de Tagle, einen Gelehrten und Großneffen des ehemaligen Bischofs, zum Interimsgouverneur.42 Dieser trat ohne Angabe von Gründen sein Amt jedoch nicht an, so dass Antonio de Castro dieses als sein gewählter Stellvertreter am 19. Juni übernahm.43 Am gleichen Tag verfügte der Kongress, dass die „Autoritäten des Staates, die bis jetzt die Justizaufgaben ausgeführt haben“ 44 , und „die Ayuntamientos sowie die übrigen zivilen und militärischen Korporationen und Autoritäten in ihren Aufgaben weitermachen“, jeweils unter Maßgabe der „geltenden Gesetze“ 45 . Die Etablierung und Wahrung von Kontinuität und Ordnung standen also zunächst im Vordergrund. In diesem Sinne wurden am 28. April „alle Autoritäten und Korporationen des Staates, sowohl die zivilen als auch die militärischen und kirchlichen, und die öffentlichen Angestellten“ verpflichtet, den „geschuldeten Gehorsamsschwur“46 gegenüber dem Kongress abzulegen. Während der Kongress beim eben genannten Personenkreise für den Akt des Schwurs noch genauere Vorgaben machte, heißt es für „das Volk“ schlicht: Es „wird den Schwur in der gewohnten Form ablegen“47. Trotz der „Umstände der Armut, in der sich der gesamte Staat befindet“, sollte auf die
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Dekret Nr. 4 (10.04.1824), in: RdL, I, S. 13. Dekret Nr. 6 (28.04.1824), in: RdL, I, S. 15. Vgl. auch Hernández Díaz: Michoacán, S. 306-309. Ausnahmen bilden beispielsweise die Diskussionen um die Erneuerung der Ayuntamientos und die Besetzung des Regierungsrates (Consejo de gobierno); bei beiden, unten zu behandelnden Institutionen wurde auf die endgültig zu fassende Regelung in der Verfassung verwiesen; vgl. Sitzungen vom 12.06. bzw. 25.06.1824, in: AyD, I, S. 87 bzw. 108. Vgl. Dekret Nr. 3 (08.04.1824), in: RdL, I, S. 12f. Vgl. Dekret Nr. 15 (08.04.1824), in: RdL, I, S. 21. Dekret Nr. 2 (08.04.1824) / Art. 1, in: RdL, I, S. 12. Dekret Nr. 2 (08.04.1824) / Art. 2, in: RdL, I, S. 12. Dekret Nr. 5 (28.04.1824) / Art. 1, in: RdL, I, S. 13. Dekret Nr. 5 (28.04.1824) / Art. 12, in: RdL, I, S. 15. Auf diese Zweiteilung wird im Kapitel über die Gesellschaftsvorstellungen noch genauer einzugehen sein.
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„Feierlichkeit des so heiligen Aktes“48, der immer öffentlich stattfinden sollte, geachtet werden. In den folgenden Monaten erhielt der Kongress neben Glückwunschschreiben zur Installation auch immer wieder Bestätigungen über die Schwurakte. Parallel zu dieser Anerkennung wurde in der Selbst- und Fremdwahrnehmung jedoch auch vermehrt Kritik laut. Sie deutet daraufhin, dass sich der Kongress sowohl mit den anderen Einzelstaaten als auch mit der eigenen Bevölkerung in einem dauernden Kommunikationsprozess und sich zugleich diesen gegenüber als legitimationsbedürftig verortete. In einer Rede in geheimer Sitzung attestierte José Salgado am 8. Juli der Arbeit des Kongresses „Apathie und einen beschämenden Fortgang“ und forderte mit Blick auf die Fortschritte der Kongresse des Estado de México49, von Jalisco, Zacatecas und Oaxaca alle Kommissionen auf, ihre „jeweilige Arbeit zu aktivieren“. Er verwies darauf, dass sich Michoacán auf dem „Niveau der in den öffentlichen Schriften lächerlich gemachten Kongresse, wie die von [San Luis] Potosí und Guanajuato, befinde“. Er rief deswegen dazu auf, „unserem Kongress einen lebhaften und geradlinigen Marsch zu geben, um gegenüber Gott, der Nation, unserem Staat und gegenüber unserer Ehre die Pflicht zu erfüllen“50. Am nächsten Tag beschloss der Kongress folgerichtig, dass sich alle Kommissionen ab dem folgenden Montag regelmäßig zu versammeln haben, und dass sie ihre jeweiligen Arbeitszeiten sowie die Namen der Anwesenden zu Überprüfungszwecken dem Kongresspräsidenten anzuzeigen hätten.51 Da die für die Verfassung zuständige Kommission weiterhin auch mit anderen Projekten befasst war, schlug Lloreda am 9. Oktober vor, die Kommission von anderen Aufgaben zu entlasten oder aber die anderen Kommissionsmitglieder mit der Arbeit an diesen Aufgaben zu betrauen und ihm allein die Ausarbeitung des ersten Verfassungsentwurfs zu überlassen. Wie Salgado verwies auch er auf den durch die Öffentlichkeit entstandenen Zeitdruck. Der Kongress nahm diesen Vorschlag allerdings nicht an, beschloss aber, dass sich alle Kommissionen täglich zu treffen und dass fehlende Mitglieder pro Tag einen Peso Strafe zu zahlen hätten.52
48 Dekret Nr. 5 (28.04.1824) / Art. 13, in: RdL, I, S. 15. 49 Für den Bundesstaat Estado de México wird im Folgenden die spanische Schreibweise verwendet, während der Gesamtstaat als „Mexiko“ bezeichnet wird. 50 Geheimsitzung vom 08.07.1824, in: AyD, I, S. 134f. Über die Ursachen, warum die Kongresse von San Luis Potosí und Guanajuato als lächerlich galten, wird leider nichts ausgesagt. 51 Außerordentliche Geheimsitzung vom 09.07.1824, in: AyD, I, S. 137. 52 Vgl. Sitzung vom 09.10.1824, in: AyD, I, S. 321.
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Am 4. November schließlich legte die Verfassungskommission ihr Projekt vor: 53 Die 197 Artikel der „Constitucion Politica del Estado de Michuacán [sic!]” wurden komplett verlesen, dann sollten Kopien für die Abgeordneten angefertigt werden, um sie ab dem 1. Dezember diskutieren zu können. Huarte kündigte zu diesem Zwecke an, dass die bestellte Druckerpresse demnächst eintreffen würde, was sich dann jedoch noch lange verzögerte.54 Ob den Abgeordneten trotzdem Kopien vorlagen, ist lediglich zu vermuten. Die Deputierten beschlossen jedenfalls am 2. Dezember, dass die ersten beiden Stunden in jeder der vier wöchentlichen Sitzungen ausschließlich der Verfassung gewidmet sein sollten, wobei man zunächst allgemein die so genannten Titel, dann die Kapitel und schließlich die einzelnen Artikel diskutieren wollte.55 Ab Anfang Dezember diskutierte das Plenum daraufhin zunächst den Titel III zum Gobierno político y económico, also den Bereich, der sich mit der Landesverwaltung befasste. Man zog diesen Titel vor die anderen, da dessen Inhalt bereits in den vorangegangenen Tagen debattiert worden war. Zur Wahrung der Ordnung galt der Verwaltung eine hohe Priorität. Außerdem standen die Wahlen zu den Ayuntamientos, die Teil dieses Titels waren, kurz bevor. Am 24. Januar 1825 publizierte der Kongress dann das Kapitel zu den Ayuntamientos vorab als „Verfassungsgesetz [Ley constitucional]“. Auch das zweite Kapitel des Titels („De los Prefectos y Subprefectos“) veröffentlichte man schon vor der Verfassung am 14. März. Im Anschluss an diesen Artikel diskutierten die Abgeordneten 53 Vgl. den Entwurf vom 30. Oktober 1824: Constitucion Politica del Estado de Michuacán (30.10.1824), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3, s./f. Dieses Dokument wird hier zwar nicht als das entsprechende Projekt bezeichnet, allerdings sprechen einige, sehr spezifische Übereinstimmungen mit Zitaten der Sitzungsprotokolle dafür, beispielsweise der Aufbau in 197 Artikel, die Bezeichnung einiger Titel- und Kapitelüberschriften und vor allem die genaue Übereinstimmung im Wortlaut von Artikeln mit denen in den Protokollen. Andere Artikel wurden offensichtlich noch vor ihrer ersten Diskussion modifiziert. 54 Vgl. Sitzungen vom 04.11. bzw. 09.11.1824, in: AyD, I, S. 374 bzw. 383. Vgl. zum Pressewesen Michoacáns: Flores: Prensa, S. 46-48 und die Ausführungen im Kapitel F IV. Seit 1821 existierte in Valladolid eine den Ansprüchen nicht genügende, „kleine tragbare Presse“ (Flores: Prensa, S. 46), betrieben von Luis Arango, der mit Iturbide gekommen war. 55 Vgl. Sitzung vom 02.12.1824, in: AyD, I, S. 445. Für die abschließende Redaktion wählte der Kongress am 11. Mai einen Redakteur, nämlich Lloreda, und eine ihn überprüfende Kommission mit Pastor Morales, Huarte, der bald schwer krank wurde, und dem aus einer alten vornehmen Familie stammenden Villaseñor, der im Unabhängigkeitskrieg bei den Aufständischen gekämpft hatte. Kurz vor Ende der Verhandlungen, am 4. Juli, wurde die Kommission aus Zeitnot aufgelöst und Lloreda beauftragt, täglich an der Redaktion zu arbeiten; vgl. Geheimsitzungen vom 11.05. bzw. 04.07.1825, in: AyD, II, S. 292 bzw. 371.
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dem Aufbau des Entwurfes folgend zuerst die Präambel und die Präliminarien. Es folgten die Titel zur Legislative (Titel I), danach der zur Exekutive (II) und der zur Judikative (IV). Die letzten fünf Titel wurden gebündelt, für ihre Diskussion blieben nur noch vier Tage zwischen dem 22. Juni und 4. Juli.56 Aber auch während dieser Debatten sahen sich der Kongress im Allgemeinen und die Verfassungskommission im Besonderen interner und externer Kritik ausgesetzt. Am 10. Januar erweiterte der Kongress zunächst die alte Verfassungskommission um Rayón und Pastor Morales.57 Sechs Wochen später, am 21. Februar, forderte der Präsident auf Grund des „Geredes“ wegen „Verzugs … für die Schicklichkeit des Ehrenwerten Kongresses ... eine leichtere und schnellere Methode“58. Offensichtlich bestand diese neue Methode in der Aufteilung in vier Sektionen für die vier zentralen Titel Präliminarien, Legislative, Exekutive und Judikative. 59 Genannt seien hier auch die durch die Zeitnot begründete Einberufung von zwei nachmittäglichen Extrasitzungen pro Woche am 9. April beziehungsweise deren Ersetzung (wegen der „Hitze der Jahreszeit“) durch verlängerte Sitzungen am 4. Mai.60 Am 8. beziehungsweise 16. Juli schließlich beschloss der Kongress, die fertig gestellte Verfassung am 19. des Monats in „öffentlicher Sitzung“ zu verlesen. Sie sei von „allen in der Hauptstadt anwesenden Abgeordneten“ zu unterschreiben und „in der Hauptstadt und in allen Pueblos mit dem Prunk und der Feierlichkeit, die der Akt verlangt“61, zu veröffentlichen. So unterzeichneten am 19. Juli folgende zehn Abgeordnete den Verfassungstext: Pedro Villaseñor, Agustín Aguiar, José María Rayón, Manuel de la Torre Lloreda, José María Jiménez, Manuel González, José 56 Vgl. entsprechende Protokolle in: AyD, I und II und die Arbeiten in den Kommissionen, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3. 57 Vgl. Geheimsitzung vom 10.01.1825, in: AyD, II, S. 29. 58 Geheimsitzung vom 21.02.1825, in: AyD, II, S. 126. 59 Erstmalig erwähnt wurde diese „neue Methode“ am 26. Februar, als von González „als Individuum der zweiten Sektion [!], beauftragt mit einem Teil des Verfassungsprojekts“, die Rede war; vgl. Sitzung vom 26.02.1825, in: AyD, II, S. 136. Folgende Mitglieder der einzelnen Sektionen ließen sich eruieren: Für die Präliminarien Lloreda, für die Legislative Villaseñor, González, Salgado und zeitweise José María Paulín, für die Judikative Pastor Morales, Jiménez und Agustin Aguiar, den Suplente für den an den föderalen Kongress wechselnden Juan Nepomuceno Foncerrada. Für die die Exekutive und die letzten Titel behandelnden Sektionen liegen leider keine Sektionsunterlagen vor. Der Titel „Gobierno político y económico“ war zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgeschlossen, vgl. AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3. 60 Vgl. Geheimsitzungen vom 09.04. bzw. 04.05.1825, in: AyD, II, S. 222 bzw. 279. 61 Vgl. die Dekrete Nr. 47, 48 bzw. 51 (08.07. bzw. 16.07.1825), in: RdL, I, S. 95-98, Zitate S. 95 u. 97 sowie Sitzung vom 20.07.1825, in: AyD, II, S. 414. Am 11. Oktober 1825 erließ die Regierung das Reglement zur Veröffentlichung und zum Schwur der Verfassung im gesamten Staat; vgl. hierzu die Kapitel E II und F IV.
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María Paulín, Manuel Menéndez, Juan José Pastor Morales und José Salgado. Isidro Huarte war als „schwer erkrankt“62 entschuldigt. Am Tag darauf legten die Abgeordneten und der interimistische Gouverneur Castro den Schwur auf die Verfassung ab. Nach einem weiteren Dekret hatten auch alle Autoritäten, Korporationen und Angestellten des Staates, darunter auch Kirchenangehörige, einen Schwur auf die Verfassung abzulegen. Während auch dieser Schwur wieder ausführlich geregelt war, hieß es für das Volk wieder eher beiläufig: „Das Volk legt ihn per Akklamation“ 63 ab. Auf diese Zweiteilung des Adressatenkreises wird noch zurückzukommen sein. Bevor das Ergebnis dieses verfassunggebenden Kongresses, die erste Verfassung Michoacáns, in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht wird, ist sie zum besseren Überblick im Folgenden abgebildet: Politische Verfassung des Föderierten Freistaates von Michoacán (1825) Präambel Präliminarien Titel I: Legislative Kap. I: Kongress und Abgeordnete Kap. II: Aufgaben des Kongresses Kap. III: Erarbeitung und Publikation der Gesetze Titel II: Exekutive Kap. I: Wahl des Gouverneurs und Vizegouverneurs Kap. II: Amtsdauer und Schwur Kap. III: Rechte des Gouverneurs Kap. IV: Aufgaben und Pflichten des Gouverneurs Kap. V: Regierungsrat Kap. VI: Büro des Gouverneurs Titel III: Verwaltung des Staates Kap. I: Präfekte und Subpräfekte Kap. II: Ayuntamientos Titel IV: Judikative Kap. I: Gerichtshöfe Kap. II: Organisation und Aufgaben der Gerichtshöfe Kap. III: Verwaltung der Justiz im Allgemeinen Kap. IV: Verwaltung der Justiz im Strafrecht Titel V: Staatshaushalt Titel VI: Öffentliche Bildung Titel VII: Miliz Titel VIII: Allgemeine Verfügungen Titel IX: Einhaltung und Reform der Verfassung
Artikel 1-18 Artikel 19-56 Artikel 19-41 Artikel 42-43 Artikel 44-56 Artikel 57-93 Artikel 57-64 Artikel 65-68 Artikel 69-72 Artikel 73-76 Artikel 77-88 Artikel 89-93 Artikel 94-114 Artikel 94-102 Artikel 103-114 Artikel 115-183 Artikel 115-119 Artikel 120-150 Artikel 151-161 Artikel 162-183 Artikel 184-192 Artikel 193-198 Artikel 199 Artikel 200-211 Artikel 212-223
62 Verfassung von Michoacán, in: RdL, I, S. 135. 63 Orden (11.10.1825) / Art. 3, in: RdL, II, S. 44. Vgl. auch Dekret 51 (16.07.1825), in: RdL, I, S. 97f.
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Somit hatte der verfassunggebende Kongress seine Aufgabe erfüllt. Am 21. Juli „erschien der Gouverneur des Staates, um der Schließung der Sitzung des Ehrenwerten Kongresses beizuwohnen; und er hielt nach Artikel 32 der genannten Verfassung eine Rede, beschränkt darauf, dem Volk mitzuteilen, dass die Herren Abgeordneten des Verfassunggebenden Kongresses die Aufgabe ihres Auftrags erfüllt haben, ohne Erschöpfung oder irgendein Mittel in ihren andauernden Arbeiten zu scheuen, um eine Verfassung zu formieren, die das Glück und das Gedeihen des Staates fördert, und um dem Volk von Michoacán wohltätige Gesetze zu erlassen; diese [die Abgeordneten] waren durch einen solch großartigen Titel Gläubiger gegenüber der Achtung und dem Ansehen ihrer würdevollen Mitbürger. Seine Exzellenz, der Herr Präsident [des Kongresses], antwortete kurz, sich auf das gleiche Thema beziehend; und sofort danach verkündete er mit lauter Stimme, dass die Sitzungen des Ehrenwerten Verfassunggebenden Kongresses geschlossen bleiben, womit diese [Sitzung] um elf Uhr dreißig beendet wurde.“64
IV. Ziele und Legitimation der Verfassung „Der Gouverneur des Staates von Michoacán an alle seine Bewohner, wisset: Der verfassunggebende Kongress desselbigen hat die folgende Politische Verfassung des Föderierten Freistaates von Michoacán erlassen und sanktioniert. Im Namen des dreieinigen Gottes, Autor und höchster Gesetzgeber der Gesellschaft. Der verfassunggebende Kongress des Staates von Michoacán, in Ausübung der Vollmachten, die ihm durch den Akt seiner Wahl das souveräne Volk diesbezüglich übertrug, bestimmt für dessen Regierung die folgende politische Verfassung.“65
Durch den Veröffentlichungsakt der Verfassung am 19. Juli 1825 gründete sich der durch die Acta constitutiva ins Leben gerufene „Staat von Michoacán“ als „Föderierter Freistaat von Michoacán“ neu.66 Die hier vollständig zitierte Präambel macht auf zwei Aspekte aufmerksam, durch die sich die Verfassung von 64 Sitzung vom 21.07.1825, in: AyD, II, S. 416f. 65 Präambel der Verfassung von Michoacán, in: RdL, I, S. 99. Besonders instruktiv für die theoretische Grundlegung dieses Kapitels: Grimm: Zukunft, S. 11-94; für den Vergleich mit dem deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts: Grimm: Verfassungsgeschichte; speziell zum monarchischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts: Kirsch: Monarch. 66 Zur Bedeutung des Publikationsaktes vgl. die oben zitierten Dekrete Nr. 47, 48, 51 sowie den Artikel 52 der Verfassung, in dem es heißt: „Kein Gesetz verpflichtet ohne die durch die Regierung veranlasste Veröffentlichung“. Vgl. hierzu außerdem das Kapitel F IV.
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den Grundgesetzen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, aber auch von den meisten ihrer europäischen Pendants unterschied. Die Verfassungsväter Michoacáns beriefen sich erstens nicht auf das Gottesgnadentum, sondern ausdrücklich auf das „souveräne Volk“ als konkrete Legitimationsgrundlage. Gleichzeitig erhielt Gott die Funktion als „Autor und höchster Gesetzgeber der Gesellschaft“. Dieses Spannungsverhältnis soll im zweiten Abschnitt dieses Kapitels untersucht werden (b). Der zweite neuartige Aspekt äußert sich darin, dass es sich nicht ‚nur’ um die Modifizierung einer bereits vorhandenen Staatsordnung handelte, sondern um eine Neugründung oder zumindest um den entscheidenden Abschluss eines entsprechenden zweistufigen Prozesses. Dass für die Verfassungsväter nicht die erste Stufe, die föderale Verfassung, sondern diese zweite Stufe die entscheidende war, kommt besonders gut darin zum Ausdruck, dass der Auftrag zur Verfassunggebung durch die föderale Verfassung keine Erwähnung fand, weder in der Präambel noch an anderer Stelle. Während die meisten zeitgenössischen Verfassungen Europas – um mit dem Verfassungsrechtler Dieter Grimm zu sprechen – „herrschaftsmodifizierenden“ Charakter hatten, begründete die Verfassung Michoacáns also ein neues Gemeinwesen, nämlich den „Föderierten Freistaat von Michoacán“ (c).67 Wie im Kapitel V zu sehen sein wird, blieb der Neuordnungsanspruch jedoch nicht bei der Staatsgründung stehen, vielmehr entwarfen die Verfassungsväter zusätzlich eine neue Gesellschaftsordnung, die sich am Modell der Staatsbürgergesellschaft orientierte. Die beiden Abschnitte (b) und (c) behandeln zusammen mit Kapitel V die drei zentralen, eng miteinander verbundenen Themen bei den Debatten über die Präambel und die Präliminarien der Verfassung. Ihnen voraus geht die Frage nach dem Ziel, das die Verfassungsväter mit ihrem Opus verbanden (a).
a.
Die Verfassung – ein Organisationsstatut?
Die Präambel definierte als Ziel der Verfassung, wie oben gesehen, in ihrem letzten Satz die „Regierung [gobierno]“ des Volkes. Was verstanden die Verfassungsväter unter „Regierung“? Insbesondere im Vergleich mit den zitierten Zielen der föderalen Verfassung, aber auch im Vergleich mit anderen, gleich anzuführenden einzelstaatlichen Konstitutionen klingt diese Zielstellung sehr nüchtern. Verbanden die Verfassungsväter Michoacán tatsächlich mit der Verfassung keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft? Dachten sie an ein schlichtes Organisationsstatut? Diese Fragen werden auf Grund ihrer Grundsätzlichkeit 67 Vgl. zur Unterscheidung zwischen herrschaftsbegründender und -modifizierender Verfassung und ihrer Problematisierung: Grimm: Zukunft, S. 34f.; Kirsch: Monarch, S. 52f.
Ziele und Legitimation der Verfassung
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im folgenden Abschnitt nicht abschließend zu beantworten sein. Sie werden vielmehr den gesamten zweiten Teil der vorliegenden Studie beschäftigen. Zwei Entscheidungen scheinen zunächst in Richtung der Vorstellung eines nüchtern-sachlichen Verfassungskonzeptes zu deuten. So hatte Manuel González während der Diskussionen mit Hinweis auf „mehr als sieben oder acht vorliegende Verfassungen“ die Ausweitung der Präambel postuliert: Demnach sollte die Verfassung das Ziel haben, „gemäß den Wünschen und der Abstimmung unserer Auftraggeber“, also gemäß den Wünschen des Volkes, „auf eine stabile Art sein Gedeihen und seinen Ruhm zu sichern“ 68 . Das Ersuchen González’ fand ohne Angabe von Gründen bei der Mehrheit ebenso wenig Anklang wie die von ihm angeführten einzelstaatlichen Verfassungen – letztlich lassen sich elf Präambeln mit zusätzlichen Zielen anführen – oder die oben zitierte Formulierung des Gouverneurs bei der feierlichen Abschlusssitzung des Constituyente am 21. Juli 1825: „... um eine Verfassung zu formieren, die das Glück und das Gedeihen des Staates fördert“. Bei der Diskussion über die Zielsetzung von Gesetzen im Allgemeinen wiederholte sich das Schema: Zunächst verankerten die Verfassungsväter als Ziel das „generelle Glück, die Unterstützung der Unabhängigkeit und des aktuellen Regierungssystems und die Einhaltung dieser und der föderalen Verfassung“ 69 , in der Schlussfassung fand der entsprechende Artikel allerdings keine Mehrheit mehr. Mit ihrem nüchternen Ziel der „Regierung“, nicht einmal der „guten Regierung“ wie in der Constitución federal, hob sich die Präambel Michoacáns also durchaus und bewusst von anderen Verfassungen ab. Eine weitere Entscheidung bezüglich des Verfassungsaufbaus unterstützt diese Einschätzung: Lloreda hatte erfolgreich dafür plädiert, den im Entwurf als solchen bezeichneten „ersten Titel ...: ‚Vom Staat, seinem Territorium, seiner Religion und Regierungsform’“ als „Präliminarien oder Voraussetzungen“ zu bezeichnen, da diese Verfassung „nur auf die Punkte abzielt, die zu den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative gehören“. Die ersten, programmatischen Artikel hingegen stellten demnach mit den genannten Themen die „bereits errichteten Grundlagen“ 70 dar. In der Abstimmung folgte die Mehrheit dem Ansinnen Lloredas: Die ersten 18 Artikel galten nicht als erster Titel.71
68 Vgl. Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 105. 69 Vgl. Sitzung vom 17.03.1825, in: AyD, II, S. 193. 70 Vgl. Sitzungen vom 11.12.1824 bzw. 11.02.1825, in: AyD, I bzw. II, S. 461 bzw. 105f., Zitate S. 105f. 71 Vgl. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 251f. Eine ähnliche Bezeichnung traf vor Michoacán die Verfassung von Jalisco (als Disposiciones generales bezeichnet) und später noch Coahuila y Texas.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
Der Vergleich mit anderen Verfassungen macht die Abgrenzung Michoacáns noch deutlicher. So „wünschten sich“ beispielsweise die Verfassungsväter von Querétaro in ihrer Präambel, „dem Vertrauen der Pueblos, ihrer Auftraggeber, zu entsprechen, indem sie durch die fundamentalen Gesetze deren natürliche und zivile Rechte schützen und deren Aufstieg und Prosperität fördern“72. Diese Aufgabenstellung wiederholt sich bei anderen Konstitutionen teilweise nochmals im eigentlichen Text, wie das Beispiel Coahuila y Texas zeigt: „Das Ziel der Regierung des Staates ist das Glück der Individuen, die ihn bilden, da das Ziel jeder politischen Gesellschaft kein anderes ist als das Wohlergehen seiner Mitglieder“ 73 . Auch die beiden zentralen Vorbildverfassungen hatten sehr viel weiter gehende Ziele in ihren Präambeln formuliert: So hatten die Cortes von Cádiz „das großartige Ziel, den Ruhm, die Prosperität und das Wohl der gesamten Nation zu fördern“, festgeschrieben und der Verfassung insbesondere die Aufgabe gegeben, „für die gute Regierung und die gerechte Verwaltung des Staates“ zu sorgen. Die Präambel der Constitución federal hatte ebenso Ziele genannt und zwar für die mexikanische Nation: „die politische Unabhängigkeit zu fixieren, ihre Freiheit zu errichten und zu bestärken und ihre Prosperität und ihren Ruhm zu fördern“. Wie von der Constitución federal sind von fünf Staaten den Verfassungen voranstehende Manifiestos überliefert, die die Absichten noch ausführlicher behandeln. Sie seien hier beispielhaft und auszugsweise zitiert, um die Spannweite zu verdeutlichen, welche Aufgaben und Hoffnungen mit den jeweiligen Neuentwürfen verbunden wurden. 74 Das Manifest Zacatecas’ skizzierte zunächst den alten Kolonialherren Spanien als „ausgehungerten Satrap“, der, aus Europa kommend, sich „im Despotismus nährt“ sowie „von der Idee durchdrungen war, nicht Menschen, sondern Orang-Utans zu befehligen [und] sich euch mit dem schrecklichen Apparat der absoluten Macht präsentierte“75. Den Zacatecanos bliebe somit nur die radikale Alternative: „Verfassung oder Tod“76. Die Verfassungsväter in Oaxaca verbanden mit ihrem Neuentwurf das „Bestreben nach eurem Glück“ 77 , wohingegen diejenigen aus Chiapas davor warnten, dass die „Mehrheit der Indigenen“ ohne die Einrichtungen der Verfassung „in den Händen der Trägheit“ verkümmern würde. 78 Guanajuato beschrieb das Grundgesetz seinen Einwohnern gegenüber als „geheiligten Pakt, 72 73 74 75 76 77 78
Constitución del estado de Querétaro, Präambel. Constitución del estado de Coahuila y Tejas, Art. 26. Vgl. hierzu ausführlicher Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 31-33. Manifiesto del congreso constituyente del estado de Zacatecas, S. 408. Manifiesto del congreso constituyente del estado de Zacatecas, S. 416. Manifiesto del congreso constituyente del estado de Oaxaca, S. 153. Manifiesto del congreso constituyente del estado de las Chiapas, S. 105.
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der euch eint ..., die Übel verbreiten sich mit der Zwietracht und dem Egoismus“79. Der Constituyente des Estado de México konstatierte eingangs „... nichts außer einer beträchtlichen territorialen Ausdehnung wurde [uns] übergeben, bevölkert von Menschen ohne andere Verbindungen als denen der zufälligen Koexistenz“80. Gemäß der mexikanischen Konstituante kam dann „die Verfassung, um der Schlüssel des [Gesellschaft-]Gebäudes zu sein. Sie ist keine Ansammlung nichtiger Deklarationen ... , [sondern] der Weg, den sie [die Pueblos] verstehen müssen, um frei und glücklich zu sein“81. Wie auch in anderen frühen Verfassungstexten Spanisch-Amerikas – erinnert sei aber auch an die USA – war die Erreichung des Glücks zentral. 82 Sollte im Gegensatz dazu die Verfassung Michoacáns also tatsächlich rein die Funktion eines wertfreien Organisationsstatuts, rein die Organisation der drei Gewalten übernehmen? Sollten Rechtsnormen, und hier im Speziellen die Verfassung, einen wertneutralen Rahmen setzen, an denen orientiert im liberalen Sinne jeder Mensch als rationales Wesen seine Individualität entwickeln und leben können sollte? Sollten die einzelnen Gesellschaftsmitglieder im Denken der Verfassungsväter rein auf ihre vernunftgeleitete „Selbststeuerungsfähigkeit“ 83 vertrauen, der jegliche bevormundende staatliche Fremdsteuerung und -beeinflussung diametral entgegenstand? 84 Folgten die Verfassungsväter also dem „liberalen Verständnis“, nach dem „die politische Zwangsgewalt der Gesellschaft nicht genutzt werden [darf], eine bestimmte Vorstellung des Guten und Richtigen durchzusetzen“85? In den nächsten Abschnitten, wie auch bei der Untersuchung der Gewalten in Teil C, wird also auch zu fragen sein, ob sich die Verfassungsväter auf die Funktionalität, die Organisation der Gewalten konzentrierten oder ob sie sich nicht doch den oben zitierten Pendants annäherten und im Sinne einer Kanonisierung von für die Gesellschaft vermeintlich zentralen Werten auch weitere Ziele in die Verfassung aufnahmen. Die weitere Untersuchung – dies sei vorweg genommen – deutet auf die zweite Alternative hin.
79 80 81 82 83 84 85
Manifiesto del congreso constituyente del estado de Guanajuato, S. 326. Manifiesto del congreso constituyente del estado de México, S. 403. Manifiesto del congreso constituyente del estado de México, S. 415. Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 213-218. Grimm: Zukunft, S. 24. Vgl. bspw. Göhler: Liberalismus. Preuß: Einleitung, S. 27.
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b. Verfassungsauftrag zwischen Gott und souveränem Volk Durch den Bruch mit der alten Ordnung war in Neu-Spanien beziehungsweise in Mexiko ein Legitimationsvakuum entstanden, das die Konstituierung einer neuen Ordnung zur Vermeidung von Anarchie zwingend erforderlich gemacht hatte. Vor dem Horizont der zeitgenössischen Debatten in der atlantischen Welt bestanden zwei Möglichkeiten, dieses Vakuum auszufüllen. Die erste war die Einrichtung einer unbedingten, also absolutistischen Herrschaftsordnung: Die Herrschaft stützt sich in diesem Fall nicht auf die Regierten als Legitimationsgrundlage, sondern entweder auf Herrschaft aus eigener Berechtigung oder auf eine transzendente Legitimation unter Ausschluss der Regierten, wie beispielsweise im europäischen (Neo-)Absolutismus auf das Gottesgnadentum. 86 Beides generiert theoretisch durch die Regierten nicht hinterfragbare, konsensunabhängige Regierungen.87 Die zweite Möglichkeit ist die Institutionalisierung einer bedingten Herrschaftsordnung: Die Regierung ist hier auf die Legitimation und den Konsens durch die beziehungsweise mit den Regierten angewiesen.88 Zunächst bleibt festzuhalten, dass im unabhängig gewordenen Mexiko im Gegensatz zu einigen Staaten Europas eine (neo-)absolutistische Lösung nicht gangbar war: Neben der vorläufigen Inkraftsetzung der Verfassung von Cádiz nach der Unabhängigkeit sowie der sofortigen Einberufung eines eigenen mexikanischen verfassunggebenden Kongresses wird das besonders deutlich in der so genannten zweiten Revolution: Nach der 1814 versuchten und 1820 gescheiterten neoabsolutistischen Herrschaft Ferdinands verfügte auch die vermeintlich absolutistische Herrschaft Iturbides nicht über den notwendigen Konsens und die Ressourcen, um sich und einen zentralistischen Staat 86 Vgl. zur theoretischen und praktischen Bedeutung des Gottesgnadentums bspw. Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 115f.; Eberl: Verfassung, S. 257-261. Auch wenn die Lehre der fürstlichen Souveränität nach Jean Bodin (1530-1592) und Thomas Hobbes (1588-1679) dem Fürsten eine „umfassende und unumschränkte Dispositionsmacht der weltlichen Herrscher über das Recht“ (Eberl: Verfassung, S. 259) zusicherte, beriefen sich Fürsten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auf das Gottesgnadentum. 87 Nicht dagegen spricht, dass viele neo-absolutistische Monarchen Europas Verfassungen oktroyierten. Diese hatten keine herrschaftsbegründende Wirkung und gewannen ihre herrschaftseinschränkende Bedeutung rechtlich erst durch die Selbstbindung des Monarchen; vgl. Grimm: Zukunft, S. 87f. 88 Eine Extremform dieser Möglichkeit, die die Identität von Regierenden und Regierten vorsieht, also die direkte Demokratie à la Rousseau, fand während des atlantischen Frühkonstitutionalismus außerhalb der Schweiz kaum Beachtung, so auch nicht in Mexiko. Zum Überblick vgl. Zippelius: Staatslehre, S. 139-141 u. 188-190 u. weiter Kapitel C I und D.
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etablieren zu können. Machtpolitisch durchsetzbar war erst das die Machtverhältnisse repräsentierende republikanisch-föderale, durch eine Verfassung abgesicherte System. Erst dieses wurde weitgehend als legitim akzeptiert. Auch in Michoacán diskutierten die Verfassungsväter, und auch die späteren Parlamentarier89, eine monarchisch-absolutistische Variante nicht einmal im Ansatz. Die Präambel Michoacáns nennt zwei Legitimationsinstanzen, einerseits das „souveräne Volk“ und andererseits Gott als „Autor und höchsten Gesetzgeber der Gesellschaft“. In welchem Verhältnis standen diese beiden Instanzen im Denken der Verfassungsväter? Eng mit diesem Themenkomplex verbunden steht die Frage, ob den Verfassungsvätern Recht durch einen diesseitigen Verhandlungsprozess als menschenmachbar erschien oder vielmehr durch jenseitige, göttliche Setzung als gemacht. Galt Recht also kraft politischer Entscheidung als positives Recht oder in der Tradition des Naturrechts „kraft … göttlicher Stiftung“90? Konkret soll hier auch nach dem Einfluss des diesseitigen Souveräns, des Volkes, auf die Verfassung gefragt werden. Um diesen Fragen vertieft nachgehen zu können, werden auf den nächsten Seiten die einschlägigen Diskussionen der Konstituante betrachtet. Die Verfassungsväter Michoacáns versuchten, die Invocatio dei und somit den Gottesbezug möglichst knapp zu halten. Im Vergleich zu den anderen einzelstaatlichen Verfassungen blieb Michoacán mit der Ausführlichkeit der Invocatio im unteren Bereich, sechs von insgesamt 18 Texten waren teilweise deutlich ausführlicher, die übrigen in etwa gleich lang. In der Verfassung von Chiapas hieß es beispielsweise: „Im Namen des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in seiner Dreieinigkeit, durch dessen Macht alle Dinge vollbracht, durch dessen Weisheit verwaltet und durch dessen Güte alle Dinge erhalten wurden“91. Wie die folgende Debatte zeigen wird, handelte es sich in Michoacán um eine bewusste Zurückdrängung, der Gottesbezug sollte nicht allzu viel Raum einnehmen. Die Verfassungskommission hatte im ersten Verfassungsentwurf vom Herbst 1824 noch an eine längere Invocatio gedacht, sie lautete dort: „Im Namen und unter dem Schutz des allmächtigen und dreieinigen Gottes, Autor und höchster Gesetzgeber der Gesellschaft“92. In der Debatte dieses Satzes am 11. 89 Die 1826 in Michoacán aufgetauchten Notizen, die auf einen pro-ferdinandistischen Umsturz hinwiesen, fanden in den Debatten keine Resonanz; vgl. Landavazo: Máscara, S. 317; Costeloe: República, S. 94. 90 Grimm: Politik, S. 91; vgl. zur „Positivierung des Rechts“ auch grundlegend das gleichnamige Kapitel bei: Luhmann: Legitimation, S. 141-150. 91 Verfassung von Chiapas, Präambel. Die meisten Verfassungen rufen nicht den „dreieinigen“, sondern den „allmächtigen“ Gott an. 92 Constitucion Politica del Estado de Michuacán (30.10.1824), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3, s./f.
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Februar 1825 beantragten Huarte, González und Aguiar erfolgreich die Streichung der Phrase „unter dem Schutz“, da dies eine unnötige Doppelung bedeuten würde. Drei Anträge auf eine Erweiterung und somit auf eine stärkere Betonung fanden hingegen keine Aufnahme: Gegen den ersten von González auf die Einfügung der Klausel „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ beziehungsweise auf den zweiten Antrag von Rayón auf die zusätzliche Erwähnung von Jesus Christus argumentierte Huarte, das sei mit dem Dreieinigkeitsattribut bereits abgedeckt. 93 Außerdem sei, so Pedro Villaseñor am 22. April, der Unterschied nicht „wirklich substanziell“ 94 . Die Mehrheit folgte in beiden Fällen dieser ablehnenden Argumentation. Im dritten vergeblichen Erweiterungsantrag ersuchte Lloreda, wie Rayón Geistlicher, die Ergänzung der Attribute Gottes um „reparador y remunerador“, um so die Anrufung von der der „Protestanten“ und „Sektierer“ unterscheidbar zu machen. „Dios reparador y remunerador“ steht als Chiffre für den „belohnenden und strafenden Gott“.95 Lloreda unterlegte diese Argumentation damit, dass „viele Sektierer, die keine Materialisten sind, auch wenn sie die gleichen Ausdrücke wie Allmächtiger, Oberster Gesetzgeber, etc. gebrauchen, Gott nicht als remunerador anerkennen“96. Er nahm damit nicht nur die anti-materialistischen Diskurse der Kolonialzeit auf, sondern intendierte gleichzeitig die Abgrenzung gegen nicht-katholische Strömungen an einer symbolisch wichtigen Stelle. Eine Mehrheit fand er damit aber nicht. Schließlich entfiel auch das Adjektiv „allmächtiger“, Bestandteil fast aller anderen einzelstaatlichen Verfassungen, ohne weitere Debatte. Auch bei der Diskussion der Pflichten der Staatsbürger, auf die noch genauer einzugehen sein wird, ersetzte der Kongress – leider ohne Angabe von Gründen – den Vorschlag „Verteidigung der Religion“ durch den der „Bewahrung der politischen Unabhängigkeit“. 97 Reduzierten die Verfassungsväter die Position Gottes als „obersten Gesetzgeber“ somit auf eine weitgehend symbolische Funktion? Dafür spricht das eben Ausgeführte, nämlich dass der Gottesbezug in der Verfassung Michoacáns relativ betrachtet wenig Gewicht erhielt. Relativ meint hier sowohl in Bezug auf den ersten Verfassungsentwurf, in Bezug auf viele andere einzelstaatliche mexikanische Verfassungen als auch – und das noch deutlicher – in Bezug auf die meisten europäischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, in denen das Gottesgnadentum theoretisch-legitimatorisch unver93 94 95 96 97
Vgl. Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 104f., Zitate ebd. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 251. Ich danke Gisela von Wobeser für diesen wertvollen Hinweis. Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 104. Vgl. Sitzung vom 20.06.1825, in: AyD, II, S. 335 und den Vorschlag Lloredas: Constitucion Politica del Estado libre Federado de Michuacán (13.04.1825) / Art. 12/2, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3.
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zichtbar geblieben war. Was andererseits gegen eine rein symbolische Funktion Gottes spricht, ist, dass die Gottesbezüge den Abgeordneten grundsätzlich als ebenso unumstößlich galten, wie die unten noch zu behandelnde Festlegung des Katholizismus als Staatsreligion: Eine Verfassung ohne Gottesbezug schien den Verfassungsvätern Michoacáns als ebenso undenkbar wie denjenigen von Cádiz. Dies überrascht ob der starken, oben dargestellten katholischen Tradition der Region und des großen Einflusses der Geistlichen im Kongress wenig. Bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Volk und Gott kann ein erster Blick auf die Funktion der Klausel „souveränes Volk“ weiterhelfen. Wie gesagt hatte der verfassunggebende Kongress die Legitimation zur Ausarbeitung einer Verfassung konkret aus der Beauftragung durch das „souveräne Volk“ abgeleitet. Die Betonung der Souveränität des Volkes richtete sich laut Protokoll allerdings bezeichnenderweise nicht gegen Gott, die zweite Legitimationsquelle. Die Verfassungsväter, die die Präambel intensiv diskutiert hatten, sahen offensichtlich keinen Widerspruch zwischen dem „obersten Gesetzgeber Gott“ und dem „souveränen Volk“. Gott war eben nicht alleiniger, sondern ‚nur’ oberster Gesetzgeber – dies aber unhinterfragt. Für diese Konstruktion spricht, dass sie sich in fast allen einzelstaatlichen Verfassungen finden lässt:98 So titulierten auf der einen Seite fast alle Verfassungen Gott als „höchsten Gesetzgeber“. Andererseits implizierten alle mexikanischen Staaten, bis auf Chiapas und Veracruz, in ihren Verfassungspräambeln den Charakter der populären Beauftragung und Ermächtigung.99 Besonders prägnant formulierte die Verfassung von Yucatán: „Die Souveränität des Staates sitzt dem Wesen nach in den Individuen, die ihm angehören, und deswegen gehört ihnen exklusiverweise das Recht, ihre partikulare Verfassung mittels ihrer Repräsentanten zu bilden, zu reformieren und zu verändern“100. Besonders plakativ für die hier betrachtete Fragestellung 98 Vgl. für die Daten, wann die anderen einzelstaatlichen Verfassung verabschiedet wurden und wann sie der Konstituante Michoacáns vorlagen, die Tabelle im Anhang V. 99 Der sehr kurze Text von Veracruz schreibt hier lediglich, dass der Kongress die Verfassung verabschiedet, auch ein Gottesbezug findet sich hier nicht; vgl. Verfassung von Veracruz, Präambel. Im Gegensatz dazu hat Chiapas, wie oben zitiert, einen sehr starken Gottesbezug, ein Verweis auf einen säkularen Auftrag liest man interessanterweise hier nicht; vgl. Verfassung von Chiapas, Präambel. Drei Verfassungen (Guanajuato, Yucatán und Tabasco) führten Artikel ein, kraft derer sie die Souveränität wie in Cádiz „dem Wesen nach“ im Volk verankerten, zwei (Coahuila y Texas und Oaxaca) folgten der Acta constitutiva und legten sie „dem Wesen und Ursprung“ nach dorthin; Tamaulipas setzte eine neue Form, nämlich „der Natur nach“; vgl. zu unterschiedlichen Souveränitätskonzepten in Spanisch-Amerika auch: Timmermann: Monarchie, S. 197-200. Er konstatiert schließlich, dass sich „noch kein klares verfassungsrechtliches Konzept von Souveränität erkennen“ (Timmermann: Monarchie, S. 109) lässt. 100 Verfassung von Yucatán, Art. 3.
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legte die Konstituante von Querétaro fest: „Im Namen des allmächtigen Gottes, Autor der Gesellschaft, durch den die Gesetzgeber das Gerechte beschließen“101. Wie schon bei der gaditanischen Verfassunggebung angedeutet, zeigt sich auch hier die verbreitete, neoscholastische Vorstellung von Gott als Urgrund der Souveränität, der diese dann dem Volk übertrug. Gott ist laut Präambel nicht nur oberster Gesetzgeber, sondern eben auch Autor und Urheber der Gesellschaft, er hat sie erst geschaffen. Nach ihrer Erschaffung ist die Gesellschaft dann im Rahmen des Geschaffenen souverän. Die möglichst geringe Betonung Gottes in der Verfassung Michoacáns ließe sich, wie schon im weiteren mexikanischen Rahmen getan, dann mit dem Versuch erklären, die barocke Volksfrömmigkeit durch eine schmucklose, stärker rational ausgerichtete Piedad austera zu verdrängen. 102 Zwischen dem höchsten Gesetzgeber und Gesellschaftsgründer Gott und der Souveränität des Volkes existierte also für die Verfassungsväter kein Widerspruch, keine „konfuse Dualität“, wie der Historiker Sánchez Agesta sie für Cádiz angenommen hatte. Die Betonung der Souveränität des Volkes richtete sich laut Parlamentsdiskussionen entsprechend ausschließlich gegen vermeintlich zentralistische Ansprüche der Föderation. So begründete Lloreda seinen Vorschlag, das „souveräne Volk“ in der Präambel eigens zu erwähnen, mit dem Ziel, „auf bestimmte Weise die Tür zum Zentralismus zu schließen“ 103 . Das Volk von Michoacán war durch sich selbst berechtigt und nicht durch föderale Beauftragung. So ist es bezeichnend, dass der Auftrag zur Verfassunggebung durch föderales Recht, wie auch in den anderen einzelstaatlichen Verfassungen, im Verfassungstext oder in der Diskussion keine Erwähnung fand. Zwei weitere Vorschläge unterstreichen die Stoßrichtung gegen die Föderation. Zwar scheiterten beide – womit sich Michoacán nicht unter die radikal-föderalen Staaten einreihte –, klar ist aber, dass es sich bei der Souveränität für die Konstituante um einen innerweltlichen Konflikt zwischen Einzelstaat und Föderation handelte. Gegen das Konzept der dualen Souveränität postulierte González die Verlagerung der alleinigen Kompetenz-Kompetenz auf den Einzelstaat: Nach ihm sollte es heißen, der Staat „delegiert seine [Hervorhebung durch S.D.] Befugnisse und Rechte an den Generalkongress aller Staaten in den Angelegenheiten der Föderation“104. Der Staat wäre demnach vollberechtigt und gäbe nur einen Teil seiner Kompetenzen per Delegation ab.105 Er scheiterte damit ebenso 101 102 103 104 105
Verfassung von Querétaro, Präambel. Vgl. ähnlich: Annino: Perspectivas, S. 82-84. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 251. Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 106. Im Gegensatz zu acht anderen Einzelstaaten entschied sich Michoacán allerdings gegen die konstitutionelle Verankerung dieses Affronts. Chiapas, Coahuila y Texas, Durango,
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wie Lloreda, der die einzelstaatliche Souveränität durch die Phrase „Herr seiner selbst“ zu untermauern trachtete.106 Wie auf föderaler Ebene lassen sich also auch hier zwar Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Festlegung der Souveränitätsausübung erkennen, der Träger der Souveränität, das Volk, wurde hier aber nicht mehr in Frage gestellt. „Recht war machbar“107 geworden – und nicht nur das, es war durch seine Positivierung zum Gegenstand diesseitiger, politischer (Macht-)Konflikte geworden. Gott hatte auf dessen Generierung keinen unmittelbaren Einfluss. Er war zwar oberster Gesetzgeber sowie Autor und Urheber der Gesellschaft, die konkrete Gesetzgebung blieb jedoch den politischen Entscheidungsträgern überlassen. Nach Niklas Luhmann sind „unter positivem Recht … Rechtsnormen zu verstehen, die durch Entscheidung in Geltung gesetzt worden sind“108. Besonders deutlich wird dies bei der eben behandelten schriftlichen Fixierung der Position Gottes als positive Rechtsnorm in der Verfassung. Sie zwang die Abgeordneten zur distanzierten oder zumindest distanziert wirkenden Auseinandersetzung und Entscheidung. Sie setzten Gott bewusst ein, sei es aus taktischen Gründen zur Distanzierung der „Protestanten“ und „Sektierer“ oder, wie noch gleich zu sehen, zum Schutz der Verfassung. Deutlich wird das Verständnis von der Positivität des Rechts insbesondere auch in seiner Reformierbarkeit. Dieses Verständnis hatte bei den Verfassungsvätern Fuß gefasst, wie das vorliegende Kapitel anhand der Reformierbarkeit der Verfassung zeigen wird, wie aber in der Praxis vor allem das Kapitel D über Reformen im Wahlrecht verdeutlichen wird. Welche Rolle sollte nun aber das „souveräne Volk“ bezüglich der Verfassunggebung einnehmen? Eine nachträgliche Genehmigung per Volksabstimmung – wie beispielsweise im revolutionären und napoleonischen
Guanajuato, Jalisco, Occidente, Tamaulipas und Zacatecas führten die erwähnte einzelstaatliche Generalklausel ein. Zu dieser Gruppe ist auch San Luis Potosí zu zählen, nach dessen Verfassung die Organe der Föderation bei allgemein interessierenden Fragen Mittel der einzelstaatlichen Souveränitätsausübung darstellen; vgl. Verfassung von San Luis Potosí, Art. 5; vgl. auch Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 30. Die Tatsache, dass die Föderation nicht gegen die acht Staaten vorging, die mit dieser verfassungswidrigen Klausel dem gesamtmexikanischen Kompetenzanspruch entgegenstanden, zeigt, dass es sich in erster Linie um einen realpolitischen Konflikt handelte, der nur nachgeordnet mit theoretischen Argumenten geführt wurde. 106 Der Vorschlag wurde zunächst an die Kommission zurückverwiesen, die abschließenden Diskussion ist zwar nicht überliefert, aber in der Verfassung taucht der Terminus „Herr seiner selbst“ nicht mehr auf; vgl. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 253. 107 Grimm: Politik, S. 94. 108 Luhmann: Verfahren, S. 141.
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Frankreich zwischen 1793 und 1799 109 – ist laut Protokoll nicht diskutiert worden. Das Verfahren blieb somit unhinterfragt repräsentativ. Damit reihte sich Michoacán in die gesamt-mexikanische Tendenz ein, nach der direktdemokratische Elemente keine Beachtung fanden. Obwohl Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und sicherlich auch sein berühmtes Diktum von der Unveräußerlichkeit der populären Souveränität in Michoacán bekannt waren, galten direktdemokratische Elemente bei der Verfassunggebung als indiskutabel. In den Verfassungsdebatten stellte sich der Kongress unhinterfragt in die Tradition der repräsentativen Regierung, die in Charles de Montesquieu (1689-1755) und Abbé Emmanuel Joseph Sieyès (1748-1836) einflussreiche Vertreter stellte. Nach Sieyès beauftragt das souveräne Volk seine Repräsentanten in zwei Stufen: Zunächst vertritt „die außerordentliche Repräsentation einer verfassunggebenden Versammlung … den Willen der Nation in ihrem Naturzustand“ und gibt ihr eine Verfassung. Danach kann dann „die gewöhnliche Repräsentation … das Wollen der Nation“ vertreten, aber „nur in den Grenzen der Verfassung“ 110 . Auch wenn also in der Präambel die Rousseau´sche Lehre von der Volkssouveränität zitiert ist, leitete sich daraus wie im hispanischen Bereich vorherrschend „keine Übereinstimmung mit dem Konzept Rousseaus und der französischen Konstituante von 1793“111 ab. Die Alternative einer repräsentativen Form der Verfassunggebung galt als der einzig gangbare Weg: In einer solchen „übertrugen“ die Regierten ihren Repräsentanten in der Regel durch Wahlen ihre „Vollmachten“, wie es in der Präambel Michoacáns heißt. Auf Gründe hierfür wird bei der Betrachtung des Verhältnisses von Kongress und Volk in Teil III näher einzugehen sein. Eine Ausnahme vom rein repräsentativen Verfahren lässt sich höchstens in dem Aufruf zu Beginn der Sitzungen der Konstituante an die „Weisen des Staates“ zur Einbringung ihrer „Bildung“ sehen. Eine unmittelbare, ‚populäre’ Beteiligung erfolgte lediglich über die angeordnete, rein akklamatorische Legitimation in landesweiten öffentlichen Festveranstaltungen. Versinnbildlicht wird der repräsentative Charakter beim Abschluss der Verhandlungen durch die schon zitierte Verpflichtung, dass „alle in der Hauptstadt anwesenden Abgeordneten“, also alle Vertreter des souveränen Volkes, die Verfassung zu unterzeichnen hatten.112
109 Vgl. Crook: Elections, S. 102-130. 110 Vgl. zu den Repräsentationstheorien von Rousseau und Sieyès: Hofmann / Riescher: Einführung, S. 41-52, Zitat S. 47; Hafen: Staat, S. 95. 111 Timmermann: Monarchie, S. 180. 112 Das Fehlen Huartes wird nach den Unterschriften der anderen Abgeordneten mit dem Hinweis auf eine schwere Erkrankung eigens erwähnt.
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Wenn also bei der Erarbeitung der Verfassung der Souverän nur durch Wahl beziehungsweise Akklamation mitwirken durfte, wie sah es dann mit späteren Änderungsvorschlägen, also mit der Reformierbarkeit der Verfassung aus? Wiederum ist für diese Frage die Argumentation des für die Präambel und die Präliminarien zuständigen Lloreda besonders aussagekräftig: Er begründete für die Präambel den Einschub „in Ausübung der Vollmachten, die ihm [dem Constituyente] das souveräne Volk durch den Akt seiner Wahl diesbezüglich übertrug“ am 22. April 1825 mit dem Argument, dass man so „sagt, dass der Kongress des Staates vollständig autorisiert“ worden war und dass damit wiederum „die zukünftigen Kongresse sie [die Verfassung] zu keiner Zeit annullieren können“113. Die von der Pouvoir constituant errichtete rechtliche Grundlage des Staates sollte also im oben zitierten Sinne Abbe Sieyès den von ihr eingesetzten Gewalten, den Pouvoirs constitués, auf Dauer entzogen werden. Sie waren als solche nicht zu Änderungen legitimiert. Mit der Aufteilung in Pouvoir constituant und Pouvoirs constitués folgten die Verfassungsväter Michoacáns der eben schon angedeuteten, im atlantischen Konstitutionalismus weit verbreiteten Lehre. 114 Der Anspruch auf Dauerhaftigkeit, auf Rigidität der Verfassung lässt sich auch an weiteren Stellen finden, und zwar insbesondere dann, wenn die Frage verhandelt wurde, was Teil der Verfassung werden sollte und was nicht. Villaseñor plädierte beispielsweise gegen die Festlegung des Wahltages in der Verfassung, da dort „nur das, zumindest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Unveränderliche“ 115 hingehöre. Argumentationen wie „die Verfassungsartikel müssen ohne Änderung bestehen“, „auf keinen Fall dürfe etwas bloß Eventuelles oder Beiläufiges in der Verfassung vermerkt werden“ beziehungsweise „das wurde mit konstitutionellem Charakter veröffentlicht und ist deswegen unveränderlich“116 trifft man immer wieder an. Die Überordnung des Verfassungsrechtes über das einfache Recht ermöglichte „die erstrebte Begrenzung der politischen Verfügung über Recht“ 117 und somit die Verrechtlichung von Politik. Folgten die Verfassungsväter damit dem Vorbild der USA, deren „Verfassung“ nahezu als „souverän“ 118 zu bezeichnen ist? Nein, vielmehr 113 Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 251. 114 Vgl. Hafen: Staat; Hofmann / Riescher: Einführung, S. 46-52. Vgl. hierzu auch weiter im Kapitel über die Gewaltenteilung. 115 Sitzung vom 02.03.1825, in: AyD, II, S. 150. 116 Hier zitiert aus: Sitzungen vom 28.02., 27.04. bzw. 01.07.1825, in: AyD, II, S. 143, 262 bzw. 364. 117 Grimm: Politik, S. 95. 118 Preuß: Einleitung, S. 15. Er weist darauf hin, dass diese Aussage nur dann zu treffen ist, „wenn man es mit der Begrifflichkeit nicht so genau nimmt“. Auf alle Fälle aber ist in den USA „die Verfassung ein über allen Normen und Institutionen stehendes höchstes
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folgten sie der französisch-hispanischen Tradition, nach der Verfassungen unter erschwerten Bedingungen reformierbar bleiben, also dem Zugriff des Souveräns nicht vollständig entzogen sind. Die Verfassung beruht demnach „als Bestandteil des positiven Rechts … selbst auf einer politischen Entscheidung und kann daher ebenso geändert werden“ 119 . Nach einer fünfjährigen Konsenspflicht bis 1830 sollten in Michoacán unter hohen Auflagen über ein mehrjähriges, zwei aufeinander folgende Kongresse beanspruchendes Verfahren Reformen möglich sein: So muss der Vorschlag von mindestens einem Drittel der Abgeordneten stammen, dreimal gelesen und im Anschluss zur Diskussion zugelassen werden; dann wird der Vorschlag mit Begründung gedruckt und veröffentlicht und erst der nächste Kongress darf ihn diskutieren und gegebenenfalls mit Zweidrittelmehrheit genehmigen. 120 Statt der Wahl einer eigenen, neuen Pouvoir constituant setzte man also zur Wahrung der Kontinuität – wie in den meisten Verfassungen üblich – sehr hohe Auflagen. Die durch den Konsens des Souveräns legitimierte Grundordnung sollte mithin nur durch einen qualifizierten Konsens mittels eines verfassungsrechtlich vorgegebenen Verfahrens verändert werden dürfen. Die Verfassung sollte somit sowohl für die Regierten als auch für die Regierenden zur im Alltag nicht hinterfragbaren Richtlinie werden. Der erste Artikel des abschließenden Titels der Verfassung verdeutlicht dies: „Alle Einwohner des Staates ohne irgendeine Ausnahme sind verpflichtet, diese Verfassung in all ihren Teilen in religiöser Weise [religiosamente] zu beachten; und keine Autorität wird sie von dieser Schuldigkeit freistellen können“ (Art. 212). Die Höherrangigkeit des Verfassungsrechts gegenüber einfachen Gesetzen zeigte sich also auch daran, dass letztere nicht „in religiöser“ oder, wie der Terminus „religiosamente“ auch übersetzt werden könnte, nicht in „strikter Weise“, sondern ‚nur’ in einfacher Weise beachtet werden mussten.121 Auch konnte nur die Einhaltung der Verfassung, nicht aber – geschriebenes – Gesetz“. Die Verfassungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika legten die Unveränderlichbarkeit des Ursprungtextes fest, der lediglich durch Amendments ergänzt werden konnte; vgl. The constitution of the United States of America, Art. V. Das Volk kann sich demnach nur durch eine Revolution von ihr lösen. 119 Grimm: Politik, S. 96. Mit der Reformmöglichkeit schloss sich Michoacán der Mehrheit der Verfassungen im atlantischen Raum an; vgl. auch Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 115f.; speziell zu Cádiz: Timmermann: Monarchie, S. 230-233. Zur Höherrangigkeit der Verfassungen im Deutschen Bund und zu entsprechenden Schutzmechanismen: Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 135-138; Frotscher: Verfassungsdiskussion, S. 215. 120 Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 217-223. Zur Zitierweise: Artikelangaben in Klammern beziehen sich im vorliegenden und im nächsten Kapitel grundsätzlich auf die Verfassung von Michoacán. 121 Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 11/2.
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die einfacher Gesetze vor dem Kongress oder dem Gouverneur eingeklagt werden.122 Die Erwähnung des Terminus „religiosamente“ verweist auf eine weitere, die vorliegende Arbeit zentral begleitende Ebene, die insbesondere im letzten Kapitel aufzunehmen sein wird: Parallel zum Schutz der Verfassung durch verfahrensrechtlich-funktionale Entzeitlichung und Höherstufung lässt sich eine Tendenz zur Transzendentierung erkennen. Diese Tendenz zeigt sich beispielsweise in der Schwurformel: Alle „Individuen und Korporationen, die Rechtsprechung oder Autorität ausüben“, und insgesamt alle öffentlichen Funktionäre und Angestellte, unter anderem die Mitglieder der obersten Gewalten, Kirchenangehörige und Angestellte des Staates, sie alle mussten die Einhaltung der einzelstaatlichen sowie der föderalen Verfassungen „bei Gott“ beschwören. Gott sollte laut Schwurformel dann die Befolgung des Schwurs „belohnen“ beziehungsweise dessen Bruch „bestrafen“123. Gott, gemäß Invocatio ja „oberster Gesetzgeber der Gesellschaft“, übernahm damit eine transzendente Garantiefunktion für die Einhaltung der durch positives Recht gesetzten Ordnung. Die säkular legitimierte Verfassung erhielt durch die religiöse Einhaltungspflicht aller Bürger und durch den Schwur der in sensiblen Führungsbereichen arbeitenden Personen einen jenseitigen Schutz. Einen Bürgereid wie beispielsweise Frankreich 1791 sah die Verfassung von Michoacán nicht vor. Lediglich durch das oben zitierte Dekret und eher beiläufig war das Volk aufgerufen worden, per Akklamation auf die Verfassung zu schwören. Allerdings wäre die von Rolf Grawert für das Mitteleuropa der Frühen Neuzeit aufgestellte These, dass die „Absage an die tragende Funktion des Eides … Ausdruck der Säkularisierung der Rechtsauffassung“124 sei, für den hispanischen Rechtsraum zu hinterfragen. Vielmehr scheint sich hier folgende Aussage von Antonio Annino zu bestätigen, die er nach der Untersuchung des Eidwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf: „Die Beziehung zwischen Nation und Verfassung blieb im Bereich des heilig-katholischen und 122 Eine entsprechende Befugnis gegenüber dem Kongress gab es sonst nur bei der Beanstandung von Wahlen; vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 204. 123 Im Wortlaut heißt die für die Veröffentlichung der Verfassung dekretierte Schwurformel: „’Schwört Ihr bei Gott die politische Verfassung des Staates von Michoacán, dekretiert und sanktioniert in diesem Jahre 1825 einzuhalten und einhalten zu lassen? – Ja, ich schwöre. – Wenn Ihr es so machen werdet, belohne es Euch Gott, wenn nicht, bestrafe er es Euch.’ Bezüglich derjenigen, die keine Rechtsprechung oder Autorität ausüben, werden die Wort ‚einhalten lassen’ gestrichen.“ (Dekret Nr. 51, Art. 6, in: RdL, I, S. 97). Für die Abgeordneten, die Exekutive und die Consejeros legte die Verfassung den Schwur, ebenfalls mit Gottesbezug, fest; vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 40, 67 bzw. 88. 124 Grawert: Staat, S. 79.
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trat nicht in den Bereich des säkularen ein“ 125 . Denn für die für den Staat arbeitenden Personen heißt es in Artikel 214 der Verfassung von Michoacán: „Kein Funktionär oder öffentlicher Angestellter wird seine Funktionen ausüben, ohne den Schwur abzulegen, dass er neben der Acta constitutiva und der Constitución federal die [Verfassung] des Staates einhält“. Der Eid behielt also durchaus eine „tragende Funktion“, auch wenn eben nicht für alle Regierten. Auch Cádiz hatte keinen Bürgereid eingeführt, jedoch Schwurformeln für den König, seine Familie, die Abgeordneten et cetera und zwar im Gegensatz zu Frankreich 1791 mit teilweise stark ausgeprägtem Gottesbezug.126 Auf die rein positiv-rationale Geltungskraft des Rechts vertrauten die Verfassungsväter demnach nicht – wie dies beispielsweise Jaime Hernández Díaz für Michoacán postulierte, wenn er von einem „fe constitucional“ und einem „großen Vertrauen ins Recht als Instrument“ spricht, mit dem „die Probleme zu lösen und das Glück der Gesellschaft zu erreichen“ 127 sei. Vielmehr versuchte man die neue Ordnung neben den genannten funktionalrationalen Protektionsmaßnahmen durch Elemente einer traditionellen und in der katholischen Gesellschaft (vermeintlich) fest verankerten Werteordnung zu schützen, die – so die implizite Schlussfolgerung – zu durchbrechen keiner wagen würde. Religiös-transzendente Elemente bei der Legitimierung waren wie oben gesehen theoretisch-legitimationstechnisch nicht erforderlich, die Verfassungsväter entschieden sich vielmehr ‚freiwillig’ für ihre Einfügung als positive Rechtsnorm. „Die katholische Religion führte“ also auch für die Konstituante Michoacáns „weiterhin die traditionelle Rolle als politisches Band aus“128, blieb für sie weiterhin „der wichtigste Faktor der sozialen und kulturellen Kohäsion“ 129 . Gleichzeitig lassen sich bei der kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle Gottes auch Säkularisierungstendenzen in einer Region, die vormals besonders stark vom Katholizismus geprägt war, wahrnehmen. Trotz dieser Tendenzen scheint das Projekt der Monarquía católica zunächst durch das der „Nación católica“130 perpetuiert zu werden. Auf diese Aussage wird im Zwischenresümee zurückzukommen sein. Damit scheint für die Verfas125 Annino: Perspectivas, S. 85. 126 Vgl. hierzu den in Constitution française (1791), Titel II, Artikel 5 festgelegten Bürgereid, der keinen Gottesbezug aufbaut: „Le serment civique est: Je jure d'être fidèle à la Nation à la loi et au roi et de maintenir de tout mon pouvoir la Constitution du Royaume, décrétée par l'Assemblée nationale constituante aux années 1789, 1790 et 1791“. Vgl. hierzu auch die Re-Sakralisierung des Abgeordnetenschwurs in der Praxis in Kapitel E II. 127 Hernández Díaz: Michoacán, S. 305. 128 Lempérière: República (2003), S. 331. 129 Arenal Fenochio: Modernidad, S. 244. 130 Vgl. hierzu: Connaughton: Ocaso.
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sungsväter Michoacáns die These bestätigt, dass für den meist als liberal bezeichneten Konstitutionalismus Mexikos der 1820er Jahre noch kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der neuen souveränen Staatlichkeit und der transzendent-religiösen Fundamentierung der Gesellschaft bestand: Gott existierte als abstrakter, oberster Gesetzgeber und eben als Autor der Gesellschaft.131 Ebenso wie im europäischen Gottesgnadentum begründet Gott somit den weltlichen Souverän, mit dem Unterschied, dass dort der Monarch als Souverän betrachtet wurde und hier das Volk. Dieses Volk ist dann im konkreten Akt der Gesetzgebung souverän.
c.
Die Gründung des Estado libre federado de Michoacán
Neben der Etablierung eines neuen weltlichen Souveräns stellt der herrschaftsbegründende Charakter der Verfassung von Michoacán den zweiten zentralen Unterschied zu den meist herrschaftsmodifizierenden Verfassungen des monarchischen Konstitutionalismus Europas dar. Die Verfassungsväter begründeten einen neuen Staat, während die Monarchen Europas ihren bereits bestehenden Gemeinwesen neue Grundordnungen verliehen. Besonders prägnant formulierte es beispielsweise der französische König Ludwig XVIII. 1814 in der Präambel der für den „modernen monarchischen Staat“ 132 vorbildlichen Charte constitutionelle: „Louis, par la grâce de Dieu, roi de France et de Navarre ... Nous avons considéré que, bienque l’autorité tout entière résidât en France dans la personne du Roi, nos prédécesseurs n’avaient point hésité à en modifier l’exercice, suivant la différence des temps … Nous Avons volontairement, et par le libre exercice de notre autorité royale, accordé et accordons, fait concession et octroi à nos sujets, tant pour nous que pour nos successeurs, et à toujours, de la Charte constitutionelle qui suit.“133 131 Vgl. aus den regionalen Perspektiven von Guadalajara und Puebla die Aufsätze von Brian Connaughton; vgl. insb. den Sammelband: Connaughton: (Hg.): Dimensiones; Connaughton: Enemy. Vgl. bspw. auch: Hale: José, S. 218f.; Schmidt: Rabe, S. 157f. 132 Nach Götschmann galt die Charte „weithin als ideale Verfassung eines modernen monarchischen Staates“ (Götschmann: Parlamentarismus, S. 39); vgl. zu ihrem Vorbildcharakter auch: Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 114-116; Gangl: Weg, S. 35. 133 Charte constitutionelle (1814), in: Willoweit / Seif: Verfassungsgeschichte, S. 481-485. In der deutschen Übersetzung heißt der zitierte Ausschnitt: „Wir, Ludwig von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra … Wir haben bedacht, daß, obgleich in Frank-reich alle öffentliche Gewalt auf der Person des Königs beruht, Unsere Vorfahren dennoch nicht gezögert haben, deren Ausübung nach den verschiedenen Bedürfnissen der Zeit zu modifizieren … Aus diesen Gründen haben Wir freiwillig und in freier Ausübung Unserer königlichen Gewalt sowohl für Uns, als für Unsere Nachfolger für
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Symbolisch kommt der Unterschied zwischen herrschaftsbegründender und -modifizierender Verfassung darin zum Ausdruck, dass die Verfassungsväter Michoacáns dem durch die föderale Acta constitutiva Anfang 1824 gegründeten „Staat von Michoacán“ einen neuen Namen gaben. Sie verstanden sich laut Präambel noch als Konstituante des „Estado de Michoacán“, tauften ihn dann jedoch mit der Verfassung in den „Estado libre federado de Michoacán“ um, also in den „Föderierten Freistaat von Michoacán“. Die Diskussion der Konstituante belegt, dass es sich bei der Namensgebung um einen bewussten Akt gehandelt hat, dass man sowohl mit dem Begriff „föderiert“ als auch in Abgrenzung zur offiziellen Bezeichnung „Valladolid“ während der Intendantenzeit mit dem Namen „Michoacán“ die Neugründung deutlich machen wollte. Die Verfassungsväter führten weitgehend unhinterfragt und wie fast alle mexikanischen Bundesstaaten in einem ersten Schritt die Bezeichnung „Estado libre“ ein. Eine Begriffsgeschichte für diesen Terminus steht für Hispano-Amerika zwar noch aus, doch liegt nach einer Untersuchung der Einzelstaatsverfassungen die Vermutung nahe, dass hier der Begriff gesetzt wurde wie im Europa des 18. Jahrhunderts für den Modell-Freystaat Schweiz oder bei den Anhängern der Amerikanischen und Französischen Revolution, die als „freie Staaten“ die Staaten bezeichneten, die „frei von jeglicher Beherrschung“134 sind. In erster Linie war damit, wie in Michoacán, die Freiheit von der Beherrschung durch eine Person, einen Monarchen, gemeint. Michoacán definierte seinen neuen Staat wie fast alle anderen gemäß den Vorgaben der Acta constitutiva in drei Artikeln der Präliminarien über die drei Attribute „frei von jeglicher Beherrschung“ (Art. 2), als „souverän“ im Rahmen „der Grundsätze der Acta constitutiva und der Constitución federal“ (Art. 3) und als „unabhängig von den anderen vereinigten Staaten der Nación mexicana“ (Art. 4). 135 Bei der Hinzufügung des Attributes „föderiert“ zum Staatsnamen hingegen gingen die Verfassungsväter Michoacáns einen anderen Weg als ihre mexikanischen Pendants. Lloreda hatte diesen Vorschlag eingebracht, um nicht zu suggerieren, die „Freiheit sei absolut“. Huarte plädierte dagegen, man „führe [so] eine Neuheit ein, die nicht passt“, die anderen Staaten hätten diesen Zusatz auch nicht. Lloreda betonte daraufhin, dass man sich nicht zu sehr „der Routine verschreiben dürfe“ und dass eine neue Regierungsform „neue Prinzipien“ erimmer Unsern Untertanen diese Konstitutionsurkunde, so wie sie hier folgt, bewilligt, zugestanden und oktroyiert.“ 134 Bspw. Verfassung von Michoacán, Art. 2. Vgl. zur europäischen Begriffsgeschichte: Dornheim: Entwicklung, v.a. S. 1-11; speziell zur USA: Adams: Republikan ismus: S. 244-279. 135 Vgl. Sitzung vom 16.02.1825, in: AyD, II, S. 114; Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 30.
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fordere. Pastor Morales unterstützte ihn darin, denn „man dürfe nicht allem blind folgen ..., man müsse immer das Maß, das die Klugheit fordert, in Betracht ziehen“ 136 . Auch wenn das Attribut „föderiert“ in späteren amtlichen Schreiben meist nicht auftaucht, bleibt festzuhalten, dass sich die Verfassungsversammlung Michoacáns in bewusster Absetzung als einziger mexikanischer Teilstaat für die Betitelung „Föderierter Freistaat“137 entschied und somit dafür, die „neuen Prinzipien“ des staatlichen Neugründungsaktes auch an symbolisch herausragender Stelle und unter der Gefahr der Abweichung von anderen Staaten auszuweisen. Ebenfalls in den Bereich der Namensgebung und somit der Selbstdefinition fällt ein weiteres, besonders interessantes Alleinstellungsmerkmal Michoacáns: Gleich der erste Artikel der Verfassung lautet: „Der Staat von Michuacan [!] wird diesen Namen, den er von Alters her erhielt, bewahren, und sein Wappen wird mit irgendeiner Anspielung auf das, was er bedeutet, geformt“ (Art. 1). Mit einer solchen expliziten Auseinandersetzung mit dem Namen stellt Michoacán in Mexiko, aber – soweit mir bekannt – auch im atlantischen Raum, eine Ausnahme dar. Er lässt sich im Zusammenhang mit dem in Artikel 6 geäußerten distanzierten Verhältnis zum bisherigen Namen – „die unter dem Namen Valladolid bekannte Intendanz“ – lesen. Man wollte sich bewusst von der vorangegangenen Intendantenzeit, als man den „Namen Valladolid“ vorgeschrieben bekam, abgrenzen. Die Bezeichnung der Provinz als „Valladolid“ war ja, wie ein oben zitierter Ausspruch Humboldts gezeigt hat, „im Lande selbst“ nicht akzeptiert worden. Das neue Gemeinwesen sollte einen Namen erhalten, der ihn von seinem Rechtsvorgänger abgrenzte. Gleichzeitig sollte er an das vor- und frühspanische Erbe des vorabsolutistischen ‚goldenen Zeitalters’ erinnern und dies auch – wie der gleich näher zu betrachtende Satz zur Einführung des Wappens zeigt – plakativ nach außen tragen. Damit nahmen die Verfassungsväter die kreolisch-historisierenden Erinnerungsdiskurse der späten Kolonialzeit auf. Sie gründeten zwar einen neuen Staat, dieser sollte aber an alte Wurzeln anknüpfen. Was das für das Gesellschaftsbild bedeutet, soll in einem ausführlicheren Rahmen im Kapitel E unter Hinzunahme weiterer Aspekte untersucht werden. 136 Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 250. 137 Durango, Tamaulipas und Zacatecas bezeichneten sich in der vorliegenden Verfassungssammlung zwar in ihren Präambeln auch als „Estado libre y federado“, nicht aber wie Michoacán im Titel. Allerdings heißt es dort auch bei Michoacán im Titel nur „Estado libre“.. Die Sammlung zeitgenössischer Drucke weist freilich auf die Ausnahmestellung Michoacáns hin; vgl. Dorsch (Hg.): Documentos, Bde. 2 u. 3.. Abseits davon bleibt das in den Debatten starke Argument für die Absetzung von der „Routine“ aussagekräftig.
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Allen Abgeordneten schien der erste Satz des Artikels als so attraktiv, dass er trotz seiner Einmaligkeit nicht in Frage gestellt wurde. Debattiert wurde lediglich die Schreibweise des Namens „Michoacán“. Bezeichnenderweise erklärte Lloreda die obige Schreibweise, vorne mit „i“ und auslautend mit „u“, am 22. April 1825 damit, dass es sich um einen „taraskischen Begriff“ und nicht um einen aztekischen handle, also um einen vorspanischen Begriff der indigenen Einwohner Michoacáns, der so in „allen alten Schriften“ verwendet würde. Hier deutet sich an, dass er „Michoacán“ nicht nur zeitlich gegen das bourbonische „Valladolid“ in Stellung bringen, sondern auch örtlich die Unabhängigkeit gegenüber dem alten aztekischen und neuen mexikanischen Machtzentrum betonen wollte. Juan José Pastor Morales bemerkte allerdings, es gebe auch „antike Monumente“, die den Namen auslautend mit „o“ schreiben. Außerdem stellte er korrekterweise fest, dass das Wort aus der „mexikanischen Sprache“ komme, also eine Fremdbezeichnung ist. Daraufhin wurde beschlossen, seinem Ursprung nachzugehen, wobei die schon mehrmals erwähnte Statistik von Juan José Martínez de Lejarza, des Ende Oktober 1824 verstorbenen ehemaligen Mitglieds des Constituyente, als Werk mit den „genausten Hinweisen über die Richtigkeit der antiken Termini“ galt.138 Nach „ausführlicher Prüfung“139 endete die Abstimmung zwei Monate später schließlich mit einem Unentschieden. Erst am 28. Juni entschied sich der Kongress auf Grundlage der „Reflexionen“140 von Pastor Morales für die auch heute noch offizielle Schreibweise. Bezüglich des im zweiten Satz des ersten Artikels erwähnten Wappens wies Huarte in der Sitzung am 22. April darauf hin, dass der Generalkongress die Beschreibung des Wappens zum „löblichen und noblen Ziel“ erklärt hatte. Pastor Morales beendete als amtierender Präsident die weitere Einlassung zunächst schnell, da „ihm der Punkt nicht als verfassungsrelevant erscheine“141. In der Sitzung am 30. Juni wurde sein Antrag auf Streichung diskutiert, wobei ihm die zuständige Kommission mit dem Argument folgte, „in keinem der anderen Staaten finde das Wappen Erwähnung“. Der dann amtierende Präsident José María Paulín wies erfolgreich darauf hin, dass die anderen Staaten „auch nicht an ihren Namen erinnern“ 142 , Michoacán das aber trotzdem tue. Die vorgeschlagene Streichung des entsprechenden Satzes lehnte die Mehrheit ab. Auch das Wappen in seiner demonstrativ-appellativen Eigenschaft sollte gemäß dem Mehrheitswillen folglich Verfassungsrang erhalten. 143 In der starken, bewusst 138 139 140 141 142 143
Vgl. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 252. Vgl. Sitzung vom 20.06.1825, in: AyD, II, S. 335. Vgl. Sitzung vom 28.06.1825, in: AyD, II, S. 356. Vgl. Sitzung vom 22.04.1825, in: AyD, II, S. 252. Vgl. Sitzung vom 30.06.1825, in: AyD, II, S. 359. Vgl. hierzu und zur Umsetzung auch das Kapitel E II.
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abgrenzenden Betonung von eigenen, nicht von den ehemaligen Azteken ausgehenden vorspanischen Wurzeln im ersten Verfassungsartikel lässt sich zum einen das stark ausgeprägte Regionalbewusstsein wieder erkennen, zum anderen die seit Ende des 18. Jahrhunderts akzentuierte Absetzung gegenüber rein europäisch-spanischen Legitimationsmustern. Die Verfassungsväter gründeten einen neuen Staat, wollten aber bei der Namensgebung ostentativ auf alte Wurzeln und gemeinsame Werte anspielen. Der Anspruch einer möglichst nüchternen Verfassung als Organisationsstatut scheint damit in Frage gestellt. Dies wird in Kapitel B V weiter zu verfolgen sein. Definitionsversuche des Territoriums und damit verbundene Unsicherheiten unterstreichen den Neugründungscharakter des Staates. Wie alle anderen mexikanischen Staaten definierte Michoacán sein Gebiet in Anlehnung an ehemalige Verwaltungseinheiten, sei es über die Intendanzen oder über einzelne Bezirke. Ähnlich wie bei einigen deutschen Staaten, die in der napoleonischen Zeit neu entstanden oder zusammengesetzt worden sind – wie beispielsweise das Königreich Westfalen oder das Großherzogtum Frankfurt – spricht daraus eine gewisse Unsicherheit über die territorialen Zusammenhänge und Grenzen: Das Territorium musste erst definiert werden. Martin Kirsch sieht in territorialen Integrationsversuchen sogar einen der Hauptgründe für die schnelle Ausbreitung von Verfassungen im monarchischen Europa.144 Walther Bernecker spricht in einem Überblicksbeitrag davon, dass man im kolonialen Lateinamerika eher in Grenzräumen gedacht hatte und dass sich Grenzlinien erst in der Unabhängigkeitszeit diskursiv durchsetzten – was in der folgenden Diskussion in Frage gestellt wird. 145 Denn auch die Verfassungsväter Michoacáns debattierten noch nicht über Grenzlinien, sondern vielmehr über die Zugehörigkeit bestimmter grenznaher Räume zum eigenen Territorium – ähnliches wird auch bei der unten behandelten División territorial des Landes in Bezirke zu beobachten sein. Der einschlägige, schon erwähnte Artikel 6 der Verfassung von Michoacán lautet: „Das Territorium Michoacáns umfasst für jetzt das Gebiet, das vorher der unter dem Namen Valladolid bekannten Intendanz gehört hatte, mit Ausnahme des Territoriums von Colima“. Der für die Verfassung einmalige Einschub „für jetzt“, der an sich dem Dauerhaftigkeitsanspruch zuwiderläuft, verweist auf die intensiv geführte Debatte um den an der Küste und an der Grenze zu Jalisco gelegenen Bezirk Colima, der durch seinen Hafen und seine Landwirtschaft interessant war. Seit 1823 stand das umstrittene Colima als Territorio unter der
144 Vgl. Kirsch: Monarch, S. 386 u. 409. 145 Vgl. Bernecker: Grenzen.
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Aufsicht der Zentralregierung.146 Rayón wandte gegen den abschließenden Teilsatz („mit Ausnahme des Territoriums von Colima“) ein, dass „man so die Reklamation erschwere, die zu den Gebieten zu machen ist, die dem Staat gehören und momentan den Anrainerstaaten unterstehen“. Er verwandte den Plural, um neben Colima auch das „Territorium, das sich der Estado de México im Bereich von Zacatula genommen hat“, zu erfassen; von diesem hieß es, „man weiß nicht, wohin es gehört, außer im Kirchlichen“147. Damit brachte man die Unsicherheit bezüglich der Grenzen ebenso auf den Punkt wie den bis dato unabgeschlossenen Prozess der Territorialstaatsbildung: Es existierten immer noch unterschiedliche Jurisdiktionsbezirke. Huarte erklärte daraufhin, dass der Ausdruck „für jetzt“ das Problem beseitige. Wegen Lloredas Einwurf, mit dieser Formulierung „verzichte man auf den Anspruch, den man auf das Territorium habe“, wurde sie nach längerer Diskussion in „ohne das Territorium von Colima“148 geändert. In einem weiteren Verfassungsentwurf, dessen Datierung und Urheberschaft leider nicht bestimmt werden konnte, wurde neben Colima zudem die im Südwesten liegende, an México angrenzende „Municipalidad de Coyuca“149 ausgenommen. In der Verfassung findet sich dann jedoch die oben zitierte Variante.150 Auffällig ist, dass in allen drei Fällen (Colima, Coyuca und Zacatula) von Grenzräumen, nicht von Grenzlinien die Rede war. Die Unsicherheit über die Grenzen äußerte sich auch, als Pastor Morales 1825 erfolgreich dafür plädierte, die Wahlen zum ersten Kongress um zwei Wochen 146 Traditionell unterstanden die Stadt Colima und ihr Bezirk der Nachbarregion Guadalajara und waren erst durch die Intendantenreform kurzzeitig an Michoacán angeschlossen worden, bevor es 1795 wohl in der kirchlichen und in der zivilen Verwaltung wieder an Guadalajara fiel; vgl. Muría: Historia, S. 56-58; Anna: Mexico (1998), S. 135f. 147 Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 107. 148 Sitzung vom 14.02.1825, in: AyD, II, S. 109f. Zacatula, ebenfalls an der Pazifikküste liegend, war ein kaum erschlossenes bzw. bewirtschaftetes Gebiet; vgl. auch Endnote Febrero 9, in: AyD, II, S. 504. 149 Vgl. Constitucion Politica del Estado de Michuacán / Art. 2, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3, s./f. Ausdruck der schlechten Integration des Bezirks Coyuca ist, dass er in den 1840er Jahren Teil des neuen Staates Guerrero wurde. 150 Diese Erweiterungsgedanken waren jedoch theoretischer Natur: Als Colima 1823, nach der durch die Regierung in Mexiko-Stadt forcierten Abspaltung von Jalisco einen Antrag auf Aufnahme in Michoacán gestellt hatte, wies man dies unter Anspielung auf die Selbstverpflichtung zur Wahrung der territorialen Integrität aller Provinzen zurück. So schien ein möglichst großes Territorium zwar als erstrebenswert, nicht jedoch um den Preis eines Konfliktes mit den Nachbarstaaten oder mit der Föderation. Entgegen den ersten Entwürfen wurde die Unterteilung des Staates nicht in der Verfassung geregelt, sondern auf Grund des „provisorischen“ Charakters in einem Dekret; vgl. hierzu das Kapitel B II.
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nach hinten zu verschieben, sonst drohe eventuell die Abspaltung der Küstenregion um Coahuayana, was für den Staat „sehr unpassend“ wäre. 151 Eine endgültige territoriale Festlegung schien dem Kongress nicht möglich, der zweite Satz des Artikels 7 lautet: „Ein Gesetz, das konstitutionellen Charakter haben wird, wird die Grenzen mit den Anrainerstaaten festlegen“. Im betrachteten Zeitraum kam es nicht zu diesem Gesetz. Die genaue Grenzziehung – und damit ist die obige These Berneckers für Michoacán widerlegt – schien nicht im Vordergrund zu stehen. Die Unsicherheiten bezüglich des Staatsterritoriums verdeutlichen nochmals den Neugründungscharakter, den herrschaftsbegründenden Charakter der Verfassung von Michoacán und damit einen wesentlichen Unterschied zu den meisten zeitgenössischen europäischen Verfassungen. Der zweite war die Berufung auf das souveräne Volk und nicht auf das Gottesgnadentum als Legitimationsgrundlage. Wie dieses Volk den Vorstellungen der Verfassungsväter entsprechend aussehen sollte, wird im nächsten Kapitel zu behandeln sein.
V. Die Ordnung der Gesellschaft Der Neuordnungsanspruch blieb jedoch nicht bei der Staatsgründung stehen, vielmehr definierten die Verfassungsväter auf der Grundlage eines bestimmten Menschenbildes zusätzlich eine neue Gesellschaftsordnung. Die Frage aus Kapitel IVa aufnehmend, kristallisiert sich hier weiter heraus, dass die Konstituante nicht nur die „Regierung“ zu organisieren trachteten, sondern auch ein gesellschaftliches Wertesystem. Dabei orientierten sie sich an dem atlantischen, in der Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution entstandenen Modell einer Staatsbürgergesellschaft, das im Sinne der Aufklärung vom „Ideal des autonomen Individuums“ 152 ausging. Nach Ulrich Preuß stellt „die Begrenzung der Staatsmacht, der Schutz der Individuen und ihrer der Politik abge-
151 Vgl. Sitzung vom 28.03.1825, in: AyD, II, S. 211f., Zitat S. 212. Vgl. hierzu auch die Anfrage der Diputación provincial von Nueva España von Mitte 1822 an die Regierung in Mexiko-Stadt, ob der Bezirk von Huetamo, Coyuca inklusive, zur Intendanz von Valladolid gehört: AGN, Gobernación leg. 12/1, exp. 10, fs. 1-17. Unklar war auch die Zugehörigkeit anderer Orte, wie zum Beispiel der Antrag des Ayuntamiento von Acambaro (Guanajuato) vom Dezember 1822 auf Anschluss an Valladolid belegt. Den Wechselwunsch begründete Acambaro mit der Zugehörigkeit während des Krieges zu Valladolid; vgl. AGN, Gobernación leg. 12/1, exp. 6, fs. 1-10v. 152 Gosewinkel: Untertanschaft, S. 518.
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wandten Lebenssphären gegen die Willkür der Herrschenden“153 das klassische Thema des modernen Konstitutionalismus dar. Nach Dieter Grimm wurde „individuelle Freiheit … dann das primäre Datum, öffentliche Gewalt eine von ihr abgeleitete Funktion“ 154 . Theoretisch beschränkte die Verfassung damit das „früher umfassend gedachte staatliche Regelungsbefugnis”155 und grenzte von ihr eine geschützte Privatsphäre ab. Die moderne Verfassung dient(e) in erster Linie dem Schutz der Privatautonomie. 156 Das folgende Kapitel besteht aus zwei Teilen: Während die Staatsbürgerschaft und die Staatsbürgerrechte abschließend untersucht werden sollen (b), folgt hier zunächst die Betrachtung der Menschenrechte (a). Sie soll erste Auskünfte über das Menschenbild der Verfassungsväter liefern.
a.
Menschenpflichten und Menschenrechte
Menschenrechte sind – anders als die später zu behandelnden Bürgerrechte – vor-politische Ansprüche, die jeder Mensch allein auf Grund seines MenschSeins besitzt: „Erst sekundär und subsidiär zu den Menschenrechten erhält der Inbegriff der öffentlichen Gewalt, der Staat, seine Legitimation“ 157 . Der berühmte zweite Artikel der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 bringt dieses Verständnis auf den Punkt: „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté, et la résistance à l'oppression“158. 153 154 155 156 157 158
Preuß: Einleitung, S. 11. Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 42. Grimm: Zukunft, S. 47. Vgl. Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 40-42. Höffe: Gerechtigkeit, S. 31. Déclaration des droits de l'homme et du citoyen, Art. 2. Auf deutsch heißt es: „Der Zweck jedes Gemeinwesens ist die Erhaltung der natürlichen und unverlierbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung“. Im sechzehnten Artikel führt sie das bestärkend aus, dass eine Gesellschaft erst dann eine Verfassung habe, wenn diese Rechte garantiert und die Gewaltenteilung festgelegt sind. Auch die Präambel der Déclaration unterstreicht den grundlegenden Charakter der Menschenrechte: „Les Représentants du Peuple Français, constitués en Assemblée Nationale, considérant que l'ignorance, l'oubli ou le mépris des droits de l'Homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des Gouvernements, ont résolu d'exposer, dans une Déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l'Homme, afin que cette Déclaration, constamment présente à tous les Membres du corps social, leur rappelle sans cesse leurs droits et leurs devoirs“.
Ordnung der Gesellschaft
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Anders als in der französischen Tradition erhielt der Menschenrechtsschutz in den Verfassungen von Cádiz – wie gesehen – beziehungsweise in den ersten der Estados Unidos Mexicanos keine den Staat legitimierende Funktion. Bezeichnenderweise hatte die gaditanische Verfassung einen Teil der Wortwahl des zweiten Artikels der französischen Menschenrechtserklärung direkt übernommen, hatte sich aber im zweiten Teil inhaltlich deutlich davon abgrenzt: „Das Ziel der Regierung ist das Glück der Nation, da das Ziel jeder politischen Gesellschaft nichts anderes ist als die Wohlfahrt der Individuen, die ihr angehören“159. An die Stelle der konkret aufgelisteten Rechte trat hier die wenig fassbare „Wohlfahrt“. 160 In der mexikanischen Acta constitutiva heißt es zwar in einem der letzten Artikel: „Die Nation ist verpflichtet, durch weise und gerechte Gesetze die Menschen- und Bürgerrechte zu schützen“ 161 . Damit lehnte sich die Acta an die individualisierende Tendenz des vierten Artikels der Verfassung von Cádiz an. 162 Diese Rechte stehen jedoch nicht vor der Errichtung staatlicher Macht als dessen Legitimation, ihr Schutz galt vielmehr als eine unter vielen Aufgaben. Weder in der Verfassung von Cádiz – wie oben ausgeführt wurde er hier sogar bewusst abgelehnt – noch in den beiden föderalen Verfassungstexten findet sich ein entsprechender Katalog. In der Constitución federal ist von Menschenrechten gar nicht mehr die Rede. Begründet wurde das Fehlen unter anderem mit der Analogie zum Verfassungssystem der USA, wonach die Einzelstaaten den Menschenrechtsschutz zu regeln hätten. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die meisten Einzelstaaten der USA bereits vor Verabschiedung der Gesamtverfassung 1787 eigene Grundrechtskataloge besaßen – der zeitliche Verlauf war also dem in Mexiko entgegengesetzt. Zudem erhielt dort, anders als in Mexiko, auch die Bundesverfassung in Form der Amendments einen entsprechenden Katalog. Auch ist festzustellen, dass keine der beiden mexikanischen Verfassungen die Einzelstaaten mit der Aufstellung eigener Grundrechtskataloge beauftragte – im auffälligen Gegensatz beispielsweise zur vorgegebenen Gewaltenteilung. Sie maßen dem Schutz individueller Rechte also keine entsprechende Bedeutung 159 Verfassung von Cádiz, Art. 13. 160 Diesen Aspekt übersieht meines Erachtens Andreas Timmermann, der folglich davon ausgeht, dass sich „der Zweck des Staates von der Förderung der Wohlfahrt auf den Schutz der Bürger vor Eingriffen in Freiheit und Eigentum“ (Timmermann: Monarchie, S. 209) verlagert. Er bezieht sich dabei ausschließlich auf Artikel 4 der Verfassung von Cádiz, der den Schutz von Individualrechten zur Verpflichtung des Staates macht. Für einen Gesamteindruck ist hier allerdings zu bedenken, dass sich Cádiz insbesondere bezüglich des individualistischen Ansatzes von der französischen Revolution abzugrenzen versuchte. 161 Acta constitutiva, Art. 30. 162 Vgl. zu Cádiz: Timmermann: Monarchie, S. 208-211.
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bei. So ist zumindest für die hier behandelte Periode der Aussage zu widersprechen, dass „Menschenrechte und mexikanischer Konstitutionalismus zwei Seiten einer Medaille“ 163 darstellten. Individuelle Menschenrechte erhielten keinesfalls eine der französischen Menschenrechtserklärung vergleichbare Stellung.164 Dies soll im Folgenden für Michoacán genauer untersucht werden. Im unabhängigen Mexiko erwähnten insgesamt sieben einzelstaatliche Verfassungen, Michoacán inklusive, ausdrücklich Menschenrechte und fast alle anderen Staaten entsprechende Rechte für alle Einwohner. Letztgenannte Kategorie kam Menschenrechten teilweise sehr nahe, da unter die Kategorie „Einwohner“ oft auch Durchreisende gezählt wurden. 165 Michoacán betonte die „allgemeinen Rechte für alle Menschen“ (Art. 12) Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Sicherheit, im Vergleich mit den anderen Teilstaaten besonders stark. So heißt es nach ihrer Auflistung und der gleich ausführlich zu behandelnden Explikation im bemerkenswerten Artikel 13: „Der Staat von Michoacán wird sie als geheiligt und unverletzlich in den Menschen irgendeines Landes der Welt respektieren, die sein Territorium betreten, sei es auch nur auf Durchreise. Diese werden ihrerseits die Pflicht erfüllen, seine Autoritäten zu akzeptieren und sich seinen Gesetzen zu unterwerfen“. Abgeleitet wurde aus diesem Grundsatz dann in einem ebenfalls noch zu behandelnden weiteren Artikel (14) das Sklavereiverbot verankert. Mit dieser starken Betonung – hinzuzuzählen wären hier weiterhin die zwei separaten Kataloge mit Bürgerpflichten und -rechten (Art. 11 und 15) – setzte sich Michoacán in der Verfassung also von seinen hispanischen Vorbildverfassungen ab. Die Menschenrechte erhielten eine transzendente, vorpolitische Legitimierung, wurden zum „primären Datum“. Dazu passt die Aussage Lloredas, nach der diese Rechte „wie der Ursprung oder die Quelle sind, von denen sich die übrigen ableiten“ 166 . Sie waren somit von der Staatsgründung unabhängig und dieser vorgeordnet. Der Staat hatte sie zu „respektieren“. Ob der Staat nach Meinung der Verfassungsväter allerdings wie der französische Staat von 1791 lediglich als Institution diente, durch die diese Rechte garantiert und somit anwendbar wurden, ist im Folgenden zu prüfen. 163 Lara Ponte: Derechos, S. 10, zitiert nach Ferrer: Formación, S. 206. Ähnlich für die Einzelstaaten: Carrillo Prieto: Ideología. 164 Vgl. zur entgegengesetzten Meinung zusammenfassend: Ferrer: Formación, S. 205-237. 165 Vgl. Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 37f. Nur die Verfassung von Puebla greift das französische Vorbild direkt auf und konstatiert in Artikel 5, sich auf die Rechte aller Einwohner beziehend: „Der Erhalt der erwähnten Rechte muss das Ziel sein, mit dem sich jede Autorität des Staates ständig befasst“. Soweit überhaupt explizit Staatsziele in der hier genannten Form erwähnt werden, wurde in den anderen Verfassungen auf das Vorbild Cádiz Bezug genommen. 166 Sitzung vom 11.02.1825, in: AyD, II, S. 107.
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Die Antwort auf diese Frage geht aus den kaum protokollierten Diskussionen nur ansatzweise hervor, muss aber letztlich negativ ausfallen. Auch die weiteren Ergebnisse dieses Kapitels stützen diese Aussage. So wurde der oben zitierte Artikel 13 lediglich bezüglich des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und den im zweiten Satz angeführten Menschenpflichten debattiert: Der Milizionär Villaseñor plädierte für eine Entkopplung, „da solche Rechte immer beachtet und respektiert werden müssen“ 167 , also unabhängig von der Erfüllung der Pflichten. Er ging also von einem allgemeinen-unbedingten Anspruch aus. Lloreda, der Autor des Artikels, verneinte dies: Bei einem Gesetzesbruch müsse man gegen die entsprechende Person vorgehen können, das Interesse der Gesellschaft stehe mithin vor dem Schutz des Individuums. Die Debatte ist leider nicht weiter überliefert, Ergebnis war die oben angeführte, diesbezüglich nicht eindeutige Lösung. Dass die Pflichten jedoch im gleichen Artikel wie die Rechte ausgewiesen werden, scheint auf den von Lloreda initial intendierten Bedingungskonnex hinzuweisen. Die zwar kurzen weiteren Debatten zu diesem Komplex stützen die These, dass die Mehrheit der Abgeordneten individuelle Menschenrechte nicht absolut setzen wollte, dass der Genuss von Rechten immer an Pflichten, mithin an das Interesse der Gesellschaft gebunden werden sollte. Bei den Diskussionen ging es grundsätzlich darum, die Rechte zu begrenzen, nicht darum, sie vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Die Abgeordneten konnotierten die Rechte jeweils in erster Linie mit den von ihnen potentiell ausgehenden Gefahren für die Gesellschaft. Den Abschnitt über die Freiheitsrechte verabschiedeten die Verfassungsväter ohne Debatte: Er garantierte in Anlehnung an die Constitución federal den Menschen die „Freiheit zu sprechen, zu schreiben und zu tun, was sie wollen, solange sie nicht die Rechte eines Anderen angreifen“ (Art. 12/1).168 Allerdings tauchte das Thema bei der aussagekräftigen Diskussion über das Eigentumsrecht wieder auf. Dessen erster Entwurf von Lloreda lautete: Das Recht auf Eigentum besteht darin, „über seine Güter und die Werke seiner Arbeit und seines Talentes verfügen“ (Art. 12/3) zu können, „so wie es einem am besten scheint“. Rayón kritisierte die Formulierung, da „diese Freiheit“ nur im Rahmen der Rechtsordnung und der „Verbindungen, die uns an die Gesellschaft binden“ ausgeübt werden dürfte. Huarte unterstützte ihn darin, indem er feststellte, dass „keiner sein Haus anzünden dürfe, wenn es der Gesellschaft Schaden zufüge“, auch müsse einem „Weisen, wenn er ein entehrendes Schriftstück verfasst“, die Nutzung seines „Talents“ untersagt werden dürfen. Pastor Morales fügte hinzu, dass wenn beim „umfassenderen“ Recht auf Freiheit eine solche „Beschränkung“ hinzugefügt worden sei, sei sie für das Eigen167 Sitzung vom 25.04.1825, in: AyD, II, S. 258. 168 Vgl. hierzu auch die ähnlich lautende Vorgabe der Constitución federal, Art. 161/4.
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tumsrecht erst recht „notwendig“. „In Frankreich habe man den gleichen Artikel aufgestellt, und danach habe man sich über die vielen Übel, die er verursachte, beschwert“169. Wieder taucht hier der Individualismus Frankreichs als warnendes Beispiel auf. Die abschließende Diskussion des Artikels ist nicht überliefert, aus der Endfassung geht jedoch hervor, dass sich Rayón, Huarte und Pastor Morales mit ihrer Argumentation durchgesetzt hatten, an den oben zitierten Satz fügte man folgende Einschränkung hinzu: „solange es nicht zum Schaden der Gesellschaft oder der anderen gerät“. Lloreda hatte die ursprüngliche Fassung also offensichtlich vergeblich mit dem Hinweis verteidigt, dass zwar „einige liberale Regierungen“ das Eigentumsrecht mit dem genannten Argument beschnitten hätten; da „man aber versucht, die unsrige [Gesellschaft] als wirklich frei zu entwerfen, ist es notwendig, dass es auch ihre Prinzipien sind und dass man jede Art von Hindernis, mit dem man über die Zeit diese unverlierbaren Rechte unterminieren könne, beseitigt“170. Die Mehrheit folgte ihm offensichtlich nicht in dieser Meinung. Auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Freiheits- und Eigentumsrechten soll hier nicht eingegangen werden, das Beispiel zeigt jedoch die offensichtlich große Bereitschaft, beide Rechte stark einzugrenzen beziehungsweise, nach der hiesigen Lesart, den letztendlich durch staatliche Instanzen festzustellenden Nutzen der Gesellschaft über die Individualrechte zu stellen. Dies wird auch die noch zu betrachtende Festlegung auf den Katholizismus als Staatsreligion und die damit verwehrte Religions- und Gewissensfreiheit ergeben. Auch wenn eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu Freiheit (noch) nicht vorliegt, kann doch in Anlehnung an Peer Schmidt postuliert werden, dass Freiheit nicht individuell, sondern in erster Linie kollektiv gedacht wurde.171 Das Recht auf Gleichheit wurde ausdrücklich darauf begrenzt, „durch das gleiche Gesetz regiert und gerichtet zu werden, ohne mehr Unterscheidungen als diejenigen, die es selbst etabliert“ (Art. 12/2), um weitergehende Ansprüche abzuwehren. Auch dieses Recht wurde ohne Debatte verabschiedet. 172 Eine Prüfung, wie es mit den durch die föderale Verfassung garantierten Sondergerichtsbarkeiten (Fueros) des Klerus und des Militärs zusammenpassen sollte, fand also nicht statt. Diese Fueros wurden allerdings auch nicht in Zweifel gezogen, weswegen der Allgemeinheitsanspruch des Gleichheitsrechts zumindest fraglich erscheint. Auch auf föderaler Ebene hatte hierzu erst ab 1833 eine „debate sistemático“173 stattgefunden. Bemerkenswert ist zudem, dass die 169 170 171 172 173
Sitzung vom 25.04.1825, in: AyD, II, S. 258. Sitzung vom 25.04.1825, in: AyD, II, S. 257f. Vgl. Schmidt: Freiheit. Vgl. Sitzung vom 25.04.1825, in: AyD, II, S. 257. Vgl. Ferrer: Formación, S. 299-302, Zitat S. 302.
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Verfassungsväter es nicht für notwendig hielten, sich mit dem traditionell korporativen Charakter der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Darauf wird in Kapitel E noch differenziert einzugehen sein.174 Das vierte Grundrecht, dasjenige auf Sicherheit, steht bezeichnenderweise in gewisser Hinsicht über den anderen. Es besteht laut Verfassung darin, dass „alle Menschen … von der Gesellschaft Schutz und Verteidigung ihrer Personen, Interessen und Rechte einfordern können, für den friedlichen Genuss sowohl der einen als auch der anderen“ (Art. 12/4), also für den friedlichen Genuss der Interessen und der Rechte. Der Beisatz, dass die Rechte „friedlich“ zu nutzen seien, macht wieder deutlich, dass mit dem Recht zugleich eine Pflicht verbunden wurde, dass man gegenüber der Gesellschaft den Anspruch auf den Schutz seiner Rechte nur hat, wenn man dieser Gesellschaft Frieden gewährt. Dass die Menschenrechte nicht als absolut gesetzte Leitlinie galten, zeigt sich auch bei der Diskussion über das Sklavereiverbot. Trotz Zweifel, da es sich lediglich um Einzelfälle handle – in Michoacán existierten laut einer parlamentarischen Umfrage nur noch sechs –175, sollte „auf dem Territorium des Staates der Handel und der Verkehr von Sklaven für immer verboten bleiben. Und diejenigen, die momentan in ihm existieren, sollen gegen die entsprechende Entschädigung, falls die Besitzer sie fordern, freigegeben werden“ (Art. 14). Lloreda hatte zunächst vorgeschlagen, dass jeder Sklave, „sobald er ihn [den Staat] betritt, unter jedwedem Vorwand zu jedweder Zeit frei ist“, da – so seine Begründung – „der Staat die Sklaverei auf seinem Territorium absolut abschaffen wollte“. Huarte wies auf der Gegenseite darauf hin, dass in anderen Staaten noch Sklaven existierten, und stellte in der Schlussfolgerung die „ratsame Harmonie“ mit diesen Staaten und das Eigentumsrecht der auswärtigen Sklavenhalter über das Freiheitsprinzip, worin ihm die Mehrheit folgte.176 Der Absolutheitsanspruch Lloredas scheiterte an pragmatischen Erwägungen. Vor der abschließenden Beurteilung des Komplexes Menschenrechte soll noch auf ein interessantes Detail hingewiesen werden: Anders als beim absoluten Charakter, den der für die Preliminares zuständige Lloreda den Menschenrechten zugedacht hatte, folgte ihm die Mehrheit bei der starken Betonung des internationalen Charakters: Vor der Auflistung der vier Rechte in Artikel 12 heißt es: „Die allgemeinen Rechte aller [Hervorhebung S.D.] Menschen sind: ...“. Der oben zitierte Artikel 13 greift diesen Aspekt nochmals auf und exponiert ihn mit der Klausel „in den Menschen irgendeines Landes der Welt, die sein Territorium betreten, sei es auch nur auf Durchreise“. Wenn 174 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel A. 175 Vgl. Sitzung vom 14.05.1825, in: AyD, II, S. 294. Vgl. auch Sitzung vom 27.04.1825, in: AyD, II, S. 262. 176 Vgl. Sitzung vom 14.05.1825, in: AyD, II, S. 294-296, Zitate S. 294f.
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ansonsten in der Verfassung vom Staat die Rede ist, heißt es immer schlicht „der Staat“, hier wie sonst nur in Artikel 1 dagegen „der Staat von Michoacán“177. Ohne das überbewerten zu wollen, schien es sowohl Lloreda als auch dem Kongress wichtig zu sein, auf die Internationalität der Rechte und den Schutz durch den Staat hinzuweisen. Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, dass die Verfassungsväter hier beabsichtigten, die Erfüllung internationalavantgardistischer Standards durch „den Staat von Michoacán“ anzeigen zu wollen. In dieser Denklinie mag auch der zitierte Hinweis Lloredas auf die im internationalen Vergleich besonders ausgeprägte Freiheit der Gesellschaft stehen. Zu dieser Interpretation passt zudem, dass sich die Verfassungsväter mit dem Thema Grundrechte nur beiläufig beschäftigten, diese aber im gedruckten Text relativ viel Raum einnahmen. So können die Verfassungsväter nicht nur auf die Religion oder die Geschichte als gemeinschaftlich schützenswerte und als Werte orientierende Elemente verweisen. Sie können darüber hinaus auch auf Michoacán als Teil einer international-avantgardistischen Werteordnung rekurrieren, die sich nicht zuletzt – wie noch zu sehen sein wird – von der mit Spanien und Europa verbundenen Traditionalität abzugrenzen versuchte. Resümierend bleibt für das Menschenbild zunächst festzuhalten, dass die individuellen Menschenrechte anders als im frühkonstitutionellen Frankreich und in Ansätzen in den USA, aber in Übereinstimmung mit dem bisherigen hispanischen, aber auch mit dem deutschen Frühkonstitutionalismus in Michoacán keine legitimatorischen Funktionen erhielten. 178 Zwar hatte man hier die Werke der französischen Aufklärung und des US-amerikanischen Frühkonstitutionalismus gelesen, letztlich entschied man sich jedoch gegen die Übernahme eines analogen Menschenbildes. Auf Gründe hierfür wird noch einzugehen sein. So ist auch für Michoacán zu konstatieren, dass „Menschenrechte und mexikanischer Konstitutionalismus“ keineswegs „zwei Seiten einer Medaille“ darstellten. Dies klang zwar im Artikel 13 und vor allem bei Lloreda an, die Debatten und andere Artikel weisen allerdings in eine andere Richtung: Die Derechos humanos stellten für die Mehrheit kein Prinzip, keine Leitlinie dar, an der sich die Zielstellung des Staates orientierte. Die spärlichen Diskussionen lassen vielmehr auf Skepsis gegenüber Individualrechten schließen, diese wurden jeweils gegenüber der Gesellschaft eingeschränkt beziehungsweise über Pflichten relativiert. Kollektive Interessen standen vor individuellen. Dieses
177 Weitere Ausnahmen sind zwei Artikel (46 u. 74/9), in denen die Publikationsformel von Dekreten angeführt wird. 178 Vgl. bspw. Grimm: Zukunft, S. 88f. u. 94f.; Schmidt: Freiheit, S. 308; zum Deutschen Bund: Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 129-132; Tugendhat: Kontroverse; Möckl: Konstitution, S. 159; zu den USA: Adams: Verfassung, S. 132f.
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Verständnis spiegelt sich auch bei der Festlegung der gleich zu behandelnden Staatsbürgerpflichten und -rechte wider.
b. Staatsbürgerschaft und Naturaleza Im Unterschied zu den Menschenrechten beziehungsweise -pflichten sind die Staatsbürgerpflichten und -rechte politisch definierte Rechtsbeziehungen, in die Menschen nicht allein auf Grund ihres Mensch-Seins, sondern als vollberechtigte Angehörige eines Staatsvolkes auf Grund bestimmter Kriterien eintreten. Das Staatsangehörigkeitsrecht definiert also positivrechtlich die Zugangskriterien für die Angehörigkeit zum Staatsvolk.179 Wer die Kriterien erfüllt, so wird in ihrer Logik angenommen, teilt auch die „social and political views compatible with the established social order“180 und wird als Mitglied akzeptiert. Mit diesem Status werden also nicht nur formal Rechtsbeziehungen generiert, sondern auch Aussagen über das ideale Mitglied der Gesellschaft getroffen: Der Gesetzgeber bewertet bestimmte Lebensformen und prämiert sie oder stuft sie als nicht gesellschaftsfähig ein. Je weniger (Minimum-)Kriterien, zum Beispiel im Bereich (ethnische) Herkunft, Eigentum oder Bildung gefordert werden, desto offener präsentiert sich die Gesellschaft für die Unterschiedlichkeit der Einzelnen. Je weniger Kriterien gefordert werden, desto weniger ist der ideale Staatsangehörige ein „Entwurf in die Zukunft“181 und desto umfassender ist das integrative Potential. In Idealform ist die offene Gesellschaft mit der in der Phrase „Americans are those who wish to be“182 umschriebenen originären USamerikanischen Vorstellung präsentiert. Bei hohen Auflagen hingegen überwiegen exklusive Tendenzen. Nachdem im letzten Abschnitt Aussagen über das Menschenbild der Verfassungsväter getroffen wurden, sollen nun erste Vorstellungen über den idealen Angehörigen des Staates ausgearbeitet werden. Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Individuum war – so die These – durch (fehlendes) Vertrauen geprägt. Da die einschlägigen Debatten in der Konstituante nicht allzu umfangreich waren, sollen hier zunächst Thesen erarbeitet werden, die dann in einem eigenen Kapitel (E) unter Hinzunahme von Debatten späterer Kongresse wieder aufgenommen werden. Auch die weitere Einordnung in den Forschungskontext erfolgt dort.183 179 180 181 182 183
Vgl. das klassische Werk: Marshall: Citizenship, insb. S. 28f. Bendix: Nation-building, S. 125. Gall: Bürger, S. 617. Hobsbawm: Nations, S. 88. Vgl. Bendix: Nation-building, S. 125. Hier folgt zunächst die rechtlich-theoretische Auseinandersetzung in der Konstituante. Wie mit diesen Differenzen in der parla-
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Eine gesamt-mexikanische Staatsbürgerschaft existierte bis 1836, wie erwähnt, nicht, einen Ciudadano mexicano gab es bis dahin als eigenständige Rechtskategorie nicht. Bei der Wiedereinführung der föderalen Verfassung von 1824 im Jahre 1847 durch die Acta constitutiva y de reformas war die Einfügung eines mexikanischen Staatsbürgerrechtes eine der zentralen Reformmaßnahmen – das Fehlen eines entsprechenden direkten Rechtsverhältnisses von der Zentrale zu den Ciudadanos galt offenbar als ein zu behebender Mangel. Die Regelung der Angehörigkeitsverhältnisse übernahmen bis 1836 ausschließlich die Einzelstaaten. 184 Interessanterweise hatte die föderale Verfassung sie nicht einmal explizit dazu aufgefordert. Sie sprach lediglich an einigen Stellen vom „Ciudadano de los estados“, vom „Ciudadano de la federación“ beziehungsweise auch – wohl im gleichen Sinne – vom „Ciudadano natural de la república“ oder eben vom „Ciudadano mexicano“.185 Implizit galt das Modell der Staatsbürgergesellschaft offensichtlich als selbstverständlich: Alle Einzelstaaten führten entsprechende Kriterien ein. Damit orientierten sie sich an dem Modell, das im Sinne der Aufklärung vom „Ideal des autonomen Individuums“186 ausging. Ebenso alle Einzelstaaten trafen in Anlehnung an Cádiz und in Übereinstimmung mit einer weitverbreiteten Tendenz im atlantischen Konstitutionalismus zwei Grundsatzentscheidungen: Einerseits unterschieden sie grundsätzlich zwischen Inländern und Fremden / Ausländern (Extranjeros) als Rechtskategorien und schufen damit eine bislang nicht gekannte Eindeutigkeit.187 Und als zweite Entscheidung führten alle mexikanischen Verfassungen zwei Kategorien von Angehörigkeitsverhältnissen ein: die Naturaleza und die Ciudadanía. Während man den Begriff Ciudadanía eindeutig mit „Staatsbürgerschaft“ übersetzen kann und entsprechend den Ciudadano mit „Staatsbürger“, bleiben die Naturaleza beziehungsweise der Natural hier als Terminus technicus unübersetzt. Somit sollen Gleichsetzungen unterschiedlicher
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mentarischen Diskussions- und Gesetzgebungspraxis umgegangen wird, soll in den Kapiteln E I und II untersucht werden. Vgl. im Überblick die analoge Situation im Deutschen Bund: Gosewinkel: Einbürgern, S. 27-30. In den Artikeln 76 und 121 der Constitución federal wird zwar der „mexikanische Staatsbürger“ erwähnt, jedoch nirgendwo definiert, ebenso wenig wie die anderen oben zitierten Begriffe. Gosewinkel: Untertanschaft, S. 518. Vgl. zu einer ähnlichen Tendenz im Deutschen Bund: Gosewinkel: Einbürgern, S. 35; Gosewinkel: Staatsbürgerschaft, S. 546f.
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rechtlicher Konzepte vermieden werden.188 Insgesamt existierte im atlantischen Raum eine große Vielfalt unterschiedlicher, rechtlich oft nicht eindeutiger Angehörigkeitskonstrukte und -begriffe. Wie in Teil A gesehen, beschrieb die Naturaleza im Antiguo régimen die Angehörigkeit zu einer überlokalen Ordnung, sei es zur spanischen Monarchie im Gesamten oder zu einem Teil(-Reich).189 Trotzdem passt die deutsche Übersetzung „Staatsangehörigkeit“ insofern nicht, da dieser „jede politische … Konnotation“ 190 fehlt. Auch der früher im Deutschen gebräuchliche Terminus des „Indigenats“ als „Inbegriff konkret umschriebener Rechte“ 191 der Eingeborenen passt nicht, da es sich bei der Naturaleza um einen abstrakten Rechtsstatus handelte. Inhaltlich kommt der hiesigen Zweiteilung diejenige im revolutionären Frankreich am nächsten: Neben den politisch berechtigten Aktivbürgern gab es dort die Passivbürger ohne politische, aber mit zivilen Rechten. 192 Wie die Passivbürger waren die Naturales, wie gleich zu sehen, Angehörige des Staates mit zivilen, aber ohne politische Rechte. Das folgende Kapitel wird aus der Perspektive Michoacáns eine Klärung versuchen, was man mit der Naturaleza verband. Die mexikanische Historiographie zur Unabhängigkeitszeit schenkte dem Natural und der daraus folgenden Zweiteilung der Mitgliedschaft kaum Beachtung, 193 anders als beispielsweise die oben zitierte Forschung zu Cádiz. Der Begriff „Staatsangehörigkeit“ soll hier wie häufig in der Literatur im weiteren Sinne verwendet werden als „Zugehörigkeit eines einzelnen zu einem bestimmten 188 Vgl. allg. zur Problematik von Übersetzungen von Rechtstermini im Bereich des Angehörigkeitsrechts: Gosewinkel: Untertanschaft. 189 Vgl. allg. zur Naturaleza in Spanien und Spanisch-Amerika: Herzog: Nations, S. 64-118. 190 Gosewinkel: Einbürgern, S. 13. Vgl. weiter zur Begriffsgeschichte von „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei ersterer zunächst die Oberhand gewann. Beide Begrifflichkeiten wurden jedoch häufig synonym verwendet: Gosewinkel: Einbürgern. Rolf Grawert weist auf eine Vielfalt unterschiedlicher Angehörigkeitsverhältnisse im Alten Reich hin. Erst allmählich, zur Zeit des Deutschen Bundes, kam es in den einzelnen deutschen Staaten zu einer Vereinheitlichung; vgl. Grawert: Staat, S. 21-64 u. 123-193. 191 Becker: Kampf, S. 179. Becker weist weiter darauf hin, dass der Begriff „Indigenat“ in unterschiedlichen deutschen Staaten unterschiedliche Bedeutungen hatte, in Bayern und Preußen bspw. hatte er große Ähnlichkeiten mit dem Begriff der Staatsangehörigkeit; vgl. Becker: Kampf, S. 174-181 u. 192f. 192 Vgl. zu Frankreich im Überblick: Weil: Français, S. 19; Gosewinkel: Einbürgern, S. 12f.; Hafen: Staat, S. 89-91; für die Unterscheidung von 1791 zwischen „dem staatsangehörigkeitsrechtlichen ‚citoyen’“ und dem „staatsbürgerliche[n] ‚citoyen’, de[m] Träger politischer, statt ziviler Rechte“ auch: Becker: Kampf, S. 162. Im spanisch-amerikanischen Bereich fand diese Konstruktion aber auch direkte Nachahmer, wie beispielsweise in Venezuela 1819; vgl. Hebrard: Ciudadanía, S. 122-153, v.a. 130-132 u. 152. 193 Eine Ausnahme bildet hier: Carmagnani: Territorio.
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Staatsvolk“ 194 und somit beide Angehörigkeitsverhältnisse, die Staatsbürgerschaft und die Naturaleza, umfassen. Erstmalig war in Michoacán 1824/25 mit der Konstituante eine politische Führung auf überlokaler Ebene berechtigt, einheitliche Regeln aufzustellen, nach denen ein Mensch Angehöriger der politischen Ordnung war beziehungsweise wurde. Ein Novum, das auch in anderen atlantischen Regionen (zunächst) mit Uneindeutigkeit verbunden war. Stärker soziale Vorstellungen mussten in Rechtskonzepte übersetzt werden. Michoacán definierte als einziger mexikanischer Teilstaat beide Angehörigkeitsverhältnisse primär über einen einzigen Kriterienkatalog. So waren laut Verfassung zunächst alle Michoacanos, wie man die Naturales von Michoacán bezeichnet, gleichzeitig Staatsbürger. Die Staatsbürger unterschieden sich von den Michoacanos dann dadurch, dass sie bestimmte weitere Kriterien erfüllten. Wer diese, unten zu behandelnden Auflagen also nicht erfüllte, war ‚lediglich’ Michoacano. 195 Bei der nachfolgenden Untersuchung des Staatsangehörigkeitsrechts werden zunächst die Vorgaben untersucht, auf Grund derer man Michoacano war beziehungsweise wurde. Und erst in einem zweiten Schritt kommen dann die in Artikel 16 und 18 geregelten Kriterien zu Wort, nach denen ein Michoacano seine Staatsbürgerschaft verlor oder von ihr suspendiert wurde, erst hier also findet die Differenzierung in Ciudadanos und Naturales statt. Der für die Staatsangehörigkeit zentrale Artikel 8 lautet: „Michoacanos sind nur die auf dem Territorium des Staates Geborenen“. Michoacán geht, was die im eigenen Staat Geborenen betrifft, wie viele weitere mexikanische Staaten noch über das französische und gaditanische Vorbild hinaus und verlangt neben der Geburt auf dem eigenen Territorium keine weiteren Auflagen, wie beispielsweise eine bestimmte Abstammung oder finanzielle Ressourcen. 196 Auch Frauen waren als Michoacanas – ein häufig gebrauchter Terminus – in dieser Rechtskategorie, wenn auch implizit, inbegriffen. Michoacán orientierte sich also ausschließlich am Territorialprinzip (Ius soli), wohingegen sowohl die französische Verfassung von 1791 als auch Cádiz Elemente des Abstammungs194 Moosmayer: Gebietsgrundsatz, S. 11. 195 Alle anderen Staaten führten zwei getrennte Kriterienkataloge auf. Die Verfassungen von Chihuahua und Veracruz legten fest, dass alle Naturales gleichzeitig Ciudadanos sind, die meisten anderen Konstitutionen forderten zusätzlich zur Naturaleza die Vecindad. 196 Vgl. zu konkreten Zahlen das Kapitel D I, wo mit dem Wahlrecht das fundamentale Staatsbürgerrecht untersucht wird. Für den Status des Citoyen actif verlangte die französische Verfassung ein Mindeststeueraufkommen. Vgl.: Constitution française (1791), Titel III, Kap. I, Sek. II, Art. 2; vgl. zur Diskussion um die Definition des Citoyen français in der Revolutionsepoche: Gosewinkel: Einbürgern, S. 17-19; Weil: Français, S. 20-33.
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prinzips (Ius sanguinis) integrierte, in den Staaten Deutschlands dieses sogar dominierte. 197 Die Verfassung von Cádiz verstand afrikanisch-stämmige Personen, auch wenn sie auf spanischem Gebiet geboren worden waren, von den Staatsbürgerrechten ausgeschlossen. Sie konnten die Ciudadanía nur unter Sonderauflagen erhalten. Wie schon der Plan von Iguala mit seiner Garantie der Unión, nach der „alle Einwohner ohne irgendeine Unterscheidung von Europeos, Africanos oder Indios Staatsbürger“ 198 seien, hatten die einzelstaatlichen Verfassungen Mexikos ein ethnisch indifferentes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen. Lediglich Querétaro forderte zusätzlich „mexikanische Eltern“199. In Michoacán waren sowohl die indigene Bevölkerung als auch die Castas gemäß der Verfassung selbstverständlich Teil der neuen staatlichen Gesellschaft. Dass dieser Anspruch herrschte, zeigte sich unter anderem bei der Begründung für den ohne Diskussion stattgegebenen Antrag von Pastor Morales: Dieser wollte die Verwendung der Bezeichnung „begünstigte [agraciados]“ für die Indigenen verbieten, da „diese Unterscheidung glauben lässt, dass sie nicht von Natur aus Staatsbürger sind, sondern durch Privileg“ 200 . Folgt man der Forschung zu europäischen Angehörigkeitsverhältnissen, setzten die Verfassungsväter Michoacáns demnach eher auf die „assimilatorische Prägekraft des … Territoriums“ 201 und weniger auf die integrative Wirkung der „Familie als Keimzelle des Staates“202 oder die „familiäre Vermittlung“203 von Werten. Diese für das Gesellschaftsverständnis wichtige Alternative – nicht zwangsläufig als Gegensatz zu verstehen – ist auf den folgenden Seiten im Blick zu behalten. Die Verfassung von Michoacán etablierte aber auch für auswärtig geborene Personen relativ niedrige Hürden für den rechtlichen Status des Michoacano: So 197 Vgl. im Überblick: Constitution française (1791), Titel II, Art. 2 (zum Citoyen); Gosewinkel: Einbürgern, S. 48f.; Grawert: Staat, S. 136-148. Für die traditionelle Gegenüberstellung von Territorial- und Abstammungsprinzip: Becker: Kampf, S. 157161; Grawert: Staat, S. 76-78. 198 Plan de Iguala, in: Dorsch (Hg): Documentos, Art. 12. 199 Verfassung von Querétaro, Art. 14/1. In allen anderen Staaten galt für beide Mitgliedschaftsstufen die Geburt im Staat als prinzipielles Kriterium, zu dem in einigen Fällen die Vecindad hinzutrat. In acht Verfassungen erleichterten mexikanische Eltern die Einbürgerung für im Ausland geborene Personen, San Luis Potosí erklärt gar, dass diese Söhne erst gar nicht als Ausländer zu behandeln seien; vgl. für die folgenden Vergleiche den Überblick über das Staatsbürgerschaftsrecht der Estados Unidos Mexicanos: Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 38-43. 200 Sitzung vom 01.03.1825, in: AyD, II, S. 148; vgl. das entsprechende Dekret Nr. 38 (02.03.1825), in: RdL, I, S. 74. 201 Gosewinkel: Staatsbürgerschaft, S. 550. 202 Grawert: Staat, S. 191. 203 Becker: Kampf, S. 157. Vgl. zur Gegenüberstellung auch: Mertens: Staatsangehörigkeitsrecht, S. 28.
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definierte der nächste, der Artikel 9 drei Kategorien von Personen, die „für solche gehalten werden“, die also den Michoacanos rechtlich gleichgestellt wurden. Auf diese Konstruktion wird ebenso wie auf das „nur“ des vorherigen Artikels später noch einzugehen sein. Für diese drei Kategorien stand das Ius domicilii im Vordergrund. Über die Ansiedlung im Staat konnte die Angehörigkeit „ersessen werden“ 204 . So mussten die Personen der ersten Kategorie, die „in irgendeinem Staat oder Territorium der Federación mexicana Geborenen“ (Art. 9/1) lediglich Vecino des Staates werden – wie entsprechend auch in den anderen Staaten üblich. Wie schon in der Kolonialzeit blieb der Terminus der Vecindad zwar ohne genaue Definition – wie in der Verfassung so auch in anderen Gesetzen –, aber es schien sich die Tendenz fortzusetzen, den Vecino zunehmend territorial zu definieren. Der Begriff löst sich weiter von der Idee der lokalen, auf soziokultureller Anerkennung beruhender Gemeindeangehörigkeit, wie sie im Antiguo régimen zunächst dominiert hatte.205 Der Vecino war also kaum noch als Gemeindebürger zu fassen. Außer in einem Fall ist nur von Vecinos del estado, also von Vecinos einer überlokalen Ordnung, die Rede. Meist wird die Vecindad mit einer bestimmten Aufenthaltsdauer im Staat verbunden. Auch die einzige Ausnahme ist bezeichnend: Sie bezieht sich auf die Auflage für die Übernahme eines Ayuntamiento-Amtes, man müsse „Vecino des Ayuntamiento-Bezirks sein, mit einjährigem Aufenthalt und dem Willen in ihm zu verbleiben [animo de permanecer]“ (Art. 110). 206 Der Animo de permanecer findet sich als einziges Definitionselement für die Vecindad auch in zwei Unterlagen über Wahlstreitigkeiten. 207 Der soziokulturelle Bedeutungsanteil ist also weitgehend verloren gegangen. Vielmehr lässt sich annehmen, dass die Verfassungsväter Michoacáns mit denen des Staates Occidente übereinstimmten, die verfassungsrechtlich zwei Jahre Aufenthalt im Bezirk festlegen, „um sich Vecino nennen“ 208 zu können. So ist Peter Moosmayer in seiner Untersuchung des hispanischen Angehörigkeitsrechts im 19. Jahrhunderts beizupflichten, wenn er feststellt: „Schon frühzeitig verlor jedoch der Begriff der ‚vecindad’ die altspanische Bedeutung des ‚Ortseinwohnerrechtes’ und wurde sinngleich mit dem 204 So formulierte es Dieter Gosewinkel für das Baden und Bayern der Zeit nach 1808 beziehungsweise 1812; vgl. Gosewinkel: Einbürgern, S. 49. 205 Vgl. insgesamt: Herzog: Nations, S. 41-62; Carmagnani: Territorio, hier v.a. S. 221-227; Carmagnani: Territorios, S. 60-65; Guarisco: Indios, S. 45; Liehr: Stadtrat, S. 53f. 206 Zu den weiteren Fällen vgl. die Auflagen für weitere Wahlämter im Staat in Kapitel C. 207 Vgl. die Hinweise und Ausführungen in Kapitel D III. 208 Verfassung von Occidente, Art. 183. Die Verfassung von México verlangt Wohnsitz, Beruf und einen Grundbesitz von mindestens 6.000 Pesos und knüpft somit stärker an den traditionellen Bedeutungsinhalt des Begriffes an; vgl. Verfassung von México, Art. 19/1 u. 2; Carmagnani: Territorio, S. 224.
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bürgerlich- oder staatsrechtlichen Wohnsitz (‚domicilio’)“ 209 . Auch Marcello Carmagnani kommt für die Vecindad als „Grundelement der Kategorie des Staatsbürgers“ zu einem ähnlichen Schluss.210 So wird auch im hier bearbeiteten Artikel 9 der Verfassung nebeneinander mal Vecindad, mal Domicilio verwendet. Als kleiner Exkurs lässt sich aus dem eben Gesagten gleichfalls ableiten, dass die formal-rechtlich – nicht sozio-kulturell – relativ schwach abgegrenzten lokalen Gemeindezugehörigkeiten in Michoacán im Denken der Verfassungsväter offensichtlich kein grundsätzliches Hindernis auf dem Weg zu einer einheitlichen Staatsbürgerschaft darstellten. Die „Vermittlung der Staats“-angehörigkeit fand in Michoacán nicht „durch eine Gemeindeangehörigkeit“211 statt. Dies steht im Kontrast beispielsweise zum süddeutschen Raum mit seiner stark ausgeprägten kommunalen Tradition, wo „der ursprüngliche Bedingungszusammenhang zwischen dem Erwerb des lokalen und des staatlichen Bürgerrechts“ erst allmählich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „begann sich umzukehren“212. Eine zweite Kategorie von Personen, die „für Michoacanos gehalten werden“, bezieht sich auf „alle, die im Jahre 1821 an einem Ort des Staates etabliert waren und seitdem ihr Domicilio nicht verändert haben“ (Art. 9/2). Wie der Vergleich mit anderen Verfassungen, die diese Auflage weiter erklärten, verdeutlicht, sollte damit die Treue zum 1821 unabhängig gewordenen Mexiko unter Beweis gestellt werden. Als Beispiel sei hier die entsprechende Regelung aus Jalisco herangezogen: „Die auf dem Territorium der mexikanischen Föderation Geborenen und die Ausländer, die in ihm zum Zeitpunkt der Proklamation der politischen Emanzipation der Nation Avecindados waren“, also diejenigen, die 1821 im Staat Vecinos waren, aber „der Sache der Unabhängigkeit nicht treu geblieben sind, sondern ins Ausland oder in ein von der spanischen Regierung besetztes Land emigrierten, sind weder Jaliscienses noch Ciudadanos Jaliscienses“213. Coahuila y Texas, Guanajuato und Tamaulipas übernahmen diese Regelung, Durango fügte zu den Personis non gratis noch diejenigen hinzu, die den spanischen „Fahnen folgten“214. Auch Veracruz und Chihuahua zielten auf diejenigen ab, die seit 1821 in Spanisch dominierte Gebiete emigrierten, Chihuahua allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, da Spanien „unsere 209 210 211 212
Moosmayer: Gebietsgrundsatz, S. 82f. Vgl. Carmagnani: Territorio, insb. S. 224-227, Zitat S. 224. So auch schon: Moosmayer: Gebietsgrundsatz, S. 83. Zu Süddeutschland: Gosewinkel: Einbürgern, S. 51-57, Zitat S. 57. Vgl. zu einer ähnlichen Verstaatlichung in anderen Staaten, die sich an den Vorbildern Frankreich und Österreich orientierten: Becker: Kampf, S.123. 213 Verfassung von Jalisco, Art. 15. 214 Verfassung von Durango, Art. 11.
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Unabhängigkeit“215 anerkennt. San Luis Potosí „ent“-naturalisiert alle, die „aus Abneigung gegen die Unabhängigkeit“ 216 emigrierten. Derselbe Staat gewährt den Spaniern und allen übrigen Ausländern, die „seit vor der Erklärung von Iguala“ von 1821 im Staat ansässig waren, den Status eines Potosinense, sobald sie auf „die Unabhängigkeit der Nation und [auf] ihre Verfassung“217 schwören. Im Falle Michoacáns galt das Beibehalten des Wohnsitzes im Staat offensichtlich als ausreichende Treuebekundung. Auch für diese Personengruppe stand also das Ius domicilii im Vordergrund: Das Wohnen im Staat schuf eine Treue- und Vertrauensbeziehung. Für die letzte Personengruppe, die die den Michoacanos nach Artikel 9 rechtlich gleich gestellt wurde, galt neben der Ansässigkeit im Staat – diesmal wieder als Vecindad tituliert – noch eine weitere Auflage: Demnach mussten die „Americanos naturales von irgendeinem anderen von der Nación española unabhängigen Ort und die Extranjeros“ (Art. 9/3) zusätzlich noch die Ehe mit einer Michoacana vorweisen. Dies ist die einzige Ausnahme von der strengen Orientierung Michoacáns am Territorialprinzip. 218 Aus dem Diskussionszusammenhang geht hervor, dass die Verfassungsväter sicher gehen wollten, dass nur Katholiken naturalisiert werden können; denn eine Michoacana heiraten konnten nur Katholiken: So begründeten Pastor Morales und Lloreda ihre Zustimmung ausdrücklich damit, dass „sich unter uns kein Ausländer verheiraten kann, ohne vorher bewiesen zu haben, dass er sich zur katholischapostolisch-römischen Religion bekennt“219. Diese Bedingung wurde während der Debatten bezeichnenderweise stark kritisiert. Pedro Villaseñor schätzte die Heiratsauflage als deutlich höher ein als den Alternativvorschlag mit acht Jahren Aufenthalt im Staat plus 8.000 Pesos Eigenkapital. Die Tatsache, dass man unter Einhaltung dieser Kriterien zwar Abgeordneter im Generalkongress werden konnte, nicht aber Michoacano, titulierte er als „seltsam“. Er konstatierte weiterhin, dass „man auf diese Weise das Tor zum Fortschritt“ verschließe, da keiner nach Michoacán kommen wolle, wenn man erst mit einer Michoacana 215 Verfassung von Chihuahua, Art. 12. 216 Verfassung von San Luis Potosí, Art. 16. 217 Verfassung von San Luis Potosí, Art. 13/2. Oaxaca, Occidente, Yucatán und Zacatecas verlangen lediglich für die Staatsbürgerschaft, nicht auch für die Naturaleza, die Treue zur nationalen Unabhängigkeit. 218 Anders als beispielsweise im deutschen Rechtsraum, wo „die Gattin die rechtliche Eigenschaft des Mannes“ (Gosewinkel: Einbürgern, S. 37) annahm – ohne freilich dadurch eine eigenberechtigte Vollbürgerin zu werden – orientierte sich die Einheirat in Mexiko, wie auch in Frankreich und Spanien, an der weiblichen Seite; vgl. zu Österreich / Deutschland: Gosewinkel: Einbürgern, S. 37 u. 49. 219 Vgl. Sitzung vom 16.02.1825, in: AyD, II, S. 114f., Zitat S. 115. Vgl. hierzu auch die unten folgenden Ausführungen zur Staatsreligion.
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verheiratet sein muss. Michoacán könne sich das jedoch im Vergleich mit anderen Bundesstaaten nicht leisten, müsse vielmehr darauf achten, „Ausländer anzuziehen, die Künste und Wissenschaften einführen“. In der nächsten Sitzung setzte er nach und hielt diese „einmalige“ Festlegung für „unzeitgemäß“ und „völkerrechtswidrig“, außerdem als unklug wegen der „Verhältnisse des Rückstandes und des Bevölkerungsrückganges, in denen sich der Staat befindet“220. Die gegenüber dem Eigenen abschätzige Bewertung fand jedoch keine Mehrheit. Pastor Morales argumentierte erfolgreich dagegen, dass Ausländer nicht wegen irgendwelcher Ämter nach Michoacán kämen, sondern aus „Liebe zum Gewinn, den ihnen die Reichtümer unseres Bodens im Übermaße verschaffen“. Die Rückständigkeit des Staates sei damit begründet, dass die Inländer bislang keine Erfahrung mit der öffentlichen Verwaltung hatten sammeln können und nicht wegen fehlenden ausländischen Know-hows. 221 Nach ihm „dient die Heiratsbedingung der Konsolidierung der sozialen Beziehungen, dem Bevölkerungswachstum“222 und dem Verbleib der Reichtümer im Staat. Für die Personengruppe der nicht-mexikanischen Amerikaner und der Ausländer schien also das Wohnen im Staat zur Etablierung einer Treue- und Vertrauensbeziehung nicht auszureichen. Zwar ist Michoacán wegen der „Reichtümer seines Bodens“ attraktiv. Zur „Konsolidierung der sozialen Beziehungen“ bedürfe es aber darüber hinaus familiärer Beziehungen – und somit auch der gleichen Religion. Die These von den „círculos concéntricos“ (Mónica Quijada) von Zugehörigkeitsverhältnissen ließe sich hier überzeugend verifizieren: Michoacanos wurden von Mexikanern, diese von Amerikanern unterschieden, und diese wiederum von den Extranjeros. In den letzten Kreis fielen die von Spanien regierten Personen. 223 Entsprechendes findet sich in allen mexikanischen einzelstaatlichen Verfassungen. Diese Einteilung verdeutlicht zugleich, dass die Zugehörigkeit zur neuen staatlichen Gesellschaft als Vertrauens- beziehungsweise Loyalitätsverhältnis interpretiert wurde: Die im eigenen Land Geborenen sind ohne weitere Auflagen durch den gemeinsamen Geburtsort und somit durch eine vermeintlich ausreichend große Anzahl von Gemeinsamkeiten vertrauenswürdig. Die aus anderen Staaten Mexikos stammenden Personen mussten durch ihre Ansässigkeit im Staat ihre „sozialen Beziehungen“ mit der 220 Sitzungen vom 30.06. bzw. 01.07.1825, in: AyD, II, S. 361 bzw. 363. 221 Vgl. zu Kolonisierungsmaßnahmen die entsprechenden Abschnitte in Kapitel E II. 222 Sitzung vom 01.07.1825, in: AyD, II, S. 364. Um den, wie oben gesehen, unberechtigten Vorwurf, Michoacán habe damit eine einmalige Regelung getroffen, zu entkräften, verwies Pastor Morales auf „die Unterschiede in den Umständen“. 223 Vgl. hierzu die Ausführungen zur späten Kolonialzeit in Kapitel A und die intensivere Auseinandersetzung mit der Nationsbildung in Michoacán in Kapitel E II.
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dortigen Bevölkerung erst noch „konsolidieren“ und mussten so den Nachweis ihrer ‚Ver-Gemeinschaftung’ erbringen. Von Amerikanern und Extranjeros, in Michoacán als eine Anspruchsgruppe zusammengefasst, 224 wurde zusätzlich eine starke familiäre Bindung, die Eheschließung, verlangt, die „Liebe zum Gewinn“ reichte nicht aus. Ob hier unter die Americanos auch US-Amerikaner fielen, lässt sich schwer einschätzen. In anderen Verfassungen ist dies deutlicher. Ausdrücklich miteinbezogen sind sie beispielsweise in Puebla bei der Bestimmung, dass als Verlustgrund für die Staatsbürgerschaft zwar die Naturalisierung im „Ausland“ zählt, allerdings nur die Naturalisierung außerhalb des „amerikanischen Kontinents“225. Als republikanisch-föderales Vorbild und als im amerikanischen Unabhängigkeitskampf verbrüderte Nachbarn galten die USA als besonders vertrauenswürdig. Die von Spanien regierten Personen und diejenigen, die nach der Unabhängigkeit 1821 diese durch Abwanderung potentiell verraten hatten, konnten hingegen unter keinen Umständen das Vertrauen Michoacáns erwerben. Die anti-spanische Stimmung, die am Ende der 1820er Jahre zur Vertreibung vieler Spanier aus Mexiko führen sollte, richtete sich also noch allein gegen diejenigen, die sich nicht von der absolutistischkolonialen Regierung losgesagt hatten. Diesen Vorwurf unterbreitete man (noch) nicht pauschal allen Spaniern.226 Das Denken in „konzentrischen Kreisen“ zeigt sich auch beim Verfahren der Einbürgerung: So war der Kongress nach Artikel 42/27 der Verfassung dafür zuständig, Cartas de naturaleza beziehungsweise Cartas de ciudadanía, also Naturalisierungs- und Staatsbürgerurkunden, zu vergeben. Diese Zuständigkeit galt allerdings nur für Extranjeros. Für die anderen Gruppen scheint sich aus dem Artikel 9 – „für Michoacanos gehalten werden …“ – wie für die Michoacanos selbst ein Automatismus zu ergeben. Wie im Antiguo régimen und nach der Verfassung von Cádiz waren die zentralen politischen Autoritäten nur für die Einbürgerung der Extranjeros zuständig, ein formalisiertes Verfahren sollte es also nur für diese relativ kleine Gruppe geben. 227 Dazu passt, dass während der kommenden Jahre keine Diskussionen über die Vergabeprozeduren stattfanden. 228 In einigen anderen Staaten sollte es allgemein stärker 224 Einige andere Staaten unterschieden noch deutlicher zwischen Amerikanern und Ausländern, indem sie für Erstgenannte geringere Auflagen festlegten; vgl. ähnlich bspw. in Argentinien bis 1853: Quijada: Nación, S. 298f. 225 Verfassung von Puebla, Art. 19/1. 226 Vgl. hierzu das Kapitel D. 227 Vgl. hierzu auch die Regelung von Cádiz, Art. 5/2 u. 19, nach der Extranjeros von den Cortes ihre Urkunden erhalten mussten. Als Spezialfall mussten auch die Castas Staatsbürgerurkunden bei den Cortes beantragen. 228 Auch wurde in dieser Zeit kein in Artikel 42/27 angekündigtes Gesetz verabschiedet, was allerdings damit zu tun haben könnte, dass sich die Föderation den Anspruch
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formalisierte Verfahren geben, so verlangte beispielsweise San Luis Potosí ebenso wie Frankreich (1791 mit seinem konstitutionell definierten Serment civique) und Österreich einen Einbürgerungseid. Allerdings setzte sich auch in Europa die Tendenz zur Eindeutigkeit und Formalisierung erst allmählich durch. So intendierten die Verfassungsväter Michoacáns wohl kein streng juristisch-formelles, von der Zentralregierung gelenktes Verfahren, sondern akzeptierten wie im Antiguo régimen eher die Entscheidung auf lokaler Basis. Dass diese kommunalistische Tendenz auf die Schwächung der zentralen Instanzen im Bürgerkrieg zurückgeht, scheint eher fraglich. Naheliegender scheint die Fortschreibung der Rechtspraxis des Antiguo régimen.229 Für alle Kategorien von Auswärtigen, die den Rechtsstatus eines Michoacano erhalten wollten, stand also das vergleichsweise einfach zu erwerbende Ius domicilii im Vordergrund: Die Staatsangehörigkeit konnte „ersessen werden“. So lässt sich zunächst festhalten, dass sich Michoacán im politisch-rechtlichen Bereich als sehr offene Gesellschaft konstituierte – mit zwei Ausnahmen, nämlich den Nicht-Katholiken und den Angehörigen oder Anhängern der ehemaligen Kolonialmacht Spanien, denen man pauschal unterstellte, die Treue zum neuen Staat nicht garantieren zu können. Wie zu sehen, waren die Auflagen für alle anderen Extranjeros relativ niedrig. Auch gegenüber Inländern sah die Verfassungsordnung eine sehr inklusiv-offene Gesellschaft vor. Soweit die Aufnahmekriterien. Die Kriterien, unter denen die Staatsbürgerschaftsrechte suspendiert werden beziehungsweise verloren gehen konnten (Art. 18 bzw. 16), stützen die These von der Staatsangehörigkeit als Vertrauensverhältnis. 230 Wie gesagt, differenzierten sich hier die beiden Angehörigkeitsverhältnisse, die Naturaleza und die Ciudadanía, aus: Die Naturaleza war ein dauerhafter Status, der über die gerade genannten Aufnahmekriterien erreicht werden konnte. Sie konnte laut Verfassung nicht verloren gehen, 231 während man die Derechos de ciudadanía unter bestimmten vorbehalten hatte, eine „generelle Regel der Naturalisierung zu etablieren“ (Constitución federal, Art. 50/26). 229 Bspw. zu den deutschen Staaten vgl. Gosewinkel: Einbürgern, S. 33-48 230 Ob der Verlust der „allgemeinen und partikularen Rechte der Staatsbürgerschaft“ auch die Entbindung aus dem staatsbürgerlichen Pflichtverhältnis, also beispielsweise der Steuerpflicht, zur Folge hatte, wird interessanterweise nicht weiter thematisiert. 231 Peter Moosmayer resümierte bei der Betrachtung des lateinamerikanischen Staatsangehörigkeitsrechts die Unklarheit darüber, ob mit dem Verlust der Staatsbürgerrechte auch die Staatsangehörigkeit verloren ging. Mit ihm und in Übereinstimmung mit zeitgenössischem französischem Recht „kann angenommen werden, daß die bloße Aussetzung der Staatsbürgerschaft oder der politischen Rechte auf den Bestand der Staatsangehörigkeit ohne Einfluß waren“. Folgender Vermutung kann hingegen für Michoacán nicht zugestimmt werden: „Dagegen dürfte unter dem Verlust jedenfalls der
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Bedingungen verlieren konnte. Im Umkehrschluss heißt das, dass man als Michoacano diese Kriterien erfüllen musste, um Staatsbürger zu sein.232 Hier wird also auch die Frage beantwortet, wodurch sich die beiden Angehörigkeitsverhältnisse unterscheiden, welche Bedingungen zu erfüllen waren, um vollberechtigtes Mitglied der Staatsgesellschaft zu sein. Die Verfassung Michoacáns nennt, wie auch die der Mehrzahl der anderen Staaten, im Wesentlichen zwei Grundmotive, bei denen die Staatsbürgerrechte verloren gehen, unterteilt jeweils in verschiedene Tatbestände. Die erste Motivgruppe umfasst diejenigen Personen, die sich durch schweren Gesetzesbruch außerhalb des gesellschaftlichen Konsens gestellt haben, also beispielsweise diejenigen, die wegen ihrer Vergehen zu „entehrenden Strafen“ (Art. 16/3) verurteilt wurden oder die, die gerichtlich festgestellte „betrügerische Schulden“ (Art. 16/4) hatten. Als zweites Motiv galt die Aufnahme zu enger Beziehungen zum Ausland oder zu einer ausländischen Regierung. Sie störten das Vertrauensverhältnis so stark, dass dadurch die Zugehörigkeit zu Michoacán aufgekündigt werden musste. Im Falle Michoacáns lassen sich in diese Kategorie zwei Tatbestände einordnen: die Naturalisierung sowie der mindestens fünfjährige Aufenthalt in einem „País extranjero“ (Art. 16/1) und die Annahme eines Amtes beziehungsweise einer Auszeichnung von einem „Gobierno extranjero“ (Art. 16/2), jeweils wenn das ohne eine offizielle Genehmigung von Statten ging. In diesen Fällen kommt die Vorstellung zum Tragen, dass Loyalität nur zu einer Gesellschaft, zu einem Staat möglich ist, Mehrstaatlichkeit dagegen nicht.233 Das Vertrauensverhältnis konnte nach dem Verlust nur durch eine „formale Ermächtigung der Legislatur des Staates“ (Art. 17) geheilt werden. Auch bei den Tatbeständen, die zur Suspension führten, zeigt sich das Vertrauensmotiv: Leichte Vergehen gegen rechtliche oder moralische Normen, wie das Nicht-Zahlen von Abgaben (Art. 18/2), das „gewohnheitsmäßige Betrunkensein“ (Art. 18/4) oder das professionelle Glücksspiel (Art. 18/4) führten genauso zur Suspension wie eine vermeintlich fehlende eigenständige Zurechnungsfähigkeit, also Minderjährigkeit (Art. 18/6), die „physische und Staatsbürgerschaft regelmäßig zugleich der Verlust der Staatsangehörigkeit zu verstehen sein“ (Moosmayer: Gebietsgrundsatz, S. 89); vgl. zur französischen Regelung: Becker: Kampf, S. 163. 232 Geht man nach dem Buchstaben der Verfassung verliert man nicht die Staatsbürgerschaft an sich, sondern nur die Staatsbürgerrechte. In einigen Verfassungen wird entsprechend der damit verbundene Status als der eines Ciudadano en derechos bezeichnet. Folgt man allerdings der Logik der Verfassungen ist der Staatsbürger, der seine Staatsbürgerrechte nicht ausübt, kein Staatsbürger mehr, also verliert er mit den Rechten auch seinem Status. So sieht es auch die Verfassung von Cádiz, Art. 24 vor. 233 Vgl. für die Kolonialzeit: Herzog: Nations, S. 152. Ähnlich bspw. auch in Bayern und anderen Staaten des Deutschen Bundes: Mertens: Staatsangehörigkeitsrecht, S. 55-57.
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moralische Unfähigkeit“ (Art. 18/1), sowie der Status als „Hausbediensteter, der unmittelbar an die Person gebunden“ (Art. 18/5) ist. Ein weiteres Kriterium stellte die fehlende Schreib- beziehungsweise Lesefähigkeiten dar. Dieses letzte so genannte Kapazitätskriterium wurde allerdings bis 1840 außer Kraft gesetzt (Art. 18/7), in der Erwartung, bis dahin die Alphabetisierung vorangetrieben zu haben. Interessanterweise taucht Weiblichkeit im Gegensatz zur Minderjährigkeit nicht als Suspensionsgrund auf. Frauen kamen also auch potentiell nicht als Trägerinnen von Staatsbürgerrechten in Frage, wohingegen die Figur der Michoacana, wie eben bei der Heiratsdiskussion gesehen, durchaus existierte. Auch die Begrifflichkeit der Vecina tauchte zuweilen auf.234 Einen besonders diskussionswürdigen Suspensionsgrund führten die Verfassungsväter, auch hier in Anlehnung an Cádiz und in Übereinstimmung mit den anderen einzelstaatlichen Verfassungen, ein, nämlich das Nicht-Vorhandensein eines „Wohnsitzes, Berufes, Amtes oder einer bekannten Lebensweise [modo de vivir conocido]“ (Art. 18/3). Antonio Annino hatte anhand dieser Klausel zu zeigen versucht, dass die Verfassung von Cádiz – und im Anschluss diejenigen Mexikos – versuchte, die Kategorie „Ciudadano“ möglichst vage zu gestalten, sie also nicht versuchte, den Staatsbürger zu definieren und zu identifizieren. Nach ihm überließen die Verfassungsväter dies den lokalen Aushandlungspraktiken. Die lokale Ebene hatte wegen der Schwäche der Zentrale demnach über „das traditionelle Prinzip der gesellschaftlichen Anerkennung [notoriedad social]“ zu entscheiden, welches sich im „Respekt der Herkunftsgemeinde über eine ehrenhafte Lebensweise [modo honesto de vivir]“ 235 äußerte. Diese Interpretation scheint zumindest für Mexiko nicht zuzutreffen. Die mexikanischen Staaten stellten, wie oben schon gezeigt, nicht in erster Linie auf die gesellschaftliche Anerkennung der Gemeinde ab: Erstens heißt es in den Verfassungen nicht „ehrenhafte Lebensweise“, wie Annino vermuten lässt und mit der er die gesellschaftliche Anerkennung gleichsetzt, sondern eben „bekannte Lebensweise“. 236 Und zweitens versuchten die Verfassungsväter durchaus den Status „Modo de vivir conocido“ zu definieren. So schrieb die Constitución michoacana, wie gesehen, vor, dass man „einen Wohnsitz, einen Beruf, ein Amt oder eine bekannte Lebensweise“237 vorzuweisen habe. Diese objektiv genannten Kriterien (Wohnsitz, Beruf und Amt) weisen darauf hin, was man sich unter einer bekannten Lebensweise vorzustellen hatte. 234 Vgl. hierzu ausführlicher in Kapitel E I. 235 Annino: Pueblos, S. 401. 236 Der Terminus des „modo honesto de vivir“ wird insbesondere in den 1830er Jahren gebräuchlich, als es darum ging, den Kreis der Staatsbürger einzuschränken; vgl. neben Costeloe: Republic auch das Kapitel D II. 237 Vgl. fast gleichlautend: Verfassung von Cádiz, Art. 25/4.
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Weiterhin geht meines Erachtens auch aus einigen weiteren Klauseln hervor, was man sich unter bekannten, erwünschten Lebensweisen dachte. Sie stammen aus diversen einzelstaatlichen Verfassungen, die Annino jedoch nicht zitiert. So führten folgende Lebensweisen zum Suspens von den Staatsbürgerrechten: der Status als „professioneller Glücksspieler“ (Michoacán und Guanajuato238) oder der des „Landstreichers oder Müßiggängers“ (Puebla 239 ), weiterhin Eigenschaften wie das „gewohnheitsmäßige Betrunkensein“ (neben Michoacán auch Chihuahua 240 ), das „notorisch fehlerhafte Verhalten“ (Chiapas 241 ), „die Gewohnheit haben, stolz nackt spazieren zu gehen“ (Occidente und Zacatecas242) oder in Chihuahua die Undankbarkeit gegenüber den Eltern oder die widerrechtliche Scheidung von der Ehefrau. 243 Veracruz ordnete den fehlenden „Modo de vivir conocido“ eindeutig dem „notorisch fehlerhaften Verhalten“244 unter. Auch die Verfassung von Occidente stellte fest: Man wird von der Staatsbürgerschaft suspendiert „durch notorisch fehlerhaftes und verderbtes Verhalten, in deren Klasse die Müßiggänger und Landstreicher fallen, die kein Gewerbe oder keinen Modo de vivir conocido haben“245. All die hier genannten Kategorien deuten daraufhin, dass die Verfassungsväter sowohl in Michoacán als auch in den anderen Staaten entgegen der Annahme Anninos die „bekannte Lebensweise“ zu definieren versuchten – wenn auch ex negativo. Sie überließen diese Definition also nicht der lokal-gesellschaftlichen Anerkennung, sondern versuchten vielmehr eindeutige rechtliche Vorgaben zu machen. Inwieweit dieser Versuch erfolgreich war, ist eine andere Frage. Das Ziel der Verrechtlichung der Angehörigkeitsverhältnisse ist jedoch deutlich erkennbar. So ergibt sich resümierend für den Staatsbürger folgendes Bild: Nimmt man aus den genannten Gruppen diejenigen heraus, die sich bewusst durch den Anschluss an einen fremden Vertrauensverband außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses gestellt haben, ist einer weiteren These Anninos hingegen zumindest partiell zuzustimmen: „der Staatsbürger von Cádiz und dann der República Mexicana war der Vecino“. Allerdings ist der Vecino nicht mehr nur als „der alte 238 239 240 241 242
Auch: Verfassung von Guanajuato, Art. 20/5. Verfassung von Puebla, Art. 24/3. Ähnlich wie Michoacán: Verfassung von Chihuahua, Art. 13/10. Verfassung von Chiapas, Art. 12/5. Verfassung von Occidente, Art. 28/6. Eine ähnliche Formulierung taucht in der Verfassung von Zacatecas auf. Occidente fügt hinzu, dass diese Klausel für „ciudadanos indígenas“ erst ab 1850 gilt 243 In der Verfassung von Chihuahua, Art. 13/8 ist das folgendermaßen umschrieben: „durch die willkürliche und strafbare Trennung des Verheirateten von seiner legitimen Ehegattin, wenn sie notorisch und ohne die rechtlichen Formalitäten ist“. 244 Verfassung von Veracruz, Art. 13/3. 245 Verfassung von Occidente, Art. 28/5.
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Bewohner der iberischen und amerikanischen Städte“246 zu verstehen, sondern eben als der Vecino del estado. Dieser zeichnete sich in Fortschreibung einer Entwicklung der späten Kolonialzeit immer weniger über den „Respekt der Herkunftsgemeinde“ (Annino) aus, sondern vielmehr durch eindeutige, rechtliche Vorgaben wie eine bekannte Lebensweise. Des Weiteren musste er seine Ansässigkeit und den Willen zu verbleiben, den Animo de permanecer, vorweisen. Trotz dieser Einschränkungen lässt sich weiterhin ein im Vergleich insbesondere mit den europäischen Verfassungen der Zeit relativ offenes Staatsbürgerverständnis unterstellen, insbesondere fehlen in Michoacán finanzielle und ethnische Einschränkungen. Was aber folgte aus dem Status eines Staatsbürgers? Der oben aufgestellten These von einer an kollektiven und weniger an individuellen Maßgaben orientierten Gesellschaft entsprechend, definierten die Abgeordneten Michoacáns ohne weitere Definition zunächst die Pflichten, den Status passivus, und erst dann die Rechte (Status activus).247 Der Artikel 11 zählt drei Pflichten auf, die auch in anderen einzelstaatlichen Verfassungen üblich waren: die Pflicht, „öffentliche Wahlämter“ (Art. 11/1) anzutreten, 248 die Pflicht, „die Autoritäten, die Gesetze sowie die Unabhängigkeit und Freiheit des Staates zu unterstützen“ (Art. 11/2) sowie die Pflicht, sich an den öffentlichen Ausgaben nach Maßgabe der Gesetze zu beteiligen (Art. 11/3). Wegen weiterer, allgemeiner Pflichten als „Individuen der großartigen mexikanischen Familie“ (Art. 10) wurde auf Bundesgesetze verwiesen.249 Die Verabschiedung des Artikels 15 über die Staatsbürgerrechte, gleichfalls unterteilt in allgemein-mexikanische und einzelstaatliche verlief ebenso schnell wie die der Pflichten. Unter die partikularen fallen wieder in Übereinstimmung mit den anderen Bundesstaaten das aktive und passive Wahlrecht zu den verschiedenen Wahlämtern des Staates (Art. 15/1 und 2) sowie das Recht, die Ämter des Staates „mit Präferenz gegenüber Staatsbürgern der anderen (Bundes-)Staaten“ (Art. 15/3) bekleiden zu dürfen. Für die Besetzung eines Amtes wurden meist weitere Kriterien verlangt, wie im Falle der Wahlämter
246 Annino: Pueblos, S. 401. Vgl. ähnlich: Guerra: Traditions, S. 14. 247 Zu den Begrifflichkeiten ausführlicher vgl. Zippelius: Staatslehre, S. 81f. 248 Diese Verpflichtung wurde im Schlusskapitel nochmals unterstrichen, Ausnahmen gab es nur bei einem „sehr gerechten, durch den Kongress qualifizierten Grund“ (Verfassung von Michoacán, Art. 208). Die Betonung des „sehr“ gelangte auf Vorschlag Rayóns in den Artikel; vgl. Sitzung vom 08.03.1825, in: AyD, II, S. 174. 249 Vgl. die Genehmigung dieser Auflagen: Sitzungen vom 25.04. bzw. 20.06.1825, in: AyD, II, S. 256f. bzw. 335; zum Vergleich mit den anderen Bundesstaaten: Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 38.
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noch gezeigt wird.250 Dem Genuss der Staatsbürgerrechte (Art. 15) war also – folgt man der Statik der Verfassung – die Erfüllung bestimmter Pflichten (Art. 11) vorgeschaltet. Wie zur Kolonialzeit auf kommunaler Ebene war der Anspruch auf Partizipation an die Übernahme gemeinschaftlicher Aufgaben gekoppelt. Dieser Logik folgend wäre nur derjenige vollberechtigtes Mitglied, der Verantwortung übernimmt. Allerdings ist zu bezweifeln, ob hier dieser Kausalzusammenhang auch im streng juristischen Sinne bestand. Die Voranstellung der Pflichten vor die Rechte bleibt nichtsdestotrotz für das Gemeinschaftsbild aussagekräftig: Die Verfassungsväter definierten wie schon im Falle der Menschenrechte das Verhältnis Individuum zur Gesellschaft zuerst über Pflichten gegenüber der Gesellschaft und erst dann über individuelle Rechte. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis in den etwas ausführlicher zu behandelnden Debatten über die Festlegung des Katholizismus als Religion des Staates. Auch wenn diese Festlegung nicht in den Artikeln über die Rechte und Pflichten der Staatsbürger zu finden ist, steht sie doch in einem engen Zusammenhang mit diesen: Der Staat verweigerte seinen Angehörigen das in anderen liberalen Verfassungen grundlegende Recht auf Religionsfreiheit. Vielmehr definierte er eine für alle verbindliche Religion. Wie im Antiguo régimen galt der Katholizismus auch in der ersten konstitutionellen Phase Mexikos als nicht zu hinterfragende Grundlage der Gesellschaft. 251 Wie die folgenden Absätze zeigen, trifft dies auch für Michoacán zu. Nachdem schon Cádiz den Katholizismus zur „einzig wahren“ Religion der Nation erklärt hatte, nahm er auch nach der Unabhängigkeit Mexikos eine herausgehobene Position ein: Im Plan von Iguala galt er als eine von drei Garantien und in der föderalen Verfassung kam dem Katholizismus insofern eine Sonderposition zu, als dass er als kulturelle Fundierung und inhaltliche Konkretisierung der Nation die zentrale Ausnahme vom stark auf die Staatsorganisation konzentrierten Grundgesetz darstellte. Die Constitución federal legte im Wortlaut weitgehend übereinstimmend mit der Verfassung von Cádiz fest: „Die Religion der mexikanischen Nation ist und wird dauerhaft die katholische, apostolische, römische sein. Der Staat schützt sie durch weise und gerechte
250 Wie aus der Diskussion hervorgeht, ist mit dem allgemeinen mexikanischen Staatsbürgerrechten – die es eigentlich nicht gibt, da keine mexikanische Staatsbürgerschaft existierte – insbesondere das in Artikel 8 der Constitución federal verankerte Wahlrecht zum Bundeskongress gemeint; vgl. Sitzung vom 14.05.1825, in: AyD, II, S. 296. Vgl. zu den Kriterien für die Zulassung zu Wahlämtern Kapitel D II. 251 Vgl. neben den Ausführungen oben zur Kolonialzeit: Mayer: Heresiarch; Schmidt: Freiheit, S. 306-308; Schmidt: Rabe.
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Gesetze und verbietet die Ausübung irgendeiner anderen“252. Alle Einzelstaaten übernahmen ähnlich lautende Regelungen in ihre Verfassungen,253 Michoacán in der Endfassung sogar die Formulierung nahezu eins zu eins. Der erste Entwurf hatte hier allerdings zunächst folgendermaßen gelautet: „Seine Religion ist und wird immer die Katholische, Apostolisch-Römische sein, ohne Toleranz gegenüber irgendeiner anderen“ 254 . Insbesondere zwei Geistliche kritisierten diese Formulierung als zu schwach. So warf Lloreda ein, dass sie zum einen den „falschen Kulten“ den „Namen Religion“ verleihe, zum anderen verhindere sie nicht, dass „die Unfrömmigkeit auf unserem Boden fortschreite“. Er brachte statt des zweiten Teilsatzes, zunächst mehrheitsfähig, folgende Alternative ins Spiel: „ohne jemals die Ausübung eines anderen Kultes oder die Bekundung entgegengesetzter Ideen zu erlauben“. Nur so könne verhindert werden, dass ein „Calvinist“ oder „Lutheraner“ sich gegen die „wahrhafte Religion“ äußere.255 Ähnlich wie Lloreda argumentierte Rayón, ebenfalls Geistlicher, bei dem erfolglosen Vorschlag von ihm und Jiménez, den Zusatz „… und erhält die kirchliche Immunität“ einzufügen. Der Staat sollte das Recht des Klerus auf die Befreiung von der zivilen Gerichtsbarkeit, das Fuero, also garantieren. Damit nahmen sie eine Debatte auf, die seit der späten Kolonialzeit – erinnert sei an die Representación Abad y Queipos von 1799 – fortwirkte. Sowohl die Verfassung von Cádiz als auch die Constitución federal hatten die Sondergerichtsbarkeit des Klerus ja grundsätzlich anerkannt. 256 Dies schien Rayón aber nicht auszureichen, er forderte weiteren, nämlich einzelstaatlichen Schutz. Die Forderung unterlegte er in einer langen Rede mit Gründen der Religion – „um die Mission fruchtbar zu machen“ –, mit Gründen der Vernunft und der Politik – sogar die „Naciones bárbaras bewahrten den Respekt“ –, sowie unter Berufung auf viele Beschlüsse seit dem Konzil von Konstantinopel (im Jahre 381) und ab-
252 Der hier zitierte 3. Artikel der Constitución federal wich nur darin von der Verfassung von Cádiz, Art. 12 ab, als dass er als weiteres Epiteph des Katholizismus das „einzig wahrhafte“ wegließ. 253 Vgl. Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 39. Die Verfassung von Veracruz weicht davon etwas ab und weist nur auf die Bundesverfassung hin; vgl. Verfassung von Veracruz, Art. 5. 254 Constitucion Politica del Estado de Michuacán (30.10.1824), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3, s./f. 255 Sitzung vom 16.02.1825, in: AyD, II, S. 112-114, Zitate ebd. So unter anderem auch die Phrase in den Verfassungen von Jalisco und Zacatecas. 256 Vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 249 bzw. Constitución federal, Art. 154.
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schließend auf die „katholischen Gefühle“ des Kongresses rekurrierend. 257 Sowohl Lloreda als auch Rayón postulierten einen stärkeren Einsatz des Staates für die Verbreitung des Katholizismus – sei es als Abwehrkampf gegen die Unfrömmigkeit und gegen die Protestanten, sei es als Missionsprojekt. Dies kommt auch in einer früheren Debatte zum Ausdruck, als sie forderten, dass es eine „unverzichtbare Bedingung“ 258 sein müsse, dass nur Ausländer katholischen Glaubens eine Naturalisierungsurkunde erhalten dürfen. Die Gesellschaft müsse durch den Staat vor nicht-katholischen Einflüssen bewahrt werden. Die Diskussion ist aber auch insofern interessant, als dass sich die beiden Geistlichen mit ihren Forderungen jeweils nicht durchsetzen konnten. Weder das Verbot der „Bekundung entgegengesetzter Ideen“ wurde in den Religionsartikel aufgenommen noch die Einfügung des „Schutzes der Immunität“. Kurz vor der Verabschiedung der Verfassung schlug die Redaktionskommission die Übernahme des entsprechenden Artikels aus der Verfassung von Cádiz vor, mit der einfachen Begründung „dieser erkläre das Konzept mit mehr Genauigkeit und Schönheit“. Der Kongress stimmte dem mit einer leichten Änderung ohne weitere Diskussion zu: „Seine Religion ist und soll fortdauernd die katholische, apostolische, römische und einzig wahre sein. Der Staat schützt sie durch weise und gerechte Gesetze und verbietet die Ausübung irgendeiner anderen“259. Was die eben erwähnten Gesetze beinhalten können, wird bei einer Diskussion deutlicher, nach der beschlossen wurde, dass der Kongress auch Gesetze verabschieden dürfe und solle, die „die Beachtung des kanonischen Rechts und die äußere Disziplin der Kirche im Staat erhalten“ (Art. 42/17). Einige, unter ihnen Rayón, hielten den Artikel für „überflüssig“, da er bereits im obigen Religionsartikel enthalten sei. Nachdem Villaseñor darlegt hatte, dass sich dieser nur auf den Erhalt der „Reinheit und der Beachtung des katholischen Dogmas“ 260 beziehe und nicht auf das kanonische Recht und die äußere Disziplin der Kirche, wurde er verabschiedet.261 Mit der Forderung, dass nur Katholiken naturalisiert werden dürfen, setzten sich die Geistlichen Lloreda und Rayón hingegen letztlich durch. Zwar obsiegte in der ersten Diskussionsrunde nach einer „ausführlichen Debatte“ die Position von Villaseñor und González: Sie hatten darauf verwiesen, dass der 257 Vgl. Sitzung vom 28.06.1825, in: AyD, II, S. 353-356, Zitate S. 354f. Mit den Naciones bárbaras wurden die nicht-sesshaften Indianer im Norden Mexikos bezeichnet; vgl. hierzu bspw.: Heimann: Liberalismus, S. 246f. 258 Sitzung vom 16.02.1825, in: AyD, II, S. 114. 259 Vgl. Sitzung vom 02.07.1825, in: AyD, II, S. 365f., Zitate ebd. 260 Sitzung vom 17.05.1825, in: AyD, II, S. 299. 261 Vgl. die intensive Debatte: Geheimsitzung vom 22.03.1825, in: AyD, II, S. 203-205.
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Generalkongress schon „ähnliche Rechte“ 262 an Nichtkatholiken verliehen habe. In diesem Sinne hielt nur die Verfassung von Yucatán schriftlich fest, dass „kein Ausländer auf Grund seines religiösen Glaubens verfolgt oder belästigt wird, solange er den [Glauben] des Staates respektiert“263. In der Verfassung Michoacáns steht dann allerdings, wie gesehen, dass Amerikaner und Extranjeros nur nach der Eheschließung mit einer Michoacana Staatsbürger werden konnten, was bedeutete, dass sie katholisch sein mussten. Dass für die in Michoacán und Mexiko geborenen Staatsbürger der Katholizismus nicht als Voraussetzung gefordert, ja nicht mal diskutiert wurde, kann nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass sie es nicht sein mussten. Vielmehr verdeutlicht dies, dass es als selbstverständlich galt, dass sie katholischen Glaubens waren – ‚Gefahr’ schien nur von außen zu drohen. Der Katholizismus blieb die einzig wahre und einzig gültige Religion des Staates und seiner Angehörigen. Die Verfassungsväter Michoacáns hielten – wie schon bei der Diskussion der Invocatio gezeigt – den Katholizismus in Kontinuität zum hispanischen Konstitutionalismus als Grundlage des Staates für unerlässlich. Darin waren sie sich gemäß ihren Äußerungen – wie auch ihre Pendants auf föderaler Ebene – weitgehend einig. Einig hingegen waren sie sich nicht über das Verhältnis des Staates zur Institution Kirche, welches in einem kurzen Exkurs beleuchtet werden soll. Jesús Reyes Heroles hatte in einer Studie über die Patronatsdebatten auf gesamt-mexikanischer Ebene zwischen 1821 und 1824 insgesamt drei Gruppen ausgemacht. Er konstatierte, dass die erste Gruppe der „Säkularisierer“ in der Auseinandersetzung über die Rolle der Kirche kaum Gewicht hatte. Mit ihrer Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat fand sie erst ab den 1830er und dann besonders in den 1850er Jahren vermehrt Rückhalt. Das weitgehende Fehlen der Säkularisierer zeigt sich auch in Michoacán. Vielmehr trifft man auch hier auf die Gegenüberstellung der beiden Gruppen der „Regalisten“, die die staatliche Souveränität gegenüber der Kirche betonten, und der „Ultramontanen“, die die kirchliche Souveränität herausstellten. Als Regalisten ließen sich in Michoacán insbesondere Villaseñor und Huarte kategorisieren, als Ultramontane die Geistlichen Lloreda und Rayón. Keine der Gruppen konnte aber eine dominante Position behaupten. 262 Sitzung vom 16.02.1825, in: AyD, II, S. 115. 263 Verfassung von Yucatán, Art. 12. Auch die an Yucatán angrenzende Zentralamerikanische Föderation stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar: Sie schloss in ihrer Verfassung von 1823 ausdrücklich nur die „öffentliche Ausübung irgendeiner anderen“ Religion aus; zitiert nach: Timmermann: Monarchie, S. 296 / Fußnote 234. Ob diese Abweichung vom sonstigen hispanischen Konstitutionalismus mit der hohen nicht-spanischen, v.a. englischen Präsenz in der Karibik zu tun hat, ist zu vermuten, wäre aber weiter zu prüfen.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
Anders als beispielsweise in der sonst häufig als Vorbild wahrgenommenen Verfassung von Jalisco enthielt die von Michoacán keinen Hinweis auf die Übernahme der finanziellen Versorgung der Kirche durch den Staat, was eine deutlich regalistische Position gewesen wäre. 264 Villaseñor und Huarte hatten dies zwar gefordert, da „seit dem Beginn der Welt die säkulare Gewalt“ die Aufgabe gehabt habe, die „Ausgaben des Kultes und die Bezahlung der Diener des Altars“ zu regeln; sie verwiesen dabei auf eine Tradition, die von Adam über Kaiser Justinian bis zu den spanischen Königen reichte. Mit dieser regalistischen Position konnten sie sich allerdings nicht durchsetzen. In der Manier der Ultramontanen bezeichnete Rayón deren Argumentation als „häretische Absurdität“: Nur die Kirche besitze alle genannten Kompetenzen und habe sie „zu einigen Zeiten“ lediglich „verliehen“. Der Staat dürfe sich also nicht in interne Kirchenangelegenheiten einmischen. Es sei aber eine „andere Sache, dass beide Mächte sich zusammenschließen, um einvernehmlich zu arbeiten“. Ebenso wirksam dürfte der Einwand des Geistlichen Pastor Morales gewesen sein, der meinte, man solle das Konkordat der Föderation abwarten, was Huarte als Zentralisationsversuch vergeblich zu diskreditieren versuchte. In namentlicher Abstimmung wurde der Antrag auf die Übernahme der finanziellen Versorgung der Kirche durch den Staat abgelehnt.265 Hier hatte sich somit die ultramontane Position durchgesetzte. Wie allerdings der Umstand zeigt, dass der Staat über seine Gesetzgebung befähigt wurde, auch – folgt man Villaseñor – in dogmatische Fragen der Kirche einzugreifen, changierte das Mächteverhältnis zwischen Regalisten und Ultramontanen. Letztendlich überließ man die abschließenden Regelungen der diversen Problemfelder jedoch weitgehend der Föderation, wie dies auch die späteren Legislaturen taten.266 Wie zu sehen sein wird, wurde diese Gegenüberstellung bei konkreten Konflikten immer wieder wirksam, insbesondere nach der Wiederbesetzung des Bistums 1833 nach langjähriger Vakanz. 267 Für eine Gesamtlösung wartete man in Michoacán wie in anderen Staaten – vergeblich – auf das Konkordat der Föderation, die in der Constitución federal diese Kompetenz zu ihrer ausschließlichen Aufgabe erklärt hatte.268 264 Vgl. die Verfassung von Jalisco, Art. 7: „Der Staat legt alle zum Erhalt des Kultes notwendigen Ausgaben fest und bestreitet sie“; vgl. auch Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 33f. 265 Geheimsitzung vom 22.03.1825, in: AyD, II, S. 200-205, Zitate S. 201. 266 Vgl. auch: Hernández Díaz: Michoacán, S. 309. 267 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Michoacán, v.a. für die Zeit nach 1831: Guzmán Pérez: Relaciones. 268 Vgl. Constitución federal, Art. 50/XII, Art. 110/XIII u. Art. 137/III. Vgl. zu Gesamtmexiko, wo 1826 nur noch drei der insgesamt zehn Bistümer besetzt waren und 1831 gar keines mehr: Reyes Heroles: Liberalismo, S. 275-314; ähnlich: Sordo Cedeño: Congreso (2003), v.a. S. 146-149; Ferrer: Formación, S. 277-293.
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Die drei zentralen Diskussionsaspekte bei der Behandlung der Preliminares – die Legitimation der Verfassung, die Gründung des Staates sowie die Ordnung der Gesellschaft – resümierend lassen sich einige Resultate festhalten. Während eine Gesamtwürdigung der Verfassung am Ende des nächsten Kapitels, in dem die Konstituierung der staatlichen Gewalten betrachtet wird, folgt, sollen hier zum Abschluss des Kapitels einige Zwischenergebnisse bezüglich des Verhältnisses Staat, Gesellschaft und Individuum gesichert werden. Die individuellen Freiheitsrechte waren, wie im hispanisch-katholischen, aber auch darüber hnaus weitverbreitet, im zentralen Bereich der Glaubensfreiheit entscheidend eingeschränkt.269 Der Staat schrieb den Staatsbürgern vor, was sie zu glauben hatten. Dafür plädierte selbst der Pfarrer Lloreda, der an anderer Stelle von einem Gesellschaftsentwurf entlang freiheitlicher Ideen gesprochen hatte. Das gesamtgesellschaftliche Interesse stand vor der individuellen Glaubensfreiheit. Auch die anderen Menschenrechte band man an Pflichten gegenüber der Gemeinschaft beziehungsweise ordnete sie ihnen nach. Neben der Überordnung der Pflichten vor die Rechte ist für das Gesellschafts- und Staatsverständnis zudem von Interesse, dass die Staatsbürgerrechte durchweg politische Partizipationsrechte darstellten. Über die Menschenrechte hinausgehende zivile Freiheitsrechte oder gar soziale Rechte waren mit dem Staatsbürgerstatus also nicht verbunden. 270 Und als nicht mit den politischen Partizipationsrechten ausgestatteter Natural hatte man gegenüber den anderen „Menschen irgendeines Landes der Welt“, wie es im Artikel 12 zu den Menschenrechten hieß, keine verfassungsrechtlich verbürgten Vorrechte. Denn anders als beispielsweise im Bereich des Deutschen Bundes, wo ab den 1820er Jahren allmählich die Staaten sozialstaatliche Verpflichtungen vor allem in der Armenfürsorge von den Gemeinden übernahmen,271 blieb die Erhaltung aller „öffentlichen Werke der Wohlfahrt“272 laut Verfassung von Michoacán – wie schon in Cádiz – Aufgabe der lokalen Ebene. Die Hauptlast dürften hier allerdings wie auch in Spanien weiterhin kirchliche Institutionen, beispielsweise fromme Stiftungen und geistliche Orden getragen haben.273 Als Aufgabenfeld für den Staat standen Sozialrechte laut Parlamentsdebatten nicht zur 269 Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 264f.: „Der säkulare Anspruch des französischen Liberalismus … in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher die Ausnahme“. 270 Zur klassischen Einteilung in bürgerlich-zivile, politische und soziale Rechte vgl. Marshall: Citizenship. 271 Grawert: Staat, S. 133-135. Er nennt die Armenfürsorge ein „wichtiges Datum für die Entstehung einer Staatsangehörigkeit“. 272 Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 483f.; vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 69, in: RdL, I, S. 71. 273 Vgl. zu Spanien: Bernecker / Brinkmann: Spanien, S. 639.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
Diskussion. Damit grenzten sich die Verfassungsväter von bedeutenden frühneuzeitlichen Staatstheoretikern wie Machiavelli, Hobbes und Rousseau ab, die „Wohlfahrtsstaatlichkeit … durchweg als unverzichtbare Tätigkeit des souveränen Staats“274 betrachteten. Diese Konstruktion bedeutete, dass anders als beispielsweise im Deutschen Bund der Verlust der Staatsangehörigkeit nicht mit einem Weniger an Freiheitsund Sozialrechten einherging. 275 Einerseits kann man mit dieser Gleichstellungstendenz von Fremden mit den „Rechtsgenossen des 276 Herrschaftsverbandes“ nach Zippelius einen weiteren Schritt zur Ausbildung des territorialstaatlichen Prinzips sehen. Das Staatsgebiet ist demnach „räumliche[r] Geltungsbereich bestimmter Normen“ 277 , die die sich dort befindenden Personen weitgehend unabhängig von ihrem persönlichen Rechtsstatus in Anspruch nehmen können. Andererseits bedeutete dies jedoch auch, dass man als Staatsangehöriger kaum spezifische Ansprüche gegenüber dem Staat hatte. Sprachlich kommt dies darin zum Ausdruck, dass der „Staat“ als Rechtssubjekt nur dreimal in den Präliminarien aktiv in Erscheinung trat, also nur dreimal auf eine Akteursrolle verpflichtet wurde: Nach Artikel 1 „konserviert“ er seinen Namen, nach Artikel 5 „schützt“ er die Staatsreligion und nach Artikel 13 „respektiert“ er die Menschenrechte. Eine aktive Verpflichtung des Staates lässt sich demnach allenfalls beim Schutz der Religion erkennen. Gegenüber den Staatsangehörigen ging der Staat bezeichnenderweise also keine besonderen Verpflichtungen ein, während deren Beziehung zum Staat in erster Linie über Pflichten definiert wurde. Dieses Staatsverständnis steht der französischen Staatsidee der Menschenrechte von 1789/1791 diametral entgegen: Dort wird der Staat zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte eingerichtet. In diese Linie passt, dass die Verfassungsväter Michoacáns die Menschen- und Bürgerrechte nur wenig, fast beiläufig diskutierten und weiterhin, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, auch kein unabhängiges Verfassungsgerichtswesen zu deren Schutz schufen. Vertrauten die Verfassungsväter also darauf, dass in den Worten von Jürgen Habermas ein solches Staatsangehörigkeitsrecht ausreichend „integrative Wirkung … entfalten, d.h. Solidarität zwischen Fremden stiften“278 kann, dass das aktive und passive Wahlrecht als Staatsbürgerrechte alleine schon „emotionale 274 Vgl. Süßmann: Wurzeln, Zitat S. 47. 275 Vgl. Gosewinkel: Einbürgern, S. 29-31; Fahrmeir: Citizens, S. 24f. Vgl. zu dieser Tradition auch das deutsche Grundgesetz von 1949, das in Artikel 16 den Schutz vor Staatenlosigkeit als Grundrecht garantiert. 276 Zippelius: Staatslehre, S. 86. 277 Zippelius: Staatslehre, S. 87. 278 Habermas: Einbeziehung, S. 14. Vgl. ähnlich: Parsons: System, bes. S. 34 u. 118
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Solidarität“ 279 und eine Bindung der Staatsangehörigen an Staat und Gesellschaft erzeugen kann? Blieben die Verfassungsväter damit bei dem in der Präambel formulierten Anspruch (vgl. Kapitel B IV), dass die Verfassung rein formal für die „Regierung“, die Organisation der Staatsgewalten zuständig ist? Die Antwort ist hier eindeutig negativ: Die Konstituante formulierte zusätzlich einen Wertekanon, ging also deutlich über das Formale hinaus. Die Sociedad michoacana sollte also nicht nur über gemeinsame Gesetze und Rechte verbunden werden, welche ja weder besonders weitreichend noch exklusiv waren, sondern auch über gemeinsame Werte. Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung hielten die Verfassungsväter also nicht nur den Entwurf einer neuen politisch-organisatorischen Einrichtung für notwendig. Vielmehr institutionalisierten sie auch eine Werteordnung und somit eine neue Vertrauensbasis für die zu errichtende Gesellschaft neu – nach der durchlebten kolonialen Krise und nach elfjährigem, viele Sozial- und Kulturbeziehungen zerstörendem Bürgerkrieg scheint dies nicht weiter verwunderlich. Diese Werte versuchten sie auch gegen vermeintliche Widerstände durchzusetzen, wie bei der Staatsbürgerschaft auch gegenüber der kommunalen Ebene – im Kapitel über die Verwaltung des Staates wird dies noch deutlicher werden. Wenn die Institutionalisierung der Werte auch neu war, so waren es die Werte mit Ausnahme des in gesamt Mexiko wenig zentralen Menschenrechtsschutzes nicht. Die Constituyente berief sich intensiv auf traditionelle, die Gemeinschaft betonende Werte wie den Katholizismus sowie das gemeinschaftsbezogene, wenig rational-individualistische Welt- und Menschenbild, welches häufig abgrenzend mit Frankreich in Verbindung gebracht wurde. Die Höherstufung der Pflichten gegenüber den Rechten macht letzteres ebenso deutlich wie die Interpretation der Staatsangehörigkeit als Vertrauensbeziehung: Staatsangehörige mussten bestimmte, wenn auch nicht besonders exklusive Kriterien erfüllen, um das Vertrauen der Gesellschaft zu erlangen. Hinzu trat das ausgeprägte, historisierende regionale Eigenbewusstsein, wie es insbesondere in Artikel 1 mit der Erklärung des Namens erscheint: „Der Staat von Michuacan werde diesen Namen, den er von Alters her erhielt, bewahren“. Hier gewinnt man den Eindruck, dass die Verfassungsväter Michoacán als eine vorpolitische, gleichsam ewige Wertegemeinschaft verstanden. Diese ließ sich einerseits von der scheinbar künstlich aufgesetzten, als Fremdkörper wahrgenommenen „unter dem Namen Valladolid bekannten Intendanz“ (Art. 6) abgrenzen, womit sie den historisierenden Diskurs der späten Kolonialzeit – Stichwort: Goldenes Zeitalter – wieder aufnahmen. Gleichzeitig schien man damit aber auch eine natürliche, vor-politische Gemeinschaft von der jetzt neu konstituierten politischen Gesellschaft differenz279 Münch: Strukturwandel, S. 207.
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Grundlegung der Verfassung Michoacáns von 1825
ieren zu wollen. So formulierte José María Paulín, als er auf den Unterschied zwischen Staatsbürgerschaft und Naturaleza hinwies: Während die erste – an sich rechtlich attraktivere – ohne Heirat zu erwerben sei, stellten die Rechte des Michoacano-Sein für ihn ein „privilegio muy singular“ dar, „weswegen sie nicht unter einem beliebigen Vorwand vergeudet werden dürften“280. Das Privileg, Michoacano zu sein, musste durch höhere Hürden geschützt werden als die nach außen sehr offene politisch-rechtliche Angehörigkeit. In diese Richtung weist auch ein neben dem ersten Artikel weiteres Alleinstellungsmerkmal der Constitución michoacana, nämlich der achte Verfassungsartikel: „Michoacanos sind nur die auf dem Territorium des Staates Geborenen“. Das „nur“ des Artikels erschien in der ersten Fassung noch nicht, sondern wurde später bewusst eingesetzt.281 Diese Konstruktion ist eine Erfindung der Verfassungsväter aus Michoacán.282 Das sehr hoch geschätzte Privileg, Michoacano zu sein, bleibt den im eigenen Land Geborenen vorbehalten, andere konnten lediglich „für solche gehalten werden“ (Art. 9), also einen gleichwertigen rechtlichen Status erlangen. Auch die Festlegung, dass man zwar den Status als Ciudadano, nicht aber den des Natural verlieren kann, legt den Schluss von der vorpolitischen Gemeinschaft der Michoacanos nahe, die insbesondere über die Geburt auf dem gemeinsamen Territorium miteinander verbunden sind. Auch hier hatten Elemente der spätkolonialen Verfassungskultur Einfluss – zu erinnern sei an den „discourse of love“ (Herzog), also die Liebe zum Geburtsort. So lässt sich konstatieren, dass es den Verfassungsvätern bei der Errichtung des Staates nicht nur um die Etablierung eines politischen Monopols legitimer Gewaltsamkeit ging, sondern auch um den Versuch, eine einheitliche Werteordnung zu setzen. Bei der ausführlichen Untersuchung der Nationsvorstellung in Kapitel E II wird dieses Zwischenergebnis miteinzubeziehen sein. Trotz der hier getroffenen Aussagen bezüglich des Gesellschaftsverständnisses fällt im Gesamtkontext der Verfassungsdiskussionen auf, dass der größte Teil sowohl der Verhandlungszeit als auch des Raumes in der Verfassung dem Aufbau des neuen Staates gewidmet war. Verhandlungen über die Gesellschaft beziehungsweise über die sie konstituierenden Menschen fanden eher am Rande statt. 280 Sitzung vom 30.06.1825, in: AyD, II, S. 361. 281 Vgl. Sitzung vom 20.06.1825, in: AyD, II, S. 335. 282 Zu finden ist diese Festlegung meines Wissens nach nur noch in einem Dekret der französischen Nationalversammlung vom 2. Mai 1790, das die Staatsbürgerschaft regelt. In den französischen Verfassungen der folgenden Jahren hingegen taucht das Konzept nicht mehr auf, womit wohl davon auszugehen ist, dass die Constituyante Michoacáns kein Vorbild hatte. Von Michoacán übernahm später Guanajuato fast wörtlich diese Konstruktion; vgl. den Abdruck des erwähnten französischen Dekrets: Weil: Français, S. 19; außerdem: Verfassung von Guanajuato, Art. 8.
C. Die Konstituierung der neuen Staatsgewalten
Die Organisation der öffentlichen Gewalt stellt neben dem Grundrechtsschutz in der klassischen Verfassungslehre die Hauptaufgabe einer Konstitution dar. Mit der „absolutistischen“ Monarchie hatte in Spanien zuvor ein Regierungssystem existiert, das die Hoheitsrechte und die Staatsfunktionen in der Figur des Monarchen zu konzentrieren versucht hatte.1 Der Monarch war transzendent über das Gottesgnadentum legitimiert und damit theoretisch Konsens-unabhängig, er war nicht zu kritisieren beziehungsweise zur Verantwortung zu ziehen. In den amerikanischen Teilen des Reiches wurde diese Wahrnehmung noch durch die große Entfernung verstärkt: Der König war tatsächlich nicht greifbar, Kritik wandte sich gemäß dem Ausruf „es lebe der König, es sterbe die schlechte Verwaltung [Mal gobierno]“ zwar gegen die schlechte Verwaltung, die schlechte Ausführung des königlichen Willens vor Ort, nicht aber gegen den Monarchen selbst. Der ‚transatlantische’ Monarch war der Kritik entzogen. Er galt neben dem Katholizismus über weite Bevölkerungsteile hinweg als zweites Integrationsmoment. Jene war vielmehr auf die vor Ort greifbare, persönlich auftretende Verwaltung fokussiert. Selbst in der Krisenzeit nach 1808 galt Ferdinand, wie gesehen, bis weit in die Kreise der Aufständischen hinein als unantastbar. Diese zentrale Position des Monarchen wirkte im Verfassungsdenken der Diputados michoacanos fort. Diese Situation änderte sich für die Verfassungsväter fundamental mit der Möglichkeit beziehungsweise mit dem Zwang, sich eigene Autoritäten und Institutionen aufzubauen, die vom Konsens der Regierten abhängig und vor Ort potentiell greif- und kritisierbar waren. „Positiviert eine Gesellschaft ihr Recht“, so Niklas Luhmann, „übernimmt [sie] die Verantwortung für ihre Struktur selbst. Sie muß sich dann der Vielzahl menschlicher Verhaltensmöglichkeiten stellen und entscheiden, was gelten soll. … Vermeintlich externe, umweltverankerte Sicherheiten müssen durch interne, systemimmanente Sicherungen ersetzt werden“2. Das folgende Kapitel untersucht den Umgang der Verfassungsväter mit diesem gewandelten Verhältnis. Es beschäftigt sich also mit strukturellen Fragen der Etablierung der öffentlichen Gewalt und der Machtausübung – Fragen, für die die Verfassungsväter jetzt selbst die Verantwortung zu übernehmen hatten und für die sie Ideen und Institutionen 1 2
Vgl. zur Theorie: Pahlow: Justiz, S. 55-66 u. 299. Zur Problematisierung des Begriffes „Absolutismus“ vgl. Kapitel A I. Luhmann: Verfahren, S. 147.
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Konstituierung der neuen Staatsgewalten
aus eigenen Erfahrungen und aus atlantischen Diskussionszusammenhängen heranzogen. Insbesondere – so lautet eine zentrale These – etablierten sie den Kongress als eine Art Ersatz-Monarch. Das Kapitel teilt sich in drei Abschnitte: Im ersten soll die neu zu etablierende zentrale staatliche Gewalt, die nach der Lehre der Gewaltenteilung dreigeteilt war, untersucht werden (I). Der zweite Abschnitt geht auf die Verwaltung (Gobierno político económico) ein und damit auf den Versuch, flächendeckende Regierungsinstitutionen im Land zu errichten. Diese nehmen in der Verfassung wesentlich weniger Raum ein, die Diskussionen waren allerdings umso ausführlicher, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass man sich auf dieser Ebene mit bereits etablierten Institutionen auseinanderzusetzen hatte (II). Der Teil III verortet in einem Zwischenresümee die Verfassung und das Verfassungsdenken der Diputados michoacanos im Rahmen des atlantischen Frühkonstitutionalismus.
I. Die Gewaltenteilung: Der Kongress als Ersatz-Monarch Die Aufteilung der Hoheitsrechte durch eine Verfassung auf voneinander getrennte Gewalten galt im aufgeklärt-liberal geprägten atlantischen Frühkonstitutionalismus als Grundlage jeder Verfassung. So heißt es in Artikel 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789: „Toute société, dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la separatión des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution“3. Die Teilung der Gewalten und die gegenseitige Kontrolle sollten im liberalen Staatsverständnis der Gefahr des Missbrauchs der Regierungsgewalt vorbeugen und Übergriffe auf die grundrechtlich geschützte Privatsphäre verhindern. 4 Sie steht damit in einer im atlantischen Raum weit verbreiteten Tradition der Skepsis gegenüber Macht und Machtträgern. Die Klagen über das Mal gobierno sind hier ebenso zu verorten wie das Denken John Lockes (1632-1704), des Vaters der modernen Gewaltenteilungslehre. In seinem 1690 erschienenen Werk „Two treatises of government“ begründete er die Teilung folgendermaßen: „Methods of restraining any Exorbitance of those, to whom they had given the Authority over them, and of ballancing the Power of Government, by placing several 3 4
Auf Deutsch heißt es: „Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Trennung der Gewalten bestimmt ist, hat keine Verfassung“. Vgl. im Überblick: Zippelius: Staatslehre, S. 319-334; Eberl: Verfassung, S. 265f. Sowohl Locke als auch Montesquieu intendierten neben der institutionellen Machtbalance auch eine soziale zwischen den verschiedenen Ständen der Gesellschaft.
Gewaltenteilung: Kongress als Ersatz-Monarch
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parts of it in different hands“5. Auch nach Montesquieu, der die Lehre Lockes weiterentwickelte, zeigt „eine ewige Erfahrung, daß jeder, der Macht hat, ihrem Mißbrauch geneigt ist“6. Deswegen müsse Macht zum Erhalt der Freiheit nach dem Vorbild der Verfassung Englands einerseits streng an Gesetze gebunden werden und andererseits zum Schutz dieser Bindung ihre Ausübung dreigeteilt werden. 7 Die Gewaltenteilung sollte die Vorrangstellung des Rechts vor menschlichem Machtstreben absichern. Ziel war das „‚government of law, not of men’“, wie John Adams (1735-1826) das Prinzip des US-amerikanischen Konstitutionalismus zusammenfasste.8 Die Lehre der Federalists, die sich in der Verfassung der USA manifestierte, gilt als Paradebeispiel eines gewaltenteiligen politischen Systems. 9 Nach John Pocock gelang über die von den Federalists entwickelte „theory of multiple representation“ zudem der Ausgleich zwischen moderner Repräsentationstheorie und dem alteuropäischen Paradigma der tugendhaften Republik: In diesem alteuropäischen Denken waren die Träger der Macht ständig von ihrer eigenen Korrumpierbarkeit bedroht. Davor konnten sie nur durch Tugendhaftigkeit geschützt werden, die sie – so die Annahme – als Natural aristocracy besaßen. In den modernen, sich durch die Wählbarkeit der Repräsentanten sich auszeichenden Repräsentationssystemen war jedoch dann nicht mehr gesichert, dass die weiterhin potenziell korrumpierbaren Machtträger der Natural aristocracy entstammten. An die Stelle personen-immanenter Schutzmechanismen traten institutionelle: Die Repräsentanten sollten durch ein ständiges System von Checks and balances vor der Korruption bewahrt werden.10 Aber auch die Monarchien Europas teilten im 19. Jahrhundert die Ausübung der Staatsgewalt auf unterschiedliche Institutionen auf. Nach dem vorherrschenden „monarchischen Prinzip“ blieb die Souveränität zwar in der Hand des Monarchen, dieser ließ aber bei der Ausübung andere Gewalten, insbesondere das Parlament, auf konstitutionell abgesichertem Wege mitwirken. 11 5 6 7 8
Locke: Treatises, The second treatise, § 107, S. 382. Montesquieu: Geist, XI, 4, S. 213. Vgl. Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 214-229. Vgl. zu den USA: Heideking: Stellenwert, S. 123; allg. zum Verhältnis von Politik und Recht: Grimm: Politik. 9 Vgl. zum Denken der Federalists: Herz: Republik, S. 145-200. 10 Auf die Implikation, dass sich durch diese „paradigmatic revolution“ die Orientierung vom republikanischen Prinzip des Allgemeinwohls hin zum liberalen der Privatinteressen verschob, und ihre Bedeutung für Michoacáns Elite wird im Zwischenresümee C III und im Abschnitt über die gewählten Repräsentanten (D II) einzugehen sein; vgl. hierzu: Pocock: Moment, S. 507-556, insb. 520-523; Heideking: Verfassungsgebung, S. 71f. 11 Dieter Grimm sieht diese Konstruktion im Titel II, § 1 der bayerischen Verfassungsurkunde von 1818 in vorbildlicher Weise verwirklicht: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, und übt sie unter den von Ihm gegebenen in der gegenwärtigen Ver-fassungs-
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Konstituierung der neuen Staatsgewalten
Diese atlantischen Vorstellungen bildeten, wie gleich zu sehen sein wird, zusammen mit der eigenen Verfassungskultur den ideengeschichtlichen Horizont, vor dem die Verfassungsväter Michoacáns das Thema des Staatsaufbaus behandelten. Auch der mexikanische Konstitutionalismus maß der Gewaltenteilung eine zentrale Bedeutung zu. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass dies der einzige Aspekt war, den die föderalen Grundgesetze den Verfassungen der Einzelstaaten vorgaben. Sowohl in der Acta constitutiva als auch in der Constitución federal heißt es fast wörtlich übereinstimmend: „Die Regierung jedes Staates wird in die drei Gewalten, die legislative, die exekutive und die richterliche, unterteilt; und niemals werden sich zwei oder mehr von ihnen in einer Korporation oder Person vereinen, noch kann die legislative in einer einzigen Person niedergelegt werden“ 12 . Die jeweils drei nachfolgenden Artikel regelten die generelle Beschaffenheit der drei Gewalten. Von den Bestimmungen hervorzuheben ist, dass die Abgeordneten der Kongresse „vom Volk gewählt werden mussten“ und nur auf konstitutionellem Wege absetzbar waren, während für die Exekutive die Festlegung einer begrenzten Amtszeit verlangt wurde. Für die dritte Gewalt, die Justiz, galten demnach die Auflagen, Tribunale einzurichten und alle Zivil- und Kriminalstreitfälle bis zur letzten Instanz abzuschließen.13 Auf gesamt-mexikanischer Ebene waren Jaime Rodríguez zufolge nach 1808 „two opposing traditions“ 14 entstanden: Aus dem Bürgerkrieg erwuchs die Tradition starker militärischer Führungsgestalten, der so genannten Caudillos. Auf konstitutionell-institutioneller Ebene äußerte sich diese Tradition über 1821 hinaus beispielsweise im monarchischen Anspruch des Armeeführers Iturbide oder auch in der Tatsache, dass bis über die Jahrhundertmitte hinaus alle mexikanischen Präsidenten Generäle waren. Außerdem durchbrachen Caudillos immer wieder die neu zu etablierende Ordnung. Zu nennen ist hier paradigmatisch der mehrmalige Präsident Antonio López de Santa Anna, nach dem Urkunde festgesetzten Bestimmungen aus“. Er stellt bezüglich des Monarchen fest: In der „Zuständigkeitsvermutung zu seinen Gunsten lag die eigentliche juristische Bedeutung des monarchischen Prinzips“; vgl. Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 113-116, Zitat S. 116; vgl. kritisch zu einer zu starken Gegenüberstellung: Korioth: Prinzip. Martin Kirsch sieht in einer neueren Studie in den Parlamenten Europas eine noch stärker eigenständige Kraft und beschreibt den „dualistisch geprägte[n] monarchische[n] Konstitutionalismus“ als den sich allmählich durchsetzenden europäischen Verfassungstyp; vgl. Kirsch: Monarch, Zitat S. 409. 12 So der erste Artikel des sechsten Titels der Constitución federal („Von der partikularen Regierung der Staaten“, Art. 157); fast identisch: Acta constitutiva, Art. 20. 13 Die Auflage der Ausschöpfung des vollen Instanzenzugs kam als einzig inhaltlich neue Festlegung erst in der Constitución federal, Art. 160 hinzu. 14 Rodríguez: Struggle, S. 205.
Gewaltenteilung: Kongress als Ersatz-Monarch
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Zeitgenossen die Epoche bis in 1850er Jahre hinein als „era de las revoluciones de Santa Anna“ (Lucas Alamán) charakterisierten. Sie sahen in der Instabilität die Schuld am Niedergang der einst reichen Kolonie Neu-Spanien. Die Historiographie seit Ende des 19. Jahrhunderts setzte der Periode entsprechend den Stempel „caos y dictadura“ (Justo Sierra) auf, geprägt von Umstürzen, Caudillos und ständig neuen Personen in der Exekutive.15 Die Tradition einer Vorrangstellung der Legislative hatte nach Rodríguez ihre Wurzeln in der parlamentarischen Erfahrung von Cádiz. Sie setzte sich in Mexiko 1823 nach der Reinstallation des Kongresses und nach dem Rücktritt Iturbides auf konstitutioneller Ebene insofern durch, als dass die föderale Verfassung von 1824 ein starkes Parlament gegenüber einer schwachen Exekutive vorsah. 1824 hatte sich zwar die Idee eines Triumvirats, wie es nach dem Rücktritt Iturbides zunächst installiert worden war, nicht durchsetzen können. Die Verfassung sah mit den Ämtern des Präsidenten und Vizepräsidenten aber eine zweiköpfige Exekutive vor, wobei das Modell einer unabhängigen Wahl des Vizepräsidenten eine bewusste Schwächung des Präsidenten bedeutete: Der Vizepräsident war häufig der unterlegene „candidato opositor y frustrado“16. Gegenüber der Legislative erhielt die Exekutive aber doch einen gewissen Grad an eigenen Handlungsspielräumen. So setzte sich schließlich nicht das Projekt einer „Regierung parlamentarischen Typs“ 17 durch: Die Exekutive wurde nicht durch das föderale Parlament, sondern durch die Parlamente der Einzelstaaten gewählt und war auch nicht durch eine parlamentarische Mehrheit aus politischen Gründen absetzbar.18 Das föderale Parlament, das in Analogie zur US-amerikanischen Regelung aus zwei Kammern bestand, hatte insbesondere im Gesetzgebungsprozess eine übergeordnete Stellung.19 Wie gleich zu sehen sein wird, war die Vorrangstellung des Parlamentes auf föderaler Ebene im Vergleich mit der des Kongresses in Michoacán allerdings schwach ausgebildet. Dem folgenden Kapitel steht die These voran, dass die Verfassungsväter Michoacáns viele Kompetenzen, die früher der Monarch besaß, dem Kongress übertrugen. Sie entsprachen damit dem Prinzip der Gewaltenteilung nur sehr eingeschränkt. Diese These soll in zwei Schritten belegt werden: Zunächst steht 15 Vgl. den Überblick bei Vázquez: Constitución, Rezitate S. 9 u. 11. In gewisser Weise steht auch Riekenberg mit seiner Erklärung von Gewaltkulturen in dieser Tradition. 16 Ferrer: Formación, S. 224f. Vgl. zu Projekten einer pluralen Exekutive: Ferrer: Formación, S. 243f. In der Reform des Verfassungssystems von 1824 im Jahre 1847 war die Abschaffung des starken Vizepräsidenten ein zentrales Anliegen. 17 Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 231. 18 Vgl. zur Definition eines parlamentarischen Regierungssystems: Steffani: Unterscheidung, S. 390-401. 19 Vgl. Rodríguez: Struggle; Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 263-272; Anna: Mexico (1998), S. 149 u. 167-169; Ferrer: Formación, S. 218-225 u. 229-249.
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Konstituierung der neuen Staatsgewalten
das allgemeine Verständnis der Gewalten im Vordergrund, das anhand der jeweiligen Ein- und Absetzungsverfahren untersucht wird (a). Der zweite Schritt verortet die Kompetenzen und die Zusammensetzung der Legislative sowie der Exekutive und spürt damit dem im ersten Teil eruierten Verständnis nach (b). Die Judikative, die, wie im atlantischen Frühkonstitutionalismus verbreitet, gegenüber den beiden anderen Gewalten deutlich zurücktrat und auch in den Diskussionen kaum Raum einnahm, wird separat in einem dritten Teil im Überblick und zur Überprüfung bereits erarbeiteter Thesen behandelt (c).
a.
Volksvertretung gegen exekutive Privilegien
Die Präponderanz des Kongresses wird in der Verfassung von Michoacán zunächst in der Statik deutlich: Der erste Titel der Verfassung (Art. 19-56) regelte wie selbstverständlich und unhinterfragt die Arbeit und Aufgaben des Parlamentes, und zwar den Aufbau und die Zusammensetzung des Kongresses (Art. 19-22), dann, in sehr eingeschränktem Maße, die Wahl der Abgeordneten und die Auflagen, die für das passive Wahlrecht zu erfüllen waren (Art. 19 und 24f.). Es folgen Ausführungen zur Amts- beziehungsweise Sitzungsdauer (Art. 23, 26, 29-35 und 39) sowie zum Sitzungsort (Art. 27), ebenso wie zur Immunität (Art. 36f.) und zum Schwur (Art. 40) der Abgeordneten. Im sehr umfangreichen Artikel 42 sind die Kompetenzen und Aufgaben des Kongresses niedergelegt, in zwei weiteren die Zusammensetzung und Aufgaben der Diputación permanente, des Gremiums, das den Kongress während der Sitzungspausen vertrat (Art. 41 und 43). Das Kapitel III regelt die Erarbeitung und Veröffentlichung der Gesetze (Art. 44-56).20 Erst im zweiten Titel folgen dann die Regelungen bezüglich der Exekutive (Art. 57-93), zunächst wieder im ersten Kapitel die über die Zusammensetzung (Art. 57f.) sowie über die Wahl und die Auflagen für das passive Wahlrecht (Art. 59-64), im zweiten Kapitel dann die über die Amtsdauer (Art. 65f.) und den Schwur (Art. 67f.). Das nächste Kapitel behandelt die so genannten „Vorrechte des Gouverneurs“ (Art. 69-72), ein weiteres, sehr viel umfassenderes die Aufgaben, Pflichten und Verbote (Kap. IV, Art. 73-76). Die beiden letzten betreffen schließlich den Regierungsrat (Consejo de gobierno, Kap. V, Art. 77-88) und das Büro des Gouverneurs (Kap. VI, Art. 89-93). In allen eben aufgezählten Regelungsbereichen lässt sich die Absicht der Verfassungsväter erkennen, die Höherstellung des Kongresses gegenüber der Exekutive festzuschreiben. Der nachfolgende Abschnitt kontrastiert dann die 20 Ein weiterer Artikel (28) des ersten Kapitels verweist auf die Bindung des Kongresses an eine noch extra zu behandelnde Geschäftsordnung.
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jeweiligen Regelungen der beiden Gewalten, und zwar in dieser Reihenfolge: Nach einer kurzen Klärung des grundsätzlichen Verständnisses werden die jeweilige Wahl, der Aufbau und die Zusammensetzung untersucht, dann das jeweilige passive Wahlrecht, weiterhin die Regelungen zu Amts- und Sitzungsdauer sowie diejenigen zur Immunität. Schließlich sollen die Ausführungen zu den jeweiligen Kompetenzen und Aufgaben miteinander kontrastiert werden. Immer wieder wird dabei das Misstrauen gegenüber der Exekutive, und damit das Grundmotiv für die Nachordnung, deutlich. Eine erste Begründung für die Präponderanz des Kongresses lieferte González bei der Diskussion des ersten Artikels am 28. Februar 1825: „Im Volk sitzt die Souveränität“ und die Wahl der Abgeordneten „ist der einzige Akt, in dem es sie unmittelbar ausübt“21. Nur das Parlament war demnach unmittelbar durch den Souverän legitimiert. Wie sich dieses Verständnis in der Verfassung manifestierte, soll nachfolgend herausgearbeitet werden, um dann die Unterschiede zum Verständnis der Exekutive zu betrachten. Die Debatte um die Bezeichnung der drei Gewalten, entstanden bei der Diskussion des ersten Artikels des zweiten Kapitels über die Exekutive am 12. April 1825, unterstreicht den Befund des parlamentarischen Vormachtsanspruches: Nachdem vorgeschlagen worden war, die Exekutive als „Oberste [Supremo]“ Gewalt zu bezeichnen, verlangte González aus „geschuldeter Gleichförmigkeit“, entweder die Bezeichnung auch für die Legislative zu übernehmen oder sie aber in beiden Fällen wegzulassen. Der Milizionär Villaseñor wandte dagegen ein, die Legislative sei „nicht nur oberste, sondern souveräne“ Gewalt. Ähnlich, und schließlich erfolgreich, erklärte Huarte – wie gesehen Mitglied einer der der reichsten Familien des spätkolonialen Michoacán –, die exekutive Gewalt stehe über der ihr nach geordneten Verwaltung und brauche deswegen diese Abgrenzung, die legislative Gewalt hingegen „repräsentiere die Souveränität unmittelbarer“, was die Bezeichnung „Oberste“ überflüssig mache.22 Das Parlament galt als die einzig unmittelbare Vertretung des souveränen Volkes. Dies ist nicht nur für das Verhältnis zu den anderen beiden Gewalten von Interesse, sondern auch insofern, als dass der repräsentative Charakter des Regierungssystems nicht zur Disposition stand. Direktdemokratische Elemente galten trotz populärer Souveränität, wie schon oben für die Verfassunggebung festgestellt, auch für die Ausübung des verfassten Willens als indiskutabel. Hier wie schon in den Diskussionen der vorangegangenen Jahre auf föderaler Ebene – und auch bei den Verhandlungen von Cádiz – erhielt die Begrifflichkeit der 21 Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 141. Im spanischen Original heißt es: „En el pueblo reside la soberanía, y este es el único acto en que la ejerce inmediatamente“. Ähnlich äußert sich auch Huarte laut Sitzung vom 02.03.1825, in: AyD, II, S. 151. 22 Sitzung vom 12.04.1825, in: AyD, II, S. 225.
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Souveränität eine doppelte Bedeutung: Zum einen bezeichneten die Verfassungsväter damit im strengen Sinne der Verfassung ihren Träger, das Volk, und zum anderen die sie ausführenden, repräsentativen Organe. 23 Zuweilen hinterlässt das den Eindruck, dass das Volk durch den Wahlakt seine Souveränität gar überträgt, an die gewählten Gremien veräußert. Diesem elementaren Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten, das während der Verfassungsdebatten kaum eine Rolle spielte, wird ausführlich in den Abschnitten D bis F nachgegangen. Hier geht es zunächst um das breit diskutierte Thema der Errichtung der Gewalten und deren im Verfassungstext geregelten Verhältnis zueinander. Die unterschiedliche Intensität der Debatten stützt die im vorherigen Kapitel aufgestellte These, dass es den Verfassungsvätern zunächst darum zu tun war, die neuen staatlichen Institutionen zu errichten, um dann erst im Anschluss die Qualität des Staatsvolkes und dessen Verhältnis zur öffentlichen Gewalt zu regeln. Es schien mithin unstrittig zu sein, dass das Volk einer Repräsentation bedurfte und dass diese mittels Wahl zu bestimmen war. Soweit ersichtlich, waren sich die Abgeordneten auch in der Bewertung einig, dass die Exekutive zwar an der Vertretung der Souveränität beteiligt war, dass sie aber einen geringeren Grad an Vertretungskompetenz aufweisen kann als die Legislative. Mit dieser Graduierung der Gewalten stand Michoacán in Kontinuität zum bisherigen hispanischen Verfassungsdenken. Das Ausmaß der Nachordnung der Exekutive hingegen ist zumindest im Vergleich zu Cádiz und zur mexikanischen Zentralregierung auffällig. Die „größere Unmittelbarkeit“ der Legislative gegenüber der Exekutive zeigte sich insbesondere in der unterschiedlichen Arten der Wahl: Laut Verfassung setzte sich der Kongress „aus in indirekter Weise vom Volk gewählten Abgeordneten“ (Art. 19) zusammen. Über den Wahlmodus äußerte sich die Verfassung Michoacáns im Unterschied zu den meisten anderen mexikanischen Einzelstaatsverfassungen nicht. Vielmehr legte sie in für Mexiko einmaliger Weise in Artikel 22 fest, dass jeder Kongress für den nachfolgenden ein neues Wahlgesetz zu erlassen hatte.24 Dies macht es sehr gut möglich, Kontinuitäten und Reformen in diesem Bereich nachzuvollziehen, was im Zuge einer ausführlichen Bearbeitung des Themas Wahlen in Abschnitt D folgt. Hier bleibt festzuhalten, dass der Kongress vom Volk gewählt werden sollte, dies aber in 23 Vgl. für den gesamtmexikanischen Kontext im Überblick: Ferrer: Formación, S. 41-48. 24 Von den einzelstaatlichen Verfassungen ist die Michoacáns insofern eine Ausnahme, als dass alle anderen das Wahlprozedere entweder direkt in das Grundgesetz aufnahmen oder dieses in einem, nicht für jede Legislatur zu verändernden Gesetz regelten. Erst durch die Reform dieses Artikels im Jahre 1832 glich sich Michoacán den anderen Verfassungen an. Leider fehlen für den fraglichen Zeitraum einige Protokolle.
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„indirekter Weise“ zu erfolgen hat. Was dies zu bedeuten hat, geht implizit aus Artikel 201 hervor, der von Wahlversammlungen auf drei Ebenen spricht: In den Juntas primarias auf der ersten Ebene wählten die Wahlberechtigten des jeweiligen Bezirkes primäre Wahlmänner (Electores primarios). Diese bestimmten in den so genannten Juntas secundarias sekundäre Wahlmänner (Electores secundarios). Diese wählten dann schließlich in der Wahlversammlung des Staates (Junta electoral del estado) die Abgeordneten. Der indirekte Wahlmodus war im atlantischen Raum das gängige Verfahren. Festzuhalten bleibt, dass der Souverän keinen direkten Einfluss auf die Bestimmung seiner Vertreter hatte. Im Vergleich zum Kongress war die Wahl der Exekutive noch indirekter: Der Kongress und nicht die Junta electoral del estado fungierte bei der Wahl des Gouverneurs und seines Stellvertreters als abschließendes Entscheidungsgremium. So sollte laut Artikel 63 die Wahlversammlung des Staates drei Personen wählen und diese an den Kongress melden. Die Volksvertretung wählte daraufhin die zweiköpfige Exekutive, sie entschied also abschließend (Art. 64). Mit dieser Bestimmung ging Michoacán innerhalb der Estados Unidos Mexicanos einen Sonderweg: Acht andere Staaten legten die Wahl der Exekutive durch Wahlversammlungen, entweder der Bezirke oder des Staates, fest, acht weitere die Wahl durch den Kongress. In zwei Staaten wählten die Ayuntamientos den Regierungschef. 25 Die Wahl eines Ersatzes für den Gouverneur für den Fall, dass der Stellvertreter nicht zur Verfügung stand, unterstreicht den Befund der Abhängigkeit der Exekutive vom Kongress: Die Verfassung sah in Artikel 66 vor, dass der Kongress als Interimslösung ein Mitglied des Regierungsrates zum Gouverneur wählen sollte. Huarte hatte zunächst für diesen Fall in Analogie zur Föderation die Wahl durch die Wahlversammlung gefordert, war damit jedoch bezeichnenderweise gescheitert. 26 Die Regierung war somit bei ihrer Ernennung letztlich vom Parlament abhängig. Der Souverän sollte sie nicht „unmittelbar“ wählen. Der Aufbau und die Zusammensetzung der Gewalten unterstreichen die Absicht der Konstituante, die Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken. Das Parlament blieb einheitlich und ungeteilt, ihr wurde keine zweite Kammer zur Seite gestellt. Zweite Kammern wurden und werden meist als Kontrollinstanz zur eigentlichen Volksvertretung und zu deren Schwächung installiert. So fungierten beispielsweise in den deutschen Staaten des Vormärz die ersten, meist mit Mitgliedern der ersten beiden Stände besetzten Kammern neben der Verhinderung der monarchisch-despotischen Willkür insbesondere zur „Ab25 Auch in den meisten Staaten der USA wählten die legislativen Organe den Regierungschef. Vgl. zu Mexiko: Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 45; zu den USA: Adams: Republikanismus, S. 276-279. 26 Vgl. Sitzung vom 02.05.1825, in: AyD, II, S. 269f.
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wehr der demokratischen Springflut“ 27 . Sie sollten also demokratische Ansprüche der Volkskammern eindämmen. Anders noch als bei den vorgaditanischen Diskussionen 1808/1809 debattierten die Verfassungsväter Michoacáns die Einrichtung einer zweiten Kammer gemäß den Protokollen nicht. Damit standen sie wie die meisten anderen Bundesstaaten zwar in Kontinuität zur Verfassung von Cádiz, wo diese Entscheidung allerdings erst nach längeren Diskussionen gefällt wurde. 28 Gleichzeitig grenzte sich Michoacán jedoch von dem im gesamten atlantischen, nicht zuletzt südamerikanischen Raum weit verbreiteten System von Zweikammerparlamenten ebenso ab wie von der Regelung der Föderation und derjenigen von drei mexikanischen Einzelstaaten. 29 Michoacán entschied sich also bewusst gegen die Installation einer Sondervertretung bestimmter Interessengruppen und für die Einrichtung einer einheitlichen, starken Volksvertretung. Wie gingen die Verfassungsväter auf der anderen Seite mit der Gestaltung der Exekutive um? Artikel 57 legte fest, dass „die oberste exekutive Gewalt bei einer einzigen Person mit dem Namen Gouverneur des Staates liegt“. Obwohl also auch die Exekutive scheinbar einheitlich organisiert war, versuchte die Konstituante den Gouverneur über interne Kontrollinstanzen zu schwächen. Zwar war nicht über eine Machtteilung debattiert worden, beispielsweise in Form eines Triumvirats, wie im zeitgenössischen spanisch-amerikanischen Konstitutionalismus durchaus nicht unüblich. 30 Vielmehr stellten die Verfassungsväter dem Gouverneur einerseits einen starken Vizegouverneur zur Seite. Dessen primäre Aufgabe war zunächst die Übernahme der Amtsgeschäfte bei „physischer oder moralischer Verhinderung des Gouverneurs“ (Art. 58).31
27 Löffler: Kammern, S. 45. 28 Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 333-336. 29 Unter den mexikanischen Einzelstaaten befand sich mit Oaxaca ein Staat, dessen Text zum Zeitpunkt der Diskussion bereits vorlag, dessen Senado allerdings keine Gesetzgebungsbefugnis besaß und insofern keine gleichberechtigte zweite Kammer war. Später führten Durango und Veracruz jeweils eine gleichberechtigte legislative „Camara de senadores“ ein. Zu Simón Bolívar und seinem diesbezüglichen Einfluss auf den südamerikanischen Konstitutionalismus: Timmermann: Monarchie, S. 342-344 u. 351-353; zu den Einzelstaaten der USA: Adams: Republikanismus, S. 266-270; zur nahezu durchgängigen Einführung von Zweikammerparlamenten im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Löffler: Kammern, bes. S. 32; Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 123; Willoweit: Verfassungsgeschichte, S. 246; zu Kurhessen als Ausnahme: Frotscher: Verfassungsdiskussion, insb. S. 208 u. 212. 30 Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 339-341. 31 Über den Status des Vizegouverneurs hatte sich zunächst eine Debatte an dem ersten Vorschlag entzündet, ihn „aus Gründen der Zweckmäßigkeit und Ökonomie“ (Sitzung vom 12.04.1825, in: AyD, II, S. 227) gleichzeitig als Präfekt eines zu bildenden
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Der Vizegouverneur ging ähnlich wie der Vizepräsident auf föderaler Ebene wegen seiner eigenständigen Wahl nicht automatisch mit dem Gouverneur konform, er war potentiell wie dort der „candidato frustrado y opositor“. Zwar liegen hierzu für Michoacán keine Diskussionen vor, es ist aber anzunehmen, dass dies von den Verfassungsvätern so intendiert war – die Debatten und Entscheidungen über die Zusammensetzung der föderalen Exekutive waren bekannt. Die Praxis zeigte dann auch, dass sich in der Exekutive wie auf Bundesebene Personen aus unterschiedlichen politischen Lagern gegenüberstanden. Daneben stellte die Konstituante dem Gouverneur noch eine weitere Kontrollinstanz zur Seite, nämlich den schon erwähnten Consejo de gobierno. Dieser setzte sich aus dem ihm vorsitzenden Vizegouverneur sowie aus vier durch die Wahlversammlung des Staates gewählte Consejeros zusammen, wobei bei einer vierjährigen Amtszeit alle zwei Jahre zwei Mitglieder ausgetauscht werden sollten (Art. 77 und 79). 32 In einer ersten Debatte war der Consejo bezeichnenderweise noch als „Senado“ tituliert worden, also mit dem Namen, mit dem die Constitución federal in Anlehnung an die Verfassung der USA ihre zweite Kammer bezeichnet hatten. Bezeichnend ist insbesondere, dass in Michoacán ein Gremium mit diesem Namen nicht dem Kongress, sondern dem Gouverneur als Kontrollinstanz zugeordnet werden sollte. 33 Der Gouverneur Michoacáns besaß nach Artikel 78 im Consejo kein Stimmrecht, was die Unabhängigkeit des Consejo steigerte.34 Seine prinzipielle Aufgabe bestand in der Beratung des Gobernador (Art. 85/1). Darüber hinaus war er als eigenständiges Gremium verpflichtet, die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze zu überwachen und entsprechende Beobachtungen an Kongress und Gouverneur weiterzureichen (Art. 85/2 und /4) sowie alle „nützlichen Branchen ... des Hauptstadtbezirkes einzusetzen. Die Mehrheit sprach sich wegen unterschiedlicher Aufgabenbereiche und Wahl-mechanismen allerdings dagegen aus. 32 Insofern war er nicht mit dem Consejo auf Bundesebene zu vergleichen, der sich aus der Hälfte der Senatoren zusammensetzte und den Kongress während dessen Rückzug vertrat; vgl. Constitución federal, Art. 113-116. Die Auflagen für die Wahl der Consejeros und ihrer Stellvertreter waren bis auf das Mindestalter von 30 Jahren die gleichen wie die gleich zu behandelnden für die Abgeordneten (Art. 82f.). Nach Artikel 80 durfte allerdings jeweils nur einer ein Geistlicher sein. 33 Die Übergänge zwischen zweiter Kammer und Beratungsgremium waren also fließend, insbesondere wenn man neben Oaxaca noch die Verfassungen von Jalisco und Yucatán miteinbezieht, die jeweils einen Senat einführten, diesen aber direkt der Exekutive zuordneten. Vgl. Außerordentliche Sitzung vom 16.04.1825, in: AyD, II, S. 240. 34 Nach Artikel 84 hatte sich der Consejo eine Geschäftsordnung zu erarbeiten, die der Kongress bewilligen musste. Dessen Einhaltung in den Sitzungen hatte der aus den Reihen der Consejeros zu ernennende Sekretär zu beaufsichtigen.
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Staates“ (Art. 85/3) zu fördern. Dafür besaß er ein eigenes Gesetzesinitiativrecht (Art. 85/5), er war also nicht wie nach der Verfassung von Cádiz rein auf Beratungstätigkeiten reduziert. 35 Vielmehr musste der Gouverneur ihn bei einigen Kompetenzen anhören, zu nennen ist beispielsweise die Einstellung und (provisorische) Entlassung von Staatsangestellten (Art. 85/6). Nach Artikel 75/3 konnte der Gouverneur den Vorschlag des Rates hierbei nur einmal zurückverweisen.36 Zu nennen ist wegen der aussagekräftigen Debatte auch die Erteilung von Strafmilderungen in Einzelfällen (Art. 75/5): Huarte hatte die Vergabe dieses traditionellen Rechts an den Gouverneur eingangs damit gerechtfertigt, dass die „Umstände sehr umfassend“ gesetzlich festgelegt worden seien, Willkür demnach auszuschließen sei. Der Milizionär Salgado beziehungsweise der Großgrundbesitzer Aguiar verlangten trotzdem eine weitere Einschränkung durch die Anhörungspflicht des Consejo beziehungsweise des Kongresses, sonst „würde der Regierung die Tür geöffnet, ihre Grenzen zu überschreiten“. Huarte wandte vergeblich ein, dass man ihr so „auf jedem Schritt die Energie und Aktivität, die viele Angelegenheiten verlangen, betäuben würde“. Mit ähnlichen Argumenten hatte sich Huarte übrigens auch gegen die Bindung der Regierung bei der Entlassung der Angestellten gewandt. Per Abstimmung wurde der Consejo als Kontrollorgan ergänzt.37 Als Regierungsapparat im engeren Sinne unterstand dem Gouverneur dabei nach Kapitel VI (Art. 89-93) lediglich der von ihm ernannte Staatssekretär (Secretario del gobierno), der nach Art der in Europa verbreiteten Ministerverantwortlichkeit alle Anordnungen und Erlasse des Gouverneurs gegenzeichnen musste, bevor sie in Kraft treten konnten. 38 So sollte verhindert werden, dass der offensichtlich potentiell als Gefahr wahrgenommene Gouverneur seine Grenzen überschreitet. Anders als die Legislative war die Exekutive also nicht einheitlich organisiert, sondern besaß neben dem übermächtigen Kongress mit dem Consejo auch intern ein starkes, vom Vizegouverneur geführtes, unabhängig gewähltes Kontrollinstitut. Einem starken Einkammerparlament stand eine mehrfach in sich geteilte und somit geschwächte Exekutive gegenüber. 35 Seine letzte Aufgabe war die Prüfung aller Rechnungen des Staates vor der Vorlage beim Kongress (Art. 85/7). 36 Eine Entlassung war nach Artikel 75/4 nur nach Ungehorsam gegenüber Anweisungen möglich; vgl. auch Außerordentliche Sitzung vom 16.04.1825, in: AyD, II, S. 235f. 37 Sitzung vom 04.05.1825, in: AyD, II, S. 274f. 38 Bei Verfassungs- oder Gesetzesbruch war er verantwortlich, aber anders als in den konstitutionellen Monarchien konnte, wie gesehen und wie noch weiter zu betrachten sein wird, auch der Gouverneur angeklagt werden. Zur Ministerverantwortlichkeit und Gegenzeichnungspflicht als Kontrollinstrumente in monarchischen Verfassungen vgl. u.a. Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 118; Willoweit: Verfassungsgeschichte, S. 245.
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Der für den Kongress beanspruchte Charakter als unmittelbarer Vertreter des Volkes und die damit verbundene Vorrangstellung gegenüber der Exekutive findet sich bei dessen Zusammensetzung auch in der Proportionalität der Abgeordneten zur gesamten Bevölkerung wieder. Bei der Wahl sollte nach Artikel 20 ein Abgeordneter für je 25.000 „Seelen“ gewählt werden. Unter „Seelen“ verstand man stillschweigend alle Einwohner. 39 An anderer Stelle heißt es synonym: „Personen von jedem Geschlecht und Alter“40. Die Verwendung des unpolitischen „Seelen“-Begriffes, den man ausschließlich in diesem Zusammenhang antrifft, unterstreicht in Abgrenzung beispielsweise zum Begriff Staatsbürger, den Allgemeinheitsanspruch der Repräsentation: Alle Einwohner, und nicht nur die Staatsbürger, sollten repräsentiert werden. Zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit sollten mindestens 15 Männer ins Parlament einziehen, eine Höchstzahl wurde entgegen einem ersten Entwurf nicht festgelegt. 41 Auf je zwei Abgeordnete (Propietarios) kam ein Ersatzmann (Suplente). Vor Verabschiedung dieser Regelung waren bezeichnenderweise zwei Anträge nicht mehrheitsfähig gewesen, die die Anzahl der Abgeordneten nicht an die Zahl der Einwohner, sondern an die von Verwaltungseinheiten (Partidos) koppeln wollten – wie es beispielsweise in Zacatecas und später in Tabasco beziehungsweise Tamaulipas der Fall war. 42 Hinter den beiden gescheiterten Anträgen lassen sich Parallelen zu der auch im Antiguo régimen verbreiteten Vorstellung ausmachen, dass nicht Individuen, sondern (Gebiets-)Körperschaften, zu vertreten seien – auch wenn sie, wie in diesem Fall, an die Bevölkerungszahl geknüpft war. Für die Proportionalität zur Bevölkerung hatten sich insbesondere Rayón und Pastor Morales ausgesprochen: Dies stellte ihnen zufolge „mit Sicherheit einen Punkt der Verfassung“ beziehungsweise „eines
39 Dass dem so ist, beweist auch die Arithmetik: Bei einer Mindestzahl von 15 Abgeordneten, die je 25.000 Personen vertreten, kommt man mit 375.000 auf eine Mindestzahl von Seelen, die in etwa der Bevölkerungszahl Michoacáns entsprach. Zöge man die Anzahl der Frauen, also in etwa die Hälfte der Einwohner, ab, würde die Proportion weit vom Soll abweichen. 40 Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 13, in: RdL, I, S. 65. 41 Vgl. Verfassungsentwurf, Art. 69, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. Für Michoacán wurde für die ersten sechs Jahre den jeweiligen Kongressen mit Artikel 21 freie Hand gewährt, eine Zahl zwischen 15 und 21 zu wählen; das Weglassen einer dauernden Obergrenze wurde damit begründet, dass man „die kommenden Kongresse nicht binden [wolle] ... falls sich die Haushaltsumstände ändern sollten“ (Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 143). 42 Vgl. die damals dem Kongress vorliegende Verfassung von Zacatecas, Art 19. Vgl. hierzu weiter das Kapitel D II.
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der grundsätzlichen Prinzipien des republikanischen Systems“43 dar. Die Proportionalität sollte sich aber auch nicht nur auf die Staatsbürger beziehen, sondern ausdrücklich auf das gesamte „Volk“. In diesem Sinne fand ein weiterer Antrag keine Mehrheit, nach dem es in Artikel 19 heißen müsse, die Wahl finde durch „die Staatsbürger“ und nicht durch „das Volk“ statt. González entgegnete dem Antrag, so „schiene es eventuell, dass man dem Volk seine Vorrechte raube“44. Auch die Nicht-Staatsbürger, beispielsweise Frauen und Minderjährige, genossen also einen ausdrücklichen parlamentarischen Repräsentationsanspruch.45 Das gesamte Volk sollte also ohne Ausnahmen in gleichen Maßen vertreten sein, auch wenn nicht alle berechtigt waren, sich selbst zu vertreten. Die Absicht des Constituyente, mit dem Kongress eine Volksvertretung zu konstituieren, trifft man auch bei der Diskussion um die Auflagen, die zu erfüllen waren, um für das Abgeordnetenmandat kandidieren zu können: Die Kriterien für das passive Wahlrecht wurden im Vergleich zu den anderen Gewalten, aber auch zu anderen repräsentativen Systemen im atlantischen Raum, niedrig angesiedelt. 46 So existierten weder finanzielle noch ethnische Auflagen. Neben der Ciudadanía legten die Verfassungsväter in Artikel 24 ohne Diskussion lediglich zwei Kriterien fest: In Michoacán geborene Staatsbürger mussten lediglich mindestens 25 Jahre alt sein. Dies galt auch für diejenigen, die seit fünf Jahre Vecino del estado waren. 47 Die nicht auf dem mexikanischen Territorium Geborenen mussten hingegen sehr viel höhere Auflagen erfüllen, nämlich zehn Jahre Vecindad plus die Ehe mit einer Michoacana und eine wirtschaftliche Verankerung im Staat (Art. 25/3). 48 Weitere Auflagen sollten 43 Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 142. 44 Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 141. 45 Einen anderen Weg wählte beispielsweise Bayern, wo sich die Gesamtzahl der Repräsentanten nach der Verfassung von 1818 an der Zahl der Familien orientierte; vgl. Götschmann: Parlamentarismus, S. 56. 46 Vgl. für diesen Vergleich die Ausführungen in Kapitel D II. 47 Analoge Auflagen galten nach Artikel 200 für die Wahlmänner, die die Abgeordneten wählten: Die Vecindad musste in deren Fall für den jeweiligen Wahlbezirk vorgewiesen werden, das Geburtskriterium taucht dort allerdings nicht auf. Ausgeschlossen von diesen Ämtern waren weiterhin Personen, die vor Ort rechtsprechende oder seelsorgerische Funktionen ausübten, sowie nach Artikel 201 die aktuellen Abgeordneten. Nach Artikel 202 mus-sten Wahlmänner selbst eine Dreiviertel-Mehrheit erlangen, um Abgeordneter zu werden, dies sei zur Absicherung des „Vertrauens“ (Sitzung vom 25.06.1825, in: AyD, II, S. 345). 48 Unter wirtschaftlicher Verankerung im Staat verstand die Verfassung in diesem Fall entweder einen Grundbesitz im Staat von 10.000 Pesos oder ein Einkommen aus einem im Staat ansässigen Gewerbe, das jährlich 1.000 Pesos produziert. Keine Ausländer im Sinne dieses Artikels waren Personen, die in einem mittlerweile unabhängigen Teil Amerikas
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ausdrücklich nicht eingeführt werden, weswegen die Abgeordneten sich mehrheitlich gegen den Vorschlag aussprachen, dass man „dem Vaterland Dienste geleistet, oder seinen Anschluss an die Unabhängigkeit und das aktuelle Regierungssystem erklärt“ haben muss. Die diesen Antrag stützenden Kommissionsmitglieder Villaseñor und González waren mit ihrer Begründung gescheitert, dass man so das Amt als eines von „erster Wichtigkeit“ auszeichnen könne, beziehungsweise dass so leichter „Borbonistas, Antiliberales, Centralistas oder Feinde des Systems“ auszuschließen seien. Überzeugender wirkten letztlich aber wohl die Hinweise von Pastor Morales und Jiménez, dass der Kongress mit dieser Argumentation „zu verstehen gebe, dass das Abgeordnetenamt eine Art von Belohnung [premio]“ sei, und dass das Volk mit dieser Klausel zum Beispiel nicht den „sich seinem Studium hingebenden Weisen“ wählen könne, da er – so ihre Logik – dem Vaterland keine Dienste geleistet hatte. Außerdem entfache diese Auflage Verleumdungen. 49 Die wahlberechtigten Ciudadanos sollten möglichst frei ihre Repräsentanten wählen können. Die in Artikel 25 niedergelegten Gründe für die Aberkennung des passiven Wahlrechts stützen diesen Befund: Neben dem fehlenden Besitz der Staatsbürgerrechte führte lediglich die Bekleidung eines Amtes bei einer der anderen beiden Gewalten beziehungsweise in der obersten Kirchenverwaltung zum Ausschluss.50 Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht galt jeweils nicht, wenn man sechs Monate vor der Wahl aus seinem Amt ausgeschieden war – vorher könne man noch eine „Verbindung mit der Regierung haben“51. Dem Antrag Rayóns auf die Ergänzung, man müsse auch nicht-exkommunizierter Christ sein, wurde nicht stattgegeben. Der Kongress entschied sich also für eine relativ offene Klausel mit klar definierten Auflagen: Ab einem bestimmten Alter war jeder Staatsbürger, der eine gewisse Bindung zu Michoacán aufweisen konnte, bei Einhaltung der Gewaltenteilung berechtigt, das Volk zu vertreten. 52 Die Abgeordneten konnten demnach aus der Mitte des Volkes gewählt werden, waren insofern auch diesbezüglich Repräsentanten des gesamten Volkes. Für
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lebten, der 1810 Teil der spanischen Monarchie war, und die Militärs, die für die Unabhängigkeit gekämpft hatten. Dies geht aus einen Verweis auf Artikel 21 der Constitución federal hervor. Vgl. Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 143f., Zitate ebd. Per Verweis auf die Constitución federal schloss man auch entsprechende Amtsträger anderer Staaten oder der Föderation aus. Hinzu kamen die Bischöfe, die Verwalter der Bistümer und die Generalvikare. Hier deutet sich schon an, was später noch zu explizieren sein wird, nämlich die Wahrnehmung der Kirche als Konkurrenzinstitution. Vgl. Sitzung vom 01.03.1825, in: AyD, II, S. 145f., Zitate S. 146. Dieses Abstimmungsergebnis unterlegt zudem die im vorherigen Kapitel aufgestellte These von der sehr starken Orientierung am Ius solis-Prinzip und den Partizipationsrechten als „Vertrauensverhältnis“; vgl. hierzu auch den Abschnitt D.
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eine weitere Diskussion dieses Selbstverständnisses sei insbesondere auf das Kapitel über die Wahlen verwiesen. Hier interessiert zunächst die Gegenüberstellung zum Amt des Gouverneurs. Die Auflagen für die Ämter des Gouverneurs und seines Vertreters (Art. 59) unterstützen diese Einschätzung tendenziell. Sie waren höher als die für das der Abgeordneten, der Kreis der Wählbaren also beschränkter: Statt 25 musste man mindestens 30 Jahre alt sein, Ausländer sind hier vollständig ausgeschlossen, ebenso wie Geistliche oder Angestellte der Föderation (Art. 60). Wie einige andere Bestimmungen bei der Exekutive sich vor allem an denen der Föderation orientierten, galt auch in Michoacán, dass diese Ämter „mit Präferenz gegenüber jedem anderen“ (Art. 62) im Staate und somit auch gegenüber denen des Abgeordneten einzunehmen waren. Das Amt sollte somit nur besonders vertrauenswürdigen Personen übertragen werden, die keinem anderen (staatlichen) Vertrauensverbund angehören durften. In der Regelung der jeweiligen Amtszeit der beiden Gewalten manifestierte sich gegenüber der Exekutive ein gewisses Misstrauen, womit das Grundmotiv für deren schwächere Position benannt ist: Wie von der Constitución federal gefordert, wurde die Amtsdauer des Gouverneurs und seines Vertreters festgelegt, und zwar in fast minutiöser Art und Weise: „Am genau gleichen Tag [dem 6. Oktober] nach vier Jahren weichen sie aus ihren Funktionen“, auch wenn dann noch keine „konstitutionelle Wahl“ (Art. 65) des Nachfolgers stattgefunden haben sollte. 53 Für diesen Fall tritt der schon angeführte Artikel 66 mit der interimistischen Wahl eines Vertreters aus dem Kreise der Consejeros in Kraft. Eine Wiederwahl des Gouverneurs war erst nach einer dazwischen liegenden Amtsperiode möglich (Art. 61). Im Gegensatz dazu konnten Abgeordnete sofort wiedergewählt werden. Auch ist für sie das Ende der zweijährigen Amtszeit nicht festgeschrieben, es ergibt sich vielmehr mit dem Antritt des nächsten Kongresses. Die direkte und unbegrenzte Wiederwahl war im frühen hispanisch-mexikanischen Konstitutionalismus keine Selbstverständlichkeit: Cádiz verbot sie ebenso wie sechs Bundesstaaten. 54 Allerdings war auch der Kongress in der Festlegung seiner Sitzungsperiode an die Verfassung gebunden: So fand der Tag des erstmaligen Zusammentreffens des Kongresses Eingang in
53 Vgl. eine ähnliche Regelung für den Präsidenten Mexikos in Constitución federal, Art. 95. 54 Von diesen sechs Bundesstaaten ermöglichten zwei lediglich eine einfache Wiederwahl (Chiapas und Durango), Veracruz untersagte sie grundsätzlich, allerdings konnte das Verbot mittels Zweidrittelmehrheit in der Wahlversammlung umgangen werden (Art. 26), ein generelles Verbot erließen Oaxaca, Tabasco und Yucatán. Zudem untersagte Coahuila y Texas die Wahl der Mitglieder der Konstituante in den ersten ordentlichen Kongress (Art. 96).
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das Grundgesetz (Art. 26), unter anderem „weil dieser Akt eine der erinnerungswürdigen Epochen des Staates bildet“55. Weiterhin hatte die Konstituante jährlich dreieinhalb Monate mit täglichen Sitzungen veranschlagt, unterbrochen nur durch „religiöse Feiertage und nationale, sehr feierliche Feste“ (Art. 29). Die Kommission hatte zunächst nur 90 Tage vorgeschlagen, da sie den Kongress mit denen der anderen Staaten „verbrüdern“, also angleichen wollte. Rayón warf dagegen erfolgreich ein, man bräuchte „fast zwei Monate ... für die erste Einrichtung“ 56 . Nur der erste Kongress sollte laut Verfassung, Artikel 30, sechs bis acht Monate jährlich tagen, mit der von Huarte gelieferten Begründung, dass „das aktuelle Regierungssystem so neu sei“, dass noch viele Gesetze zu bearbeiten seien. Villaseñor hatte erklärt, dass „nur die Gesetzgeber von México und von Jalisco, wegen ihrer großen Bildung“ 57 in weniger als acht Monaten fertig werden könnten. Regulär sollten die jährlichen Arbeitsperioden um maximal 30 Arbeitstage verlängert werden können. Während der Zwischenzeiten übernahm die aus fünf Abgeordneten bestehende Diputación permanente die Geschäftsführung des Kongresses (Art. 41 und 43).58 Allerdings sollten alle Abgeordneten jeweils an den ihnen zugewiesenen Gesetzesprojekten weiterarbeiten und dafür in der Hauptstadt bleiben. Im Gegenzug sollten sie dafür auch einen Teil ihrer Diäten weiter beziehen. 59 „Wegen eines gewichtigen Anlasses“ (Art. 34) von der 55 Das letztliche Festschreiben des 6. Augustes wurde neben der aktuellen Zeitnot (vorher dachte man an den 15. Juli als Termin) damit begründet, dass „zu diesem Akt die Feierlich-keit dieses Tages [beitrage], da dieser der des Heilands der Welt und des Schutzheiligen für die Hauptstadt des Staates“ sei. Vgl. Sitzungen vom 27.02., 28.02., 03.03. bzw. 22.06.1825, in: AyD, II, S. 147f., 150f., 153 bzw. 339, Zitate S. 150 bzw. 339. Anmerkung: Der 6. August ist im Christentum der Feiertag der Verklärung Christi. 56 Sitzung vom 03.03.1825, in: AyD, II, S. 154; vgl. auch Sitzung vom 09.04.1825, in: AyD, II, S. 220f. 57 Sitzung vom 20.04.1825, in: AyD, II, S. 245. 58 Die Aufgaben der Diputación permanente sind in Artikel 43 aufgelistet: Neben der Bewachung der föderalen sowie staatlichen Verfassungen und Gesetze gehörte dazu die Einberufung des Kongresses zu Extrasitzungen und Überprüfungs- und Hilfsaufgaben bei den Wahlen. Sie hatte zudem am Ende der Legislaturperiode die neuen Abgeordneten zu empfangen (Art. 39) und in Abwesenheit des Kongresses den Schwur des Gouverneurs entgegenzunehmen (Art. 68). Die Diskussion über diese Institution zeigte, dass man ihr im Vergleich zu den Vorschlägen der Kommission noch weitere Befugnisse, wie Notfallerlasse, wegnahm. Huarte hielt sie, da sie keine legislativen Aufgaben übernehmen dürfe, sogar für gänzlich überflüssig, nur Jalisco habe sie etabliert; vgl. Sitzung vom 15.03.1825, in: AyD, II, S. 188-190. 59 Vgl. Reglamento para el Gobierno interior de las Legislaturas del Estado (21.07.1825) / Art. 220, in: RdL, II, S. 40. Im Folgenden abgekürzt mit: Reglamento (21.07.1825).
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Diputación permanente einberufene Extrasitzungen durften sich nur mit ebendiesem Anlass beschäftigen. Das Thema der Immunität stützt einerseits die These von der beanspruchten parlamentarischen Höherrangigkeit, weist aber andererseits wieder auf das Misstrauen als implizite Begründung hierfür hin sowie auf erste, sich daraus ergebende Konsequenzen. Die Constitución federal hatte in Artikel 158 als Vorgabe für die einzelstaatlichen Verfassungen festgeschrieben, dass Abgeordnete nur „in der Zeit und in der Art, die diese [Verfassungen] verfügen, absetzbar“ seien, dass sie sonst also nicht anklagbar und absetzbar waren. Die Verfassung Michoacáns nahm das auf und legte allgemein die Immunität und die Unverletzbarkeit der Deputierten wegen bei der Ausübung des Amtes geäußerter Meinungen fest: „Und auf keinem Fall und zu keiner Zeit können sie von irgendeiner Autorität gerichtlich belangt werden“ (Art. 36). Rayón hatte in der Sitzung vom 7. März 1825 beantragt, die Unverletzbarkeit auf „politische“ Äußerungen zu beschränken und auf „solche, die nicht das katholische Dogma angreifen“. Die Kommission lehnte diese Einschränkung jedoch ab, da man als Abgeordneter sowieso katholisch sein musste. Hingegen schlug sie erfolgreich vor, die Phrase „bei der Ausübung ihres Auftrags“ einzufügen:60 Bei der Ausübung ihres Mandats – und auch noch einen Monat darüber hinaus – genossen die Abgeordneten also eine uneingeschränkte Immunität. Entsprechend konnte sie laut Verfassung nur nach einem aufwändigen Verfahren aufgehoben werden, nämlich nach der Genehmigung durch das Parlament in Funktion des Gran jurado und durch ein eigenes Tribunal (Art. 36f. und 42/4f.). Die Parlamentarier genossen also einen hohen Schutz.61 Für den Gouverneur hingegen legten die Verfassungsväter in Artikel 71 ausdrücklich fest, dass er nur „während“ seiner Amtszeit Schutz vor Anklage genoss. Außerdem nahmen sie im Gegensatz zur Regelung für die Abgeordneten explizit einige Tatbestände auf, bei denen dieser Schutz nicht galt. Villaseñor hatte zwar selbst diese eingeschränkte Immunität als „Privileg“ abgelehnt, Huarte verteidigte die Regelung hingegen mit dem Hinweis, der Gouverneur habe „tausend Feinde, die ihn bei jedem Schritt anklagen würden“, was wiederum seine „Operationen paralysieren ... und seine höchste Autorität Vgl. auch die entsprechende Diskussion, in der Villaseñor forderte, die Abgeordneten müs-sten immer in Valladolid sein, um „die ausgewähltesten Autoren“ zu studieren und „alle not-wendige Bildung aufzunehmen“: Sitzung vom 09.05.1825, in: AyD, II, S. 283f. 60 Vgl. den Kommentar der diesen Artikel vorschlagenden Kommission: Del Poder Legislativo ... bzw. La Comision del Poder Legislativo ..., Art. 13, jeweils in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, s./f.. bzw. f. 13v., Zitate f. 13v. 61 Die entsprechenden Diskussionen sind leider kaum überliefert, ihre Fixierung schien jedoch unbestritten.
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drücken“62 würde. In der Endredaktion setzte sich Villaseñor zumindest damit durch, auch „grausame Verbrechen“ in die Liste der möglichen Anklagepunkte aufzunehmen. So findet sich im Gegensatz zu den Abgeordneten für die Exekutive auch für die Zeit der Amtsführung eine Liste von möglichen anklagefähigen Handlungen. Er genoss also keine uneingeschränkte Immunität. 63 In den genannten Fällen hatte dann der Gran jurado über die Zulassung und Einsetzung von Anklagen vor dem Obersten Gericht (Supremo tribunal de justicia) zu entscheiden (Art. 42/4). Außerdem durfte der Gouverneur bezeichnenderweise in den sechs Monaten nach seiner Amtszeit auch wegen „jedweder Delikte“ (Art. 72) aus seiner Amtszeit zur Verantwortung gezogen werden – eine Regelung, die für die Abgeordneten nicht getroffen worden war. Sie kann durchaus als Warnung Richtung Gouverneur verstanden werden. Der Kongress war in solchen Fällen ermächtigt, „darüber zu verfügen, dass [der ExGouverneur] zur Verantwortung gezogen wird“ (Art. 42/5). So liegt die Vermutung nahe, dass es weniger darum ging, dem Gouverneur die Meinungsund Handlungsfreiheit zu garantieren, sondern vielmehr zu gewährleisten, dass die „Operationen“ der Regierung nicht „paralysiert“ werden. Im Vergleich der beiden Gewalten fällt besonders die jeweilige Perspektive auf: Während für den Gouverneur die Möglichkeit, ihn anzuklagen und verantwortlich zu machen, in den Vordergrund gestellt wurde, galt es die Parlamentarier vor möglichen Anklagen zu schützen – womit sie eine tendenziell ähnliche Behandlung wie der König in Cádiz erfuhren. In Artikel 168 hieß es dort: „Die Person des Königs ist heilig und unverletzlich und niemandem gegenüber verantwortlich“. Für die Verfassungsväter lag die Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative beziehungsweise die Überordnung letzterer also nicht nur in der unmittelbareren Legitimation begründet. Vielmehr betrachteten sie es aus Misstrauen diesem gegenüber als notwendig, die Exekutive unter die Kontrolle des Kongresses zu stellen. Aus der Debatte um die Immunität des Gouverneurs, aus der Bezeichnung dieser als „Privileg“ beziehungsweise ihrer Begründung unter dem 62 Sitzung vom 04.05.1825, in: AyD, II, S. 276. 63 Während der Amtszeit konnte er nur vor dem Kongress angeklagt werden, und nur wegen „Verrat gegen die nationale Freiheit und Unabhängigkeit oder gegen die Regierungsform, wegen Bestechung oder Verhinderung der Wahlen oder des Amtsantritts des Gouverneurs, Vizegouverneurs, der Consejeros oder Abgeordneten, oder wegen grausamer Verbrechen“ (Art. 71). Die Consejeros konnten laut Verfassung auch während der Amtszeit für all ihre Amts-handlungen verantwortlich gemacht werden. Der erste Entwurf für den entsprechenden Artikel 86 sah noch vor, dass sie sich vor dem Kongress zu verantworten hätten, Villaseñor erwirkte jedoch mit dem Argument „kein Funktionär sei vor dem Kongress oder einer anderen Autorität, sondern vor dem Gesetz verantwortlich“ (Außerordentliche Sitzung vom 16.04.1825, in: AyD, II, S. 242) die Streichung dieser Auflage.
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Hinweis auf „tausend Feinde“ lässt sich annehmen, dass das Misstrauen nicht zuletzt auf die menschlichen, nicht-institutionellen Eigenschaften des Gouverneurs zurückzuführen ist. Im Zusammenhang mit dem Kongress scheinen diese Eigenschaften als nicht erwähnenswert, er tritt vielmehr als über-menschliche Institution auf. Dies wird auf den folgenden Seiten weiter zu verfolgen sein. Die sich jetzt anschließende Behandlung der jeweiligen Kompetenzen unterstreicht die Absicht der Constituyante, dem Kongress als Vertretung des souveränen Volkes nur eine schwache Exekutive gegenüberstellen zu wollen. Diskussionen hierzu sind leider nur recht spärlich überliefert, die in der Verfassung verankerten Artikel ergeben jedoch ein klares Bild. Entsprechend lässt sich die Definition der jeweils primären Funktion lesen: Während es „exklusiverweise dem Kongress zukam: Erstens, Gesetze für die innere Verwaltung des Staates zu diktieren, sie zu interpretieren und notfalls zurückzurufen“ (Art. 42/1), lag die primäre Aufgabe des Gouverneurs im „Verkünden, erfüllen Lassen und Exekutieren der Gesetze und Dekrete des Kongresses“ (Art. 73/1). Die Exekutive wird demnach wörtlich zum rein ausführenden, „programmierten“ 64 Organ, zum verlängerten Arm des programmierenden Kongresses. Neben der generellen Bindung der Exekutive an vorgegebene rechtliche Normen lassen sich bei fast allen weiteren Befugnissen des Gouverneurs (Art. 73/1-9 und Art. 75/1-7) spezielle Verweise auf partikulare und / oder föderale Verfassungs- und Gesetzesvorgaben oder auf Konsultationspflichten finden. So sollte er über die „öffentliche Ordnung im Inneren und die Sicherheit des Staates im Äußeren wachen, in Übereinstimmung mit dessen Verfassung und Gesetzen und denen der Föderation“ (Art. 73/2). Dazu stand ihm die staatliche Miliz zur Verfügung (Art. 73/3), die er allerdings – die Kompetenzbeschränkung folgt sofort – nicht ohne die Zustimmung des Kongresses anführen durfte (Art. 76/1). Im Rahmen der „Verfassung und Gesetze“ (Art. 73/4) war er befugt, die Ämter des Staates zu besetzen – wie oben gesehen, war er dabei an den Consejo gebunden. Nur bei der Ernennung seines Sekretärs war er ungebunden (Art. 73/5). Er hatte weiterhin „für die beste Regierung in der öffentlichen Verwaltung Reglements“ (Art. 73/7) zu erarbeiten, die dann der Kongress genehmigen musste. In der Justiz sollte er auf eine „baldige und angemessene“ Verwaltung der Tribunale achten und darauf, dass die „Strafen ausgeführt werden, ohne sich während dieser Aufsicht in das Verfahren einzumischen“. Auch in der Steuerverwaltung sollte er die vom Kongress angeordnete Eintreibung und Investition der Steuern überwachen (Art. 73/9). Ähnlich sieht es bei den in Artikel 75 niedergelegten Befugnissen des Gouverneurs aus: 64 Zippelius: Staatslehre, S. 326.
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So durfte er „den Kongress um die Verlängerung seiner Sitzungen bitten, um die in dieser Verfassung vorgeschriebene Zeit“ (Art. 75/1) und zusammen mit dem Consejo bei der Diputación permanente die Einberufung von außerordentlichen Sitzungen anfordern (Art. 75/2). Hinzu kamen, wie gesehen wieder in Übereinstimmung mit dem Consejo, die Möglichkeiten bezüglich der Ernennung von staatlichen Angestellten. Bei Klagen gegen einen Richter, durfte er, wenn sie „fundiert erscheinen“, diesen vorläufig suspendieren, bevor das zuständige Gericht endgültig entschied (Art. 75/6). Strafen durfte er per Anordnung in einer Höhe von bis zu 50 Pesos verhängen (Art. 75/7), aber nicht ausführen (Art. 76/4). Anders als bei der Legislative verfasste der Kongress für die Exekutive zudem eine ausdrückliche Auflistung über die Pflichten (Art. 74/1-9), vor allem Aufsichts-, Auskunfts- und Publikationspflichten gegenüber dem Kongress und dem Consejo. Besonders zu erwähnen ist die Pflicht, einen vorläufigen Staatshaushalt vorzulegen (Art. 74/5). Gestaltenden Einfluss zog das allerdings nicht nach sich, da auch hier der Kongress die Entscheidungsbefugnis besaß. Das gleiche galt für die Pflicht, dem Kongress über den „Stand der öffentlichen Verwaltung in allen Bereichen“ (Art. 74/6) Rechenschaft abzulegen. Hier konnte er lediglich Vorschläge zur Verbesserung vorlegen. Hinzu kam eine weitere Liste über die Einschränkungen der Exekutive (Art. 76/1-6): Ohne die Zustimmung des Kongresses durfte er sich nicht mehr als fünf Leguas65 oder mehr als acht Tage aus der Hauptstadt entfernen (Art. 76/5). Es war ihm verboten zu enteignen, es sei denn bei „bekanntem allgemeinen Nutzen“ (Art. 76/2), dann aber nur unter Zustimmung des Kongresses und gegen Entschädigung. Festnahmen waren ihm nur zur Gewährung des „Wohls und der allgemeinen Sicherheit“ (Art. 76/3) für die Dauer von maximal 48 Stunden möglich. Als weiteres selbständiges Recht ist die Gesetzesinitiative hervorzuheben, das der Gouverneur wie auch die Abgeordneten, der Consejo, die obersten Gerichte und die Ayuntamientos besaß (Art. 44).66 Allerdings blieb es bei einem reinen Vorschlagsrecht, ernsthaften Einfluss auf den weiteren Gesetzgebungsprozess hatte der Gouverneur nicht. So gestand man ihm nur ein sehr eingeschränkt aufschiebendes Vetorecht zu und nicht einmal dieses durfte er allein ausüben: Erst nach Anhörung seines Rates durfte der Gouverneur innerhalb von zehn Tagen nach Erhalt eines Gesetzes Einspruch einlegen (Art. 70 mit
65 Eine „spanische Meile“ entspricht ca. 5,57 km. 66 Den Parlamenten der anderen Bundesstaaten wurde das Initiativrecht allerdings, entgegen dem ersten Vorschlag, verweigert.
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47).67 Danach war ein Einspruch nach Artikel 50 explizit nicht mehr möglich. Dieses Veto konnte der Kongress mit einfacher Mehrheit überstimmen (Art. 49). Hier zeigt sich die deutlich stärkere Position der Exekutive auf Bundesebene: Dort mussten vom Präsidenten zurückgewiesene Gesetzesprojekte mit Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern verabschiedet werden, ansonsten durften sie ein Jahr lang nicht mehr eingebracht werden.68 Letzteres galt auch für Michoacán (Art. 53), allerdings konnte der Einspruch der Exekutive eben sehr viel leichter umgangen werden. Der Kongress konnte hier den gouvernementalen Einspruch sogar gänzlich umgehen, indem er von vornherein das Gesetz mit Zweidrittelmehrheit als „dringend“ (Art. 54) qualifizierte. Nach endgültigem Beschluss des Gesetzes war der Gouverneur verpflichtet, „die Gesetze in feierlicher Weise zu veröffentlichen“ (Art. 51), erst danach entwickelten sie obligaten Charakter (Art. 52).69 Der Gouverneur erscheint wieder weitgehend als „programmierte“ Gewalt ohne großen Einfluss auf die politische Gestaltung. Diese blieb dem Kongress vorbehalten. Wenn der Kongress nach Artikel 56 die gouvernementale Beratung eines Gesetzesprojektes verlangte, durfte lediglich der Secretario del gobierno oder einer der Consejeros als „Sprecher“ vor dem Kongress auftreten. Neben der Verfassung bringt das die Geschäftsordnung des Kongresses besonders deutlich zu Tage: „Der Gouverneur oder der Vizegouverneur des Staates präsentieren sich nicht vor dem Kongress außer in den in der Verfassung vorgesehenen Fällen“70. Diese „vorgesehenen Fälle“ sind neben seinem Schwur vor dem Kongress zum Amtsantritt die rein zeremoniellen Eröffnungen und Schließungen des Kongresses (Art. 32 und 67).71 Die Denkschrift (Memoria) der Regierung über den Stand der öffentlichen Verwaltung musste ebenfalls der Staatssekretär vorlegen (Art. 33).72 Wie in Cádiz befürchtete man sonst eine nicht gewollte Beeinflussung der legislativen Beratungen. 67 Die Zeit verlängerte sich nach Artikel 48 dann, wenn der Einspruch „unmittelbar“ vor dem Schluss der Kongresssitzungen erfolgte, und zwar bis zum vierten Tag nach der Wiedereröffnung. 68 Vgl. Constitución federal, Art. 55f. 69 Vgl. auch Sitzung vom 21.03.1825, in: AyD, II, S. 195-198. 70 Reglamento (21.07.1825) / Art. 174, in: RdL, II, S. 33. 71 Vgl. auch die entsprechende Regelung der Verfassung von Cádiz, Art. 124. 72 Dies hatte in schriftlicher Form am Tag nach der Eröffnung des Kongresses zu geschehen. Diese Festlegung hatte einer längeren Diskussion bedurft, in der sich der Kongress erst nach vier Sitzungen dagegen ausgesprochen hatte, dass auch ein Richter der obersten Gerichte und der Schatzmeister ihre Memorias über den ihnen unterstehenden Bereich zu präsentieren hatten; vgl. Sitzungen vom 04.03., 07.03. bzw. 08.03.1825, in: AyD, II, S. 159f., 171f. bzw. 173f. Das Protokoll der vierten Sitzung ist nicht überliefert, allerdings geht aus einer Mitschrift der Kommission vom 24. März
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Bei der Aufzählung der Attribute des Kongresses hingegen fällt zum einen das Fehlen eines Pflichten- und eines Verbotskatalogs auf sowie die sehr viel seltenere Rückbindung an gesetzliche Normen oder an Beratungspflichten mit anderen Gewalten. Zum anderen ist eine große Bandbreite von Befugnissen erkennbar: Der einschlägige Artikel 42 umfasst 31 Unterpunkte und der letzte kommt angesichts des weiten Verständnisses von Legislativtätigkeiten einer Generalklausel sehr nahe: „Zuletzt gehört zu seinen Befugnissen alles, was der legislativen Ordnung korrespondiert, solange es nicht der Constitución federal oder der einzelstaatlichen [Verfassung] zuwider läuft“. Wie gesehen, zählte auch die „Interpretation“ von Gesetzen zu den Exklusivaufgaben des Kongresses, eine Kompetenz, die zwar nicht näher definiert wurde, die aber, wie noch gezeigt wird, im umfassenden Sinne verstanden wurde. Dass sich der Kongress seine Geschäftsordnung (Reglamento interior) selbständig erarbeiten und er in ihr jederzeit „die Reformen, die er für notwendig hält“ (Art. 28), umsetzen konnte, galt als selbstverständlich – dies fällt insbesondere im Vergleich zu schwachen parlamentarischen Regierungssystemen in Europa auf, wo die Exekutive die Geschäftsordnung als „Mittel der Disziplinierung, Kontrolle und Lenkung des Parlamentes“73 oktroyieren konnte. Neben der Gesetzgebung besaß der Kongress die alleinige Kompetenz der Wahl der Richter des Obersten Gerichtshofs. Auf föderaler Ebene hatte dies noch lang anhaltende Diskussionen nach sich gezogen, hier galt sie als selbstverständlich: Nur das Parlament, nicht aber die Exekutive durfte auf die Ernennung der obersten Richter Einfluss ausüben. 74 Hinzu kam auf partikularstaatlicher Ebene die Wahl des Schatzmeisters (Art. 42/10) beziehungsweise auf der föderalen die Wahl der Senatoren und die Abstimmung über den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die Richter des Obersten Gerichtshofes der Föderation (Art. 42/9). Weiterhin erhielt der Kongress Überprüfungsaufgaben bei den Kongress- und Gouverneurswahlen (Art. 42/2 und 3) und, wie schon oben gesehen, die Wahl der Exekutive. Somit gingen bis auf die Bestimmung der Ayuntamientos alle zentralen Wahlentscheidungen, die die politische Vertretung des Volkes betrafen, vom Kongress aus. Weiterhin zählte zu den parlamentarischen Aufgaben der Erlass von Wahlgesetzen für den Congreso general im Rahmen der föderalen Verfassung (Art. 42/8), von Gesetzen und Maßnahmen zur Förderung der öffentlichen Bildung und der Wissenschaften (Art. 42/22), der Wirtschaft und der „allgemeinen Prosperität“ (Art. 42/23) ebenso wie für Kolonisierungsmaßnahmen (Art. hervor, dass bis dahin der Artikel ab-schließend behandelt worden war; vgl. Examinadas por la Comisión ..., in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, S. 11. 73 Götschmann: Parlamentarismus, S. 209. Vgl. zur Geschäftsordnung das Kapitel F I. 74 Vgl. Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 231-253.
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42/29). 75 Hinzu kam die Befugnis, „diejenigen, die dem Staat ausgezeichnete Dienste geleistet haben“, zu „Wohlverdiensteten im heroischen Maße [Beneméritos en grado heroico]“ (Art. 42/19) zu erklären76, sowie die Regelung der Musterung und Ausbildung der staatlichen Miliz (Milicia civica del estado) und der Bereitstellung des Anteils an Soldaten für die föderale Milicia activa y permanente (Art. 42/20 und 21). Im Rahmen der Steuer- und Finanzverwaltung hatte der Kongress die Ausgaben des Staates, unter anderem die Gehälter, Pensionen und Diäten festzulegen – und zwar nach „Durchsicht“ (Art. 42/11) der vorläufigen Finanzplanung der Exekutive (vgl. auch Art. 42/15). Die gouvernementale Vorlage entfaltete demnach keinen bindenden, sondern nur orientierenden Charakter. Danach dekretierte der Kongress die für die Ausgaben benötigten Steuern und Beiträge (Art. 42/12), wobei die dem Staat zugeschriebenen Abgaben an die Föderation besondere Erwähnung fanden, ebenso wie die Möglichkeit, „für Ziele des allgemeinen Nutzens“ (Art. 42/16) Schulden aufzunehmen.77 Somit nahm die Legislative auch in diesem in der Praxis oft entscheidenden Gestaltungsbereich die Monopolstellung für sich in Anspruch, der Exekutive verblieb lediglich eine beratende Funktion.78 Gegen diese Konzentration an Kompetenzen kam nur vereinzelt Kritik auf, wie bei der Diskussion um die Befugnis des Congreso, Gebührenordnungen und Reglements jeglicher Art zu genehmigen. Gegen die Auflage, dabei zuerst die Stellungnahme der Regierung einholen zu müssen, wandte Huarte unterstützt von Pastor Morales zunächst ein, dies sei eine „unschickliche Behinderung ...; und auf keinen Fall dürfe man ihn [den Kongress] an die Regierung binden“. Während sie also beim Kongress die Entscheidungskompetenz verankert sahen, drehte Villaseñor als Angehöriger der vorschlagenden Kommission die Argumentation um: „Man muss immer vermuten, dass die notwendige Bildung und die Kenntnisse in der Regierung und nicht im Kongress liegen“, wenn es um das „Wohlergehen und die öffentliche Ruhe“ geht. Außerdem müsse man nach ihm „in irgendeiner Weise den Despotismus“, in den die Parlamente verfallen könnten, unterdrücken. Auch Rayón plädierte für ein System des Checks 75 Vgl. zur Umsetzung auch Kapitel E. Wie schon erwähnt, hatte der Kongress auch die Aufgabe, an Ausländer Naturalisierungsurkunden zu verleihen bzw. die interne División territorial und mit den Anrainerstaaten den Grenzverlauf zu regeln (Art. 42/27 bzw. 28). Als weitere Aufgabe sollte der Kongress die Grundlagen für eine allgemeine Statistik des Staates legen (Art. 42/30). 76 Demnach sollte der Staat auch „öffentliche Ehrerweisungen zum Gedenken an diese“ Helden des Staates erklären. 77 Hinzu kamen kleinere Aufgaben wie die Approbation der Rechnungen der öffentlichen Hand und die Regelung des Umgangs mit den staatlichen Gütern (Art. 42/13 und 14). 78 Vgl. hierzu auch Verfassung von Michoacán, Titel V, Art. 184-192.
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and balances und für die Gewaltenverschränkung, da man vereinbart hatte, dass der Kongress bei „jeder Angelegenheit durch die Regierung informiert“ werden solle.79 In der Endfassung blieb der Artikel erst nach der dritten Abstimmung mit dem Mitspracherecht der Regierung erhalten (Art. 42/18). Auch bei der Frage um den Standort von Legislative und Exekutive plädierte Rayón aus ähnlichen Erwägungen heraus für die Verankerung eines gemeinsamen Ortes. Nach ihm sprachen dafür neben pragmatischen Aspekten (Kostensenkung sowie effektivere Verwaltung) Gründe der „angemessenen Harmonie“, außerdem „wäre die Anwesenheit der einen [Gewalt] in gewisser Weise eine Art von Zügel ... der anderen“. Der amtierende Präsident Agustín Aguiar stellte hingegen heraus, dass sie keine „Verbindung untereinander hätten“, getrennt voneinander mehr Freiheiten besäßen und aus ihrem Zusammentreffen wie im Antiguo régimen eher Missbrauch hervorgehen würde; Vorteile wären erst in der Praxis erfahrbar, so dass eine Fixierung der Standorte in der Verfassung nicht sinnvoll sei. Huarte wies auf die „absolut unterschiedlichen und gegensätzlichen Prinzipien“ im Vergleich zum alten Regime hin – dort seien es keine gleichberechtigten Autoritäten gewesen. Deswegen gehöre der Vor-schlag in die Verfassung. Dem wurde mehrheitlich gefolgt (Art. 210). Durch die Festlegung, der Kongress tage in der Hauptstadt (Art. 26), waren dadurch auch die anderen Gewalten an Valladolid gebunden, nur durch eine Zweidrittelmehrheit des Kongresses konnte der Sitzungsort bei mit Zweidrittelmehrheit festgestellten „außerordentlichen Fällen … vorübergehend“ (Art. 27) 80 geändert werden. So lassen sich zwar ansatzweise Tendenzen erkennen, die für den Ausgleich zwischen den Gewalten eintraten und die einen parlamentarischen Despotismus befürchteten. Unter dem Strich hat die Diskussion bis hierher jedoch deutlich gemacht, dass die Verfassungsväter auf eine weitgehende Beschränkung der Eigenständigkeit und somit des originären Gewaltcharakters der Exekutive abzielten. Die Diskussion um die Gewährung von Gnade bietet einen aussagekräftigen Abschluss für diesen Abschnitt. Diese Kompetenz seitens der Obrigkeit gilt als eines der ältesten und am weitesten verbreiteten Rechtsinstitute. Durch die Begnadigung verbindet sich die staatliche Ordnung mit einer angenommenen vor- beziehungsweise überpositiven, vermeintlich wahren Gerechtigkeit. Der Staat verzichtet hier also auf seinen Strafanspruch, auf die Durchsetzung des unpersönlichen (Straf-)Rechtssystem und gewährt stattdessen persönliche Ge79 Vgl. Sitzung vom 07.04.1825, in: AyD, II, S. 214f., Zitate ebd. 80 Den Zusatz „vorübergehend“ erhielt der Artikel 27 erst auf Antrag Huartes, da es sonst „sehr gut passieren könnte, dass er [der Kongress] ohne Unterschied seinen Sitz in irgendeinem Teil des Staates festlegen würde“ (Sitzung vom 03.03.1825, in: AyD, II, S. 153f).
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rechtigkeit.81 Bei der Diskussion eines Vorschlags, der dem Kongress die Gewährung von persönlich-individuellen Begnadigungen zuwies, stellte Huarte dies als „sehr problematisch“ heraus, da durch individuelle Gnadenakte die Gleichheit vor dem Gesetz in Frage gestellt wird. Er postulierte deswegen, dass sie als die „Anwendung“ und „Exekution“ eines allgemeinen Gesetzes einzig Aufgabe der Exekutive sein dürfen. Der Kongress als Repräsentant des Souveräns durfte demnach nur generelle Begnadigungen gewähren, die die Exekutive dann auf die Einzelfälle anzuwenden hatte. Pastor Morales verteidigte den anfänglichen Entwurf und plädierte gegen das exekutive Begnadigungsrecht: Man dürfe der Exekutive „keine Möglichkeiten zum Interpretieren des Gesetzes geben“, da sie so „die Gesetze zerstören“ würde. Die bezeichnende Begründung folgte auf der Stelle: Die Exekutive sei „nicht frei von Intrige und anderen Sachen, für die die menschliche Bosheit [Malicia humana] empfänglich ist“. Huarte widersprach diesem Argument nicht, sondern kritisierte lediglich die daraus gezogene Schlussfolgerung: Da man die Regierung bei einem „Fehler in der Erfüllung ihrer Pflichten“ zur Verantwortung ziehen könne, könne man ihr diese Kompetenz übergeben, „nicht aber dem Cuerpo legislativo, da dieser unverletzlich ist“ 82 . Während also der Gouverneur zur Malicia humana neigt, ist die legislative Körperschaft unverletzlich. Während also dem Gouverneur wegen seiner menschlichen Eigenschaften, der Malicia humana, zu misstrauen war, konnte der unverletzlichen, da souveränen Institution des Kongresses Vertrauen entgegengebracht werden. Entsprechend sah der Kompromiss aus: Allein der Legislative oblag es, per Gesetz die Tatbestände für allgemeine Begnadigungen festzulegen (Art. 42/25). Der Gouverneur war dann in „Anwendung des Gesetzes“ (Art. 75/5) ermächtigt, persönliche Begnadigungen auszusprechen.83 Die „menschliche Bosheit“ wurde durch das Gesetz und durch die parlamentarische Kontrolle eingehegt. Eine eigenständig-gestaltende Funktion kam der Exekutive somit lediglich bei Gesetzesvorschlägen zu – bezeichnenderweise auch hier nur unter dem Vorbehalt der parlamentarischen Zustimmung. In der Exekutive sahen die Abgeordneten vielmehr in erster Linie eine latente Bedrohung – es galt sie, wo immer möglich, per Gesetz oder Kontrollinstanz einzuhegen. Selbst ihr 81 Vgl. im Überblick zum Gnadeninstitut: Dimoulis: Begnadigung, S. 546-592; Merten: Rechtsstaatlichkeit. Dimoulis und Merten weisen daraufhin, dass es sich bei der Begnadigung nicht um einen Fremdkörper im rationalen Strafrechtssystem handelt, sondern vielmehr um ein Element, das das System flexibilisiert und zugleich dessen Legitimation erhöhen kann. 82 Vgl. Sitzung vom 12.03.1825, in: AyD, II, S. 184f., Zitate S. 185. 83 Zum Vergleich: Auch Preußen machte in seiner Verfassung 1850 die Kompetenz der Vergabe von „General-Begnadigungen“ zum Parlamentsrecht, während die „IndividualBegnadigung“ beim Monarchen verblieb; vgl. Merten: Rechtsstaatlichkeit, S. 13f.
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örtlicher und zeitlicher Bewegungsspielraum war offensichtlich kontrollbedürftig. Das Misstrauen gegen die Exekutive äußerte sich besonders deutlich darin, dass die Verfassungsväter über den grundrechtlich garantierten Eigentums- und Freiheitsschutz hinaus der Exekutive ausdrücklich verboten, in diese sensiblen Bereiche einzugreifen (Art. 76/2). Sie unterstellten der Exekutive damit ein latentes Gefährdungspotential. Und auf der anderen Seite beauftragten sie den Kongress zur Gewährleistung des Grundrechtsschutzes (Art. 42/24).
b. Die Aufgaben des Poder judicial: Der Aufbau des Rechtsstaates Die Judikative trat in ihrer Bedeutung im atlantischen Frühkonstitutionalismus gegenüber den beiden anderen Gewalten deutlich zurück. Bei John Locke besaß sie noch keinen eigenständigen Gewaltcharakter, war vielmehr wie in vielen europäischen Rechtssystemen, auch dem spanischen, Teil der exekutiven Gewalt. Auch bei Montesquieu, geistiger Vater der Dreiteilung mit einem starken Einfluss auf den mexikanischen Konstitutionalismus, war ihr Status noch unsicher. In seinem Hauptwerk De l’esprit des loix (Vom Geist der Gesetze, 1748) fordert er: „Die richterliche Gewalt darf nicht an einen dauernden Senat gegeben, sondern muß von Personen ausgeübt werden, die zu bestimmten Zeiten des Jahres in gesetzlich vorgeschriebener Weise aus der Mitte des Volkes entnommen werden, um einen Gerichtshof zu bilden, der nur so lange besteht, wie die Notwendigkeit es erfordert“. Sein Ideal erläutert er im Anschluss daran so: „Auf diese Weise wird die unter Menschen so schreckliche richterliche Gewalt … sozusagen unsichtbar und zu einem Nichts“84 – sie ist „in gewisser Weise gar nicht vorhanden (en quelque façon nulle)“85. Hingegen können nach ihm „die beiden anderen Gewalten … eher an obrigkeitliche Ämter oder dauernde Körperschaften vergeben werden, weil sich ihre Ausübung nicht gegen irgendeinen Einzelnen richtet“86. Die Judikative stand nicht zuletzt bei Montesquieu mehr als die beiden anderen Gewalten unter einem Generalverdacht, weswegen sie anders als heute auf die strikte Anwendung von Gesetzen reduziert werden sollte,87 ihr sollten im Gegensatz zur heutigen Rechtstheorie keine Interpretationsspielräume
84 85 86 87
Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 217. Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 220. Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 217. Vgl. Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 217.
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bleiben.88 Der Gesetzgebungsstaat sollte gegenüber dem Rechtsprechungsstaat weiter an Gewicht gewinnen: Die Rechtsprechung war eng an die vom Kongress gegebenen Gesetze zu binden. Die Legislative hatte eindeutig Vorrang gegenüber der Jurisdiktion. Unter dem Einfluss von Montesquieu etablierten die französische Verfassung von 1791, die spanische von 1812 sowie die föderale mexikanische von 1824 die Judikative als eigenständige dritte Gewalt, im Vergleich zu Legislative und Exekutive trat sie aber weiterhin deutlich zurück. 89 Andererseits sollte eine unabhängige Justiz dem Schutz individueller Freiheiten vor staatlicher Willkür dienen, spielte also bei der Etablierung von Rechtsstaatlichkeit eine zentrale Rolle. Nach der klassischen Gewaltenteilungslehre erhielt die Jurisdiktion im System der Gewalten hierbei die „Rechtsgewährleistungsfunktion“, also die Aufgabe, nach Maßgabe der Gesetze festzustellen, „was Rechtens ist“90. Neben der Gesetzesbindung und Gewaltenteilung zeichnet sich die moderne Rechtsstaatlichkeit durch eine Monopolisierung der Rechtsprechung in den Händen des Staates aus. Dieses Thema hat die Historiographie zu Mexiko bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.91In Mexiko, wie schon vorher in Cádiz, wurde das Postulat des staatlichen Rechtsprechungsmonopols durch die Sondergerichtsbarkeiten (Fueros) für die Angehörigen des Militärs und der Kirche durchbrochen.92 Auf der anderen Seite war die Monopolisierung durch das weitgehende Fehlen von (adlig-feudalen) Sondergerichtsbarkeiten in Amerika schon während der Kolonialzeit im Vergleich zu Europa relativ stark
88 Nach Eberl ist es „inzwischen in der Rechtstheorie Gemeingut, daß die richterliche Tätigkeit zu wesentlichen Teilen in der schöpferischen Leistung der Interpretation besteht“, da nicht alle Einzelfälle legislativ als regelbar erscheinen. Vgl. hierzu auch: Eberl: Verfassung, S. 7-9, Zitat S. 8f.; Campagna: Montesquieu S. 155-158. 89 Sowohl die französische als auch die spanische Verfassung sahen im König und im Parlament die Repräsentanten der Souveränität des Volkes, in den Richtern hingegen nicht. Vgl. die jeweilige Definition in: Verfassung von Cádiz, Art. 15-17; Constitución federal, Art. 6. Auch im deutschen Frühkonstitutionalismus herrschte zumeist das Zwei-Gewalten-Modell vor, in dem die Justiz Teil der Verwaltung und somit der Exekutive war; vgl. hierzu: Pahlow: Justiz; den Sammelband von Merten (Hg.): Gewaltentrennung (zur schwachen Stellung der dritten Gewalt insb. Diskussion zum Referat von Hans-Peter Schneider, S. 91f.); vgl. zum Einfluss von Locke und vor allem von Montesquieu auf den hispanischen Kon-stitutionalismus: Ferrer: Formación, S. 218-225; König: Weg, S. 124. 90 Zippelius: Staatslehre, S. 329. 91 Vgl. für eine Übersicht der föderalen Judikative nach der Constitución federal: Ferrer: Formación, S. 249-263. 92 Vgl. Constitution française (1791), Kap. V; Verfassung von Cádiz, Art. 249f.; Constitución federal, Art. 154; hierzu auch Bellingeri: Sistemas, S. 372.
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ausgeprägt.93 Und mit Ausnahme der Amtsträger der höchsten Gewalten unterstanden nach der Constitución federal die Angestellten und Funktionäre des Staates im Gegensatz beispielsweise zum Frankreich der Revolutionszeit und zu vielen Staaten des Deutschen Bundes der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nicht einer eigenen Administrativjustiz, die Teil der Exekutive war.94 In der Verfassung von Michoacán nahm die dritte Gewalt im Verfassungstext zwar einen breiten Raum ein, auf Grund fehlender Protokolle ist jedoch nur ein kleiner Teil der Debatten überliefert, weswegen nur eine eingeschränkte Auswertung erfolgen kann. In vielen Bereichen orientierte man sich an Normen der föderalen Verfassung. Die Positionierung in der Verfassung noch hinter den Titel Gobierno político-económico unterstreicht die obige These von der nach geordneten Stellung relativ zu den zwei anderen Gewalten, ebenso wie die Verlagerung der Diskussion an das Ende der Verfassungsdebatten. Für sie blieb kaum Zeit, die Diskussion fiel eher oberflächlich aus. So herrschte über den Stellenwert, den die dritte Gewalt im Verfassungstext einnehmen sollte, eine große Unsicherheit unter den Verfassungsvätern. Bei keinem anderen Titel der Verfassung wurde die Frage, was in das Grundgesetz gehörte und was nicht, so häufig gestellt. Schließlich umfasste der vierte Titel die größte Anzahl an Artikeln, nämlich 79 (Art. 115-183), viele weitere delegierte man an noch zu erarbeitende Zusatzgesetze. Die ersten Vorschläge zur Judikative hatten mit zwölf Artikeln einen noch wesentlich geringeren Umfang vorgesehen und insbesondere den Aufbau der Instanzen und allgemeine Grundsätze geregelt, während in den abschließenden Text zudem zahlreiche zivil- und strafrechtliche Verfügungen Eingang fanden. 95 Das erste Kapitel des Titels (Art. 115-119) 93 Vgl. zu Spanien zur Zeit der Verfassung von Cádiz: Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad, S. 233f.; zur ständischen Gerichtsbarkeit im Reich und der Etablierung einer unabhängigen Justiz als Versuch zur Errichtung von Territorialstaatlichkeit im Überblick: Pahlow: Justiz, S. 24f. u. 84-97. 94 Vgl. zur Differenzierung zwischen Justiz und Verwaltung sowie zur persönlichen Verantwortlichkeit der Angestellten im konstitutionellen Denken von Cádiz: Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad; zur Administrativjustiz: Pahlow: Justiz, S. 217-260; Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 120f. 95 Vgl. Sitzungen vom 06.05., 11.05., 08.06., 10.06., 11.06. bzw. 13.06.1825, in: AyD, II, S. 281, 289, 308/309, 313/314, 316 bzw. 318f. Der entsprechende Titel VI des ersten kompletten Verfassungsentwurfes vom 30. Oktober 1824 umfasste nur zwölf Artikel. Der Kommissionsvorschlag von Pastor Morales, Aguiar und Jiménez, erstmalig verlesen am 28. März 1825, enthielt 31 Artikel, von deren Debatte nur vier und ein Teil eines fünften Artikels über-liefert sind. Am 16. Mai legte die Kommission einen weiteren, 67 Artikel umfassenden Vorschlag vor, der die Grundlage der Debatte ab dem 21. Mai darstellte; vgl. diesen Entwurf: Titulo 3o Del Poder Judicial ... (16.05.1825), Art. 39-46, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. Andere Abgeordnete, wie z.B. Huarte und Villaseñor, lieferten im Verlauf der Debatte zusätzliche Projekte, die zum Teil integriert
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stellte einige Grundlagen für die gesamte Judikative auf, das zweite regelte die Organisation und Aufgaben der Gerichtshöfe (Art. 120-150), der dritte Verwaltung der Justiz im Allgemeinen (Art. 151-161) und der letzte die Verwaltung der Justiz im Strafrecht (Art. 162-183). Der folgende Abschnitt geht der Frage nach, inwiefern man bei den Verfassungsvätern Michoacáns davon sprechen kann, dass sie über die Verfassung die Etablierung von Rechtsstaatlichkeit, mithin den Schutz individueller Freiheiten vor staatlicher Willkür intendierten. Hierzu geht der Abschnitt in drei Schritten vor: Zunächst wird nach der Gesetzes- und Verfahrensbindung der Justiz im Sinne Montesquieus gefragt. Dies muss auf Grund fehlender Debatten stark abstrakt bleiben, dem Verständnis der Verfassungsväter kann hier entsprechend weniger nachgegangen werden. Im zweiten und dritten Teil steht die Frage nach der Unabhängigkeit der Justiz im Raum, und zwar zunächst auf Ebene der unteren, über das Land verteilten Gerichte und dann auf der Ebene der oberen Instanzen in der Hauptstadt. In diesen beiden Teilen folgt die Auseinandersetzung mit konkreteren, da stärker anwendungsbezogenen Vorstellungen. Zuerst lässt sich feststellen, dass die einleitend aufgestellten Rechtsstaatsprinzipien in der Verfassung Michoacáns gut wiederzufinden sind. Die Verfassungsväter legten folgende zwei Grundsätze des Poder judicial fest: „Das Recht wird im Namen des Staates gesprochen, in der Form, die die Gesetze vorschreiben“ (Art. 151) und: „Die Gewalt, die Gesetze im Zivil- und Strafrecht anzuwenden, liegt ausschließlich bei den Tribunalen“ (Art. 115). Damit sollte der Staat als Rechtsraum geschaffen werden, der sich durch einheitliche, eindeutige und schriftlich fixierte Normen sowie durch einheitliche und von den anderen Gewalten unabhängige Institutionen auszeichnet. Betont wird letzteres durch Artikel 116, in dem den anderen beiden Gewalten verboten wird, „funciones judiciales“ zu übernehmen. Die durch die Verfassung legitimierten Verfahren zeichnen sich durch ihre schriftliche Fixierung aus, die Eindeutigkeit herstellen sollen. Lokale Sitten und Gebräuche sowie das Gewohnheitsrecht als alternative, vormals gleichberechtigte Quellen der Jurisdiktion sollten verdrängt werden. Die Justizinstitutionen hatten sich allein nach den vorgegebenen, programmierten Verfahren und Normen zu richten, womit sie ihrer vorheriger Funktion als „Er-
wurden; vgl. Sitzung vom 06.05.1825, in: AyD, II, S. 280 bzw. H.C. La Comisión encargada del Proyecto del Poder Judicial ... (07.06.1825), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. Weswegen diese teilweise Verfassungsrang erhielten, ist den Protokollen leider nicht zu entnehmen.
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zeuger von Recht“ 96 beraubt werden sollten: „Die Tribunale dürfen keine anderen Funktionen ausüben, als die des Urteilens und des Veranlassens, dass das Geurteilte umgesetzt wird“ (Art. 117) und sie dürfen – hier lässt sich Montesquieu besonders gut erkennen – „die Gesetze nicht interpretieren oder ihre Umsetzung außer Kraft setzen“ (Art. 118). Die Systematisierung kasuistischer Praktiken der Rechtsprechung insbesondere im Derecho indiano sollte wie schon am Ende der Kolonialzeit weiter vorangetrieben werden.97 An zahlreichen weiteren Stellen wird die Gesetzesbindung der Justiz betont beziehungsweise deren Missachtung unter Strafe gestellt. Als ein zentrales Instrumentarium zu deren Schutz legten die Verfassungsväter fest, dass für „jeden Verstoß gegen die Einhaltung der Gesetze, die die Justizverwaltung regeln, die Richter persönlich verantwortlich“ (Art. 119) sind. Wie in Kapitel A III ausgeführt, sehen Lorente und Garriga hier für Cádiz, das eine analoge Regelung vorsah, einen grundsätzlichen Unterschied zur französischen Konzeption einer unpersönlichen Gesetzesanwendung und sprechen insofern von einem „régimen de la responsabilidad“. Diese Tradition setzte sich für beide Bereiche der Rechtsanwendung, neben der Judikative auch für die Exekutive, in Michoacán durch. An die Seite der Gesetzesbindung trat zu diesem Zweck die strenge Bindung an gesetzte Verfahren, was besonders im breiten Raum einnehmenden dritten Kapitel über die Verwaltung im Strafrecht erkennbar wird: Willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen sollten unterbunden, das Habeas Corpus-Recht fest in der Verfassung verankert werden.98 So waren Festnahmen nur unter Einhaltung festgelegter Verfahren und Zeitfenster erlaubt. Die Verfassung unterschied grundsätzlich zwischen dem Status eines vorläufig „Festgesetzten [Detenido]“ und dem eines „Gefangenen [Preso]“. Um jemanden als Gefangenen einstufen zu können, musste ihm vorher die vollständige Anklage vorgelegt werden (Art. 162). Die entsprechende Anordnung musste mit der Nennung der Motive und der des Zeugen von der zuständigen Autorität unterzeichnet worden sein. Der Angeklagte war dann dem Alcalde zu übergeben (Art. 164). Ohne diese Voraussetzungen konnte jemand lediglich „festgesetzt“, nicht gefangen genommen werden. Aber selbst für die Festsetzung brauchte es eine schriftliche Anweisung der entsprechenden Autorität und eines „halben 96 Bellingeri: Sistemas, S. 370. In vielen Fällen verwies die Verfassung auf Begleitgesetze, welche allerdings häufig lange nicht in Kraft traten, weswegen die überkommenen kolonialen Rechtscodices weiter in Kraft blieben; vgl. zum Strafrecht in Michoacán, dessen Codex erst 1881 in Kraft trat: Hernández Díaz: Orden; allgemeiner: Bellingeri: Sistemas, S. 380-382. 97 Vgl. hierzu und zu entsprechenden, bereits in Teil A und B angeführten Vorläufern: Tau Anzoátegui: Casuismo, v.a. S. 121-146 u. 354-367. 98 Vgl. dieses Kapitel in der Verfassung von Michoacán, Art. 162-183.
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[semiplena] Beweises“ oder stichhaltiger Indizien (Art. 165-167). Ohne Urteil durfte niemand mehr als sechzig Stunden festgesetzt werden (Art. 168). Nur für diesen Zeitraum konnte auch die Kommunikation des Festgenommenen mit anderen Personen verboten werden, für Presos verlängerte sich der Zeitraum auf maximal sechs Tage (Art. 169). Die Autoritäten, die diese Auflagen nicht beachteten, machten sich nach Artikel 172 der willkürlichen Verhaftung schuldig, und mussten entsprechend bestraft werden. Für die drei Kategorien (Presos, Detenidos, Incomunicados) sollten in den Gefängnissen eigene Abteilungen vorgehalten werden (Art. 182). Maximal 48 Sunden nach der Festnahme war der Prozess zu eröffnen (Art. 170). Die Verfassung sah für das gesamte Verfahren einen hohen Grad an Transparenz und Öffentlichkeit vor: Jeder Einwohner und ausdrücklich auch jeder Nicht-Rechtsgelehrte durfte seine Rechte persönlich einfordern – es „schiene nicht zur Freiheit passend, ein Monopol der Bildung zu schaffen“99, also nur den Rechtsgelehrten das Appelationsrecht zu gewähren (Art. 160).100 Jedem Angeklagten waren die komplette Anklage und die Zeugenaussagen zu verlesen, geheime Denunziationen führten zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen und ab dem Zeitpunkt der Anklage war der Prozess öffentlich abzuhalten (Art. 175-177). Diese Formalitäten konnten nach Artikel 183 in „außerordentlichen Umständen“, in denen „die Sicherheit des Staates es erfordert“, nur vom Kongress und nur für eine bestimmte Zeit suspendiert werden. Auch bei den Verfahren des Strafrechts, denen ein eigenes Kapitel gewidmet war, und insbesondere bei den Debatten zur Abschaffung bestimmter Straftypen sind rechtsstaatliche Tendenzen feststellbar. In der Tradition des einflussreichen Strafrechtstheoretikers Cesare Beccaria (1738-1794) zielten die Verfassungsväter Michoacáns, wie auch die Mexikos und diejenigen von Cádiz, auf die Humanisierung und Rationalisierung des Strafrechts ab. Nicht mehr die Reinigung der Gesellschaft von Sündern, die Ex-Sozialisierung, stand im Vordergrund, sondern die Korrektion, also die Rückführung des Täters in die Gesellschaft, die Re-Sozialisierung, sowie, teils konträr hierzu, der Schutz der Gesellschaft durch Prävention mittels rational nachvollziehbarer Abschreckung. Wie in anderen atlantischen Regionen sind auch hier utilitaristische Ideen anzutreffen.101
99 Sitzung vom 27.09.1824, in: AyD, I, S. 294f. 100 Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 160. 101 Vgl. zu Mexiko den Überblick bei Ferrer: Formación, S. 225ff.; für Cádiz: Timmermann: Monarchie, S. 255; für Europa und Deutschland: Nutz: Besserungsmaschine; Reicher: Staat, S. 63-69; Cattaneo: Aufklärung, S. 37-44; Stollberg-Rilinger: Europa, S. 222; Reinhard: Geschichte, S. 302; Duchhardt: Zeitalter, S. 130f.
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So stand auch bei diesen Debatten das Interesse des Staates beziehungsweise der Gesellschaft vor den individuellen: Laut Entwurf der Kommission sollten folgende Strafen verboten werden: die Auspeitschung, die „Strafe der Schande oder des öffentlichen Prangers“ sowie lebenslängliche und länger als fünf Jahre dauernde Haft- und Verbannungsstrafen. 102 Erstere seien nach Jiménez nicht nur „lächerlich und unschicklich, sondern gleichzeitig einer Republik sehr entgegenstehend [opuestísimas]“. Huarte forderte in diesem Zuge eine genauere Auflistung der potentiellen Strafen, der Milizionär Villaseñor wollte die „Entehrung [ignominia]“ in den Katalog der verbotenen Strafen aufnehmen. Lloreda, für liberale Ansichten bekannt, wies darauf hin, dass somit dem Staat kaum mehr Strafmöglichkeiten übrig blieben, da auch die Todesstrafe nach „sehr gewichtigen Autoren“ abzuschaffen sei. González setzte sich für deren Abschaffung mit „einigen Ausnahmen“ ein – im Sinne des Utilitarismus argumentierend, dass sonst „der Gesellschaft einige möglicherweise nützliche Arme“ 103 , also nützliche Gesellschaftsmitglieder, verloren gingen. Sie solle vielmehr in lebenslange Haft umgewandelt werden. Villaseñor konstatierte – und hier kommt die zweite, individuelle Argumentationslinie ins Spiel –, dass lebenslange Haft- beziehungsweise Verbannungsstrafen abzuschaffen seien: Denn sie sind „schlimmer als die Todesstrafe“ beziehungsweise „rauben dem Menschen sein Freiheitsrecht“104. Lloreda unterstützte ihn bezüglich des ersten Teils, beim zweiten Teil, den lebenslangen Verbannungsstrafen, widersprach er allerdings genauso wie Huarte: Diese seien „statthafter“ als viele andere, die noch in Kraft blieben, da sie lediglich eine Umsiedlung bedeuten. Außerdem müsse Michoacán einige „für unsere Republik akzeptable Strafen“105 behalten. Warum er das für notwendig hielt, wurde deutlich, als er gegen den Vorschlag argumentierte, dass der gescheiterte Versuch einer Straftat milder bestraft werden müsse als die erfolgte Straftat: Nach Lloreda müsse eine Strafe vor weiteren Taten abschrecken, gleich, ob die Tat erfolgreich war oder nicht.106 Leider ist die abschließende Diskussion nicht überliefert, schließlich wurde aber in der Verfassung (Art. 181) die maximale Zeitdauer für Gefängnisstrafen auf acht Jahre hinaufgesetzt. Gegen die Todesstrafe und die Verbannung wurde kein explizites Verbot festgeschrieben. Verboten wurden allerdings die „Strafen des Auspeitschens, auch wenn zur Korrektion, und die schändlichen [Strafen] des dem öffentlichen Spott Preisgeben der Delinquenten“ (Art. 180). 102 Vgl. Titulo 3o Del Poder Judicial ... (16.05.1825) / Art. 29, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. 103 Sitzung vom 11.05.1825, in: AyD, II, S. 289. 104 Sitzung vom 11.05.1825, in: AyD, II, S. 288. 105 Sitzung vom 11.05.1825, in: AyD, II, S. 289. 106 Sitzung vom 11.05.1825, in: AyD, II, S. 290.
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Zur Vereinheitlichung, Systematisierung und Objektivierung der Rechtsprechung trug anders als nach der Verfassung von Cádiz auch die Einrichtung eines einheitlichen institutionellen Apparates mit drei, rational aufeinander aufbauenden Instanzen in der ordentlichen Rechtsprechung bei: Nur nach durch Gesetz vorgegebenen Richtlinien konnten Rechtsmittel gegen Urteile einer Instanz eingelegt werden, jeweils die nächst höhere hatte dann zu entscheiden. Die Richter der einen Ebene konnten bei der nächst höheren angeklagt werden. Die ersten Instanzen bildeten die über den Staat verteilten Alcaldes, die beiden höheren das Obere Justiztribunal (Superior tribunal de justicia, auch Audiencia) und die ordentliche Abteilung des Obersten Justiztribunals (Sección permanente del Supremo tribunal de justicia) in Valladolid (Art. 120-123, 133, 140 und 155-158).107 Während die Audiencia schon 1824 ihren Betrieb aufnahm, war das Oberste Gericht erst ab 1827 arbeitsfähig.108 Dass es ausdrücklich nur einen Instanzenzug geben sollte, wird an einem gescheiterten Kommissionsentwurf deutlich, der neben den erwähnten Gerichten auch eines für „Außerordentliche Fälle“ vorgesehen hatte, wie für Angelegenheiten mit Extranjeros. Villaseñor plädierte erfolgreich dafür, auch diese Fälle unter die „allgemeinen Gesetze“109 zu stellen. Interessanterweise fanden die beiden in der föderalen Verfassung festgelegten Fueros für die Geistlichkeit und die Militärs in den Debatten keine Erwähnung. Ein weiterer Baustein zur Objektivierung der Rechtsprechung bestand in der Festlegung, dass sich alle drei Instanzen aus Gerichten zusammensetzten, die jeweils aus mehr als einer Person bestanden. In einem schließlich nicht angenommenen Verfassungsentwurf hatte es noch eindeutiger geheißen, dass man nie nur durch eine Person gerichtet werden dürfe. 110 Auch wenn dieser Artikel nicht übernommen wurde, setzte man dieses Postulat um. Auf der Ebene der ersten Instanz führten die Verfassungsväter die Institution des ordentlichen Beisitzers (Asesor ordinario) ein, der vor jedem Urteilsspruch gehört werden musste. Er war von der Regierung für vier Jahre zu ernennen und genoss ein vom Kongress beschlossenes Gehalt. Die von ihm geforderte Unabhängigkeit kam 107 In Cádiz existierte noch keine eindeutige Hierarchisierung der Gerichte; vgl. Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad, S. 233f. Der Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit wird durch die schon erwähnte Festlegung der Constitución federal, den kompletten Instanzenzug im Bedarfsfall auszuschöpfen, unterstrichen. Nach Artikel 140/6 der Verfassung von Michoacán sollte das Supremo tribunal, ähnlich wie in der gaditanischen Verfassungspraxis, den Kongress in Gesetzesfragen beraten; vgl. zu Cádiz: Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad, S. 234. 108 Vgl. hierzu: García Avila: Administración, S. 97-107 109 Sitzung vom 13.06.1825, in: AyD, II, S. 319. Vgl. den Entwurf in: Titulo 3o Del Poder Judicial ... (16.05.1825) / Art. 39-46, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. 110 Vgl. Titulo 3o Del Poder Judicial ... (16.05.1825) / Art. 2, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S.
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weiterhin in dem Verbot zum Ausdruck, dass er „keinen anderen Anspruch durch irgendeinen Rechtstitel innehaben“ (Art. 126) durfte (Art. 124-129). Er konnte von beiden Seiten zurückgewiesen werden. Außer dem Alter von 25 Jahren, der aktiven Staatsbürgerschaft und der Geburt innerhalb des mexikanischen Territoriums galten für ihn keine weiteren Vorraussetzungen. Die beiden höheren Instanzen bestanden aus jeweils drei Richtern und einem Staatsanwalt (Art. 131 und 139). 111 Ein weiterer Artikel verbot zudem, dass ein Richter während eines Verfahrens in zwei Instanzen urteilen darf (Art. 158). An Einzelpersonen gebundene, subjektiv-willkürliche Urteile sollten bei der Rechtsprechung durch objektiv gesetzte Richtlinien beziehungsweise durch Mehrpersonentribunale ersetzt werden. Das bisher zur Judikative Gesagte resümierend bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsväter in Übereinstimmung mit Montesquieu in der Verfassung eine starke Bindung der Richter an objektive Verfahren und Gesetze vorsahen, also wichtige Elemente zum Aufbau eines Rechtsstaates in der Verfassung verankerten. Der neben der Gesetzes- und Verfahrensbindung zweite Mechanismus zur Etablierung des Rechtsstaates war die Institutionalisierung einer unabhängigen Justiz im Rahmen der Gewaltenteilung. Nach Montesquieu war die Judikative dabei insbesondere von der Exekutive und von der Verwaltung, also dem zweiten Zweig der Rechtsanwendung, zu trennen. In der Kolonialzeit waren, wie oben gesehen, diese Aufgaben weder dogmatisch noch personell separiert. Die folgende diesbezügliche Untersuchung geht zunächst auf die untere und im Anschluss daran auf die beiden höheren Instanzen ein. Auf den unteren Verwaltungsebenen wurde das Gewaltenteilungsprinzip in Kontinuität zur Kolonialzeit mehrfach nicht eingehalten. Freilich ist zu bedenken, dass auf kommunaler Ebene bis heute der Grat zwischen judikativer und exekutiver Gewalt sehr schmal ist. Dessen waren sich die Verfassungsväter Michoacáns durchaus bewusst: So legte Artikel 153 fest, dass Gesetze die Rechtsfälle definieren sollten, die „minderen Interesses“ sind und deswegen ohne Gerichtsverfahren verhandelt werden können. In diesem Sinne durften die Bezirksverwaltungsangestellten der (Sub-)Präfekt diejenigen, die „nicht gehorchen und denen es an Respekt fehlt oder die auf andere Art die öffentliche Ordnung stören“, „gubernativamente“112 bis zu 50 Pesos Strafzahlung, 15 Tage öffentliche Arbeiten oder einen Monat Gefängnis auferlegen und somit jurisdiktionelle Funktionen übernehmen. Besonders deutlich wird die Abweichung von der Gewaltenteilung, wie schon angedeutet, bei der Institution des Alcalde. Die Vorläufer im Antiguo régimen, die Alcaldes ordinarios, hatten vor 111 Artikel 132 sieht Regelungen für den Ausfall von Richtern vor. 112 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/15, in: RdL, I, S. 78.
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der Intendantenreform die erstinstanzliche Rechtsprechung inne und saßen den Ayuntamientos in Abwesenheit der Alcaldes mayores vor, womit sie die Führung des Stadtregiments übernahmen. Nach der Intendantenreform konnten sie, wie oben ausgeführt, trotz anderweitiger Bestimmungen häufig ihre Positionen erhalten. Auch nach der Verfassung von Michoacán behielten die Alcaldes ihre doppelte Funktion in nach der Gewaltenteilungslehre getrennten Bereichen. So erhielten einerseits alle Alcaldes – zusammen mit zwei „hombres buenos“ (Art. 154) – als Aufgabe das Amt des Schlichters. In seinen Kompetenzbereich fielen zudem mündliche Urteile über Kriminalangelegenheiten wie „Beleidigungen und leichte Verfehlungen, die keine andere Strafe als Tadel oder leichte Korrektion“ erforderlich machten sowie kleinere Zivilklagen bis 100 Pesos.113 In nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit der Kompetenz des Präfekten erhielten die Alcaldes die Möglichkeit, denjenigen, die „nicht gehorchen und denen es an Respekt fehlt, oder die auf andere Art die öffentliche Ordnung stören“ bis zu 25 Pesos Strafzahlung aufzuerlegen.114 Nach Artikel 153 konnte gegen diese „Rechtsfälle geringen Interesses“ kein Widerspruch eingelegt werden, allerdings waren die Angeklagten zu hören und die jeweils richtende Person, wie nochmals betont wurde, konnte für ihr Urteil verantwortlich gemacht werden. Der Alcalde sollte also wie in der Kolonialzeit Rechtsprechungskompetenzen übernehmen, was durch ein vor der Verfassung verabschiedetes Dekret noch unterstrichen wurde: Danach sollten bis zur verfassungsrechtlichen Einrichtung der ersten Justizinstanz die Alcaldes der Bezirkshauptorte und der „Pueblos, die wegen ihrer Bildung oder anderer gerechter Gründe“ nach Einschätzung der Regierung dazu in der Lage waren, die Funktion der erstinstanzlichen Richter übernehmen. Dies galt zwar nur vorläufig, aber die dauerhafte konstitutionelle Regelung wies mit der nicht hinterfragten Übernahme der Alcaldes der Hauptorte als Grundbaustein der neuen Gerichte in die gleiche Richtung.115 Neben den Rechtsprechungskompetenzen behielten sie laut Verfassung aber auch ihre Funktion in den Ayuntamientos. Huarte, vormals selbst lange Ratsmitglied, setzte sich für deren Verbleib in den Ratsgremien ein, zum einen inhaltlich mit dem Argument, dass deren Aufgaben als Schlichter und Verhinderer von Unordnung rein verwaltungstechnischer und nicht justizieller Natur seien; zum anderen pragmatisch damit, dass nicht genug Personen mit entsprechenden
113 Vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 39-42, in: RdL, I, S. 67f. 114 Vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 48, in: RdL, I, S. 69; Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/15, in: RdL, I, S. 78. 115 Vgl. Sitzung vom 01.02.1825, in: AyD, II, S. 77f.; Dekret Nr. 37 (09.02.1825), in: RdL, I, S. 74; Verfassung von Michoacán, Art. 121.
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„Kenntnissen“ 116 für eine Trennung vorhanden seien, insbesondere da die Alcaldes meist die „am besten instruierten“117 waren. Wie in der Verfassung von Cádiz und der der anderen mexikanischen Staaten solle man es bei der traditionellen Ordnung belassen. Pastor Morales vertrat hingegen den Standpunkt, dass die Alcaldes sich nur durch die „Geringfügigkeit“ der Kompetenz von Richtern der ersten Instanz unterschieden und damit mit den anderen Angehörigen der Ayuntamientos kaum etwas gemein hätten. Wegen ihrer justiziellen Autorität übten sie außerdem einen „despotischen Einfluss“ auf das Ayuntamiento aus.118 Die oben genannten Vorbilder des spanisch-mexikanischen Konstitutionalismus waren nach Pastor Morales nicht relevant, sei es, weil es sich um Monarchien handelte, weil sie sich in anderen Umständen befanden oder weil sie sich nicht von „den Beispielen Europas“ und den „Traditionen vieler Jahrhunderte“ 119 trennen konnten. Wie zuvor haftete den in anderen Regionen vorherrschenden Traditionen ein pejorativer Aspekt an, allerdings ist an dieser Stelle auffallend, dass Europa – und nicht nur Spanien – als Inbegriff für eine abzulehnende monarchische Traditionalität stand. Während bei der Behandlung der Ayuntamientos, wie noch zu sehen sein wird, bestritten wurde, dass die Alcaldes judikative Funktionen hätten, war es bei Diskussion über die ersten Instanzen selbstverständlich, dass sie, zumindest die aus Ortschaften mit ausreichend Bildung, die erstinstanzliche Rechtsprechung übernahmen. Mit der Verankerung der Alcaldes in nach der modernen Gewaltenteilungslehre getrennten Funktionen perpetuierten die Verfassungsväter eine überkommene Verwaltungspraxis, die sich stärker am Territorial- als am Sach- beziehungsweise Gewaltenteilungsprinzip orientierte, das sich freilich auch andernorts erst allmählich und nicht immer vollständig durchsetzte.120 Auch bei der Behandlung der beiden höheren Justizinstanzen, dem dritten Abschnitt dieses Kapitels, stehen zu Beginn Prinzipien, die die Gewaltenteilung betonen. Bei genauerer Betrachtung lässt sich jedoch feststellen, dass die Verfas116 117 118 119 120
Sitzung vom 06.12.1824, in: AyD, I, S. 451. Sitzung vom 07.12.1824, in: AyD, I, S. 455. Sitzung vom 16.12.1824, in: AyD, I, S. 473. Sitzung vom 06.12.1824, in: AyD, I, S. 452. Vgl. zu einer ähnlichen Mehrfachfunktion der Alcaldes gemäß der Verfassung von Cádiz: Lorente Sariñena / Garriga Acosta: Responsabilidad, S. 228-232; Annino: Perspectivas, S. 59. In diesem Sinne ist auch die Antwort auf eine Anfrage des Ayuntamiento Valladolids von 1813 an den Vizekönig zu verstehen, ob die Alcaldes zu den Ratssitzungen zu rufen wären und ob sie ein Stimmrecht besäßen. Die Antwort lautete: Die Alcaldes sind „integraler Bestandteil“ der Gremien; vgl. AGN, Ayuntamientos, v. 187, s./f. Vgl. zu ähnlichen Überschneidungen in Baden, Württemberg und Bayern bspw.: Weis: Einfluss, S. 577.
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sungsväter dem Kongress wie gegenüber der Exekutive auch gegenüber der Judikative einen starken Einfluss sichern wollte. Nach Artikel 116 war es sowohl dem Kongress als auch der Regierung verboten, „jurisdiktionelle Funktionen auszuüben“. Für den Gouverneur war das Verbot der Einmischung in „laufende Verfahren“ (Art. 73/8) beziehungsweise das Verbot, „Strafen zu verhängen“ (Art. 76/4), nochmals ausdrücklich festgeschrieben worden. Bei dringend erforderlichen Festnahmen durfte zwar ausnahmsweise der Gouverneur aktiv werden, die so festgenommene Person musste dann allerdings innerhalb von 48 Stunden einem Richter vorgeführt werden (Art. 76/3).121 Auffällig ist hier zunächst, dass das Verhältnis von Exekutive und Judikative auf der Ebene der höheren Instanzen im Gegensatz zu der der Alcaldes keine Erwähnung fand. Wie gegenüber der Regierung definierten die Verfassungsväter auch das Supremo tribunal de justicia stark in Beziehung und Abhängigkeit vom Kongress. 122 Neben der Sección permanente, der wie gesehen die oberste Rechtsprechung in ordentlichen Rechtsfällen oblag, sollte im Supremo tribunal de justicia fallweise eine Außerordentliche Abteilung (Sección extraordinaria) eingerichtet werden: Diese hatte über die Anklagen gegen die obersten Staatsfunktionäre nach Überweisung des parlamentarischen Gran jurado zu entscheiden. Sie war also für die politische Rechtsprechung zuständig, weshalb sie im Folgenden besonders berücksichtigt wird.123 Die drei Richter des Supremo tribunal waren wie der Gouverneur vom Kongress zu bestimmen. Als Anforderung galt hier der Status des Ciudadano en derecho und als Mindestalter 30 Jahre, sowie weitere durch das Gesetz zu bestimmende fachliche Qualifikationen (Art. 134, 148 und 150). Bei dieser Festlegung stimmte Michoacán zwar mit einigen anderen Bundesstaaten und der Föderation überein, die Mehrheit der Staaten sah aber zumindest eine Beteiligung des Gouverneurs vor.124 In Michoacán schien die alleinige Kompetenz
121 Auch den Präfekten als Teil der Exekutive auf substaatlicher Ebene, war die Einmischung in den Bereich des Administrativ-, Zivil- und Kriminalrechts („jurisdicción contenciosa, civil ó criminal“) ausdrücklich verboten; vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 22, in: RdL, II, S. 79. 122 Das Oberste Gericht ist in den Artikeln 138-144 der Verfassung geregelt. 123 Daneben oblag dieser Sección nach Artikel 143 die Entscheidung über Anklagen gegen Richter der zweiten Instanz sowie über von der Regierung betriebene Rechtsgeschäfte und Verträge. 124 Dabei führten Chihuahua, Coahuila y Texas, Guanajuato und Puebla ein Vorschlagsrecht des Gouverneurs ein. In Jalisco, Tamaulipas, Zacatecas und Occidente hat die Exekutive das ausschlaggebende Wort. Neben Michoacán fügten nur Chiapas, Oaxaca, Veracruz und Yucatán keine Zusatzbestimmungen für die Wahl durch den Kongress ein. Nuevo León beziehungsweise Querétaro in die der Ayuntamientos
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des Kongresses anders auch als auf föderaler Ebene, wo die Exekutive auf das Verfahren Einfluss haben sollte, erst gar nicht in Frage gestellt worden zu sein.125 Bei den Verhandlungen als Sección extraordinaria – unterteilt in drei Spruchkörper – standen den Richtern weitere „durch die Parteien benannte Mitrichter [conjueces]“ (Art. 141) als Kontrollinstanz zur Seite. In die gleiche Richtung einer Einflussreduktion zielte der Antrag von Rayón, dass die drei Richter und der Staatsanwalt (Fiscal) des Supremo im Gegensatz zu denen der zweiten Instanz des Superior tribunal nicht auf Lebenszeit benannt werden sollten, da dies „despotisch“ und „nicht systemkonform“126 sei. Dieser Antrag fand eine Mehrheit: Bis 1835 sollten die Richter die gleichen bleiben, danach im Sechsjahresrhythmus neu durch den Kongress gewählt werden (Art. 149). 127 Somit waren die Abgeordneten gegenüber den Richtern der politischen Rechtsprechung noch wesentlich skeptischer als bei denen der ordentlichen. Das allgemeine Misstrauen gegen die richterliche Gewalt findet sich im Artikel 119: Bei jeder Nichtbefolgung der Gesetze sollten alle „Richter persönlich verantwortlich gemacht“ werden. Hierfür konnten sie ausdrücklich von „jedwedem Staatsbürger angeklagt werden“. Eine Immunität wie den beiden anderen Gewalten gestanden die Verfassungsväter den höchsten Richtern nicht zu. So unterstellte man wie der Exekutive auch den obersten Richtern eine grundsätzliche Tendenz zum Gesetzesbruch und zum Despotismus – eine Tendenz, die man über Beschränkungen einzuhegen versuchte. Dazu diente aber eben auch der Einfluss des Kongresses, der die Richter ernannte und potenziell entscheidenden Einfluss auf deren Absetzung ausüben konnte. In diesem Sinne schuf man zusätzlich über dem „Obersten“ Gericht eine weitere Appelationsinstanz, die berechtigt war, dessen Urteile aufzuheben und gleichzeitig die Richter des Supremo zu richten. Diese Instanz war am Beginn jeder Legislaturperiode bezeichnenderweise durch den Kongress zu bestimmen: Jener hatte zehn mindestens 30-jährige Vecinos del estado von „bekannter Redlichkeit [probidad]“ (Art. 145) zu wählen, von denen im entsprechenden Fall eine bestimmte Anzahl für die Beurteilung ausgelost werden sollte (Art. 146). Letztlich ist somit nicht das Supremo tribunal die höchste Instanz politischer Rechtsprechung, sondern ein vom jeweils amtierenden Kongress bebeziehungsweise in die der Distriktswahlversammlungen; Durango und Tabasco erließen keine Auflagen für die Richterwahl; vgl. Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 46. 125 Vgl. Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 231-253; Ferrer: Formación, S. 252-258. 126 Die erste Äußerung stammt von Aguiar, der in die gleiche Richtung argumentierte. In der namentlichen Abstimmung votierten mit ihnen Salgado, González und Villaseñor, gegen sie Paulín, Lloreda, Jiménez und Menéndez; vgl. Sitzung vom 11.06.1825, in: AyD, II, S. 315. 127 Vgl. Sitzungen vom 10., 11. bzw. 13.06.1825, in: AyD, II, S. 313f., 314 bzw. 317.
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stimmtes Zusatzgremium – für das gemäß Verfassung die Einbeziehung von Parlamentariern nicht ausgeschlossen war. Mit den Verfahren zur Ernennung, denen zur potenziellen Absetzung und mit der Beschränkung der Amtsdauer setzte man sie wesentliche Merkmale richterlicher Unabhängigkeit außer Kraft. 128 Die als unabhängige Gewalt installierte Judikative verlor stark an Eigenständigkeit, der Kongress hingegen konnte auch in diesem Bereich starken Einfluss geltend machen. In seiner Funktion als Interpretationsinstanz der Gesetze, und auch der Verfassung, konnte der Kongress außerdem verfassungsgerichtliche Kompetenzen für sich reklamieren, was in Artikel 216 noch expliziert wurde: „Zweifel, die über das Verständnis der Artikel dieser Verfassung auftauchen“, konnte demnach „nur der Kongress lösen“. Ein eigenes Verfassungsgericht wurde nicht eingerichtet, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen hatte allein der Kongress zu entscheiden und, wie gesehen, oblag dem Kongress zudem die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes (Art. 42/24). 129 Der Kongress besaß darüber hinaus Sanktionsmöglichkeiten: Nach Artikel 215 war es seine Pflicht, die ihm gemeldeten Verfassungsbrüche zu untersuchen, „um die passende Lösung zu präsentieren und die [Verfassungs-]Brecher zur Verantwortung zu ziehen“. So ist wie bei der Exekutive auch der originäre Gewaltcharakter der Judikative unter Befolgung ähnlicher Argumentationsmuster stark zu Gunsten der Legislative auf den Bereich der ordentlichen Rechtsprechung eingeschränkt. Wie im gesamten atlantischen Raum außerhalb der USA hatte sich die politische Institution einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Michoacán noch nicht etablieren können. „Eine richterliche Gewalt …, die (auch) mit inhaltlichen Vorgaben in den politischen Prozess eingreift und deren Kontrollbedürfnis kein Inhaber staatlicher Hoheitsgewalt entzogen ist“, passte nicht in die politischen Vorstellungen der Verfassungsväter von Michoacán. „Die Gerichtsbarkeit“ sollte gerade nicht „über derartige Befugnisse“ verfügen, „daß sie in einem spezifischen Sinn als politische Instanz“130 agieren konnte. Dem Kongress kam somit die Funktion des Schutzes der Verfassung und der Gesetze zu, aber darüber hinaus auch der Schutz der gesamten Bevölkerung. Symbolisch findet dies seinen Ursprung im Akt des Schwurs: Die Mitglieder der drei höchsten Gewalten mussten vor Gott und in presencia vor dem 128 Vgl. Eberl: Verfassung, S. 4f. 129 Vgl. zu einer analogen Lösung in Cádiz: Lorente Sariñena: Control. 130 Eberl: Verfassung, S. 4. Vgl. zur Verbreitung von den USA (1803) aus am Ende des Jahrhunderts nach Europa. Den „Siegesszug“ setzt Brünneck erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. In Frankreich scheiterte 1795 ein Versuch von Sieyès, eine Jury constitutionnaire zu bilden, Brünneck: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 15; Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 138; Eberl: Verfassung, S. 268-277.
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Kongress ihren Amtseid ablegen, bevor sie ihre jeweiligen Aufgaben übernehmen konnten. Die Schwurformel für den (Vize-)Gouverneur lautete nach Artikel 67: „Ich N. [=Name], ernannter Gouverneur (oder Vizegouverneur) des Staates von Michoacán, schwöre bei Gott und den heiligen Evangelien, dass ich treu das Amt, das mir selbiger Staat anvertraut hat, ausüben werde und dass ich die Verfassung und die Gesetze der Föderation sowie des Staates einhalten werde und einhalten lassen werde.“
Die Mitglieder der anderen Gewalten, also die Abgeordneten, die Consejeros und die Richter der beiden höchsten Instanzen, hatten ebenfalls vor dem Kongress zu schwören (Art. 40, 88 und 150). 131 Die Vertretung des Volkes fungierte somit neben Gott als weltlicher ‚Gläubiger’ und Garant der verfassungsrechtlichen Ordnung. Die spärlichen Diskussionen und vor allem die in der Verfassung breiten Raum einnehmenden Regelungen verdeutlichen, dass die Verfassungsväter Michoacáns in Übereinstimmung mit den föderalen Ansätzen die Justiz ganz im liberalen Sinne als Institution zum Ausbau der Rechtsstaatlichkeit betrachteten. Der Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Willkür, vor dem Mal gobierno, hatte in der Verfassungstheorie Vorrang vor gouvernementalen Herrschaftsansprüchen. Zur Beseitigung der Missstände sollte die Humanisierung des Strafrechts ebenso beitragen wie die Vereinheitlichung des Rechtsraums und die Gesetzes- und Verfahrensbindung. Allerdings stellt sich nach der Betrachtung des konkreten Aufbaus der dritten Gewalt die Frage, ob eine unabhängige Rechtsprechung tatsächlich intendiert war: Weder auf der Ebene der Alcaldes noch – und das wiegt besonders – auf der des Supremo tribunal de justicia wurde das Prinzip der Gewaltenteilung eingehalten. So lässt sich für die Behandlung der Gewaltenteilung resümierend festhalten, dass die Verfassungsväter den Kongress als unmittelbares Repräsentativorgan und als eindeutig oberste Gewalt des Staates konstituierten. Der Kongress konnte die anderen Gewalten und Vertreter des Staates bestellen und unter bestimmten Voraussetzungen zudem abbestellen. Das Regierungssystem lässt sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive allerdings nicht als parlamentarisch bezeichnen, da das Parlament nicht das Recht hatte, „die Regierung aus politischen Gründen jederzeit abberufen zu können“ 132 . Den beiden 131 Der Eid der Richter wurde nicht in der Verfassung festgelegt. Zu dem der Abgeordneten, der nach Artikel 88 der gleiche war wie für die Consejeros, vgl. im Folgenden. 132 Steffani: Unterscheidung, S. 392. Dieses Recht bezeichnet Steffani „als sinnvolles und zunächst allein maßgebliches Merkmal“ der Charakterisierung eines parlamentarischen
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anderen Gewalten blieb eine, wenn auch vielfach kontrollierte Restkompetenz. Der Kongress sollte demnach vollständig die „programmierenden“ Kompetenzen übernehmen, während die beiden gesetzesanwendenden Gewalten „programmiert“ waren. Der Kongress erlangte gemäß Verfassung neben dem Status als oberste Gewalt den des obersten Hüters der Verfassung und als oberste Begnadigungsinstanz zudem den des „Hüter[s] der persönlichen Freiheit“ 133 , er besaß „die Legitimität ..., aufgrund einer Relativierung des Gewaltenteilungsprinzips die Gerichtsurteile zu modifizieren und auf überzeugende Weise das Unrecht durch das ‚Recht’ zu ersetzen“134. Er übernahm damit zu einem guten Teil Funktionen, die im Antiguo régimen der Monarch innehatte, und zwar nicht nur auf rein rechtlichem Gebiet: Als über den Parteiungen stehendes Organ, oberster Verfassungshüter und Begnadigungsinstitution mit der Kompetenz, die über-positive Gerechtigkeit zu gewähren, übernahm der Kongress gleichzeitig Funktionen eines die Einheitlichkeit des Staates präsentierenden Staatsoberhauptes. 135 Mit Bezug auf die Vorstellungen Benjamin Constants (1767-1830) zur Pouvoir neutre resümiert Dimoulis: „Gemäß dieser Vorstellung, die ein Gemeingut des Liberalismus bildet, ist das Hauptaugenmerk der Stellung des Staatsoberhauptes die Neutralität“136. Die These vom Kongress als Ersatz-Monarch lässt sich somit auf dieser Ebene gut begründen. Ähnlich wie in den unabhängig gewordenen USA mit ihrem Präsidenten mit Monarchen-ähnlicher Position,137 schufen sich auch
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Regierungssystems im Unterschied zum präsidentiellen. Am ehesten trifft zur Definition des Regierungssystems Michoacáns nach Emil Hübner der Typ einer Direktorialverfassung, wie sie in der Schweiz gültig ist, zu: Das Parlament kann die Regierung zwar wählen, aber nicht abwählen, der Regierung steht kein Auflösungsrecht zu, zwischen Abgeordneten- und Re-gierungsamt besteht Inkompatibilität und die Regierung hat das Recht zur Gesetzesinitiative. Allerdings ist die Regierung hier nicht als Kollegialorgan konzipiert; vgl. Hübner: Parlament, S. 17f. Mit der Direktorialverfassung Frankreichs von 1795 hat Michoacán wenig gemein. Dimoulis: Begnadigung, S. 589. Dimoulis: Begnadigung, S. 587. Vgl. allgemein zur Konzeption des Staatsoberhaupts: Hartmann / Kempf: Staatsoberhäupter, S. 10f.; Willoweit: Verfassungsgeschichte, S. 245; zur Gnadenkompetenz als Kennzeichen des Oberhauptes: Dimoulis: Begnadigung, S. 576-592; zur Unverantwortlichkeit als weiteres Kennzeichen: Pahlow: Justiz, S. 32 u. 336; zur Immunität von Staatsoberhäuptern aus völkerrechtlicher Perspektive: Tangermann: Immunität, S. 85152. Vgl. zur Körpermetapher in der Sprache des frühen Mexiko und zur Gewaltenteilung: Yujnowsky: Libertad, S. 259-266 und die Ausführungen in Kapitel E II. Dimoulis: Begnadigung, S. 580. Vgl. zu ähnlichen Tendenzen in den jungen USA, wo insbesondere George Washington ähnlich „monarchisiert“ wurde: Newman: Parades. Er konstatiert dort eine „quasi-royal political culture“.
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die Verfassungsväter Michoacáns einen solchen Ersatz. Festzuhalten bleibt allerdings – gerade im Hinblick auf eine Historiographie, die die personalistische (Politik-)Kultur Lateinamerikas betont –, dass hier eben keine Einzelperson, sondern eine Institution installiert wurde. Diese These wird im Verlauf der Studie in anderen Kontexten weiterzuverfolgen sein. In Übersetzung der Formel für den König nach der französischen Charte constitutionelle (1814) galt: „Die Person des Kongresses ist unverletzlich und heilig“.138 Die das Kapitel einführenden Feststellungen aufnehmend bleibt also zu konstatieren, dass das grundsätzliche Misstrauen an der menschlichen Fähigkeit zu gerechter Herrschaft bestehen blieb. Warum galt dieses Misstrauen gegenüber der Exekutive und der Judikative? Und warum konnte im Gegenzug der Kongress für sich Vertrauen in Anspruch nehmen? Seinen Mitgliedern konnte ein hoher Rechtsschutz gewährt werden, während die anderen, unter dem Generalverdacht der Malicia humana und anderen menschlichen Makeln stehenden gesetzesanwendenden Gewalten eher als Gefährdung für die Verfassung und für die Bevölkerung betrachtet wurden. Wie gleich zu sehen sein wird, lässt sich auch die Verwaltung und somit ein weiterer Zweig der Rechtsanwendung in dieses Misstrauen einbeziehen. Die im vorhergehenden Kapitel eruierte Skepsis gegenüber unkontrollierter Individualität schlug sich also auch auf dieser institutionellen Ebene nieder. Dies ist sicherlich auch eine Frage der Machtverteilung und der Perspektive – hier verhandelt schließlich der verfassunggebende Kongress. Aber es ist zudem eine Frage des Menschenbildes und des Staatsverständnisses. Wie im Kapitel über den Auftritt des Kongresses noch deutlicher zu zeigen sein wird, fungierte der Kongress als über-menschliche Institution, als Einrichtung, die Ordnung behaupten konnte, da sie nicht der unsteten menschlichen Natur und nicht der Malicia humana ausgesetzt war. Wenn schon die anderen Gewalten gemäß der Verfassung kaum als Begrenzung der Macht des Kongresses in Erscheinung treten konnten, so kamen dafür zwei Institutionen in Frage: das souveräne Volk und die Verfassung als oberste Gesetzesnorm. Die Bindung aller Pouvoirs constitués und somit auch die des Kongresses an die Verfassung macht das besonders deutlich. So hatten ja auch die Abgeordneten folgenden Schwur vor dem Kongress abzulegen: „Schwört ihr vor Gott euch gut und treu in dem Amt zu verhalten, das Euch der Staat anvertraut, indem ihr euch in allem um das Gute und Wohlergehen desselben kümmert, indem ihr die Acta constitutiva, die Constitución federal und die [Verfassung] des Staates in all ihren Teilen einhaltet und einhalten lasst? Ja, ich schwöre. Wenn ihr es so machen würdet, belohne euch das Gott, und wenn nicht, fordere er es ein“ (Art. 40).
138 Vgl. Charte constitutionelle, Art. 13.
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Während der Kongress einfache Gesetze seinem Willen anpassen konnte, konnte ein einzelner Kongress keine Verfassungsänderungen durchführen, musste sich vielmehr dem durch die Verfassung vorgegebenen Verfahren unterwerfen. Der Historiker José Antonio Aguilar Rivera sah im Fehlen einer Notstandsgesetzgebung gar einen Hauptgrund für das Scheitern des mexikanischen Konstitutionalismus. 139 Deutlich zeigt sich die parlamentarische Begrenzung aber auch im Fehlen eines parlamentarischen Selbstdotierungsrechtes und vor allem im Fehlen eines Selbstversammlungsrechtes: Der Kongress durfte sich seine Diäten nicht festlegen – dies hatte der vorhergehende Kongress zu tun (Art. 206) – und er durfte nur in dem von der Konstitution vorgegebenen Zeitrahmen tätig werden.140 Noch stärker also als der Kongress sollte die Verfassung gegenüber Kritik geschützt, noch stärker in einen überzeitlichen Rahmen gesetzt werden, um eine überzeitliche Ordnung garantieren zu können. Durch diese Ent-Zeitlichung und Ent-Menschlichung sollte die Einheitlichkeit erhalten bleiben. Wie der König in der für den „modernen monarchischen Staat“141 vorbildlichen französischen Charte constitutionelle war auch in Michoacán der Kongress an die Verfassung gebunden. Der zweiten potentiellen Beschränkung der parlamentarischen Kompetenzen, dem souveränen Volk und dessen Beziehung zum Kongress, sind die Kapitel D bis F gewidmet.
II. Auseinandersetzung um eine zentral gesteuerte Verwaltung Nach der Behandlung der neu entworfenen obersten Gewalten trifft man bei der Betrachtung des nach geordneten Apparates zur Verwaltung des Landes auf eine konkretere Auseinandersetzung zwischen neuer Sollensordnung und der von den Abgeordneten selbst erfahrenen Seinsordnung. Die vor Ort tätige, lokale Verwaltung war schon während der Kolonialzeit konkret erfahrbar gewesen. Die eigenen Erfahrungen waren nicht nur passiv – Stichwort Mal gobierno –, sondern basierten zum Teil zudem auf der Übernahme von Ämtern in der kolonialen Zivil-, Kirchen- und Militärverwaltung. Wie in der obigen Prosopographie schon dargelegt, waren Huarte, Lejarza, Pastor Morales und Villa139 Vgl. Aguilar Rivera: Manto. 140 Auch hier macht sich der Einfluss Montesquieus, der eine parlamentarische Despotie befürchtet, bemerkbar; vgl. Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 222f. 141 Nach Götschmann galt die Charte „weithin als ideale Verfassung eines modernen monarchischen Staates“ (Götschmann: Parlamentarismus, S. 39); vgl. zu ihrem Vorbildcharakter auch: Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 114-116; Gangl: Weg, S. 35.
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señor Mitglieder des Stadtrates von Valladolid beziehungsweise der Diputación provincial gewesen und Lejarza, Quevedo, Salgado und Villaseñor Offiziere in der Miliz. Mit Lloreda, Rayón und Pastor Morales treffen wir hier auch auf Geistliche, die als Ortspfarrer leitende Funktionen innehatten. Die Erfahrungen spiegeln sich in der Intensität der Debatten dieses Feldes der Regierungstätigkeit wider: Der diesen Bereich behandelnde dritte Verfassungstitel „Gobierno político-económico“ nimmt zwar im Text nur relativ wenig Raum ein – nur 20 Artikel im Vergleich zu 37 (Titel I: Legislative), 57 (Titel II: Exekutive) beziehungsweise 69 Artikeln (Titel IV: Judikative) –, in den Diskussionen aber die weitaus längste Zeit. Dies hängt in erster Linie an der Intensität der Debatten. Hinzu kommt, dass die beiden Kapitel, die der Titel umfasst (Prefectos y subprefectos und Ayuntamientos), aus Gründen der Dringlichkeit vorab per Gesetz verabschiedet worden waren. Jeweils nur ein Teil der beiden Gesetze erhielt schließlich aber Verfassungsrang, auch wenn sie komplett im Rahmen der Verfassungsverhandlungen debattiert worden waren. 142 Dieses Vorziehen an den Anfang der Verfassungsdiskussionen und die Vorabveröffentlichungen deuten auch auf den hohen Stellenwert hin, der der Materie wie schon in der Kolonialzeit jetzt bei den Abgeordneten beigemessen wurde. Dabei spielte immer wieder auch der Versuch eine zentrale Rolle, den Staat gegenüber den sub-staatlichen Ebenen zu etablieren, den „Kampf der Souveränitäten“ (Annino) mit konstitutionellen Mitteln weiterzuführen. Anhand des folgenden Kapitels soll nachvollzogen werden, wie sich die Verfassungsväter die Anwendung der neuen Sollensordnung auf den konkret fassbaren Bereich der Staatsverwaltung vorstellten. Dazu werden nach der Betrachtung der territorialen Aufteilung des Landes (a) der organisatorische Aufbau und das Verhältnis zwischen den Institutionen untersucht (b), um dann auf die ihnen zugewiesenen Aufgaben einzugehen (c). Die in den kurzen Titeln V, VI 142 Abweichend von dem bisherigen Vorgehen, nur Verfassungsdiskussionen zu betrachten, sollen in diesem Kapitel die beiden Gesetze vollständig in die Untersuchung einfließen, und nicht nur die in die Verfassung gelangten Teile. Die Artikel, die die Einrichtung der Ayuntamientos regeln, wurden am 24. Januar 1825 als Dekret Nr. 33 als „Ley constitucional“ und als Dekret Nr. 34 publiziert. Am 15. Februar veröffentlichte man das Dekret Nr. 40 zu den Prefectos y subprefectos. Die vorliegende Teilung in einen konstitutionellen und einen nicht konstitutionellen Teil kam erst am Ende der thematischen Debatten zu Stande (vgl. Sitzung vom 24.01.1825, in: AyD, II, S. 61). In die folgende Diskussion werden beide Teile einbe-zogen. Dies begründet sich zu einen damit, dass die komplette Materie im Rahmen der Verfassungsdiskussionen debattiert worden war und dass bei beiden Gesetzen bis zuletzt unklar blieb, welche Regelungen in die Verfassung gelangen sollten, und zweitens damit, dass auch die schließlich nicht-konstitutionellen Teile als Ausführungsgesetze in der Verfassung (Art. 99 bzw. 114) Erwähnung fanden.
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und VII festgelegten Bereiche der öffentlichen Finanzverwaltung, der öffentlichen Bildung und der Miliz fanden in den Debatten fast gar keine Beachtung und sollen deswegen auch hier nur am Rande erwähnt werden.
a.
Die Organisation des Territoriums
Zur „besseren Verwaltung“ 143 des Staates sollte das Territorium nach dem Willen der Verfassungsväter auf drei Ebenen in Departamentos, Partidos und Municipalidades aufgeteilt werden (Art. 7). An dieser Aufteilung orientierte sich das Gobierno político y económico ebenso wie die Justizverwaltung. Nicht an dieser territorialen Einteilung ausgerichtet war allerdings die allgemeine Steuerverwaltung (Administración de rentas unidas): Sie war bereits vor der Verfassung per Dekret am 21. Dezember 1824 in zehn Steuerbezirke unterteilt worden, die sich an der überkommenen Struktur orientierten.144 Die División territorial macht das Aufeinandertreffen von Sollens- und Seinsordnung besonders anschaulich: In den Auseinandersetzungen klingt immer wieder der Anspruch durch, das Territorium entlang theoretisch gewonnener, von der Seinsordnung unabhängiger Konzepte einzuteilen. Bei der konkreten Umsetzung beziehungsweise in den Abstimmungen hingegen obsiegten dann häufig praktische, von lokalen Gegebenheiten ausgehende Argumente. Gleichzeitig verdeutlicht sich der Anspruch auf die Territorialisierung der Souveränität, den weiteren Ausbau der Territorialstaatlichkeit.
143 Dieser Einschub taucht zwar in der vorliegenden Fassung der Verfassung in dem die territoriale Einteilung regelnden Artikel 7 nicht auf, gemäß dem Protokoll des außerordent-lichen öffentlichen Sitzung vom 23. April 1825 wurde der Artikel jedoch mit diesem Einschub genehmigt; vgl. Projecto aprobado, f. 1, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. 144 Vgl. Dekret Nr. 28 (21.12.1824) / Art. 1 bzw. 13-22, in: RdL, I, S. 55 bzw. 57f. Wie oben angedeutet, wollte man zunächst die División territorial detailliert in die Preliminares auf-nehmen; vgl. den Entwurf in AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, wo der Aufteilung des Territoriums ein eigenes Kapitel mit vier Artikeln gewidmet ist (Art. 8-11). Bei Sitzungen im Februar wurde die Unterteilung in Departamentos aber wegen ihrer Veränderlichkeit an ein Extragesetz verwiesen. Die abschließende Diskussion ist leider fast nicht überliefert, da die Protokolle der beauftragten „Gran comisión“ fehlen; vgl. Sitzungen vom 11. bzw. 14.02. 1825, in: AyD, II, S. 107 bzw. 109-111; Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 1, in: RdL, I, S. 75.
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Die territoriale Gliederung Michoacáns (1825)
Quelle: Hernández Díaz: Orden, zwischen S. 88 u. 89.
Bei der Einführung der bislang unbekannten Zwischenebene der Departamentos lässt sich in Michoacán im Gegensatz zur mexikanischen Verfassung ein Neugestaltungswille und gegenüber Cádiz auch dessen Realisierung erkennen.145 Die häufig in neuen oder neu konstituierten Staaten anzutreffende territoriale Neueinteilungsintention kommt in der Verfassung des neu geschaffenen Königreichs Bayern von 1808 besonders gut zum Ausdruck: „Ohne Rücksicht auf die bis daher bestandene Eintheilung in Provinzen, wird das ganze Königreich in möglichst gleiche Kreise, und, so viel thunlich, nach natürlichen Gränzen
145 Die gaditanische Verfassung sah in ihrem Artikel 11 eine „besser passende Aufteilung des spanischen Territoriums durch ein Verfassungsgesetz vor, sobald die politischen Umstände der Nation es erlauben“. Bis zur Unabhängigkeit Mexikos wurde dieses Gesetz nicht verabschiedet. Bei der Justizverwaltung spricht die Verfassung von der Errichtung von „proportional gleichen Partidos“ (Art. 273). Annino begründet das Scheitern mit der fehlenden Definitionsmacht gegenüber der lokalen Ebene; vgl. Annino: Perspectivas, S. 54f. In den beiden mexikanischen Verfassungstexten war eine solche Neuaufteilung nicht intendiert. Die territoriale Einteilung verlief weitgehend entlang der Grenzen der Intendanzen; eine Ausnahme bildete der neue Hauptstadtbezirk, der aus dem Estado de México gelöst wurde.
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getheilt“146. Ob man sich bei der Namensgebung der Departements in Michoacán an der gleichnamigen französischen Institution orientierte, geht aus der Überlieferung der Debatte nicht hervor. Allerdings verfolgte der Constituyente mit der Schaffung von neuen Mittelbehörden einen ähnlich rationalen Ansatz 147 und ging mit der Bezeichnung mit Kunstnamen gewissermaßen darüber hinaus: Anders als in Frankreich, das die Départements nach landschaftlichen Kriterien bezeichnet(e), orientierte sich Michoacán abstrakter an den vier Himmelsrichtungen. Dies stand im Gegensatz zur bisherigen hispanischen Tradition, nach der man den Bezirk nach dem jeweiligen Hauptort (Cabecera) benannte. Der erste Verfassungsentwurf vom November 1824 hatte dieser Tradition entsprechend noch festgelegt, dass alle Departamentos, Partidos und Distritos den Namen ihrer jeweiligen Cabecera tragen sollten.148 Die Verfassungsväter unterteilten Michoacán schließlich in vier Departamentos (vgl. Karte; in Klammern die jeweilige Hauptstadt) mit den Namen Norte (Norden, Valladolid), Poniente (Westen, Zamora), Sur (Süden, Uruapan) und Oriente (Osten, Zitácuaro).149 Die Diskussionen über die Zugehörigkeit einiger Partidos zu den Departamentos verdeutlichen den Zwiespalt zwischen neuer Sollens- und traditioneller Seinsordnung: Besonders evident wurde das, als Pastor Morales sich ohne jegliche Resonanz für die Erhebung der alten regionalen Hauptstadt Pátzcuaro gegenüber Zamora zur Cabecera des Westdepartements einsetzte. Kein anderer Abgeordneter störte sich an der Degradierung, obwohl sie durchaus als solche wahrgenommen wurde: So löste man Pátzcuaro schließlich aus der Unterordnung gegenüber Zamora, „um die Eifersucht zu vermeiden, die diese Ciudad bei einer Unterwerfung unter Zamora notwendigerweise haben müsste“ und schloss sie an das Norddepartement, also an Valladolid, an. Huarte hatte diesen Wechsel mit dem Argument untermauert, dass man „wegen der 146 Verfassung des Königreichs Bayern (1808), Titel I, § IV. 147 Vgl. Treichel: Restaurationssystem, S. 68; zu Frankreich: Hafen: Staat, S. 176-183. 148 Vgl. Constitución Politica (09.11.1824) / Art. 11, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, o. S. In dieser Tradition steht auch der Titel eines noch zu behandelnden Schreibens aus Piedad, das sich dem „Estado libre de Morelia“, wie Valladolid seit 1828 heißt, zuordnet; vgl. En la Piedad, Cabecera de Partido del Estado libre de Morelia (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 149 Bereits am 11. September 1824, also zwei Monate vor dem ersten kompletten Verfassungsentwurf, legte die Verfassungskommission einen Vorschlag vor. Die Einteilung in vier Departamentos wurde schnell genehmigt, lediglich um die Unterteilung dieser Einheiten in Partidos entsprang ein nicht überlieferter „langer Disput“, woraufhin die Kommission mit der Vorlage eines neuen Vorschlages beauftragt wurde; vgl. Sitzung vom 11.09.1824, in: AyD, I, S. 265f., Zitat S. 266. Der erste Verfassungsentwurf vom 9. November geht ebenso von einer Vierteilung aus wie das zitierte abschließende Dekret Nr. 40. Womöglich geht die Vierteilung auf die oben zitierte Statistik Lejarzas zurück, wobei dieser eine andere Zuord-nung der Partidos vornahm.
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Nähe“, die Pátzcuaro zu Valladolid hat, „das Ziel, das diese Unterteilung hat, sehr gut erfüllen würde“. So verband man zudem die Kernstädte der ehemaligen Alcaldía mayor. 150 Die Degradierung Pátzcuaros stand damit außer Frage. Nach Valladolid Mitte des 18. Jahrhunderts hatte nun auch Zamora der Stadt den Rang abgelaufen, auch wenn eine direkte Unterordnung vermieden werden konnte. Die Rücksicht auf alte Privilegien, auf die Seinsordnung, spielte also eine nach geordnete Rolle, wichtiger schienen hier rationale Motive zu sein, wie die gute Erreichbarkeit durch die Nähe zur jeweiligen Hauptstadt. Eine ähnliche Rationalität lässt sich erkennen, wenn Lloreda das Vorgehen der Kommission bei der Zuteilung der Partidos zum jeweiligen Departement beschreibt: Der Kommissionsvorschlag „wäre der passendste und der am besten geordnete, da man ihn mit dem Plan geográfico vor Augen und mit dem Kompass in der Hand entworfen habe“. Gegen einen neuen Vorschlag argumentierend mahnte er an, man solle „die erste [Einteilung] mit der zweiten vergleichen, indem man die entsprechenden Kreisumfänge zieht“151. Auch andere Abgeordnete hielten wie Huarte also die Nähe zum jeweiligen Hauptort für das „Ziel der Unterteilung“. In diesem Sinne plädierte Villaseñor für die Aufteilung des südlichen Departements in zwei oder gar drei Departamentos: Von seiner Cabecera Uruapan aus könnte man seiner Meinung nach Huetamo nicht verwalten, eine Unterteilung mache das „angenehmer“. Auch seiner Einschätzung nach waren die Entfernungen das entscheidende Kriterium für die División territorial. Die diesen Vorschlag bearbeitende Kommission hielt die weitere Unterteilung grundsätzlich für wünschenswert, lehnte sie jedoch wegen des „Fehlens von Ressourcen, von Bevölkerung und folglich von Bildung in jenen Ländern“ des Südens ab und setzte sich damit in der Abstimmung durch.152 Die hier angedeutete Gleichung (Ressourcen-)Armut gleich Fehlen von Bildung und Entfernung von den städtischen, zivilisierten Zentren des Nordens wird in den folgenden Diskussionen in- und explizit immer wieder eine Rolle spielen. Für die gesamte Organisation des Territoriums galten schließlich allerdings nicht die per Zirkel aus dem Plan geográfico gewonnenen theoretischen Erkenntnisse als Primärkriterium, sondern praktische Ortskenntnisse: Nicht der erste Teilungsvorschlag, den Lloreda verteidigt hatte, sondern ein zweiter wurde im Grundsatz angenommen und damit zur Grundlage der oben abgebildeten Karte: 150 Vgl. Sitzung vom 21.09.1824, in: AyD, I, S. 283, Zitat ebd. Im Ausgleich dafür wanderten die Partidos von Puruándiro und Piedad in den Westen. Die im vorherigen Kapitel aufgestellte These bezüglich des Denkens in Grenzräumen wird hierdurch unterlegt. 151 Sitzung vom 23.09.1824, in: AyD, I, S. 286. 152 Vgl. Sitzungen vom 21.09. bzw. 05.10.1824, in: AyD, I, S. 283 bzw. 310f., Zitate S. 283 bzw. 310f.
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Villaseñor hatte ihn offensichtlich erfolgreich mit „der praktischen Kenntnis des Terrains [begründet], die einige Herren, die ihn einbrachten, besaßen“153. Auffällig ist, dass die Abgeordneten zwar Entfernungen, die Bevölkerungszahl hingegen kaum als Argument anführten. So wurden die sehr großen Unterschiede bei der Einwohnerzahl der Departamentos und auch der Partidos nicht thematisiert: Während das Nord- und Westdepartement mit 102.897 und 96.634 Einwohnern (Stand je 1827) relativ gleich groß waren, zählte das Süddepartement nur 68.910 und war damit nur knapp halb so bevölkerungsreich wie das östliche mit 138.512 Einwohnern. 154 Diese Ungleichgewichtung und deren Nicht-In-Frage-Stellung sprechen dafür, dass nicht die Anzahl der zu verwaltenden Personen argumentativ den Ausschlag gab, sondern vielmehr deren möglichst gute Erreichbarkeit. Während man also die Einrichtung der neuen Mittelbehörden der Departamentos stark als rationalen, an Entfernungen orientierten Entwurf betrachten kann, der kaum Interferenzen mit der überkommenen Seinsordnung aufwies und somit auch kaum abgeändert werden musste, sieht das auf den zwei unteren Ebenen der Verwaltung, also auf der der Partidos beziehungsweise der Municipalidades, in zunehmendem Maße anders aus. Mit der Einrichtung von Partidos knüpften die Verfassungsväter nahezu nahtlos an die in der Zeit der Intendanz geschaffenen Vorläufer der Subdelegaciones (diese hatte man auch schon alternativ als Partidos bezeichnet) an: In Kontinuität zum Ende der Kolonialzeit schuf man 22 Bezirke, wovon nur einer neu war, nämlich Charo, das vorher als Teil des senioralen Marquesado de Valle nicht der Intendanz angehört hatte und das trotz seiner geringen Bevölkerung diese privilegierte Stellung vorerst beibehielt.155 Bei allen anderen Partidos übernahmen die Verfassungsväter jeweils die alte Cabecera.156 Die Konstanz reicht zeitlich sogar noch bis vor die Intendantenrefom von 1786: Elf der Cabeceras waren schon vorher Sitz einer 153 Sitzung vom 23.09.1824, in: AyD, I, S. 286. Die ebenfalls kurzzeitig erwogene Einsetzung eines Hauptstadt-Departamento, dem der Vizegouverneur vorstehen sollte, fand wie gesehen keine Mehrheit. 154 Die Zahlen stammen aus dem Jahre 1827; vgl. Memoria 1827, S. 70-75. 155 Nach Diskussionen in der zweiten und dritten Legislaturperiode wurde das bislang diesbezüglich privilegierte Partido von Charo per Dekret am 26. Oktober 1829 aufgehoben, und zwar mit dem Hinweis „solche Vorzüge widerstreben unserem System, und wenn wir Gesetze und eine Verfassung haben interessieren uns diese Titel Spaniens nicht“ (Sitzung vom 19.10.1829, in: AHCM, Actas, c. 11, e. 1). Entscheidend war hier, dass die Bevölkerung als zu gering eingeschätzt wurde; vgl. auch Dekret Nr. 22 (26.10.1829), in: RdL, IV, S. 32. Vgl. zu einer ähnlichen Kontinuität in Gesamt-Mexiko: Carmagnani: Territorio, S. 229. 156 Den Protokollen der Diputación provincial ist zu entnehmen, dass viele Subdelegados in ihren Partidos auch nach dem Bürgerkrieg noch oder wieder in Funktion waren; vgl. ADPM.
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Alcaldía mayor beziehungsweise Alcaldía gewesen, hinzu kamen vier Sitze von ehemaligen Stellvertretern des Alcalde mayor von Pátzcuaro. 157 Die entsprechenden Protokolle sind zwar nicht überliefert, Villaseñor konstatierte jedoch am 5. Februar 1825 die nicht erfolgte Neuaufteilung. In der gleichen Sitzung bedauerte González, dass sich „das Konzept, das man die Partidos mit einer proportionalen Gleichheit hätte aufteilen sollen“ 158 , nicht hat durchsetzen können. Die Bevölkerungszahl der Partidos reichte von lediglich 2.172 in Charo als Sonderfall über 6.930 (Taretan) bis zu 42.180 (Pátzcuaro) und 45.191 (Zamora) Einwohnern. 159 Die beiden letzteren waren damit nicht wesentlich kleiner als das gesamte Süddepartement. Auf der zweiten Verwaltungsebene scheiterte also der rationale Anspruch, man baute auf alten Verwaltungsstrukturen und damit auf der Seinsordnung auf, ein Neuentwurf wie auf der Departamento-Ebene fand nicht statt. Die in Artikel 7 geforderte Neuzuteilung der Municipalidades auf die Partidos erfolgte sogar erst per Gesetz vom 10. Dezember 1831. Die Verfassungsväter sahen sich dazu noch nicht in der Lage.160 Die abnehmende staatliche Gestaltungsfähigkeit lässt sich auch an der Namensgebung ablesen: Auf den beiden unteren Ebenen orientierte man sich mit der Benennung der territorialen Einheiten nach der Cabecera an der traditionellen Praxis.
b. Staatlicher Verwaltungsapparat gegen Kommunalismus Beim Aufbau eines Verwaltungsapparates ist ein ähnliches, abnehmendes Gestaltungspotential der Zentrale zu erkennen: Während auf der Ebene der Departamentos und auch noch auf der der Partidos Verwaltungsinstitutionen geschaffen wurden, die in vielfacher Weise auf die Bedürfnisse der Zentrale zugeschnitten waren, scheiterte dieser Anspruch auf der Ebene der Municipalidades weitgehend. Den „Agenten der Regierung“ standen nach gleich zu zitierenden Aussagen der Abgeordneten kommunale „Eigenmächtigkeiten“ gegenüber. Alle drei Verwaltungsebenen wurden im dritten Verfassungstitel „Gobierno político y económico“ geregelt. Der Anspruch einer Zuordnung dieses Bereiches zur im zweiten Titel behandelten Exekutive kommt also auch in der Statik zum Vorschein. Bevor im nächsten Abschnitt die Verwaltungsaufgaben skizziert und gedeutet werden, steht hier zunächst die Untersuchung des Verwaltungsaufbaus. 157 Vgl. die Karten und die Hinweise auf die noch Ende der Kolonialzeit bestehenden Subdelegaciones; in Teil A; für die neue Aufteilung Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 1, in: RdL, I, S. 75; zu den Alcaldías mayores: Gerhard: Handbook, S. 79-107. 158 Sitzung vom 05.02.1825, in: AyD, II, S. 87. 159 Vgl. Memoria 1827, S. 70-75. 160 Vgl. Dekret Nr. 15 (10.12.1831), in: RdL, V, S. 8-13.
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Jedem der vier Departamentos ordnete man „mit vollständiger Unterordnung unter den Gouverneur des Staates“ (Art. 94) einen Prefecto zu. Auf der nächst unteren Ebene sollte es laut Verfassung „in jedem Partido, außer in dem, in dem der Präfekt residiert, einen Subpräfekt geben“ (Art. 100). Mit vier Ausnahmen übte dieser „im gesamten Gebiet des Partido mit vollständiger Unterordnung unter den Präfekten die gleichen Kompetenzen wie jener im Departamento aus“161. Die Verfassungsväter beabsichtigten hier also ähnlich wie im Intendantensystem einen klar strukturierten, gouvernemental lenkbaren Instanzenzug, in dem die „vollständige Unterordnung“ das zentrale Definitionsmerkmal darstellte. Ähnlich rational und eindeutig verlief die Festlegung des Dienstweges für Regierungsanweisungen beziehungsweise Anfragen an die Regierung: Er musste immer über die Präfekte und Subpräfekte an die Ayuntamientos beziehungsweise zurück über denselben Weg verlaufen (Art. 98).162 Auch setzte sich auf den beiden oberen Verwaltungsebenen das zum rationalen Regierungsdenken passende Direktorialprinzip gegen das Kollegialsystem durch. Das Muster wiederholte sich bei der Diskussion über die Einsetzung dieser Beamten: Gegen die Meinung des Licenciado Jiménez, die Wahl der Präfekten solle „popular“ 163 sein, also durch die Wahlversammlungen oder zumindest durch die Ayuntamientos erfolgen, blieb es bei der ursprünglich vorgesehenen Ernennung durch den Gouverneur in Übereinstimmung mit dem Consejo (Art. 95). Dies hatte der Geistliche Pastor Morales als „antiliberal“ und „aus der Zeit des Despotismus“ 164 stammend bezeichnet. Huarte hingegen empfand wohl eher die Mehrheitsmeinung nach, als er die Mehrzahl der Ayuntamientos als nicht ausreichend kompetent einstufte, Amtsträger zu wählen, die „Funktionen [ausüben], die sicherlich mehr als eine durchschnittliche Eignung erfordern“. Die Präfekten wären die „Agenten der Regierung“ 165 und trügen für die Ayuntamientos die Verantwortung. In diesem Sinne ernannten die Präfekten mit Zustimmung der Regierung auch die Subpräfekte ihres jeweiligen Bezirkes (Art. 100). Der Regierung sollten zur Durchsetzung der neuen Ordnung „vollständig untergeordnete“, verlängerte Arme im gesamten Staat zur Verfügung stehen. Bei Huarte klingt bereits die gleich zu behandelnde Gegenüberstellung von den inkompetenten kommunalen gegen die verantwortungsvollen und kompetenten gouvernementalen Institutionen an.
161 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 27, in: RdL, I, S. 80. 162 Vgl. auch Dekret Nr. 7 (04.05.1824), in: RdL, I, S. 15 bzw. die Bestärkung im ersten Kongress: Dekret Nr. 12 (01.02.1826), in: RdL, II, S. 48f. 163 Sitzung vom 30.12.1824, in: AyD, I, S. 507. 164 Sitzung vom 02.11.1824, in: AyD, I, S. 372. 165 Sitzung vom 30.12.1824, in: AyD, I, S. 507.
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Die Debatten zur Finanzierung und den Arbeitszeiten unterstreichen den Anspruch eines auf die Zentrale zugeschnittenen Regierungsapparates. Sie zeigen aber gleichzeitig erste Grenzen dieses Anspruchs auf. Zu Beginn der Debatten galt die Einrichtung der beiden neuen Ämter der Präfekten und Subpräfekten wegen fehlender Ressourcen noch als ungesichert, erst nach einem späteren Bericht der Comisión de hacienda begann die Konstituante die Diskussion.166 Für den Präfekten legte der Kongress dann ein relativ hohes jährliches, vom Staat gezahltes Salär von 2.500 Pesos fest, von dem er allerdings seinen Sekretär und sein Papier zu zahlen hatte.167 Das hebt die Rolle des Präfekten als Regierungsagenten hervor, während der Subprefecto hier eine Zwischenrolle einnahm: „Für jetzt und in Anbetracht der Knappheit des Haushalts“168 gestand man ihm lediglich eine jährliche Aufwandsentschädigung von 240 Pesos zu, und zwar mit der Begründung, dass der Amtsträger „irgendein Opfer seiner Partikularinteressen zu Gunsten der Allgemeinheit erbringen müsse“169. Aus diesem Grunde musste der Prätendent neben einem Mindestalter von 25 Jahren und der Staatsbürgerschaft als einzige Requisite ein eigenes Einkommen ausweisen können, das „reicht, ihn anständig [con decencia] auszuhalten“ (Art. 101). Ein aus der Kolonialzeit geerbtes Grundproblem, die schlechte finanzielle Ausstattung der unteren Verwaltungsebenen, konnte trotz vorhandener Sensibilität nur partiell angegangen werden, was angesichts der erwähnten finanziellen Infragestellung gar des Präfektenamtes nicht verwunderlich ist. Eine weitergehende Durchsetzung des staatlichen Gestaltungswillen scheiterte somit auf der Ebene der Partidos nicht zuletzt an den knappen Ressourcen. Die Rolle der Subpräfekten als Agenten der Regierung schien demnach prekär, was sich auch bei der Festlegung des Amtssitzes äußerte: Während den Präfekten das Gemeindehaus als Wohnsitz zur Verfügung zu stellen war,170 legte man ähnliches für die Subpräfekten nicht fest, trotz des Einwurfes von González und Pastor Morales, dass bei sich änderndem Sitz „einige für das ge166 Vgl. Sitzungen vom 04. bzw. 11.12.1824, in: AyD, I, S. 446 bzw. 460. 167 Vgl. Sitzung vom 20.01.1825, in: AyD, II, S. 55-57. Zum Vergleich: Der Gouverneur konnte über ein Einkommen von 5.000, die obersten Richter über ebenfalls 2.500 Pesos verfügen, während die Abgeordneten „nur“ 1.800 Pesos an Diäten erhielten; vgl. Dekrete Nr. 13f. (12.07.1824) bzw. 19 (25.08.1824), in: RdL, I, S. 20f. bzw. 31. Dass das Einkommen der Subpräfekten durch den Staat und nicht etwa durch die Partidos getragen wurde, geht aus den Memorias der folgenden Jahre hervor. 168 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 35, in: RdL, I, S. 80f. In Artikel 27 heißt es ausdrücklich, dass die Subpräfekte ihr Amt ohne Sold auszuüben haben. 169 Sitzung vom 05.02.1825, in: AyD, II, S. 87f. Die Aufwandsentschädigung war ausdrücklich monatlich auszuzahlen. 170 Vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 34, in: RdL, I, S. 80.
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meine Glück interessante Dokumente verloren gehen könnten“. Gegen die Fixierung der Cabecera als ständigen Amtssitz des Subprefecto hatte Huarte, unterstützt von Rayón und Villaseñor, eingebracht, dass wenn „ein Individuum von mittelmäßigem Vermögen durch das Gesetz verpflichtet“ würde, „in der Cabecera zu arbeiten“ und deshalb seinen Wohnort aufgeben müsste, würde dieser Umstand „seine Familie ruinieren“171 und er könnte folglich sein Amt nicht gut bedienen. Die Festlegung der Auflagen für beide Ämter verstärkt den Eindruck des Subpräfekten als Institution zwischen Regierung und lokaler Vernetzung: Bei ihm ging man, wie eben gesehen, selbstverständlich davon aus, dass er aus dem entsprechenden lokalen Umfeld kommt. Anders jedoch beim Präfekten, dessen Amt wohl auch für Externe als attraktiv eingeschätzt wurde: Für ihn – wie gesehen aber nicht für die Subpräfekten – jedenfalls traf man eine entsprechende Regelung: Alle in Frage kommenden Personen mussten unter anderem eine mindestens fünfjährige Residenzpflicht im Staat vorweisen (Art. 96), da es laut Protokoll „notwendig sei, dass diese Ortskenntnisse besitzen“. In Frage kamen Personen, die in Mexiko geboren wurden und eben nicht nur „Söhne des Staates“172. Für die Subpräfekten sahen die Verfassungsväter hingegen keinen entsprechenden Verhandlungs- und Regulierungsbedarf. Dieses Verständnis treffen wir auch bei der Debatte über die Amtszeiten an. Auf der gouvernementalen Seite galt das Amt des Präfekten über sein Gehalt offensichtlich als so attraktiv, dass eine Wiederwahl unmittelbar im Anschluss an die vierjährige Amtszeit nur bei „sehr empfehlenswerten Umständen“ möglich sein sollte, und ausdrücklich auch nur „weitere vier“ (Art. 97) Jahre. Das Amt des Subprefecto hingegen war mit Opferbereitschaft und der Einbringung eigener Ressourcen verbunden, nach Villaseñor und Menéndez war es „eines der drückendsten“173. Hier klingt wohl die Erinnerung an die nicht staatlich bezahlten Subdelegierten durch. Der Kongress fixierte schließlich entgegen dem Kommissionsvorschlag, der für beide Ämter eine gleich lange Dienstzeit von vier Jahren vorgesehen hatte, für die Subpräfekten nur zwei Jahre. Eine einmalige Wiederwahl wurde zwar ermöglicht, jedoch mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass dem Subprefecto dann der Antritt frei gestellt sei (Art. 102).174 Die von jedem Staatsbürger laut Staatsbürgerpflichten einforderbare Opferbereitschaft 171 Vgl. Sitzung vom 27.01.1825, in: AyD, II, S. 69-71, Zitate S. 70. 172 Sitzung vom 05.03.1825, in: AyD, II, S. 169. In Frage kamen alle innerhalb der Föderation geborenen Staatsbürger mit mindestens 30 Jahren. Entscheidend waren für alle die Ortskenntnisse und nicht, wie Huarte es ausdrückte, „das Land zu lieben, wo man das erste Licht gesehen“ hat, weswegen die Residenzpflicht auch für die gebürtigen Michoacanos verlangt wurde. 173 Sitzung vom 18.01.1825, in: AyD, II, S. 51. 174 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 11, in: RdL, I, S. 76.
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zu Gunsten der Allgemeinheit, deren Freiwilligkeit in Anbetracht des Antrittszwanges fraglich ist, sollte nicht überstrapaziert werden. So erscheinen die Präfekten und in reduzierter Form auch die Subpräfekten als verlängerter Arm der zentralen Regierung und als Nachweis der Gestaltungsfähigkeit des Staates entlang einer von der Zentrale steuerbaren Sollensordnung. Diesen beiden Regierungsinstitutionen standen auf der dritten, munizipalen Ebene die Ayuntamientos gegenüber. Obwohl die Abgeordneten diese Gremien im gleichen Verfassungstitel behandelten, verstanden sie sie nicht als „Agenten der Regierung“: Dies zeigt zunächst das Fehlen der Klausel „mit vollständiger Unterordnung“ sowie die Nicht-Festlegung einer staatlich garantierten Vergütung für deren Mitglieder. Sie wurde zwar kurz thematisiert, aber nicht verankert. Auffällig ist ferner, dass für die Mitglieder der Ayuntamientos mit ein- beziehungsweise zweijähriger Dienstzeit, obwohl ihnen kein Lohn von staatlicher Seite zugesichert wurde, keine Nicht-Wiederantrittspflicht wie für die Subpräfekten festgeschrieben, vielmehr die Antrittspflicht nochmals betont wurde.175 Nach Artikel 34 des Ayuntamiento-Gesetzes durften nur in Munizipien mit mehr als 10.000 Personen die Mitglieder nicht sofort wiedergewählt werden. Hier gingen die Verfassungsväter offensichtlich davon aus, dass ausreichend viele geeignete Personen zur Verfügung standen und dass ein gewisses Interesse an den Ämtern bestand. Für die Mitglieder der Ayuntamientos empfand der Kongress keine weiter reichende Schutzverpflichtung. In diese Richtung weist auch die Festlegung der Auflagen für die Ratsmitglieder: Neben dem Mindestalter von 25 Jahren beziehungsweise 18 bei Verheirateten, der Vecindad und ein Jahr Residenz im Ayuntamiento-Bezirk mussten sie „Kapital oder Gewerbe zum Fortbestehen [subsistir]“ (Art. 110) vorweisen können. Später wurde in das Gesetz noch ausdrücklich hinzugefügt, dass die Alcaldes und die so genannten Síndicos ab 1833 Lesen und Schreiben, die Regidores mindestens Lesen können mussten (Art. 111). 176 Während also der Subpräfekt als Repräsentant des Staates „anständig“ auftreten können sollte, musste das potentiell als ungebildet geltende Ayuntamiento-Mitglied nur fähig sein, trotz seines Amtes weiter zu existieren. Die dritte Ebene des Gobierno político y económico, die Ratsgremien, galt den Verfassungsvätern also nicht als Teil des neuen staatlichen Projekts. Hierfür lassen sich im Wesentlichen zwei immer wiederkehrende Wahrnehmungsmuster 175 Nach Artikel 35 bestand, wie schon bei den Staatsbürgerpflichten festgelegt, eine Antrittspflicht; vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 34f., in: RdL, I, S. 67. 176 Vgl. Dekret Nr. 33 (24.01.1825) / Art. 9, in: RdL, I, S. 63; Sitzungen vom 08. bzw. 22.01.1825, in: AyD, II, S. 22 bzw. 59. Die hier genannten Kriterien sind so oder in ähnlicher Form auch in den Verfassungen der anderen Bundesstaaten wieder zu finden. Zwar liegt keine Beschreibung der Aufgaben des Procurador síndico (kurz: Síndico) vor, es lässt sich jedoch annehmen, dass dieser wie am Ende der Kolonialzeit als eine Art Volksanwalt fungierte.
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erkennen: die Eigenmächtigkeit der Ayuntamientos als Vertretungen der Pueblos und ihre kulturelle Entfernung vom Zentrum. Die Eigenmächtigkeit ergab sich primär aus der Bestimmung ihrer Mitglieder: Sie wurden anders als die beiden oberen Instanzen nicht durch die Regierung ernannt, sondern durch die Staatsbürger des jeweiligen Vecindario gewählt. Im Unterschied zu den anderen, durch die Verfassung eingeführten Organe waren sie weder mittelbar noch unmittelbar durch den Kongress legitimiert, sondern durch eine eigenständige Wahl. Wie bei der einzig anderen populären Wahl, nämlich der zum Kongress, führten die Verfassungsväter wie beim Kongress eine indirekte Wahl ein: Für „je 500 Personen von jedem Geschlecht und Alter“ sollte ein Wahlmann bestimmt werden, deren Versammlung dann die Mitglieder der Ayuntamientos wählen sollte.177 Neben der eigenständigen Bestimmung spielte bei den Verfassungsvätern eine Rolle, dass die Ayuntamientos vorstaatliche Institutionen darstellten: Es gab zumindest einen Teil von ihnen schon vor der Errichtung des neuen Staates. Vor allem in der Zeit nach der imperialen Krise von 1808 hatten sie wesentliche staatliche Funktionen übernommen, was oben mit dem Stichwort „Kommunalisierung“ überschrieben wurde. So verwundert es nicht, dass die Konstituante die Ratsgremien vielfach als Konkurrenzprojekt wahrnahm. Wie gingen die Parlamentarier mit dieser Eigenmächtigkeit um? Anhand der teilweise sehr kontroversen, ideologisierten Debatten um das Verhältnis der gouvernementalen Ämter der (Sub-)Präfekten zu den kommunalen Ayuntamientos lässt sich dieser Frage nachgehen. Ein Streit entzündete sich insbesondere bei der Diskussion, ob der Präfekt Mitglieder des Ayuntamiento mit „gerechtfertigtem Grund“ 178 aus ihrem Amt entheben durfte. Lloreda sprach sich (wieder mal stark liberal) vehement dagegen aus: Wegen der direkten Wahl durch das „Vecindario“ bezeichnete er „jedes Ayuntamiento gemäß dessen republikanischen Prinzipien [als] einen kleinen Kongress und [als] Teil der nationalen Souveränität, über die die Regierung keine Gewalt besitze“, vielmehr „müsse sie sich nach diesen richten ... Andererseits würde man zulassen, dass ein Individuum das auseinander nehmen könne, was der Souverän macht“ 179 . Dies wäre „antiliberal“180 und die Suspension einer Legislative durch die Exekutive „passe nur zu einer aristokratischen Regierung“ 181. Auch nach Pastor Morales stand dies, mit Verweis auf „unterschiedliche Lehren von Benjamin Constant ... der zivilen Gleichheit entgegen, vermische die Gewalten und attackiere die indivi177 Vgl. zu den Wahlen: Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 4-30, in: RdL, I, S. 64-66, Zitat Art. 13. 178 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 32. 179 Sitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 37. 180 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 32. 181 Sitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 37.
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duelle Gleichheit“. Nur durch justizielle und nicht durch exekutive Verfahren seien solche Probleme ohne Willkür zu lösen. Im gleichen Feld verortete er die seiner Einschätzung nach sinnlose Abschwächung von „eigenmächtigen Vorkehrungen“ durch die Beigabe von Adverbien wie „gubernativamente“ oder von Ausnahmen legitimierenden Einschüben wie „gemäß den Umständen“. Die spanische Regierung habe damit „schreckliche Schäden“ angerichtet.182 Die Begründung des Artikels „beweise nur, dass immer noch große Rückstände in den Gewohnheiten fortdauern, die in vielen Aspekten dem Verhalten der spanischen Regierung folge“183. Das Weiterleben einer am monarchistisch-willkürlichen Verhalten orientierten politischen Kultur behinderte nach dieser Argumentation die Entfaltung rechtsstaatlicher und ‚republikanischer Prinzipien’. Die Gegenseite wurde als monarchistisch diffamiert, ja fast dämonisiert. Allerdings sah Pastor Morales nicht in der uneingeschränkten Präponderanz der ‚kleinen Kongresse’ die Lösung, da „unser System nicht absolut populärdemokratisch sei, sondern föderal“. Die Exekutive habe daher durchaus Eingriffsmöglichkeiten „beim Bestrafen der Unordnung der Ayuntamientos“184, aber eben auf rechtsstaatlichen Verfahren und nicht auf Willkür basierende. In ähnlicher Absicht verwies Rayón darauf, dass auch die Prefectos durch den Souverän legitimiert seien. Huarte begründete als Mitglied der vorschlagenden Kommission das Absetzungsrecht des Präfekten mit dessen Generalverantwortung für das Gobierno económico-político sowie mit dem Misstrauen, dass die Mitglieder des Ayuntamiento wegen des dort herrschenden „Korpsgeistes“ diese Kontrollaufgabe nicht selbst übernehmen könnten.185 Die Mehrheit nahm bei Enthaltungen von Lloreda, Pastor Morales und Jiménez die vorgeschlagene Suspensionskompetenz des Präfekten mit „gerechtfertigtem Grund“186 und bei sofortiger Benachrichtigung des Gouverneurs schließlich an. Der auch im Weiteren zu erkennende Versuch, die Ayuntamientos in ihrer Eigenmächtigkeit zu beschneiden, wurde mit zwei immer wiederkehrenden Begründungsmustern legitimiert: Die Ayuntamientos stellen erstens eine Gefährdung für die staatliche Ordnung und die Bevölkerung dar und sie sind zweitens kulturell zu weit vom Zentrum entfernt. Die Verfassungsväter skizzierten die nicht unter dem direkten Zugriff der Zentrale stehenden kommunalen Organe nicht nur nicht als Teil, sondern vielmehr als Gefahrenpotential, und zwar 182 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 32f. Er bezeichnete diese Abschwächungen den „aristotelischen Unterscheidungen ähnlich, die nur auf dem Papier stünden“. 183 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 33. 184 Sitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 38. 185 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 33; vgl. auch Sitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 37f. 186 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/13, in: RdL, I, S. 78.
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sowohl für die Bevölkerung als auch für das staatliche Projekt. Dies wird bei den Diskussionen um die Einrichtung und Zusammensetzung der Ayuntamientos sowie bei denjenigen um ihr Verhältnis zu den Präfekten beziehungsweise Subpräfekten augenscheinlich. Hier treffen wir auch immer wieder auf die beiden eben genannten Argumentationsmuster. Trotz dieses Gefährdungspotentials versuchte man in Michoacán allerdings nicht wie beispielsweise kurzzeitig in Argentinien oder in einigen deutschen Staaten zu Beginn des Jahrhunderts die „Verstaatlichung der Gemeinden“187. Allerdings ähneln sich die Stereotypen mit Vorwürfen wie Inkompetenz, Traditionalität, Cliquen- und Vetternwirtschaft, Korruption und Verschuldung. 188 Eine Zentralisierung galt wohl als nicht durchsetzbar, auch wenn, wie es die Diskussionen nahe legen, die Auflösung oder zumindest die vollständige Reform für die Mehrheit das Ideal gewesen wäre. So fokussierte sich der Kongress unter Inkaufnahme des internen „sistema federal“189 auf die Reduktion der Ratsgremien – und sogar Lloreda plädierte dafür. Ihre in den vorliegenden Debatten nur angedeutete Machtposition hatte die kommunale Ebene durch die Etablierung der Ayuntamientos constitucionales nach 1820 institutionalisieren können. Im Vergleich zur Zeit davor war die Zahl der kommunalen Repräsentationsorgane förmlich explodiert. Die Anzahl der potentiellen Partizipanten war allerdings nicht nur enorm gestiegen, sie hatte sich zudem durch die ethnische Indifferenz in der Zusammensetzung geändert. Antonio Annino spricht diesbezüglich, wie zitiert, treffend von einer „Ruralisierung des politischen Raumes“ 190 und somit von einer kulturellen Entfernung vom urbanen Zentrum. In diesem Sinne forderte Lloreda gleich zu Beginn der Debatte über die Einrichtung der Ayuntamientos die genaue Fixierung, wo es sie geben sollte, ob „in allen Pueblos, die sie heute haben, oder ob sie in vielen abzuschaffen seien, wie es nach seiner Denkart geschehen müsste“. Er begründete seine Denkart, indem er „einige Beispiele von Ayuntamientos anführte, die statt wohltätig zu sein allzu schädlich für die Pueblos im Generellen und für viele ihrer Einwohner im Besonderen waren“191. Pastor Morales unterstützte ihn auf „Exzesse und Eigenmächtigkeiten“ hinweisend: „Diese Korporationen sind vollständig schädlich 187 Willoweit: Verfassungsgeschichte, S. 235. 188 Zu Argentinien, wo man statt der Ratsgremien staatliche Friedensrichter installierte vgl. Ternavasio: Régimen, S. 89-92; Annino: Introducción, S. 13; zu den deutschen Staaten, die sich wie Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei der territorialen Einteilung zum Teil an Frankreich orientierten; vgl. auch Weis: Einfluss, S. 577f.; Treffer: Entwicklung. 189 Sitzung vom 13.12.1824, in: AyD, I, S. 467. 190 Annino: Conclusión, S. 186; vgl. auch Annino: Soberanías. 191 Sitzung vom 04.12.1824, in: AyD, I, S. 448f.
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und bedürfen der Reform“192. Nur Huarte, jahrelanges Mitglied des Ayuntamiento von Valladolid, verteidigte in der gleichen Sitzung zunächst die Institution als für die innere Verwaltung notwendig, eine Reduzierung mache eine gute Verwaltung hinfällig und die Aufgabe für die verbleibenden Amtsträger um so schwieriger. In der nächsten Sitzung brachte Lloreda ein eigenes Gesetzesprojekt ein: Vornehmliches Ziel war die Senkung der „exzessiven Anzahl“ an Rathäusern, in denen im gesamten Staat „mindestens tausend Individuen mit ausreichend Schaden in ihren Partikularinteressen und ohne irgendeinen Vorteil“193 beschäftigt seien. Sein Vorschlag sah pro Partido ein Ayuntamiento mit nach Bevölkerung unterschiedlich großen Abteilungen (Secciones) in den einzelnen Orten vor. Bezeichnenderweise scheiterte dieser Versuch der „simplificación“194, des systematisierenden Neuentwurfs am Festhalten an der alten Ordnung. Auch wenn Huarte in der positiven Bewertung der Ayuntamientos eine Ausnahme darzustellen schien, plädierte selbst er für deren Reduzierung: Er brachte zunächst erfolgreich eine Mindestzahl von 6.000 Seelen (Almas) für den Anspruch auf die Bildung eines eigenen Rates ein. 195 Nach der bisher gültigen Regelung von Cádiz lag der Sockel bei 1.000 Einwohnern. Auf dieser Grundlage hatten sich in der Zeit nach 1820 ja mindestens 91 Ayuntamientos constitucionales gebildet. Ein erster Verfassungsentwurf für Michoacán hatte hier noch eine Kontinuität vorgesehen, gegen die sich Huarte nun wandte.196 In der nächsten Sitzung schlug die Kommission mit der Begründung zu großer Entfernungen eine Reduzierung der Basis auf 4.000 Almas vor, was ohne weitere Diskussion akzeptiert wurde (Art. 104). Wenn diese Zahl nicht erreicht wurde, konnten sich mehrere Pueblos innerhalb eines Partido zusammenschließen, oder wenn zu weit auseinander liegend, an das nächste Rathaus anschließen. In diesem Fall sah die Verfassung einen Stellvertreter (Teniente) im entsprechenden Pueblo vor.197 Nur die Hauptorte der Partidos sollten unabhängig von ihrer Größe immer ein Ayuntamiento besitzen (Art. 105-109). Zusammen mit dem Estado de México traf Michoacán somit die restriktivste Regelung, wobei hier Michoacán die Vorreiterrolle einnahm. México verabschiedete seine Verfassung erst 1827. Vor Michoacán waren mit Jalisco und Nuevo León schon zwei Verfassungen in Kraft, die, wie später drei weitere, bei der gaditanischen Vorgabe von tausend Seelen blieben. Die anderen Staaten intendierten gleichfalls die Reduktion durch 192 Sitzung vom 04.12.1824, in: AyD, I, S. 449. 193 Sitzung vom 06.12.1824, in: AyD, I, S. 450. 194 Lloreda wurde vom Präsidenten aufgefordert, seine Ideen spezifisch in die Diskussion einzubringen, was aber ob der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der Projekte nicht realisierbar war; vgl. Sitzung vom 07.12.1824, in: AyD, I, S. 455f., Zitat S. 456. 195 Sitzung vom 07.12.1824, in: AyD, I, S. 456. 196 Vgl. Art. 178, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, , o. S. 197 Sitzung vom 11.12.1824, in: AyD, I, S. 462.
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eine höhere Schwelle.198 Schon zwei Jahre später hatte sich die Zahl der Ayuntamientos in Michoacán laut Regierungsangaben um ein Drittel auf 61 Rathäuser reduziert und stabilisierte sich auf diesem Niveau.199 Die Intention lag also auf der Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltungsorgane, was auch zu einem guten Teil gelang. Allerdings, so bleibt festzuhalten, gelang eine Reform im Sinne Lloredas und Pastor Morales’ nicht. Die Mehrheit hielt an der Seinsordnung fest. Man behielt die alten, quasi vor-staatlichen Institutionen bei und hielt auch im Gegensatz zum Direktorialsystem der beiden oberen Ebenen an Kollegialorganen fest. Der staatliche Neugestaltungsanspruch ließ sich also auf der lokalen Ebene nicht realisieren. Als zweites, bereits angedeutetes Argument für die Sonderstellung der Ayuntamientos führten die Abgeordneten immer wieder das Argument der fehlenden Bildung und der daraus resultierenden kulturellen Entfernung vom zivilisierten, gebildeten Zentrum, das zuweilen neben Valladolid auch andere Städte umfasste. Entsprechend wurde den Ayuntamientos, wie oben gesehen, ein direkter Kommunikationsweg zu den höchsten Regierungsinstanzen nicht eingeräumt. Auf Grund dieser Skepsis versuchten die Verfassungsväter neben einer möglichst weitgehenden Reduktion der Ayuntamiento-Zahl die Stärkung von internen und vor allem von externen Kontrollmechanismen. Die beiden internen Mechanismen – Checks and balances und eben Bildung – tauchten insbesondere bei der Debatte um die Besetzung der Ayuntamientos auf: Die eine Seite, hier Salgado und Villaseñor, argumentierte für eine Erhöhung der Mitglieder im Vergleich zu einem Vorschlag der Kommission, damit, dass die Funktionsträger 198 Neben Jalisco und Nuevo León blieben Chiapas, Coahuila y Texas und San Luis Potosí für dessen Einrichtung bei der durch Cádiz eingeführten Mindestbevölkerungszahl von 1.000 Almas, Querétaro und Tamaulipas setzten die Grenze bei 2.000, Guanajuato, Oaxaca, Occidente, Yucatán und Zacatecas bei 3.000. Die übrigen fünf Verfassungen legten keine verfassungsmäßigen Grenzen fest. Die genannten Grenzen konnten jedoch in den meisten Fällen unterschritten werden, wenn besondere Umstände ein Ayuntamiento als erforderlich oder vorteilhaft erscheinen ließen; vgl. beispielhaft: Ein Ayuntamiento erhielten in Yucatán auch die Pueblos, die das auf Grund ihrer „Bildung, Landwirtschaft, Gewerbes und Handels“ (Verfassung von Yucatán, Art. 193) verdienten. Vgl. zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 156-158. 199 Vgl. Memoria 1827, f. 75v. u. Memoria 1834, f. 8v. Ein Dekret vom 29. November 1824 hatte bestimmt, dass bis zur neuen gesetztlichen Regelung keine Neuwahlen in den Ayuntamientos stattfinden sollten; vgl. Dekret Nr. 26 (29.11.1824), in: RdL, I, S. 49. Das Dekret 35 vom 24. Januar 1825, also am gleichen Tag wie das zur Einrichtung der Ratsgremien, legte dann die vollständige Erneuerung aller Ämter fest, das Dekret 39 (03.03.1825) ermächtigte die Regierung bis zur vollständigen Umsetzung des Ayuntamiento-Organisationsdekretes dort Ratsgremien zu bestimmen, wo es solche noch nicht gab, die aber laut Dekret eines haben sollten; vgl. Dekret Nr. 35 (24.01.1825) bzw. 39 (03.03 1825), in: RdL, I, S. 73 bzw. 75.
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„in den kleinen Pueblos … im allgemeinen diverse Beziehungen von Freundschaft, Handel oder Verwandtschaft haben“, für eine gerechte Behandlung aller Betroffenen sei also eine gegenseitige Kontrolle im Sinne von Checks and balances notwendig. Huarte verwies auf die Knappheit an geeignetem Personal und auf den bisherigen „Brauch“200, trotzdem entschied sich die Mehrheit für die Verdopplung der Alcaldes auf zwei. In die gleiche Richtung geht auch das Verbot, dass bis zum dritten Grade miteinander Verwandte nicht demselben Ayuntamiento angehören durften.201 Das zweite interne Kontrollinstrument bestand in einem hohen Grad an Bildung, der zur Übernahme von Verantwortung und Kompetenzen befähigte und berechtigte und somit externe Kontrolle ersetzte. Dies wird hier angedeutet, wenn Valladolid wegen seiner „Majorität an Bildung“202 eine höhere Anzahl an Amtsträgern erhielt: Für Ayuntamientos von Munizipien mit weniger als 5.000 Seelen wurden zwei Alcaldes, fünf Regidores und ein Procurador síndico vereinbart, für die mit mehr Einwohnern war die Verteilung zwei, acht und zwei und nur für die Hauptstadt vier, zwölf und zwei.203 Die Ratsherren (Regidores) hatten wie zuvor eine einjährige Amtszeit, ebenso die Síndicos. Für die Alcaldes war, ebenfalls in Kontinuität zur kolonialen Zeit, eine zweijährige Amtszeit festgelegt. Die Bildung als interner Kontrollmechanismus spielte aber auch bei der Zuweisung von Kompetenzen an die Alcaldes eine Rolle: Wie im Kapitel über die Judikative dargestellt, behielten die Alcaldes ihre Doppelfunktion als erste rechtsprechende Instanz und als Ayuntamiento-Mitglieder, da nicht genug Personen mit entsprechenden „Kenntnissen“204 für eine Trennung vorhanden seien, insbesondere da die Alcaldes meist die „am besten instruierten“205 waren. Auch innerhalb der Ratsgremien behielten die Alcaldes deswegen ihre herausgehobene Stellung: Sie waren der vorgeschriebene Amtsweg für die Kommunikation mit den „höheren Autoritäten“206 und fungierten außerdem als Exekutivorgane der ‚kleinen Kongresse’, denn sie hatten die „allgemeinen Mittel der guten Regierung … zum Sichern und Schützen der Personen und Güter der 200 201 202 203
Sitzung vom 13.12.1824, in: AyD, I, S. 465. Vgl. Dekret Nr. 49 (13.07.1825), in: RdL, I, S. 96 u. allg.: Annino: Soberanías, S. 251. Sitzung vom 13.12.1824, in: AyD, I, S. 466. Vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 1-3, in: RdL, I, S. 63f. In der vorliegenden Ausgabe stehen dort irrtümlicherweise für Valladolid zwei Regidores, aus der Debatte geht allerdings eindeutig hervor, dass es „zwölf“ heißen muss; vgl. Sitzung vom 13.12.1824, in: AyD, I, S. 466). Ansonsten stand jedem Ayuntamiento lediglich ein Sekretär und ein Schatzmeister („Depositario“) zur Verfügung; vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 8486, in: RdL, I, S. 72f. 204 Sitzung vom 06.12.1824, in: AyD, I, S. 451. 205 Sitzung vom 07.12.1824, in: AyD, I, S. 455. 206 Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 54, in: RdL, I, S. 69.
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Einwohner der Municipalidad durchzuführen“ 207 . Ob ihrer Bildung kamen die Alcaldes am ehesten als Agenten der Regierung in Frage. An anderer Stelle wird der Alcalde als „Beauftragter zur Ausführung der Anweisungen der Subpräfekten“ (Art. 108) bezeichnet, was deren exponierte, regierungsnahe Stellung ebenso betonte wie die Tatsache, dass die am zeitnächsten ausgeschiedenen ExAlcaldes die (Sub-)Präfekte in deren Abwesenheit vorläufig zu vertreten hatten.208 Die Alcaldes übernahmen somit neben jurisdiktionellen und legislativen Funktionen in den kleinen Kongressen zudem exekutive Funktionen, was den systematischen Bruch der Gewaltenteilung unterstreicht. Bildung, so lässt sich schlussfolgern, ermöglichte nicht nur den Einblick in die neue Sollensordnung, sondern galt gleichzeitig als Garant für deren korrekte Umsetzung. Gefahr für das staatliche Projekt lauerte dort, wo Ignoranz anzutreffen ist. In diesem Sinne kann Bildung externe Kontrolle ersetzen und somit aus sich heraus traditionellen Missständen des Mal gobierno begegnen. Neben den beiden internen Kontrollmechanismen galt es gemäß den Verfassungsvätern zudem die externe Kontrolle zu stärken. Auch hier treffen wir analytisch auf zwei Mechanismen: die persönliche Kontrolle durch Regierungsagenten und die un- beziehungsweise überpersönliche durch Gesetze. Die persönliche Kontrolle manifestierte sich beispielsweise in der Festlegung, dass der Präfekt, wie vormals der Intendant, dem Rat seines Amtssitzes ständig und denjenigen, bei denen er durchreist, auf Wunsch ohne Stimmrecht vorsitzt.209 Auch die Führungsposition der vermeintlich regierungsnäheren Alcaldes unterstreicht: Die Verantwortung lag auf der Seite der zentralen Regierung. Die Ayuntamientos konnten keine eigenverantwortlichen Kontrollaufgaben übernehmen, sondern waren vielmehr selbst Objekt gouvernementaler Kontrolle. Weiterhin verfügten die Verfassungsväter für eine möglichst umfassende staatliche Präsenz Visitationspflichten: Mindestens einmal jährlich hatte der Präfekt alle Partidos zu visitieren, wobei ihm ausdrücklich untersagt wurde, dabei irgendeine Art von Gegenleistung zu empfangen. Auch die Subpräfekte besaßen „in Ausübung ihrer Beaufsichtigung“ die Pflicht, mindestens einmal pro Jahr die Ayuntamientos ihres Partido zu visitieren – auf häufigere Pflichtvisiten wurde aus Rücksicht auf ausdrücklich beide Seiten verzichtet.210 Der direkte Kontakt zwischen gouvernementalen und kommunalen Amtsträgern galt demnach als 207 Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 53, in: RdL, I, S. 69. 208 Vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 21 u. 24f., in: RdL, I, S. 79. Zur Nähe zwischen diesen beiden Ämtern vgl. auch den Abschnitt über deren Aufgabenbereiche. 209 Vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 20, in: RdL, I, S. 79. 210 Vgl. für die Präfekten: Sitzung vom 09.11.1824, in: AyD, I, S. 383f. bzw. für die Subpräfekten: Sitzung vom 05.02.1825, in: AyD, II, S. 88f.
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Beschwernis für beide Seiten, beide sollten vor einem Zuviel geschützt werden. Das Kontrollbedürfnis äußerte sich zudem in der (erfolglosen) Forderung von González, wenn er wegen der notorischen „Missbräuche und weiteren Verfehlungen“211 eine möglichst monatliche Inspektion der Ayuntamientos durch die Subprefectos verlangte. Eine selten anzutreffende Ausnahme stellt wieder Huarte dar, der diesbezüglich, auf eigenen Erfahrungen basierend, für mehr Freiräume plädierte, da dies der „Gewohnheit und der allgemeinen Praxis aller Ayuntamientos“ 212 entspräche, sie kennten die Umstände ihrer Vecinos am besten. Willkür sei nicht zu erwarten, „da alle im ausreichenden Maße instruiert sind“ 213 . Villaseñor verstärkte das Argument mit dem „guten Konzept und der Ehre, die man für diese Korporationen annimmt“214, wobei er deren Freiheit sogleich durch den Zusatz „gemäß den Gesetzen“ einschränken lassen wollte. Neben der persönlichen Kontrolle gab es aber auch Versuche, über zentral „programmierte“ Gesetze Kontrolle auszuüben. An der folgenden Diskussion über die von den Ayuntamientos zu bildenden ständigen Gesundheitskommissionen („Juntas de sanidad“) zur Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten lässt sich dies besonders gut zeigen: Zum einen mussten die Ayuntamientos zu diesen Kommissionen externen Beistand zulassen, und zwar musste neben „ein oder mehreren Medizinern [facultativos], wo es sie gibt“, „immer der Ortspfarrer“ zugegen sein, „um sie in ihren Verhandlungen zu belehren“ 215 . Dies hatte ausdrücklich unter der Aufsicht der Präfekten zu geschehen. 216 Neben den Fachleuten stellte man also den vermeintlich wenig gelehrten Ratsgremien mit dem Präfekt und dem Pfarrer zwei fachfremde, aber angenommenermaßen gelehrtere Personen zur Seite. Verantwortung sollten wieder nur die übernehmen können, denen man Bildung unterstellte. Weiterhin forderte Villaseñor bei der Diskussion über die Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten durch die genannte Kommission und den Präfekten die Einführung von ausführlichen „reglementierenden Artikeln in die Verfassung, vor allem solange die Bildung nicht ausreichend verbreitet ist“217. Die Herrschaft der Ignoranz und der Willkür sollte also sowohl durch regierungsnahe, gebildete Personen als auch durch die Herrschaft der Gesetze ersetzt werden. 211 212 213 214 215 216 217
Sitzung vom 20.12.1824, in: AyD, I, S. 488. Sitzung vom 20.12.1824, in: AyD, I, S. 488. Sitzung vom 28.12.1824, in: AyD, I, S. 503. Sitzung vom 20.12.1824, in: AyD, I, S. 488. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 64, in: RdL, I, S. 70. Vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 19, in: RdL, I, S. 79. Sitzung vom 03.01.1825, in: AyD, II, S. 8; vgl. auch Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 18, in: RdL, I, S. 78f.
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Das Kapitel über den Verwaltungsaufbau abschließend, lassen sich zwei konträre Vorstellungen über den Umgang mit den Ayuntamientos erkennen. Zunächst waren sich grundsätzlich alle Abgeordneten darin einig, dass die Ayuntamientos eine Gefährdung des staatlichen Projekts und der Bevölkerung darstellten. Man gewinnt den Eindruck, dass die Ayuntamientos als alternatives (Un)Ordnungsmodell dem Aufbau einer staatlich-zivilisierten Ordnung entgegenstanden. Sie wurden diskursiv verknüpft mit Ignoranz, mit Vetternwirtschaft und Eigenwilligkeit. Ihre Eigenständigkeit war explizit nicht erwünscht. Für die Etablierung der staatlichen Souveränität setzten die Verfassungsväter auf verlässliche, überkommene beziehungsweise zentral steuerbare Institutionen, wie auf die Einteilung in Partidos und Municipalidades und auf die Alcaldes, (Sub-) Präfekte sowie auf Gesetze. Für die Mehrheit stand die Etablierung der neuen staatlichen Institution und somit die Rückdrängung des Einflusses der Ayuntamientos so sehr im Vordergrund, dass sie dafür auch bereit war, von den Prinzipien der neuen Sollensordnung wie der Gewaltenteilung oder dem Sistema federal abzuweichen. Sie plädierte für die Reduktion der kommunalen, nicht „vollständig untergeordneten“ Gremien und deren möglichst starke Kontrolle. Wie bei der verkappten Gewaltenteilung zwischen den drei obersten Regierungsgewalten ersetzte Top-down-Kontrolle das System der Checks and balances. Entgegen weit verbreiteter philosophisch-staatstheoretischer Postulate, zu nennen sind beispielsweise Montesquieu, Constant oder auch Alexis de Tocqueville (1805-1859), sollte die kommunale Ebene nicht den Grundstein der Gesellschaft darstellen.218 Die Fraktion, die sich für die Einhaltung des internen „föderalen Systems“ in Form einer gewissen „Eigenmächtigkeit“ der „kleinen Kongresse“ und des liberalen Gewaltenteilungsprinzips auch auf kommunaler Ebene einsetzte, war wie gesehen in der Minderheit. Lediglich Lloreda, Pastor Morales und zuweilen Jiménez verteidigten in stark erhitzten Debatten die Partizipationsmöglichkeiten weiterer Kreise und bezichtigten implizit ihr Gegenüber der Rückständigkeit und der Sympathie mit monarchistisch-autoritären, an den politischen Systemen Europas orientierten Vorstellungen. Dabei stellten sie die Reformbedürftigkeit der Ratsgremien keinesfalls in Frage, setzten aber als Lösung auf das liberale Modell der Gesetzesherrschaft.
218 Vgl. für Montesquieu: Geist, XI, 6, S. 218f.; für Constant zusammenfassend: Weber: Benjamin, S. 288ff.; für Tocqueville insb.: Tocqueville: Demokratie, Bd. I, Kap. V.
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Aufgaben der Verwaltung zwischen Ruhe, Ordnung und Zivilisation
Nach der Behandlung des Verwaltungsaufbaus erfolgt nun im folgenden Abschnitt die Untersuchung der Aufgaben der Administration. Die eben aufgestellten Thesen über das Verhältnis von Zentrale und landesweiter Verwaltung lassen sich hier stützen. Als Ziele des Gobierno político y económico legte die Konstituante „die Ruhe und eine gute öffentliche Ordnung, die Sicherheit der Personen und der Güter der Einwohner“ 219 fest. Zur Erlangung dieser Zwecke setzten die Verfassungsväter insbesondere auf eine möglichst flächendeckende Präsenz zentral lenkbarer Regierungsinstitutionen, sei es in personeller Form oder ideell durch Gesetze, wobei hier noch deutlicher wird, dass die Gesetzesherrschaft, in die wie eben gesehen nur die Minderheit vertraute, sekundär blieb. Wie gezeigt, versuchten die Verfassungsväter die staatliche Präsenz zum einen durch die möglichst zentrale Verteilung der Hauptorte in den Departamentos und Partidos beziehungsweise durch die Einsetzung von Tenientes zu erreichen. Um die „gute öffentliche Ordnung“ auch auf den Haciendas und Ranchos zu verankern, schlug die Kommission zudem einen Artikel vor, nach dem der Hacendado je ein „Haupt des Rancho“ zu ernennen hatte. Auf Protest insbesondere von Salgado, Lloreda, Rayón und Pastor Morales wurde die „häusliche Autorität“ des Hacendado durch eine „öffentliche Autorität“, in diesem Fall das Ayuntamiento, ersetzt: Nur sie habe die Legitimation für diese Ernennung. Aber sie stellten diese Kontrollinstanz nicht grundsätzlich in Frage. Pastor Morales verwies auf gleichnamige Vorläufer „zu Zeiten der Revolution“, eingesetzt von den spanischen Truppen und übernommen von der „amerikanischen Regierung“ 220 . Sie seien auch weiterhin wegen der großen Entfernungen notwendig, da es sich bei der Bevölkerung auf den Haciendas um den „größten und am stärksten verstreuten Teil der Gesellschaft handle, und auch um den, der der Wucht der Leidenschaften [ímpetus de las pasiones] am stärksten ausgesetzt sei“. Dieser irrationale Teil der Bevölkerung dürfe deswegen „nicht ihrer Chefs beraubt bleiben“ 221 . Besondere Vorkommnisse waren unverzüglich dem nächsten Alcalde zu melden. Der Kongress hielt zur Errichtung der staatlichen Ordnung für diese Bevölkerungsgruppe eine Führung durch staatlich beauftragte Personen für notwendig.222 219 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 8, in: RdL, I, S. 76. Ähnlich auch die oft gebrauchte Definition bspw. in: Sitzung vom 03.03.1825, in: AyD, II, S. 152f. 220 Sitzung vom 17.01.1825, in: AyD, II, S. 47f. In der Sitzung am 20. Januar benannte der Kongress diese Institution noch in „Beaftragter für die gute Ordnung“ um; vgl. auch: Sitzungen vom 08. bzw. 20.01.1825, in: AyD, II, S. 22 bzw. 54f. 221 Sitzung vom 17.01.1825, in: AyD, II, S. 44. 222 Vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 79, in: RdL, I, S. 72.
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In welchen Bereichen aber sollte der Staat Präsenz zeigen? Auf der einen Seite hatten die Präfekte und Subpräfekte allgemeine Aufsichtspflichten wie die prinzipielle über die Einhaltung der Gesetze, wie die über die Fürsorge um öffentliche Einrichtungen (Gefängnisse, Brücken und Wege) und die über die Erarbeitung von statistischem Material. Die Aufgaben ähneln also in vielem denen der kolonialen Distriktsverwaltung. Zur Erhaltung beziehungsweise Wiedererrichtung der öffentlichen Ordnung konnten sie den Milizkommandeur um Beistand bitten. Dem Präfekten unterstand die lokale Miliz, deren Präsenz und Versorgung er beaufsichtigen musste.223 Als weitere zentrale Aufgabe wird die Pflicht genannt, darauf zu achten, dass „die Ayuntamientos ihre Pflichten erfüllen“224: Die Verfassung hob hierbei als alleinige Aufgabe der Präfekten die Feststellung des rechtmäßigen Verlaufs der Wahlen und die Aufsicht über die rechtmäßige Einsammlung und Investition kommunaler Abgaben hervor.225 Jedem Ayuntamiento oblagen in seinem Municipio unter der Aufsicht der gouvernementalen Institutionen konkretere Aufgaben, seine Kompetenz griff aber mit der Beschlussfassung über „die Mittel der guten Regierung“226 auch in legislative Bereiche ein, womit sie dem Ruf als ‚kleine Kongresse’ gerecht wurden. Diese Mittel der guten Regierung (Buen gobierno) umzusetzen, war, wie gesehen, Aufgabe der Alcaldes.227 Ob die anderen Mitglieder des Ayuntamiento auf die reine Beschlussfassung reduziert waren, ist nicht geregelt. Ausschließliche Aufgaben der Alcaldes waren explizit die Veröffentlichung der Gesetze und die Einberufung zu Wahlen.228 Um die Bandbreite der Aufgaben des lokalen Gobierno económico-político aufzuzeigen, seien hier zunächst einige Bereiche kursorisch aufgezählt: die Verantwortung für die Sauberkeit, die Verwaltung, der Schutz und Ausbau von öffentlichen Einrichtungen wie der Straßen229, der Märkte, der Theater, der Gefäng-
223 Gemäß dem aus einem Artikel bestehenden Titel VII (Milicia del estado, Art. 199) sollte diese Miliz nicht nur für die interne Ordnung, sondern auch für die Verteidigung nach außen zuständig sein. Die genauere Regelung wurde an ein Gesetz verwiesen, weswegen sie hier nicht weiter verfolgt wird. Wie oben gesehen, besaß der Gouverneur den Oberbefehl über die regionale Milicia civica. 224 Vgl. hierzu insgesamt die Ausführungen in Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12, in: RdL, I, S. 76-78, Zitat Art. 12/2. 225 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/3, in: RdL, I, S. 76f. 226 Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 75, in: RdL, I, S. 71. 227 Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 53, in: RdL, I, S. 69. 228 Vgl. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 51f., in: RdL, I, S. 69. 229 Straßen sollten bspw. „gerade, gepflastert“ sowie mit „Pflanzungen und öffentlichen Gehwegen“ [Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 66, in: RdL, I, S. 70] ausgestattet sein.
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nisse, Friedhöfe, Hospitäler und Aquädukte230. Daneben fanden die „Erhaltung der öffentlichen Quellen“, die Nahrungsmittelkontrolle und die Erhaltung aller „öffentlichen Werke [obras públicas] der Wohlfahrt und der Verzierung“ 231 ebenso eine eigene Erwähnung wie die Anpflanzung von Bäumen auf Gemeindegut, primär zur Brennholzversorgung. Lloreda sah aber zugleich den gesundheitsfördernden Charakter durch die reinigende Wirkung der „Sauerstoffdämpfe [vapores oxigenados]“ sowie die Abmilderung der Jahreszeiten als weitere Vorteile dieser Maßnahme. Huarte dagegen stellte fest, dass zu viele Bäume den „freien Durchzug der Luft verhindern“ 232 , außerdem habe nicht einmal Gaspar Melchor Jovellanos, eine der „hervorragenden aufgeklärten Persönlichkeiten des spanischen 18. Jahrhunderts“233, ähnliches vorgesehen. Zur Hervorhebung des „wichtigen Zweiges der öffentlichen Bildung“ ist ihm in der Verfassung ein eigener Titel (VI) gewidmet, die Regierung sollte ihm „einen besonderen Schutz“ zugestehen und die Gesetze sollten ihn mit „vollständiger Präferenz“ (Art. 198) fördern. Demnach hatte der Kongress einen für den gesamten Staat einheitlichen Studienplan zu entwerfen (Art. 193), nach dem es eine „angemessene Zahl [número competente]“ an Grundschulen mit Trennung nach Geschlecht, nicht aber nach Herkunft, geben sollte. Dort sollten die Schüler Lesen, Schreiben, Rechnen und den „Katechismus der katholischen Religion“ ebenso lernen wie die „Prinzipien der Urbanität“ und weiteres, was zu einer „guten Erziehung“ (Art. 194) beitragen kann. Dazu gehörten auch die Grundlagen des aktuellen politischen Systems und der Menschenrechte und pflichten (Art. 194) und die Verfassungen des Staates sowie der Föderation (Art. 197). Die (Sub-)Prefectos und die Ayuntamientos hatten über die Umsetzung dieser staatlichen Aufgabe zu wachen, wobei letztere gar für die Anwesenheit der Kinder zu sorgen hatten. 234 Leider sind zu diesem Thema keine weitern 230 Und zwar „auch wenn das Vecindario von keinem besonderen Nutzen [dieser Bauwerke] berichtet“ [Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 70, in: RdL, I, S. 71]. 231 Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 483f.; vgl. auch: Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 69, in: RdL, I, S.71 232 Sitzung vom 23.12.1824, in: AyD, I, S. 496f. 233 Pietschmann: Einführung, S. 24. 234 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/7, in: RdL, I, S. 79 bzw. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 72, in: RdL, I, S. 71. Auch in den anderen Staaten der Föderation galt der öffentlichen Bildung eine besondere Aufmerksamkeit. Insgesamt zwölf Staaten ordneten – wie schon die Verfassung von Cádiz – die Einrichtung von Grundschulen („Escuelas de primeras letras“) in allen Pueblos an, in denen den Kindern wie in Michoacán Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht werden sollte, außerdem der katholische Katechismus sowie ein politischer über die zivilen Rechte und Pflichten. Die beiden nördlichen Staaten Occidente und Nuevo León setzten sich als weiteres Bildungsziel die „Ausrottung des Müßiggangs“ (Verfassung von Nuevo León, Art. 255). Die Verfassung von Guanajuato erklärte die Formierung von „religiösen, die Nation liebenden und
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Debatten der Konstituante überliefert, in Teil E I wird es aber wieder aufgenommen. Gegen die Kompetenz der Ayuntamientos, jedem Einwohner den genauen Beitrag bei munizipalen Abgaben zuzuweisen, protestierte Lloreda vergeblich unter dem Hinweis, dies sei ein Bruch mit den „liberalen Prinzipien“, nach denen dies ein Gesetz machen müsse. Sonst könne „Willkür“ und die „fast generelle Ignoranz“235 der Ayuntamientos herrschen. Deutlich wird der hier angesprochene Aspekt der Gesetzesherrschaft auch in der im Folgenden kurz skizzierten Diskussion bezüglich der Aufsicht über die Theater. Lloreda kritisierte erfolgreich, dass Ayuntamientos und Prefectos bei der Aufsicht über die Theater auch deren Verträge regeln durften. Das verstoße gegen „liberale Prinzipien“ und „Besitzrechte“. Was für den Estado de México, woher die Regelung stammte, möglicherweise vertretbar sei, müsse nicht auch für Michoacán gelten.236 In der weiteren Debatte verteidigte Huarte auf die Gewohnheit und nicht genannte aktuelle Geschehnisse in der Hauptstadt Bezug nehmend die Ausweitung der Kontrollrechte auf die Preisfestlegung mit dem Schutz des Pueblo vor seiner eigenen „Neugier oder Einfachheit ... [bezüglich] meist frivoler Vergnügungen“237. Pastor Morales attackierte zwar auch diese „Unterdrückung der Freiheit“ 238 : Die Ayuntamientos besäßen schon zu viele Eingriffsmöglichkeiten. Michoacán aber befinde sich „glücklicherweise“ – wieder verglichen mit dem Estado de México – „in anderen Umständen“: „In jenem Land ... halten sich noch viele Reste des reglementierenden und unterdrückenden Geistes, den man für eine gute Regierung für unerlässlich hält“ 239 . Entgegen dem meist angenommenen Vorbildcharakter des Nachbarstaates hält Pastor Morales hier Michoacán für im republikanischen Sinne fortschrittlicher. Allerdings konnte er damit nicht überzeugen, die Mehrheit des Kongresses hielt den Punkt auch in Michoacán für reglementierungswürdig. Wie gleich zu sehen sein wird, plädierten aber selbst Lloreda und Pastor Morales schließlich für die Aufsicht durch Menschen und nicht für die Gesetzesherrschaft. Die zentrale Auseinandersetzung bezog sich dann auch nicht auf das ob und wie die Theater kontrolliert werden müssten, sondern vielmehr auf das wer. Lloreda regte gleich zu Beginn an, statt des Präfekten eine „aus verschiedenen
235 236 237 238 239
[von] für den Staat nützlichen Staatsbürgern“ (Verfassung von Guanajuato, Art. 398) zum obersten Ziel der öffentlichen Bildung. Sitzung vom 28.12.1824, in: AyD, I, S. 502f.; vgl. auch Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 77, in: RdL, I, S. 72. Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 484f. Sitzung vom 08.01.1825, in: AyD, II, S. 20. Sitzung vom 08.01.1825, in: AyD, II, S. 21. Sitzung vom 08.01.1825, in: AyD, II, S. 21.
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Individuen zusammengesetzte Junta“ 240 zu installieren. Salgado und Jiménez sprachen sich ebenso gegen den Prefecto und für das Ayuntamiento als Prüfinstanz aus.241 Pastor Morales wandte sich nicht grundsätzlich gegen eine Zensur, vielmehr dagegen, dass „sich die Richterämter multiplizieren“242 beziehungsweise, dass der Präfekt sie „nach monarchischem System“ 243 übernehme. González hingegen räumte diesem eine Aufsichtspflicht über die aufzuführenden Stücke ein. Huarte begründete dies einerseits mit der fehlenden Bildung in den Pueblos,244 andererseits mit der Generalverantwortung der Präfekte für „alle Übel, die den Pueblos zustoßen können“245. Schließlich erhielt der Präfekt das Zensurrecht und die Oberaufsicht bezüglich der Kontrollpflichten des Ayuntamiento über die Theater. 246 Auch hier lässt sich das geringe Vertrauen in die „kleinen Kongresse“ und in die Wirksamkeit von Gesetzesherrschaft erkennen, was man durch gouvernementale Autoritäten zu kompensieren versuchte. Die Behandlung einer weiteren Kompetenz des Präfekten bietet einen guten Schluss für diesen Abschnitt: Dieser sollte darauf achten, dass „die Einwohner ferner und alleinstehender Gebiete ohne bekannten Nutzen“247 sich bewohnten Siedlungen anschließen. Lloreda bekämpfte diesen Artikel wiederum aufs Schärfste mit dem Hinweis, dass dies gegen die „individuelle Freiheit“ sei, da jeder „Staatsbürger, wenn er nicht der Gesellschaft schadet, frei ist, dort zu leben, wo er möchte“. Pastor Morales stimmte ihm zu und verwies auf viele Philosophen und die heiligen Eremiten sowie auf den Präsidenten der Republik Guadalupe Victoria, der „lange Zeit allein auf einem Berg gelebt“248 hatte. Sie blieben mit ihrer Meinung allerdings in der Minderheit. Salgado begründete die Verankerung dieses Artikels im Grundgesetz mit der „Gerissenheit und Verschleierung vieler perverser Menschen, die fähig sind, der aufmerksamsten Aufsicht zu entkommen“. Huarte schloss sich dem, wie die Mehrheit des Kongresses, an „da es sich um Zivilisation handelt [pues se versa sobre civilización]“249. Nicht die Erreichbarkeit der staatlichen Institutionen für die Bevölkerung stand also im Vordergrund, wie man bei der oben betrachteten División territorial hätte vermuten können. Das Augenmerk lag vielmehr auf einer möglichst um240 241 242 243 244 245 246
Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 485. Vgl. Sitzung vom 28.12.1824, in: AyD, I, S. 500-502. Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 485. Sitzung vom 04.01.1825, in: AyD, II, S. 13. Vgl. Sitzung vom 18.12.1824, in: AyD, I, S. 485. Sitzung vom 28.12.1824, in: AyD, I, S. 501. Vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 23, in: RdL, I, S. 79 u. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 74, in: RdL, I, S. 71. 247 Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 12/16, in: RdL, I, S. 78. 248 Sitzung vom 11.01.1825, in: AyD, II, S. 34. 249 Sitzung vom 15.01.1825, in: AyD, II, S. 42.
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fassenden Erreichbarkeit der Einwohner durch gouvernementale Institutionen. Die Perspektive ist also eindeutig von oben nach unten: Es ging um den Nutzen der Bewohner für den Staat beziehungsweise für die Gesellschaft, um die Verbreitung des republikanischen Geistes, von Zivilität, Bildung und Urbanität in der Bevölkerung, und auch bei den Ayuntamientos. Der Staat sollte in Form von Personen und im geringeren Maße durch Gesetze präsent sein. So lassen sich umfassende staatliche Kompetenzen im Bereich des Gobierno político-económico feststellen, die in vielem an die Policey-Tätigkeiten des Intendanten beziehungsweise Subdelegierten erinnern. Bezeichnenderweise hatte der erste Vorschlag für das Amt des späteren Subprefecto die Bezeichnung „Jefe de policía“ vorgesehen.250 Wie passen diese Aussagen zur These vom Kongress als Ersatz-Monarch? Zunächst hatte der Kongress ja auch gegenüber der Landesverwaltung ein ausgeprägtes Misstrauen geäußert. So schien es folgerichtig, dass wie bei der verkappten Gewaltenteilung zwischen den drei obersten Regierungsgewalten auch gegenüber der Verwaltung Top-down-Kontrolle das System der Checks and balances ersetzte. Allerdings schien der Kongress gegenüber der Bevölkerung noch stärker ausgeprägte Vorbehalte zu hegen, so dass dieser gegenüber sogar die Verwaltung zu bevorzugen war. Die Konstituante beanspruchte die „programmierenden“ Kompetenzen freilich weiterhin vollständig für den Kongress. Wie im Ancien régime sollte die monarchische Institution im Hintergrund bleiben und andere auftreten lassen. Im Kapitel F wird diese Aussage aufzugreifen sein.
III. Zwischenresümee: Michoacáns Verfassung im Horizont des atlantischen Frühkonstitutionalismus Wie in den vorhergehenden zwei Kapiteln immer wieder zu sehen war, standen die Verfassung Michoacáns und ihre Erarbeitung in engen Zusammenhängen mit anderen Konstitutionalisierungsideen und -prozessen in der atlantischen Welt. Die gesamten Beratungen über das Verfassungsprojekt in Michoacán durchzieht ein immer wiederkehrender Aspekt: Die Verfassungsväter entwarfen die Constitución michoacana als eine eigensinnige Konzeption aus Elementen einer atlantischen Sollensordnung und den konkret erlebten Bedingungen des eigenen Seins. Den abstrakten Prinzipien und Ansprüchen mit Anleihen aus dem gesamten (nord-)atlantischen Raum stand für die Erarbeitung des Verfassungstextes die Wahrnehmung der konkret erlebten, in Kapitel A und zu Beginn des 250 Sitzung vom 18.01.1825, in: AyD, II, S. 51.
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Kapitels B skizzierten örtlichen Verhältnisse gegenüber. Die Erfassung Michoacáns als atlantische beziehungsweise als atlantisierte Region gewinnt somit eine hohe Bedeutung. Hier erfolgt zunächst die Einordnung in den Horizont des atlantischen Frühkonstitutionalismus, um dann anschließend einige zentrale Charakteristika der Constitución michoacana analytisch zusammenfassend darzustellen. Zum Erreichen ihrer Ziele eigneten sich die Verfassungsväter also Ideen aus dem gesamten nord-atlantischen Raum auf ihre konkrete Zielstellungen hin an und formulierten nach einer 14-monatigen Diskussion eine eigensinnige, sich teilweise bewusst von anderen Konstitutionen abgrenzende Lösung. Sie kopierten weder eine der so bezeichneten „drei geschichtsmächtigen Strömungen“ 251 des modernen Konstitutionalismus – die US-amerikanische, die französische oder britische – noch das Modell Cádiz, obwohl alle vier bekannt waren und diskutiert wurden. Meines Erachtens kann man aber deswegen – meist pejorativ – nicht von einer im Vergleich zu den vermeintlich authentischen Idealtypen „hybridisierten“ Verfassung oder Staatsordnung sprechen – es sei denn man nimmt an, alle Verfassungen sind hybride, da sie sich alle aus diversen Quellen der atlantischen Ideenwelt bedienten. 252 Der bevorzugte Terminus ist hier der einer „atlantischen“ oder „atlantisierten“ Verfassung. Für Michoacán waren die Vorstellungen aus Cádiz, in denen sich auch die eigene Verfassungstradition niederschlug, das zentrale Reservoir, aus dem man schöpfte. Über Cádiz vermittelt übte die französisch-kontinentaleuropäische Tradition einen starken Einfluss aus, die US-amerikanischen Ideen hingegen schon deutlich weniger. Andere lateinamerikanische Vorstellungen nahmen die Abgeordneten (zumindest explizit) gar nicht zur Kenntnis. Eine Ausnahme hiervon bilden lediglich die nahezu zeitgleich entstandenen Konstitutionen der Estados Unidos Mexicanos. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass in der Forschung bisher vor allem den Ideen Simón Bolívars eine für Hispano-Amerika herausragende und fast repräsentative Bedeutung zugemessen wurde. 253 Den wichtigsten ideengeschichtlichen Einfluss auf die Constitución michoacana übte also das gaditanische Verfassungsdenken, und mit ihm die französische Tradition, aus. Immer wieder bezogen sich die Abgeordneten auf das Werk von 1812, sei es ausdrücklich oder implizit, sei es zustimmend oder ablehnend. 251 Preuß: Einleitung, S. 12. Vgl. hierzu auch Gebhardt: Verfassung, S. 591f. 252 Vgl. bspw. Reinhard: Geschichte; Preuß: Einleitung; zum Begriff der (Verfassung-) Hybridisierung und des Mimetismus: Gebhardt: Verfassung, insb. S. 591f. Vgl. hierzu auch die allgemein-theoretischen Verweise zur vergleichenden bzw. beziehungsgeschichtllichen Forschung in der Einleitung. 253 Vgl. hierzu bspw.: Ferrer: Formación, S. 197-203; Timmermann: Monarchie, vergleichende Abschnitte.
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Damit ist die bislang nicht ausführlich untersuchte Annahme zumindest für den Fall Michoacán bestätigt, „dass die Verfassung von 1812 und die Sprache des gaditanischen Liberalismus die primären Referenten der Abgeordneten“254 des jungen Mexiko waren. Die Ähnlichkeiten reichen von der Grundstruktur der Verfassung über fundamentale Regelungen zum Souveränitätsverständnis, vom Staatsbürgerschaftsrecht zur Staatsreligion sowie zum Verwaltungsaufbau. Allerdings unterschied sich die Verfassung Michoacáns von der gaditanischen in einem zentralen Aspekt: Hier ging es nicht wie in Cádiz primär um Mäßigung, um den Ausgleich zwischen bereits etablierten Einrichtungen. Andreas Timmermann erklärte die Mäßigung in seiner Studie zum Prinzip der Konstitution von 1812. Viele, insbesondere radikalere Liberale Europas feierten die Verfassung wegen ihrer ausgleichenden Kapazität und erhoben sie zum Modell, weil sie gezeigt hatte, dass Verfassungen nicht nur nach Revolutionen entstehen können, sondern auch durch Reformen, dass konstitutionelle Regierungen möglich sind, die monarchische, aristokratische und demokratische Elemente vereinen, die ergo eine Versöhnung zwischen Völkern und Monarchen ermöglichen. 255 Zentral hierfür war nach Timmermann die Anerkennung so genannter Grundgesetze („leyes fundamentales“) als „historisch legitimierten Grundbestand nicht veränderbarer Prinzipien“, die es in der Verfassung festzuhalten galt. Er zählte darunter die monarchische Ordnung, die Thronfolgeregelung und die zentrale Rolle des Katholizismus. Die Verfassung von Michoacán hingegen entstand unter gänzlich anderen Vorzeichen: Sie ist das Ergebnis des Zusammenbruchs des Ancien régime, insofern hatte sie keinen Reformauftrag, sondern den einer Neukonstituierung. Ihr Ziel konnte insofern auch nicht die Mäßigung, der Ausgleich zwischen vorhandenen Institutionen sein. Diese Institutionen waren in Michoacán nicht mehr vorhanden. In der Forschung wurde immer wieder angenommen, dass sich das mexikanische oder gar das lateinamerikanische Verfassungsdenken vom (Europa-) spanischen dadurch unterschied, dass das erst genannte stark korporative Nations- beziehungsweise Souveränitätsvorstellungen besaß, da sie von (Gebiets-)Körperschaften als Bestandteilen der Nation ausging, während das gaditanische Modell hierin eher der abstrakt-homogenen, vermeintlich moderneren Konzeption Frankreichs folgte. 256 Annick Lempérière spricht bezüglich der mexikanischen Föderation von einer in Hispano-Amerika einmaligen, „per-
254 Ortiz Escamilla / Serrano Ortega: Introducción, S.13. 255 Vgl. Artola Gallego: España, S. 475ff.; Rodríguez: Introduction, S. 13f. u. 21f.; Dippel: Bedeutung; Timmermann: Monarchie; Timmermann: Souveränität; Gangl: Weg, S. 34f. 256 Vgl. bspw. Lempérière: República (2003), v.a. S. 320ff.; Rodríguez: Introduction, S. 22; Annino: Constitucionalismo, S. 160-163.
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fekten korporativen Republik“ 257 . Betrachtet man Michoacán, scheint diese Frage vor allem eine der Perspektive zu sein, bei der es um den Monopolisierungsversuch von (Definitions-)Macht ging. Der Umgang mit Föderalisierungsansprüchen zeigte dies besonders deutlich: Forderte man von Seiten der Michoacanos noch vor der Unabhängigkeit, sowohl vor als auch nach dem Krisenjahr 1808, die Föderalisierung der spanischen Monarchie, also die konstitutionell abgesicherte Repräsentationsmöglichkeit eigener Interessen, und nach der Unabhängigkeit die Föderalisierung Mexikos, sprach man sich beim Aufbau des eigenen Staates de facto gegen das „sistema federal“ aus und für die intensive Anbindung der kommunalen Gebietskörperschaften. Der „Kampf der Souveränitaten“ (Annino) wurde nun mit konstitutionellen Mitteln weitergeführt und wandte sich gegen die kommunale Ebene. Man plädierte in Michoacán also für eine starke zentrale Programmierungsmacht und damit gemäß der spanischfranzösischen Konzeption für eine abstrakt-homogene Souveränitätskonstruktion. Auch mit dem ethnisch indifferenten Staatsbürgerschaftsrecht, mit dem sie sich einem allgemeinen mexikanischen Duktus anschlossen, grenzte sich das Denken der Verfassungsväter Michoacáns stark vom gaditanischen Modell ab. Jenes war in diesem Aspekt weniger abstrakt angelegt, indem es die Castas zunächst ausschloss. Weiterhin etablierten die Verfassungsväter Michoacáns außer den in der Constitución federal festgelegten Sondergerichtsbarkeiten für Kirchen- und Militärangehörige keine weiteren, sie sprachen sich gar explizit gegen einen Vorschlag aus, der die Etablierung eines Gerichts für „Außerordentliche Fälle“ vorgesehen hatte, wie für Angelegenheiten mit Auswärtigen. Villaseñor plädierte hier erfolgreich dafür, auch diese Fälle unter die „allgemeinen Gesetze“ zu stellen. Die Positionen gegenüber der mächtigen Korporation Kirche oszillierten zwischen „Regalisten“ und „Ultramontanen“ – letztlich überließ man allerdings die zentralen Fragen des Staat-Kirchen-Verhältnisses der Föderation. Das Verfassungsdenken der Konstituante Michoacáns erwies sich somit als wenig korporativ – wie gesagt, spielten hierbei freilich Machtfragen eine wichtige Rolle. Insgesamt lässt sich für die ersten Verfassungsväter von Michoacán erkennen, dass sie sich in vielerlei Weise auf Vorstellungen aus dem französischspanisch-kontinentaleuropäischem, dem „genuin etatistisch[en]“258, auf den Staat hin ausgelegten Konstitutionalismus zurückgriffen. Allerdings ist die Constitución michoacana eine nach-jakobinische und keine revolutionäre Verfassung, gleicht hierin also eher der Charte constitutionelle (1814) Ludwigs XVIII. und nicht den ersten, von der Revolution und Jean-Jacques Rousseau beeinflussten französischen Verfassungen. Hierauf wird noch intensiver einzugehen sein. Dabei 257 Lempérière: República (2003), S. 320. 258 Preuß: Einleitung, S. 25.
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stand die Konstituante Michoacáns zudem in einer einflussreichen endogenen Verfassungstradition, was in der Literatur häufig zu wenig beachtet wurde. Wie das Kapitel A zeigte, gab es in Neu-Spanien in der Kolonialzeit eigene Konstitutionalisierungstendenzen. Diese schlugen sich in Michoacán beispielsweise in den Projekten von Rayón, Morelos, Michelena und selbst bei Iturbide nieder.259 Auch der häufige Rückgriff auf die Recopilación de leyes de indias,260 die Pietschmann als eine verschriftlichte Version der gewachsenen, historischen Verfassung bezeichnete, kann als Hinweis auf die Wirkmächtigkeit einer eigenen Verfassungstradition gedeutet werden, genauso wie beispielsweise der weitere Ausbau der Territorialstaatlichkeit, die Kontinuitäten im Angehörigkeitsrecht und die starke utilitaristische Prägung schon vor 1808. Es wurde gleichfalls deutlich, dass sich die Verfassung Michoacáns weniger stark vom US-amerikanischen Vorbild leiten ließ als die gesamt-mexikanische. Zu sehen ist dies nicht zuletzt in der Abkehr vom Zweikammersystem und im zentralistischen Impetus. Im Gegensatz zum System des Checks and balances auch zwischen den staatlichen Verwaltungsebenen orientierten sich die Michoacanos eher am Zentralstaat. Sie sahen anders als beispielsweise der hier gut bekannte Benjamin Constant oder auch anders als Alexis de Tocqueville, aber in Übereinstimmung mit der französisch-kontintaleuropäischen Konzeption nicht die kommunale Ebene als den Grundbaustein der neuen Gesellschaft. Sie war – hier der gesamt-mexikanischen ähnlich – nicht wie die US-amerikanische „genuin … gesellschaftlich“, sie zielte also nicht primär auf den gerechten gesellschaftlichen Austausch ab.261 Auch hier bewahrten sich die Verfassungsväter Michoacáns also ihre Eigenständigkeit, sie kopierten nicht, wie dies für den mexikanischen Konstitutionalismus oftmals angenommen wurde, die Ideale des nördlichen Nachbarn.262 Vielmehr griffen sie sich insbesondere mit der republikanischen Regierungsform bestimmte, für ihre Situation passende Elemente heraus. Ein ähnlich selektives Vorgehen lässt sich auch für die dritte, die englisch-britische Traditionslinie konstatieren, die insbesondere über das Werk von Montesquieu nicht nur in Kontinentaleuropa, sondern eben auch in Michoacán 259 Vgl. hierzu auch: Hernández Díaz: Michoacán, S. 313f. 260 Der zentrale Charakter der Recopilación zeigt sich unter anderem darin, dass der Kongress sie als eines der ersten Bücher für seine Bibliothek anschaffen ließ; vgl. Sitzung Nr. 105 vom 28.08.1826 (c. 4, e. 2). Zu weiteren Verweisen auf sie vgl. Sitzung Nr. 68 vom 02.11.1827 (c. 5, e. 3); Sitzung Nr. 2 vom 02.08.1831 (c. 15, e. 2); Sitzung Nr. 88 vom 03.12.1831 (c. 15, e. 4); Sitzung Nr. 3 vom 08.08.1832 (c. 17 , e. 1) (zum Verhältnis der Recopilación zu den heiligen Schriften); Sitzung Nr. 62 vom 31.10.1832 (c. 18 , e. 3). 261 Preuß: Einleitung, S. 15-20 u. 25, Zitat S. 25. 262 Vgl. ebenfalls skeptisch: Rodríguez: Introduction, S. 21; zuletzt: Timmermann: Monarchie, S. 135 u. 149, wobei dieser vornehmlich das Verfassungsdenken in Venezuela und Kolumbien mit Simón Bolívar und Francisco de Miranda im Blick hat.
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Einfluss ausübte. Dieser zeigte sich vor allem bei den – freilich wenig diskutierten – Facetten des Justizwesens.263 Auffällig ist ferner, dass die Verfassung von Apatzingán, also diejenige der Aufständischen, verabschiedet auf dem Territorium Michoacáns keinen Einfluss auf die Verfassungsväter Michoacáns ausübte. Dies steht im Kontrast zu einer nationalstaatlich orientierten Historiographie, die in der Verfassung von 1814 gerne den Ausgangspunkt einer eigenständigen liberalen und gar sozialliberalen Verfassungsentwicklung sieht. 264 Freilich blickte Michoacán auch nicht auf andere (nicht-mexikanische) Verfassungen Spanisch-Amerikas, beispielsweise auf den in Südamerika einflussreichen Ideencorpus von Simón Bolívar. Ausnahmen von der fehlenden Rezeption lateinamerikanischer Konstitutionalisierungsprozesse bildeten freilich die zeitgenössischen mexikanischen Verfassungen. Insbesondere die beiden großen Nachbarstaaten Jalisco und México galten als vorbildlich, wenn auch nicht grundsätzlich – in puncto „liberale Prinzipien“ (Lloreda) sei man in der Eigenwahrnehmung beispielsweise weiter als México. Die Eigenständigkeit der Verfassungsväter der Constitución michoacana drückte sich nicht nur in den eben beschriebenen selektiven Aneignungsprozessen aus, sondern auch in eigenen Konstruktionen, wie zum Beispiel beim interessanten, das historisch gewachsene Eigenbewusstsein gut zum Ausdruck bringenden ersten Verfassungsartikel: „Der Staat von Michuacan werde diesen Namen, den er von Alters her erhielt, bewahren. …“ und er werde ein entsprechendes Wappen erarbeiten. Im atlantischen Raum stellte die Namensgebung an so prominenter Stelle in der Verfassung eine meines Wissens einzigartige Konstruktion dar. Das gilt ebenso für die nachfolgende Regelung: Beim Staatsangehörigkeitsrecht skizzierten sie das Michoacano-Sein als ein „privilegio muy singular“ derjenigen, die dort geboren wurden. Es dürfe „nicht unter einem beliebigen Vorwand vergeudet werden“ (Paulín). Man dürfe bei der Erarbeitung der Verfassung „nicht allem blind folgen“ (Pastor Morales), sich nicht zu sehr „der Routine verschreiben“, eine neue Regierungsform bedürfe eben „neuer Prinzipien“ (Lloreda). Nach dieser Verortung der Constitución michoacana im atlantischen Frühkonstitutionalismus folgt nun eine zusammenfassende Charakterisierung der Verfassung von 1825: Ihre Hauptaufgabe lag in der Etablierung einer neuen Ordnung, und zwar sowohl im rechtlich-institutionellen als auch im gesellschaftlich-kulturellen Bereich. Eine bewusst gesetzte Sollensordnung, „eine durch die unbeschränkte verfassunggebende Gewalt der Nation legitimierte 263 Vgl. zusammenfassend zur britischen Traditionslinie: Preuß: Einleitung, S. 12-16. 264 Vgl. insb. Torre Villar: Constitución; Sayeg Helú: Constitucionalismo, S. 95-105; ebenfalls kritisch: Rodríguez: Introduction, S. 17.
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rationale und systematische Neuordnung“265 löste die alte, naturrechtlich legitimierte, gewordene Seinsordnung ab, die geschriebene Verfassung die historische Verfassung des Antiguo régimen. Dies unterstreicht den artifiziellen Charakter: Die neue Ordnung war, nachdem die Positivierung des Rechtsverständnisses Fuß gefasst hatte, von Menschen gemacht, nicht mehr gottgegeben. Damit folgten sie dem liberalen „voluntativen Ansatz, dem Willen zu einer rationalen, systematischen Neuordnung“ 266 und lösten sich vom Konzept der historisch gewachsenen Verfassung, das während der Verhandlungen von Cádiz noch stark mit den amerikanischen (und konservativen) Abgeordneten verbunden worden war.267 Dadurch erweiterte sich der Handlungsspielraum der Verfassungsväter, gleichzeitig aber auch der auf ihnen liegende Handlungszwang. Sie hatten kaum die Möglichkeit, sich an einer etablierten Ordnung, insbesondere in Person des Monarchen, ‚abzuarbeiten’, sich an einer solchen zu orientieren, da sie den Abgeordneten nach der Unabhängigkeit, der vorangegangenen Krise und dem Bürgerkrieg als nicht mehr existent erschien. Anders als die zeitgenössischen europäischen Liberalen, die über die Kritik am Ancién régime und an den herrschenden Verhältnissen dieses schrittweise zu reformieren versuchten – und dabei den Monarchen als zentrale Verfassungsfigur mitdachten –, mussten die Verfassungsväter Michoacáns in ihrer Eigenwahrnehmung von Beginn an die alleinige Verantwortung für die Errichtung einer neuen Ordnung akzeptieren. Sie übernahmen also in kurzer Zeit Verantwortung und Machtpositionen, die die Parlamentarier in Europa bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts „nicht ernsthaft angestrebt“268 hatten. Rainer Wahl spricht für Europa weiter von einer „Selbstbegrenzung der Parlamente“ und einem „Unverständnis für die Anforderungen des Regierens“ 269 . Die Diputados michoacanos sahen sich zur Konstruktivität verpflichtet, erarbeiteten eine – um im oben skizzierten Schema von Dieter Grimm zu bleiben – herrschaftskonstituierende und eben keine ‚nur’ herrschaftsmodifizierende Verfassung. Dieses Merkmal hatte die Verfassung Michoacáns – und mit ihr die anderer lateinamerikanischer Staaten – mit dem US-amerikanischen und (zumindest in Ansätzen) mit dem frühen französischen Konstitutionalismus gemeinsam. So differenzierten sich liberale Ideen schon deutlich früher als in Europa von der liberalen Praxis, vom Handeln von Personen, die sich als liberal bezeichneten, die Regierungsverantwortung übernahmen beziehungsweise übernehmen mus265 266 267 268 269
Timmermann: Monarchie, S. 227. Timmermann: Monarchie, S. 224. Vgl. Timmermann: Monarchie, S. 226-228. Wahl: Konstitutionalismus, S. 589. Wahl: Konstitutionalismus, S. 587; ähnlich formuliert es Nipperdey: Geschichte, S. 295: „Man wollte eine Zuspitzung der Macht- und Souveränitätsfrage gerade vermeiden“.
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sten. Die liberalen Ideen stießen hier schon früher auf ihre Realisierungsprobleme. Folgende Hypothese lässt sich aus dieser Ungleichzeitigkeit ableiten und wäre weiterzuverfolgen: Der Vergleich, sowohl durch Zeitgenossen als auch durch die Historiographie, zwischen dem mexikanischen (oder auch hispano-amerikanischen) Liberalismus, der sich in der Realität zu bewähren hatte, und dem stärker theoretischen (Früh-)Liberalismus in Europa führte für Mexiko – man möchte fast sagen: zwangsläufig – zu dem Bild eines defizitären Liberalismus.270 Nicht zuletzt mit dem enormen Handlungsspielraum beziehungsweise -druck lässt sich meines Erachtens erklären, warum die pragmatischen Auseinandersetzungen mit den konkreten Problemen vor Ort dominierten und warum folglich eine ideologische Faktionierung nur in Ansätzen stattfand. Dass eine solche gerade in Kirchenfragen mit der Aufspaltung in Regalisten und Ultramontane anzutreffen ist, ist insofern bezeichnend, als dass es sich hier stark um eine von der Föderation ausgehende Debatte handelte. Ähnliches lässt sich in den späten 1820er Jahren für den Umgang mit den Europa-Spaniern sagen. In anderen Bereichen ist eine Ideologisierung kaum auszumachen, wie auch bei der Betrachtung der Abgeordneten. Am ehesten ließe sich noch der Geistliche Lloreda als durchgängig „liberal“ bezeichnen. In diesem Aspekt stimmten die Diputados michoacanos mit denen Gesamt-Mexikos überein.271 Neben dem herrschaftskonstituierenden Charakter der Verfassung ist die starke Prägung des Verfassungsdenkens in den Eliten Michoacáns durch den Katholizismus als zweites wesentlich erscheinendes Definitionskriterium zu nennen. Hierin war es ein typisch lateinamerikanischer Fall und unterschied sich stark von den drei „geschichtsmächtigen“ Traditionslinien des Konstitutionalismus. Allerdings ließ sich Michoacán – zumindest nach der Vorstellung der Verfassungsväter – nicht als genuine „Nación católica“ (Connaughton) charakterisieren. Zwar existierte Gott für sie als abstrakter, oberster Gesetzgeber und als Autor der Gesellschaft. Gleichzeitig aber verband die Konstituante mit dem neuen Staatswesen nicht primär religiös-katholische, sondern politisch-säkulare Ziele. Zu nennen ist insbesondere der „Kampf der Souveränitäten“. So konnten 270 Nipperdey konstatierte zwar auch für Deutschland – Ähnliches ließe sich für den Rest (Kontinental-)Europas sagen –, dass der „Liberalismus eine postrevolutionäre Bewegung“ im Sinne einer durch die Revolution geprägten Bewegung war: Hier wie dort stand „der Aufbruch der Freiheit … im Schatten des Schreckens“ über die Jakobiner, „das minderte den Elan, das macht[e] ihn vorsichtig“ (Nipperdey: Geschichte, S. 287 bzw. 288). Im Unterschied zu Mexiko mussten aber die liberalen Ideen in Europa eben noch nicht unmittelbar mit der Regierungsrealität konfrontiert werden. 271 Vgl. die Beiträge in Fowler / Morales Moreno (Hg.): Conservadurismo, die von einer späteren Ideologisierung ausgehen. Reynaldo Sordo Cedeño spricht deswegen für diese Frühphase eher von einen „tradicionalismo“; vgl. Sordo Cedeño: Pensamiento.
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sie auch die Invocatio dei auf ein Mindestmaß beschränken. Bei der Etablierung einer Werteordnung rekurrierten sie nur im geringen Maße auf katholische Werte. Besonders aussagekräftig ist hierbei, dass der Kongress bei den Pflichten der Staatsbürger den Vorschlag „Verteidigung der Religion“ durch den der „Bewahrung der politischen Unabhängigkeit“ ersetzte. Die über den Atlantik transportierten Erfahrungen der Französischen Revolution und insbesondere die des jakobinischen Terreur als Ausgeburten des Egoismus, die im neu-spanischen Bürgerkrieg konkretisiert und weiter ideologisiert wurden, unterstützten antiindividualistische Tendenzen des Katholizismus. Hier galt Frankreich, das schon in der Aufklärungszeit partiell mit egoistischen Tendenzen gleichgesetzt wurde, eben auch als „model to avoid“ (Herzog). Diese beiden Momente, das herrschaftskonstituierende und das anti-individualistische führten zu einer starken Betonung des Gemeinschaftlichen. Wie immer wieder gesehen, galt die Gemeinschaftsbildung von Beginn an als eine zentrale Aufgabe. Die „Hoffnung des Liberalismus auf die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft“ fand im Verfassungsdenken der Konstituante Michoacáns mithin keinen nachhaltigen Niederschlag. Von vornherein – Dieter Grimm sieht hierin ein Krisenzeichen des liberal-konstitutionellen Denkens – sahen sich die Verfassungsväter hier vor die, wie er sagt, überkomplexe Aufgabe gestellt, die „Gesamtverantwortlichkeit … für die gesellschaftliche Entwicklung“ 272 zu übernehmen. Nicht der Menschenrechtsschutz oder die Ausbildung einer Gesellschaft individueller Staatsbürger galt ihnen als zentrale Aufgabe. Ihr primäres „Ziel war“ also nicht, wie klassischerweise für den liberalen Konstitutionalismus angenommen, „die Begrenzung der Staatsmacht, der Schutz der Individuen und ihrer der Politik abgewandten Lebenssphären gegen die Willkür der Herrschenden“273. Die Historiographie zur mexikanischen Geschichte beschäftigt(e) sich immer wieder intensiv mit der Frage nach dem liberalen Charakter der Gesellschaft beziehungsweise zumindest der Eliten. Hier muss man zunächst zwischen Konstitutionalismus und Liberalismus differenzieren. Das eine ist nicht mit dem anderen gleich zu setzen, wie es häufig gemacht wird, beispielsweise jüngst wieder von Jaime Rodríguez für Mexiko in seinem 2005 veröffentlichten Sammelband „The divine charter. Constitutionalism and liberalism in nineteenth-century Mexico“. Die Ziele einer Verfassung sind nicht per se liberale Ziele. Mit dem oben ausgeführten kann man denn auch für das Michoacán von 1824/25 nicht von einer Verfassung mit genuin liberaler Zielstellung sprechen. Auch wenn sich Roberto Breña in einem Überblicksessay zum hispanischen Liberalismus zu Recht für eine differenzierende „matización 272 Grimm: Zukunft, S. 24. 273 Preuß: Einleitung, S. 11. Vgl. bspw. auch: Grimm: Zukunft, S. 47f.
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del liberalismo hispánico“ 274 ausspricht: Die Constitución michoacana kann nicht als durchweg liberal charakterisiert werden, ihr liegt insbesondere kein primär liberales Menschen- beziehungsweise Gesellschaftsbild zugrunde. Die Verfassungsväter sahen ihre erste Aufgabe eben nicht wie paradigmatisch im Frankreich von 1789/91 in der Durchsetzung des in der liberalen Theorie formulierten Prinzips des Schutzes der Privatinteressen. Die Constitución michoacana diente der Re-Etablierung „einer guten politischen Ordnung“, was nach Ulrich Preuß bereits eine „Grenzüberschreitung“ darstellt: Denn „nach diesem liberalen Verständnis darf die politische Zwangsgewalt der Gesellschaft nicht genutzt werden, eine bestimmte Vorstellung des Guten und Richtigen durchzusetzen“ 275. Andererseits lässt sich für die Verfassung auch keine genuin konservative Zielstellung feststellen: Die Verfassungsväter konnten ihrer Wahrnehmung nach keine alte Ordnung konservieren, weder institutionell noch gesellschaftlich. Wie kann die Verfassung dann gekennzeichnet werden? Das primäre Ziel der Verfassungsväter Michoacáns bestand in der Etablierung von Ordnung. Der Zusammenbruch der alten Ordnung des Antiguo régimen hatte dies in ihren Augen notwendig gemacht. Damit lässt sie sich am treffendsten als eine ordnungsetablierende Verfassung charakterisieren. Dies hatte für das konstitutionelle Denken weitreichende Implikationen. Die Verfassungsväter nahmen eine Top-down-Perspektive ein. Die von für die liberale KonstitutionalismusTheorie übliche von unten nach oben, die liberale Reformer und Oppositionelle in Europa einnehmen konnten, war in Michoacán auf Grund der unterschiedlichen Ausgangslage nicht möglich. Diese veränderte Perspektive hat enormen Einfluss auf die Zielstellung: Die Gesellschaft beziehungsweise ihre Mitglieder mussten nicht vor dem Staat geschützt werden, vielmehr verbanden die Verfassungsväter mit ihrem Werk zunächst die Erwartung, eine staatliche Ordnung zu etablieren. Dies wird im Kapitel über die Gründung des „Föderierten Freistaates von Michoacán“ besonders deutlich. In diesem Kapitel – und nicht zuletzt mit dem Namen gebenden ersten Artikel der Verfassung – deutete sich jedoch auch an, dass es die Konstituante nicht bei der Setzung eines staatlichrechtlichen Rahmens beließ. Dies hatte sich zwar in der Präambel angedeutet – Stichwort Verfassung als Organisationsstatut. Vielmehr schrieben die Verfassungsväter einen Wertekanon in die Verfassung und mit den angelegten Werten über das Statebuilding hinaus die Etablierung einer gemeinschaftlichen Ordnung. Der Kanon reichte von einer verpflichtenden Staatsreligion über ein bestimmtes Geschichtsbild, die Überordnung gemeinschaftlicher vor individuellen Interessen, von „Ruhe und Ordnung“ vor Grundrechten bis zum Anspruch der 274 Vgl. Breña: Torno, Zitat S. 204. Ähnlich: Breña: Liberalismo. 275 Preuß: Einleitung, S. 27.
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Zivilisierung und Urbanität. Die spätestens seit dem 18. Jahrhundert komplexer werdende und im Bürgerkrieg schließlich auseinanderfallende Gesellschaft mit ihrer Multiplikation der überlokal tätigen Akteure verlangte nach dem Dafürhalten der Constituyante einer neuen Ordnung. Hierfür griffen sie pragmatisch auf unterschiedliche Ideencorpora zurück, die sich in der (späten) Kolonialzeit verbreitet hatten, so beispielsweise bei der Staatsbürgerschaft auf aufgeklärtliberale oder bei der Bewahrung der „moralischen und religiösen Werte der Kolonie“, was sie wie die überwiegende Mehrzahl ihrer Zeitgenossen in „gewisser Weise zu Konservativen“ 276 machte. Gleichzeitig etablierten sie einen Kongress, der in vielerlei Weise Positionen eines Ersatz-Monarchen einnahm. Somit „übersetzten“ sie ähnlich wie die USA die zentrale Figur des Verfassungsdenkens des Antiguo régimen in die neue Ordnung. Bei den wiederholten Fragen nach dem Nutzen des Individuums für die Gemeinschaft lassen sich zudem utilitaristische Ideen erkennen.277 Außerdem trifft man beispielsweise bei der Konstruktion der vorpolitischen Gemeinschaft der Michoacanos auch auf historisierende Vorstellungen. Bezüglich des Menschenbildes scheinen republikanische Ideen, mithin die Orientierung am republikanischen Prinzip des Allgemeinwohls vorherrschend: Die wenigen hierzu vorliegenden Äußerungen, insbesondere bei den Diskussionen über Staatsbürgerschaft und Menschenrechte, mit ihrem Ideal eines Gesellschaftsmitglieds, das sich in erster Linie am Bien común orientiert, weisen in diese Richtung.278 Da die Verfassung insgesamt nur wenig über das Menschenbild aussagte, ist dies im weiteren Verlauf der Studie, in dem auch die Abgeordneten weiterer Legislaturperioden zu Wort kommen, vertieft zu untersuchen. Mit der Verfassung(gebung) hatte die in der Konstituante versammelte regionale Elite die Möglichkeit gewonnen, die Ordnungsfunktion, die sie seit der späten Kolonialzeit (Forderung nach Repräsentation und Konstitution) in zunehmendem Maße für sich reklamierte, in die Praxis umzusetzen. Entsprechend nahm sie das föderale Zentrum Mexiko-Stadt und die föderalen Institutionen nicht als Einschränkung oder als Auftragsinstanz ihrer Souveränität wahr. Aber selbst bezüglich der Einschätzung der Beziehung gegenüber der konkreten Bevölkerung gewinnt man nicht den Eindruck, dass sich der 276 Vgl. Fowler / Morales Moreno: Introducción, S. 12-16, Zitat S. 14. 277 Charles Hale schloss in seiner klassischen Studie zum mexikanischen Liberalismus vom utilitaristischen Denken José María Moras auf die „Struktur des mexikanischen Liberalismus“. Die Gleichsetzung von Utilitarismus und Liberalismus ist mit dem vorliegenden Material zu hinterfragen; vgl.: Hale: Liberalism. 278 Vgl. zur „Atlantic republican tradition“ bzw. ihrem Widerhall in der frühen Unabhängigkeitszeit Mexikos: Pocock: Moment; Hernández Chávez: Tradición; Aguilar Rivera / Rojas (Hgg.): Republicanismo; Aguilar Rivera: Conceptos; Ávila: Pensamiento; Breña: Torno.
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Kongress hier eingeschränkt sah: Das abstrakte Volk („el Pueblo“) übertrug per Wahl die Souveränität auf den Kongress, der diese gegenüber den konkreten Pueblos dann ausübte. Dies stand den Souveränitätsvorstellungen von Rousseau diametral entgegen. Hierzu passt, dass die Konstituante insgesamt sehr wenig über die Regierten diskutierte. In den Abschnitten über die Verwaltung klang freilich die Skepsis gegenüber der Bevölkerung durch. Auch dies wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu analysieren sein. In diesem Misstrauen traf sich die traditionell-aufgeklärte Klage über die Bevölkerung mit der liberalen Skepsis gegenüber der menschlichen Fähigkeit zu gerechter Machtausübung. So scheint es folgerichtig, dass sich die Mehrheit der Deputierten für die Schaffung des Kongresses als Ersatz-Monarch und gegen die republikanische Mitgestaltung anderer Gewalten aussprach. Die „Schizophrenie“ zwischen liberal-republikanischen und „monarchisierenden“ Ansprüchen wird hier – wie bei der Übertragung der Souveränität – besonders deutlich. Herrschen sollten überpersönliche Institutionen und nicht die mit menschlichen Eigenschaften, vor allem mit der Malicia humana verbundenen Gewalten. Als Lösung schlugen die Verfassungsväter aber nicht, wie insbesondere im frühen englischen und US-amerikanischen Konstitutionalismus, die Gesetzesherrschaft vor, welche in der Formel „government of law, not of men“ (John Adams) seinen pointierten Ausdruck fand. 279 Vielmehr lässt sich für Michoacán die Hypothese aufstellen, dass es darum ging, ein „government of institutions, not of men“ zu etablieren. „’Institutionen’ werden“ dabei mit KarlSiegbert Rehberg und den Ergebnissen des Dresdner Sonderforschungsbereichs „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ „als ‚symbolische Ordnungen’“ 280 verstanden. Durch die Institutionalisierung und die Entpersönlichung der Herrschaft sollte gegenüber den Regierten das Bild einer geordneten Welt evoziert werden. Als zentrales Element dieser „Ordnungsbehauptung“ 281 fungierte der Kongress als vermeintlich über den menschlich-persönlichen Interessen und Bosheiten stehende Institution, in nach geordneter Weise aber auch Gesetze. Der Kongress trat als staatliche Institution, wie gesehen, laut Verfassung nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße als Akteur auf. Insofern gilt hier besonders: „Institutionelle Stabilisierungen beruhen auf der Kraft des Imaginativen und haben insofern stets auch etwas ‚Fiktionales’“282. Der Auftritt des Kongresses gegenüber den Regierten wird insbesondere im abschließenden Kapitel F zu untersuchen sein. Die Behandlung der genannten Widersprüchlichkeiten zwischen Regierten und Regierenden in Form des Kongresses 279 280 281 282
Vgl. hierzu zusammenfassend: Heideking: Stellenwert, S. 123; Preuß: Einleitung, S. 14f. Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 3. Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 10. Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 11.
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Konstituierung der neuen Staatsgewalten
als Ersatz-Monarchen, die Behandlung dieser zentralen politischen Relation der hier konstituierten politischen Ordnung steht insgesamt im Mittelpunkt der im dritten Teil folgenden Kapitel. Zu fragen ist dort also, wie die Gesetzgeber die durch die Verfassung errichtete Ordnung zu verstetigen versuchten, wie das „government of institutions“ zu etablieren sei.
D. Die Wahl der Abgeordneten als asymmetrische Vertrauensbeziehung
Die folgenden drei Kapitel, aus denen sich der dritte Teil der Studie zusammensetzt, untersucht in drei unterschiedlichen Aspekten die von den Abgeordneten aufgebauten Beziehungen des Kongresses, der, wie gesehen, im konstitutionellen System in vielerlei Weise die Position des Monarchen übernommen hatte, dessen Beziehungen zum Souverän, dem Volk, während der ersten föderalen Republik (1824-1835). Zum besseren Verständnis folgt hier zunächst ein Überblick über die die Verhandlungen begleitenden Rahmenbedingungen (Prosopographie der Abgeordneten und Überblick über die Verortung des Kongresses in der Region). Die weitere Erläuterung des Aufbaus dieses Kapitels über die Wahlen erfolgt nach diesem, für den gesamten dritten Teil grundlegenden Abschnitt.
I. Prosopographie der Abgeordneten und Überblick über die Legislaturperioden Die nachfolgende Prosopographie basiert auf den Auswertungen der regionalen Vertretungsorgane der Zeit zwischen 1822 und 1835. Mit inbegriffen sind also die gewählten Vertreter der Diputación provincial, der Konstituante und von insgesamt sieben Kongressen (a). Während die ersten beiden Kongresse jeweils die vorgesehenen zwei Jahre amtierten (1825-1827 beziehungsweise 1827-1829), mussten die weiteren Kongresse ihre Amtszeit vorzeitig abbrechen – aus Gründen, die im zweiten Teil dieses Kapitels beim Überblick über einige zentrale Ereignisse der Zeit bis 1835 näher dargestellt werden (b). In Teil (c) erfolgen die Betrachtung der Entstehung einer Zivilgesellschaft sowie deren Widerstände und Unterstützungsleitungen gegenüber dem Kongress.
a.
Prosopographie der Abgeordneten (1822-1835)
Insgesamt konnten 125 Namen von Personen ermittelt werden, die in die genannten neun Vertretungsorgane gewählt worden sind, sei es als Abgeordneter
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Wahl der Abgeordneten
oder als Ersatzmann. Beide Gruppen werden hier gemeinsam betrachtet.1 Für die vorliegende Auswertung spielte es zunächst keine Rolle, ob die gewählten Personen tatsächlich an den Verhandlungen des Kongresses teilgenommen haben, entscheidend ist, dass sie gewählt und somit von den Wählern als repräsentationswürdig eingeschätzt worden sind. Knapp drei Viertel aller Personen, nämlich 89, wurden nur einmal gewählt, ein weiteres Fünftel (26) zweimal, acht Personen dreimal und jeweils eine Person vier- beziehungsweise sechsmal. Damit ergibt sich für jeden Abgeordneten, dass er im rechnerischen Durchschnitt knapp 1,4-mal gewählt worden ist. Es liegen also eine große Anzahl an Repräsentanten und eine relativ große Fluktuation vor. Zum Vergleich: Cecilia Noriega Elió ermittelte für die 27 Repräsentativversammlungen mit gesamt-mexikanischer Beteiligung (inklusive der Cortes und der Versammlung von Apatzingán) zwischen 1810 und 1857 insgesamt 1.931 Personen, die im Durchschnitt gut 1,7-mal gewählt wurden. Sie konstatierte eine gewisse „Stabilität“2. Im Oaxaca der ersten föderalen Republik dürfte die Fluktuation ähnlich ausgeprägt gewesen sein wie in Michoacán.3 Was sich auf der Ebene der Wahlversammlungen im nächsten Kapitel bestätigen wird, verdeutlicht sich schon hier: Im betrachteten Zeitraum hatte sich keine stabile, die Wahlen kon-
1
2
3
In dieser Liste fehlen die Namen von acht Suplentes, da nicht die Namen aller Ersatzmänner in den zugrunde liegenden Dokumenten ermittelt werden konnten. Nicht von allen Legislaturperioden liegen komplette Ergebnislisten der staatlichen Wahlversammlung vor. War dies nicht der Fall, ist die Auswertung auf die Nennung der Suplentes in den Protokollen angewiesen. Aus dem ersten Kongress fehlen die Namen von vier, aus dem zweiten von drei und aus dem „zweiten“ dritten Kongress der Name von einem Ersatzmann; vgl. die Auf-listung im Anschluss. Vgl. zum Quellenmaterial das Abgeordnetenverzeichnis im Anhang II. Vgl.: Noriega Elío: Grupos, S. 120-128, Zitat S. 128. Insgesamt nahmen 1.182 Personen, also gut 60%, nur einmal teil. Die Stabilität brachten die restlichen knapp 40% der Abgeordneten. Michael Ducey geht für einige Ortschaften in der Tierra caliente von Veracruz ebenfalls von einer hohen Fluktuation aus; auch dort konnte sich keine dominante Familie behaupten; vgl. Ducey: Elecciones, S. 194-196 u. 207f. Silke Hensel zählte für die Kongresse Oaxacas zwischen 1824 und 1834 103 Personen. Diese verteilten sich auf zwei Kammern, in denen eine direkte Wiederwahl jeweils nicht möglich war. Im vier Jahre amtierenden Senat saßen jeweils sieben Personen. In die zwei Jahre amtierende Abgeordnetenkammer wurden laut Verfassung weniger Personen als in Michoacán gewählt, nämlich bei einer Gesamtbevölkerungszahl (1820) von gut 440.000 pro 40.000 ein Abgeordneter, also in etwa elf Personen plus vier Ersatzmänner. Es handelt sich hier lediglich um einen Näherungswert, notwendige, genauere Angaben (Anzahl der Legislaturperioden und Anzahl der Abgeordneten pro Legislaturperiode) liegen für diesen Vergleich nicht vor. Vgl. Hensel: Entstehung, S. 268; Verfassung von Oaxaca, Art. 67-69, 75 u. 91.
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tinuierlich kontrollierende Elite etablieren können, was die Charakterisierung als Übergangszeit plausibel macht. Wie aber war diese Gruppe der Abgeordneten zusammengesetzt? Hier folgt eine kurze Synthese entlang einiger einschlägiger Indikatoren. 4 Studien über Familiennetzwerke in Lateinamerika postulierten für die Zusammensetzung der politischen Elite eine starke Konstanz vom Ende des 18. über die Unabhängigkeit bis weit ins 19. Jahrhundert, die sich durch die Dominanz einiger weniger Familien über ‚ihre’ Regionen auszeichnete. 5 Silke Hensel konnte die Konstanzthese für Oaxaca „in dieser Pauschalität“6 nicht bestätigen: Nur knapp ein Viertel aller Abgeordneten hatten „verwandtschaftliche Beziehungen zu einflußreichen Großkaufleuten der späten Kolonialzeit“ und insgesamt nur gut 28% der Abgeordneten gehörten der wirtschaftlichen Elite der Region an. Nach ihr ließ sich insofern „gegenüber der Mitgliedschaft im Stadtrat von Antequera [der regionalen Hauptstadt, heute Oaxaca-Stadt, Anm. S.D.], die sich in der späten Kolonialzeit nahezu ausschließlich aus der Gruppe der Groß- und Fernhändler und ihren Familienangehörigen rekrutierte, … ein erheblicher Wandel“7 feststellen: Fast zwei Drittel der Abgeordneten und Senatoren waren weder Teil der Oberschicht noch waren sie familiär in die Netzwerke der großen Familien eingebunden. In Oaxaca stellten Beamte, Kleriker, Kaufleute, Armeeangehörige und Landbesitzer die größten Gruppen im Kongress.8 Auch Brian Hamnett nahm für die Kongresse der mexikanischen Bundesstaaten die Präponderanz einer neuen Mittelschicht an, der neuen „élites provincianas“ 9, zusammengesetzt aus Anwälten, Intellektuellen und Angehörigen des Niederklerus. José Antonio Serrano Ortega stellte für Guanajuato fest, dass die alten Eliten das Wahlgeschehen nicht mehr kontrollieren konnten.10 Diese Ergebnisse lassen sich für Michoacán bestätigen: Nach Margaret Chowning gehörten nach 1825 durchgängig mehr als die Hälfte bis zu zwei Drittel der Abgeordneten (sie rechnet die Suplentes nicht mit dazu) nicht zur
4
Die Abgeordneten sind im Anhang I nach Legislaturperioden aufgelistet und alphabetisch sowie mit weiteren personenbezogenen Informationen im Abgeordnetenverzeichnis (Anhang II). 5 Vgl. v.a. die Arbeiten von Diana Balmori, Stuart Voss und Miles Wortman, zitiert bei Hensel: Entstehung, S. 239-241, dort weitere Literaturhinweise. Vgl. prototypisch die umfangreiche Studie über die Anchorena-Familie am Río de la Plata: Poensgen: Familie. 6 Hensel: Entstehung, S. 298f. 7 Hensel: Entstehung, S. 299. 8 Vgl. hierzu: Hensel: Entstehung, S. 295-300 u. 357f. Hensel betont die Möglichkeit von Mehrfachzuordnungen; vgl. zu Oaxaca auch: Guardino: Time, S. 170. 9 Hamnett: Formación, S. 109. 10 Vgl. zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 189-192 u. 200-202.
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Wahl der Abgeordneten
Gruppe der Vermögenden. 11 Die eigene Auswertung deutet in dieselbe Richtung, auch wenn nicht für alle, aber immerhin für 59 Personen die sozioprofessionielle Gruppe ermittelt werden konnte: So gehörten 21 Abgeordnete dem Niederklerus an, 18 waren studierte Freiberufler, meist Anwälte, und 16 Militärs. Die Gruppe der Grundbesitzer und Händler stellte lediglich vier Personen plus vier weitere, die zusätzlich einer der anderen drei Gruppen zuzurechnen sind. Zwar liegen aus den Primär- und Sekundärquellen nur über knapp die Hälfte der Personen entsprechende Angaben vor, aber die Tendenz hin zu einer Diversifizierung über die wirtschaftliche Oberschicht hinaus ist deutlich. Sie wird von der Annahme gestützt, dass Daten eher von Personen übermittelt sind, die den oberen Gesellschaftsschichten angehörten. Weniger Vermögende fallen eher in die Kategorie der Nichtzuordnungsfähigen. Homines novi drängten also in den Kongress, er war nicht wie vormals das Ayuntamiento von Valladolid durch die spätkolonial-regionale, vielfach familiär untereinander verbundene Elite dominiert – erinnert sei an die beherrschende Position des Huarte-Clans nach 1800. Chowning spricht von sozialer Mobilität und von aufstrebenden „middle classes“. Auf Grund der Zusammensetzung kann man vorsichtig auch von einem entstehenden (Bildungs-)Bürgertum sprechen. Dieses unterschied sich in ihrem Abstimmungs- und Diskussionsverhalten kaum von ihren „wealthier colleagues“12. In ihren Grundanschauungen waren sie sich, wie auch ihre Vorgänger in der Konstituante, relativ einig, eine ideologische Ausdifferenzierung beziehungsweise F(r)aktionierung ließ sich nicht feststellen. 13 Das bestätigen auch die nächsten Kapitel. Im Kongress überwog keine der sozio-professioniellen Gruppen. Um Abgeordneter zu werden, musste man nicht vermögend sein oder einen bestimmten Beruf ausüben. Diese Tendenz hatte sich bei der vergleichenden Betrachtung von Diputación provincial und Constituyente bereits angedeutet und setzte sich nun in verstärktem Maße fort. Alle Abgeordneten wurden zudem sowohl mit Vorals auch mit Nachname zitiert, was nach der Forschungsmeinung tendenziell dafür spricht, dass es sich bei ihnen um Personen mit spanischen Vorfahren handelte. 14 Allerdings, und dies scheint wichtig, ließen sich die ehemals dominierenden Familien nicht vollständig aus der politischen Führung verdrängen beziehungsweise verloren sie nicht das Interesse an den regionalen politischen Ämtern. Auch nach 1825 lassen sich Angehörige der Familie Huarte – Isidro junior saß dreimal im Kongress –, der mit ihr eng verwandten Familien Alzúa, Gómez de Soria und Iturbide sowie Angehörige der miteinander 11 12 13 14
Vgl. Chowning: Wealth, S. 150 u. 406 / Endnote 98. Chowning: Wealth, S. 150. Vgl. auch: Juárez Nieto: Burguesía, S. 55; Hernández Díaz: Michoacán, S. 317. Vgl. Ducey: Elecciones, S. 192f. u. 196f.
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verbundenen Familien Anzorena, Foncerrada, Romero y Soravilla finden. Juan José Gómez de la Puente wurde insgesamt sechsmal in den Kongress gewählt, aus der alteingesessenen Familie der Chávez de Carillo wurden insgesamt fünf Familienangehörige zu Abgeordneten. Sie stellten zwar die Minderheit, konnten also die überkommene Dominanz nicht erhalten, verabschiedeten sich aber nicht aus dem politischen Geschehen, was, wie schon bei der Diputación und der Constituyente festgestellt, für eine Anerkennung der neuen Institution Kongress innerhalb der Oberschicht spricht. Wie auch für Oaxaca von Hensel festgestellt, ließ sich entgegen der These von Hamnett kein Gegensatz zwischen den von ihm so genannten „mexikanischen Eliten“ aus Großhändlern, die sich traditionell gen Mexiko-Stadt orientierten, gegen die Regionaleliten erkennen: 15 Insgesamt 27 Abgeordnete des einzelstaatlichen Kongresses vertraten während ihrer politischen Laufbahn Michoacán zwischenzeitlich im föderalen Kongress, sei es als Abgeordneter oder als Senator. Diese wie auch die folgenden Zahlen sind als Mindestangaben zu verstehen, da wiederum kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Eine bestimmte Richtung im Sinne eines Aufstiegs von der regionalen zur föderalen Ebene lässt sich nicht erkennen: Einige saßen zunächst im föderalen Kongress und wechselten dann auf die regionale Ebene, andere in die entgegensetzte Richtung, wieder andere wechselten mehrfach zwischen den Ebenen. In dieses Wechselspiel lässt sich zudem die lokale Ebene einbeziehen: Insgesamt 17 Abgeordnete saßen zwischenzeitlich in einem Ayuntamiento und zwei fungierten als (Sub-)Präfekte. 30 Abgeordnete wurden teilweise mehrfach zum Wahlmann bestimmt. Auch zur Exekutive bestand eine große Offenheit: Immerhin zehn Abgeordnete nahmen – wenn auch teilweise nur sehr kurze Zeit – das Amt des Gouverneurs oder Vizegouverneurs ein und elf wurden zum Consejero beziehungsweise Stellvertreter gewählt. Viele waren über 1835 hinaus politisch tätig.16 Auch die Regionalisierung setzte sich weiter fort – ähnlich wie in Oaxaca:17 Von insgesamt 49 ermittelten Ortsangaben, die sich entweder auf den Geburtsoder auf den Wohnort beziehen, sind weniger als die Hälfte der Hauptstadt zuzuordnen. Hier ist das Datenmaterial besonders fragil, da aus Angaben wie beispielsweise „Agustín Aguiar, a wealthy landowner from the Zamora region“18 ebenso wenig ersichtlich wird, ob die betreffende Person dort geboren wurde, dort lebte oder nur einen temporären (Zweit-)Wohnsitz hatte, wie aus der Angabe, dass Personen in bestimmten Wahlkreisen als Wahlmänner fung15 16 17 18
Vgl. Hensel: Entstehung, S. 285f. Vgl. hierzu auch Chowning: Wealth, S. 150. Vgl. Hensel: Entstehung, S. 300. Chowning: Wealth, S. 127f.
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ierten. Deswegen ist das Material mit Vorsicht zu interpretieren, klar ist jedoch, dass nur noch 22 Personen Valladolid zuzuordnen waren, während mehr als 55% mit anderen Ortsangaben in Verbindung standen. Gleichzeitig wurden nicht alle, die in der Hauptstadt auf lokaler Ebene im betrachteten Zeitraum herausragende politische Ämter eingenommen hatten, für den Kongress gewählt, als Beispiele sind hier die Familien der Castañeda und der Ibarrola zu nennen, die zwar im Stadtrat, nicht aber im Kongress saßen: Es bestand also kein Automatismus. Die territoriale Hierarchie hatte sich wie in Oaxaca und Guanajuato erheblich gewandelt.19 Die Hauptstadt-Elite konnte nicht weiter als Vertreter der gesamten Region fungieren. Auffällig, aber ob der historischen Regionalstruktur nicht verwunderlich, ist hier die absolute Dominanz des Nordens, lediglich ein Abgeordneter (Manuel Garcia) wurde 1829 als Subpräfekt des südlichen Bezirks Huetamo zum Abgeordneten gewählt und selbst, wenn man die drei Abgeordneten aus dem an die südliche Tierra caliente angrenzenden Uruapan hinzuzählt, sind die Zahlen eindeutig. Inwiefern Klientelbeziehungen unter der sichtbaren Oberfläche wirkmächtig waren, konnte mit dem vorliegenden Material nicht eruiert werden und muss entsprechend einer sorgfältigen sozialgeschichtlichen Regionalstudie überlassen werden. Der relativ hohe Anteil an Milizangehörigen lässt aber vermuten, dass beispielsweise deren regionale Netzwerke erfolgreich arbeiteten.
b. Michoacán bis 1835: Entstehung einer Zivilgesellschaft, Resistenzen gegen und Unterstützung für den Kongress Der folgende Abschnitt soll zentrale Ereignisse der Zeit der ersten föderalen Republik Mexikos (bis 1835) aus der Perspektive Michoacáns darstellen und so einen orientierenden Einblick geben. Margaret Chowning überschrieb die frühen 1820er Jahre in Michoacán mit Begriffen wie „euphoria“, „nuestro sistema feliz“ bezüglich der neuen konstitutionellen Ordnung und „encouraging signs“ in der wirtschaftlichen Erholung – sowohl die Einnahmen aus der Verkaufssteuer Alcabala als auch die aus dem Kirchenzehnt lagen gegen Ende der 1820er Jahre schon wieder bei etwa zwei Drittel des Vorkriegsniveaus.20 So konstatierte der Regierungsbericht (Memoria) von 1827, dass Michoacán bezüglich des öffentlichen Friedens „keinen Grund hat, einen anderen Staat zu beneiden. … und auch wenn die öffentliche Sicherheit einige, gelegentliche Attakken erleidet, so nicht mehr als in den anderen Staaten, und sie waren in jenen
19 Vgl. zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía. 20 Chowning: Wealth, S. 122-130, Zitate aus den dortigen Überschriften.
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Zeiten vor dem Jahre 1810, die einige die glücklichen nennen, nicht seltener“21. Die Memoria des folgenden Jahr stellte fest: „Fundierterweise ist zu hoffen, dass unter dem Einfluss unserer glücklichen Institutionen, des wohltuenden Klimas und der natürlichen Reichtümer, dass die Bevölkerung weiter wächst“ 22. Die Steuereinnahmen wuchsen kontinuierlich von 305.103 Pesos (1825) über 489.930 (1827) auf 551.049 (1829), in vier Jahren also um gut 80 Prozent.23 Auch der Aufbau der Institutionen und der landesweiten Infrastruktur (Wege, Brücken, Pflasterung von Straßen, Gefängnisse …) schritt deutlich voran. 24 Valladolid präsentierte sich nach Reiseberichten wieder als lebhafte Handelsstadt. 25 Der Engländer Robert William Hale Hardy konstatierte 1825: „The appearance of Valladolid, from a distance, is remarkably pretty, and the street which leads from the Garita, reminded me of England“26. Selbst in der abgelegenen Tierra caliente ging es wirtschaftlich zunächst bergauf.27 Die gesamt-mexikanische Situation präsentierte sich ähnlich positiv. Allerdings stellte die Amtszeit des ersten, 1824 gewählten Präsidenten Guadalupe Victoria die einzige durch eine Person vollendete Wahlperiode in den ersten Jahrzehnten der mexikanischen Unabhängigkeit dar. Ab 1827 mehrten sich in Michoacán, wie auch auf gesamt-mexikanischer Ebene, nach Chowning die „discouraging signs“, und zwar sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der politischen Entwicklung: Die ökonomische Erholung verlangsamte sich, alte Probleme wie Aufstände und Banditentum rückten wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit – Hernández Díaz konstatierte ab 1829 eine „starke Unsicherheit im ländlichen Leben“28 und skizziert den Fall der Bande um Francisco Arias in der Tierra caliente mit bis zu hundert Mitgliedern.29 Chowning spricht vom „Decline of the old elite“: Die alte Landelite verlor an Einfluss und die Zahl der Bankrotterklärungen in Michoacán stieg erneut an.30 Nach Chowning trug die soziale Mobilität zur Unzufriedenheit der alten Elite bei. Der Einfluss von Ereignissen auf föderaler Ebene beziehungsweise in den anderen Staaten auf die Gesamtlage Michoacáns war in den folgenden Jahren
21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Memoria 1827, S. 27. Memoria 1828, S. 14. Vgl. die Auswertung des Staatshaushaltes in den Memorias im Anhang III. Vgl. Memoria 1828. Sánchez Díaz: Movimientos, S. 81f. Hardy: Travels, S. 40. Vgl. Sánchez Díaz: Suroeste, S. 32f., 60-63 u. 69. Hernández Díaz: Orden, S. 152. Vgl. Hernández Díaz: Movimientos; García Avila: Administración, S. 65-71. Vgl. Chowning: Wealth, S. 122, 130 u. 142-149; Chowning: Prospects.
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groß. 31 Anfang 1827 wuchsen mit Bekanntwerden einer angeblichen Verschwörung von Europa-Spaniern in Mexiko-Stadt die anti-spanischen Ressentiments stark an. Ihre Ursache wurde zum einen in der immer noch dominanten Stellung der Spanier in (Fern-)Handel und Wirtschaft gesehen, zum anderen betrachteten viele die Anwesenheit der Spanier insgesamt als eine Gefährdung der neuen republikanischen Ordnung, solange Spanien Mexiko nicht als eigenständigen Staat anerkannt hatte (was übrigens 1836 geschah). 32 Die antispanische Stimmung wurde von den Yorkinos, den Freimaurern des Ritus von York, ins Extreme geschürt. Die Freimaurer, eine im gesamten atlantischen Raum verbreitete geheimbündnerische Organisation, waren nach der Unabhängigkeit nach Mexiko gekommen; nicht zuletzt der lange Zeit in der spanischen Armee dienende Mariano Michelena aus Valladolid stand unter dem Verdacht, sie „importiert“ zu haben.33 Häufig gelten sie als Vorläufer der späteren Parteien der Liberalen und Konservativen.34 Zunächst dominierten die die alten Strukturen und unter anderem auch die spanischen Interessen vertretenden Escoceses, die Anhänger des Schottischen Ritus. Die die Unabhängigkeit und den Föderalismus stärker betonenden Yorkinos gründeten sich Mitte der 1820er Jahre als Gegengewicht und gewannen in einigen Bundesstaaten schnell an Einfluss, insbesondere der US-amerikanische Botschafter Joel Poinsett wird für die Neugründung verantwortlich gemacht. 35 Erste politische Folgen des wachsenden öffentlichen Drucks waren Suspendierungsmaßnahmen von Spaniern von öffentlichen Ämtern auf Bundes- und einzelstaatlicher Ebene. Noch im gleichen Jahr, am 31. August 1827, verabschiedete der Kongress von Jalisco dann ein erstes Vertreibungsgesetz. Zwei Wochen später forderte das Ayuntamiento des südlich von Pátzcuaro gelegenen Santa Clara ein eigenes Vertreibungsgesetz für Michoacán, später unterstützten das Ratsgremium von Ario sowie der erste Alcalde Valladolids und eine so genannte „Junta patriotica“ in Uruapan das Anliegen.36 Am 23. Oktober 31 32 33 34 35
Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 60-64. Für Michoacán vgl. Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 8f. Vgl. Mendoza Biones / Terán: Fin, S. 296; Anna: Mexico (1998), S. 167f. u. 198. Vgl. Costeloe: República. Vgl. zum Einfluss der Freimaurer, insbesondere der Yorkinos, auf die Gesetzgebung der mexikanischen Liberalen: Martínez de Codes: Impacto. 36 Vgl. in dieser Reihenfolge: Sitzungen Nr. 53, 61, 65 und 70 vom 13., 23., 29.10. u. 05.11.1827, in: AHCM, Actas, c. 5, e. 3. [=(c. 5, e. 3)] Anmerkung zur Zitation: Die Protokolle der ordentlichen Kongresse (also derjenigen, die auf den verfassunggebenden Kongress folgten) stammen alle aus der Abteilung Actas des Archivo histórico del congreso de Michoacán (AHCM). Im Folgenden wird auf die vollständige Zitation verzichtet, stattdessen wird nur die spezifische Fundstelle – caja (c.) und expediente (e.) – innerhalb der Abteilung Actas des AHCM angegeben.
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rebellierten in der Nähe von Valladolid die von Yorkinos stark beeinflussten Milizen von Tarímbaro und Tiripetio, bald schlossen sich weitere Verbände an. In der Hauptstadt unterstützten insbesondere folgende vier Yorkinos das Anliegen: der Vizegouverneur und ehemalige Abgeordnete José Salgado, der Kanoniker Martín Garcia de Carrasquedo, ehemaliger Hidalgo-Vertrauter und Cortes-Abgeordneter, der Milizkommandant des Staates Vicente Filisola sowie sein erster Adjutant Ignacio Vázquez. Als eine Truppe von circa 200 Bewaffneten, von den Gegnern als „Horde“ 37 bezeichnet, Ende Oktober vor der Hauptstadt stand, verweigerte der Gouverneur Antonio de Castro Verhandlungen und drückte damit die Mehrheitsmeinung der Eliten aus. Die vom Kongress unterstützten Hilfeersuchen an die Föderation scheiterten beziehungsweise kamen zu spät. Am 7. November schickten die Aufständischen eine Kommission, die bei Castro vorgelassen werden wollte. Dieser drohte vor dem Kongress mit seinem Rücktritt, falls die Abgeordneten der Forderung nach einem Vertreibungsgesetz zustimmen. Auch wenn die Stimmung im Kongress gegen die Vertreibung war, setzte sich auf Grund des hohen Drucks von außen doch schließlich am 8. November der Standpunkt durch, dass „die Umstände verlangen, dass man seine Meinung dem allgemeinen Wohl opfert“38. Am nächsten Tag nahm der Kongress in einer außerordentlichen Sitzung die Demission von Castro entgegen und verfügte „verfassungsgemäß“ die Amtsübernahme durch den Vizegouverneur Salgado aus dem Lager der Yorkinos.39 Danach verabschiedete der Kongress ein vergleichsweise mildes Dekret zur Spaniervertreibung, das viele Ausnahmen zuließ. 40 Die Spanier-freundliche Haltung des Kongresses drückte sich auch darin aus, dass er sich mit dem eigenen Vertreibungsgesetz für die Versorgung der Vertriebenen beziehungsweise ihrer Angehörigen verantwortlich machte. Der föderale Kongress sah sich durch die einzelstaatlichen Gesetze unter Zugzwang und verabschiedete Ende Dezember ein eigenes, für die gesamte Föderation gültiges Gesetz, das allerdings ebenfalls viele Ausnahmeregelungen zuließ: Insgesamt 1.799 von 6.610 Spaniern, also gut ein Viertel, mussten das Land verlassen. Aus Michoacán wurden von insgesamt 153 Spaniern 27 des Landes verwiesen.41
37 Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 11; vgl. weiter: Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 8-13. 38 Außerordentliche Sitzung Nr. 74 vom 08.11.1827 (c. 5, e. 3). 39 Vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 75 vom 09.11.1827 (c. 5, e. 3); Dekret s./Nr. (09.11.1827), in: RdL, II, S. 14, Zitat Art. 2. 40 Vgl. Sitzung Nr. 76 vom 09.11. 1827 (c. 5, e. 3); Dekret s./Nr. (09.11.1827), in: RdL, II, S. 13f. 41 Vgl. Sims: Expulsion, S. 7-42; Anna: Mexico (1998), S. 196-206; spezieller zu Michoacán: Chowning: Wealth, S. 131-139; Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 9-12; Sánchez Díaz: Movimientos, S. 86-89.
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Innenpolitisch radikalisierten sich die Gegensätze zwischen den beiden Freimauererlogen, eine Beruhigung brachte das Gesetz also nicht. Zunächst rebellierten die Escoceses unter ihrem Hochmeister Nicolás Bravo. Die Yorkinos behielten zunächst die Oberhand: Bei den Präsidentschaftswahlen von 1828 standen sich als aussichtsreichste Kandidaten mit Manuel Gómez Pedraza und Vicente Guerrero zwei aus dem Yorkino-Lager gegenüber. Der von den moderateren Kräften und schließlich auch von den Escoceses gestützte Gómez Pedraza siegte knapp gegen den populären, indigenen ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer Guerrero, „’son of the people, man of color’“42. Noch vor Ende der Wahl im September 1828 rebellierte Antonio López de Santa Anna, Interimsgouverneur von Veracruz, mit der Erklärung, Guerrero sei der Wunsch des Volkes, Gómez Pedraza dagegen der der politischen Klasse. In Michoacán forderte die vernehmbare Mehrzahl der Akteure, insgesamt 16 Ayuntamientos und 247 Bürger Valladolids, zur Beruhigung der Lage das Verbot von Geheimgesellschaften jeder Art. 43 Am 11. November 1828 boten 57 Ciudadanos Valladolids – wegen der „Zeitnot“ waren es nicht mehr – die Bildung einer Milizeinheit „für den Erhalt unserer Institutionen“ 44 an. Drei Wochen später suspendierte der Kongress Salgado in einem verfassungsgemäßen Verfahren durch das Gran jurado wegen seiner Beteiligung am „plan revolucionario“ von Santa Anna vorübergehend vom Amt. Für ihn übernahm der Vizegouverneur Pedro Villaseñor, mehrmaliger Kongressabgeordneter, die Regierung.45 Nach der so genannten Acordada-Revolte der Yorkinos im Dezember floh der neu gewählte, aber noch nicht angetretene Präsident der Föderation Gómez Pedraza aus Mexiko-Stadt, nachdem er sich einer größer werdenden Front gegenübersah. Die sich allmählich auflösende alte Regierung Victoria wurde in der Folge zur Marionette der Aufständischen. Versuche der Regierung und des Kongresses von Michoacán, den Anschluss verschiedener Milizverbände an die Revolte zu verhindern, scheiterten ebenso wie die Regierungsinitiative, die intendierte, an „Guanajuato, und wenn notwendig an Jalisco“ einen Gesandten zu schicken, „der mit jenen Gouverneuren die einschlägigen Punkte zum Erhalt der Ordnung und des föderalen Systems verhandelt“46. Allerdings musste sich 42 So die Beschreibung des Zeitgenossen Juan Suárez y Navarro, zitiert in Anna: Mexico (1998), S. 207. Die Einzelstaaten, die laut Verfassung den Präsidenten zu wählen hatten, gaben Gómez Pedraza elf, Guerrero neun und Anastasio Bustamante sechs Stimmen. 43 Vgl. bspw. den ersten Antrag von Tarímbaro: Sitzung Nr. 59 vom 23.10.1828 (c. 9, e. 1) u. den letzten von Ecuanduero: Sitzung Nr. 86 vom 26.11.1828 (c. 9, e. 1); zu Valladolid: Sitzung Nr. 72 vom 10.11.1828 (c. 9, e. 1). 44 Sitzung Nr. 73 vom 11.11.1828 (c. 9, e. 1). 45 Vgl. Sitzung Nr. 91 vom 02.12.1828 (c. 9, e. 1); Dekret s./Nr. (02.12.1828), in: RdL, II, S. 111. Vgl. auch: Hernández Díaz: Orden, S. 108. 46 Außerordentliche Geheimsitzung vom 08.12.1828 (c. 12, e. 1).
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auch der Kongress bald der Macht der Yorkinos beugen: Schon am 18. Dezember restituierte er Salgado in sein Amt, da „das Verhalten des C. [=Ciudadano] Salgado, derenthalben er suspendiert“ worden war, nämlich der Anschluss an Santa Anna, „durch die letzten Mitteilungen der föderalen Regierung legalisiert worden ist. Er bleibt von jeder Verantwortung frei gesprochen“47. In der Folge der Acordada-Revolte erlebten Mexiko-Stadt und seine Einwohner erstmalig seit 136 Jahren im so genannten Parián-Aufstand exzessive Plünderungen und Ausschreitungen durch arme Volksmassen. Aus Angst vor einem „caste war which had been awakened by Hidalgo’s movement“ 48 dämpfte er mehr als alle anderen Ereignisse seit den Unabhängigkeitskriegen den bisherigen Optimismus, auch bei liberaleren Kräften. Am 12. Januar 1829 erklärte das neu zusammengetretene, aber dafür laut Verfassung nicht zuständige Abgeordnetenhaus Guerrero zum Präsidenten und Anastasio Bustamante zum Vizepräsidenten.49 Der Zusammenbruch der Verfassungsordnung von 1824 bedeutete für Mexiko „a real watershed in political life“ 50. Nachdem das erste Vertreibungsgesetz vielen zu kurz gegriffen hatte, erließ Victoria in seinen letzten Amtstagen ein zweites Gesetz zur Spaniervertreibung, das Guerrero umsetzte und das eine stärkere Wirkung entfalten sollte: Die Zahl der männlichen Spanier sank innerhalb eines Jahres um fast 55% auf 2.181 (Ende 1829) und der enorme Kapitalabfluss und Einbruch der Handelsbeziehungen verschlechterten die Finanzsituation Mexikos erheblich.51 Auch in Michoacán gewannen die Yorkinos deutlich die Oberhand: Der Kongress verabschiedete zusätzlich ein eigenes Gesetz und setzte die Ausweisung diesmal sehr strikt um: Von 126 spanischen Männern blieben Ende 1829 nur noch 12. 52 Bei den Parlamentswahlen von 1829 in Michoacán gewannen Yorkino-nahe Kräfte, welche Salgado einstimmig im Amt bestätigten.53 Das zweite einschneidende Ereignis der kurzen Amtszeit von Guerrero war die Abwehr eines spanischen Rückeroberungsversuches in der zweiten 47 Dekret s./Nr. (18.12.1828), in: RdL, II, S. 112. Vgl. weiter: Hernández Díaz: Orden, S. 109-115. 48 Vázquez: Plans, S. 25. 49 Die Stimmen zu Gunsten von Gómez Pedraza wurden als nichtig eingestuft, so dass die beiden nachfolgenden Kandidaten vorrückten; vgl. insgesamt hierzu: Guardino: Peasants, S. 110-127; Anna: Mexico (1998), S. 216-223. 50 Vázquez: Plans, S. 25. 51 Vgl. insgesamt zum zweiten Gesetz: Sims: Expulsion, S. 76-138. Zur Tätigkeit der Regierung Guerrero: Costeloe: República, S. 218-246; Anna: Mexico (1998), S. 223f. 52 Vgl. Sitzungen vom 07. u. 17.02.1829 (c. 9, e. 1); Dekret s./Nr. (12.02.1829), in: RdL, II, S. 138. Zu den Zahlen vgl. Sims: Expulsion, S. 134. 53 Vgl. Sitzung Nr. 3 vom 08.08.1829 (c. 10, e. 2). Vgl. auch: Hernández Díaz: Orden, S. 116-119.
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Jahreshälfte von 1829 in Tampico an der Golfküste. „In the development of national identity, the moment was galvanizing“ 54 und vor allem Santa Anna gewann als Sieger von Tampico großes Prestige. 55 Auch Michoacán schickte Truppen und bot weitere Hilfeleistungen an. 56 Allerdings musste Guerrero schon drei Monate nach dem Sieg am 11. September wegen eines Komplotts des von den Eliten gestützten Vizepräsidenten Anastasio Bustamante (Plan von Jalapa) aus der Hauptstadt fliehen. Der starke Mann im neuen Kabinett, Innenund Außenminister Lucas Alamán, erreichte mit Hilfe der Kooperation des Senats und von Parteigängern in den Einzelstaaten die Absetzung vieler Parlamente und Gouverneure. In Michoacán bildete Salgado eine prominente Ausnahme und setzte sich mit Unterstützung des Kongresses weiter für Guerrero ein.57 Nachdem jedoch das Ayuntamiento der Hauptstadt mit Mariano Michelenas Unterstützung Salgado aus dem Amt drängen konnte,58 erklärte die Diputación permanente des Kongresses, nicht mehr zusammenzutreten: Sie „habe nicht die ausreichende Freiheit, um die Pflichten der Verfassung zu erfüllen, da sich in der Hauptstadt eine Truppe befindet, die die Attentate gegen die obersten Gewalten des Staates schützt“59. Chowning bezeichnet dies als „the first strong assault on the federal system in Michoacán“60. Einige Ayuntamientos des Staates unterstützten Salgado, andere die Gegenseite, beide Parteiungen versuchten die kommunale Ebene für sich zu gewinnen.61 Am 16. April 1830 dekretierte dann die föderale Regierung Neuwahlen für Michoacán.62 Der neue, „zweite“ dritte Kongress erklärte die Wahl Salgados nach seinem Antritt im Sommer für verfassungswidrig: Das Hauptargument war das der verbotenen Wiederwahl, da er schon vorher als Vizegouverneur das Amt des Gouverneurs
54 Anna: Mexico (1998), S. 227. 55 Nach dem Scheitern der ersten Expedition kursierten in spanischen Regierungskreisen bis Februar 1831 Pläne zur Rückeroberung, gleichzeitig auf mexikanischer Seite das Vorhaben, Kuba zu befreien. Erst nach zwei weiteren Vertreibungsversuchen 1833/34, die auf die Ausnahmen von 1829 zielten, und dem Tod Ferdinands VII. wurde Mexiko 1836 von Spanien anerkannt, wodurch die Grundlage für weitere Vertreibungsgesetze entfiel; vgl. Sims: Expulsion, S. 139-159; Anna: Mexico (1998), S. 224-226. 56 Vgl. Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 14f.; Anna: Mexico (1998), S. 223-228. 57 Vgl. u.a. Bravo Ugarte: Historia, S. 76f. 58 Vgl. insb. Außerordentliche Geheimsitzung der Diputación permanente vom 06.03.1830 (c. 12, e. 1). Vgl. Anna: Mexico (1998), S. 231; Chowning: Wealth, S. 134; Sánchez Díaz: Movimientos, S. 92-94. 59 Geheimsitzung vom 11.03.1830 (c. 12, e. 1). 60 Chowning: Wealth, S. 134. 61 Vgl. Protokolle ab der Sitzung vom 15.01.1830 (c. 11, e. 3); Hernández Díaz: Orden, S. 125-131 u. Karte 3 (zw. S. 136 u. 137). 62 Vgl. Disposición Nr. 818 (16.04.1830), in: LM, I.
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ausgeübt hatte. Der Kongress wählte daraufhin den bisherigen Stellvertreter Diego Moreno zum Gouverneur.63 Zur gleichen Zeit wurde Michoacán, vor allem der Süden, zum Zentrum des so genannten Kriegs des Südens, in dem sich Anhänger Guerreros gegen die neue nationale Regierung zu behaupten suchten. In Michoacán führten ihn Juan José Codallos, ein Stiefbruder Ramón Huartes, und Giordano Guzmán an. Codallos stellte als langjähriger Verbündeter von Guerrero und gleichzeitig als eingeheiratetes Mitglied einer der angesehensten Familien Michoacáns nach Chowning in der sich reorganisierenden Elite eine „Anomalie“ dar, weswegen er selbst in seiner Familie nicht mehr akzeptabel war. 64 Guzmán, der so genannte Caudillo des Südens, hatte schon während der Bürgerkriege nach 1810 insbesondere im Küstengebiet über ein weites Patronagenetzwerk starken Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung gewonnen. Dadurch trug er dazu bei, dass diese Region weiterhin nur schwach in den neuen Staat integriert blieb.65 Einige der von ihm kontrollierten Gebiete schlossen sich später dem neu gegründeten Staat Guerrero an. 66 Salgado verbündete sich nach seiner Absetzung mit Guzmán und Codallos. Trotz des Anschlusses vieler, mit der ökonomischen und politischen Situation unzufriedener Pueblos67 und einiger militärischer Erfolge konnten sie die Hauptstadt nicht einnehmen, vielmehr wurden sie nach einigen Schlachten von den regulären Truppen unter Pedro Otero Ende 1830 geschlagen. 68 Die Rebellen bezeichnete man in der öffentlichen Meinung als „Kannibalen“, als „pervers, unmenschlich, kriminell und blutdurstig“. 69 Erst nach der sehr umstrittenen Hinrichtung beziehungsweise Ermordung Guerreros am 14. Februar 1831 beziehungsweise der Hinrichtung Codallos’ im Juli 1831 beruhigte sich die Lage in Michoacán und in Gesamt-Mexiko allmählich. Nach Chowning stellte das Bündnis Codallos’ mit Guzmán „a last gasp of the cross-class alliances that had been so important in the 1810s and early 1820s“ 70 dar. Insbesondere der Krieg des Südens führte zu verstärkten Abgrenzungstendenzen der Eliten. Der vierte, 1831 gewählte Kongress Michoacáns wies gegenüber dem „zweiten“ dritten eine große personelle Kontinuität auf.
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Geheimsitzung vom 19.08.1830 (c. 12, e. 1); Sitzung Nr. 18 vom 20.08.1830 (c. 11, e. 3). Chowning: Elite, S. 60. Vgl. Olveda: Giordiano; Sánchez Díaz: Suroeste, S. 101f. Vgl. Miranda Arrieta: Participación, S. 410-417. Vgl. Miranda Arrieta: Participación, S. 408f. Vgl.: Bravo Ugarte: Historia, S. 78-81; Sánchez Díaz: Vaivenes, S. 16-18. Zu Codallos auch: Mac Gregor: Levantamiento, S. 67-78. 69 Vgl. die Zuschreibungen bei: Chowning: Wealth, S. 134. 70 Chowning: Wealth, S. 134. Vgl. hierzu auch: Sánchez Díaz: Suroeste, S. 101-103.
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Doch die Lage beruhigte sich nicht dauerhaft: Schon im Jahre 1832 kämpften immer mehr Staaten in einem einjährigen Bürgerkrieg gegen den zentralistischen Impetus der Bustamante-Alamán-Regierung. Die Kämpfe endeten erst mit dem Vertrag von Zavaleta am 23. Dezember, in dem beide Seiten die Übergabe der Präsidentschaft an den 1828 gewählten Gómez Pedraza bis zur Neuwahl des Präsidenten und des föderalen sowie der einzelstaatlichen Kongresse akzeptierten. Im Januar 1833 führte in Michoacán eine Rebellion zum Abtritt des vierten Kongresses und zu Neuwahlen71 sowie zur Demission Morenos, der sein Amt an seinen Vorgänger Salgado übergeben musste. Für knapp anderthalb Jahre führten liberale Kräfte wie auf föderaler Ebene unter Valentín Gómez Farías die Regierung, wobei insbesondere deren Kirchenpolitik auf Kritik stieß. In den Auseinandersetzungen nahm der seit 1831 amtierende Bischof Michoacáns José Cayetano de Portugal eine herausgehobene Position ein. Im Mai 1833 führte dann ein Milizaufstand in Morelia – so hieß die Hauptstadt seit 182872 – zum erneuten Regierungsumsturz: Salgado musste ins Gefängnis, der Kongress zwischenzeitlich nach Celaya (Guanajuato) emigrieren. Ende 1834 trat dann der sechste Kongress an, nachdem Santa Anna auf föderaler Ebene den Plan von Cuernavaca gegen den Vizepräsidenten Gómez Farías unterstützt hatte, und auch in Michoacán die Kräfte die Oberhand gewannen, die die liberale Reformpolitik kritisierten. 73 Die Regierungsschrift von 1834 konstatierte desillusioniert einen „unablässigern Kampf, eine Kette von Umstürzen, eine ununterbrochene Serie von Katastrophen … Es gab eine Zeit, in der es meinen würdigen Vorgängern [im Amt des Gouverneurs] trotz der Rückständigkeit der Verwaltung … zumindest erlaubt war, die Hoffnung mit schmeichelhaften Aussichten zu nähren. Es war damals, als sie die Übel als rein vorübergehend beschrieben … Aber jetzt, ah, sind die Stunden der Illusion vergangen“74. Nach den Wirren dieser Jahre stand in der Folgezeit die Frage nach einem Systemwechsel hin zum Zentralismus im Vordergrund – und das nicht nur in Michoacán. Schließlich befragte der Kongress den „allgemeinen Willen der Pueblos“ und die Auszählung der von den Ayuntamientos abgegebenen Voten ergab Mitte August 1835, dass 219.000 der insgesamt 422.472 Einwohner, also eine knappe Mehrheit, für den Zentralismus stimmten. Entscheidend war für den Kongress dabei offensichtlich nicht die Mehrheit der Staatsbürger oder der Ayuntamientos, sondern die aller Seelen.75 Allerdings gaben diese ihre Stimmen 71 72 73 74 75
Sitzung vom 02.01.1833 (c. 18 , e. 3). Vgl. zur Umbenennung das Kapitel E II. Vgl. Sordo Cedeño: Congreso, S. 19-54; Costeloe: Republic, S. 31-33. Memoria 1834, f. 1 u. 1v. Sitzungen Nr. 20 u. 21 vom 13.08.1835 (c. 21, e. 3).
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nicht direkt aber, vielmehr repräsentierten die jeweiligen Ratsgremien den Willen ihrer Einwohner. Neben der Mehrzahl der Ayuntamientos plädierten auch Pueblos, Barrios und Bürgerversammlungen mit Listen von über 600 Unterschriften für die Zentralisierung. 76 Aber auch Gegenstimmen aus der Region sind überliefert, die das Problem im übermächtigen Zentrum Mexiko-Stadt sahen, von dem die Mehrzahl der Umsturzversuche ausgegangen war: Zuvor „in den Jahren 1825, 26 und 27 habe die Republik unter dem Föderalismus ein von anderen Nationen beneideten Grad an Glanz und Prosperität erlangt“77. Die Zentralisten hatten schließlich den Vorteil, dass sich alle weitgehend darin einig waren, dass die vorangegangenen Jahre die Erwartungen nicht erfüllt hatten. So beschloss der Kongress von Michoacán am 17. August 1835, dass „die Legislatur von Michoacán vor dem Kongress der Union eine Initiative startet, damit dieser vor dem Hintergrund der Übel, die dieser wie die anderen Staaten der Republik erlitten, und der gefährlichen Krise, in der sie sich befinden, dass dieser [Kongress der Union; S.D.] Maßnahmen diktiere, die er am angemessensten hält …, den Frieden zu sichern, die Stabilität, die Ordnung, die Freiheit, die repräsentativpopuläre Regierungsform, die Gewaltenteilung und die übrigen gesellschaftlichen Garantien“78.
Gleichzeitig sollten der Föderation „die Initiativen, Anschreiben und Protokolle übersendet werden, die die Ayuntamientos gesandt haben“79. Ziel war, dass „eine neue Verfassung erlassen wird“ 80 . Der Wiederherstellung von Gesetzesherrschaft und öffentlicher und moralischer Ordnung wurde wie auf föderaler Ebene und in den anderen Bundesstaaten hohe Priorität eingeräumt.81 Ab dem 14. September 1835 verhandelte in Mexiko-Stadt ein neu einberufener verfassunggebender Kongress, zusammengesetzt aus beiden Kammern.82 Das Ergebnis dieser Versammlung stellt die als Siete leyes bekannt 76 77 78 79
Vgl. die Listen in AGN, Historia 560, f. 431-539. AGN, Historia 561, f. 2. Dekret Nr. 26 (17.08.1835), in: RdL, VII, S. 73f., Zitat Art. 1. Dekret Nr. 26 (17.08.1835), in: RdL, VII, S. 73f., Zitat Art. 2. Vgl. insgesamt zum Verlauf: Chowning: Wealth, S. 134-140. 80 Dekret Nr. 27 (31.08.1835), in: RdL, VII, S. 74. 81 Im Zusammenhang mit dem gewandelten Gesellschaftsverständnis ist die Rückkehrerlaubnis für die Familie des Ex-Kaisers Iturbide interessant. Vgl. insgesamt: Sordo Cedeño: Congreso, S. 54-106 u. 141-184; Anna: Mexico (1998), S. 259-261; Costeloe: Central Republic, S. 35-64; vgl. speziell für Michoacán: Bravo Ugarte: Historia, S. 81-85. 82 Der Zusammenlegung der beiden Kongresskammern in eine verfassunggebende Versammlung vorausgegangen waren lang anhaltende Diskussionen über den Auftrag des Kongresses. Ausschlaggebend war letztlich, dass eine Mehrzahl der Staaten ihre Abgeordneten mit der unbeschränkten Befugnis der Verfassungsänderung ausgestattet hatte,
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gewordene erste zentralistische Verfassung Mexikos vom 30. Dezember 1836 dar. Die Teilstaaten wurden als Departamentos direkt der Zentralregierung unterstellt, deren Gouverneure von ihr ernannt. Juntas departamentales mit geringerer Gesetzgebungskompetenz ersetzten die Parlamente, an vielen Stellen beschränkte man auch die Partizipationsrechte der Bevölkerung. Alfonso Noriega spricht wohl korrekterweise statt von einem Zentralstaat von einem eingeschränkten Föderalismus, da die Teilkörper einen Restanteil an eigener Staatlichkeit behielten.83 Ob der Bruch tatsächlich so stark ausgeprägt war, wie häufig angenommen, bleibt zweifelhaft. Die Verfassungsväter, zu nennen sind insbesondere Sánchez de Tagle und Lucas Alamán, intendierten die Einrichtung einer „gelenkten Demokratie“ 84 auf Basis einer „soberanía racional“ 85 , um populäre, insbesondere ländliche Elemente aus der Staatsregierung herauszuhalten. Auf alle Fälle aber endete somit die erste föderale Republik der Estados Unidos Mexicanos. Das 1824 und 1825 erarbeitete konstitutionelle System und der Anspruch des Kongresses von Michoacán als regionale ordnungsetablierende Institution waren auf Dauer nicht erfolgreich. Die soeben skizzierten Resistenzen gegen das System sind bei den Betrachtungen der nachfolgenden Kapitel, die sich auf die Debatten des Kongresses fokussieren, als Kontext immer mitzudenken. Wie schon an den eben skizzierten außeralltäglichen politischen Ereignissen erkennbar, musste der Kongress auch im Alltag mit vielerlei Widerständen, aber auch mit diversen Unterstützungsleistungen umgehen. Er stand in dauernden Interaktions- und Kommunikationsprozessen. Betrachtet man die Dokumente – und dies kann hier nur exemplarisch getan werden –, die aus der Bevölkerung an den Kongress herangetragen und in den Protokollen vermerkt und diskutiert wurden, lässt sich eine Vielzahl von Aktionsfeldern ausmachen: Sie reichen von Glückwunschschreiben über Forderungen nach politischen Vorrechten und nach finanzieller Entlastung beziehungsweise Unterstützung bis hin zu Gesetzesinitiativen, von der Darstellung eigener Aktivitäten in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirtschaft, Bildung, Kultur und Militär über das Zur-Verfügung-Stellen von finanziellen und personellen Ressourcen. Die Akteursgruppen reichen von namentlich bekannten Individuen hin zu größeren, die erwähnten pro-zentralistischen Pronunciamentos bekräftigten diese Position; vgl. Sordo Cedeño: Congreso, S. 162-173. 83 Nach einem späteren Gesetz wurde eine weitgehende territoriale Übereinstimmung der neuen Departamentos mit den ehemaligen Staaten festgelegt, zu einer Veränderung der Grenzen sah sich die Zentrale nicht im Stande; vgl. Noriega: Pensamiento, S. 110; Costeloe: Republic, S. 109. 84 Sordo Cedeño: Congreso, S. 210. 85 Guerra: Modernidad, S. 371.
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anonymen Gruppen von Personen, meist als Ciudadanos oder Vecinos bezeichnet, von Vecindarios und Pueblos hin zu Milizeinheiten und Ayuntamientos. Festzuhalten bleibt einerseits, dass sich für die Repräsentierten ein sehr viel größerer, auch politischer Aktionsradius erkennen lässt, als den vermeintlich einzigen Akt der Souveränitätsausübung, das Wählen der Kongressabgeordneten. Und andererseits kann konstatiert werden, dass der Kreis der Akteure weit über die verfassungsrechtlich verankerten repräsentativen drei Gewalten mit dem Kongress an der Spitze hinausreichte. Der Kongress war den Dokumentationen zufolge nicht alleiniger Akteur, sondern stand in einem vielseitigen Wechselverhältnis mit der Bevölkerung: Teils zeigte er sich über deren Anerkennung „erfreut“, teils musste er auf Forderungen reagieren, teils Gesetzesinitiativen behandeln und, wie gesehen, teilweise gar dem Druck der Pueblos oder der Milizen nachgeben. Wie schon an den außeralltäglichen politischen Ereignissen erkennbar, musste der Kongress auch im Alltag mit vielerlei Resistenzen, aber auch Unterstützungsleistungen umgehen. Hier folgt zur Verdeutlichung des hohen Grades an Aktivitäten – wie so oft bildete der Norden hier wieder das Zentrum – eine freilich exemplarische Auflistung. Zu den für den Kongress mit wenig Aufwand verbundenen Aktivitäten gehörte der Empfang von Glückwünschen: Neben den offiziellen, die sich die Kongresse der Einzelstaaten gegenseitig zur Eröffnung und zum Ende ihrer Sitzungen zusandten, sind auch Glückwünschschreiben aus Michoacán selbst dokumentiert und zwar sowohl von Korporationen, vor allem von Ayuntamientos, als auch von Einzelpersonen. Deutlich mehr Aufwand forderte eine große Anzahl an Petitionen, auf die der Kongress in Form von Diskussionen und Gesetzen reagieren musste. Hierzu gehören beispielsweise die Forderungen nach der Ansiedlung bestimmter Institutionen: So beantragte 1829 das Ayuntamiento von Tlalpujahua die Verlagerung des Sitzes des Präfekten in seinen Ort, und damit die Verlagerung der Hauptstadt des Ost-Departamento. Ein Jahr darauf taten ihm das die Rathäuser von Zinapécuaro, Taximaroa und Maravatio jeweils für den eigenen Ort nach.86 Wiederum ein Jahr später, im Oktober 1831, baten das „Ayuntamiento und das Vecindario der Villa von Zitácuaro, dass man den Hauptort des Departamento de Oriente nicht von dort wegverlagere“ 87 , diesem Antrag schloss sich das Ayuntamiento von Tuxpan88 und fünf Wochen später bei der Neuaufteilung des Territoriums auch der Kongress an. 89 Die langen 86 Vgl. Sitzung Nr. 2 vom 07.08.1829 (c. 10, e. 2); Sitzungen Nr. 11 bzw. 57 vom 16.08. bzw. 13.10.1830 1830 (c. 11, e. 3). 87 Sitzung Nr. 41 vom 01.10.1831 (c. 15, e. 4). 88 Sitzung Nr. 42 u. 75 vom 03.10. u. 17.11.1831 (c. 15, e. 4). 89 Letzterer begründete dies vor allem mit der historischen Bedeutung Zitácuaros als Villa, ihrem Status während der Unabhängigkeitszeit und damit, dass es „notwendig ist, in
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Auseinandersetzungen im Kongress zwischen den alten Rivalen Maravatio und Zitácuaro lassen auf entsprechende Beeinflussungsversuche der örtlichen Akteure schließen. Auch das Ayuntamiento von Pátzcuaro intendierte 1826 vergeblich, Sitz der westlichen Präfektur zu werden, außerdem eine jährliche Handelsmesse und eine Diputación de minería zu erhalten, ein gutes Jahr später forderte es zumindest die Erweiterung des Ayuntamiento um zwei Alcalde- und vier Regidor-Posten.90 1832 beantragte Uruapan, die dekretierte Verlagerung des Sitzes des Süddepartements nach Ario rückgängig zu machen und vielmehr Uruapan diesen Status zu erhalten.91 An anderen Orten waren nicht nur Ayuntamientos tätig, so beantragten die Ciudadanos von Tzintzuntzan 1825, den Status als Hauptort des Partido behalten zu dürfen, um somit ihr Ayuntamiento zu erhalten.92 Fünf Jahre später forderten die Vecinos der Villa de Charo die Re-Etablierung ihres im Jahr vorher abgeschafften Ratsgremiums.93 1829 forderten Vecinos der Hacienda de Coyol, die sich zu einer Kongregation von Landarbeitern zusammengeschlossen hatten, über den Präfekten des Süddepartements den Anschluss an Carácuaro und entsprechend die Abspaltung vom Partido von Huetamo, da dieses viel weiter entfernt sei.94 Wie Pátzcuaro stellten auch Zamora, Reyes, Ario und Puruándiro Anfang 1826 Anträge auf eine jährliche Handelsmesse, und Reyes darüber hinaus einen auf die Erlaubnis, Abgaben auf bestimmte Produkte erheben und
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Zitácuaro die Autorität des Präfekten zu erhalten“, da es in der Gegend einige „Pueblos revoltosos“ (Sitzung Nr. 75 vom 17.11.1831 (c. 15, e. 4)) gebe; vgl. auch Dekret Nr. 15 (10.12.1831) / Art. 2, in: RdL, V, S. 8. Sitzung Nr. 80 vom 21.01.1826 (c. 4, e. 2); Außerordentliche Sitzung vom 02.04.1827 (c. 5, e. 2). Auch diesem Antrag wurde nicht zugestimmt: Pátzcuaro mit gut 12.000 Einwohnern erhielt nach einem Gesetz vom November 1827 wie andere Gemeinden mit mehr als 10.000 Bewohnern lediglich einen Alcalde mehr, während für Zamora mit seinen 8.000 Einwohnern eine Sonderregelung getroffen wurde: Die Stadt durfte zusätzlich sowohl zwei Alcaldes als auch zwei Regidores in das Ayuntamiento wählen. Die schon in Teil C I beschriebene Rückstufung Pátzcuaros hinter Zamora wird hier weiter unterstrichen; vgl. Dekret s./Nr. (21.11.1827), in: RdL, III, S. 14; für die Bevölkerungsangaben: Memoria 1827, S. 70 u. 74. Sitzung vom 02.01.1832 (c. 16, s/e. 1). Vgl. Sitzung Nr. 35 vom 21.10.1825 (c. 2, e. 8). Tzintzuntzan erhielt zwar nicht diesen Status, behielt auf Grund seiner Größe jedoch das Ratsgremium; vgl. Dekret Nr. 40 / Art. 1 (15.03.1825), in: RdL, I, S. 75 u. Dekret Nr. 15 / Art. 10 (10.12.1831), in: RdL, V, S. 10; für die Bevölkerungsgröße: Memoria 1827, S. 71. Sitzung Nr. 67 vom 25.10.1830 (c. 12, e. 2). Sitzung Nr. 55 vom 14.10.1829 (c. 11, e. 1).
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wie bisher ein Fest für den Patron feiern zu dürfen. 95 Diese An-träge beschäftigten den Kongress über zwei Tage hinweg. Die Diskussionen darüber, welcher Standort über die großen Vorteile einer Messe verfügen dürfe, mündeten in einen Kompromiss, nach dem alternierend je drei, von der Regierung zu wählende Standorte vier Jahre lang eine Messe erhielten.96 Eine weitere, immer wieder anzutreffende Aktivität stellten Anträge dar, die auf die Befreiung von Abgaben, insbesondere von der Verkaufssteuer Alcabala, abzielten. So forderten beispielsweise das bei Reyes liegende Pueblo de Zacán 1827 oder Puruándiro 1830 jeweils für die Zeit der Handelsmesse eine Befreiung für dort verkaufte Produkte. 97 Das Ayuntamiento von Tzintzuntzan beziehungsweise von Angamacutiro beantragten, dass Einkäufe an allen Samstagen des Jahres beziehungsweise komplett für fünf Jahre von der Alcabala befreit werden sollten, im zweiten Fall, da „die Bevölkerung ruiniert“ 98 sei. Vecinos von Ario wollten mit einer Befreiung über die Osterfeiertage die „Vergnügung eines Hahnenkampfes“99 auf den Weg bringen. Im Jahr darauf, 1830, forderte das „bis zur Nichtigkeit reduzierte“ Ario außerordentliche Maßnahmen der Regierung zur „Erhaltung des Namens des Staates“, da die Einnahmen aus der Alcabala, dem „einzigen Zweig, wo man Steuern einziehen kann“ 100 , nicht zur Bezahlung der Verwaltung ausreichten. Auch Verlangen nach anderen Steuerbefreiungen oder nach Sondererhebungen wurden kundgetan, so beispielsweise 1831 durch das Ayuntamiento von Uruapan mit seiner Initiative zur Ausnahme seiner Bewohner von der noch zu behandelnden direkten Steuer. 101 Das Ayuntamiento Angangueos bat um die Investition der Einnahmen aus der direkten Steuer in die Schulen. 102 Im nächsten Jahr beantragten die Ayuntamientos von Chucándiro beziehungsweise Piedad die Erhebung von Mautgebühren für die Errichtung einer Straße beziehungsweise 95 Vgl. zu Los Reyes: Sitzungen Nr. 80 u. 112 vom 21.01. u. 13.09.1826 (c. 4, e. 2); zu Zamora: Sitzung Nr. 76 vom 11.01.1826 (c. 4, e. 2); zu Ario: Sitzung Nr. 83 vom 27.01.1826 (c. 4, e. 2). 96 Vgl. Sitzungen Nr. 84 u. 85 vom 30. u. 31.01.1826 (c. 4, e. 2) sowie das entsprechende Dekret: Dekret Nr. 11 (01.02.1826), in: RdL, II, S. 48. Vier Jahre später wurden Pátzcuaro, Zamora, Puruándiro und Reyes als feste Messeplätze etabliert; vgl. Dekret Nr. 59 (29.10.1830), in: RdL, IV, S. 77; zum Antrag Puruándiros vgl.: Sitzungen vom 01. u. 18.10.1830 (c. 11, e. 3). 97 Vgl. Sitzung Nr. 30 vom 15.09.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung Nr. 61 vom 18.10.1830 (c. 11, e. 3). 98 Sitzung Nr. 24 vom 07.09.1831 (c. 15, e. 2); zu Tzintzuntzan: Sitzung Nr. 37 vom 07.06.1832 (c. 16, s./e. 1). 99 Vgl. Sitzung Nr. 54 vom 18.03.1828 (c. 7, e. 2). 100 Sitzung Nr. 65 vom 22.10.1830 (c. 11, e. 3). 101 Vgl. Sitzung Nr. 31 vom 17.09.1831 (c. 15, e. 2). 102 Vgl. Sitzung Nr. 98 vom 19.06.1828 (c. 8, e. 1).
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einer Brücke.103 Der erste Alcalde von Ario begründete 1827 die Erhebung einer Maut damit, dass nicht genügend Geld für das Abendessen der Gefangenen vorhanden sei, „obwohl die Vecinos karitativerweise [etwas] geben“104. Über eine mögliche Zweckentfremdung entspann sich eine zwei Tage währende Diskussion mit der abschließenden Aufteilung der Einnahmen auf den Erhalt der Brücke wie auch auf die beantragte Lebensmittelversorgung der Gefangenen.105 Beim Antrag des Ayuntamiento von Tlalpujahua von 1829 war die Beteiligung der Vecinos gar von Entscheidung prägender Bedeutung: Der Abgeordnete Nicolás Menocal unterstützte den Antrag erfolgreich, dass zum Erhalt der Schule in den Geschäften des Minenortes ein kleiner Aufschlag (Pilón) gezahlt werde: „Der allgemeine Wille kann nicht besser ausgedrückt werden als mit 500 Unterschriften in einem Dorf“106 von dieser Größe. Die Erlaubnis, ein Pilón erheben zu dürfen, forderte der Präsident des Ayuntamiento von Taximaroa im Jahr darauf, zwei Jahre später beantragte derselbe Ort die Überlassung der direkten Steuern eines Halbjahres „für die Reparatur des unter dem Namen Kaserne bekannten Hauses“107. Nach Artikel 44 der Verfassung besaßen die Ayuntamientos des Staates das Recht zur Gesetzesinitiative. Dieses Recht nahmen sie einerseits in Anspruch, um zu beantragen, dass bereits bestehende Gesetze widerrufen oder reformiert werden. Hier lag der Schwerpunkt auf von mehreren Ayuntamientos gestellten Initiativen zur Steuerbefreiung oder -linderung. So beantragten 1829 die kürzlich in Morelia umbenannte Hauptstadt und Santa Clara sowie 1832 Tlalpujahua jeweils vergeblich die Abschaffung der direkten Steuer. 108 1831 forderten ebenfalls ohne Ergebnis die Rathäuser von Morelia, Ario, Uruapan, Tancítaro, Tacambaro und Taretan die Reform eines Artikels bezüglich der Alcabala, der die wiederholte Erhebung der Steuer verlangte, wenn die Trans103 Vgl. Sitzung Nr. 39 vom 09.06.1832 (c. 16, s./e. 1); Sitzung Nr. 79 vom 21.11.1832 (c. 18, e. 3). 104 Sitzung Nr. 34 vom 20.09.1827 (c. 5, e. 3). Der Abgeordnete José María Silva, „der in jenem Pueblo“ gewohnt hatte, berichtete, dass „in der Baumwollsaison dort eine Menge an Maultiertreibern vorbeikommen“ – nach José Antonio Pérez Gil kamen diese auch aus Guanajuato und San Luis Potosí. Wegen der hohen Anzahl an Durchreisenden könne ausreichend viel Geld sowohl für den Erhalt der Brücke als auch für die Gefangenen eingenommen werden. 105 Vgl. zudem Sitzung Nr. 48 vom 09.10.1827 (c. 5, e. 3). 106 Sitzung Nr. 71 vom 03.11.1829 (c. 11, e. 1). Tomas Arriaga führte weiter aus, dass das Ayuntamiento die Unterschriften im Rathaus gesammelt hatte; vgl. auch: Sitzung vom 02.05.1829 (c. 10, e. 2). 107 Sitzung Nr. 5 vom 16.04.1832 (c. 16, s/e. 1); vgl. auch Sitzung Nr. 94 vom 29.11.1830 (c. 12, e. 2). 108 Vgl. Sitzungen vom 19., 27.06.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung Nr. 45 vom 02.07.1832 (c. 16, s./e. 1). In den betrachteten Legislaturperioden wurde den Anträgen nicht stattgegeben.
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aktionen auf dem „Boden von unterschiedlichen Steuerbezirken“109 stattfinden. Diesen Anträgen wurde, wie gesagt, nicht gefolgt, stattdessen diskutierte der Kongress kurzzeitig die ehemals kritisierte Verpachtung der Steuer an Privatpersonen wie zu Kolonialzeiten.110 Mehr Erfolg hatte Santa Clara mit dem Antrag auf eine Ausnahmeregelung bezüglich der Alcabala für importierte Kupfer und Bronze. 111 Erst nach einem Jahr und in der folgenden Legislaturperiode statt gegeben wurde den Anträgen von Tlalpujahua, Taretan und Santa Clara auf Widerruf des zuvor gefeierten Gesetzes, das den Kleinhändlern (Regatones) freie Handelsmöglichkeiten zu jedweder Zeit an allen Orten garantierte. Von nun an durften die Ayuntamientos dies selbst regeln.112 Ohne Erfolg blieben hingegen die Initiativen der Ayuntamientos von Uruapan beziehungsweise Turicato, die die Aufhebung beziehungsweise Reform des Landverteilungsgesetzes an Indigene zum Ziel hatten.113 Beachtung, aber eine gegenteilige Regelung fand ein Antrag Zamoras, ein Gesetz zu widerrufen oder zumindest zu reformieren, das die Ernennung eines Schatzmeisters für Ayuntamientos mit jährlichen Einnahmen von mehr als 1.000 Pesos und dessen Aufgaben regelte.114 Nicht immer hingegen waren sich die Gremien einig, wie das folgende Beispiel aus Zamora zeigt: Zunächst forderte das Ayuntamiento den Widerruf einer Anweisung, die die Einsammlung von Waffen für die örtliche Miliz verbot.115 Noch am selben Tag in der anschließenden geheimen Sitzung wurde allerdings ein Schreiben von „einigen Individuen des Ayuntamiento von Zamora“ 116 verlesen, das dem obigen Ansinnen widersprach. Ein paar Tage später folgte der Kongress implizit letzterem Antrag, indem er beide Schreiben nicht behandelte.117 Wie bei der Spaniervertreibung als prominentem Beispiel 109 Dekret Nr. 90 (21.07.1831) / Art. 30, in: RdL, IV, S. 134; vgl. die Anträge in: Sitzungen Nr. 44, 47, 55 u. 61 vom 07., 12., 21. u. 29.10.1831 (c. 15, e. 4). 110 Vgl. Sitzung Nr. 77 vom 19.11.1831 (c. 15, e. 4). 111 Vgl. Sitzung Nr. 56 vom 20.10.1828 (c. 9, e. 1); zur vorläufigen Ausnahme: Dekret s./Nr. (07.11.1828), in: RdL, III, S. 108; zur unbegrenzten Ausnahme: Dekret Nr. 47 (01.09.1832), in: RdL, V, S. 65. 112 Vgl. das entsprechende Gesetz, das den Kleinhandel erlaubt hatte: Dekret Nr. 8 (29.12.1825), in: RdL, II, S. 47. Für die Verbotsanträge: Sitzungen Nr. 28 u. 51 vom 07.02. u. 14.03.1828 (c. 7, e. 2); Sitzung Nr. 86 vom 17.05.1828 (c. 8, e. 1); und zu den Verhandlungen: Sitzung Nr. 96 vom 12.06.1828 (c. 8, e. 1); Sitzung Nr. 2 u. 12 vom 07. u. 21.08.1829 (c. 10, e. 2); Dekret Nr. 4 (26.08.1829), in: RdL, IV, S. 4. 113 Vgl. Sitzung Nr. 5 vom 11.08.1827 (c. 5, e. 2).um Landverteilungsgesetz vgl. auch Kapitel E II. 114 Vgl. Sitzungen Nr. 13 u. 16 vom 07. u. 10.05.1832 (c. 16, s./e. 1); Dekret Nr. 75 (31.12.1830), in: RdL, IV, S. 86. 115 Vgl. Sitzung Nr. 78 vom 18.11.1828 (c. 9, e. 1). 116 Außerordentliche Geheimsitzung vom 18.11.1828 (c. 12, e. 1). 117 Vgl. Geheimsitzung vom 22.11.1828 (c. 12, e. 1).
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gesehen, bezogen sich nicht alle Gesetzesinitiativen auf Widerruf- oder Reformforderungen: So startete das Ayuntamiento von Tlalpujahua 1828 eine Initiative mit dem Ziel, dass auf den Haciendas Ordnungshüter eingestellt werden, die den Alcaldes vergleichbare Aufgaben übernehmen. 118 Von der Umsetzung ist hier ebenso wenig bekannt wie bei der Forderung aus Uruapan nach einem „Belohungsgesetz für die Verfolgung von Wölfen und Kojoten, die die Berge unsicher machen und die Ackerfelder überfallen“119. Neben die bisher aufgezählten punktuellen Vorschläge, Initiativen et cetera trat mit zunehmender Intensität die Gründung von Gesellschaften zu bestimmten Zwecken im Bildungs-, Kultur- sowie im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Carlos Forment eruierte in diesem Kontext in seiner Studie über die Ausbildung der Civil society in Lateinamerika nach der Unabhängigkeit für Michoacán einen relativ hohen Grad zivilgesellschaftlichen Engagements. In Mexiko konnte nach ihm lediglich Mexiko-Stadt – allerdings mit großem Abstand – zwischen 1826 und 1856 mehr Vereinsgründungen aufweisen.120 Hier werden somit Kontinuitäten zur späten Kolonialzeit erkennbar. Zu den Vereinigungen mit politischer Zielsetzung lassen sich neben den bereits erwähnten Geheimgesellschaften beispielsweise die im Kapitel über Nationalfeiertage noch zu behandelnden Juntas patrióticas zählen, die sich der Finanzierung und Organisation von öffentlichen Festen widmeten, oder auch die ebenfalls extra zu erörternde Gründung von Zeitungen. Über die Organisation von lokalen Wahlbündnissen, wie sie sich bei der Beschäftigung mit den Wahlpraktiken weiter unten andeuten, ist leider kaum etwas bekannt, allerdings weist die Verteilung von gedruckten Wahllisten auf einen gewissen Institutionalisierungsgrad hin. Ein weiterer Schwerpunkt galt dem Bildungsbereich, und hier einerseits der Wiedereröffnung und dem Ausbau höherer Bildungseinrichtungen und andererseits dem Ausbau der Institutionen für die Primärbildung. Hervorzuheben ist hier die nach Joseph Lancaster benannte Gesellschaft, die sich nicht nur in Mexiko für die Verbreitung der als fortschrittlich angesehenen Lehrmethode des gegenseitigen Unterrichtens einsetzte. Sie gründete sich in Valladolid spätestens 1827 nach einem Vorbild aus MexikoStadt. Als der Kongress ihr gegenüber die Empfehlung aussprach, sie möge sich nicht abends treffen – dies könnte „in der Öffentlichkeit einen Skandal erregen“ und außerdem sind „diese Zeiten schandhaft, um auf der Straße zu gehen“ – wurde deutlich, dass sich viele Mitglieder aus den politischen Institutionen dort engagierten: Denn an den Sitzungen beteiligten sich zumindest 1827 laut Kongressprotokoll „Personen, die tagsüber feste Beschäftigungszeiten haben, wie 118 Vgl. Sitzung Nr. 37 vom 26.02.1828 (c. 7, e. 2). 119 Sitzung Nr. 55 vom 21.10.1831 (c. 15, e. 4). 120 Vgl. Forment: Selfhood, S. 102.
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man an den Herren Abgeordneten und den Individuen des Obersten Gerichtshofes, den Büroangestellten und an fast allen anderen beteiligten Ciudadanos erkennt“. Die Mitgliedschaft war „puramente voluntaria“121. Insbesondere für die Zeit bis Ende 1829 ist immer wieder von ihr die Rede, im April 1831 hieß es dann allerdings: „Die Gesellschaft existiert nicht mehr“122. Schon bald nach Gründung des Staates wurden Forderungen laut, weitere höhere Bildungseinrichtungen (wieder) zu errichten, nachdem das kirchliche Colegio seminario (tridentino) schon 1819 restituiert worden war und sich vor allem der Ausbildung von Pfarrern, partiell auch von Anwälten widmete. Beispielsweise trug ein Mitglied des Domkapitels 1825 eine Forderung an den Kongress heran, dass die Richter der obersten Gerichte „in den Stunden des Rückzugs eine Academia de jurisprudencia teórica-práctica, einen Lehrstuhl des öffentlichen Rechts und einen anderen der politischen Ökonomie im Colegio de San Nicolás“123 unterhalten sollten. Zur Gründung juristischer Professuren kam es dann wohl erst 1832 mit finanzieller Unterstützung des Cabildo. 124 Im gleichen Jahr nahm auch die Wiedereröffnung des Colegio de San Nicolás Gestalt an. Noch fünf Jahre vorher hatte offensichtlich das Argument überzeugt, dass dieses wegen Schülermangels nicht gebraucht werde: „Das Seminario hatte vor der Revolution 160 Kollegiaten und heute hat es nicht einmal die Hälfte“125 – wozu braucht es dann eine weitere vergleichbare Einrichtung? Außerdem hätten die Nachbarstaaten San Luis Potosí und Guanajuato, aus denen früher Schüler gekommen waren, jetzt eigene Einrichtungen. Im Jahre 1832 hingegen überwog im bildungspolitisch aufgeschlossenen Kongress die gegenteilige Einschätzung, außerdem habe das Colegio eigene finanzielle Ressourcen und viele „Verdienste“. So dekretierte der Kongress die Wiedereröffnung mit sieben Lehrstühlen: einen für lateinische Grammatik, einen für Logik und Mathematik, einen für Physik und Chemie, einen, der „die Fundamente der katholischen Religion“ in Alltagssprache unterrichtet, und weitere für das Völker- und politische Recht, für das kanonische und zivile Recht sowie für politische Ökonomie. Außerdem sollte nun auch die Academia de jurisprudencia teórica-práctica eingerichtet werden, wofür man den Lehrstuhl für scholastische Theologie umwidmen wollte.126 Die Wiedereröffnung gelang dann allerdings erst 1847, bis dahin wurde im Gegenzug das Seminario um einige der genannten Lehrstühle erweitert. 1832 gründete 121 Sitzung Nr. 33 vom 19.09.1827 (c. 5, e. 3). Vgl. auch, allerdings mit anderen Jahreszahlen: Rodríguez Díaz: Educación, S. 309-312. 122 Sitzung Nr. 11 vom 19.04.1831 (c. 12, e. 2). 123 Sitzung vom 24.12.1825 (c. 2, e. 10). 124 Vgl. Sitzungen Nr. 15 u. 37 vom 09.05. u. 07.06.1832 (c. 16, s/e. 1). 125 Sitzung Nr. 5 vom 11.08.1827 (c. 5, e. 2). 126 Vgl. Dekret Nr. 59 (08.11.1832) /Art. 1f., in: RdL, V, S. 68.
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man zudem eine Akademie für Literatur. 127 Zur medizinischen Ausbildung wurde bereits 1829 ein Medizinlehrstuhl gegründet, der vier Jahre später zusammen mit einem Lehrstuhl für Chirurgie die vom Staat finanzierte „Facultad de Medicina de Michoacán“ bilden sollte. Treibende Kraft und schließlich erster Lehrstuhlinhaber war hier Juan Manuel González Urueña, der sich vor allem mit (Pocken-)Epidemien und Cholera auseinandersetzte und im auf Auftrag der Regierung Methoden der Bekämpfung verbreitete.128 Im kulturellen Bereich hatte der Kongress schon 1827 Nachrichten von einem „Teatro de comedias“ 129 empfangen, zwei Jahre später von einer „Sociedad“ beziehungsweise von „Socios del teatro“130, 1831 sind gar mehrere „Theater des Staates“131 erwähnt, für die auch eigentlich des Landes vertriebene spanische Schauspieler zugelassen wurden. 1828 stellte der Regierungsbericht fest, dass man „auf Grund der Bemühungen einer Gruppe von Ciudadanos“ in der Hauptstadt „ziemlich bald ein neues Coliseo genießen wird …, das eines freien und aufgeklärten Volkes würdig ist“132. Im Oktober 1830 wurden Zuschüsse aus dem „öffentlichen Haushalt … für die Fertigstellung des Coliseo und für die Errichtung eines Platzes für Hahnenkämpfe“133 erbeten, seit 1827 beantragten verschiedene Pueblos Sondergenehmigungen für zunächst verbotene Stierkämpfe, häufig im Rahmen größerer Festveranstaltungen. 134 1828 wird davon berichtet, dass in Puruándiro „öffentliche Badestellen als Werk der Großzügigkeit eines Privatmannes“135 entstanden sind. Schon 1825 ist, um zum letzten, dem ökonomischen Bereich zu kommen, in den Protokollen eine im Bergbaugebiet von Tlalpujahua tätige „englische Compañia“136 vermerkt. Die Frage, ob sie auch die direkten Steuern zu zahlen habe, verwies der Kongress an die Regierung. 137 Auf dem Höhepunkt der Spaniervertreibung beantragte 1829 ein spanischer „Socio“ einer „Compañia empresoria“ das Bleiberecht: Durch die Überreichung einiger „mit Eisen aus 127 Vgl. im Überblck: Cortés Zavala: Vida, S. 353 u. Martínez Peñaloza: Humanismo, S. 385-390. 128 Vgl. Dekret Nr. 37 (12.11.1829), in: RdL, IV, S. 52-56; Dekret Nr. 11 (25.05.1833), in: RdL, VI, S. 16-22; Martínez Peñaloza: Humanismo, S. 390-392. 129 Sitzung Nr. 5 vom 11.08.1827 (c. 5, e. 2). 130 Sitzungen Nr. 70 bzw. 87 vom 02. bzw. 19.11.1829 (c. 11, e. 1). 131 Sitzung Nr. 98 vom 17.12.1831 (c. 14, e. 1). 132 Memoria 1828, S. 25. 133 Sitzung Nr. 65 vom 22.10.1830 (c. 11, e. 3). 134 Vgl. zum Hahnen- und Stierkampf und deren Einschätzung im Vergleich zum Theater das Kapitel E II. 135 Memoria 1828, S. 24. 136 Sitzung Nr. 38 vom 26.10.1825 (c. 2, e. 8). 137 Vgl. Sitzung vom 24.12.1825 (c. 2, e. 10); Sitzung Nr. 75 vom 09.01.1826 (c. 2, e. 6).
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Coalcomán fabrizierter nützlicher Teile für die Viehzüchter“ wollte er „seine ausgezeichnete Zuneigung zu Michoacán“138 unter Beweis stellen. Zwei Jahre später erbat ein Pfarrer die Erlaubnis für „die Fischerei von Karettschildkröten und [für] die Suche nach Perlen“139 an der Küste Michoacáns mit Hilfe von vier Boten. So sollte die regionale Wirtschaft gefördert werden. Kurz danach berichtete der Präfekt des Norddepartaments „von Handwerksunternehmungen, denen sich die Pueblos des Pátzcuaro-Bezirkes zu widmen begannen“ 140 und der Prefecto des Süddepartements von der „Prägung von Münzen“141 in Taretan. In diese Zeit fällt auch die Gründung einer „Compañia de industria“ in der Hauptstadt, an der sich neben dem Staat (mit fünf Aktien à 200 Pesos) insbesondere Einzelpersonen beteiligten. 142 Aus Zeitungsberichten geht hervor, dass sich zunächst 46 Personen – unter ihnen eine Frau – mit insgesamt 8.650 Pesos an dieser Investitionsgesellschaft beteiligten. 143 Mit den Einlagen sollte beispielsweise die Errichtung einer Wassermühle zur Energiegewinnung für eine Fabrik (ko-)finanziert werden.144 In Piedad bildete sich mit zwölf Personen und einem Volumen von 1.050 Pesos eine weitere solche Gesellschaft und eine weitere in Ario verkündete den Verkauf von Aktien im Wert von 4.850 Pesos, „um die Kupferminen zu unterstützen“145, für den Kauf einer Maschine fehlten jedoch noch 3.150.146 Die im voranstehenden Abschnitt aufgezählten Aktivitäten sollen, wie gesagt, den in den Teilen D bis F dargelegten Diskussionen einen Rahmen geben. Die Aufzählung bleibt dabei freilich exemplarisch. Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, dass sich die Multiplikation der über den privaten Rahmen hinaus tätigen Akteure, wie sie sich am Ende der Kolonialzeit angedeutet hatte, weiter fortsetzte – zur Erinnerung: Michoacán besaß in dieser Zeit um die 400.000 Einwohner. Eine Vielzahl an Akteuren brachte sich ein, 138 139 140 141 142
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Sitzung Nr. 73 vom 05.11.1829 (c. 11, e. 1). Sitzung Nr. 14 u. 28 vom 26.08. u. 13.09.1831 (c. 15, e. 2). Sitzung Nr. 75 vom 17.11.1831 (c. 15, e. 4). Sitzung Nr. 4 vom 11.10.1831 (c. 15, e. 4). Vgl. zur Staatsbeteiligung: Sitzung Nr. 43 vom 06.10.1831 (c. 15, e. 4); Dekret Nr. 7 (24.10.1831), in: RdL, V, S. 6; zur Beteiligung von Einzelpersonen und Institutionen: Cayetano Gómez: Sitzung Nr. 102 vom 20.12.1831 (c. 14, e. 1); zur Sociedad del teatro: Sitzung Nr. 70 vom 02.11.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. Michoacano libre Nr. 79 (03.11.1831), II, S. 314f., zur erstmaligen Erwähnung: Michoacano libre Nr. 58 (22.08.1831), II, S. 232. Zur genauen Zitation der Zeitungen vgl. die Angaben im Materialverzeichnis. Vgl. Michoacano libre Nr. 86 (28.11.1831), II, S. 344; Michoacano libre Nr. 87 (01.12.1831), II, S. 348. Michoacano libre Nr. 87 (01.12.1831), II, S. 348. Vgl. Michoacano libre Nr. 90 (12.12.1831), II, S. 358f.
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seien es die über 125 Parlamentarier, die noch zu behandelnden Wahlmänner, Mitglieder in Ayuntamientos – vor der Reform von 1825 hatte Lloreda ja von „mindestens tausend“ dort tätigen „Individuen“ gesprochen – oder andere Einzelpersonen, ungenannte Vecinos, Ayuntamientos und Pueblos, Milizverbände, Geheimgesellschaften, Juntas patrióticas sowie weitere gesellschaftliche Gruppierungen wie beispielsweise eine Kongregation von Landarbeitern oder eine „Sociedad del teatro“. Sie wirkten innerhalb des politischen Systems genauso wie im kulturellen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich, sie bezogen für wie auch gegen den Erhalt der Ordnung Stellung. So lässt sich resümierend die oben aufgestellte Annahme von der Mobilität der Gesellschaft Michoacáns über die späte Kolonialzeit hinaus bestätigen und, in Form einer entstehenden Zivilgesellschaft, auf den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich ausweiten. Für den Kongress bedeutete dies, dass er in intensiver Kommunikation mit der Bevölkerung stand und mit vielerlei Herausforderungen und Resistenzen umzugehen hatte. Die nachfolgenden Kapitel untersuchen dieses Verhältnis zwischen Kongress und Bevölkerung genauer.
II. Das aktive und passive Wahlrecht Die Konstituante Michoacáns hatte, wie bei den Verfassungsverhandlungen gesehen, als zwei zentrale Elemente des neuen politischen Systems zum einen die Volkssouveränität eingeführt und zum anderen die Repräsentativität. Das Volk war zwar souverän, diese Souveränität sollten jedoch die Repräsentanten des Volkes ausüben. Die Verfassung selbst sagte über das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Souverän wenig mehr aus als im Artikel 19 fixiert: „Die legislative Gewalt des Staates wird in einen Kongress gelegt, zusammengesetzt aus in indirekter Weise durch das Volk gewählten Deputierten“. Welche Bedeutung dem Wahlakt zugemessen wurde, brachte der Abgeordnete Manuel González am 28. Februar 1825 folgendermaßen auf den Punkt: „Im Volk sitzt die Souveränität“ und die Wahl der Abgeordneten „ist der einzige Akt, in dem es sie unmittelbar ausübt“147. Damit hatte er einerseits den Vormachtsanspruch des Parlamentes zum Ausdruck gebracht – die anderen Repräsentanten wie Exekutive und Ayuntamientos galten laut Konstituante ja als nachgeordnet –, andererseits aber auch dem Institut der Wahlen die zentrale Rolle im Verhältnis zwischen Volk und Repräsentanten zugedacht: Der Souverän sollte nur im Akt der Wahl
147 Sitzung vom 28.02.1825, in: AyD, II, S. 141.
Aktives und passives Wahlrecht
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aktiv werden. Wie schon in Kapitel C I ausgeführt, hinterlässt das zuweilen den Eindruck, dass die Souveränität auf die Repräsentanten übertragen wird. In der Einschätzung über die große Bedeutung der Wahlen stimmten die Verfassungsväter Michoacáns mit der überwiegenden Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts überein. Selbst in Krisenzeiten fanden Wahlen statt und wurden beispielsweise auch von autoritären Führungspersönlichkeiten wie Caudillos nicht grundsätzlich in Frage gestellt. 148 Die Übereinstimmung mit anderen lateinamerikanischen Regionen bezieht sich weiterhin auf die relativ zu Europa betrachtet frühzeitige Etablierung eines fast allgemeinen Männerwahlrechts. Antonio Annino spricht in diesem Kontext von einer „Avantgardesituation“ 149 . Auch die weitere Wahlforschung zur mexikanischen Unabhängigkeitszeit hat einerseits eine enorme und schnelle Ausweitung des Wahlrechts und andererseits eine schnelle Transformation von kollektiven, ständisch-‚traditionellen’ hin zu ‚modernen’, individuellen Wahlsystemen konstatiert. Insbesondere François-Xavier Guerra und Marie-Danielle Demélas-Bohy sprechen für die Zeit nach 1808 von revolutionären Umbrüchen bei den Repräsentationsformen. Sie gehen dabei von einem Import von Ideen aus Europa aus, der nicht zur traditionell verankerten amerikanischen Bevölkerung gepasst habe.150 Auch Annino betont über die Zeit der Unabhängigkeitserklärung hinaus diese Gegenüberstellung von moderneuropäischen Ideen gegenüber der traditionellen amerikanischen politischen Kultur. 151 Eduardo Posada-Carbó spricht diesbezüglich von einer „’black legend’ which has cast its shadow over the study of Latin American elections“152. Für Mexiko liegen allerdings bisher fast nur Studien für die Hauptstadt in der gaditanischen Ära vor, die dann häufig für allgemeinere Schlüsse herangezogen werden.153 Das „neuerdings bestehende Interesse“154 an Wahlen im 19. Jahrhundert hinterlässt noch eine Vielzahl an Desiderata. Für Michoacán beispielsweise ließ sich auf Grund fehlender Studien eine solche „Revolution“ bislang nicht feststellen. Es fehlt sowohl an Untersuchungen zu Wahlen im Antiguo régimen – auch wenn man hier gerade in den indigenen Pueblos wohl von einer Tradition mit gewisser Breitenwirkung ausgehen kann – als auch an 148 149 150 151 152 153
Vgl. Annino: Introducción (1995), S. 10; Schmidt: Wahlen, S. 45f. u. 51. Annino: Introducción (1995), S. 10. Vgl. Demélas-Bohy / Guerra: Revolutions; ähnlich: Guerra: Traditions. Vgl. Annino: Introducción (1995); Annino: Cádiz. Posada-Carbó: Juggling, S. 627; ähnlich: Guardino: Time, S. 168. Vgl. zu Studien für die Zeit zwischen 1808 bis 1821 neben den bereits erwähnten: Berry: Election; speziell zu Mexiko-Stadt: Benson: Election; Guedea: Elecciones; Annino: Cádiz, v.a. S. 197-207; zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, Teile aus Kap. IV. Zu Wahlen bei den Aufständischen: Guedea: Procesos. 154 Mücke: Demokratie, S. 391.
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Wahl der Abgeordneten
Studien für die Zeit nach 1820. Nach 1808 und während des Bürgerkriegsjahrzehnts fanden insbesondere in Valladolid vermehrt Wahlen statt, möglicherweise auch unter Einbeziehung weiterer Bevölkerungskreise wie bei den Wahlen zum Ayuntamiento constitucional. „Populäre“ Wahlen gab es am ehesten in von den Aufständischen gehaltenen Gebieten. Ob man allerdings von so weitgehenden Transformationen wie für Mexiko-Stadt ausgehen kann, scheint für das Bürgerkriegsjahrzehnt äußerst fraglich. Da also die Wahlen der späteren 1820er und frühen 1830er Jahre in Michoacán, wie übrigens auch in Gesamtmexiko,155 noch kaum erforscht wurden, beabsichtigt die folgende Studie eine wichtige Forschungslücke zu schließen. Als Grundlage der vorliegenden Untersuchungen dienen anders als im vorherigen zweiten Teil nicht nur Dokumente mit Bezug zur Constituyente, sondern auch die, die im Zusammenhang mit den ordentlichen Kongressen bis 1835 stehen: Neben den parlamentarischen Sitzungsprotokollen spielen vor allem Wahlbeschreibungen meist lokaler Autoritäten eine Rolle, die über die Protokolle der Wahlgänge und über Dokumente zu Wahlkonflikten angefertigt worden sind. Für das Thema des Wahlrechts bietet die Constitución michoacana eine interessante Ausnahmestellung: Als einzige innerhalb der Estados Unidos Mexicanos traf sie kaum konstitutionelle Festlegungen zu den Wahlen, vielmehr verpflichtete sie jeden Kongress zur Verabschiedung eines neuen Wahlreglements für die Bestimmung der nächsten Legislatur. Diese Auflage erlaubt uns das Nachvollziehen von Konstanzen und Veränderungen während des hier betrachteten Zeitraums. Sie erlaubt darüber hinaus, die Frage nach der Reformfähigkeit der Gesetzgeber zu stellen. Neben den einschlägigen Diskussionen zu den Wahlen für den regionalen Kongress von Michoacán werden diejenigen zu den Wahlen im föderalen Kongress herangezogen. Für beide Wahlen gab es zwar jeweils unterschiedliche Gesetze, das dort verankerte Prozedere war jedoch weitgehend das gleiche. 156 Entsprechend lassen sich also die Diskussionen für beide Ebenen heranziehen. 155 Vgl. die Forschungsüberblicke bei Schmidt: Wahlen; Posada-Carbó: Juggling, v.a. S. 616626. Zu den wenigen Studien zum Mexiko der 1820er und 1830er Jahre zählen: Bellingeri: Ambigüedades; Warren: Elections; zu partiellen Regionalstudien (im Folgenden genauere Seitenangaben): Salinas Sandoval: Política; Serrano Ortega: Jerarquía; Guardino: Time; der Aufsatz von Jaime Hernández Díaz zu Wahlen in Michoacán referiert lediglich einige zentrale Normen: Hernández Díaz: Legislación. Annino konstatierte auch für das gesamte Hispano-Amerika im Vorwort einer einschlägigen Aufsatzsammlung zu Wahlen im 19. Jahrhundert die „Knappheit an Studien zum Thema“ (Annino: Introducción (1995), S. 7). 156 Im Überblick sind das folgende Gesetze: Dekret Nr. 41 (28.03.1825), in: RdL, I, S. 8190; Dekret Nr. 34 (06.04.1827), in: RdL, II, S. 82-92; Dekret s./Nr. (26.12.1828), in:
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Diesem Kapitel steht die These voran, dass die Abgeordneten Michoacáns in der Institution der Wahlen eine asymmetrische Vertrauensbeziehung sahen: Den vertrauenswürdigen Repräsentanten stand ein nicht zu vertrauender Souverän gegenüber. Damit verkehrten sie das Verständnis eines Trust government nach John Locke in sein Gegenteil: Weniger das Vertrauen in die Repräsentanten stand zur Debatte, als vielmehr das in das Volk.157 Dies ist sicherlich auch eine Frage der Perspektive – die Gewählten haben deutlich mehr Material zur Auswertung hinterlassen als die Wähler –, aber es ist auch Ausdruck einer im Vergleich zu Europa unterschiedlichen historischen Situation: Die Intellektuellen, die dort kritisch Position gegenüber den Regierenden beziehen konnten, übernahmen hier Regierungsverantwortung. Und im Unterschied zu den USA, wo nach John Pocock die Abgeordneten in der öffentlichen Meinung als „corruptible virtually by definition“ galten und das Volk als „uncorrupted“158, stand keine starke öffentliche Meinung zur Verfügung, die eine Gegenposition RdL, III, S. 113-121; Dekret Nr. 79 (05.01.1831), in: RdL, IV, S. 87-98; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / in: RdL, V, S. 39-50. Hierzu werden, wie gesagt, auch die Diskussionen hinzugezogen, die im Vorfeld der Wahlgesetze für die Wahl der Abgeordneten zum Generalkongress geführt wurden, insofern sie für den jeweiligen Artikel von Belang sind. Diese Gesetze wurden meist vor denen für die partikularstaatlichen Wahlen debattiert. Häufig übernahmen die Abgeordneten Bestimmungen des einen Gesetzes für das nächste; vgl. neben den gerade zitierten Gesetzen folgende: Dekret Nr. 17 (12.08.1824), in: RdL, I, S. 23-31; Dekret Nr. 14 (19.07.1826), in: RdL, II, S. 50-57; Dekret s./Nr. (24.07.1828), in: RdL, III, S. 65-73 und den Verweis des dritten ordentlichen Kongresses auf das Vorgängergesetz: Dekret Nr. 49 (28.08.1830) / Art. 1, in: RdL, IV, S. 67. Im vierten Kongress schließlich fiel der Entschluss, beide Wahlen gleichzeitig und unter den-selben gesetzlichen Regelungen stattfinden zu lassen; vgl. Sitzung Nr. 43 vom 28.06.1832 (c. 16, s./e. 1). Da jedoch gleichzeitig ein dauerhaftes Wahlrecht in der Verfassung verankert werden sollte, musste entsprechend erst die Änderung der Verfassung vollendet werden; diese Verfassungsänderung trat kurz vor der außerplanmäßigen Auflösung des Kongresses Anfang 1833 in Kraft. Wegen der vorzeitigen Auflösung konnte ein Gesetz für die Wahl des nächsten Kongresses von Michoacán nicht mehr verabschiedet werden, weswegen hier nur das parallel verabschiedete Gesetz für die Wahl des Generalkongresses einbezogen wurde. Folgt man der oben bezeugten Intention zur Anpassung der beiden Wahlgesetze, ist anzunehmen, dass bei regulärem Verlauf der Kongress eine Übernahme dieses Gesetzes für die partikularstaatliche Wahl beschlossen hätte, wie sie durch die Verfassungsänderung jetzt ermöglicht worden war. Genau dies verfügte der Gouverneur schließlich kurz nach der Auflösung; vgl. Dekret s./Nr. (05.01.1833) / Art. 1, in: RdL, VI, S. 3. Somit wird als viertes Gesetz das oben zitierte Dekret 35 in die Betrachtung miteinbezogen. 157 Meyer: Eigentum, S. 81-84 u. 90f.; Thomas: Locke, S 31f. u. 78f.; Frevert: Vertrauen, S. 22. 158 Pocock: Moment, S. 519-521, Zitate S. 519 u. 521.
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zu der der Abgeordneten hätte einnehmen können. Im Unterschied sowohl zu Europa als auch zu den USA prägten also hier die Politiker die öffentliche Meinung, und somit das Geschichtsbild, sehr viel stärker. 159 Schon die Gesetzgeber von Cádiz wandten sich gemäß Forschung vom Modell des Trust government ab: Durch die Wahlen sollten die per se Tugendhaften in ihr Amt gelangen. Wahlen waren laut Forschung entsprechend nicht als kompetitiver Wettbewerb angelegt, vielmehr galten sie als Vertrauensbeweis in eine Person, die per se geeignet war, das Gemeinwohl zu vertreten.160 Die Gewählten stellten in der Alternative Pococks per se „one estate or order of the commonwealth“ dar, und zwar den der „classical Few“161, den Stand der Tugendhaften oder des Pars sanior der Gesellschaft. Dieses Verständnis, das wir schon beim Thema Gewaltenteilung (Kapitel C I) antrafen, ist nach ihm Ausdruck einer republikanischen Staats- und Gesellschaftsvorstellung Der folgende Teil des Kapitels geht der These von der asymmetrischen Vertrauensbeziehung für Michoacán anhand der Bestimmungen zum aktiven und passiven Wahlrecht nach. Wie die Verfassungsväter legten auch die nachfolgenden Gesetzgeber großen Wert auf ein allgemeines und gleiches Wahlrecht. Dies sollte sich erst gegen Ende des Untersuchungszeitraumes ändern. Im daran anschließenden Teil III rücken die Wahlpraktiken und -verfahren in den Fokus des Interesses. Hier wird deutlich, dass die Wähler den Gewählten nicht als vertrauenswürdig erschienen, da sie prinzipiell als korrumpierbar galten. Über verschiedene Reformmaßnahmen versuchte der Gesetzgeber in der Folge (vergeblich), das Volk vertrauenswürdig zu machen. Bemerkenswerterweise lässt sich dabei eine starke individualisierende Tendenz weg vom anfangs dominierenden Cádiz-Modell erkennen. Die Verfassung hatte, wie gesehen, nur zwei grundsätzliche Regeln für die Parlamentswahlen erlassen. Neben der indirekten Wahlmodus, der in Abschnitt III zu behandeln sein wird, gehörte dazu nach dem oben zitierten Artikel 19 die Festlegung, „durch das Volk gewählt“ zu werden. Wer war in den Vorstellungen der Parlamentarier dieses Volk? Und wer diese Parlamentarier? Diesen Fragen soll im Folgenden anhand der Bestimmungen des aktiven und passiven Wahlrechts nachgegangen werden. Drei Ebenen werden hierfür unterschieden und nacheinander untersucht: zunächst der weiteste Kreis der zu repräsentierenden Personen (a), dann der der aktiv (b) und schließlich der engste Kreis der passiv Wahlberechtigten (c). Die letztgenannte Gruppe unterteilt sich gemäß der 159 Vgl. zur öffentlichen Meinung das Kapitel F. Vgl. zu einem idealtypischen Modell: Habermas: Strukturwandel. 160 Vgl. Guardino: Time, S. 221; Annino: Cádiz, S. 195. 161 Pocock: Moment, S. 519.
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Forderung nach einem indirekten Wahlmodus in weitere Unterkategorien. Wer sollte repräsentiert werden, wer durfte wählen, wer in den unterschiedlichen Wahlversammlungen gewählt werden? Wie gleich zu sehen sein wird, handelte es sich um einen immer stärker eingeschränkten Personenkreis: Während wie schon in der Konstituante alle Seelen als repräsentationsfähig galten, mussten für die politische Partizipation bestimmte Auflagen erfüllt werden: Für die aktive Wahlberechtigung reichte im Wesentlichen der Staatsbürgerstatus, für das passive Wahlrecht kamen weitere Kriterien hinzu. Wie ebenfalls im folgenden Kapitel gezeigt wird, unterlagen die Auflagen im Bereich der passiv Wahlberechtigten über den untersuchten Zeitraum hinweg Veränderungen: Der Kreis der vertrauenswürdigen Personen wurde tendenziell eingeschränkt.
a.
Das repräsentierte Volk
Bezüglich der Gruppe der zu repräsentierenden Personen ließ sich bereits in der Constituyante die Absicht erkennen, diese in einem allgemeinen und gleichen Sinne zu fassen, eine Absicht, die konstant über alle untersuchten Legislativen hinweg erkennbar blieb: Als repräsentabel galt im gesamten Untersuchungszeitraum ähnlich wie nach der Constitución federal und den anderen einzelstaatlichen Verfassungen die gesamte „Bevölkerung“162 ohne Einschränkung gleich welcher Art. Damit distanzierten sich die Abgeordneten deutlich von traditionellen ständisch-korporativen Vertretungsmodellen, aber auch von der Verfassung von Cádiz: Diese hatte, wie gesehen, die Anzahl der Abgeordneten an der aus den „Naturales zusammengesetzten Bevölkerung, die von beiden Linien her aus den spanischen Besitzungen“163 stammen, orientiert, und damit die Afrika-stämmige Bevölkerung ausgeschlossen. Das „Volk“ des Artikels 19 der Verfassung galt in Michoacán nicht als politisch definiert: Jede Person – gleich welchen Geschlechts, Alters, welcher ethnischen und geographischen Herkunft, gleich ob Adliger, Geistlicher, Vecino, Staatsbürger oder nicht – hatte einen Anspruch auf politische Vertretung. Die Verwendung des von einer politischen Vorbestimmtheit freien „Seelen“-Begriffes, den man ausschließlich in diesem Zusammenhang antrifft, im Gegensatz beispielsweise zu den Begriffen Staatsbürger oder Vecino, unterstreicht den Anspruch auf Allgemeinheit der Repräsentation. Neben der Allgemeinheit gilt die Gleichheit als zentrales Prinzip des modernen, demokratischen Wahlrechts. 164 Auch dieses war in 162 Constitución federal, Art. 10. Vgl. zum theoretischen Überblick: Zippelius: Staatslehre, S. 210-225. 163 Verfassung von Cádiz, Art. 29. 164 Vgl. im Überblick: Zippelius: Staatslehre, S. 211f.
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Michoacán (zumindest fast) vollständig umgesetzt: Für je 25.000 „Seelen“ (Art. 20) sollte laut Verfassung ein Abgeordneter bestimmt werden. Die Anzahl der Abgeordneten orientierte sich also – nimmt man die Auflage einer Mindestanzahl an Deputierten heraus – rein an der Bevölkerungsgröße und nicht an der Anzahl bestimmter Gebietskörperschaften wie noch zu Zeiten der Junta suprema (1808-1810), der verfassunggebenden Cortes (1810-1812) oder nach der Verfassung von Apatzingán (1814). 165 Entgegen der Behauptung von Marcello Carmagnani war in der ersten föderalen Republik wie für die Mehrzahl der Einzelstaaten die Anzahl der Individuen und nicht etwa die der (Gebiets-) Körperschaften die primäre Basis für die Festlegung der Abgeordnetenzahl. Nach Carmagnani hatten nur fünf Verfassungen Kongresswahlen auf demographischer Basis eingeführt, woraus er fälschlicherweise für die überwiegende Mehrheit der verbleibenden Staaten korporative Vertretungsmuster ableitet. Die eigene Auswertung ergab ein umgekehrtes Bild: Demnach orientierten nur drei Staaten ihre Abgeordnetenzahl an der Zahl der Ayuntamientos beziehungsweise Partidos (Tabasco beziehungsweise Tamaulipas und Zacatecas). Drei weitere Staaten (Guanajuato, Nuevo León und Occidente) verankerten eine stabile Abgeordnetenzahl, Durango überließ die Festlegung einem Gesetz. Mit Michoacán schrieben insgesamt zwölf Verfassungen vor, dass sich die Anzahl der Abgeordneten auf „Basis der Bevölkerung“166 berechnet, einige legten eine starre Proportion fest: Coahuila y Texas hatte mit einem Verhältnis von einem Abgeordneten auf sieben Tausend „Seelen“ das günstigste, México und Puebla mit einem von eins zu 50.000 das ungünstigste.167 In Michoacán stellte ein späterer Versuch einer Verfassungsreform die Proportionalität nicht in Frage, verwies aber auf eine zusätzliche, eher pragmatische Anforderung: Der dritte, die Verfassungsänderung beantragende Kongress hatte vorgeschlagen, die Proportion zu verändern und je 30.000 Einwohnern einen Abgeordnetenposten zuzuordnen. Der vierte Kongress, der über die Änderung zu beschließen hatte, stimmte ihr allerdings in der Sitzung am 28. September 1832 nicht mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zu. Bei der dort geführten Diskussion wurde deutlich, dass sowohl den Gegnern als auch den Befürwortern des veränderten Proporzes neben der Proportionalität auch die Arbeitsfähigkeit des Kongresses entscheidend schien. Deswegen sprachen sich die Reformgegner für eine möglichst hohe Anzahl an Abgeordneten aus, 165 Die Verfassung von Apatzingán hatte in Artikel 48 einen Abgeordneten pro Provinz vorgesehen. 166 So bspw. Verfassung von Chihuahua, Art. 19. 167 Vgl. Carmagnani: Territorio, S. 233. Coahuila y Texas und Jalisco setzten die Proportionalität bis 1832 bzw. 1834 aus und für den entsprechenden Zeitraum eine feste Abgeordnetenzahl fest.
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während die Befürworter der Reduktion für eine Konzentration auf ausreichend geeignete Personen plädierten. Die Begründung hierfür äußert sich besonders anschaulich in den Worten von Isidro Huarte, die ein allgemeines Verständnis widerspiegeln: Die numerische Zuordnung von Abgeordneten zu Seelen ist „rein ideal“168 und nicht real. Die Proportionalität diente also auch der Festlegung einer ausreichend großen Abgeordnetenzahl gemäß der Annahme, dass der Arbeitsaufwand mit der Einwohnerzahl korreliert. Eine Facette des in Abschnitt III ausführlich zu behandelnden indirekten Wahlverfahrens stützt die These, dass die Abgeordneten das gesamte Volk in allgemeiner und gleicher Weise repräsentieren sollten: In Michoacán wählte eine aus Wahlmännern bestehende Wahlversammlung des gesamten Staates (Junta electoral del estado) alle Abgeordneten – eine Norm, die sogar Verfassungsrang erhalten hatte. 169 Neben Michoacán führten nur fünf weitere Einzelstaaten (México, Nuevo León, Oaxaca, Puebla und Tabasco) eine solche Versammlung ein.170 Drei weitere Staaten (Chihuahua, Durango und Veracruz) äußerten sich dazu nicht in der Verfassung. In den anderen Einzelstaaten wählten einzelne Bezirke ihre Abgeordneten. In Michoacán dagegen verstanden sich die durch die Junta del estado gewählten Abgeordneten als Repräsentanten der gesamten Bevölkerung, wie beispielhaft an folgenden Äußerungen deutlich wird: Am 18. September 1825 bezeichnete sich Manuel Ruiz de Chávez als „Repräsentant des Pueblo“171, Lloreda bei der Diskussion des ersten Wahlgesetzes am 12. August 1824 noch anschaulicher als „Repräsentant von 400 Tausend Seelen“. Er titulierte sich als Träger des „Vertrauens, das sie in mich gelegt haben“ und einen Artikel als „absolut abstoßend“, der vorsah, dass ein Alcalde der Hauptstadt die Junta del estado leiten solle. Er forderte stattdessen erfolgreich den Vorsitz einer Person, die nicht „nur einem einzelnen Partido angehört“ 172 . Alle Seelen aus allen Landesteilen sollten also einen gleichberechtigten Vertretungsanspruch genießen, der nicht durch die Vorherrschaft eines Landesteiles verfälscht werden sollte. Der indirekte Wahlmodus schien den Ansprüchen nicht im Wege zu stehen. Dies ließ auch Mateo Echaíz im März 1827 erkennen: Für ihn war die Wahl durch die Wahlversammlung des Staates gleichbedeutend mit der durch das Volk. Er bezog sich zwar auf die Wahl des Gouverneurs, das Denkmuster lässt sich jedoch auf die Abgeordnetenwahl übertragen. Er 168 Sitzung Nr. 36 vom 28.09.1832 (c. 17 , e. 1). 169 Vgl. die implizite Einführung der Junta electoral del estado für die Wahl der Abgeord-neten im Abschnitt über die Wahl des Gouverneurs in: Verfassung von Michoacán, Art. 63. 170 Bis auf Tabasco waren das diejenigen Staaten, die ein dreistufiges Wahlsystem besaßen. Eine weitere Ausnahme war Occidente, das trotz eines Drei-Stufen-Systems die Abgeordneten durch die Departamentos wählen ließ. 171 Geheimsitzung vom 18.09.1825 (c. 2, e. 6). 172 Sitzung vom 12.08.1824, in: AyD, I, S. 215.
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konstatierte, dass die Wahl „nicht aufhört, populär zu sein“, obwohl der Kongress das abschließende Votum habe. Vorab hätte das Volk die entscheidende Vorauswahl getroffen, da ja das „Volk oder die Junta electoral del estado“173, quasi synonym verwendet, drei Kandidaten vorschlug. Jeder Abgeordnete repräsentierte also die Bevölkerung des gesamten Staates und nicht etwa wie vormals eine bestimmte Korporation, einen Stand oder eine Gebietskörperschaft, aber auch nicht, wie in der gaditanischen Verfassungssystematik verankert, einen bestimmten Wahlbezirk: Für die verfassunggebenden Cortes hatte jeder Bezirk, beispielsweise Michoacán, seine(n) Abgeordneten gewählt. Eine gemeinsame, gesamt-spanische Wahlversammlung existierte nicht. Die Abgeordneten wurden dadurch zu Vertretern der jeweiligen Provinz, in Spanisch-Amerika meist der jeweiligen Intendanz. Zudem waren die gaditanischen Verfassungsväter über Wahlinstruktionen – wie schon zur Zeit der Junta suprema – mit einem imperativen Mandat ausgestattet: Sie sollten bestimmte Interessen ihres Wahlbezirkes vertreten. Wie in Teil A gesehen, hatten sie sich entsprechend während der Debatten zumindest in einigen zentralen Punkten als Vertreter spezifischer regionaler Interessen verstanden, seien diese für Amerika, für Neu-Spanien oder für Michoacán. Die Verfassung von Cádiz versuchte dies zwar nach dem Vorbild der französischen Verfassung von 1791 beizulegen, indem sie das freie Mandat einführte und alle Abgeordneten „als Repräsentanten der Nation“ (Art. 78) fungieren sollten. Allerdings wählte nach demselben Artikel wieder die Wahlversammlung jeder einzelnen Provinz „die Deputierten, die ihr [gemäß der Bevölkerungszahl] korrespondieren“, also je eigene Vertreter. 174 Diese stammten, zumindest auf amerikanischer Seite, wie ebenfalls schon ausgeführt, meist aus der Provinz, für die sie gewählt wurden. So konnte die gaditanische Verfassung ihren Anspruch auf eine unitarische Nación española nicht vollständig durchsetzen, was nach Annino zur „territorialen Fragmentation“175 des politischen Raumes beigetragen hatte.
173 Sitzung vom 14.03.1827 (c. 3, e. 6). 174 In der französischen Verfassung von 1791 heißt es analog in Kapitel III, Titel I, Sektion III, Artikel 7: „Les représentants nommés dans les départements, ne seront pas représentants d'un département particulier, mais de la Nation entière, et il ne pourra leur être donné aucun mandat“. Die Artikel 1 bis 5 des Kapitels III, Titel I, Sektion I hatten drei nahezu gleichberechtigte Kriterien für die Verteilung der insgesamt 745 Abgeordneten auf die 83 Départements eingeführt: Nur gut ein Drittel (249) orientierte sich an der Bevölkerungsgröße des jeweiligen Département. Darüber hinaus sollte jedes Département feststehend drei Abgeordnete bestimmen mit der Ausnahme von Paris, das nur einen Abgeordneten bestimmen sollte (zusammen 247). Ein weiteres gutes Drittel (nochmals 249) verteilte sich gemäß des jeweiligen Steueraufkommens der Départements. 175 Annino: Introducción (1995), S. 12.
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Der in Michoacán anzutreffende allgemeine Vertretungsanspruch übertrug sich auch auf die föderale-mexikanische Ebene: 1832 stellte Pablo Peguero fest, dass ein Abgeordneter im Generalkongress „alle [Staaten] zu repräsentieren“176 habe, auch wenn er nur von einem gewählt wurde. Weiterhin weisen zwei weitere, allgemeinere Praktiken auf das Denkmuster von Gesamtvertretern hin: Wahlinstruktionen fanden keine Erwähnung, auch wenn sie nicht ausdrücklich verboten worden waren: Nicht ein bestimmter Bezirk entsandte mit spezifischen Aufgaben seinen Abgeordneten nach Valladolid, sondern eben das in der Junta del estado versammelte Volk. Auch ließen sich nach einer Untersuchung der Diskussionsprotokolle fast keine eindeutigen Parteinahmen für bestimmte Regionen seitens der Abgeordneten feststellen.177 Eine Facette des Wahlverfahrens unterstreicht den Anspruch: In den Wahlversammlungen setzten sich die Personen mit den meisten Stimmen durch. Damit war nicht garantiert, dass jeder Bezirk auch im Parlament durch einen eigenen Abgeordneten vertreten war. Die Anzahl von 22 Partidos und einer im betrachteten Zeitraum durchgängig geringeren Zahl an Parlamentariern machte dies sogar unmöglich. Zu vertreten waren also nicht die Wahlbezirke, sondern die gesamte Bevölkerung. Die obige Prosopographie der Abgeordneten hatte entsprechend eine sehr ungleiche regionale Verteilung zu Gunsten des Nordens von Michoacán gezeigt. Wie ließ sich trotz dieser Konstruktion garantieren, dass der Anspruch auf Allgemeinheit bezüglich der Bezirke gewahrt blieb? Dies geschah auf zweifache Weise: ideell, wie gesehen, durch die Konstruktion des Gesamtvertreters und institutionell durch die Bestimmung, dass jedes Partido unabhängig von seiner Größe mindestens einen Wahlmann für die staatliche Wahlversammlung zu bestimmen habe. Dieses Verfahren erlaubte es, dass jeder Bezirk, wenn er schon nicht selbst im Kongress vertreten war, zumindest an der entscheidenden Wahl der Vertreter partizipieren konnte. Dahinter musste dann auch das Gleichheitsprinzip zurückstehen: Denn während der Normalfall vorsah, dass ein Wahlmann 10.000 Seelen in der Junta del estado zu vertreten habe, repräsentierte er beispielsweise bei der Wahl für den zweiten Kongress 1827 im Fall des Partido von Coahuayana lediglich 1.350 Personen.178 Drei Entscheidungen des Kongresses bei Irregularitäten im Wahlablauf verdeutlichen die hohe Bedeutung, die die Abgeordneten der Vertretung aller 176 Sitzung Nr. 41 vom 06.10.1832 (c. 17 , e. 1). 177 Eine Ausnahme hiervon mag der Antrag Lloredas für die Erhebung von dem in seinem Wahlbezirk liegenden Santa Clara zur Villa sein, auf den in Teil E IV noch einzugehen sein wird. 178 Vgl. zu den Einwohnerzahlen Memoria 1827, S. 72. Zur Berechnung des „Normalfalles“ und zur angedeuteten Entscheidung für die Mehrheitswahl vgl. Kapitel D III.
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Landesteile bei der Bestimmung der Abgeordneten zumaßen. So ging es zum Beispiel um die Frage, was zu tun sei, wenn Wahlen an bestimmten Orten nicht (rechtzeitig) stattfanden, oder wenn über Urnengänge, deren Ablauf nicht den gesetzlichen Normen entsprach, Entscheidungen im Kongress anstanden. In diesem Sinne wurden die Wahlen zum ersten ordentlichen Kongress im Sommer 1825 um zwei Wochen verschoben, da die Mehrheit der Ansicht war, dass das am Pazifik gelegene Partido von Coahuayana sonst nicht an den Entscheidung hätte teilnehmen können und in der Folge eventuell gar dessen Zugehörigkeit zu Michoacán gefährdet gewesen wäre. 179 Sechs Jahre später genehmigte der dritte Kongress, dass in Tancitaro, eine zum Partido von Apatzingán gehörige Ortschaft, die Wahlen verspätet stattfinden konnten, da kurz vor dem an sich vorgesehenen Termin eine Bande des Caudillos des Südens, Giordano Guzmán, den Ort überfallen hatte und seine Bewohner aus Angst vor weiteren Übergriffen die Urnengänge storniert hatten. Die große Mehrheit folgte der Argumentation von José María Navarro, Antonio Frutos de Olmos und Pedro Villaseñor, „man dürfe Tancitaro nicht aus Angst ohne Repräsentation lassen ..., da der Gesetzgeber alle Hindernisse, die sich ergeben, beseitigen müsse, um das [Wahl-]Recht der Staatsbürger zu schützen ... man könne diese Pueblos nicht dieses Rechtes berauben“180. Daraufhin verabschiedete der Kongress ein entsprechendes Dekret.181 Auch im Jahr darauf wurden „alle Pueblos, die wegen der gegenwärtigen politischen Agitationen“ die Wahlen nicht durchführen konnten, ermächtigt, diese „an den Tagen abzuhalten, an denen sie dies am besten können“182. So lässt sich also festhalten, dass dem Prinzip der Allgemeinheit im Vertretungsanspruch ein sehr hoher Stellenwert zugemessen wurde: Das „Volk“ des Artikels 19 der Verfassung galt in Michoacán nicht als politisch definiert: Jede Person – gleich welchen Geschlechts, Alters, welcher ethnischen und geographischen Herkunft, gleich ob Adliger, Geistlicher, Vecino, Staatsbürger oder nicht – hatte einen Anspruch auf politische Vertretung. Auf der Ebene der Repräsentationsfähigkeit galten die beiden Prinzipien Allgemeinheit und Gleichheit den Abgeordneten der untersuchten Kongresse offensichtlich als Leitlinien. Michoacán löste sich damit deutlich von traditionellen Vertretungsmodellen.
179 Vgl. Sitzung vom 28.03.1825, in: AyD, II, S. 211f. 180 Sitzung Nr. 25 vom 04.05.1831 (c. 14, e. 2); vgl. auch: Sitzung Nr. 21 vom 30.04.1831 (c. 14, e. 2), und zu entsprechenden Warnungen im Vorfeld: Sitzung vom 02.03.1831 (c. 12, e. 2). 181 Dekret Nr. 92 (05.05.1831), in: RdL, IV, S. 106. 182 Sitzung Nr. 18 vom 04.09.1832 (c. 17 , e. 1); Dekret Nr. 50 (03.09.1832), in: RdL, V, S. 65.
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b. Die aktive Wahlberechtigung Was passierte aber mit dem eben konstatierten Allgemeinheitsprinzip auf der Ebene der aktiv Wahlberechtigten? Wie bei der Verfassungsuntersuchung gesehen, waren ja nicht alle Seelen gleich Staatsbürger, nicht alle besaßen also das Staatsbürgerrecht des Wählens. Ausgeschlossen von diesem waren insbesondere Frauen und nach Artikel 16 und 18 der Verfassung Minderjährige, aber auch einige Teile der erwachsenen männlichen Bevölkerung, wie diejenigen Personen, die sich bewusst außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses gestellt hatten, also Verbrecher, Personen eines fremden Vertrauensverbandes oder solche ohne „bekannte Lebensweise“. Die Abgeordneten sahen im Ausschluss dieser Personen keinen Widerspruch zum Allgemeinheitspostulat. So wird auch der oben zitierte Ausspruch Villaseñors besser verständlich, dass „man unter Volk die Mehrheit der Staatsbürger verstehe“. Nach González hatte es nur kleine „Ausnahmen“ von der Wahlberechtigung gegeben. Entsprechend fielen die folgenden großen Gruppen ausdrücklich nicht unter die Kategorie der „unmittelbar an die Person gebundenen häuslichen Bediensteten“, die auf Grund ihrer Abhängigkeit von den Staatsbürgerrechten suspendiert waren: „Tagelöhner, Maultiertreiber, Hirten, Kuhhirten und andere, die, obwohl sie im Haus des Eigentümers leben, nicht dessen Person dienen“183. Auch sie genossen ein je eigenes Wahlrecht. Zu den in der Verfassung genannten Auflagen kam noch diejenige hinzu, im Wahlbezirk ansässig (Avecindados) sein zu müssen und dort zu wohnen oder einer Militäreinheit anzugehören.184 Raphael Gómez de la Puente begründete später die Ansässigkeitsklausel, wohl eine allgemeine Meinung ausdrückend, damit, dass „keiner wählen könne ... ohne die Kenntnis der Individuen, die er wählen soll“185. Auf das Kriterium „bekannte Lebensweise“ wird weiter unten in Teil E II ausführlich einzugehen sein, vorab aber sei erwähnt, dass hierunter insbesondere nicht in den Pueblos lebende Vagabunden gezählt wurden. Im Vergleich mit zeitgenössischen Wahlsystemen europäischer Staaten lässt sich somit für Michoacán ein sehr weit gefasstes aktives Wahlrecht feststellen. Insbesondere fällt das Fehlen eines Zensus auf. Durch einen solchen sollte gesichert werden, dass nur der Pars sanior der Gesellschaft wahlberechtigt ist.186 Nach Dieter Grimm stellte das „Zensuswahlrecht ... eine Antwort auf das
183 184 185 186
Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 10, in: RdL, I, S. 82. Vgl. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 7f., in: RdL, I, S. 82. Sitzung Nr. 27 vom 05.05.1831 (c. 14, e. 2). Vgl. hierzu: Schmidt: Wahlen, S. 41; Kahan: Liberalism; Zippelius: Staatslehre, S. 211f.; Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 127; Weis: Entstehungsgeschichte, S. 274.
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Qualitätsproblem“ 187 der Wähler dar. Die Skepsis gegen Besitzlose war seit John Locke liberales Gemeingut. Wähler mit vermeintlich minderer „Qualität“ sollten ausgeschlossen werden. So bewegte sich in Europa zur etwa gleichen Zeit die Wahlberechtigtenquote bei beispielsweise 0,4 Prozent in Nassau oder immerhin 5 Prozent in England. 188 Für die ersten kompetitiven Wahlen mit Zensusauflagen in Venezuela und Neu-Granada (das heutige Kolumbien) 1836 setzt Eduardo Posada-Carbó eine Quote von 10 Prozent an.189 Da für Michoacán Angaben zu einigen Ausschlussgründen, wie insbesondere zur „bekannten Lebensweise“ oder zu einer Kategorisierung der Verbrecher, fehlen, lässt sich eine exakte Wahlberechtigtenquote nicht berechnen. Zieht man die Formel des Wahlgesetzes für den zweiten gesamt-mexikanischen verfassunggebenden Kongress von 1823 heran, käme man auf eine Quote von 20 Prozent. Es heißt dort, dass ein Wahlmann entweder auf „100 Vecinos“ oder, gleichberechtigt, „auf 500 Einwohner jeden Geschlechts und Alters“ bestimmt werden sollte. Auf Grund der Auflagen dieses Wahlgesetzes, die mit denen von Michoacán weitgehend übereinstimmen, 190 lassen sich, wie in Teil B V ausgeführt, Vecinos annäherungsweise mit wahlberechtigten Staatsbürgern gleichsetzen. Damit stellt das Gesetz die Gleichung auf: Ein Wahlberechtigter entspricht fünf „Einwohnern jeden Geschlechts und Alters“. Da die Auflagen von 1823 mit denen in Michoacáns Verfassung weitgehend übereinstimmen, dürfte die 20-Prozent-Quote auch für Michoacán einen adäquaten Näherungswert darstellen. Dabei bewegt sie sich in einem ähnlichen Bereich wie die Quote in einigen Staaten der USA oder auch im Großherzogtum Baden in den 1820er Jahren, das als eine europäische Ausnahme keinen Zensus eingeführt hatte, und oberhalb der knapp 15%, die Annino für die Wahlen von 1813 in Mexiko-Stadt errechnet hatte.191 Keines der Wahlgesetze der folgenden Jahre schränkte die aktive Wahlberechtigung ein, obwohl es ab den späten 1820er Jahren eine Tendenz gab, die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung zu beschneiden. Im ersten Kon187 Grimm: Verfassungsgeschichte, S. 129. Vgl. auch: Kahan: Liberalism. 188 Zu Nassau vgl. Grothe: Konstitutionalismus, S. 249; zu England vgl. bspw. Zippelius: Staatslehre, S. 211. Hier erweiterten erst die Wahlrechtsreformen ab 1832 den Berechtigtenkreis schrittweise. 189 Vgl. Posada-Carbó: Alternancia, S. 164f. 190 Vgl. die Bases para las elecciones del nuevo congreso in: Disposición Nr. 340 (17.06.1823) / Art. 15-17 u. 28, in: LM, Zitat Art. 28. 191 In den USA bewegte sich die Quote mit 60 (Connecticut) bis 100 Prozent (New York) der erwachsenen weißen Männer zumeist wohl eher unter derjenigen von Michoacán mit seiner ethnisch indifferenten Wahlberechtigung; vgl. zu den USA: Heideking: Verfassung, S. 489; zu Baden: Hörner: Wahlen, S. 115-131; zu Mexiko-Stadt: Annino: Cádiz, S. 206f., der davon ausging, dass ca. 19.000 der 130.000 Bewohner berechtigt waren.
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gress stellte González bei der Diskussion des Wahlgesetzes vielmehr fest, dass man gegenüber der Verfassung keine weiteren Ausschlussgründe festlegen dürfe.192 Als 1830 ein Antrag gestellt wurde, als Zensus ein jährliches Mindesteinkommen von 150 Pesos einzuführen, scheiterte dieser ohne größere Diskussion. Dem Antrag war als Begründung beigegeben worden, dass dies „notwendig sei, damit man einschätze, dass ein Michoacano eine bekannte Lebensweise habe“. Eine kurze Widerrede von Juan Gómez de la Puente in der Sitzung vom 13. August 1830 genügte zur Ablehnung dieses Antrags: Dort rief er ins Gedächtnis, dass man so „den größten Teil der Michoacanos des Staatsbürgerrechtes berauben würde“, obwohl „sie sehr ehrenhaft“193 seien. Er wies darauf hin, dass viele Einwohner nicht mehr als 70 Pesos jährlich verdienen würden. Die bekannte Lebensweise ist demnach keine sozio-ökonomische Kategorie, sondern in erster Linie eine sozio-kulturelle: Das Einkommen galt hier lediglich als Indikator für eine bestimmte Lebensweise, aber nicht als notwendiges oder hinreichendes Kriterium. In der gleichen Sitzung stimmte die Mehrheit auch gegen einen Artikel, der Personen vom aktiven Wahlrecht ausschließen wollte, welche „einer geheimen Gesellschaft angehören“, da die Zuordnung „die Tür zu vielen Willkürlichkeiten und Racheakte öffnen ... und eventuell Zwietracht von großem Ausmaß zwischen den Vecinos der Pueblos säen würde“194. Eine Veränderung des Wahlberechtigtenkreises folgte 1831 lediglich aus dem Umstand, dass für Verheiratete das Mindestalter von vorher 18 Jahren aus dem Gesetz herausgenommen wurde, während man es für Ledige von 21 auf 25 Jahre anhob.195 Die Begründung lieferten die Abgeordneten bei einem analogen, fast zeitgleich diskutierten Antrag an den Generalkongress. Dort heißt es, dass die „Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren in ihrer Mehrheit sehr unberechenbar seien, da sie sich nur der Lektüre von frevelhaften Büchern widmen und man von ihnen keine gute Sache erwarten könne; eventuell würden sie danach zu sich selbst kommen“. Erst Erwachsene waren demnach zurechnungsfähige Menschen, erst sie verfügten über ein „reifes Urteilsvermögen“196. Ein Abgehen vom Prinzip der Allgemeinheit schien wie beim Vertretungsanspruch somit auf der Ebene des aktiven Wahlrechts nur für die wenigsten denkbar: Alle Staatsbürger verwirklichten den allgemeinen Vertretungsanspruch aller Personen. Einen Vertretungsanspruch genossen alle Seelen, politisch verwirklicht wurde dieser dann durch die zurechnungsfähigen und verantwortungs192 193 194 195
Vgl. Sitzung vom 14.03.1827 (c. 3, e. 6). Außerordentliche Sitzung Nr. 7 vom 13.08.1830 (c. 11, e. 3). Außerordentliche Sitzung Nr. 7 vom 13.08.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. bspw. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 7, in: RdL, I, S. 82; Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 2/3, in: RdL, IV, S. 88. 196 Sitzung Nr. 46 vom 28.09.1830 (c. 11, e. 3).
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bewussten erwachsenen Männer. Das Prinzip der Allgemeinheit war durch diese Einschränkung im Denken der Abgeordneten nicht in Frage gestellt.
c.
Das passive Wahlrecht
Durch das indirekte Wahlsystem existierten drei unterschiedliche Kategorien des passiven Wahlrechts: die von den Primärwählern in den primären Wahlversammlungen (Juntas primarias) gewählten Electores primarios, die von den Electores primarios in den Juntas secundarias gewählten Electores secundarios und schließlich die Abgeordneten, die in der Junta del estado von den Electores secundarios gewählt wurden. Auf das genaue Verfahren wird in Teil D III ausführlich einzugehen sein. Für das in der Verfassung geregelte passive Wahlrecht für diese drei Ämter konnte schon herausgearbeitet werden, dass die Verfassungsväter auch hier dem Allgemeinheitsanspruch folgten: Ab einem bestimmten Alter war jeder Mann, der eine gewisse „konsolidierte“ Bindung zu seinem jeweiligen Wahlbezirk aufweisen konnte, berechtigt, seine Mitbewohner sei es als Wahlmann oder als Abgeordneter zu vertreten. Ausgenommen vom Amt des Wahlmanns waren lediglich Personen, die vor Ort rechtsprechende oder seelsorgerische Funktionen ausübten. Wie im Teil D III noch zu zeigen sein wird, ging es hier darum, den freien Wählerwillen nicht durch eine vermeintlich einflussreiche externe Autorität zu verfälschen.197 Die Bindung zum Wahlbezirk sollte wie beim aktiven Wahlrecht in erster Linie durch die Vecindad im jeweiligen Wahlbezirk nachgewiesen werden, im Falle der Electores primarios ohne Zeitangabe, für die beiden anderen mit einer Mindestdauer von fünf Jahren. 198 In drei vorliegenden Fällen führte das Nichtvorhandensein dieses Kriteriums zum Ausschluss vom Amt: 1825 vermerkte José Salgado gegenüber der zuständigen Wahlversammlung, dass ihn „das empfehlenswerte Volk dieser Hauptstadt“, also Valladolids, mittels „eines Aktes des höchsten Vertrauens“ zum Elector primario bestimmt hatte. Dass er aber diese Wahl, die ihn „ehrte“ 199 , nicht annehmen könne, da er zwar in 197 Nicht als Elector primario gewählt werden durften demnach Personen, die „im gleichen [Wahl-]Bezirk verwaltungsrechtliche, zivile, kirchliche oder militärische Rechtsprechung oder Seelsorge [cura de almas] ausüben“ [Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 27, in: RdL, I, S. 84]. Für das Amt des Elector secundario ausgenommen war der gleiche Personenkreis, allerdings nur der des Wahlortes, nämlich des „Hauptortes des Partido“ [Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 44, in: RdL, I, S. 86]. 198 Vgl. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 27, 44 bzw. 59, in: RdL, I, S. 84, 86 bzw. 88; wobei die Artikel 44 und 59 lediglich die Auflagen der Verfassung für den Elector secundario und für das Abgeordnetenamt wiederholten. 199 Por el oficio de Ud. de 3. del corriente [05.05.1825], in: AHAM, c. 37, e. 36, f. 58.
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Valladolid wohne, aber nicht die Vecindad besitze. Die diese Eingabe begutachtende Kommission bestätigte das für Salgado – wie auch für Manuel González –, da beide als Abgeordnete in der Hauptstadt lediglich ihren Wohnsitz besäßen, nicht aber den für die Vecindad notwendigen „Willen zu verbleiben [animo de permanecer]“. Für vier weitere Wahlmänner, die sich ebenso dieses Fehlens bezichtigten, war die Kommission „überzeugt, dass sie den Umstand der Vecindad haben, da sie alle angestellt sind ... [und] mit Animo de permanecer in der Gemeinde residieren“200. Der dritte Fall verlief entgegengesetzt: Francisco Navarrete ersuchte 1828 beim Kongress um die Aufhebung des Ausschlusses von der staatlichen Wahlversammlung, für die er in Zitácuaro gewählt worden war. Diese hatte das Fehlen der fünfjährigen Vecindad beanstandet. Der Redner der Regierung begründete diese Eingabe damit, dass Navarrete als ehemaliges Mitglied der Milizen diese Anforderung nicht erfüllen müsse. Francisco Camarillo widersprach dem und alle Abgeordneten folgten ihm in dieser Auffassung mittels eines negativen Votums: Wegen seiner fehlenden Vecindad konnte er nicht gewählt werden201 Die Diskussion über eine vom Vorgängerkongress vorgeschlagene, 1832 geplante Verfassungsänderung, die statt der fünfjährigen eine zweijährige Vecindad verbindlich machen wollte, unterstützt die These, dass als wählbar nur derjenige galt, der über das Vertrauen seiner Mitbürger und über Kenntnisse des Wahlbezirks verfügt, der also mit seinem Wahlbezirk enge Verbindungen aufweist. So argumentierte Pablo Peguero für die Beibehaltung der alten konstitutionellen Regelung: Es sei für die Wähler von „großer Wichtigkeit, dass sie die notwendigen Kenntnisse von den Personen haben, die das öffentliche Vertrauen genießen“. Der amtierende Präsident Juan Gómez de la Puente befand, dass dafür zwei Jahre reichen, da die Person in dieser Zeit „Verbindungen mit den Individuen haben, die sie über die anderen informieren können“ 202 . Schließlich habe „man in der Praxis gesehen, dass die Electores nicht mit persönlichen Kenntnissen arbeiten, sondern mit Informationen, die sie erhalten“. Die Mehrheit folgte dieser Meinung und entschied sich in der nächsten Sitzung für die Reduzierung.203 Den Abgeordneten schien ähnlich wie beim aktiven Wahlrecht somit weniger das mit Ehre, Prestige et cetera verbundene traditionelle Vecindad200 El secretario y escrutadores, encargados de examinar [05.05.1825], in: AHAM, c. 37, e. 36, f. 62. Die verfassungsrechtlich verankerte Regelung (Art. 201), dass Abgeordnete nicht als Wahlmann fungieren durften, kam zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Tragen, da die Ver-fassung erst Mitte Juli verabschiedet wurde. 201 Außerordentliche Sitzung Nr. 43 vom 04.10.1828 (c. 9, e. 1). 202 Sitzung Nr. 41 vom 06.10.1832 (c. 17 , e. 1). 203 Vgl. Sitzung Nr. 42 vom 08.10.1832 (c. 17 , e. 1), Zitat ebd.
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Konzept entscheidend, sondern vielmehr der „Animo de permanecer“. So sollte sichergestellt werden, dass sich der gewählte Vertreter und die Personen seines Wahlbezirkes wechselseitig bekannt und vertraut waren. Eine Verfassungsänderung von 1832 unterstreicht das allmähliche Aufgehen des Vecindad- in das Wohnsitzkonzept: Danach musste der Elector primario keine Vecindad mehr vorweisen, sondern lediglich ein Jahr Residenzzeit.204 Anders als in der Kolonialzeit bis nach Cádiz sollten also nur vor Ort verankerte und bekannte Personen ihren Wahlbezirk vertreten dürfen. Und ebenfalls anders als zuvor kamen hierfür zunächst fast alle erwachsenen Männer in Frage. Wie schon angekündigt, rückten die Abgeordneten bei der passiven Wahlberechtigung dann allerdings Ende der 1820er und Anfang der 1830er Jahre vom Allgemeinheitsprinzip ab. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Parteiungen hatten Mexiko und Michoacán insbesondere in der Zeit nach 1827 geprägt. In weiten Teilen der Eliten gewann die Einschätzung die Oberhand, dass das bisherige politische System gegenüber den unteren Bevölkerungsschichten zu offen sei. So versuchten die Deputierten des dritten und vierten Kongresses, einer allgemeinen atlantischen Tendenz folgend den Kreis der vertrauenswürdigen Personen über die Einführung von Zensusauflagen auf den Sanior pars einzuschränken.205 In den Debatten in Michoacán zeigte sich bei den Befürwortern von Zensusauflagen besonders deutlich das Vertrauensmotiv. Zunächst traf diese Einschränkung die Ämter der Wahlprüfer (Escrutadores) und der Sekretäre der Juntas primarias. Ohne weitere Diskussion führte der dritte Kongress 1830 in das die Wahl des vierten Kongresses regelnde Gesetz neben der Staatsbürgerschaft, der fünfjährigen Vecindad und den Kapazitätskriterien Lesen- und Schreibenkönnen als Auflage ein jährliches Mindesteinkommen von 500 Pesos in der Hauptstadt ein, von 300 in Orten mit mehr als 2.000 Einwohnern beziehungsweise von 200 Pesos in den verbleibenden.206 Eine zunächst vorgeschlagene noch höhere Hürde von 1.500, 600 beziehungsweise 300 Pesos wurde mit dem Argument abgelehnt, dass sonst zu wenige Personen diese Ämter hätten übernehmen können.207 Erinnert sei hier an den oben zitierten Hinweis von González, dass viele Bewohner nicht mehr als 70 Pesos im Jahr verdienten. Die zwei Diskussionen im vierten Kongress über entsprechende Regelungen für Wahlen zum Generalkongress beziehungsweise zum regionalen 204 Vgl. Dekret Nr. 69 (27.12.1832) / Art. 23, in: RdL, V, S. 86; vgl. auch den Vorschlag bzw. dessen Verabschiedung: Sitzung Nr. 78 vom 11.06.1831 (c. 14, e. 2) bzw. Sitzung Nr. 41 vom 06.10.1832 (c. 17, e. 1). 205 Vgl. auch: Guerra: Modernidad, S. 368-375. zu ähnlichen Argumentationen in Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 195-197. 206 Vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 12 vom 16.08.1830 (c. 11, e. 3) bzw. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 17, in: RdL, IV, S. 91f. 207 Vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 10 vom 15.08.1830 (c. 11, e. 3).
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Kongress lieferten die Argumentationsmuster nach. Die relativ geringe Zahl der Gegner, namentlich Miguel Mendéz Lopéz beziehungsweise Manuel Alvires, hielten einen Zensus für „schädlich für die Gleichheit“ beziehungsweise „für den Geist des Systems“. „In einem freien Land dürfe die Ungleichheit der Güter kein Hindernis“ darstellen beziehungsweise „müsse das Volk im einzigen Akt, in dem es seine Souveränität ausübt, jene Freiheit haben“208. Drei Monate später, bei der Diskussion bezüglich des Regionalkongresses, brachten Raphael Gómez de la Puente und Méndez das Argument, dass mit dieser Quote „ein beachtlicher Anteil von Individuen ausgeschlossen werde, der Vertrauen verdient“209. Die Befürworter des Zensus stellten auf das „öffentliche Vertrauen“ beziehungsweise den „öffentlichen Glauben“ ab, welches „man in die Staatsbürger haben muss, die die Stimmen des Volkes entgegennehmen“. Dafür brauche man Menschen mit „Liebe zur Ordnung“, nach Mariano Rivas „Subjekte, von denen man fundierterweise annehme, dass sie mit Integrität vorgehen“, wofür „bestimmte Qualitäten erforderlich“ seien. Für Rivas stellte dies keinen Bruch mit dem Gleichheitsprinzip dar, da es „sich um die handelt, die die Stimmen entgegennehmen und nicht um die Wählenden“. Peguero führte aus, welcher Personenkreis dieses Vertrauen verdiene, nämlich die „Staatsbürger, die einen gewissen Besitz haben“. Für sie spricht demnach „die Annahme, dass sie mit Unparteilichkeit vorgehen ... , dass sie Interesse an der guten Ordnung haben; dies sei eine Garantie für die Wahlen, da“ diese Staatsbürger die Ordnung „nicht der Gefahr aussetzen, dass sie in die Hände von Menschen fallen, die fähig sind, sich einer Faktion anzuschließen“210. In der Diskussion drei Wochen später führte er, ähnlich wie Lorenzo Aurioles, weiter aus, dass „das Prinzip der Gleichheit von der Gerechtigkeit abhänge, das jedem das gibt, was ihm zusteht und da es unbestreitbar ist, dass derjenige, der eine Sache aufstellt, Interesse daran hat, sie zu konservieren, spricht die Vorstellung zu seinen Gunsten, dass er an der Gemeinschaft Interesse hat“211. Jose Joaquín Domínguez hielt diese Maßnahme gleichfalls für einen wirksamen Schutz, damit die Wahlen „nicht durch eine Faktion überrumpelt werden“. Eine Mehrheit von acht zu zwei entschied sich im Falle der Regelung für den Generalkongress schließlich für die Einführung des Zensus. 212 Die Regelung für den Kongress von Michoacán 208 Sitzung Nr. 46 vom 04.07.1832 (c. 16, s./e. 1). 209 Sitzung Nr. 49 vom 16.10.1832 (c. 18, e. 3); ähnlich auch die erste, zunächst verschobene Debatte zur einzelstaatlichen Regelung: Sitzung Nr. 42 vom 08.10.1832 (c. 17 , e. 1). 210 Sitzung Nr. 46 vom 04.07.1832 (c. 16, s./e. 1). 211 Sitzung Nr. 49 vom 16.10.1832 (c. 18 , e. 3). 212 Sitzung Nr. 46 vom 04.07.1832 (c. 16, s./e. 1); vgl. auch die Festlegung in: Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 19, in: RdL, V, S. 42.
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Wahl der Abgeordneten
erhielt zwar gleichfalls eine Mehrheit, nämlich acht zu sechs Stimmen, wurde damit aber nicht angenommen, da es sich hier um die Reform einer Verfassungsnorm handelte, die in der Abstimmung einer Zweidrittelmehrheit bedurft hätte. Die Verfassungsänderung, die eine dauernde Regelung der Wahlen zum Ziele hatte und damit die Praxis beenden wollte, dass jeder Kongress für die Wahl des nächsten ein neues Gesetz erarbeiten musste, gewährleistete in diesem Punkt keine Konstanz. Er war von Fall zu Fall durch einfaches Gesetz zu regeln.213 Festzuhalten ist hier zunächst die erstmalige Einschränkung der vertrauenswürdigen Personen anhand eines Zensus, wenn auch zunächst nur für die Ämter der Wahlprüfer. Personen mit Einkommen besaßen demnach eine natürliche „Liebe zur Ordnung“, zur Konservierung des bestehenden Systems, da sie es vermeintlich errichtet hatten. Sie standen unparteiisch für das Bien comun und galten als nicht korrumpierbar durch Faktionen, die schädliche Partikularinteressen verfolgten. Demnach konnten nur sie garantieren, dass die Wahlen rechtmäßig abliefen. Im Umkehrschluss hieß das, dass anderen, nicht vermögenden Personen Misstrauen entgegengebracht werden musste, da sie vom Erhalt der Ordnung keine oder zumindest weniger Vorteile gehabt hätten beziehungsweise da sie für den Anschluss an Faktionen anfällig gewesen wären. Gleichzeitig stimmte die Mehrheit der Abgeordneten mit einer generellen lateinamerikanischen Tendenz darin überein, dass die Einhaltung des Kriteriums Lesen-Können aus praktischen Gründen Vorrang haben müsse vor den Zensusauflagen. So hieß es im Gesetz, dass die gewählten Personen „mindestens lesen können“214 mussten, auch wenn sie kein Einkommen vorweisen konnten. Die Zensusforderung war hier also keine absolut gesetzte Norm, wofür auch deren oben angeführte Ausrichtung an der örtlichen Bevölkerungsmenge spricht.215 Für das allgemeine Wahlverständnis noch wichtiger hatte der dritte Kongress auch für das passive Wahlrecht für die Ämter der Wahlmänner und auch für das der Abgeordneten die Einführung eines Zensus vorgeschlagen. Der Vorschlag fand zwar auch hier Mehrheiten, aber jeweils keine zur Verfassungsreform notwendige Zweidrittelmehrheit. Eine mit der gerade zitierten Auseinandersetzung vergleichbare Debatte fand interessanterweise jeweils kaum statt. Die Argumentationslinien weisen jedoch in eine ähnliche Richtung. So schlugen 213 Vgl. hierzu auch den auf diese Gesetze verweisenden Artikel des verfassungsändernden Dekretes Nr. 69 (27.12.1832) / Art. 25, in: RdL, V, S. 86. 214 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 20, in: RdL, V, S. 42; ähnlich auch schon: Dekret Nr. 79 (08.03.1831) / Art. 17, in: RdL, IV, S. 92. Vgl. auch die Diskussion in Sitzung Nr. 9 vom 07.07.1832 (c. 16, s./e. 1) u. für den Überblick: Schmidt: Wahlen, S. 45. 215 Vgl. Dekret Nr. 79 (08.03.1831) / Art. 17, in: RdL, IV, S. 91f.
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die Abgeordneten im Juni 1831 folgende Mindestbesitzstände beziehungsweise -einkommen jeweils mit eindeutiger Mehrheit vor: Die Electores primarios sollten ein Grundvermögen von mindestens 150 Pesos oder ein jährliches Einkommen von 250 Pesos vorweisen, die Electores secundarios 300 beziehungsweise 500 Pesos und die Abgeordneten – hier wird der Einschnitt besonders deutlich – 4.000 Pesos Eigentum oder 600 Pesos jährliches Einkommen. Im gleichen Zuge sollte auch das Mindestalter der primären Wahlmänner und der Abgeordneten auf 25 beziehungsweise 30 Jahre angehoben werden.216 Die Abgeordneten der nächsten Legislatur, von denen einige auch schon 1831 vertreten waren und die jetzt über diese beantragte Verfassungsänderung abzustimmen hatten, diskutierten fast ebenso wenig über diesen grundsätzlichen Wandel. Die Abstimmung über die Einführung des Zensus für die Sekundärwahlmänner und auch für die Abgeordneten wurde bezeichnenderweise jeweils als „nicht schwerwiegend [no ser de gravedad]“ eingestuft und mit zehn zu fünf Stimmen angenommen. Damit verfehlten sie jedoch bei einer Abgeordnetengesamtzahl von 17 Personen die für Verfassungsänderungen notwendige Mehrheit von zwei Dritteln aller – und nicht nur der anwesenden – Abgeordneten.217 Nur die zuerst zur Abstimmung gestellte Bestimmung für die primären Wahlmänner wurde kommentiert: Danach hatte „Rivas bei der Diskussion des Artikels 8 der Preliminares bezüglich der Eigentumsauflage für die Ausübung des Staatsbürgerrechts [ge-]zweifelt; aber jetzt bei der Ausübung der Funktionen eines Wahlmannes zögert[e] er nicht mehr, da es keinen Einwand gebe“. Vielmehr hielt er die Eigentumsauflage „für absolut notwendig“. Auch Raphael Gómez de la Puente gab anfängliche Bedenken zu, die sich jedoch „in Anbetracht des nächsten Artikels“ auflösten. Danach war der Artikel „ausreichend“ diskutiert, ihm wurde mit elf zu zwei Stimmen „zugestimmt“218. Dieser „nächste Artikel“ modifizierte freilich nicht das Grundanliegen, sondern sollte lediglich eine Mindestanzahl an potentiellen Wahlmännern garantieren. Es ging also auch Gómez de la Puente nicht um das Prinzip, sondern um die Durchführbarkeit: Der Artikel legte fest, dass in Ortschaften mit mehr respektive weniger als 2.000 Seelen, in denen keine 25 respektive 16 Ciudadanos mit den geforderten Einkommensauflagen lebten, so viele weitere, die den Kriterien am nächsten kamen, zugelassen werden, bis die genannten Zahlen erreicht waren.219 In einer „zwei216 Vgl. Sitzungen Nr. 78 u. 84 vom 11. u. 20.06.1831 (c. 14, e. 2). Interessanterweise erhielt die Einführung des Zensus für Abgeordnete keine Gegenstimme, während sich gegen die Heraufsetzung des Mindestalters für Abgeordnete zwei Deputierte aussprachen; vgl. auch Dekret Nr. 69 (27.12.1832) / Art. 23 u. 26/2, in: RdL, V, S. 86. 217 Vgl. für die Wahlmänner: Sitzung Nr. 42 vom 08.10.1832 (c. 17 , e. 1) und für die Abgeordneten Sitzung Nr. 43 vom 09.10.1832 (c. 18 , e. 3). 218 Sitzung Nr. 41 vom 06.10.1832 (c. 17 , e. 1). 219 Vgl. Dekret Nr. 88 (09.04.1831) / Art. 1f., in: RdL, IV, S. 105.
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ten Debatte“ eine Woche später forderte Peguero – trotz der schon erfolgten Ablehnung des Zensus auf den höheren Junta-Ebenen – die Zustimmung für die Einführung des Zensus für die Electores primarios, „um den Wahlen irgendeine Garantie zu geben, da von den ersten [Wahlen] grundsätzlich der Erfolg der übrigen abhängt“220. In der nächsten Sitzung sprach sich Francisco Camarillo gegen die Auflage von 150 Pesos Eigentum aus, bezeichnenderweise allerdings nicht, weil er sie für zu hoch hielt: „Ein so kleines Eigentum, sagte er, bedeute nichts, da es weniger als der Wert einer Fanega 221 Maissaatgut sei, und folglich sei es unabdingbar, dass solche Menschen eine Abhängigkeit von anderen hätten; nicht das gleiche geschehe mit denjenigen, die 20 Pesos monatlich verdienen … sie sind unabhängiger“. Der amtierende Präsident, Juan Gómez de la Puente, hielt ein solches Eigentum, obwohl „von wenig Wert“, für nicht so unwichtig, da es im Regelfall ein ausreichendes Einkommen nach sich zieht. Darin unterstützte ihn Peguero: Als Eigentümer habe man meist auch „Ressourcen für die Subsistenz“ 222 , er wolle das Thema aber ausführlicher unter Hinzunahme entsprechender Lehren diskutieren.223 Der Präsident hielt das für überflüssig, da dies während einer früheren Sitzung schon mal geschehen sei. Er scheint damit auf die oben zitierten Debatten über Zensusauflagen für Wahlprüfer und Sekretäre anzuspielen. In der abschließenden Abstimmung votierten dann allerdings zehn zu vier Abgeordnete gegen die Eigentums- und neun zu fünf gegen die Einkommensauflage. 224 Vielen, die sich zuvor noch für diese Auflagen entschieden hatten, hätte sie wohl nur dann Sinn gemacht, wenn sie nicht nur auf der Ebene der Electores primarios in die Verfassung eingeführt worden wäre. So bleibt für eine Zwischenbilanz nach diesem Abschnitt zu konstatieren, dass die Abgeordneten in den ersten Gesetzen das Prinzip der Allgemeinheit – und im Rahmen des Mehrheitswahlrechts auch das der Gleichheit – beim Vertretungsanspruch und auch beim aktiven und passiven Wahlrecht betonten. Die Abgeordneten wollten als Repräsentanten des gesamten Volkes, nämlich aller „400 Tausend Seelen“, gelten. Dazu setzten sie auf eine umfassende Repräsentationspraxis und auf möglichst wenige Einschränkungen beim aktiven und passiven Wahlrecht. Damit kann die für Lateinamerika insgesamt aufgestellte These eines frühzeitig sehr umfassenden Wahlrechts für Michoacán verifiziert 220 221 222 223
Sitzung Nr. 47 vom 13.10.1832 (c. 18, e. 3). Eine Fanega ist ein altes Getreidemaß und entsprach in Mexiko in etwa 90 Litern. Sitzung Nr. 48 vom 15.10.1832 (c. 18, e. 3). Vgl. zur Differenzierung zwischen Einkommens- und Eigentumsauflagen das Kapitel über die Hombres de bien in Abschnitt E II. 224 Sitzung Nr. 48 vom 15.10.1832 (c. 18, e. 3).
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werden. Durch die Forschung ist diese „Avantgardesituation“ bislang auf unterschiedliche Weise begründet worden. Die Antworten lassen sich in Aspekte unterteilen, die das Verhältnis der Gewählten nach außen gegenüber dem Ausland beziehungsweise nach innen gegenüber der eigenen Bevölkerung betreffen.225 Die Beziehungen zum Ausland (demokratisches Prestige!) spielten diesbezüglich in den Verhandlungen in Michoacán, wie gesehen, keine Rolle, was wegen seiner gegenüber der Föderation nach geordneten Position nicht weiter verwundert. Im Binnenverhältnis gelten in der Forschung die integrative und legitimatorische Wirkung eines allgemeinen Wahlrechts als zentral.226 Dies ließ sich auch für Michoacán feststellen. Einen nicht zu unterschätzenden, impliziten Einfluss dürfte das schon weit gefasste Wahlsystem von Cádiz gehabt haben: Man meinte offensichtlich, nicht mehr hinter diesen Vorgaben zurückbleiben zu können. Integrativ wirkte das Wahlrecht sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch räumlich gegenüber den lokalen (Wahl-)Bezirken: Die mit den lokalen Partikularinteressen der Pueblos verbundenen Wahlmänner wählten in den Wahlversammlungen Repräsentanten, die das Gesamtinteresse des Volkes vertreten sollten. Diese Repräsentanten mussten ausdrücklich nicht zwangsläufig der jeweiligen Junta angehören, auch konnte nicht jeder Wahlbezirk einen eigenen Abgeordneten bestellen: Die Repräsentanten der konkreten Pueblos wählten die nicht zwangsläufig mit diesen übereinstimmenden Repräsentanten des abstrakten Pueblo. Letztere sollten eine integrative und zwischen den Partikularinteressen ausgleichende Funktion übernehmen, das Bien comun vertreten. Diesen Anspruch konnten sie erfüllen, da sie von allen Staatsbürgern gewählt und legitimiert worden waren. Ihre Wahl war – folgt man dem Denkmuster der Abgeordneten – ihr Vertrauensbeweis. Damit sind wir auch beim ersten Teil der These von der Wahl als asymmetrische Vertrauensbeziehung angelangt: Die Gewählten waren vertrauenswürdig. Der zweite Teil der These bezüglich der nicht vertrauenswürdigen Wähler wird im folgenden Abschnitt über das Wahlverfahren und die Beschreibung der Wahlpraktiken zu testen sein. Festzuhalten bleibt aber schon hier, dass die Gesetzgeber Michoacáns das „Qualitätsproblem“ (Grimm) bezüglich der Wähler nicht wie im atlantischen Liberalismus gängig über Zensusauflagen lösten.
225 Vgl. den Forschungsüberblick bei Schmidt: Wahlen, S. 43-45. 226 Vgl. hierzu neben Schmidt: Wahlen bspw. die Besprechung von Gabriella Chiaramonti: Suffragio e rappresentanza nel Perù dell’800. Parte prima. Gli itinerari della sovranità (1808-1860), Turin 2001, in: Mücke: Demokratie, S. 392f.
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III. Vertrauensbildung durch Reform des Verfahrens? Das zweite verfassungsgemäße Merkmal der Kongresswahlen war nach Artikel 19 neben dem Allgemeinheitsanspruch („vom Volk“) der indirekte Wahlmodus, die „indirekte Weise“ der Wahl der Abgeordneten. Der eben dargelegten Befolgung der klassischen Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit steht also laut Verfassung die Negation eines weiteren Wahlrechtsgrundsatzes, nämlich desjenigen der Unmittelbarkeit, gegenüber – ein im atlantischen Raum der Zeit weitverbreitetes Phänomen. 227 Der indirekte Wahlmodus wurde in Mexiko durchaus teilweise als Einschränkung des Allgemeinheitsprinzips perzipiert, wie aus folgendem Zitat aus der Verfassung von Tamaulipas hervorgeht: „Die Wahl der Abgeordneten, obwohl sie populär sein sollte [!], wird nicht direkt, sondern mittels Wahlversammlungen stattfinden“ 228 . Die Verfassung Venezuelas führte den indirekten Wahlmodus 1819 ebenso wenig ein wie das Wahlgesetz in Buenos Aires von 1821.229 Das folgende Kapitel soll unter anderem dem vermeintlichen Widerspruch zwischen den Wahlrechtsgrundsätzen nachgehen. Dies soll im Rahmen der von Peer Schmidt als Desiderat für die lateinamerikanische Wahlrechtsforschung bezeichneten „systematische[n] Untersuchung der institutionell-organisatorischen Vorgaben für den Wahlakt“230 geschehen. An solchen Vorgaben führte die Verfassung implizit die Institution der Wahlversammlungen ein. So heißt es in Artikel 201, dass „die Abgeordneten der Legislaturen in den primären, sekundären (Wahl-)Versammlungen und in der des Staates nicht Wahlmänner sein können“. In der Folge legten alle für den betrachteten Zeitraum relevanten Wahlgesetze in ihrem jeweils ersten Artikel fest, dass es für die Wahlen primäre, sekundäre und eine Wahlversammlung des Staates gibt. Diese den gesamten Wahlablauf strukturierende Dreiteilung erhielt schließlich Ende 1832 mit der Begründung expliziten Verfassungsrang, unverzichtbarer Bestandteil des „sis-
227 Zu den Wahlrechtsgrundsätzen vgl. im Überblick: Zippelius: Staatslehre, S. 210-214. Der indirekte Wahlmodus ist keine Besonderheit. Ebenso wie die Verfassungen des revolutionären Frankreichs, der USA (bei der Präsidentenwahl), der deutschen Staaten des Vormärzes und die von Cádiz führten alle mexikanischen Staaten entweder ein ZweiSchritt- oder ein Drei-Schrittverfahren ein; vgl. Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 45; Grimm: Ver-fassungsgeschichte, S. 126; Zippelius: Staatslehre, S. 213f. 228 Verfassung von Tamaulipas, Art. 51. Puebla und Zacatecas führten ähnliche Einschübe ein; vgl. Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 45. 229 Vgl. Hebrard: Ciudadanía, S. 130 bzw. Ternavasio: Régimen, S. 66. 230 Schmidt: Wahlen, S. 53.
Vertrauensbildung durch Reform des Verfahrens?
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tema representativo popular federal“231 zu sein. Da außerhalb dieser Dreiteilung zunächst also kaum „institutionell-organisatorische Vorgaben“ konstitutionell geregelt waren, unterlagen sie im Betrachtungszeitraum noch wesentlich stärker als die Festlegungen zum aktiven und passiven Wahlrecht mannigfachen Reformen. Das folgende Kapitel gliedert sich in drei Teile. Der erste Abschnitt (a) skizziert zunächst den von den Gesetzgebern des Constituyente intendierten Wahlablauf mit besonderem Fokus auf die Institution der Wahlversammlung und auf die Changierung zwischen kollektiven und individuellen Elementen. Das Wahlgesetz von 1825 war in starker Weise durch vorangegangene Gesetze aus Spanien beziehungsweise Mexiko geprägt. Der zweite Abschnitt (b) versucht dann, anhand von Beschreibungen konkrete Wahlpraktiken in Michoacán und deren Wahrnehmung durch die Abgeordneten nachzuvollziehen. Im Vordergrund steht dabei die Etikettierung der Wahlen in den Juntas primarias mit verschiedenen Arten der Korruption: Sie wichen auf unterschiedliche Weise von den gesetzlichen Idealvorstellungen ab, was sie als nicht vertrauenswürdig erscheinen ließ. Im letzten Teil (c) werden die Reformen untersucht, mit denen man den in (b) erläuterten Problemstellungen zu begegnen und Vertrauen (wieder) herzustellen versuchte. Diese beziehen sich vornehmlich auf die Juntas primarias, vor allem diese galt es durch neue Verfahren zu reformieren. Gleichzeitig lassen sich hier auch Aneignungsprozesse erkennen: Die Abgeordneten passten die zunächst durch Vorbildgesetze aus Cádiz und Mexiko-Stadt geprägten Vorstellungen und Vorgaben auf ihre selbst gemachten Erfahrungen hin an. Dabei zeigt sich der Einfluss der lokalen Praktiken: Die Ziele der Zentrale konnten häufig nicht durchgesetzt werden, vielmehr mussten die Gesetzgeber Kompromisse eingehen. Auffällig ist hier insbesondere eine Tendenz, die sich als „individualisierender Anti-Faktionismus“ beschreiben lässt: Um die Faktionen zu schwächen, verlagerten die Gesetzgeber Kompetenzen von den Wahlversammlungen weg nicht zuletzt hin zu den einzelnen Wählern.
a.
Das Verfahren nach dem Wahlgesetz von 1825
In den Beschreibungen der lokalen Wahlversammlungen (vgl. b), die den Misstrauensdiskursen gegenüber der Lokalverwaltung (vgl. Teil C II) ähneln, zeigt sich, dass die Abgeordneten in dem Drei-Schrittverfahren eine Art Filter sahen: Dem unmittelbaren Willen des aus ihrer Sicht korruptionsanfälligen und somit wenig vertrauenswürdigen Volkes wollten sie sich nicht aussetzen. Neben 231 So Mariano Rivas in: Sitzung Nr. 77 vom 10.06.1831 (c. 14, e. 2). Vgl. Dekret Nr. 69 (27.12.1832) / Art. 20, in: RdL, V, S. 86.
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diesem Hauptargument deuten sich in den Diskussionen aber auch zwei pragmatische Überlegungen an: Zum einen war es eine Frage der Wahlorganisation, zum anderen, sollten sich Wähler und Gewählte laut Gesetzgeber möglichst kennen – Stichwort Face to face-Gesellschaft. Ein weitgehend unpersönlichmedialisierter, von Parteien organisierter Programm-Wahlkampf, wie er heute meist stattfindet, stand nicht zur Debatte. Parteien begannen sich wie in anderen Regionen erst allmählich auszubilden. Nicht sie, sondern Personen standen zur Wahl. Im folgenden Kapitel rücken zunächst die Wahlversammlungen in den Blickpunkt. Zur Betrachtung der Institution „Junta electoral“ soll deren Funktionieren gemäß dem ersten Wahlgesetz von 1825232 und den allerdings spärlichen einschlägigen Diskussionen in der Constituyente nachgezeichnet werden. Dieses Gesetz folgte in vielen Aspekten der Verfassung von Cádiz und dem Wahlgesetz zum zweiten verfassunggebenden Kongress der mexikanischen Föderation von 1823.233 Zum besseren Verständnis sei das Verfahren hier zunächst in Kürze skizziert: In den auf kommunaler Ebene stattfindenden primären Wahlversammlungen, den Juntas primarias, sollte für je 500 Seelen ein primärer Wahlmann (Elector primario) bestimmt werden. Alle Electores primarios eines Bezirkes (Partido) versammelten sich daraufhin in der Bezirkshauptstadt und bildeten dort die so genannte Junta secundaria. Zur Erinnerung: Michoacán bestand zu diesem Zeitpunkt aus 22 Partidos. In den Juntas secundarias wählten sie dann die Electores secundarios. Ihre Anzahl orientierte sich an der Zahl der tatsächlich gewählten Electores primarios: Für je 20 Primärwahlmänner sollte ein sekundärer gewählt werden. Bei einem Rest von mindestens zehn kam ein weiteres Mandat hinzu. Wie schon ausgeführt, sollte aber jeder Wahlbezirk unabhängig von seiner Bevölkerungszahl, ergo von der Anzahl der Electores primarios, mindestens einen Elector secundario bestimmen können. Die Electores secundarios trafen sich abschließend in der Hauptstadt in der Junta del estado, wo sie die Abgeordneten wählten. Deren Anzahl orientierte sich, wie gesehen, an den Vorgaben des Kongresses, die sich wiederum an der Bevölkerungszahl ausrichteten.
232 Dekret Nr. 41 (28.03.1825), in: RdL, I, S. 81-90. 233 Vgl. hierzu auch entsprechende Einschätzungen von González und des Präsidenten Salgado über den Vorbildcharakter: Sitzungen vom 05. bzw. 07.08.1824, in: AyD, I, S. 195 bzw. 202. Die beiden hier genannten Wahlreglements weisen untereinander starke Ähnlichkeiten auf; interessant für den hiesigen Zusammenhang ist insbesondere, dass Cádiz einen weiteren Zwischenschritt eingefügt hatte: Die Urwähler wählten zunächst Compromisarios, die dann erst die ersten Wahlmänner bestimmten; vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 34-103. Vgl. zu Mexiko das Gesetz von 1823, das auch in anderen Staaten zunächst starken Einfluss hatte: Disposición Nr. 340 (17.06.1823), in: LM; zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 141; zu Oaxaca: Guardino: Time, S. 169.
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Zu erkennen ist auf allen drei Ebenen die Absicht, mit den Juntas einheitlichkontrollierbare Institutionen zu schaffen. Die Wahlen sollten als gemeinschaftlicher Akt in einem überschaubaren Rahmen stattfinden. Auf den beiden oberen Ebenen, den Juntas secundarias und der Junta del estado, gelang dies relativ umstandslos. Dies hing in erster Linie damit zusammen, dass hier Institutionen neu geschaffen wurden, für sie gab es im Antiguo régimen keine Vorbilder. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Kontrastierung mit der primären Wahlversammlung, bei der auf gewisse Eigentümlichkeiten Rücksicht genommen werden musste, da für sie die vormaligen Gemeindeversammlungen, die Juntas de vecinos, als Folie fungierten. Sie konnten nicht vollständig neu erfunden und gesetzlich dekretiert werden. Die Orientierung an den Juntas de vecinos kommt einerseits darin zum Ausdruck, dass die Konstituante keine eindeutigen, generellen Vorschriften zur Wahlkreiseinteilung erließ, sondern diese letztlich in die Hände der lokalen Praxis legte. Laut Gesetz sollten Juntas primarias in allen „Siedlungen“ (Art. 11) 234 mit mindestens 500 Seelen abgehalten werden. Die Siedlungen sollten also eine Größe aufweisen, um mindestens einen Wahlmann bestimmen zu können. Kleinere Orte mussten sich den nächsten Gemeinden anschließen. Mit Siedlungen waren bezeichnenderweise ausschließlich Pueblos und Städte gemeint, also nur gemeindeähnliche Ortschaften. Haciendas und Ranchos hatten hingegen kein Versammlungsrecht, sie mussten sich ausdrücklich unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl der nächst gelegenen Junta anschließen (Art. 12). „Bevölkerungsreiche“ Siedlungen konnten nach Maßgabe des Ayuntamiento in mehrere Bezirke mit je eigener Junta primaria unterteilt werden, mussten aber nicht (Art. 13). Auch große Gemeinden durften also intakt bleiben, eine Obergrenze von Wählern wurde im Gegensatz zu späteren Wahlgesetzen nicht vom Gesetzgeber definiert. Die Regelung orientierte sich also an den überkommenen Strukturen und wurde den kommunalen Entscheidungsträgern überlassen. Der Kongress versuchte keine rationale Neuaufteilung der Wahlkreise. Auch bei der weiteren Organisation galten überkommene Gemeindegrenzen als Maßstab. Die Alcaldes sollten in den Pueblos, Haciendas und Ranchos „ihres Territoriums“ die Wahlen per Aushang mit der Angabe von Zeiten und den „übrigen notwendigen Formalitäten“ (Art. 15) zwei Tage vor der Wahl bekannt geben. 235 Sie waren angewiesen, den Versammlungen ihres Bezirkes vorzusitzen; falls es mehrere Juntas in einem Ayuntamiento-Gebiet gab, sollten die Regidores den anderen Juntas vorsitzen (Art. 16). Dass Wahlen als kommunale 234 Soweit nicht anders vermerkt, weist die Zitation eines Artikels im folgenden Abschnitt auf das erste Wahlgesetz hin, also auf Dekret Nr. 41 (28.03.1825), in: RdL, I, S. 81-90. 235 Seit dem zweiten Wahlgesetz war die Frist dann auf acht Tage heraufgesetzt worden; vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 29, in: RdL, II, S. 86.
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(Verwaltungs-)Angelegenheit verstanden wurden, zeigt sich auch in der folgenden Äußerung: Wegen der Kürze der Zeit sollte die Regierung 1824 die Ayuntamientos auffordern, zusammen mit den Gemeindeautoritäten sowie mit den örtlichen „Pfarrern und den übrigen Staatsbürgern mit Bildung und Patriotismus“ 236 Maßnahmen zur Verbreitung der Wahlinformationen zu ergreifen. Auch wenn die primären Wahlversammlungen nicht mehr wie nach den Verfassungen von Cádiz und Apatzingán die Bezeichnung „Wahlversammlung des Kirchspiels [Junta electoral de parroquía]“ trugen, gewinnt man doch den Eindruck, dass sich hier die Gemeinschaft der Wahlberechtigten einer Gemeinde versammelte, um gemeinsam ihre Vertreter zu bestimmen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Antonio Annino bei der Auswertung der gaditanischen Wahlgesetzgebung, die ebenso den kommunalistischen Charakter der Juntas primarias herausstellte.237 Noch deutlicher tritt dieser gemeinschaftliche Impetus bei der Definition der Junta primaria zu Tage: Laut Wahlgesetz war sie die „Vereinigung der anwesenden Staatsbürger“ (Art. 19). Nachdem sich die „Staatsbürger“ am Wahltag zur durch den Wahlaushang angegebenen Zeit „vereinigt“ hatten – über eine Mindestanzahl wurde 1825 noch nichts ausgesagt –, wählten sie zunächst „in namentlicher Abstimmung mit absoluter Mehrheit unter den Anwesenden einen Sekretär und zwei Wahlprüfer“ (Art. 17). Auflagen existierten für diese Ämter (noch) nicht. Zusammen mit dem Präsidenten, also dem Alcalde oder einem Regidor, bildeten der Sekretär und die zwei Wahlprüfer den Wahlvorstand. Der Vorstand saß an einem Tisch, weswegen er häufig metaphorisch als Mesa tituliert wurde. Erst „durch ihren Präsidenten, Sekretär und die Wahlprüfer“ wurden die anwesenden Staatsbürger für die Wahl „autorisiert“, sie brauchten also eine Leitung, welche aber ausdrücklich „nicht allein“ (Art. 19) handeln durfte. Nur die versammelte und organisierte Gemeinde war somit handlungsfähig. Der Akt der Wahl wurde somit als ein gemeinsamer Akt des versammelten und organisierten Pueblo konzipiert. Die erste Handlung der so konstituierten Junta bestand in der Entscheidung, ob die anwesenden Personen zur Wahl zugelassen werden oder nicht, ob sie also die Staatsbürgerrechte ausüben dürfen. Die Junta primaria war die einzige Instanz, die bezüglich der Klagen über „Bestechung, Schmiergeld oder Zwang“ ihrer Mitglieder nach „öffentlicher Rechtfertigung“ zu entscheiden hatte wie auch endgültig über „Zweifel, ob bei einem der Anwesenden die geforderten
236 Sitzung vom 12.08.1824, in: AyD, I, S. 217. 237 Vgl. Annino: Cádiz, S. 195.
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Qualitäten zum Wählen zusammenkommen“. Sie übernahm insofern letztinstanzlich rechtsprechende Funktionen.238 Die Versammlung hatte laut Gesetz „mit der Mehrheit der Stimmen aller Zusammengekommenen auf der Stelle zu entscheiden und ihre Entscheidung werde ohne Rechtsmittel für dieses eine Mal ausgeführt; wissend, dass dabei unter Zweifel nicht verhandelt werden kann, was in diesem oder einem anderen Gesetz vorgesehen ist“ (Art. 20).
Jede Junta primaria war somit als Gemeinschaft souverän. Zwar besaß ausdrücklich „jedweder Staatsbürger von denen, die sich dort befinden, das Rederecht“ und „für eine abschließende Beschlussfassung“ war „die Stimme von allen einzuholen“ (Art. 19). Jeder hatte also zwar das Recht zur Mitentscheidung, ein Minderheitenschutz hingegen existierte nicht. Es existierten keine übergeordneten Instanzen, den einzelnen Personen standen keine Widerspruchsmöglichkeiten zur Wahrung der eigenen Interessen gegenüber der Mehrheit offen. Die Interessen der Individuen traten hinter die der Gemeinde zurück. Dies drückt sich nach Annino auch darin aus, dass die Gemeinden nicht schon vor den Wahlen verpflichtet wurden, Wahlregister zu erstellen, über die dann individuell verhandelt werden konnte. Er sieht darin eine Betonung des kommunalistischen Charakters.239 Nach einem noch zu beschreibenden Wahlmodus bestimmten die Wahlberechtigten dann die Electores primarios. Ihre Wahl verkündete der Präsident mit „lauter Stimme“ (Art. 25). Abschließend erstellte der Wahlvorstand das Protokoll und für die Gewählten entsprechende Bescheinigungen (Art. 26). „Nach Abschluss der Ernennung der Wahlmänner bleibt die Junta aufgelöst, und jedweder andere Akt, in den sie sich einmischt, ist nichtig“ (Art. 30). Die primären Wahlversammlungen waren allerdings nicht nur als personelle Einheiten des versammelten Volkes konzipiert, sondern auch als zeitlich und räumlich abgeschlossene Veranstaltungen. Laut Gesetz sollten die örtlichen Autoritäten sowohl den Beginn als auch den Schluss festlegen. Der Gesetzgeber intendierte, wie vor allem spätere Diskussionen zeigen werden, das Zusammenbleiben der Junta an einem Ort über den gesamten Zeitraum des Wählens hinweg. Diese drei eng miteinander verbundenen Elemente, das personelle, das räumliche und das zeitliche, kommen besonders deutlich in der Vorschrift eines zweimaligen, betontermaßen gemeinsamen Kirchgangs zum Ausdruck: Vor Beginn jeder Wahlversammlung sollten nach Artikel 2 „öffentliche Bittgebete [rogaciones] und eine Messe des Heiligen Geistes“ stattfinden, hier sollten die 238 Theoretisch war es also möglich, dass eine Person zwar bei der Konstituierung der Junta mitwirkte, von der eigentlichen Wahl dann jedoch ausgeschlossen war. 239 Vgl. Annino: Pueblos, S. 402; Annino: Cádiz, S. 195.
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Wahl der Abgeordneten
„vereinigten Staatsbürger“ gemeinsam die Unterstützung Gottes für den Wahlakt erbitten. Dazu versammelten sie sich „in der Kathedrale und in den Gemeindekirchen“. Erst danach sollten sie gemeinsam zum Ort der Wahl gehen, wo sich dann, wie gesehen, die Junta konstituierte. Ihren Abschluss fanden die Versammlungen dann ebenfalls durch einen gemeinsamen Kichgang, der wiederum mit einem Ortswechsel verbunden war: „Der Präsident, die Wähler und die Gewählten schreiten zur Kathedrale oder zur Gemeindekirche, wo sie dem Allmächtigen zum Dank feierlich das Te Deum singen“ (Art. 6). Der Beistand Gottes war wie in anderen atlantischen Regionen auch den Abgeordneten für die Wahlen von großer Bedeutung: Die Bitte nach ihm und der Dank für ihn sollten die Wahlversammlungen einleiten und beschließen. Pastor Morales verwies in der Constituyente darauf, dass eine Messe bei jeder Wahl erforderlich sei, um „die göttliche Bildung [divinas luces] für den Erfolg der Wahl zu erflehen“240. Offenbar stand aber nicht allein die Religiosität der beiden Kirchgänge im Vordergrund. Ausdrücklich sollten beide „feierlich“ aus dem Alltag abgehoben, von ihm abgegrenzt sein. Pedro Villaseñor und Isidro Huarte forderten für die eröffnende Messe, sie solle „feierlich“ sein und sich dadurch von den „unglücklichen“241 Umständen in den Pueblos unterscheiden. So entschied sich der Kongress, anders als im Wahlgesetz von 1823, aber in Übereinstimmung mit Cádiz, für einen entsprechenden Einschub in den oben zitierten Artikel 2: Die Messe werde „an den Orten, wo es geht [Hervorhebung S.D.], feierlich sein“242. Durch die Kirchgänge sollte den Wahlen ein religiöser, außeralltäglicher und gemeinschaftsverbindender Charakter verliehen werden, der den Gang zu den Wahlen sowohl als etwas Besonderes, aber auch als fast-religiöse, gemeinschaftliche Pflicht auszeichnete. Auch sollten alle Wahlen an Sonntagen stattfinden. Die Entscheidung für Sonntage stand nicht zur Debatte, hier übernahm man ohne Debatte das französisch-gaditanische Modell. Für den Sonntag als Wahltag spricht allgemein, dass er in der Regel arbeitsfrei ist, somit keine Einkommensverluste auftreten. Gegen den Sonntag spricht, dass er ein christlicher Ruhetag ist.243 Für Michoacán gewinnt man den Eindruck, dass hier sowohl der religiöse als auch der außeralltägliche Charakter des Sonntages nutzbar gemacht werden sollte.
240 Sitzung vom 02.10.1824, in: AyD, I, S. 304. Auch im protestantischen Berlin kamen Forderungen zur Abschaffung der Gottesdienste erst ab 1848 auf; vgl. Pahlmann: Anfänge, S. 79 u. 125. 241 Sitzung vom 28.03.1825, in: AyD, II, S. 210. 242 Vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 47; Disposición Nr. 340 (17.06.1823) / Art. 13, in: LM. 243 Vgl. bspw. eine entsprechende Debatte in Berlin: Pahlmann: Anfänge, S. 126.
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Die oben angesprochene personelle Unbestimmtheit und Nicht-Kalkulierbarkeit der Juntas primarias weist auf ein Grundproblem für die Abgeordneten der nächsten Kongresse hin, auf das ausführlich in den Teilen (b) und (c) einzugehen sein wird. Das fast als Bedrohungspotential wahrgenommene Problem äußert sich besonders deutlich in dem zitierten Artikel, der die Auflösung der Junta unmittelbar nach der Wahl verpflichtend vorschreibt: Nach der Wahl sollte „jedweder andere Akt, in den sie sich einmischt, nichtig sein“. Die Gemeindeversammlung sollte also nach dem „einzigen Akt, in dem das Volk seine Souveränität ausübt“, nicht mehr handlungsfähig sein. Ob damit generell das in der Verfassung ja nicht verbürgte Versammlungsrecht in Frage gestellt wurde, lässt sich lediglich vermuten, würde aber gut in das Denkmuster passen. Jedenfalls verdeutlicht sich hier der anti-kommunalistische Impetus der Gesetzgeber. Somit verfestigt sich der Eindruck, dass die Pueblos durch den Akt der Wahl ihre Souveränität auf die gewählten Vertreter übertrugen. Dieses wichtige Verständnis wird in der Schlussbetrachtung zu den Wahlen aufzugreifen sein. Noch deutlicher tritt die eben genannte Unkalkulierbarkeit in der Kontrastierung mit den beiden oberen Juntas zu Tage. Sie konnten als neu einzurichtende Institutionen ohne tradierte Eigenmächtigkeit viel eher als das Ideal der Gesetzgeber entworfen werden, sie stellten insofern kein Bedrohungspotential für den Kongress dar. Auch sie wurden als Versammlungen konstituiert, auch für sie galten die Vorgaben bezüglich der anfänglichen und abschließenden Kirchgänge. Aber für sie musste das Gesetz nicht vorsehen, ab wann sie handlungsfähig sind, für die Junta del estado findet sich nicht einmal ein Verweis auf die Auflösung der Versammlung. Sie waren personell, räumlich und zeitlich sehr viel stärker definierbar, was sich insbesondere im jeweils eindeutig definierten Wählerkreis äußerte: Ihre Mitglieder waren bereits gewählt und damit eindeutig bestimmt. Das Prozedere unterstreicht die Kalkulierbarkeit für die jeweilige Junta: Sowohl die primären als auch die sekundären Wahlmänner erhielten durch die sie wählende Versammlung schriftliche Wahlbescheinigungen, mit denen sie sich dann noch vor dem ersten Zusammentreffen dem jeweiligen Junta-Präsidenten vorstellen und im Protokollbuch registrieren lassen mussten. Den 22, im jeweiligen Bezirkshauptort stattfindenden Juntas secundarias stand der ortsansässige Alcalde vor, der Junta del estado zunächst der Präfekt (wohl des nördlichen Departamento, da die Wahl in Valladolid stattfand). 244 Neben den individuellen Bescheinigungen sollten die Sekretäre der jeweils wählenden Junta dem Präsidenten der empfangenden Versammlung eine Kopie des Protokolls
244 Vgl. insgesamt zu den Juntas secundarias und zur Junta del estado: Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 31-47 bzw. 48-71, in: RdL, I, S. 85f. bzw. 87-90.
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Wahl der Abgeordneten
über die Wahl zuschicken. 245 So waren die Mitglieder auf zweifache Weise eindeutig erfasst. Die beiden Versammlungen dürften zudem meist deutlich kleiner und somit überschaubarer gewesen sein. Zur Erinnerung: In den Juntas secundarias saßen die Electores primarios eines Partido, und zwar für je 500 Seelen einer. Geht man von diesem (sicherlich idealen) Durchschnitt aus, besaß die Junta secundaria des besonders kleinen Partido Charo vier Wahlmänner, die Taretans beispielsweise 14 und die der beiden größten Bezirke Pátzcuaro und Zamora 84 beziehungsweise 90 Electores primarios. Geht man weiter davon aus, dass wie gesetzlich vorgeschrieben für 20 Electores primarios in den Juntas secundarias ein Elector secundario in die Junta del estado bestimmt wurde, und somit einer auf 10.000 Seelen, saßen dort idealerweise bei einer Gesamtbevölkerungszahl von gut 400.000 etwa 40 sekundäre Wahlmänner. Die Versammlungen der beiden oberen Ebenen dürften damit kleiner als die der Juntas primarias gewesen sein, zu denen bei einer Mindesteinwohnerzahl von 500 Seelen und einer Wahlberechtigtenquote von 20 Prozent circa hundert Wahlberechtigte veranschlagt werden mussten. Auch das gesamte Wahlprozedere der beiden oberen Juntas war stärker strukturiert. Sie wählten sich laut Gesetz bereits am dritten Tag vor der Wahl einen Sekretär, zwei Wahlprüfer und im Falle der staatlichen Versammlung auch einen neuen Präsidenten, der dann den Präfekten ersetzte. In der gleichen Sitzung erfolgte die Vorlage der Wahlbescheinigungen, die dann durch den Sekretär und die Wahlprüfer zu kontrollieren waren. In der zweiten Vorbereitungssitzung legten jene die Ergebnisse der Überprüfung vor. Die gesamte Versammlung hatte dann, wieder ohne Einspruchmöglichkeit, über die Zulässigkeit der Wahlmänner abzustimmen. So war im Gegensatz zur Junta primaria durch ein abgesichertes Verfahren schon vor dem Wahltag eindeutig geklärt, wer wählen durfte und wer zur Wahl kam. Am „angezeigten Tag zur angezeigten Stunde“ trafen sich die Wahlmänner dann nach der gemeinsamen Messe zum eigentlichen Wahlakt. Eine solche zeitliche Festlegung fehlt für die Juntas primarias ebenso wie die örtliche. Auch bezüglich der Räumlichkeiten weist das Gesetz bei den oberen Versammlungen auf eine stärkere Strukturierung und Abgeschlossenheit hin: Die Wahlmänner hatten ihre „Sitze ohne Rangfolge“ (Art. 40 bzw. 54) einzunehmen – es sollten also Sitze vorhanden sein. Die staatliche Versammlung war gar in einem geschlossenen Raum bei „geöffneter Tür“ (Art. 54) abzuhalten. Beiden Versammlungen sollten die entsprechenden Teile des Wahlgesetzes vor der Wahl vorgelesen werden. Während abschließend die Ergebnisse der Junta primaria durch ihren Präsidenten ja mit „lauter Stimme“ zu publizieren waren, reichte im ruhigeren Umfeld der anderen Versammlungen eine einfache Verkündung. 245 Vgl. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 26, 46 bzw. 66, in: RdL, I, S. 84, 86 bzw. 89.
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Innerhalb dieses kollektiven Junta-Rahmens sollte der eigentliche Wahlakt dann jedoch weitgehend individuell verlaufen. Und damit ist die Betrachtung nach der Kontrastierung zwischen den unterschiedlichen Junta-Ebenen beim zweiten meines Erachtens für die Abgeordneten zentralen Diskussionspunkt der Wahlen angelangt, der Changierung zwischen dem kollektiven und individuellen Charakter. Denn für den eigentlichen Wahlakt, die Stimmabgabe, löste sich die Vorstellung der Gesetzgeber nicht nur von der Transzendenz des Aktes, sondern auch vom gemeinschaftlichen Charakter: Für die Wahl selbst sollte innerhalb des kollektiven Rahmens das individuelle Ermessen den Ausschlag geben, die Freiheit des Einzelnen sollte also nicht durch andere beschränkt werden. Wie bei der in Kapitel B IV herausgearbeiteten Legitimation der Verfassung fungierte Gott als „oberster Autor der Gesellschaft“. Allerdings blieb diese Urheberschaft – auch wie bei der Verfassungslegitimation – auf einer abstrakten Ebene, im Hintergrund: Den konkreten Wahlakt vollzogen die anwesenden Menschen, sie entschieden über ihre Vertreter und nicht wie vormals gängig das Los. So sollte nach dem Willen der Gesetzgeber „jeder Staatsbürger“ (Art. 22) einzeln an den Wahltisch herantreten und entweder die Namen der „Personen, die er wählen möchte“ (Art. 23) in schriftlicher Form vorlegen oder – falls des Schreibens nicht kundig – dem Sekretär seine Wahl mündlich vortragen. Die Offenheit der Wahl gegenüber dem Wahlvorstand folgte in erster Linie pragmatischen Gründen. Die potentielle Einflussnahme war kein grundsätzliches Ansinnen, denn auf den beiden oberen Junta-Ebenen, für deren Mitglieder man eine allgemeine Schreibfähigkeit voraussetzte, fand die Stimmabgabe in geheimer Wahl per Stimmzettel und Wahlurne statt. 246 Auch war es dem jeweiligen Junta-Vorsitz explizit verboten, „Hinweise zu geben, damit die Wahl auf bestimmte Personen fällt“ (Art. 4). Die gegenseitige Kontrolle des Wahlvorstandes untereinander sollte die Beeinflussungsmöglichkeiten weiter einschränken – bei der unten behandelten Bekämpfung von Faktionen, die den Wahlvorstand einseitig zu besetzen versuchten, wird das noch deutlicher. Die Offenheit der Wahl gegenüber dem Wahlvorstand stand demnach zumindest dem Willen der Gesetzgeber folgend der Wahlfreiheit nicht entgegen. Die Wahl sollte bereits vorher getroffen worden sein. Auch sollte es in diesem Sinne keine Wahlkämpfe und vorab aufgestellte Kandidatenlisten geben, die eine Einschränkung oder Fokussierung auf bestimmte Personen bedeutet hätten (vgl. hierzu auch die Abschnitte (b) und (c)): Der Wähler sollte in seiner Entscheidung über die als vertrauenswürdig eingeschätzten Kandidaten durch das Institut der reinen Persönlichkeitswahl 246 Vgl. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 41 bzw. 55, in: RdL, I, S. 86 bzw. 87f. u. die zitierten Wahlprotokolle.
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frei sein und frei bleiben. Bei der Kandidatenauswahl war er auch nicht auf die bei der jeweiligen Junta Anwesenden beschränkt, alle berechtigten Staatsbürger des jeweiligen Wahlbezirks waren wählbar. In diesem Sinne ist wohl auch der Ausschluss von Recht sprechenden und seelsorgerisch tätigen Personen vom passiven Wahlrecht für die Ämter als Wahlmänner in den Juntas primarias und secundarias zu verstehen: Dieser Ausschluss bezieht sich ausdrücklich nur auf Personen, die ihr Amt direkt vor Ort ausübten, dort galten sie als gesellschaftliche Autoritäten, die die Wähler in ihrer Auswahl einschränken hätten können. Ähnlich verhält es sich mit dem zitierten Verbot, dass aktuelle Abgeordnete auf keiner Ebene Wahlmänner werden durften. Zur Verhinderung externer Einflussnahme war außerdem das Tragen von Waffen in den Versammlungen ebenso verboten wie die Anwesenheit einer Wache (Art. 3). Jeder Einzelne sollte ohne Zwang von außen, also frei, seine Stimme abgeben können. Dieser Logik folgend wurde zudem Wert darauf gelegt, dass der Wähler seine Kandidaten persönlich kennt – unpersönliche Listen waren nicht erwünscht. Zur Absicherung und Transparenz der Wahl hatte der Sekretär der Junta primaria nach der Entgegennahme der Stimmen dem Wähler seine Liste nochmals vorzulesen beziehungsweise – bei mündlicher Wahl – die Namen ausdrücklich in Gegenwart des Wählers niederzuschreiben. Die Umsetzung des individuellen Willens wird zudem durch die Vorkehrung geschützt, dass nur derjenige wählen darf, der es „en persona macht“ (Art. 24). Eine kollektive Stimmabgabe wurde nicht akzeptiert. Mit dieser Vorkehrung wandte sich der Gesetzgeber gegen eine vermeintlich verbreitete kommunalistische Praxis, wie sie gleich ausführlicher zu erläutern sein wird. 247 Auch eine weitere Facette deutet somit auf eine vom Gesetzgeber gewollte Individualität hin: In den Juntas primarias konnte jeder Wähler über die Anzahl an Stimmen verfügen, wie dem Wahlbezirk Electores primarios zustanden, seine Stimmen gab er gesammelt ab. Die Personen mit den meisten Stimmen waren dann gewählt. Dieser Wahlmodus erzeugte eine hohe Kompetitivität. Auch für die beiden oberen Junta-Ebenen wurde der kompetitive Charakter betont, indem im Unterschied zu den Juntas primarias, absolute, nicht relative Mehrheiten verlangt wurden. Gegebenenfalls war ein zweiter Wahlgang fällig. Für jeden einzelnen Posten fand eine eigene Abstimmung statt, in der jeder Wähler jeweils über eine Stimme verfügen konnte (Ballotage-Verfahren). Beide Verfahren, also auch das der Juntas primarias, liefen mit ihrer Betonung der Kompetivität zwischen den Kandidaten de facto auf Entscheidungen nach dem Mehrheitswahlrecht hinaus: Die als am besten eingeschätzten Vertreter sollten die gesamte Gesellschaft repräsentieren oder in den Worten von Reinhold 247 Vgl. auch die entsprechende Diskussion in: Außerordentliche Sitzung vom 07.08.1824, in: AyD, I, S. 201.
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Zippelius: „Die Mehrheitswahl konnte unangefochten als geeignetes System zur Bestellung einer Volksvertretung erscheinen, solange man wenigstens idealtypisch in der Wahl die Bestellung eines durch seine persönliche Qualifikation ausgewiesenen und vom Vertrauen des Volkes getragenen Repräsentanten sah“248. Der dem Verhältniswahlrecht, der Alternative zum Mehrheitswahlrecht, eigene Versuch, die unterschiedlichen politischen Anschauungen des Volkes oder die unterschiedlichen Regionen möglichst spiegelbildlich in der gewählten Körperschaft abzubilden, fand also nicht statt. Die Orientierung am Mehrheitswahlrecht entspricht, wie gesehen, dem republikanischen Anspruch der Verfassungsväter: Die Abgeordneten galten als Vertreter des Gemeinwohls, nicht wie später im liberalen Parteienstaat als Vertreter von Partikularinteressen. Auch wenn ein Wahlzwang nicht grundsätzlich gegen das Freiheitsgebot bei Wahlen spricht – zumindest solange man einen leeren Stimmzettel abgeben kann –, legten die Gesetzgeber Michoacáns einen solchen für das aktive Wahlrecht nicht fest.249 Wie in der Verfassung gesehen, existierte ein solcher Zwang lediglich in Form einer Antrittspflicht für Wahlämter als staatsbürgerliche Pflicht.250 In einer ersten Diskussion zum Wahlgesetz am 5. August 1824 legte der Gesetzgeber zwar noch Strafen für diejenigen fest, „die nicht zum Wählen erscheinen, ohne dass sie legitimerweise verhindert“251 wären. Auch wenn selbst das kein unübliches Verfahren zur Erhöhung der Wahlbeteiligung gewesen wäre, 252 wurde der Verankerung dieses Zwanges in einer der folgenden Sitzungen nach einer prinzipiellen Stellungnahme der Regierung nicht zugestimmt: Diese hatte festgestellt, dass „ein solcher Zwang nicht nur unserem System und all seinen Prinzipien widerspricht, sondern [auch] der Idee, die man von diesem Recht hat; [nämlich] dass es als eine Gunst, eine Ehre, als ein Vorrecht gilt. [Und als solches] verträgt es sich schlecht mit dem Zwang und würde deswegen degenerieren ... wodurch sich das, was als Gunst gilt, in etwas Hässliches verwandelt. ... In seiner Vorstellung liegt das ganze Übel am Fehlen eines öffentlichen Geistes [espíritu público]“253.
Ein rechtlicher Wahlzwang wurde seitdem nicht mehr debattiert. Vielmehr implizierte die Betonung des ehrenvollen Charakters des Staatsbürgerrechtes 248 249 250 251
Zippelius: Staatslehre, S. 215. Vgl. Zippelius: Staatslehre, S. 212f. Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 11/1. Sitzung vom 05.08.1824, in: AyD, I, S. 196. Die Strafhöhe wurde nach einer längeren Debatte auf vier Reales festgelegt; vgl. Sitzungen vom 05. bzw. 07.08.1824, in: AyD, I, S. 196 bzw. 198 u. 202. 252 Vgl. bspw. Pahlmann: Anfänge, S. 122. 253 Außerordentliche Sitzung vom 11.08.1824, in: AyD, I, S. 211f.
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Wahl der Abgeordneten
„Wahl“ und dessen Verknüpfung mit dem wünschenswerten Espíritu público, dass die Abgeordneten wie andernorts auch von einer moralisch-sozialen Verpflichtung ausgingen.254 Das Recht auf Partizipation war also moralisch eng mit der entsprechenden Verpflichtung verknüpft und folgte damit einem ähnlichen Muster, wie es in Kapitel B V schon bei der Staatsangehörigkeit zu erkennen war. Die Staatsbürger sollten Verantwortung übernehmen wollen, es wurde ihnen aber nicht rechtlich vorgeschrieben.255 Somit lässt sich zunächst festhalten, dass die Institution Wahlversammlung dem Wahlakt einen kollektiven Rahmen geben sollte. Diese Institution fand in jedes Wahlgesetz und schließlich in ein verfassungsänderndes Gesetz als strukturierendes Element Eingang. Sie galt als Grundbaustein des „sistema representativo popular federal“: Innerhalb des repräsentativen Systems verband sie die populäre Wahl durch das Pueblo mit föderalen Elementen in Form der Gemeindeversammlungen, der Pueblos: Die Pueblos wählten in den Wahlversammlungen die Repräsentanten des Pueblo. Für die Wahlen insbesondere auf der Ebene der Gemeinden, aber auch auf den beiden oberen Stufen lassen sich mit ihrem jeweiligen Junta-Charakter und den gemeinsamen feierlichen Kirchgängen stark gemeinschaftliche und glaubensverhaftet-transzendente Züge nachweisen. Allerdings konnte die Zentrale im zweiten Fall neue Institutionen definieren. Sie konnte diese eindeutiger als personell, räumlich und zeitlich kalkulierbare und einheitliche Veranstaltungen konzipieren. Währenddessen wurde diese Einheitlichkeit für die Juntas primarias zwar auch intendiert: Neben den obigen Ausführungen wird das bei den in Abschnitt (b) skizzierten Diskussionen besonders deutlich. Deren Einheitlichkeit konnte jedoch wegen deren Charakter als kommunal verankerte Gemeindeversammlungen, wegen ihrer „Eigenmächtigkeit“ – um einen Begriff bezüglich der Ayuntamientos aus dem Kapitel C II aufzunehmen – nicht so stringent umgesetzt werden. Besonders deutlich wird der Unterschied bei der (Un-)Bestimmbarkeit ihres jeweiligen Teilnehmerkreises, aber auch bei der zeitlichen und räumlichen Unstrukturiertheit. Für die Juntas primarias musste festgelegt werden, dass „jedweder andere Akt“, also jedweder Akt außerhalb des Wählens, „in den sie sich einmischt, nichtig“ ist.
254 Pahlmann spricht für Berlin nach der Abschaffung von Strafzahlungen 1834 von häufigen Appellen an die Ehre. Manfred Hörner weist auf die disziplinierende Wirkung der Nachbarn hin, in Baden war entsprechend die Wahlbeteiligung in kleinen Ortschaften besonders hoch. Zudem hält er fest, dass „die Auffassung vom Wahlrecht als Untertanenpflicht … nur allmählich“ schwand; vgl. Hörner: Wahlen, S. 167-184, Zitat S. 471; Pahlmann: Anfänge, S. 126f. u. 135-146. 255 Vgl. hierzu die weiter gehenden Ausführungen in Kapitel E I.
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Innerhalb dieses kollektiven Rahmens und unter der Voraussetzung, dass die Wahlversammlung einen zur Wahl zugelassen hatte, sollte aber weiterhin, folgt man den Gesetzgebern, die individuelle Wahlfreiheit geschützt werden. So genannte traditionell-kollektive Werte verbanden sich mit liberalen, das gemeinschaftliche Handeln und die Erleuchtung durch Gott mit dem individuellen Wahlakt. Nach dem ersten Wahlgesetz handelt es sich also nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Nebeneinander kollektiver und individueller Vorstellungen, wobei bei der konkreten Stimmabgabe das individuelle Element überwog. Dieses Verhältnis wird im Folgenden weiter zu untersuchen sein. Die Unkalkulierbarkeit der Juntas primarias lassen als erste Hypothese bezüglich der Ursachen für die Installation indirekter Wahlen annehmen, dass die Abgeordneten Michoacáns die jeweilige Legislative vor dieser Unkalkulier- und Nichtdefinierbarkeit schützen wollten. Die in Michoacán getroffene Entscheidung gegen die direkte Wahl ist in den folgenden Abschnitten weiterzuverfolgen.
b. Wahlpraktiken und deren Perzeption durch die Gesetzgeber Das eben dargestellte Wahlsystem von 1825 beruhte weitgehend auf Anleihen aus externen Gesetzen, nämlich auf dem entsprechenden Cádiz-Gesetz beziehungsweise dem gesamt-mexikanischen Wahlgesetz von 1823. Folgt man den spärlichen Diskussionen und nimmt man die Skepsis gegenüber den kommunalen Wahlversammlungen heraus, waren eigene Erfahrungen kaum in das Reglement eingeflossen. Dies änderte sich bei der Erarbeitung der nachfolgenden Gesetze grundsätzlich, die selbstgemachten Erfahrungen spielten für die Reformen die ausschlaggebende Rolle. Vergleicht man das erste Wahlgesetz mit seinen Nachfolgern bis 1832 fallen insbesondere zwei Unterschiede auf: erstens, eine starke Ausdehnung des Kapitels über die Juntas primarias, die eine zunehmend präzisere Strukturierung erfuhren und zwar vor allem bei der Wahlorganisation und bei der Erfassung der Primärwähler durch Wahlscheine; und zweitens, die Einführung eines eigenen Strafrechtskapitels, das Vorschriften für die Nichtigkeitserklärung von Wahlen, für Verletzungen des Einberufungsgesetzes und für die Bestrafung der Gesetzesbrecher bereit hielt. Vor der Untersuchung der Reformintentionen sollen hier in Teil (b) zunächst diejenigen Wahlpraktiken in den Blick genommen werden, die die Reformen in den Augen der Abgeordneten notwendig machten. Beschreibungen von Wahlpraktiken sind für das Michoacán der betrachteten Zeit über drei Wege vermittelt: über die gesetzlich vorgeschriebenen, von den jeweiligen Wahlvorständen anzufertigenden Wahlprotokolle sowie über Dokumente mit Bezug zu Wahlstreitigkeiten. Beide sind jeweils leider nur zu
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Wahl der Abgeordneten
einem kleinen Teil überliefert. Die dritte Quelle sind wieder die Diskussionsprotokolle der Parlamentarier. Das vorliegende Datenmaterial kann sicherlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, ermöglicht jedoch einen ersten Überblick. Für eine intensivere Untersuchung wäre die Recherche in weiteren lokalen Archiven, soweit sie vorhanden sind, notwendig. Hier konnten aus Zeitgründen – das Thema Wahlen ist schließlich „nur“ ein Aspekt der vorliegenden Studie – lediglich die im Archiv des Kongresses und der Hauptstadt vorhandenen Dokumente herangezogen werden. Über die unten zu behandelnden Reformmaßnahmen kann darauf zurückgeschlossen werden, welche Themen die Abgeordneten besonders beschäftigten. Zum besseren Überblick lassen sich diese in drei, vielfach miteinander verbundene Komplexe unterteilen: die Unkalkulierbarkeit der Juntas primarias, der Versuch von Wählern, sich zu organisieren, sowie unterschiedliche Ansichten über die Schiedsinstitution bei Verfahrensbruch beziehungsweise bei Wahlanfechtungen. Der nächste, vornehmlich deskriptive Abschnitt orientiert sich an diesen drei Komplexen, über denen das Menetekel der Korruption beziehungsweise der Korrumpierbarkeit der Primärwähler stand. Damit reihten sich die Gesetzgeber in einen dominanten Diskurs des 19. Jahrhunderts ein, in dem Wahlen in erster Linie als korrupt beschrieben wurden: „There is little doubt that the expressions of electoral corruption, and the denunciations of their recurrence, had been at the centre of the struggles for power in Latin America since the introduction of modern forms of representation following independence“256. Auffällig ist jedoch, dass diese Zuschreibungen nur auf die in den Juntas primarias versammelten Wähler zutrafen, nur sie galten als korrumpierbar und als nicht vertrauenswürdig. Im Kontrast dazu erscheinen die Juntas secundarias und die Juntas del estado als personell, zeitlich und räumlich kalkulierbare Einheiten. Ihre Mitglieder, die Wahlmänner, waren gesetzlich eindeutig definierte, ausgewählte und damit vermeintlich vertrauenswürdige Personen. In den Dokumenten wurden sie zum Teil gar namentlich genannt – was die obige Prosopographie ermöglichte. Die überschaubare Anzahl an Electores lässt die Versammlungen als zeitlich und räumlich klar umgrenzte Veranstaltungen erscheinen. Obzwar in den Gesetzen nicht vorgeschrieben, fanden auch viele Juntas secundarias in abgeschlossenen, meist offiziellen „Sälen“ statt. Insgesamt folgten die Protokolle der beiden oberen Wahlversammlungen oft minutiös den gesetzlichen Vorstellungen. Dies ist freilich kein unumstößliches Indiz dafür, dass sie tatsächlich so abgelaufen sind, aber hier geht es nicht zuletzt um die Evozierung bestimmter Bilder und Wahrnehmungen.
256 Vgl. den Überblicksartikel: Posada-Carbó: Juggling, Zitat S. 613.
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Den gesetzlichen Auflagen entsprechend finden sich mit der Ausnahme von je einer sekundären beziehungsweise einer staatlichen Wahlversammlung in den übrigen 21 vorliegenden Protokollen Hinweise auf Kirchgänge, 257 während diese für die Juntas primarias in keinem der drei Fälle anzutreffen sind. Beispielsweise schritten vor der Junta secundaria Valladolids am „8. Mai 1825, und am 2. Sonntag des Monats, wie vom zitierten Gesetz über die Elecciones secundarias angezeigt, die Staatsbürger, der Präsident und die Wahlmänner zur Heiligen Kathedrale mit dem Ziel, der Messe für den Heiligen Geist beizuwohnen, was der 2. Artikel des Gesetzes vorsieht; und jenen religiösen Akt abgeschlossen, zogen sie sich zum Gemeindeamt zurück“258.
Danach verlas der Präsident das Kapitel aus dem erwähnten Gesetz über die Junta secundaria und stellte die Frage nach Vorbehalten, um dann in „geheimer Abstimmung“ zunächst den ersten, dann den zweiten Wahlmann zu wählen. Nach der Veröffentlichung des Ergebnisses und dem Auftrag, den beiden Gewählten das Ergebnis mitzuteilen „schritten der Präsident, die Wahlmänner und die Gewählten zur Heiligen Kathedrale, wo man feierlich das Te Deum in Dankbarkeit zum Allmächtigen sang“259. Im Anschluss an den Kirchgang löste sich die Versammlung auf. Die aus 76 Wahlmännern bestehende Junta secundaria Zamoras von 1829 traf sich um acht Uhr im „Salón de la Secretaría del Ilustre Ayuntamiento“ 260 , um dann gemeinsam den öffentlichen Gebeten und der Messe mit anschließender Rede in der Kirche beizuwohnen. Die 15-köpfige Junta secundaria von Huaniqueo desselben Jahres schickte unmittelbar nach der Wahl dem Gewählten eine Mitteilung, damit dieser „sich in die Junta inkorporiere, um in Union mit dieser zur Gemeindekirche zu laufen“261, der nämlichen Versammlung von Tiripetio gingen gemäß Protokoll gar „drei Tage öffentliche Gebete voraus“ 262 . In Piedad erhielten die zwei Wahlmänner wegen ihrer „moralischen Tugenden“ vor dem abschließenden Kirchenbesuch einen „Applaus“263 der anwesenden Bewohner. Die Junta del estado von 1829, die im Ge257 Die Ausnahmen beziehen sich auf die Junta secundaria von Valladolid 1827 und auf die Junta del estado von 1831; vgl. En la Ciudad de Valladolid de Michoacán (06.05.1827), in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f.; Junta General (29.05.1831), in: AHCM, III. Legislatura, Varios, c. 6, s./e., s./f. Für die anderen Protokolle vgl. die folgenden Fußnoten. 258 En la Ciudad de Valladolid (08.05.1825), in: AHAM, c. 37, e. 36, s./f. 259 En la Ciudad de Valladolid (08.05.1825), in: AHAM, c. 37, e. 36, s./f. 260 En la Ciudad de Zamora (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 261 En el Pueblo de Huaniqueo (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 262 En el Pueblo de Tiripetio (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 263 En la Piedad, Cabecera de Partido del Estado libre de Morelia [!] (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f.
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Wahl der Abgeordneten
bäude des ehemaligen Colegio tagte, wurde durch eine Messe in der Kathedrale und durch eine mahnende Ansprache (Exhortación) von Antonio Camacho eröffnet, nach der Wahl der Abgeordneten kam man wieder „zur Kathedralkirche, wo man ein feierliches Te Deum sang. Dieses beendet, löste sich die Junta auf“264. Die oberen Juntas, die gemäß den Protokollen den Gesetzen strikt entsprachen, konnten von den Abgeordneten als personell, zeit- und räumlich berechenbare und die Gesetze befolgende Einheiten wahrgenommen werden. Im Kontrast dazu funktionierte die vorher nicht absehbare und stark schwankende Anzahl an Primärwählern die Juntas primarias in offene Veranstaltungen um, bei denen wohl meist ein ständiges Kommen und Gehen herrschte: Kommentare zum individuellen Erscheinen der Ciudadanos und die spätere Einführung von genaueren Zeitvorgaben über Anfang und Beginn der Juntas sprechen dafür ebenso wie die Befürchtung von mehrfachen Stimmabgaben in unterschiedlichen Wahlbezirken.265 So bemängelte José Marìa Silva 1828 besonders deutlich: „Niemals sind alle Ciudadanos bei den Wahlen vereint, vielmehr gehen sie jeder einzeln zum wählen“266. Abgeschlossene Räume sind jeweils nicht erwähnt, vielmehr die Platzierung unter freiem Himmel. Auch die Länge der Wahlen schwankte deutlich. Einheitliche Veranstaltungen waren dies demnach kaum. Die folgenden Beschreibungen sollen diese Kontrastierung verdeutlichen, auch wenn hier nur drei Protokolle ausgewertet werden konnten. In Valladolid traf sich sowohl 1825 als auch 1827 am Portal der Gemeindehäuser, also in einer offenen Veranstaltung, eine unbestimmte Zahl von „Ciudadanos“ ohne vorangehende, gemeinsame Messe. 1825 versammelten sie sich um zehn Uhr und 1827 schon um acht. Die Wahl durch eine wiederum nicht bestimmte Anzahl von Ciudadanos im Dorf Santa María de la Asunción am 1. Mai 1825 begann dagegen erst um fünf Uhr nachmittags, laut Protokoll ebenfalls ohne vorheriges gemeinsames Gebet.267 Die im Gesetz von 1825 angelegte Unterteilung von großen Gemeinden in einzelne Wahlbezirke hatte nur partiell stattgefunden, wie bei der Abspaltung des Dorfes Santa María von Valladolid. Dagegen blieb die Stadt Valladolid in einer Versammlung vereint. Traditionelle Gemeindegrenzen blieben also erhalten. Die Unterteilung hätte, so 1827 die Begründung für das Nichtbefolgen, zu „unterschiedlichen Gesetzesüberschreitungen in einigen Teilen geführt, in Pátzcuaro zum Beispiel und an anderen
264 En la Ciudad de Morelia (06.06.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 265 Vgl. hierzu auch die Beschreibung der Wahlen bei den indigenen Gemeinschaften von Mexiko-Stadt 1812: Annino: Cádiz, S. 203; Annino: Ballot, S. 69f. 266 Sitzung Nr. 77 vom 15.11.1828 (c. 9, e. 1). 267 Vgl. für die Angaben zu diesem Dorf: En el Pueblo de Santa Maria de la Asuncion (01.05.1825), in: AHAM, c. 37, e. 36, s./f.
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Orten“268, wo Personen in unterschiedlichen Wahlbezirken mehrfach gewählt hatten. Erst ab 1831 ist für den sehr großen Wahlbezirk Valladolid von der Aufstellung mehrerer Wahltische in unterschiedlichen Sektionen die Rede: So waren es 1831 sechs und im Jahr darauf fünf Tische in entsprechend vielen Bezirken.269 Nach der jeweiligen Wahl des Sekretärs und der Wahlprüfer sowie der Frage nach Vorbehalten begann man in Valladolid jeweils „die mündlichen Stimmen und die schriftlichen zu empfangen“. „Auf diese Weise praktizierte man das weiter“270, und zwar 1825 bis halb vier Uhr nachmittags und 1827 bis halb neun Uhr abends, bis sich die „Staatsbürger weigerten, sich zum wählen zu präsentieren“271. Wie von der Wahlordnung vorgesehen, blieb das Ende der Wahlen also den Autoritäten überlassen. Die Auszählung dauerte 1825 eine halbe Stunde, bis das Ergebnis nach einem Wahltag von insgesamt sechs Stunden veröffentlicht wurde: Salgado erhielt 45 Stimmen, die weiteren 28 gewählten Electores primarios zwischen 41 und 26 Stimmen. Zwei Jahre später zog sich die Auszählung bis 4.45 Uhr am Morgen des nächsten Tages hin. Der Wahltag dauerte somit dreieinhalb Mal so lange wie 1825, nämlich fast 21 Stunden. Die Ursache für den verlängerten Wahltag lag wohl in der wesentlichen höheren Anzahl an wählenden Personen: Antonino Huerta, Capitán de la milicia, erhielt 1.118 Stimmen, 34 weitere Personen noch über 1.000 und der mit den wenigsten Stimmen gewählte Elector 496. Wie gesetzlich vorgeschrieben, konnte der Wahlkreis von Valladolid diesmal zusammen mit den umliegenden Dörfern 38 Wahlmänner für die Junta secundaria bestimmen.272 Darüber hinaus fanden 47 weitere Personen mit ihrer jeweiligen Stimmzahl protokollarische Erwähnung, somit erhielten insgesamt 85 Personen Stimmen. Die durch die oben dargestellten Wahlauflagen geforderte und geförderte Kompetitivität schien auf der Ebene der Juntas primarias somit praktiziert worden zu sein. Wie vom Reglement vorgesehen, wurde „dem Publikum am Portal der Gemeindehäuser“ 273 zum Abschluss der Wahl das Ergebnis bekannt gegeben, vom abschließenden ge268 Vgl. Sitzung vom 14.03.1827 (c. 3, e. 6). 269 Vgl. Michoacano libre Nr. 23 (21.04.1831), II, S. 90; Sitzung Nr. 44 vom 30.06.1832 (c. 16, s./e. 1). Zur Aufstellung der Wahltische unten ausführlicher. 270 En la Ciudad de Valladolid [01.05.1825], in: AHAM, c. 37, e. 36, s./f. 271 En la Ciudad de Valladolid [30.04.1827], in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f. 272 En la Ciudad de Valladolid [01.05.1825], in: AHAM, c. 37, e. 36, s./f. bzw. En la Ciudad de Valladolid [30.04.1827], in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f. 273 Vgl. En la Ciudad de Valladolid [30.04.1827], in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f. Vgl. hierzu auch eine ähnliche Annahme von Annino bezüglich der Wahlen in Mexiko-Stadt 1812 und 1813: Er konstatierte, dass es sich in vielen Fällen wohl nicht um richtige Juntas handelte, da sich die meisten Wähler nach der Stimmabgabe gleich wieder zurückzogen; vgl. Annino: Cádiz, S. 203.
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Wahl der Abgeordneten
meinsamen Te Deum ist in beiden Fällen wie auch in Santa María 1825 nichts überliefert. In Santa María erhielten die beiden gewählten Wahlmänner 63 beziehungsweise 61 Stimmen. Nach einer für die Zeit üblichen Berechnungsformel – nämlich, dass auf fünf Personen ein Wahlberechtigter kommt –, käme man für Santa María 1825 und Valladolid 1827 auf Wahlbeteiligungen von über 30%.274 Sie liegt damit unter der von Annino für die Wahl von 1813 in MexikoStadt berechneten Quote (40-70%), aber deutlich über der von 1825 in der mit Valladolid in der Größe vergleichbaren Stadt Toluca im Estado de México.275 Das Fehlen der Kirchgänge, die ja neben religiösen auch ordnenden Charakter haben sollten, schien eine weitverbreitete Praxis zu sein: 1827 zeigte der Redner der Regierung im Parlament an, dass in den Juntas primarias das Te Deum oft nicht gesungen würde, da sie zu spät endeten. Ebenso bemängelte der Abgeordnete Peguero, dass die einleitenden Bittgebete für die Juntas primarias häufig durch Glockengeläut ersetzt würden. 276 Dies war offensichtlich also nicht nur in den in den vorliegenden Protokollen beschriebenen Juntas der Fall. Demnach erhielten die Wahlen zwar einen eindeutigen Auftakt, aber nicht die vorgesehene Feierlichkeit. Wie in den Protokollen angedeutet, schien sich die Vorgabe bezüglich der Kirchgänge in den Gemeindewahlversammlungen und damit die Besonderheit der Wahlen als einheitliche, vom Alltag abgesetzte Veranstaltungen also nicht etablieren zu können. Die unten skizzierten Reformmaßnahmen, die sich fast ausschließlich auf die Juntas primarias beziehen, stützen den für den ersten Komplex an Wahlpraktiken zentralen Befund von deren Unkalkulierbarkeit und Reformbedürftigkeit. „Andererseits ist es notwendig, sehr präsent zu haben, dass in jeder Klasse von Wahl die Intrigen, die Animositäten immer im Überfluss vorhanden sind“277. Mit diesen Worten kommentierte der amtierende Gouverneur José Salgado im September 1828 die Vorkommnisse in der Junta secundaria für die Wahlen des föderalen Kongresses in Zamora. Vor der Benennung der neben der Unkalk274 Für die Berechnung wurde von der Annahme ausgegangen, dass die Person mit der höchsten Stimmenzahl die Stimmen aller Anwesenden erhalten hat. Da dies wenig wahrscheinlich ist, lag die tatsächliche Beteiligung vermutlich noch höher. Für die Berechnungsformel der Wahlberechtigten vgl. die Ausführungen in Teil D II. Für die Einwohnerzahlen wurde nach der gesetzlichen Formel angenommen, dass ein Wahlmann auf 500 Personen kommt: Für Santa María entspräche das einer Einwohnerzahl von 1.000, für Valladolid von 19.000 – Zahlen, die sich durch die offiziellen Angaben der Zeit in etwa bestätigen lassen. 275 Zu Mexiko-Stadt vgl. Annino: Cádiz: 206f.; zu Toluca: Salinas Sandoval: Política, S. 72f. 276 Sitzung vom 12.03.1827 (c. 3, e. 6). 277 Nota 46, Salgado = Consejo [22.09.1828], in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 12v.
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ulierbarkeit weiteren zwei zentralen Problemkomplexe (Wahlanfechtungen und Wahlbündnisse) soll hier zur Veranschaulichung zunächst der bezeichnende Fall aus Zamora anhand der überlieferten Dokumente rekonstruiert werden. Über die Ereignisse in der Hauptstadt des westlichen Departements an den Tagen des 5. bis 7. Septembers 1828 ist kein allgemein anerkanntes Protokoll angefertigt worden. Nach übereinstimmender Darstellung der beiden Streitparteien soll sich Folgendes zugetragen haben: Bei der Wahl des Sekretärs der Junta wurden für Joséf Rudecinal Villanueva 42, für Francisco Romero 39 Stimmen festgestellt. Die zentrale Auseinandersetzung fand um diese Wahl und um das Zerreisen der Wahlzettel statt: Nach eigener Darstellung reklamierte Romero und mit ihm Martín Galván sowie Jorge Martínez noch vor Feststellung des Ergebnisses, dass die ausgezählten Wahlzettel nicht zerrissen werden dürften.278 Die andere Seite, neben Villanueva auch der Präsident der Junta, der erste Alcalde des Ayuntamiento Diego Verduzco, stellte heraus, dass die Reklamation erst nach der Publikation des Ergebnisses, also zu spät stattfand, nämlich dann, als die Wahlzettel schon zerrissen waren.279 Auf Druck der Reklamierenden – nach deren Auskunft mit der Zustimmung der gesamten Versammlung – fand eine Nachzählung der Stimmen statt. Nach Villanueva fügte dabei Galván, als er die teils zerrissenen Stimmen vom Boden aufhob, weitere Stimmzettel hinzu. So ergab die Nachzählung durch Romero und Martínez – Villanueva hatte sich als Beteiligter geweigert, daran teilzunehmen –, dass Romero statt 39 jetzt 45 Stimmen habe und er also mit drei Stimmen mehr als Villanueva die Wahl gewonnen habe. Nach drei [!] Stunden Diskussion, ob diese Wahl rechtmäßig sei, sprach sich die Mehrheit der Junta durch den „sichtbaren und öffentlichen Akt“ des Aufstehens für Romero als Sekretär aus. Dieses Ergebnis war nach Villanueva darauf zurückzuführen, dass „diese Individuen durch diesen Kleriker [Galván] und die ihm verbundenen Pfarrer [entsprechend] aufgefordert worden waren“280. Villanueva verließ daraufhin unter Protest den Saal, da diese Abstimmung nicht wie vorgesehen als Geheimwahl stattgefunden hatte.281 Er war sich in seiner Klageschrift sicher, dass dies dazu führte, dass die Wähler durch Romero, Galván, Martínez und José María 278 Vgl. für die Darstellung Romeros auch im Folgenden: En la Ciudad de Zamora, Capital del Departamento del Poniente (05.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 18-20v. 279 Vgl. für diese Seite vor allem folgende zwei Dokumente: Información producida por los Ciudadanos Rudecinio Villanueva, Bernardo Garcia y Benedicto Martínez (28.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 1-5; En la Ciudad de Zamora (15.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 21-24v. 280 Información producida por los Ciudadanos Rudecinio Villanueva, Bernardo Garcia y Benedicto Martínez (28.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 3. 281 Vgl. die entsprechende Norm: Dekret s./Nr. (24.07.1828) / Art. 31, in: RdL, III, S. 69.
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Wahl der Abgeordneten
Cabados eingeschüchtert worden waren. Verduzco bezeichnete diese Gruppe später als die „notoria facción der Herren Pfarrer Galván und Cabados“282. An anderer Stelle wurde eine der beiden Parteiungen als „Patriotas“, die andere als „Velecionticos [?]“ 283 tituliert, wobei nicht deutlich wird, welche Gruppe welchen Namen erhielt. Die eigentliche Wahl der vier sekundären Wahlmänner, unter ihnen Cabados, am 7. September schien hingegen ohne weitere Probleme zu verlaufen. Weitere Wahlbeschreibungen und Diskussionen in den Parlamenten zeigen, dass in diesem Konflikt ein als zentral wahrgenommenes Problem angesprochen wurde, nämlich die Bildung von Parteiungen (Partidos) beziehungsweise von Faktionen (Facciones). Sie wurden hier, wie auch in den weiteren Fällen durchweg negativ konotiert. Sie galten als die Hauptursache der Intrige und Korruption, der Verfälschung des Wählerwillens. Insbesondere zwei Vergehen kreidete man ihnen immer wieder an: die Fälschung von Wahlzetteln und die Aneignung der Wahlorganisation, der Mesa. Beispielsweise informierte der Präfekt Zamoras schon im Jahr vor den eben geschilderten Vorgängen, nämlich in der Parlamentssitzung vom 16. Januar 1827 in schriftlicher Form darüber, dass das „Vecindario in zwei Partidos unterteilt“ sei, woraus sich „gewichtige Übel“ ergeben hätten. Dabei hob er die Praxis hervor, dass „ein Ciudadano“ dazu gezwungen worden sei, „eine Liste zu wählen, die das Gegenteil der seinigen war“ 284 . Antonio Chávez wies 1827 darauf hin, dass es eine „konstante Praxis“ sei, dass der Sekretär der Mesa, wenn er dem, der nicht lesen kann, dessen Liste vorliest, diese Liste dann aber „reformiert [!], indem er die Subjekte, die er nicht wählen will, gegen andere austauscht“285. Der Sekretär, der wie dargestellt die Liste der zu wählenden Personen entgegenzunehmen hatte, nutzte demnach das oben angedeutete Potential zur Einflussnahme. Die „Fälschungen“ erfolgten allerdings nicht nur am Wahltisch, sondern in organisierter Form auch schon vor den Wahlen. Entgegen dem Willen des Gesetzgebers fanden offensichtlich Wahlkämpfe statt. Zum Vergleich: In Kurhessen fanden wohl erst ab 1833 Wahlkämpfe im modernen Sinne statt, 282 En el mismo día el Ciudadano Diego Berduzco (10.09.1828) in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 6. Zur Ergänzung: Bei der Wahl 1830 wurde Jorge Martínez zum Elector secundario Zamoras gewählt, Cabados gleichzeitig zum Ersatzmann im Kongress; vgl. Michoacano libre Nr. 45 (07.07.1830), I, S. 180. 283 Los CC. Joséf Rudecinal Villanueva, Bernardo Garcia y Benedicto Martínez [ohne Datum, in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 10. 284 Sitzung vom 16.01.1827 (c. 3, e. 6). Ob es sich dabei um die gleichen Gruppen wie in der oben dargestellten Auseinandersetzung handelte, geht aus den Dokumenten nicht hervor. 285 Sitzung vom 16.01.1827 (c. 3, e. 6).
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und das zunächst auch nur auf Wahlmännerebene.286 In Michoacán war nach Auskunft der Abgeordneten eine große Zahl vorgefertigter Kandidatenlisten im Umlauf. Offenbar verteilten Interessierte vor den Urnengängen Listen mit Namen unter den Wählern. Francisco Aragón unterstrich die weite Verbreitung von solchen Listen: Er „habe das Praktizieren der heimlichen Einführung von Listen zu Hunderten gesehen”287. Auch Miguel Zincunegui und Pablo Peguero klagten über die weitverbreitete, heimliche Einführung von Wahllisten durch Partidos: Dies führe dazu, dass viele Wähler „Subjekte wählen, welche sie eventuell nicht kennen“. González schloss sich der Klage an und bezeichnete diejenigen, die „gedruckte Listen empfangen“, als „Instrument“. Alle drei folgerten daraus, dass Wahlen per vorgefertigter Liste „nicht frei sein können“288. Der Druck und die Verteilung vorgefertigter Wahllisten verweist auf einen relativ hohen Organisationsaufwand, insbesondere vor dem Hintergrund des vorherrschenden Mangels an Druckereikapazitäten – die einzige Druckerpresse Michoacáns stand in der Hauptstadt.289 Neben der Einführung vorgefertigter Listen schien den Abgeordneten die Eroberung der Mesa ein weiteres mit der Bildung von Faktionen zusammenhängendes Problem. 1832 beispielsweise sprach Lorenzo Aurioles davon, dass „zuweilen in dieser Hauptstadt beobachtet wurde“, dass „sich eine Facción ... in einem Moment, in dem sie allein ist, der Mesa bemächtigt und den guten Ciudadanos keinen Platz lässt“ 290 . Wie an den unten dargestellten Reformbemühungen weiter deutlich wird, stellten die Bildung von Wahllisten und die Eroberung der Mesa für die Gesetzgeber die zentralen, die Wahlfreiheit einschränkenden Probleme dar. Eine Schlussfolgerung daraus war die allgemeine Geringschätzung von Wahlorganisationen als Gegner des freien unverfälschten und individuellen Wählerwillens. Parteiungen galten als Inbegriff der Spaltung der Gesellschaft. Sie verfolgen gegen das Bien comun ihre Partikularinteressen. So lässt sich folgende Aussage Guardinos für Michoacán auch über die Kolonialzeit hinaus bestätigen: „the idea that factions were subversive was deeply rooted in the Hispanic political culture of the old regime“291. Freilich war diese Skepsis kein rein hispanisches Phänomen.292 Wie sah es mit dem Einfluss der Faktionen auf den Wahlausgang aus? Dieser ist wegen des inoffiziellen Charakters der Faktionen schwer zu er286 287 288 289 290 291 292
Seier: Liberalismus, S. 114f. Sitzung vom 16.03.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung vom 15.03.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. hierzu Kapitel F IV. Sitzung Nr. 47 vom 05.07.1832 (c. 16, s./e. 1). Guardino: Time, S. 221. Vgl. zu ähnlichen Tendenzen im deutschen Vormärz bspw. Hörner: Wahlen, S. 335-341; Seier: Liberalismus, S. 115f.
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schließen. Bei der schon oben angeführten Primärwahl in Valladolid im April 1827 scheint die auffällige Häufung ein und derselben, relativ hohen Stimmenzahl beispielsweise auf vorgefertigte Wahllisten und eine erfolgreiche Organisation der entsprechenden Personen hinzuweisen: 17 Personen erhielten 1.068 Stimmen, sieben weitere zwischen 1.066 und 1.062. Auffällig ist diese Häufung, da die Wähler nach dem Willen des Gesetzes ja an sich frei und individuell Namen nennen sollten. Insgesamt erhielten bei dieser Wahl 85 unterschiedliche Personen Stimmen. Die analytisch hier als Gruppe zusammengefassten 24 Personen mit einer Stimmenzahl zwischen 1.062 und 1.068 übernahmen sowohl in dieser Junta primaria als auch in der nachfolgenden Junta secundaria die große Mehrzahl der Ämter an der Mesa: Sie hatten drei der vier Posten als Wahlprüfer in der Junta primaria inne, in der Junta secundaria stellten sie den Sekretär, einen von zwei Wahlprüfern und zudem alle drei Mitglieder der die Wahlbescheinigungen prüfenden Kommission. Dabei setzten sie sich gegen Kandidaten durch, die mehrheitlich der gleichen Gruppe angehörten, ebenso wie bei der eigentlichen Wahl der Electores secundarios. Auch dort stellten sie die beiden Wahlgewinner, die dann in der Junta del estado wahlberechtigt waren. 293 Diese angenommene „Gruppe“ hatte sich also erfolgreich organisiert. Ähnliches ist schon für Wahlen in Toluca und in Mexiko-Stadt festgestellt worden. 294 Bezeichnenderweise wurde im Zamora-Fall nicht der fragliche Sekretär Romero zum Elector bestimmt, wohl aber Cabados, ein Verbündeter in der „notoria facción“. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Wahlorganisationen mit Brokern, die die Stimmen für Dritte organisierten, wie in anderen Regionen des atlantischen Raums Einfluss auf den Wahlausgang genommen haben. In diesen Organisationen schienen auch hier Ortspfarrer wie Galván oder Cabados eine wichtige Rolle zu spielen.295 Wie stark dieser Einfluss jedoch war, lässt sich schwer abschätzen. Allzu hoch dürfte er jedoch nicht gewesen sein, betrachtet man die große Kompetitivität bei den Wahlen und die hohe Fluktuation in den Ämtern. Kaum gewann ein Kandidat mal die Stimmen aller Anwesenden, meistens werden
293 Vgl. En la Ciudad de Valladolid (29.04.1827), En la Ciudad de Valladolid de Michoacán (04.05.1827), En la Ciudad de Valladolid de Michoacán (06.05.1827), jeweils in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f. 294 Vgl. zu einer ähnlichen Schlussfolgerung auf Grund der Häufung der gleichen Stimmenanzahl bei der schon zitierten Wahl von Toluca (1825): Salinas Sandoval: Política, S. 73; zu Maßnahmen der „Mobilisierung, des Stimmenkaufs, des Faccionalismo und anderen Unregelmäßigkeiten“ in Mexiko-Stadt vgl. Àvila: Revolución, Zitat S. 173. 295 Vgl. im Überblick: Schmidt: Wahlen, S. 46-48; Ternavasio: Régimen, S. 85; Connaughton: Balance, S. 68.
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Gegenkandidaten erwähnt und zweite Wahlgänge waren keine Seltenheit. 296 Erfolg war nur selten organisierbar. Beispielsweise war die Besetzung eines Mesa-Amtes in der Organisation der Wahlen nicht gleichbedeutend mit einer erheblichen Erhöhung der Chancen auf den Posten als Wahlmann. Die Auswertung der Protokolle von 20 Juntas secundarias des Jahres 1829 ergab, dass lediglich drei der insgesamt 37 Electores secundarios vorher in ihrer jeweiligen Wahlversammlung ein Amt innegehabt hatten.297 Von den insgesamt 166 bei den fünf Wahlen zwischen 1825 und 1831 in der Hauptstadt gewählten Electores primarios schafften nur 33 eine Wiederwahl und lediglich acht waren insgesamt dreimal in der Junta secundaria vertreten. Ein ähnliches Bild ergibt sich nach der Auswertung der vier Wahlen der Juntas secundarias in der Kapitale: Hier wurde von neun Electores secundarios nur einer, der mehrfache Abgeordnete Villaseñor, bezeichnenderweise Mitglied der Miliz, zweimal gewählt. Wie auch die obige Prosopographie der Abgeordneten gezeigt hat, hatte sich im betrachteten Zeitraum keine stabile, die Wahlen kontinuierlich kontrollierende „Aristokratie“ etablieren können – die Konkurrenz war zu groß. Annino verweist im Kontrast zu dieser Instabilität darauf, dass noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in England mit seiner langen parlamentarischen Tradition in circa 40 Prozent der Wahlkreise nur eine Person zur Wahl stand298 – den Wählern blieb dort also de facto keine Wahl: Stabilität und Konstanz ersetzten Kompetitivität. Für Michoacán scheint hingegen folgende These Guardinos verifizierbar: „Nevertheless, successful organizing in these initial elections was not sufficient to secure victory“ 299 , insbesondere da es darum ging, auf drei Ebenen und über den lokalen Rahmen hinaus Erfolg zu gestalten. Ob sich wie im nördlich gelegenen Guanajuato oder in Chile und Kolumbien auch in Michoacán zunächst noch die alten lokalen Eliten oder wie in Oaxaca die Ortspfarrer als Wahlmänner etablieren konnten, konnte auf Grund des Materials nicht gezeigt, aber doch zumindest vermutet, werden.300 Folgt man den Protokollen und den gesetzlichen Reformvorhaben, präsentierten sich diese Organisationen mit ihrem lediglich vermeintlich hohen Einfluss auf die Ergebnisse der Wahlen den zeitgenössischen Abgeordneten als 296 Vgl. neben den bereits im Laufe des vorherigen Textes zitierten Protokollen von 1825, 1827 und 1829 das von der sehr umkämpften, staatlichen Wahlversammlung von 1831: Junta General (29.05.1831), in: AHCM, III. Legislatura, Varios, c. 6, s./e., s./f. 297 Zu den Quellen vgl. die Sammlung der oben schon teilweise zitierten Protokolle in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f. 298 Vgl. Annino: Introducción (1995), S. 16; ähnlich: Posada-Carbó: Juggling, S. 641. 299 Guardino: Time, S. 170. 300 Vgl. zu Guanajuato: Serrano Ortega: Jerarquía, S. 188-192 u .197; zu Chile und Kolumbien mit weiterer Literatur: Posada-Carbó: Juggling, S. 634-636; zu Oaxaca: Hensel: Entstehung, S. 265 u. 274.
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ein, wenn nicht sogar als das Hauptproblem freier Wahlen. Dies dürfte in erster Linie die Hypothese von Annino bestätigen, nämlich dass „die Intensität der Rhetorik zu Wahlfälschungen ein Symptom für soziale Veränderungen auf lokaler Ebene oder für eine Instabilität der Einflüsse“301 ist. Es fällt auf, dass „die Intensität der Rhetorik zu Wahlfälschungen“ ab 1827 deutlich zunahm, also ab einem Zeitpunkt, ab dem sich die politischen Auseinandersetzungen in Michoacán zuspitzten. Am Falle Zamoras lässt sich aber auch das dritte, als zentral wahrgenommene Problem im Wahlablauf demonstrieren, nämlich die Frage nach der Zuständigkeit bei Nichtigkeitsentscheidungen. Am 26. September 1828 entschied der Kongress in einem Eilverfahren, dass die Wahl Romeros zum Sekretär der Junta und damit auch die nachfolgende der Electores secundarios gültig war. 302 Am nächsten Tag reklamierte daraufhin der Gouverneur Salgado unter Berufung auf Artikel 42 der Verfassung, Abschnitt 3, dass „die Erklärung des Ehrenhaften Kongresses gemäß der Einschätzung des Gouverneurs seine Befugnisse überschritten“303 habe, dass der Kongress also nicht zuständig gewesen sei. Denn hier handele es sich um eine Entscheidung bezüglich der „Tatsache, ob Romero die absolute Mehrheit der Stimmen [auf sich] vereinigte oder nicht“304. Nach dem zitierten Abschnitt habe der Kongress zwar grundsätzlich das Recht, die „Nichtigkeit von Wahlen“ 305 der Abgeordneten zu erklären, habe es aber per Gesetz für die Electores secundarios an die Junta del estado delegiert. Mit dem Gesetz sprach er offensichtlich die oben erläuterte Kompetenz der Wahlversammlungen an, bei Tatsachenentscheiden letztinstanzlich über die Zulassung ihrer Wähler, also der Wahlmänner, zu entscheiden. Der Argumentation Salgados entsprechend hatte die Junta del estado auf Grund der Verstöße gegen das Wahlgesetz den Ausschluss der vier in Zamora gewählten Wahlmänner erlassen – aus den Dokumenten geht allerdings nicht hervor, ob der Beschluss der Wahlversammlung vor oder nach dem des Kongresses lag.306 Am 2. Oktober 1828 entschied der Kongress gegen den Einwand von Salgado, dass er über den Fall diskutieren dürfe – nicht zuletzt unter Berufung auf einen vermeintlich ähnlichen Fall des Vorjahres in Jiquilpan. Dort hatte der 301 Annino: Introducción (1995), S. 16; ähnlich Posada-Carbó: Juggling, S. 641. 302 Vgl. Sitzung Nr. 38 vom 26.09.1828 (c. 8, e. 1). 303 Nr. 1 Ecsmo Sr.=Al confirmarme con el dictamen (27.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, s./f. 304 Nota 46, Salgado=Consejo (22.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, f. 12. 305 Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 42/3; Sitzung Nr. 42 vom 02.10.1828 (c. 9, e. 1). 306 Ein entsprechendes Dokument liegt nicht vor. Aus der folgenden zitierten Debatte geht allerdings die Existenz einer solchen Entscheidung hervor, jedoch ohne Datierung.
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Kongress Wahlmänner, obwohl sie die Protokolle nicht mit sich trugen, zur Junta del estado zugelassen. Diesem Vorgehen des Kongresses widersprechend, definierte Ignacio Villavicencio die „Wahlversammlung als nichts anderes als das souveräne Volk, zusammengetreten durch seine Electores, um einen Akt seiner Souveränität auszuüben“307. Nur die Junta, nicht der Kongress, sei nach ihm also befugt, über solche Fälle zu entscheiden. Damit präsentierte er allerdings eine Minderheitenmeinung: Zwei Tage später beriet der Kongress den Antrag der vier Electores secundarios Zamoras, zur staatlichen Wahlversammlung zugelassen zu werden.308 Während der Diskussion stellte der Redner der Regierung insbesondere auf das Fehlen eines offiziellen Protokolls und auf das Tragen von Waffen in der Junta ab, weswegen die Wahlen nichtig seien. Die sich in der Unterzahl befindenden Gegner argumentierten, dass man ein so bevölkerungsreiches Partido nicht von der Repräsentation ausschließen könne. Schließlich entschied sich der Kongress mit zwei Gegenstimmen dafür, die Nichtigkeitserklärungen der Junta nicht aufzuheben. Zamora – immerhin eine der drei zentralen Städte der Region – blieb also ohne Vertretung in der Junta del estado. Zamora stellte aber nicht den einzigen Konfliktfall über die Zuständigkeiten bei Nichtigkeitserklärungen dar. 1824 hatte die Konstituante ohne weitere Begründung die Wahl der Junta del estado von José Antonio Macías annulliert und diesen durch Lloreda ersetzt. Drei Jahre später überstimmte der Kongress die Junta und ließ die Wahlmänner von Jiquilpan nach zwei außerordentlichen Sitzungen und einem knappen Sechs-zu-Fünf-Entscheid zu.309 Am 2. Oktober 1828 bat der Elector secundario aus Coalcomán den Kongress vergeblich darum, den Ausschluss durch die Junta del estado aufzuheben. Er trug nur seine Wahlbescheinigung, nicht aber die erforderlichen Protokolle der Junta secundaria mit sich. Ein Abgeordneter versuchte ihn damit zu entschuldigen, dass es „nicht in seiner Hand gelegen habe, den Fehler zu vermeiden“310. In den genannten Fällen nahm der Kongress die Entscheidungskompetenz jeweils für sich in Anspruch. 1827 schloss andererseits die Wahlversammlung Valladolids Antonio Camacho mit der Begründung vom Amt des Elector secundario aus, dieser übe „jährlich kirchliche Rechtsprechung“311 aus.
307 308 309 310 311
Außerordentliche Sitzung Nr. 43 vom 04.10.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. Sitzung Nr. 42 vom 02.10.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. Außerordentliche Sitzungen vom 26.05.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung Nr. 42 vom 02.10.1828 (c. 9, e. 1). En la Ciudad de Valladolid (30.04.1827), in: AHAM, c. 14, e. 11, s./f. Dieser Ausschluss schien kein Einzelfall zu sein, wie ein nahezu identischer Fall von 1829 in Tacambaro belegt, wo Electores primarios durch die Junta secundaria ausgeschlossen wurden. Vgl. En la citada Villa a los diez y nueve dias del mes de April (19.04.1829), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 7, e. 5, s./f.
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Wahl der Abgeordneten
Sehr viel konfliktreicher verlief dann 1828 neben der Causa Zamora auch die Nichtigkeitserklärung der Wahl von José María del Raro in Jiquilpan durch die dortige Junta secundaria. Der zuständige Präfekt stellte in einem Schreiben an die zuständige Kongresskommission fest, dass die Annullierung einer Wahl eher ein „Rechts- als ein Tatsachenentscheid“312 war, weswegen der Kongress zuständig sei. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Entscheidungstypen schien sich nunmehr auch in der Diskussionspraxis durchzusetzen: Auch Salgado argumentierte damit im Falle Zamora. Der Consejo del gobierno kam bezüglich Jiquilpan dann allerdings zu einer gegenteiligen Auffassung: Es handle sich um einen Tatsachenentscheid, ergo liege die Kompetenz allein bei der Junta.313 Dem schloss sich die Mehrheit der Kongresskommission und schließlich des Kongresses an, José María Silva hingegen konstatierte in einem Sondervotum, dass „die Junta die Wahl nicht als nichtig qualifizieren durfte“314. Der Kongress anerkannte zwar auch in zwei weiteren Fällen die Kompetenz der Wahlversammlungen und lehnte Anträge aus Zitácuaro und Coalcomán auf Zulassung zur Junta del estado ab.315 Trotzdem blieb letztlich eine „Konfusion ..., da meistens eine Tatsache ein Recht umfasst und in einem solchen Fall der Zweifel bleibt“316. Auch dieser dritte Komplex der Nichtigkeitsentscheide schien, wie gleich zu sehen, den Abgeordneten ob seiner Vagheit als reformbedürftig. Wie die Abgeordneten mit den drei als zentral wahrgenommenen Problemkomplexen – neben den Konflikt um die richtige Schiedsinstitution die Unkalkulierbarkeit der Juntas primarias und die „Faktionierung“ – umgegangen sind, soll im nächsten Abschnitt behandelt werden.
c.
Die Stärkung des Individuums und des Kongresses in den Reformen des Wahlrechts
Wie schon eingangs des Kapitels erwähnt, verpflichtete die Verfassung Michoacáns jeden Kongress zur Verabschiedung eines neuen Wahlreglements für die Bestimmung der nächsten Legislatur. Diese Auflage erlaubt das Nachvollziehen von Konstanzen und Veränderungen während des hier betrachteten Zeitraums. Die bisherige Wahlforschung zur frühen Unabhängigkeit Mexikos, 312 Gobierno Nr. 74: El Prefecto de este Departamento (22.09.1828), in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, s./f. 313 Consejo de Gobierno de Michoacán Nr. 62 [21.09.1828], in: AHCM, II. Legislatura, Varios, c. 5, e. 4, s./f. 314 Sitzung Nr. 39 vom 27.09.1828 (c. 8, e. 1). 315 Vgl. die Anträge aus Zitácuaro und Coalcomán: Außerordentliche Sitzung Nr. 43 vom 04.10.1828 (c. 9, e. 1). 316 Sitzung Nr. 101 vom 08.07.1828 (c. 8, e. 1).
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namentlich François-Xavier Guerra und Antonio Annino, geht en passant von einem Fortleben der gaditanischen Vorstellungen und Regularien, mithin von einer Konstanz in der föderalen Republik aus.317 Diese Hypothese – um mehr handelt es sich nicht, da beide das Wahlrecht des Zeitraums bislang kaum untersucht haben – wird im folgenden Abschnitt für Michoacán widerlegt: Das Wahlrecht unterlag grundlegenden Veränderungen. Diese bestanden in erster Linie in einer Abkehr vom kollektiven Charakter der Wahlen im Rahmen der Juntas, mithin also in einer Individualisierung. Damit folgten die Reformen zum Teil den eben beschriebenen Praktiken, sie gingen also nicht nur ‚von oben’ aus, sondern antworteten auf Tendenzen ‚von unten’. Hauptsächliches Ziel der Reformen war nach den vorliegenden Dokumenten die Eindämmung der angenommenen Macht der Faktionen, weswegen man von einem „individualisierenden Anti-Faktionismus“ oder einer „anti-faktionistischen Individualisierung“ sprechen kann. Der folgende Abschnitt behandelt die Lösungsvorschläge für die eben dargelegten drei Problemkomplexe (Schiedsinstitution, Unkalkulierbarkeit der Juntas primarias und die „Faktionierung“), wie sie sich in den Diskussionen und Wahlgesetzen der ersten vier ordentlichen Kongresse niederschlugen.318 Dabei sind zwei größere Ansätze zur Neuordnung von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu erkennen: a) der Ausbau des strafrechtlichen Teils der Wahlgesetze, und vor allem b) die präzisere Strukturierung der Juntas primarias, welche sich bei der Erfassung der Primärwähler durch Wahlscheine und bei der Wahlorganisation zeigte. Insbesondere der zweite Bereich zielte auf die Reform der lokalen Wahlversammlungen ab. Zum einen gelang dies durch die Verlagerung von Kompetenzen, vor allem aber durch individualisierende Maßnahmen. Das primäre Staatsbürgerrecht des Wählens sollte gegen die korruptions- und intrigenanfällige Bevölkerung geschützt werden. Zunächst zum Ausbau des strafrechtlichen Teils der Wahlgesetze: Das erste Wahlgesetz hatte keinen eigenen Strafrechtsteil vorgesehen. Einzige strafrechtliche Norm war der Ausschluss vom aktiven und passiven Wahlrecht bei „Bestechung, Schmiergeld und Zwang“ 319 . Der Angeklagte wurde ausgeschlossen, wenn die Junta der Anklage stattgab, beziehungsweise der Anklagende, wenn die Junta das Gegenteil entschied. Eine Berufung gegen diesen Entscheid war nicht vorgesehen. Das zweite und dritte Wahlgesetz übernahm diese Regelung jeweils eins zu eins.320 Das zweite Wahlgesetz (1827) führte aber 317 318 319 320
Vgl. Guerra: Traditions, S. 18; Annino: Introducción (1995), S. 12 u. 16. Vgl. zum Überblick die Auflistung der Gesetze am Anfang des Kapitels. Dekret Nr. 41 (28.03.1825) / Art. 18, in: RdL, I, S. 83. Vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 17, in: RdL, II, S. 84 bzw. Dekret s./Nr. (26.12.1828), Art. 18, in: RdL, III, S. 115.
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Wahl der Abgeordneten
zusätzlich ein Extra-Kapitel mit strafrechtlichen Bestimmungen ein, das aus drei Artikeln bestand, die alle ohne weitere Diskussion auf Vorschlag von Peguero verabschiedet worden waren. Bemerkenswert ist insbesondere der Artikel 71, nach dem „das vorliegende Gesetz die mit seiner Ausführung vertrauten Autoritäten persönlich verantwortlich macht für dessen genaueste Erfüllung in all seinen Teilen; und jede Verfehlung, die sie begehen oder autorisieren ... wird bestraft“, und zwar je nach Schwere mit bis zu fünf Jahren Verlust der Anstellung. Eine „autoridad competente“ 321 – vermutlich ein Gericht – hatte darüber gemäß den Gesetzen zu befinden.322 Das vierte und fünfte Wahlgesetz (1831 und 1832) legten eine entsprechende Verantwortlichkeit der Präfekte und der „übrigen Autoritäten“ 323 fest: Die Strafe war hier ausdrücklich durch Richter auszusprechen und bestand ohne Abstufung in der dauerhaften Absetzung von den Ämtern, weitere Strafen konnten hinzukommen. Der Kongress diskutierte diese Maßnahme dann erst 1832, als Manuel Alvires das als „sehr harte Strafe“324 bezeichnete und allerdings vergeblich eine Graduierung nach der Schwere des Vergehens forderte. Die Sonderbehandlung der Autoritäten verweist auf die ihnen von den Abgeordneten zugedachte besondere Verantwortung. Für die „übrigen Gesetzesbrecher“325 hielten beide Gesetze (1831 und 1832) einen eigenen, stark differenzierten Katalog vor. Noch im dritten Wahlgesetz (1829) war die Regierung, und bezeichnenderweise nicht ein Gericht, befähigt worden, allen Gesetzesbrechern ohne Unterscheidung Strafen von bis zu 200 Pesos aufzuerlegen, die potentiellen Vergehen des Junta-Präsidenten fanden allerdings auch hier eine gesonderte Erwähnung.326 Erstmalig wurde hier auch ausdrücklich – wohl auf Grund der Erfahrungen – die mehrfache Stimmabgabe unter Strafe gestellt: Der Junta-Präsident sollte dann zwischen fünf und 50 Pesos Strafe verhängen, diese seien dem beweisenden Denunzianten auszuzahlen. Peguero hatte vergeblich auf die Schwierigkeit der Beweisführung hingewiesen und besonders darauf, dass die vorherrschende Parteiung dieses Gesetz
321 Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 71, in: RdL, II, S. 92. 322 Vgl. auch Sitzungen vom 27. u. 28.03.1827 (c. 5, e. 2); Außerordentliche Sitzung vom 27.03.1827 (c. 5, e. 2). 323 Dekret Nr. 83 (08.03.1831) / Art. 6, in: RdL, IV, S. 100; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 66, in: RdL, V, S. 50. 324 Sitzung Nr. 51 vom 10.07.1832 (c. 16, s./e. 1). 325 Dekret Nr. 83 (08.03.1831) / Art. 7, in: RdL, IV, S. 101; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 67, in: RdL, V, S. 50. 326 Vgl. Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 60, in: RdL, III, S. 120. Gemäß den beiden folgenden Artikeln hatten entweder der Präsident der jeweiligen Junta oder, wenn dieser betroffen, die Sekretäre und Auszähler die Gesetzesbrüche zu melden.
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instrumentalisieren könne. José Antonio Pérez Gil entgegnete, dass dies „im Beisein von Vielen“327 kaum möglich sei. Erst das vierte beziehungsweise fünfte Wahlgesetz definierte nach der vorherigen Vagheit eindeutig und zusammenfassend, wann eine Wahl als nichtig zu gelten hatte: In drei Fällen war demnach die Wahl des gewählten Individuums ungültig, und zwar a) wenn der Gewählte die geforderten Eigenschaften des passiven Wahlberechtigung nicht erfüllte, b) wenn die gewinnbringende Mehrheit durch nichtberechtigte Wähler, und c) wenn die Wahl durch Zwang und Bestechung zu Stande kam. Eine Neuigkeit stellte der vierte Fall dar: Die Wahl der gesamten Junta war nichtig bei Verstößen gegen die neuen, unten zu behandelnden Auflagen bei der Bildung der Mesa und nach dem fünften Gesetz zudem, wenn die Wähler nicht ordnungsgemäß im ebenfalls gleich dargestellten Wählerverzeichnis erfasst waren beziehungsweise wenn sie nicht ihre Wahlscheine zugeteilt bekommen hatten. Raphael Gómez de la Puente hielt diese Bestrafung für zu schwerwiegend, da dies nicht ein Fehler der „Staatsbürger, die wählen, sondern der Autorität“ sei, und da es sich nicht um einen „substanziellen“ Fehler handle. Dem erwiderten Rivas beziehungsweise Peguero, es sei sehr wohl ein Fehler der Wähler, wenn sie sich nicht um die Eintragung in das Verzeichnis kümmern beziehungsweise, dass dieses Verantwortungsbewusstsein „eine notwendige Requisite“ sei. Auch bei weiteren Vergehen versuchte insbesondere Raphael Gómez de la Puente 1832 Abschwächungen und Einzelfallentscheidungen einzubringen: Er fragte, was passiere, wenn einer „beispielsweise die vom Gesetz geforderte [Dauer der] Vecindad lediglich um ein oder zwei Tage verfehlt“? Peguero und Rivas setzten sich dagegen jeweils erfolgreich durch, indem sie einen eindeutigen Schutz des Verfahrens und die Verantwortung aller Beteiligten einforderten: Das Festschreiben der Auflagen „im selben Gesetz wird als Bremse dienen, damit die Autoritäten nicht ihre Befugnisse überschreiten, und damit die Ciudadanos nicht gegenüber ihren Pflichten fehlen“328. So sollten also nicht nur die örtlichen Autoritäten, sondern auch die wählenden Ciudadanos mehr Verantwortung übernehmen. Für selbst zu verantwortende Verfehlungen konnten sie nun strafrechtlich belangt werden. Neben dieser Schaffung von Transparenz und Eindeutigkeit war neu, dass die Abgeordneten den Kongress für alle Nichtigkeitserklärungen als letzte In327 Sitzung Nr. 107 vom 18.07.1828 (c. 8, e. 1); Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 63, in: RdL, III, S. 121. 328 Sitzung Nr. 50 vom 09.07.1832 (c. 16, s./e. 1). Vgl. zu den kaum vorhandenen Diskussionen des „strafrechtlichen Teils“ des vierten Wahlgesetzes, in denen die Vorschläge der Kommission meist ohne weiteres übernommen wurden: Sitzung vom 19.02.1831 (c. 12, e. 2); Sitzungen vom 21. u. 25.02.1831 (c. 12, e. 2); lediglich die Erhöhung der Strafen wurde – erfolgreich – eingefordert; vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 19 vom 20.08.1830 (c. 11, e. 3).
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stanz installierten: Gegen die Entscheidungen der Juntas konnte jeder Staatsbürger Widerspruch einlegen und zwar gleich, ob dies Tatsachen- oder Rechtsentscheide waren. Das frühere Konfliktpotential sollte auf diese Weise beseitigt werden und zwar auch in den Fällen, in denen vorher die Juntas „ohne Einspruchsmöglichkeit verhandelt haben sollten“ 329 . Den Konflikt und die angesprochene „Konfusion“ zwischen Juntas und Kongress lösten die Gesetzgeber auf diese Weise zu Gunsten der Zentrale auf.330 Der umfassende Kompetenzanspruch des Kongresses als Souverän zeigt sich an dieser Stelle erneut und wurde gesetzlich verankert, und zwar trotz des Hinweises der Regierung, dass so der Eindruck entstehen könne, „dass der Ehrenwerte Kongress die Electores kreiert“331, dass er also selbst bestimmenden Einfluss auf die Auswahl der Repräsentanten nahm. Den Juntas als Vertreter der Souveränität der Pueblos war diese Aufgabe offensichtlich nicht anzuvertrauen. Die oben aufgelistete Bestrafung hatte nach dieser Regelung ein Richter umzusetzen. So wurde einerseits sowohl von den örtlichen Autoritäten als auch insbesondere von den Wählern selbst eine höhere Verantwortung für den korrekten Verlauf der Wahlen eingefordert, die Juntas hingegen in ihrem Einfluss beschränkt. So fand der Kompetenzentzug nicht nur durch Zentralisierung statt, sondern auch durch Individualisierung und durch eine stärkere gesetzliche Strukturierung. Somit kommen wir zum zweiten großen Unterschied zwischen dem ersten, von externen Quellen beeinflussten Wahlgesetz von 1825 und seinen Nachfolgern: die intensivere Strukturierung der Juntas primarias. Auffällig ist beim Vergleich insbesondere, dass sowohl für die Juntas secundarias als auch für die Junta del estado sich mit wenigen Ausnahmen eine Konstanz erkennen lässt. Die Ausnahmen beziehen sich zum einen auf genauere Regeln zur Bestimmung von Mehrheiten332, zum anderen auf die Einrichtung der Mesa in der Junta secundaria: Ab dem zweiten Wahlgesetz wählte sich die Versammlung ihren Präsidenten selbst – vorher war es der ortsansässige Alcalde gewesen –, ab dem dritten hatte dafür
329 Dekret Nr. 83 (08.03.1831) / Art. 2, in: RdL, IV, S. 100. 330 Sitzung Nr. 42 vom 02.10.1828 (c. 9, e. 1). 331 So formulierte es ein Regierungssprecher in: Außerordentliche Sitzung Nr. 43 vom 04.10.1828 (c. 9, e. 1). 332 So regelten die folgenden Gesetze genauer, was bei einem Patt zu geschehen habe und wann Stichwahlen stattzufinden hatten; vgl. bspw. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 47, in: RdL, II, S. 88f.; Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 39, in: RdL, III, S. 118. Für die staatliche Versammlung regelten sie genauer das Prozedere, wann Dreiviertel-Mehrheiten erforderlich waren; vgl. bspw. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 62, in: RdL, II, S. 90f.; wesentlich ausführlicher: Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 50, in: RdL, IV, S. 97.
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eine Mindestanzahl an Wahlmännern anwesend zu sein. 333 Hingegen standen die Juntas primarias bei jeder Diskussion über ein neues Wahlgesetz im Fokus, die von den Abgeordneten so wahrgenommene Reformbedürftigkeit steigerte sich also von oben nach unten. Auf den folgenden Seiten sollen dem ersten Wahlgesetz von 1825 insbesondere die beiden letzten des Zeitraums von 1831 und 1832 gegenübergestellt werden, die Reformen und Debatten des zweiten und dritten Gesetzes fließen zur Ergänzung mit ein. Zwei zentrale Reformmaßnahmen lassen sich unterscheiden: die Ausgabe von Wahlscheinen (Boletas) an die Primärwähler und neue Verfahren zur Besetzung der Mesa. Auch hier wird eine Abkehr von den gaditanischen Vorgaben deutlich erkennbar. Die Einführung von Wahlscheinen hatte Aragón bereits 1827 im ersten Kongress vorgeschlagen. Dieses Instrument hatte es weder in Cádiz noch im Mexiko vor 1824 gegeben, in einigen Staaten des Deutschen Bundes wurde es ebenfalls in den 1820er Jahren eingeführt. 334 Die Boletas galten als „Klassifikation derjenigen, die wählen sollen“335, und als solche verbanden sich mit den Scheinen in den folgenden Jahren unterschiedliche Hoffnungen. Bezüglich des Vorschlags von Aragón war 1827 aber letztlich das pragmatische Argument der das Wahlgesetz bearbeitenden Kommission ausschlaggebend: Wie die Mehrheit „verneine sie nicht die Vorteile“, wegen „der Kürze der Zeit“ aber sei „eine solch komplizierte Operation“336 nicht durchführbar. Als Kompromiss einigte sich der erste Kongress schließlich darauf, die Boletas zunächst nur in der Hauptstadt einzuführen.337 Ob diese Reform allerdings umgesetzt wurde, ist fraglich, in der obigen Beschreibung der Wahlen von Valladolid 1827 finden sich jedenfalls hierfür keine Anzeichen. Für das dritte Wahlgesetz (1829), das in Vielem dem ersten glich,338 nahm man diese Reform wieder aus dem Gesetz heraus: Peguero hatte sie, wie bereits zitiert, zwar als notwendig gegen Mehrfachwahlen in die Diskussion eingebracht. Silva lehnte sie jedoch aus pragmatischen Gründen ab – zu großer Aufwand für zu wenig Zeit – und fügte hinzu „niemals würde man den stören, der durch dieses Mittel skandalöserweise das Gesetz
333 Vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 39, in: RdL, II, S. 87 bzw. Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 38, in: RdL, III, S. 118. 334 Vgl. zu Baden: Hörner: Wahlen, S. 115; zu den „Stimmfähigkeitskarten“ in Berlin: Pahlmann: Anfänge, S. 78. 335 So Peguero im zweiten Kongress zur Bewertung dieser Maßnahme: Sitzung Nr. 105 vom 16.07.1828 (c. 8, e. 1). 336 Sitzung vom 15.03.1827 (c. 3, e. 6). 337 Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 20-26 u. 29, in: RdL, II, S. 85f. 338 Vgl. zur insgesamt sehr schnellen Diskussion des dritten Gesetzes: Sitzungen Nr. 57, 59 u. 60 vom 21., 23. u. 24.10.1828 (c. 9, e. 1).
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bricht“. Auch Pérez Gil war der Meinung, dass „dies zu keiner anderen Sache führen könne, als die Bosheit anzustoßen, damit sie die Intrige aktiviere“339. Auch bei der Einführung der Boletas für den gesamten Staat im vierten beziehungsweise im fünften Wahlgesetz diskutierten die Abgeordneten diese Maßnahme kaum.340 So soll anhand der beiden Gesetze zunächst das Prozedere skizziert werden, um dann die Bewertung der Abgeordneten in den Blick zu nehmen: Zeitlich vor der Ausgabe der Boletas sollte ein Verzeichnis aller wahlberechtigten Bürger erstellt werden: Der Kreis der Wähler sollte vor der Wahl eindeutig festgestellt werden. Dazu sollten die zuständigen Funktionäre – 1831 waren das die Präfekte, Subpräfekte und die Präsidenten der Ayuntamientos, 1832 von ihnen beauftragte ansässige Kommissionäre – alle Berechtigten in alphabetischer Reihenfolge in Wählerverzeichnissen auflisten und diese Listen dann mindestens acht Tage vor der Wahl öffentlich aushängen. 341 1831 sollten sie ferner je nach Berechtigung als Wahlberechtigte, als mögliche Electores primarios beziehungsweise Electores secundarios eingestuft werden. Anhand der publizierten Listen sollten die entsprechenden Personen dann vor den erwähnten Funktionären ihr Fehlen oder die nicht korrekte Zuordnung auf den Listen reklamieren (können). Dies war zuvor eine Kompetenz der Wahlversammlungen gewesen, auch einen Minderheitenschutz hatte es zuvor nicht gegeben. Die Autoritäten hatten in einem Eilverfahren zu entscheiden. Nach dem vierten Gesetz hatte dann in erster Instanz und „für dieses eine Mal“ der jeweilige Alcalde die Reklamation zu entscheiden. Gegen diesen Entscheid konnte jetzt Einspruch erhoben werden, der in einem ordentlichen Verfahren zu behandeln war. 342 Das fünfte Gesetz sah eine Reklamation bei den genannten Kommissionären bis zwölf Uhr am Tag vor der Wahl vor. Wenn diese nach Prüfung die Ausgabe der Boleta verweigerten, war eine Beschwerde vor den lokalen Autoritäten möglich. 343 Peguero fürchtete zwar eine hohe Fehlerquote bei den Kommissionären, ließ sich aber durch Rivas überzeugen, dass man diesem Fehlerpotential durch die Veröffentlichungspflicht und die
339 Sitzung Nr. 105 vom 16.07.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. auch das spätere Verwerfen dieser Reform in: Sitzung Nr. 57 vom 21.10.1828 (c. 9, e. 1). 340 Vgl. hierzu: Außerordentliche Sitzung Nr. 9 vom 14.08.1830 (c. 11, e. 3) bzw. Sitzung Nr. 44 u. 45 vom 30.06. u. 02.07.1832 (c. 16, s./e. 1). 341 Vgl. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 6, in: RdL, IV, S. 88. 1832 legte man keine genaue Frist fest, jedoch sollte die Verteilung der Boletas acht Tage vor der Wahl abgeschlossen sein; vgl. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 10, in: RdL, V, S. 41. 342 Vgl. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 10, in: RdL, IV, S. 90. 343 Vgl. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 14f., in: RdL, V, S. 41. Dieses Gesetz sah auch entsprechende Beschwerdemöglichkeiten bezüglich der Mesa-Ämter vor; vgl. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 24, in: RdL, V, S. 43.
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Möglichkeit zum Widerspruch begegne.344 Nicht mehr durch die Mehrheit der Junta in einer Ad-hoc-Entscheidung, sondern in einem individuellen Verfahren mit Einspruchsmöglichkeit sollte nunmehr die Wahlberechtigung geprüft werden. Der individuelle Anspruch wurde außerordentlich gestärkt. Durch die Individualisierung verlor die Versammlung eine zentrale Aufgabe, die einzelnen Wähler waren hingegen nicht mehr der Entscheidung der Junta-Mehrheit ausgesetzt. Das individuelle Wahlrecht erhielt einen höheren Schutz. Nach dem so erfassten und theoretisch genau definierten Wählerkreis mussten die Wähler 1831 die Wahlbescheinigungen bei den erwähnten Funktionären abholen – wie übrigens auch schon 1827 in Valladolid: Dort bildeten der erste Alcalde, der Regidor und der dienstälteste Síndico in der Woche vor der Wahl eine Junta, die an einem öffentlichen Platz sitzen und die Scheine ausgeben sollte. Alle drei hatten die Scheine zu unterzeichnen, deren Ausgabe war in einem Buch zu registrieren. Die Hacendados erhielten zur Verteilung unter den auf ihren Haciendas ansässigen Staatsbürgern eine bestimmte Zahl an Boletas.345 1831 hieß es lediglich, dass die Regierung für die Drucklegung und Verteilung der Boletas über die „erwähnten Autoritäten“ im Staate zuständig sei und dass der Wahlberechtigte sich dann „die Boleta, die das Wahlrecht bescheinigt“, bei diesen abholen sollte.346 Im Jahr darauf, nach dem fünften Wahlgesetz, sollten ausdrücklich die Kommissionäre die Boletas verteilen. Die Begründung für diesen Wandel brachte eine Diskussion drei Monate später über die Verankerung eines diesbezüglichen Artikels in der Verfassung: Der amtierende Präsident Juan Gómez de la Puente forderte die Streichung der Auflage „der Wähler fordert die Wahlbescheinigung an“, da sonst wegen des mangelhaften Espíritu público keiner zu den Wahlen käme. Peguero meinte zunächst, mit diesem Einschub hätte man diesen öffentlichen Geist fördern können, änderte dann jedoch „vollständig seine Meinung“ 347 und stimmte mit Gómez de la Puente überein. Als schließlich angenommener Kompromiss überließ der Kongress diese Frage den Ausführungsgesetzen, regelte sie also nicht dauerhaft in der Verfassung. Auch in anderen atlantischen Regionen suchten die Gesetzgeber nach geeigneten Möglichkeiten der Mobilisierung bei der Bekanntmachung der Wahlen, die bis hin zu persönlichen Besuchen reichte.348 344 345 346 347 348
Sitzung Nr. 45 vom 02.07.1832 (c. 16, s./e. 1). Vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 23, in: RdL, II, S. 85. Vgl. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 7/2 u. 9, in: RdL, IV, S. 89, Zitat Art. 7/2. Sitzung Nr. 48 vom 15.10.1832 (c. 18 , e. 3). So sah man in Berlin neben Aushängen auch persönliche Aufforderungen vor. Allerdings war hier die Wahlberechtigtenquote wesentlich niedriger. In Baden suchten die Organisatoren die Wahlberechtigten zum Teil auch auf, die Ratsglocke wurde geläutet und ab den 1830er Jahren setzten sich dann Annoncen in den Zeitungen durch; vgl. zu Berlin: Pahlmann: Anfänge, S. 78 u. 127; zu Baden: Hörner: Wahlen, S. 113-116.
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Bei der Wahl dienten die Boletas in Michoacán dann als Wahlschein: Auf ihrer Rückseite sollten die, die schreiben konnten, die Namen der von ihnen gewählten Personen verzeichnen und dann diese „Liste auf dem Tisch“349, also vor den Wahlorganisatoren, unterschreiben. Die, die des Schreibens nicht mächtig waren, hatten ihre Auswahl dem Sekretär zu nennen, der sie dann als Verantwortlicher auf der Rückseite der Boleta vermerkte. So „vermeide man die heimliche Einführung von Listen“350 – damit hatte Aragón schon bei seinem ersten Vorschlag 1827 argumentiert. Solche Kandidatenlisten waren, wie gesehen, als Gefährdung der Wahlfreiheit wahrgenommen worden. Der erste Wahlprüfer sollte dann die Boletas entgegennehmen, der zweite den Namen des Wählers mit dem Wählerverzeichnis abgleichen und in diesem „ein Zeichen machen, das zeigt, dass er gewählt habe“351. Alle Wahlscheine waren dann zu Überprüfungszwecken zusammen mit dem Wählerverzeichnis und dem Protokoll an die Junta secundaria zu senden. 352 Durch die klare Definition der Wähler jedes Wahlkreises sollten aber auch mehrfache Stimmabgaben verhindert werden. Manuel Chávez hatte schon 1827 davon gesprochen, dass man so im vornherein wisse, wer wahlberechtigt sei. Zincunegui begründete die Annahme der Boletas mit der durch „die Übel bestätigten Erfahrungen, die sich als Ergebnisse der Intrige zeigten“: „Da in den letzten Wahlen nicht die wahren Staatsbürger gewählt haben ... glaubt die Kommission, dass die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, der vorgeschlagene Weg ist“. Ferner erhofften die Gesetzgeber, so die Wahlbeteiligung steigern zu können, da die Verteilung der Scheine durch die Ayuntamientos „den Espíritu público belebt“. González sprach allgemein von den „guten Effekten“ 353 . Somit erscheint die Einführung der Wahlscheine als Lösung für viele negative Erfahrungen. Die Aufteilung „bevölkerungsreicher“ Gemeinden in unterschiedliche Wahlkreise hatte man aus Befürchtungen mehrfacher Stimmabgaben noch aus dem zweiten Wahlgesetz (1827) herausgenommen.354 Auch diese Befürchtung war mit der Einführung von Boletas und Wählerverzeichnissen nun (theoretisch) beseitigt: Jeder konnte mit seinem Wahlschein wählen – und er konnte es nur einmal. In diesem Sinne 349 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 25, in: RdL, IV, S. 93 bzw. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 34, in: RdL, V, S. 44. 350 Sitzung vom 16.03.1827 (c. 3, e. 6). 351 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 24, in: RdL, IV, S. 93 bzw. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 33, in: RdL, V, S. 44. 352 Vgl. insgesamt hierzu: Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 6-10, 25 u. 28, in: RdL, IV, S. 88-90 u. 93 bzw. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 10-16, 23f., 34 u. 36, in: RdL, V, S. 41-45. 353 Sitzung vom 21.03.1827 (c. 5, e. 2). 354 Vgl. Sitzung vom 14.03.1827 (c. 3, e. 6); zur Nicht-Regelung im zweiten Gesetz vgl. das Kapitel Juntas primarias: Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 8-35, in: RdL, II, S. 83-87.
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konnten das vierte und fünfte Wahlgesetz auch die Einteilung in Wahlkreise wieder einführen.355 Ob die Gesetzgeber mit der Wahlkreiseinteilung lange Wahlzeiten, wie man sie 1827 in Valladolid beobachten konnte, verhindern wollten, bleibt vor dem Hintergrund der Kritik an diesem Verfahren zu vermuten. In beiden Gesetzen wurde die Aufteilung im Unterschied zu 1825, wo sie ja den örtlichen Autoritäten anheim gestellt worden war, verpflichtend: Die lokalen Autoritäten hatten ihre „Siedlungen ... in so viele Sektionen“356 zu unterteilen, dass in einer maximal 400 Ciudadanos (1831) wählen beziehungsweise maximal fünf Electores primarios gewählt werden konnten (1832). 357 Entsprechend waren die aktiv Wahlberechtigten ihrem Wahlkreis zuzuteilen. Die Zuteilung erfolgte gemäß dem vierten Wahlgesetz nach der Erstellung des Wählerverzeichnisses der gesamten Gemeinde, nach dem fünften erstellten die oben genannten Kommissionäre das Wählerverzeichnis für jede Sektion einzeln. 358 Somit war die Wahlkreiseinteilung zwar immer noch lokalen Autoritäten überlassen, erhielt allerdings genaue und verbindliche gesetzliche Vorgaben. Sie löste sich damit von den Gemeindestrukturen ab und orientierte sich an Grenzen, die positiv gesetzt waren und sich an der Praktikabilität orientierten. Die Einteilung sollte ausdrücklich über einen „feierlichen Aushang“ publik gemacht werden, „damit jeder Ciudadano der Sektion erfährt, in welcher [Sektion] er wählen soll, und damit er das in keiner anderen machen kann“359 Nach Einschätzung der Mehrheit hatte sich 1832 die Institution der Boletas dermaßen bewährt, dass sie Verfassungsrang erhielt: Peguero, der vormalige Skeptiker gegen diese Reform, urteilte, dass sie sich „in den letzten Wahlen als gut erwiesen [hatten], da sie deren Freiheit sichert[en]“. Nach ihm hatte „die Erfahrung gezeigt, dass dies das Mittel ist, mit dem die großen Missbräuche bei den Wahlen beschnitten wurden, und um zu verhindern, dass sie sich wiederholen, sollte es verfassungsrechtlich verankert werden“. Außerdem müsse man in der Verfassung „nach Montesquieu ... den Wahlmodus fixieren“ 360 . Noch 1827 hatte er, zusammen mit einem Regierungsredner, gegen diese Einführung 355 Zu der kaum diskutierten Wiedereinführung vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 10 vom 15.08.1830 (c. 11, e. 3) bzw. Sitzung Nr. 44 vom 30.06.1832 (c. 16, s./e. 1). 356 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 14, in: RdL, IV, S. 90f. bzw. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 9, in: RdL, V, S. 41. 357 Das dritte Gesetz übernahm auch hier die Regelung aus dem ersten; vgl. Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 15, in: RdL, III, S. 114. Zur Umsetzung der Aufteilung vgl. oben. 358 Vgl. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 14f., in: RdL, IV, S. 90f. bzw. Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 11, in: RdL, V, S. 41. 359 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 15, in: RdL, IV, S. 91. 360 Sitzung Nr. 43 vom 09.10.1832 (c. 18 , e. 3).
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argumentiert. Sie hatten damals gemeint, dass so die „Freiheit der Ciudadanos“361 eingeschränkt werde, da sie sich vor Ausgabe der Boletas der Prüfung ihrer Person unterwerfen müssten. Nach Peguero hätten sie außerdem leicht missbraucht werden können: So „öffne sich die Tür zur Intrige weiter“ 362 , der Redner wies zudem auf die hohen Kosten hin.363 Jetzt, 1831 beziehungsweise 1832, schienen die positiven Effekte die negativen deutlich zu überwiegen. Auch in der Zeitung sprach man von den „freiesten Wahlen“ und davon, dass „man über die Verteilung der Stimmen fast aller Boletas erkannte, dass keine Partidos gebildet wurden, dass es keine vorweggenommenen Komplotte gab“364. Die zentralen Vorwürfe schienen damit entkräftet. Die Boletas waren ab jetzt gemäß Verfassungsänderung als Wahlberechtigungsausweise bei der Wahl in den Juntas primarias vorzuzeigen.365 Die Verwendung der Boletas als Wahlscheine wurde zwar nicht konstitutionell verankert, aber auch hier klang die mehrheitlich positive Wertschätzung durch: Nach Gómez de la Puente „verhindere [diese Verwendung] den Missbrauch, die andere Male die Intriganten zum Gewinnen der Abstimmung nutzten“, nach Peguero sei so sicher gestellt worden, dass „jeder für sich wählt“366. In der Abstimmung reichten neun zu fünf Stimmen nicht für die erforderliche, verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Trotzdem galten die Boletas der Mehrzahl als Garantie für freie, individuelle Wahlen, nachdem sowohl die Wahl per Listen als auch die mündliche in Misskredit geraten waren. Das Urteil über die Einführung der Boletas fällt somit trotz anfänglicher Bedenken sehr positiv aus – ein Wandel, der vor allem an Peguero gut nachvollziehbar ist. Die Reformfähigkeit der Gesetzgeber erwies sich als den Problemen angemessen. Einerseits wurde so der Wählerkreis besser kalkulierbar, womit sich die Junta primaria den beiden anderen Junta-Ebenen annäherte. Andererseits verlor die Wahlversammlung nach dem Verlust der Urteilskompetenz einen weiteren Teil ihres kommunalistischen Charakters. Dies wird weiter zu verfolgen sein. Aus der Perspektive der Wähler steigerte sich die Rechtssicherheit weiter: Nicht mehr die Junta-Mehrheit entschied über das grundlegende staatsbürgerliche Wahlrecht, sondern externe Instanzen mit der Möglichkeit zum Einspruch. Auch die Transparenz wurde deutlich gesteigert. Die vermeintliche Bevormundung und Fälschung des Wählerwillens durch
361 362 363 364 365 366
Sitzung vom 28.02.1827 (c. 3, e. 6); vgl. auch: Sitzung vom 21.03.1827 (c. 5, e. 2). Sitzung vom 28.02.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung vom 21.03.1827 (c. 5, e. 2). Michoacano libre Nr. 23 (21.04.1831), II, S. 90. Vgl. Dekret Nr. 69 (27.12.1832) / Art. 22, in: RdL, V, S. 86. Sitzung Nr. 43 vom 09.10.1832 (c. 18 , e. 3).
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Faktionen und Wahllisten sollten durch die Boletas ebenfalls bekämpft werden. Der individuelle Charakter der Wahlen wurde gestärkt. Die neben den Wahlscheinen zweite zentrale Reformmaßnahme bezüglich der Juntas primarias bezieht sich auf die Organisation der Wahltische, der Mesas. Wie bei den Wahlpraktiken und der Einschätzung durch die Abgeordneten gesehen, galt deren Eroberung als wesentliche Voraussetzung für einen erwünschten Wahlausgang und als ein Vergehen, das insbesondere Faktionen unterstellt wurde. Das erste Wahlgesetz hatte hierzu neben der Festlegung der Präsidentschaft beim ersten Alcalde lediglich einen Artikel vorgesehen: Nach diesem hatten die „vereinigten Ciudadanos“ unter den Anwesenden den Sekretär und die zwei Wahlprüfer mit absoluter Mehrheit in namentlicher Abstimmung zu wählen. Allein die Anzahl der Artikel stieg über drei (1827), zehn367 (1831) auf elf im fünften Wahlgesetz (1832), womit die Bestimmung der Mesa dann umfassender geregelt war als die eigentliche Wahl der Electores primarios. Das dritte Wahlgesetz (1829) orientierte sich auch in diesem Aspekt stark am ersten. Den ersten Vorschlag für „einen neuen Artikel“ im zweiten Wahlgesetz hatte die Kommission nach eigener Auskunft „mit dem Ziel [beraten], die Intrige möglichst zu beseitigen, die in diesem Punkt bezogen auf die Einführung von Listen eine größere Rolle [ge]spielt“ hatte. Der Vorschlag sah vor, dass die Wahlorganisatoren schreiben können mussten. Auf Nachfrage führte Zincunegui als Kommissionsmitglied aus, dass die Kommission „sich mit jenen Punkten auseinander[ge]setzt [hatte], in denen die Erfahrung bewiesen habe“, dass eine Erneuerung „notwendig sei“. Gleichzeitig musste er aber zugeben, dass in diesem „Fall das vorgeschlagene Mittel das Übel nicht vollständig beseitigt, wenigstens [aber] ein gewisser Schutz vor der Intrige wäre“. Wieder sollte Bildung, hier in Form des Schreiben-Könnens, vor der Malicia humana schützen. Dem Kongress ging die Reform jedoch nicht weit genug, insbesondere bezüglich des Teils – wie González ihn nannte –, der sich darauf „bezieht, dass ein Partido, das frühzeitig erscheine, sich der Mesa bemächtige und so in den Wahlen triumphiere“. Es war wohl gängige Praxis – hier wird das wieder deutlich –, dass die Wahlberechtigten nicht, wie nach dem Wahlgesetz von 1825 vorgesehen, gleichzeitig nach dem gemeinsamen Kirchenbesuch erschienen. Aragón brachte daraufhin seinen alten Vorschlag ein, der einen festgelegten Beginn und die Wahl der Wahlorganisatoren per Stimmzettel vorsah. So „halte man eher die Intrige fern“. Mateo Echaíz fragte zusätzlich, ob man nicht auch ein Losverfahren einführen könnte. Mögliche Bedenken, das Volk hätte dann keinen Einfluss mehr auf den Ausgang der Wahl, begegnete er 367 Zu den sieben Artikeln des Wahlgesetzes wurden drei mit Ausführungen zum Zensus später per Dekret hinzugefügt.
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mit einem oben schon zitierten Analogieschluss zur Wahl des Gouverneurs: Auch sie „hört nicht auf, populär zu sein“, obwohl ihn schließlich der Kongress wählte. Vorher habe aber das Volk die entscheidende Vorauswahl getroffen, da ja das „Volk oder die Junta electoral del estado“ drei Kandidaten vorschlage. Der Regierungsredner hielt den Vorschlag von Aragón für „vernünftig“, der der Kommission „hingegen beseitigt das Übel nicht“. Außerdem „durchkreuze dieser absolut das Populäre“368. Daraufhin schickte der Kongress den Artikel zur Reform an die Kommission zurück. Die Kommission nahm sich der Kritik an und schlug zehn Tage später eine ohne weitere Diskussion verabschiedete Regelung vor. Danach sollte der Präsident der Mesa, also der Alcalde, um acht Uhr morgens erscheinen. Sobald mindestens 16 Ciudadanos anwesend waren, sollten diese nacheinander und mündlich die in Frage kommenden Personen – die jetzt lesen und schreiben können mussten – für die Posten des Sekretärs und der Wahlprüfer wählen. In Siedlungen mit unter 4.000 Seelen waren so fünf, in denen mit bis zu 8.000 zehn beziehungsweise in denen mit mehr als 8.000 Seelen zwanzig Personen zu bestimmen. Nach maximal einer weiteren Stunde musste der Präsident aus dieser Anzahl an Personen einen Sekretär und je nach Bevölkerungszahl zwei, drei beziehungsweise vier Wahlprüfer auslosen.369 Durch die Loskomponente sollte die einseitige Besetzung der Mesa durch eine Faktion weitgehend ausgeschlossen werden. Die Erhöhung der Anzahl der Wahlprüfer in bevölkerungsreichen Siedlungen – 1827 hatte die neue Wahlkreiseinteilung ja noch nicht stattgefunden – wurde nicht kommentiert, sollte aber vermutlich der Beschleunigung der Auszählung dienen. Nach einer nicht überlieferten, „ausführlichen Diskussion“ 370 , einer namentlichen Abstimmung und einem darauffolgenden, nochmaligen Reformvorschlag der Kommission ergänzten die Abgeordneten noch, dass bei einem rechtmäßigen Fehlen eines der Ausgelosten derjenige ins Amt nachrückt, der nach diesem am meisten Stimmen erhalten hatte – so sollte eine nochmalige Auslosung vermieden werden.371 Im dritten Wahlgesetz (1829) wurden wie bei anderen Maßnahmen auch fast alle Reformen wieder rückgängig gemacht. Lediglich eine Mindestzahl an versammelten Personen, die zur Wahl der Mesa notwendig ist, diesmal statt 16 zwölf, wurde beibehalten. Eine solche Festlegung hatte das erste Wahlgesetz noch nicht getroffen und dies mit dem Zweifel begründet, ob denn „zu einer
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Sitzung vom 14.03.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. Sitzung vom 23.03.1827 (c. 5, e. 2). Sitzung vom 05.04.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. Außerordentliche Sitzung vom 05.04.1827 (c. 5, e. 2); vgl. zur rechtlichen Regelung: Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 14-16, in: RdL, II, S. 83f.
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bestimmten Zeit“372 – wie es ein Gesetzesentwurf der Regierung ausdrückte – eine ausreichend große Anzahl an Bürgern zu versammeln sei. Neu war hingegen 1829, dass der Präsident auch von der Junta primaria selbst gewählt werden durfte, womit die Regelungen der oberen Juntas übernommen wurden.373 Für das vierte Wahlgesetz nahm man die Regelung bezüglich des Präsidenten allerdings wieder zurück. Eine einschneidende Neuerung in diesem Gesetz hingegen war die Einführung eines Zensus von 200 bis 500 Pesos (je nach Einwohnerzahl) für die Mesa-Ämter des Sekretärs und Wahlprüfers, wie sie im vorherigen Kapitel dargestellt wurde. Damit sollte der Kreis auf vermeintlich ordnungsliebende, integere und vertrauenswürdige Personen eingeschränkt werden. Diese Reform zog weitere verfahrenstechnische nach sich: So hatten die die Wahl organisierenden Autoritäten (Prefectos, Subprefectos, Ayuntamiento-Vorsitzende und Stellvertreter) neben der Liste der Wahlberechtigten (s.o.) bis drei Tage vor der Wahl eine weitere mit denjenigen Personen zu veröffentlichen, die die Zensus-Auflagen erfüllen. Diese wurden dann an die Mesa-Präsidenten gesandt, „damit nur unter jenen die Wahl läuft“374. Die Namen der wählbaren Personen waren dann „auf Zetteln mit ausreichend großen Buchstaben [zu schreiben], damit sie von den Zusammenkommenden gelesen werden können, auch wenn sie sich in einiger Entfernung vom Wahltisch aufhalten“375. Weiter hieß es dann: Um acht Uhr am Wahltag mit mindestens zwölf Ciudadanos „schreite man zur Bildung der Junta“376: Nach dem Verlesen der einschlägigen Kapitel des Wahlgesetzes legte der Präsident dazu die obigen Namenszettel, also die Namen der Personen, die die Zensusauflagen erfüllten, in eine Urne und verlas sie währenddessen laut. Danach sollte er neun Karten auslosen und die entsprechenden Namen wieder vorlesen: Diese standen dann zur Wahl. Dann traten die Anwesenden jeder einzeln an den Tisch heran und verkündete mit „lauter Stimme“ 377 dem Präsidenten seine Wahl. Fehlte einer der Gewählten mit einer von den Anwesenden als legitim anerkannten Entschuldigung, sollte aus dem Kreis der restlichen neun Ausgelosten ein Ersatz 372 Außerordentliche Sitzung vom 11.08.1824, in: AyD, I, S. 212. 373 In der vorliegenden Ausgabe des Gesetzes fehlt zwar dieser Einschub. Da er im Kongress allerdings eindeutig beschlossen wurde, ist dies als ein Schreibfehler zu werten; außerdem verweist ein anderer Artikel auf die Wahl des Präsidenten; vgl. Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 14 bzw. 17, in: RdL, III, S. 114 bzw. 115; Sitzung Nr. 71 vom 08.11.1828 (c. 9, e. 1). 374 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 18, in: RdL, IV, S. 92. 375 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 19, in: RdL, IV, S. 92. 376 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 20, in: RdL, IV, S. 92. 377 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 22, in: RdL, IV, S. 92.
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gewählt werden. Der Präsident hatte dann dem gewählten Sekretär und den beiden Prüfern Bescheid zu geben, damit sie zur Junta hinzukommen – wiederum ein Indiz dafür, dass meistens nicht alle gleichzeitig erschienen. Wie schon ausgeführt, erhielt die ordnungsgetreue Organisation der Mesa einen so hohen Stellenwert, dass etwaige Vergehen mit der Annullierung der kompletten Wahl bestraft wurden. Für das fünfte Wahlgesetz übernahmen die Abgeordneten die Grundstruktur des vierten und reformierten es lediglich in Einzelaspekten, die alle auf eine gesunkene Wahlbereitschaft hinweisen und gleichzeitig auf die Intention, diese (wieder) zu erhöhen: So sollten alle für die Mesa-Ämter wählbaren Personen bereits um acht Uhr zusammen mit dem Präsidenten anwesend sein; war das nicht der Fall, hatten sie zur Strafe drei bis sechs Pesos an den Staatshaushalt zu zahlen. Rivas bezeichnete die Anwesenheit als Ehrensache, weswegen auch die Militärs die Strafe zu zahlen hätten.378 Diese sollten in dem Wahlbezirk, in dem sie stationiert waren, wählen, „auch wenn sie Vecinos von einem anderen sind“379. Wenn „sich um zehn Uhr nicht zwölf Ciudadanos haben vereinigen können“ 380 , sollte die Wahl des Wahlvorstandes auch begonnen werden, wenn neben dem Präsidenten mindestens fünf Personen zugegen waren. 381 Zum weiteren Schutz wurde weiterhin festgelegt, dass ein von den Anwesenden gewähltes „Individuum“382 und nicht mehr der Mesa-Präsident die Auslosung übernehmen sollte. Vergleicht man nun also abschließend das Wahlgesetz von 1825 mit seinen Nachfolgern, so fällt auf, dass die Institution der Junta primaria fast komplett reformiert wurde. Ausnahmen vom Reformimpetus bildeten lediglich einige konstitutionelle Artikel bezüglich der Wahlberechtigung und der Proportionalität zur Bevölkerung sowie einige grundsätzliche Verfahrensfragen wie die Protokollpflicht und die Ausstellung von Wahlbescheinigungen. Eine auffällige Tendenz ist dabei die präzisere Strukturierung der Wahlversammlungen: Sie ist bei der Erfassung der Wähler durch Wählerverzeichnis und Boletas ebenso zu beobachten wie bei den genaueren Instruktionen für die Wahlkreiseinteilung und den minutiösen Vorgaben für die Wahl der Mesa-Ämter. Diese Präzisierung soll anhand der gesetzlichen Zeitangaben nochmals im Überblick verdeutlicht werden: Während, wie gesehen, im Gesetz von 1825 für 378 Vgl. Sitzung Nr. 46 vom 04.07.1832 (c. 16, s./e. 1); Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 26, in: RdL, V, S. 43. 379 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 32, in: RdL, V, S. 44. 380 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 27, in: RdL, V, S. 43. 381 Vgl. auch: Sitzung Nr. 44 vom 30.06.1832 (c. 16, s./e. 1). 382 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 29, in: RdL, V, S. 43f.
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die Juntas primarias noch keine zeitlichen Vorgaben außerhalb der Angabe des Wahltages gemacht wurden, häuften sich diese in den späteren Gesetzen: Im zweiten Gesetz wurde der Beginn des Gottesdienstes auf sieben Uhr, der Beginn der Wahl auf acht Uhr und die Wahl der Mesa auf eine Stunde angesetzt. Trotz eines entsprechenden Vorschlages wurde allerdings keine Uhrzeit für das Ende bestimmt. Die Mehrzahl der Abgeordneten befürchtete, dass auf diese Weise viele vom Wählen ausgeschlossen bleiben könnten. Zincunegui schlug vor, dass „wenn es das Ziel des Gesetzes wäre zu verhindern, dass die Nacht die Intrige begünstige, könne man diesem begegnen, indem man eine Beleuchtung aufstellt“383 oder indem man an zwei Tagen wählen lässt. Aragón sprach sich generell dagegen aus, dem Mesa-Präsidenten die Feststellung des Endes zu überlassen, mit der Begründung, dass dann eventuell zu dem Zeitpunkt Schluss sei, wenn dessen Partido gewählt habe. 384 Als Kompromiss beschloss der erste Kongress dann folgende Regelung: Die Wahlen sollten solange als „kontinuierlicher Akt“ stattfinden, „bis sie nach dem Urteil der Junta beendet werden sollten, da es keinen mehr gibt, der wählt“385. Diese Regelung hatte jedoch keinen Bestand: Sowohl das vierte als auch das fünfte Wahlgesetz legten minutiös fest, dass die Wahl „um fünf Uhr nachmittags, weder vorher noch nachher“386, beendet sein muss. 1832 wandte sich wegen fehlender Flexibilität Alvires gegen diese genaue Festlegung, „außerdem könne [dies] in den Pueblos, wo es keine Uhr gibt, welche in der Mehrheit sind, nicht mit dieser Exaktheit eingehalten werden“ 387 . Peguero forderte ebenso vergeblich einen Zusatz, der den anwesenden Wählern die Wahl auch noch kurz nach fünf Uhr erlaubt. Erfolgreich war schließlich das Argument von Aurioles, dass man nur mit genauen Angaben verhindern könne, dass sich eine Facción durchsetze. Somit waren im Gegensatz zum ersten Wahlgesetz sowohl der Anfang als auch das Ende der Wahlen zeitlich genau festgelegt. Mit der zeitlichen Begrenzung, der genaueren Erfassung der Wähler, dem genau geregelten Wahlablauf und den Vorgaben zum Schutz des Verfahrens ließe sich vermuten, dass die Abgeordneten die Juntas primarias schrittweise an das Ideal der von Anfang an genauer strukturierten, offensichtlich nicht reformbedürftigen oberen Junta-Ebenen annähern wollten. Allerdings ließ sich als weitere Tendenz ein Abrücken von den gemeinschaftsbetonten Elementen der 383 Sitzung vom 22.03.1827 (c. 5, e. 2). 384 Vgl. Sitzung vom 22.03.1827 (c. 5, e. 2). 385 Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 28, in: RdL, II, S. 86. Zu den anderen Zeitangaben vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 2, 14 bzw. 16, in: RdL, II, S. 82, 83 bzw. 84. 386 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 26, in: RdL, IV, S. 93; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 35, in: RdL, V, S. 44. 387 Sitzung Nr. 47 vom 05.07.1832 (c. 16, s./e. 1).
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Wahl erkennen – was den bisherigen Ergebnissen der Wahlforschung widerspricht.388 Dies konnte zum einen an der Einführung der Boletas, zum anderen am Wegfall der Kompetenz der Juntas bei Entscheidungen über die Ausübung des Wahlrechts gezeigt werden. Auch der hier zunächst behandelte Reformaspekt des Ausbaus des Strafrechts hatte verdeutlicht, dass die Abgeordneten den Juntas Verantwortungsbereiche genommen hatten und zwar zu Gunsten der lokalen Autoritäten, aber auch zu Gunsten der einzelnen Wähler. Die Aufteilung von „bevölkerungsreichen Siedlungen“ in Sektionen, die nach dem fünften Wahlgesetz gar ein je eigenes Wahlverzeichnis erhielten, mag diese Tendenz unterstreichen. Nicht mehr die gewachsenen Gemeindeeinheiten, sondern die an positiv gesetzten Kriterien ausgerichteten Sektionen gaben den örtlichen Rahmen vor. Aber auch zwei bisher nicht erwähnte Neuerungen weisen auf individualisierende Tendenzen hin. So versuchte zwar sowohl der erste als auch der zweite Kongress noch, die gemeinsamen Kirchgänge zu betonen, die die Wahlen umrandeten: Neben den Bittgebeten, der Messe und dem abschließenden gemeinsamen Te Deum sollte der „Geistliche mit der höchsten Würde eine Rede halten, die der Wichtigkeit des Aktes entspricht“389. In den Juntas primarias hatte das Ayuntamiento beziehungsweise, wo nicht vorhanden, dessen Stellvertreter daran teilzunehmen. Domínguez hatte dies damit begründet, dass es „zuträglich sei, für alle menschlichen Akte göttlichen Beistand anzurufen“, Zincunegui unterstützte ihn darin, da die Abschaffung „weder in Bezug auf das Religiöse noch bezüglich des Politischen ratsam sei, da es Akte von großem Einfluss im Volk sind“ 390 . Wie schon im ersten Wahlgesetz überlagern sich hier religiöse und säkular-symbolische Funktionen. Die Mehrheit war sich darin einig, dass das Te Deum auch noch spät in der Nacht stattfinden könne. Im nächsten Kongress schlug die das Wahlgesetz des Generalkongresses vorbereitende Kommission allerdings vor, aus Mangel an Pfarrern deren einleitende Rede abzuschaffen. Dem erwiderte erfolgreich Peguero, dass diese Rede vom Pfarrer – und nicht von jemand anderem – gehalten werden müsse, „auch wenn nichts mehr als die Feierlichkeit, die man dem Akt gibt, das Volk stark beeinflusst“391. Die Außenwirkung scheint hier gegenüber dem Religiösen gar zu überwiegen. Sowohl im vierten als auch im 388 Vgl. u.a. Annino: Introducción (1995), S. 17f., wo er die Kontinuität kollektiver Wahlpraktiken und -regularien sowie die Fortdauer gemeinschaftlicher Kompetenzen betont; ähnlich: Guerra: Traditions. 389 Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 2, in: RdL, II, S. 82. Das dritte Wahlgesetz, das sonst dem ersten stark glich, übernahm diese Formel eins zu eins; vgl. Dekret s./Nr. (26.12.1828), Art. 2, in: RdL, III, S. 113. 390 Sitzung vom 12.03.1827 (c. 3, e. 6). 391 Sitzung Nr. 105 vom 16.07.1828 (c. 8, e. 1).
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fünften Wahlgesetz tauchen diese Kirchgänge für die Juntas primarias dann nicht mehr auf. Sie wurden nur noch den beiden oberen Ebenen vorgeschrieben.392 Im dritten Kongress hatte Juan Gómez de la Puente noch mit der Bemerkung: „man sieht, wie notwendig es ist, dass einige Reflexionen von Nützlichkeit für den Staat die Wähler inspirieren“ nachgefragt, warum die vorschlagende Kommission die anfängliche „patriotische Ansprache“ gestrichen habe. Die Streichung wurde mit der „Knappheit an Geistlichen“393 begründet. Von gemeinsamen Kirchgängen ist weder hier noch im vierten Kongress mehr die Rede. Die in Teil (b) skizzierte Praxis des ständigen Kommens und Gehens schien die gemeinschaftliche Rahmung des Wahlaktes, eines der zentralen Charakteristika der Junta, auf der Ebene der Pueblos obsolet zu machen. Während sich bei vielen Reformen die Praxis an den Gesetzen orientieren sollte, wird hier besonders deutlich, dass sich die Gesetzgeber an den Praktiken orientieren mussten. In den Juntas primarias scheint ein gemeinsamer Auftakt beziehungsweise ein gemeinsames Ende nicht durchsetzbar gewesen zu sein. Dass die Abgeordneten hierbei nicht die Außeralltäglichkeit, die Feierlichkeit des Wahlaktes in Frage stellen wollten, zeigt die durchgängige Betonung, dass die Aushänge für die Wahlbekanntmachungen „feierlich“ sein sollten. 394 Ob man allerdings im Umkehrschluss folgern kann, dass die Gesetzgeber nun davon ausgingen, dass es nicht mehr notwendig sei, „die göttliche Bildung für den Erfolg der Wahl zu erflehen“ – wie Pastor Morales es 1824 formuliert hatte – scheint eher fraglich: In den beiden oberen, vermeintlich rationaleren, da bildungsnäheren Juntas waren die Kirchgänge weiterhin vorgeschrieben. Und als abschließendes Indiz für den fortschreitenden Verlust des JuntaCharakters im Bewusstsein der Abgeordneten kann angeführt werden, dass der Begriff „Junta“ allmählich und stillschweigend aus den Gesetzen verschwand. Während die ersten drei Wahlgesetze die Junta primaria als „Vereinigung der anwesenden Staatsbürger“395 definiert hatte, fehlte eine solche Definition in den beiden letzten Gesetzen. Bezeichnenderweise heißt es im vierten Wahlgesetz noch wie zuvor, dass durch die Bestimmung der Wahlorganisation „die Junta“396 gebildet werde. Das fünfte Wahlgesetz ersetzte dann passender das Wort 392 Vgl. Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 2, in: RdL, IV, S. 88; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 3, in: RdL, V, S. 39f. 393 Außerordentliche Sitzung Nr. 7 vom 13.08.1830 (c. 11, e. 3). 394 Vgl. Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 29, in: RdL, II, S. 86; Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 16, in: RdL, III, S. 114; Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 15, in: RdL, IV, S. 91; Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 3, in: RdL, V, S. 42. 395 Vgl. neben dem oben bereits zitierten Artikel 19 des ersten Wahlgesetzes: Dekret Nr. 34 (06.04.1827) / Art. 18, in: RdL, II, S. 84; Dekret s./Nr. (26.12.1828) / Art. 20, in: RdL, III, S. 115. 396 Dekret Nr. 79 (05.01.1831) / Art. 20, in: RdL, IV, S. 92.
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Wahl der Abgeordneten
„Junta“ durch „Mesa“397. Eine Installation der Junta fand somit im wörtlichen Sinne nicht mehr statt. Dass sich die Abgeordneten nicht vollständig von der Junta-Idee verabschiedet hatten, darauf wies lediglich die Überschrift des Kapitels hin sowie der letzte Artikel, der bestimmte, dass sich nach der Wahl „die Juntas“ auflösen und jede weitere Handlung „nichtig“ 398 sei. Aber selbst hier wäre wohl der Begriff Mesas passender gewesen. Die Gesetzgeber individualisierten das Wahlverfahren also zunehmend und verabschiedeten sich damit nicht zuletzt vom aus Cádiz übernommenen JuntaModell. Die von der bisherigen Wahlforschung allgemein angenommene Kontinuität für die erste föderale Republik konnte in Michoacán nicht nachvollzogen werden. Vielmehr stellten die Congresos michoacanos in zweifacher Weise ihre Reformfähigkeit unter Beweis. Einerseits folgten sie, wie oben ausführlich dargestellt, explizit und implizit dem Ziel, kommunale Wahlvereinigungen, die Faktionen, zu schwächen. Hier re-agierte also der Gesetzgeber. Hier schienen Individuen weniger gefährlich gewesen zu sein als Faktionen. Die Reformfähigkeit der Abgeordneten manifestierte sich andererseits darin, dass sie den offensichtlich weit verbreiteten Wahlpraktiken folgten, insbesondere dem Kommen und Gehen, dem Nicht-Verweilen in der Junta, wodurch das Gemeinschaftliche weitgehend konterkariert worden war. Hier wird entgegen einer häufigen Unterstellung deutlich, dass die Wähler als Subjekte auftraten oder wie Eduardo Posada-Carbó es formulierte: „Against the hitherto prevailing image of a passive electorate, exclusively manipulated by almighty elites, can sometimes be seen a voter with values of his own“399. Die im häufigen Erneuern der Wahlregularien gezeigte Reformfähigkeit lässt, um eine Tendenz aus der späten Kolonialzeit aufzugreifen, einen weiteren Schritt in Richtung Gesetzgebungsstaat, weg vom Rechtsprechungsstaat (Thompson), erkennen: Man versuchte, durch allgemeingültige Gesetze und nicht durch richterliche Einzelfallentscheidungen zu regieren. Die Regierung konnte nun über die Gesetze verfügen, sie entsprechend den Umständen reformieren und war nicht wie nach dem traditionellen Verständnis an durch ihr Alter oder Gott geschützte, unhinterfragbare Normen gebunden – berücksichtigen mussten sie hingegen das Verhalten der Regierten. Und, um neben der Reformfähigkeit zur zweiten Ausgangsthese – Stichwort: asymmetrische Vertrauensbeziehung – zurückzukommen, bleibt zunächst festzuhalten, dass sich fast alle Reformen mit der lokalen Ebene auseinandersetzten: Sie galt im Kontrast zu den beiden oberen Juntas wegen ihrer Anfälligkeit für Intrigen und Faktionen, ergo wegen ihrer Kor397 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 27, in: RdL, V, S. 43. 398 Dekret Nr. 35 (14.07.1832) / Art. 39, in: RdL, V, S. 45. 399 Posada-Carbó: Juggling, S. 626.
Vertrauensbildung durch Reform des Verfahrens?
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rumpierbarkeit, ständig als reformbedürftig. In Michoacán, wie andernorts in Hispano-Amerika, begegnete man dem allgemein im atlantischen Raum festgestellten „Qualitätsproblem“ (Grimm) der Wähler nicht durch Zensusauflagen, sondern ausschließlich über den indirekten Wahlmodus. Die These von Alan Kahan: „The discourse of capacity was the foundation of liberal political culture“ 400 müsste man also für Michoacán in Frage stellen. Die kommunale Wahlebene galt als nicht vertrauenswürdig. Zwar versuchten die Gesetzgeber die Vertrauenswürdigkeit durch Reformen zu erhöhen. Das Misstrauen in die lokalen Akteure blieb jedoch, es war wie schon bei den Verfassungsvätern (vgl. Teile B und C) etwas Grundsätzliches: Die Wahlen, sowieso schon als einziger Akt der populären Souveränitätsausübung deklariert, blieben unhinterfragt indirekt. Einen direkten Einfluss auf die Bestimmung der Regierung traute man dem Volk offensichtlich nicht. Bei den Wahlreformen wurde freilich auch deutlich, dass es den Abgeordneten nicht nur um Macht ging, sondern auch um Vertrauen und die Übernahme von Verantwortung im Kampf gegen die Facciones. Die bisher meist praktizierte Fokussierung auf Machtfragen scheint also zu kurz zu greifen. Auf der anderen Seite galten Abgeordnete grundsätzlich als vertrauenswürdig. Diese Aussage ist, wie festgestellt, freilich auch eine Frage der Perspektive. Aber wie ebenfalls festgestellt, prägten hier die Politiker im Unterschied sowohl zu Europa als auch zu den USA die öffentliche Meinung und somit das Geschichtsbild sehr viel stärker. Die Abgeordneten beanspruchten mit Erfolg im Sinne John Pococks „one estate or order of the commonwealth“ zu präsentieren, und zwar den Stand der „classical Few“401, den der Tugendhaften oder des Pars sanior der Gesellschaft. Sie waren nicht wie in den USA „corruptible virtually by definition“. Hierzu passt auch das konstatierte Fehlen eines „Checks and balances“-Systems. Die Abgeordneten brauchten keine Kontrolle, sie standen als unkorrumpierbar und als Wahrer des Bien comun ihrer Ansicht nach über der korrupten, interessengebundenen und faktionsanfälligen Gesellschaft. Die von John Pocock für die junge USA konstatierte „paradigmatic revolution“402, in der man sich von der Orientierung am republikanischen Prinzip des Allgemeinwohls löste und das liberale der Partikularinteressen akzeptierte, hatte im Wahldiskurs der Abgeordneten von Michoacán keinen Platz. Diese Thesen zu verifizieren und auszuführen, ist eine Aufgabe der beiden letzten Kapitel E und F.
400 Kahan: Liberalism, S. 6. 401 Pocock: Moment, S. 519. 402 Pocock: Moment, S. 521.
E. Parlamentarische Gesellschaftskritik: Die Idealisierung des Staatsbürgers in der Gesellschaft
Wie also passen die skizzierten Widersprüche zusammen, die sich unter der Begrifflichkeit der asymmetrischen Vertrauensbeziehung subsumieren lassen? Auf der einen Seite steht die Legitimation durch die Berufung auf den repräsentativen Charakter der Volksvertreter, die Betonung der und das Festhalten an den Prinzipien, die diese Repräsentativität zu garantieren scheinen; und auf der anderen Seite der Versuch, die Institution Kongress und die Abgeordneten durch einen nicht hinterfragten indirekten Wahlmodus vor dem unmittelbaren Kontakt beziehungsweise vor der unmittelbaren Abhängigkeit mit beziehungsweise vor ebendiesem Souverän zu schützen. Warum forderte der Repräsentant ein stärkeres öffentliches, gemeinschaftliches Engagement (Espíritu público) ein, wenn er auf der anderen Seite die Souveränitätsausübung des Volkes auf den Wahlakt zu begrenzen intendierte? Und: Wie kann eine als zumindest intrigenanfällig und fremd, also als wenig vertrauenswürdig dargestellte Bevölkerung einen Repräsentanten legitimieren, der charakterisiert wird als vom Vertrauen ebendieser Bevölkerung abhängig und zugleich als vertrauensvolles Gegenteil dieser Bevölkerung? Um diesen Widersprüchlichkeiten nachzugehen, soll im folgenden Kapitel das Gesellschaftsbild der Abgeordneten betrachtet werden. Die Frage nach dem Gesellschaftsbild ist in der sich mit dieser Zeit beschäftigenden Historiographie aufs Engste verbunden mit der Frage nach dem liberalen Charakter der neu in die politische Unabhängigkeit getretenen Gesellschaften. Wie am Ende des ersten Teiles expliziert, hatte eine lange Zeit sehr einflussreiche historiographische Richtung in der Unabhängigkeit Mexikos „the fate of enlightment thought and liberalism outside the European center“1 gesehen. Sie hatte entsprechend Bilder von einer liberalen Gesellschaft oder zumindest von einer liberalen Elite gezeichnet entlang des „Ideal[s] einer als natürlich empfundenen Gesellschaft freier und rechtlich gleicher Individuen“ 2 . Auch die Verfassungsväter Michoacáns orientierten sich theoretisch, wie in Teil B, gesehen am liberalen Entwurf einer Staatsbürgergesellschaft. Gleichzeitig deuteten sich auch hier schon Widersprüche und das Misstrauen in die Gesellschaft auf Grund der Malicia humana an. Nicht nur die Mitglieder von Exekutive, Judi1 2
So ebenfalls kritisch: Young: Rebellion, S. 7. Heimann: Liberalismus, S. 27.
Ideales Gesellschaftsmitglied
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kative und Landesverwaltung, sondern auch die Bevölkerung insgesamt galt es durch den Kongress zu kontrollieren: Pflichten wurden vor Rechte, das Gemeinwohl wurde vor Privatinteressen positioniert. Es stellte sich die Frage, ob nach der in der Konstituante versammelten Personen tatsächlich „das eigeninteressierte Handeln vernunftbegabter, mündiger Bürger … das Wohl der Gesamtgesellschaft fördern und mehren“3 sollte, wie es dem liberalen, mit der nordatlantischen Welt verbundenen Ideal entspräche. Dass die liberal-bürgerliche Praxis auch in Europa ein ähnliches Misstrauen gegenüber dem Volk pflegte, steht auf einem anderen Blatt. Hier werden die Zielvorstellungen der Diputados michoacanos untersucht. Das nächste Kapitel wird auf Fragen, die im obigen Kapitel wegen eines freilich aussagekräftigen Mangels an Diskussionen unter den Verfassungsvätern nur thesenartig bearbeitet werden konnten, ausführlich eingehen. Die Untersuchung verläuft dabei in zwei Schritten, die die beiden zentralen Begrifflichkeiten des Liberalismus, das Individuum und dessen Verhältnis zur Gemeinschaft, in den Blick nehmen: 4 Zunächst stehen das Ideal des verantwortungsbewussten und opferbereiten Ciudadano und seine Gegenentwürfe – der Vagabund und die Pueblos – im Fokus. Hierbei wird das Institut der Kritik im Koselleck’schen Sinne der Unterscheidung in Gut und Schlecht ebenso eine tragende Rolle spielen wie das Paradigma des Entwicklungs- und Erziehungspotentials (I). Der zweite, ausführlichere Teil untersucht dann zwei Formen des Gemeinschaftsideals: das natürliche der Familia michoacana und das inszenierte der nationalen Opfergemeinschaft (II). Es wird jeweils deutlich, dass die Abgeordneten nicht das eigeninteressierte Individuum des Liberalismus als Ideal betrachteten, sondern das verantwortungsvolle Gemeinschaftsmitglied. Das nachfolgende Kapitel F betrachtet dann abschließend den Auftritt des Kongresses und rundet die Betrachtung des Verhältnisses der Repräsentanten zu den Repräsentierten, des Kongresses zur Bevölkerung ab. Viele Ergebnisse aus diesem und dem vorangegangenen Kapitel werden dort auf praxeologischer Ebene bestätigt.
I. Das ideale Gesellschaftsmitglied Um der Frage nach dem idealen Gesellschaftsmitglied nachzugehen, werden die Vorstellungen der Abgeordneten über die Bevölkerung untersucht, wie sie sich 3 4
Heimann: Liberalismus, S. 27. Vgl. für einen Überlick zu Mexiko: Heimann: Liberalismus, S. 60-76.
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in den Gesetzen und Diskussionsprotokollen finden lassen. Es handelt sich also rein um Fremdzuschreibungen der Bevölkerung aus der Perspektive der Abgeordneten. Nach der hier vertretenen These beanspruchten die Parlamentarier das Monopol auf Kritik im Koselleck’schen Sinne der Unterscheidung: „Der Kritiker ist ein Führer, sagt die Enzyklopädie, der zu unterscheiden wisse“ 5 . Nach Reinhart Koselleck war dem Denken der Aufklärung eine „polare Denkstruktur“ 6 zu Eigen: „Gesetzte Begriffe setzten ihre Gegenbegriffe, die im selben Vollzuge abgewertet und meist auf diese Weise ‚kritisiert’ wurden“7. Mit anderen Worten: Das folgende Kapitel untersucht bei den Parlamentariern Strategien, die versuchen, bestimmte Personen(-gruppen) zu Anderen, zu Fremden zu machen, indem man sie als solche beschreibt (Othering).8 Das Ideal des Staatsbürgers setzte – folgt man den Diskussionen und Gesetzen der Parlamentarier – Gegenbegriffe: Demnach standen den außerhalb der Gesellschaft platzierten Vagabunden, den Vagos (a), und den ignorantunmündigen Pueblos (b) die guten Ciudadanos (c) gegenüber. Im Sinne des aufgeklärten Fortschrittsdiskurses verorteten die Abgeordneten diese diskursiven Gruppen auf einer Fortschrittlichkeitsskala. Die Historiographie – exemplarisch seien hier Jesús Reyes Heroles und François-Xavier Guerra genannt – folgte einer solchen Einteilung mit der Gegenüberstellung von modern(-liberal)en Eliten und dem traditionell verhafteten Volk: Nach Guerra ko-existierte „die moderne Ideologie der Eliten … mit dem Archaismus einer Gesellschaft, welche sie [die Eliten] mit von ihnen unterschiedlichen Werten und Normen regieren“9. Die Modernisierung der Gesellschaft fungierte dann als historische Aufgabe und Legitimation der Eliten: Liberales Ziel war demnach die Schaffung einer modern-individuellen Staatsbürgergesellschaft: „Die Moderne ist“, so Guerra, „vor allem die ‚Erfindung’ des Individuums“10 und, so sein Ergebnis für Mexiko: „Die einzigen Ciudadanos im modernen Sinne des Wortes sind die Mitglieder der Eliten, die ihre Bedingung als Ciudadanos, also die moderne demokratische Kultur, verinnerlicht haben“ 11 . Die folgende Abhandlung bezweifelt dieses pädagogische Ziel nicht grundsätzlich, will aber zeigen, dass daneben – und häufig sogar im Vordergrund – ein distinktives Moment stand, über das sich die parlamentarischen Eliten legitimierten. Die Parlamentarier 5 6 7 8
Koselleck: Kritik, S. 98f. Koselleck: Kritik, S. 97. Koselleck: Kritik, S. 103. Vgl. die klassische Studie: Said: Orientalism; für neuere lateinamerikanische Studien in diese Richtung den Überblick bei: Gledhill: Others. 9 Guerra: Modernidad, S. 360. 10 Guerra: Modernidad, Zitat S. 85. Vgl. neben der schon in Teil A zitierten Literatur zum Forschungsüberblick: Heimann: Liberalismus, S. 16f. u. 59-67. 11 Guerra: Modernidad, S. 361.
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setzten die Vagos und Pueblos als Gegenbegriffe zu den Ciudadanos. In gewisser Weise müsste man parallel zur Erfindung des (bürgerlichen) Individuums von der Erfindung des Pöbels sprechen.12 Entsprechend arbeite ich im folgenden Kapitel stark begriffsgeschichtlich und untersuche die von den Abgeordneten in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen evozierten Bilder. 13 Dabei nahmen die Parlamentarier eine Doppelrolle ein: Einerseits verorteten sie sich selbst als Kritiker in gewisser Weise außerhalb dieser Ordnung, andererseits versuchten sie sich als ideale Staatsbürger zu beschreiben. Ihnen kam als Teil des Kongresses in erster Linie die Rolle als legitimer Akteur zu. Selbst die Ciudadanos sollten gemäß den obigen Wahldebatten ihr staatsbürgerliches Handeln ja möglichst auf den Akt der Wahl beschränken. Die Vagabunden hingegen galt es, ähnlich wie die Anhänger von Facciones, außerhalb der Gesellschaft zu stellen, und zwar auf Grund ihrer Akteursrolle, die von den Parlamentariern als das Übel schlechthin beschrieben wurde. Die Pueblos stellten ob ihrer diskursivkonstruierten Passivität in diesem Gesellschaftsmodell keine grundsätzliche aktive Gefahr dar. Die Abgeordneten folgten dabei den liberalen Vorgaben der ethnischen Indifferenz weitgehend und verorteten entsprechend die indigene Bevölkerung diskursiv als besonderen, aber integrativen Teil der Pueblos.
a.
Die Vagabunden als „Motte der Gesellschaft“
Der Abgeordnete Pablo Peguero erklärte im September 1828 das Projekt der Einführung von so genannten Sicherheitsausweisen (Boletas de seguridad) zur Kennzeichnung der Bevölkerung für gescheitert: „Mit dieser Maßnahme störe man die Qualifikation der Vagabunden, da man die Schlechten mit den Guten verwechselt“. Er begründete seine Erklärung damit, dass die Schlechten, also die Vagabunden, diejenigen seien, „die zur Vertuschung ihrer schlechten Gewohnheiten am meisten Eifer an den Tag legen, um die Ausweise zu erhalten“. Und auf der anderen Seite seien die Guten, „die Hombres de bien auf Grund ihrer Bekanntheit … sicher und sie können sehr leicht ihre Ehrbarkeit unter Beweis stellen“ 14 . Peguero hielt das Ausweisprojekt ohne sein distinguierendes, kritisches Potential also für sinnlos, ja für gefährlich. Gleichzeitig ging er davon aus, dass sich die guten Hombres de bien auf Grund ihrer Ehrbarkeit untereinander kannten und erkannten, und dass somit das anonymisierte Verfahren über Ausweise weniger vertrauenswürdig sei.
12 Für den Hinweis auf diese pointierte Zuspitzung danke ich Herrn Gunther Mai. 13 Vgl. zur Begriffsgeschichte die Ausführungen in der Einleitung. 14 Sitzung Nr. 31 vom 15.09.1828 (c. 8, e. 1).
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Parlamentarische Gesellschaftskritik
In den nächsten Absätzen geht es zunächst um die Frage, wie die Vagabunden gezeichnet wurden und welche Personenkreise die Abgeordneten mit dieser Kategorie bezeichneten. Genaue Zahlen über die tatsächliche Verbreitung liegen für das Michoacán der 1820er Jahre leider nicht vor. Die Forschung geht jedoch davon aus, dass das Phänomen nach der Zeit des Bürgerkrieges auf einem hohen Niveau blieb und die Ordnung der Kolonialzeit lange Zeit nicht wieder etabliert werden konnte. Mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung galten Vagos gemeinhin als eines der großen Probleme für den sozialen Frieden. 15 Die Untersuchung der etwas weniger Schlechten, der Bewohner der Pueblos, beziehungsweise der Guten – hier subsumiert als Hombres de bien – folgt in den anschließenden Abschnitten. Schon in der Constituyente hatte es Huarte für „sehr angebracht“ gehalten, den Bezirk Coahuayana von der großen, sich dort befindenden „Menge an Vagos und Lasterhaften [viciosos] … zu säubern [purgar]“16. Die Begründung lieferten andere Abgeordnete nach: Salgado bezeichnete die Vagos als „perverse Menschen“ 17 . Lloreda verglich sie mit „Delinquenten“, die „als schädlich nirgendwo toleriert werden können“ 18 , Navarro setzte „Räuber und Vagos“ gleich als diejenigen, die „die Pueblos peinigen“ 19 . „Um die Gesellschaft von dieser Motte zu befreien“ 20 , lag den Abgeordneten zunächst daran, sie zu kennzeichnen, weshalb der Kongress im März 1826 als Maßnahme die oben angedeutete Einführung von Ausweisen verabschiedete. Danach war jeder Bewohner mit mehr als 14 Jahren verpflichtet, einen so genannten Sicherheitsausweis mit sich zu tragen, den er alle zwei Jahre zu erneuern hatte. Um den Ausweis zu erhalten, war vor den örtlichen Autoritäten, eine „mündliche Bestätigung von zwei oder mehr Vecinos von bekannter Redlichkeit“ dafür vorzubringen, dass man „irgendeine ehrenhafte Beschäftigung oder Gewerbe ausübt“. Im Zusatz hieß es ausdrücklich, die bestätigenden Vecinos müssten „in der Öffentlichkeit ausreichend bekannte“ 21 Individuen sein. Wer nach einer gewissen Kulanzzeit von den örtlichen Autoritäten, die die Einhaltung überprüfen sollten, ohne Boleta de seguridad angetroffen wurde, da er die geforderten Eigenschaften nicht beweisen konnte, wurde „für einen Vago gehalten“22. Auch
15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. für Michoacán: Hernández Díaz: Orden, v.a. S. 147-159; Solares Robles: Bandidos. Geheimsitzung vom 11.09.1824, in: AyD, I, S. 267. Sitzung vom 15.01.1825, in: AyD, II, S. 42. Sitzung vom 14.05.1825, in: AyD, II, S. 295. Sitzung Nr. 107 vom 01.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 125 vom 11.10.1826 (c. 4, e. 2). Dekret Nr. 26 (03.03.1826) / Art. 8, in: RdL, II, S. 64. Dekret Nr. 26 (03.03.1826) / Art. 10, in: RdL, II, S. 65. Diejenige, die sich nicht um den Ausweis gekümmert hatten, wurden zunächst mit Geldstrafen belegt und bei weiterem
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wenn das Gesetz nach Miguel Zincunegui wie jedes andere „etwas an Freiheit raubt“, sei es doch sinnvoll: So „kann der Ciudadano glaubhaft machen, ein gesundes Mitglied der Gesellschaft zu sein“, nach Mateo Echaíz sei es ein „ehrenhaftes Dokument, da es das Verhalten des Individuums rechtfertigt“23. Mittels seines Ausweises hatte also jeder, der die gesellschaftlichen „Verträge verletzen kann“24, unter Beweis zu stellen, dass er ein bekanntes, ehrenhaftes und unschädliches Mitglied der Gesellschaft war. Der primäre Zweck der Boletas de seguridad war also der Schutz der Gesellschaft vor schädlichen Mitbewohnern. Potentiell galt zunächst jeder als gefährlich, die Beweislast lag bei jedem einzelnen Bewohner, eine Unschuldsvermutung griff nicht. Wer seine Unschuld mittels des obigen Verfahrens nicht beweisen konnte, also die Vagos, wurden mit dem Dienst an der Waffe in der Miliz bestraft oder, falls sie dazu nicht fähig waren, bis zur Errichtung von Armenhäusern (Hospicios), mit Arbeitsdiensten. 25 Unter 14-jährige „verstreute Jünglinge“ 26 sollten in eine Ausbildung unter Aufsicht geschickt werden. Nach Zincunegui war die Bestrafung mit Militärdienst zwar für die Milizen schlecht, auf der anderen Seite führe diese Verfügung zu viel Positivem, beispielsweise „werde Valladolid von dieser schädlichen Klasse gereinigt“. Nach dem Redner der Regierung konnte man so „den Vagabunden korrigieren und arbeitsam machen“27. Als weiteres Ziel des Gesetzes galt es ganz im utilitaristischen Geist, die „toten Arme [brazos muertos]“ der Gesellschaft in nützliche „Arbeiter zu verwandeln“. Die Gesetzeskommission hatte zunächst als „Heilmittel gegen die Schlechten, von denen die Pueblos geplagt wurden, … die Strafe“ 28 , vorgeschlagen, die Vagos „einem bevölkerten Gebiet“29 anzuschließen. Diese Strafe verwarf man schließlich als zu gering. Beide Straftypen für eine vom Kongress nicht akzeptierte Lebensform und ihre Rechtfertigung hatten jedoch das gleiche Ziel: die Umwandlung und Integration von asozialen und gefährlichen Outsidern in nützliche Gesellschaftsmitglieder. Bezeichnenderweise behandelten die Abgeordneten hier wie bei den Diskussionen über das Staatsangehörigkeitsrecht zwar wieder Minderjährige, aber nicht Frauen als eigenständige Akteure.
23 24 25 26 27 28 29
Nichtbefolgen vor den zuständigen Richter geführt; vgl. Dekret Nr. 26 (03.03.1826) / Art. 11, in: RdL, II, S. 65. Sitzung Nr. 125 vom 11.10.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 125 vom 11.10.1826 (c. 4, e. 2). Mit dieser Aussage begründete Zincunegui die Herabsetzung des Alters von zunächst 18 Jahren auf 14. Dekret Nr. 39 (03.08.1827) / Art. 16, in: RdL, II, S. 97. Dekret Nr. 39 (03.08.1827) / Art. 19, in: RdL, II, S. 98. Sitzung Nr. 136 vom 07.11.1826 (c. 4, s./e.). So Peguero in: Sitzung Nr. 125 vom 11.10.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 126 vom 14.10.1826 (c. 4, e. 2).
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Zur Umsetzung dieser Ziele sollte eine Landpolizei (Policía rural) geschaffen werden. Die Abgeordneten planten, sie aus den im oben diskutierten Ayuntamiento-Gesetz eingeführten Beauftragten für die gute Ordnung auf den Haciendas, hier als Ministros conservadores bezeichnet, zusammenzustellen; und diese dann zu ergänzen mit von diesen ernannten „vertrauenswürdigen Führern“ (Cabos de confianza).30 In diese Richtung hatte schon die Konstituante die Institution der Cabos de rancho befürwortet, die den am „stärksten verstreuten Teil der Gesellschaft … vor der Wucht der Leidenschaften“ schützen sollte. Die Qualifikation als Vago erfolgte dann laut Gesetz durch die Alcaldes und deren Stellvertreter mit zwei Beigeordneten (Asociados), wobei einer durch den mutmaßlichen Vago ernannt werden sollte. Für den offensichtlich wahrscheinlichen und eingeplanten Fall, dass der Vago keine entsprechenden Personen kannte, sollte der dienstälteste Regidor diese Aufgabe übernehmen. 31 Zur besseren Erfassung von Vagabunden verpflichtete ein Gesetz des dritten Kongresses Landbesitzer dazu, Vagos aus ihren Haciendas auszuweisen.32 Das wegen der vermuteten Vermehrung der Vagos aufgelegte Reformgesetz aus dem Jahre 1831 verschärfte in erster Linie die Auflagen für die Verwaltung zur „Entdeckung“ der Vagos und stellte diejenigen Autoritäten unter Strafe, die die Vagos entdecken sollten, dies aber nicht ordnungsgemäß vollzogen.33 Die gesetzliche Definition des Vago unterstreicht den Befund des Outsider: Der Vago ist der, der ohne bekannte Lebensweise lebt, und der, der keinen oder einen „im schlechten Ruf stehenden“ Beruf ausübt. Im Einzelnen lautete die Definition: Vagabunden sind diejenigen, „1. die ohne Amt oder Pfründe, Besitz oder Einkommen leben, ohne dass man weiß, von was ihnen die Subsistenz zukommt. – 2. Diejenigen, von denen, obwohl sie einen gewissen Besitz oder Bezüge haben, nur bekannt ist, dass sie keine andere Beschäftigung haben als die der Spielhäuser [oder], die Beschäftigung von im schlechten Ruf stehenden Betrieben [beziehungsweise von denen bekannt ist], dass sie Zulauf verdächtiger Partner haben, und die kein Anzeichen [vorweisen], einen Posten in ihrem Gebiet zu übernehmen. – 3. Die Kräftigen, die sich vom Betteln erhalten, [obwohl sie] vom Alter gesund und robust sind und die mit einer Verletzung, wenn diese sie nicht davon abhält, ein Amt auszuüben. – 4. Die Kinder einer Familie, die mit schlechter Absicht nicht in ihrem Haus dienen und auch nicht im Dorf mit einer anderen Beschäftigung, die mit wenig Gehorsam ihren Eltern gegenüber und mit der Ausübung schlechter Gewohnheiten ohne Hingabe oder Fleiß für ihre Laufbahn Skandale erregen.“34 30 Vgl. Dekret Nr. 26 (03.03.1826) / Art. 14f., in: RdL, II, S. 65. 31 Vgl. Dekret Nr. 39 (03.08.1827) / Art. 2-4, in: RdL, II, S. 96. Als Auflagen für die Beigeordneten galten die gleichen wie für die Alcaldes, also relativ hohe. 32 Vgl. Dekret Nr. 20 (17.10.1829), in: RdL, IV, S. 30f. 33 Vgl. Dekret Nr. 17 (10.12.1831), in: RdL, V, S. 14-18, Zitat Art. 22. 34 Dekret Nr. 39 (03.08.1827) / Art. 1, in: RdL, II, S. 95f.
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Das Reformgesetz von 1831 schloss weiterhin „professionelle Spieler [Taures de profesión], die keine andere Beschäftigung haben“ und „Verheiratete, die selbstverschuldet kein Eheleben führen und die sich von der Versorgung ihrer Familien fernhalten“35 in die Liste der zu korrigierenden Personen ein. Vagos waren demnach diejenigen, die nicht in die verfassungsrechtliche Kategorie derjenigen passen, die die Staatsbürgerrechte ausüben durften.36 Nach Ansicht der Gesetzgeber gebührt ihnen auf Grund ihres Lebensstils nicht das Vertrauen, an der Ausübung der Souveränität des Volkes teilzuhaben. Dieser Lebensstil zeichnete sich nach Ansicht der Parlamentarier durch Lasterhaftigkeit, Faulheit, fehlenden gesellschaftlichen Nutzen, Schädlichkeit für die Gesellschaft, durch eine zu weite Entfernung von besiedeltem Gebiet und allgemein durch den Bruch der gesellschaftlichen Verträge aus. Als Vago galt allerdings nur derjenige, der bewusst und mit bösem Willen diese sozio-kulturellen Auflagen missachtete. So fielen Personen nicht darunter, die bettelten, aber „vom Alter“ nicht „gesund“ oder „robust“ waren. In diesem Sinne galt der Vago gar als Motte oder Plage, von der die Gesellschaft gereinigt werden musste, womit ihm die Würde als Mensch abgesprochen wurde. Er wurde aus der Gesellschaft und aus seinem Menschsein herausdefiniert, als Gegenentwurf zum Ciudadano kritisiert. Er war aber auch derjenige, der nicht greifbar, der den ehrbaren und guten Ciudadanos unbekannt war, und derjenige, der durch Sicherheitsausweise beziehungsweise deren Fehlen erfasst werden sollte. Seine Unbekanntheit bedeutete Gefahr und führte zu Misstrauen. Was im nächsten Abschnitt noch näher zu betrachten sein wird, ist, dass die Kategorisierung nicht auf sozio-ökonomischer Basis erfolgte, sondern auf derjenigen der Lebensstile. Das Projekt der Einführung von Boletas de seguridad wurde 1828, wie gesehen, bezeichnenderweise mit dem Argument suspendiert, dass die guten Ciudadanos auch ohne Ausweis bekannt seien. Zu diesem Zeitpunkt waren nach Angaben der Regierung immerhin schon 90.000 Ausweise gedruckt – leider konnte kein Exemplar gefunden werden.37
b. Die unmündigen und ignoranten Pueblos Während die Abgeordneten also den Vagos unterstellten, sich bewusst außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses zu stellen, trifft dies auf die Beschreibung des größten Teils der Bevölkerung, für die in den Pueblos lebenden Menschen, 35 Dekret Nr. 17 (10.12.1831) / Art. 1, in: RdL, V, S. 14. 36 Vgl. hierzu die entsprechenden Abschnitte in Kapitel B. 37 Die Zahl beruht auf Angaben eines Regierungssprechers; vgl. Sitzung Nr. 31 vom 15.09.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. den Suspens in: Dekret s./Nr. (19.09.1828), in: RdL, III, S. 97.
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nicht zu. Die Abgeordneten bezeichneten diese Personen meist mit der Metapher ihres Wohnortes und bemerkenswerterweise nicht wie die Vagos als Individuen. Wie die Ciudadanos galt es auch die Pueblos als schutzbedürftige Gesellschaftsmitglieder vor den Vagos zu bewahren. Der folgende Text übernimmt die Nomenklatur und behandelt in einem Exkurs die indigene Bevölkerung als besonderen, aber nicht abgesonderten Teil der diskursiven Verortung der Pueblos. Beim Lesen der Diskussionsprotokolle trifft man immer wieder auf die „fast generelle Ignoranz“38, mit der die Abgeordneten schon seit der Constituyente die Pueblos und deren Amtsträger in den Ayuntamientos konnotierten. Diese Zuschreibung findet sich über den gesamten betrachteten Zeitraum als durchgängiges Muster. In den Augen der Abgeordneten – auf die wenigen Ausnahmen wird noch einzugehen sein – befand sich nicht nur die gemeine Bevölkerung in einem Zustand der „Ignoranz, die sie stark demütigt“39. Selbst die lokalen, gewählten Eliten seien „sehr ignorant“40 oder zeichneten sich gar durch eine „crasísima ignorancia“41 aus. Von Regierungsseite müsse man immer in Betracht ziehen, dass „die Regidores, die ernannt wurden, ignorant sein können“42. Man müsse ferner „präsent haben, dass selbst zur Zeit der spanischen Regierung die lächerlichsten Pueblos ihre Gobernadores, Regidores und eine weitere Anzahl an Individuen für die Erledigung der Verwaltungsangelegenheiten hatten“. Und da diese „sehr ignorant waren, führten sie ihre Pflichten mit dem geforderten Vollzug aus“. Glücklicherweise funktionierte das insofern auch noch in der Zeit der Republik, als man für „viele Aufgaben, die die Ayuntamientos erledigen, ... keine Bildung, sondern [lediglich] eine Menge Personen“43 brauche. Teilweise hielten die Abgeordneten die „Alcaldes [sogar] für die ignorantesten, da es [sonst] alle schaffen, dieser Wahl zu entkommen“44. Auch andere herausgehobene Persönlichkeiten der Pueblos wie die Lehrer waren demnach nicht nur „im Allgemeinen ignorant, die meisten von ihnen [waren] darüber hinaus auch erbärmlich [miserable] und lasterhaft ..., ein verderbliches Vorbild“. Ihre „verrotteten Gewohnheiten“45 seien so schädlich, dass meist sogar die Schließung der Schulen zu bevorzugen sei. Peguero befürchtete auch im Zusammenhang mit der Besetzung der lokalen Miliz: Wenn man „jene Klasse an Menschen mit schlechtem Verhalten“ ausschließe, werde es Schwierigkeiten geben, „die Truppe mit guten Ciudadanos zu vervollständigen. 38 39 40 41 42 43 44 45
Sitzung vom 28.12.1824, in: AyD, I, S. 503. Sitzung Nr. 69 vom 31.07.1832 (c. 17 , e. 1). Sitzung vom 29.04.1825, in: AyD, II, S. 265. Sitzung vom 10.12.1825 (c. 2, e. 10). Sitzung Nr. 102 vom 22.08.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 10 vom 02.05.1832 (c. 16, s./e. 1). Sitzung Nr. 48 vom 13.10.1831 (c. 15, e. 4). Sitzung Nr. 61 vom 19.11.1825 (c. 2, e. 9).
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Denn es existieren Pueblos, in denen keine „andere Klasse an Leuten vorhanden sei ..., da alle Tagelöhner und notorisch arm“ seien. Juan Gómez de la Puente erwiderte etwas optimistischer, „der Fall, in dem zwei Hombres de bien in einem Pueblo fehlten, wäre doch sehr unwahrscheinlich“46. Insbesondere zu Beginn des Untersuchungszeitraums fanden sich noch zeitweilig Gegenstimmen, die letztlich aber die Grundannahme bestätigen: Villaseñor sprach beispielsweise 1825 davon, dass die „Ignoranz der Pueblos sicherlich nicht das vermutete Extrem erreicht“47. Juan José Pastor Morales meinte im gleichen Jahr, dass sich das Volk „nicht mehr in dem Zustand der Ignoranz befinde, den man annehmen möchte“48.
Exkurs: Die Indigenen als besonderer Teil des Ganzen Für gemischt-ethnische Gesellschaften wie die mexikanische läge die Vermutung nahe, die Pueblos mit der indigenen Bevölkerung gleichzusetzen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich bei dieser diskursiven Verortung nicht nur um eine ethnische Abgrenzung gegenüber der indigenen Bevölkerung handelte. Ähnliches stellte die jüngere Forschung für andere Gebiete Mexikos bereits fest. Sie geht dabei davon aus, dass sich die Mestizisierungsprozesse vom Ende der Kolonialzeit während der Unabhängigkeitskonflikte beschleunigten und dass die Kontakte zwischen den Bevölkerungsgruppen weiter zunahmen. 49 Insbesondere die regionalen Eliten standen in diversen Wechselbeziehungen zu den anderen Bevölkerungsgruppen. 50 Nach 1821 traten laut Forschung in der Wahrnehmung verstärkt sozio-ökonomische Differenzierungen, insbesondere eine Dichotomisierung in Arm und Reich in den Vordergrund. Nachdem Cádiz mit der Diskriminierung der Castas noch ethnische Unterscheidungsmerkmale kannte, sollten diese nach der Unabhängigkeit keine Rolle mehr spielen: So verbat 1822 ein Dekret der ersten gesamt-mexikanischen Konstituante, „die Namen der Ciudadanos in öffentlichen und privaten Dokumenten ... nach ihrer Herkunft zu klassifizieren“51. Dieses Dekret, mit dem das Postulat aus Iguala nach ethnischer Unión umgesetzt worden war, galt auch für den hier betrachteten Zeitraum noch. In der 46 47 48 49
Sitzung Nr. 65 vom 10.04.1828 (c. 7, e. 2). Sitzung vom 29.04.1825, in: AyD, II, S. 265. Sitzung vom 09.05.1825, in: AyD, II, S. 286. Vgl. beispielsweise die bereits genannten Regionalstudien von Peter Guardino, Silke Hensel, Florencia Mallon und Guy Thomson. 50 Vgl. Heimann: Liberalismus, S. 16-18 u. 30-37. 51 Orden Nr. 313 / Art. 1 (17.09.1822), in: LM.
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Gesetzgebungspraxis Michoacáns wurde diese Vorgabe weitgehend beachtet. Für das Gesamt-Mexiko der frühen 1820er Jahre stellte Ursula Heimann zusammenfassend eine „optimistische Erwartung an die Wirkungskraft des Gleichheitsprinzips“52 fest, welche sich jedoch bald abschwächte.53 In Michoacán zeigt sich die starke Distanzierung von ethnischen Abgrenzungen darin, dass für sie die Kategorie der Pueblos und damit eher eine sozio-kulturelle Distinktion im Vordergrund stand. Pueblos galten aber eben nicht als Synonym für Indios, sondern für deren gesamte Bevölkerung. Dies verdeutlicht sich insbesondere daran, dass die Abgeordneten wie selbstverständlich von der parallelen Existenz von indigenen und nicht-indigenen Bevölkerungsanteilen in den Pueblos ausgingen. Zumindest einem Teil der Abgeordneten war auch der hohe Mestizisierungsgrad der Bevölkerung durchaus bewusst, so José Joaquín Domínguez, als er unwidersprochen feststellte, dass „der größte Teil der Pueblos von Familien ist, die sich als de razón bezeichnen, womit diese und nicht die Indígenas ...“ 54 gemeint sind. Unter Gente de razón, wörtlich übersetzt ‚Leute von Vernunft’, verstand man gemeinhin die nichtindigene Bevölkerung.55 Ein weiteres Indiz für diese Wahrnehmung ist, dass wie gesehen ein besonderer Fokus der Kritik auf den Amtsträgern der Pueblos lag, die wohl noch zu einem gewissen Teil nicht-indigener Herkunft waren.56 Der ethnische Aspekt spielte aber mitnichten keine Rolle mehr. Dies betonten die Abgeordneten zwar immer wieder, so beispielsweise Peguero 1826, der behauptete, „gemäß dem aktuellen System gibt es keine Differenz zwischen den Castas“ 57 , oder besonders ausdrücklich Manuel Chávez im Jahr darauf bezüglich der partiellen Befreiung von der Alcabala: „In diesem Regierungssystem ist jede Ausnahme sehr verhasst ... und, wenn man dies nur den Indígenas zugesteht, verfällt man in die Schwierigkeit, dass man sie auf diese Weise immer isoliert hält, und nichts ist mehr abzuschaffen als die Unterscheidung der Castas, ... wir kennen alle mit dem Oberbegriff Mexicanos“ 58. Damit folgten sie dem 52 Heimann: Liberalismus, S. 134; ähnlich für Oaxaca: Guardino: Time, S. 171f. 53 Vgl. zu dieser unter der Phrase „Race and class“ bekannt gewordenen Debatte den Überblick bei: Mörner (Hg.): Race; Meißner: Elite, S. 27-57; Fisher: Gesellschaft, S. 53-63. 54 Sitzung vom 11.06.1829 (c. 10, e. 2). 55 Vgl. bspw. Castro Gutiérrez: Tzintzuntzan, S. 296; Terán: Escuelas, S. 143. 56 Zu dieser Vermutung würde passen, dass, wie gesehen, z.B. auch alle Wahlmänner spanische Namen trugen. Eindeutig belegen lässt sich diese Vermutung nicht, aber auch aus anderen mexikanischen Regionalstudien liegt sie nahe: Thomson geht für das Puebla zur Jahrhundertmitte davon aus, dass in gemischt-ethnischen Dörfern meist Gente de razón die Führung in den Gemeindegremien innehatte; vgl. Thomson / LaFrance: Patriotism, S. 9. 57 Sitzung vom 09.12.1826 (c. 2, e. 10). 58 Sitzung Nr. 54 vom 15.10.1827 (c. 5, e. 3).
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oben zitierten gesamt-mexikanischen Dekret. In der Diskussionspraxis hingegen, wie gleich zu sehen sein wird, tauchte die ethnische Unterteilung als Denkkategorie immer wieder auf. Als juristisch relevante Kategorie spielte die ethnische Klassifizierung bezüglich der indigenen Bevölkerung nur bei der Zielsetzung eine Rolle, überkommene Sonderbehandlungen abzubauen. Ansonsten unterlagen die Indigenen ohne Unterscheidung allen allgemeingültigen Regelungen – und finden dort auch keine gesonderte Erwähnung. Aus den Parlamentsprotokollen ließen sich drei Fälle einer Sonderbehandlung eruieren: Neben zwei kleinen, anschließend zu behandelnden Bereichen, ist das in erster Linie die Rechtsprechung zur Verteilung der Gemeindegüter (Bienes de comunidad). Wie andere Staaten erließ auch Michoacán in den 1820er Jahren ein Privatisierungsdekret. Die Privatisierung von Gemeindebesitz sollte zum einen den wirtschaftlichen Fortschritt vorantreiben, andererseits die Bildung individueller Staatsbürger unterstützen.59 Zu diesem Themenkomplex führte vor allem der erste und zweite Kongress langwierige Diskussionen, als deren sichtbares Ergebnis insgesamt zehn Dekrete verabschiedet wurden. Ausgangspunkt war die lange debattierte Festlegung, dass alle „mit dem Namen de Comunidad bekannten Güter ausschließlich den Nachkommen der Familias primitivas und in keiner Weise den munizipalen Fonds gehören“. Deswegen „werde die Regierung verfügen, dass die Ländereien, die unter ihrer Aufsicht standen, den Comunidades, den sie gehören, übergeben werden, damit diese die individuelle Verteilung vornehmen“60. Ziel
59 Vgl. Heimann: Liberalismus, S. 116f.; Guardino: Time, S. 173; Hale: Liberalism, S. 227232; Ferrer Muñoz / Bono López: Pueblos, S. 410-419. 60 Dekret Nr. 23 (19.06.1826) / Art. 1 bzw. 2, in: RdL, II, S. 61. Im Folgenden zum Überblick die weiteren hierzu erlassenen Dekrete mit kurzer Inhaltsangabe: Dekret Nr. 33 (05.04.1827), in: RdL, II, S. 81 (die Comunidades sollen Verteilungskosten wenn möglich selbst tragen); Dekret s./Nr. (26.09.1827), in: RdL, III, S. 10 (Regierung darf Kosten der Landverteilung aus Fonds der Indigenen zahlen); Dekret s./Nr. (22.11.1827), in: RdL, III, S. 16f. (keine Verteilung von in Bildungsfonds eingezahlten Spendengeldern); Dekret s./Nr. (15.02.1828), in: RdL, III, S. 29-39 (Reglement der Landverteilung); Dekret s./Nr. (19.09.1828), in: RdL, III, S. 97f. (Regelung bei Umzug eines Indigenen in eine andere Comunidad, das interessanterweise regelt, dass eine umgezogene Familie nach zehn Jahren als gleichberechtigter Empfänger im neuen Ort zu berücksichtigen sei, vorher im Herkunftsort. In diesem Fall musste sich die Familie entscheiden, in welchem Ort sie die Zuteilung beantragen wollte, ob im Ort des Vaters oder der Mutter; vgl. Sitzungen Nr. 24, 25 u. 28 vom 05., 06. u. 11.09.1828 (c. 8, e. 1); Dekret s./Nr. (21.10.1828), in: RdL, III, S. 100f. (Verkleinerung der Verteilungskommission); Dekret s./Nr. (29.10.1828), in: RdL, III, S. 107 (genauere Organisation der Verteilungskommission); Dekret s./Nr. (18.11.1828), in: RdL, III, S. 110 (genauere Definition des
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war also gemäß dem liberalen Denken die Schaffung von Staatsbürgern mit individuellem Privatbesitz. Juan Gómez de la Puente brachte diese Grundeinstellung 1827 auf den Punkt, als er feststellte, dass „eines der Ziele von bekanntem, allgemeinem Nutzen das Wachstum der Siedlungen ist, und die Beseitigung des Elends, indem man sie arbeitsam macht; und in der Meinung der bekanntesten Publizisten erreicht man dies um so eher, je mehr sich die Eigentümer vermehren“61. Aus der bisherigen Forschung und den vorliegenden Protokollen lassen sich kaum Ergebnisse über den Erfolg dieser Politik ableiten.62 Gerardo Sánchez Díaz stellte jedoch für den Südwesten Michoacáns fest, dass „die Agrarstruktur, die am Ende der Kolonialzeit gültig war, während der ersten Jahre der Unabhängigkeit bezüglich des Privatbesitzes kaum Modifikationen erlebte“, eine Verteilung hatte vor allem deswegen nicht stattgefunden, da die Mehrzahl der Ländereien verpachtet waren.63 Die Denkschrift der Regierung von 1828 sprach jedoch von Schwierigkeiten bei der Verteilung – die Thematik begleitet die mexikanische Gesellschaft bis heute – und forderte Reformen des Verteilungsmodus, wie sie dann durch die oben genannten Dekrete in Angriff genommen wurden. 64 Die Regierungsdenkschrift listet im Anhang die zu verteilenden Güter auf, unter anderem 13 Haciendas und 370 „beachtliche“ Ranchos – ob sie tatsächlich verteilt wurden, konnte nicht beurteilt werden. 65 Die Ergebnisse sind für die diesbezügliche Argumentation freilich auch nicht vorrangig. Zentral ist vielmehr, dass hier das Motiv der entwicklungsbedürftigen „Nachkommen der Familias primitivas“ auftaucht, die mittels der Hilfe des Kongresses zu einem von diesem vorgegebenen Ziel gelangen sollten. Dieses Motiv wird sich auch im Folgenden in unterschiedlichen Zusammenhängen und eben unabhängig von ethnischen Zuordnungen immer wieder finden lassen. Die in der Kolonialzeit unter den Spaniern tief verwurzelte paternalistisch-patriarchalistische Grundhaltung, die die Indios als minderjährig und somit als grundsätzlich erziehungsbedürftig einstufte, hatte sich offenbar auf andere Bevölkerungsgruppen in den Pueblos übertragen. Die Indigenen stellten einen freilich zentralen, aber nicht abgesonderten Bestandteil der Pueblos dar. Bezeichnend für die väterliche Position, die sich der Kongress gegenüber den Indigenen im Besonderen zumaß, ist, dass sich eine knappe parlamentarische Mehrheit für einen Artikel entschied, der den Weiterverkauf von vorher
61 62 63 64 65
Berechtigtenkreises); Dekret s./Nr. (18.12.1828), in: RdL, III, 112 (Verteilung des Einkommens aus Verpachtung). Sitzung Nr. 15 vom 25.08.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. erste Forschungen aus kommunaler Sicht, die allerdings ihren Schwerpunkt nach der ersten föderalen Republik haben: Cortés Máximo: Comunidad. Vgl. Sánchez Díaz: Suroeste, S. 37 u. 54f., Zitat S. 37. Vgl. Memoria 1828, S. 16f. Vgl. Memoria 1828, Tafel 6 (Bienes de Comunidad), S. 119.
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verteiltem Land erst gestattete, nachdem die Indigenen das Land vier Jahre besessen hatten. Ziel dieser Bestimmung war nach Auskunft von Domínguez „zu verhindern, dass sich die Ländereien bei den benachbarten Eigentümern anhäufen“, dass sie also in die Hände der benachbarten (Groß-)Grundbesitzer geraten. Gegen die Regelung sprach in den Worten von Manuel González, dass dies „bedeutet, die Betroffenen in die Minderjährigkeit von 21-Jährigen zu deklarieren, da man ihnen so unterstellt, [erst] innerhalb von vier Jahren fähig zu sein, jenes [Land] mit vollständiger Freiheit zu erhalten“, also erst in vier Jahren die Volljährigkeit (25 Jahre) und Mündigkeit zu erreichen. Dies stünde gegen die Eigentumsrechte der Verfassung. Echaíz hielt dagegen, dass „die Vorkehrung das Eigentum nicht angreife, sondern schütze“ 66 . Diese bevormundendschützende Position setzte sich in der Abstimmung knapp durch. Auch im zweiten spezifisch auf indigene Belange zugeschnittenen Gesetzgebungsbereich lässt sich die paternalistische Grundhaltung erkennen, andererseits aber auch die Intention, die Sonderstellung abzubauen. Eng mit dem Bereich der Bienes de comunidad zusammenhängend, verfasste die Legislative 1828 ein Dekret zur Regelung der Schulden, die die Ayuntamientos bei den Comunidades de indígenas aus der Kolonialzeit hatten: Sie mussten sie in Raten zurückzahlen, aber erst „nachdem ihre dringendsten und notwendigsten Ansprüche gedeckt“67 waren. Das Interesse der Comunidades war also zweitrangig. Ähnliches galt für die Schulden des Staates gegenüber den Comunidades: Die vor der Unabhängigkeit an staatliche Institutionen überwiesenen Gelder galten, wie schon in Teil A zitiert, schlicht als „verloren“68. Der Staat sah sich gegenüber den vormaligen Eigentümern hier nicht in der Verantwortung. Auch die Einnahmen in der beträchtlichen Höhe von knapp 20.000 Pesos, die nach der Unabhängigkeit aus den Ländereien der Indigenen gewonnen wurden, die unter der Aufsicht der Regierung standen, verwaltete noch die Regierung. Diese Gelder wie auch die Ländereien selbst galten sowohl der Exekutive als auch den Abgeordneten zwar als fremdes Eigentum, das zurückzugeben sei.69 In dem hier betrachteten Zeitraum geschah dies allerdings nicht, was dazu führte, dass die Comunidades, wollten sie auf ihr Geld zurückgreifen, als Bittsteller beim Kongress auftreten mussten. Währenddessen setzte dieser – zwar gegen innerparlamentarische Widerstände – die Gelder für eigene Zwecke, beispielsweise für Militärausrüstung 66 Sitzung vom 29.12.1826 (c. 3, e. 6). Vgl. den entsprechenden Artikel: Dekret Nr. 23 (18.01.1827) / Art. 8, in: RdL, II, S. 62. 67 Dekret s./Nr. (29.11.1828), in: RdL, III, S. 111. 68 Wie Juan José Martínez de Lejarza in der dort zitierten Statistik spricht auch die Gedenkschrift von 1828 von „größtenteils verlorenem Kapital“ [Memoria 1828, Tafel 6 (Bienes de Comunidad), S. 119, Anmerkung]. 69 Vgl. Memoria 1828, Tafel 6 (Bienes de Comunidad), S. 119.
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oder Schulinvestitionen, leihweise ein. 70 José María Navarro und Pedro Villaseñor plädierten 1831 dafür, diese Praxis nicht zu wiederholen, da „der Staat das Vertrauen nicht missbrauchen dürfe, indem er Hand anlegt an eine Rücklage, die ihm per Gesetz anvertraut wurde. Es ist so zu erhalten wie es empfangen wurde“71. Die Bittstellerposition zeigt sich an folgenden Beispielen: Die „Nachfahren der ersten Familien des Pueblo San Gabriel“ beantragten 1827 für die Fertigstellung ihrer Kirche 800 Pesos, die Indígenas von Cuitzeo 200 für nicht genannte Zwecke, die aus Turicato mussten beantragen, zukünftige Einnahmen für den Bau von drei Brücken ausgeben zu dürfen, was der Kongress mit dem Hinweis an die Regierung schickte, dass erst geprüft werden müsse, ob alle Beteiligten einverstanden seien.72 Diese, hier vermeintlich vorläufige Festlegung auf die Unmündigkeit der indigenen Bevölkerung spiegelte eine weit verbreitete Grundeinstellung des Kongresses gut wieder: Beispielhaft erläuterte 1831 Juan Gómez de la Puente: „... bezüglich des von den Bienes de comunidad deponierten Geldes sei es eine Ungerechtigkeit, seinen Eigentümern für noch längere Zeit die Übergabe vorzuenthalten, man hätte es schon seit Zeiten zurückgeben sollen; dies habe man jedoch nicht getan, da die Indígenas einige Unglückliche [Infelices] sind, die niemanden haben, der sie verteidigt, und wenn der Kongress ihnen nicht einen singulären Schutz gewährt, ermangelte es ihnen an diesem Geld“73.
Im Hintergrund schwang, wie hier, meist das Misstrauen gegenüber der eigenverantwortlichen Handlungsfähigkeit der Indigenen mit. Sie brauchten demnach einen Schutz vor ihrem eigenen Handeln und einen externen Partner zur Führung. So konstatierte 1826 Aragón, dass „wegen deren Elends [miseria] ... diese Ländereien sicherlich keine Fortschritte machen können, wenn sie von den Indígenas verwaltet werden“. González schloss sich dem an und befürchtete für die Indígenas, dass sie, falls sie selbst Verantwortung übernehmen sollten, „folglich auf ein extremes Elend reduziert werden“74. Chávez Gil befürchtete, dass die „Indígenas, die sich jetzt im Status der Infelicidad befänden [und] tote Arme der Gesellschaft seien“, dass sie sich durch einen potentiellen Verkauf ihrer Privatgüter „in schädliche [Arme] verwandeln“ 75 könnten. Wie bei der 70 Vgl. Sitzung Nr. 59 vom 23.10.1828 (c. 9, e. 1); Sitzung vom 25.05.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung vom 11.06.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung vom 17.07.1829 (c. 10, e. 2); Sitzungen Nr. 89f. vom 28. u. 30.06.1831 (c. 15, e. 2). 71 Sitzung Nr. 59 vom 30.05.1831 (c. 14, e. 2). 72 Vgl. Sitzungen Nr. 34, 36 u. 48 vom 20., 23.09. u. 09.10.1827 (c. 5, e. 3). 73 Sitzung Nr. 41 vom 16.05.1831 (c. 14, e. 2). 74 Sitzung Nr. 152 vom 13.12.1826 (c. 4, s./e.). 75 Sitzung vom 29.12.1826 (c. 3, e. 6).
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Landverteilung rückte das Ziel der Geldrückgabe in die Ferne und damit das Ziel, die spezifische Behandlung der Indios aufzuheben. Der dritte Bereich einer spezifisch indigenen Gesetzgebung zielte – zumindest vordergründig – gleichfalls auf den Versuch ab, eben diese Spezifität aufzuheben: Zur Verhinderung „irgendeiner leichten Unterscheidung“76 verbat die Constituyente von Michoacán „die Bezeichnung begünstigte Staatsbürger [Ciudadanos agraciados], die man den Nachfahren der Familias primitivas gab“77. In der Diskussionspraxis des Kongresses existierten aber diese Nachfahren als eigene Denkkategorie weiter fort. Mal bezeichneten die Abgeordneten sie als „so genannte Indios“, häufiger aber als „Indígenas“, „Naturales“ oder auch in synonymer Verwendung als „Infelices“. Auf die Frage, wie sie in den Pfarrbüchern genannt werden sollten, schlug die Kommission die Bezeichnung „Nachkommen der ersten Siedler“ 78 vor, ein weiterer Terminus, der in Verwendung blieb. Domínguez war später der Meinung, man solle diese vorbildliche Bezeichnung der Allgemeinheit durch ein Dekret zugänglich machen und nicht nur den Pfarrern durch einen Bescheid.79 So verbat der Kongress in Kontinuität zur gesamt-mexikanischen Praxis zwar den Gebrauch traditioneller distingierend-exkludierender Begriffe, verwendete aber teils neue Zuschreibungen weiter. In einem Antrag auf Rückgabe von Land hieß es bezeichnenderweise, dieser käme von „vier Ciudadanos (vormals als Naturales bezeichnet)“80. Wie mit den Pueblos insgesamt verbanden die Abgeordneten mit den „so genannten Indios“ also pejorative Konnotationen, wie Misería, Infelicidad, Ignoranz oder gar Besessenheit.81 Es lässt sich festhalten, dass zwar die ausgesprochene Absicht bestand, die indigene Bevölkerung als gleichberechtigten und gleichverpflichteten Teil in die Gesellschaft zu integrieren, in den Diskussionen der Abgeordneten wurden die Indigenen hingegen immer wieder von dieser unterschieden: Dieses so genannte Othering betraf aber, wie gezeigt, eben nicht nur die Indigenen, sondern die Pueblos insgesamt: Vom Elend, der Unmündigkeit und der Ignoranz der Pueblos unterschieden diese sich allenfalls quantitativ,
76 So die besonders signifikante, spätere Begründung von González in: Sitzung vom 03.12.1825 (c. 2, e. 10). 77 Dekret Nr. 38 (02.03.1825), in: RdL, I, S. 74. 78 Sitzung Nr. 66 vom 26.11.1825 (c. 2, e. 9). 79 Vgl. Sitzung vom 03.12.1825 (c. 2, e. 10). 80 Sitzung Nr. 132 vom 28.10.1826 (c. 4, s./e.). 81 Peguero ordnete ihnen beispielsweise einen „Status von sehr empfindlicher Ignoranz zu“ (Sitzung Nr. 37 vom 25.09.1827 (c. 5, e. 3)]. Aragón meinte, „wenn man die Indígenas für besessen [furiosos] hält, könnten sie auch nicht die Staatsbürgerrechte haben“ (Sitzung Nr. 151vom 11.12.1826 (c. 4, s./e.)).
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nicht aber qualitativ.82 Diesen Exkurs resümierend bleibt festzuhalten, dass die Indigenen als besonderer Teil für das Ganze der Anderen standen. Die Mestizisierung scheint sich im Bewusstsein der Abgeordneten also niedergeschlagen zu haben, das Othering entlang ethnischer Kriterien nicht (mehr) zu funktionieren. Allerdings funktionierten auch materielle, sozio-ökonomische Definitionen des Anderen nicht, da es im Bewusstsein der Abgeordneten sowohl unter den Anderen als auch unter den guten Ciudadanos sowohl Reiche als auch Arme gab: So existierte bei vielen Abgeordneten eine „Clase pobre de Ciudadanos“, also das Bewusstsein von einer armen, materiell bestimmten Klasse, die nicht mit den Anderen, also den Vagos, Pueblos oder Indígenas gleichzusetzen war.83 In einer Diskussion Anfang 1826 versuchte man Armut als Gefährdung der eigenen Subsistenz zu definieren. 84 Zwei Jahre später scheiterte der Versuch, als arm diejenigen zu bezeichnen, die „von dem leben, was sie im Dienste anderer verdienen“ 85 : Denn auch in abhängigen Arbeitsverhältnissen, sei es als Tagelöhner oder als Arbeiter in einer Werkstatt, könnte man viel verdienen. Armut definierte sich also über den materiellen Stand und nicht über den sozio-kulturellen, sie konnte somit jede ethnische Gruppe treffen. So existierten in der Vorstellungswelt der Abgeordneten auch unter den guten Staatsbürgern und sogar unter den Abgeordneten arme Personen. In diesem Sinne sollte der Kongress die Finanzierung der Beerdigung des verstorbenen Abgeordneten Lejarza übernehmen, da dieser keine ausreichenden Ressourcen hinterlassen hatte.86 Zu erinnern ist hier auch an die oben zitierte, offenbar mehrheitsfähige Einschätzung von Juan Gómez de la Puente, mit der er sich gegen die Einführung von Einkommenskriterien für die Staatsbürgerschaft wandte: So würde man „den größten Teil der Michoacanos des Staatsbürgerrechtes berauben“, obwohl „sie sehr ehrenhaft“ seien. Das Nicht-Funktionieren des sozio-ökononomischen Othering zeigt sich weiterhin darin, dass auf der anderen Seite im Bild der Abgeordneten nicht alle Vagos, Pueblos oder Indígenas der Clase pobre angehörten. In diesem Zusammenhang ist eine Diskussion über Gebührenordnungen von 1828 von besonderem 82 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Ursula Heimann in ihrer Auseinandersetzung mit dem Indio-Begriff in der liberalen Presse Mexiko-Stadts; vgl. Heimann: Liberalismus, S. 112. 83 Sitzung Nr. 33 vom 02.06.1832 (c. 16, s./e. 1); vgl. ähnlich: Sitzung Nr. 25 vom 09.09.1831 (c. 15, e. 2); Sitzung Nr. 59 vom 26.10.1831 (c. 15, e. 4); Sitzung Nr. 55 vom 14.07.1832 (c. 16, s./e. 1). Vgl. zu einer Wahrnehmung in Mexiko-Stadt: Heimann: Liberalismus, S. 112f. 84 Vgl. Sitzung Nr. 79 vom 18.01.1826 (c. 2, e. 6). 85 Sitzung Nr. 47 vom 10.03.1828 (c. 7, e. 2). 86 Vgl. Geheimsitzung vom 30.09.1824, in: AyD, I, S. 299.
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Interesse: Zunächst forderte die vorschlagende Kommission, man solle, „obwohl die so genannten Indígenas zu Staatsbürgern deklariert“ worden waren, „ihnen in Anbetracht ihres Elends weiterhin den moderaten Satz, den die alten Ordnungen vorschrieben, berechnen, solange bis sich ihr Elend gebessert habe“. Peguero stützte den Antrag: „Obwohl es wahr ist, dass sie wie die Übrigen Staatsbürger sind, sind sie nicht auf deren Niveau, da ihre Situation immer noch miserabel ist, und da es keinen Grund gibt, diesen Infelices das gleiche zu berechnen, wie denen, die etwas haben“. Sowohl die Kongresskommission als auch die Mehrheit des Kongresses sprach sich aber gegen einen solchen Einschub aus. Vielmehr war Juan Gómez de la Puente erfolgreich, der einen Artikel forderte, der „die Armen unterstützt“ und eben nicht die Indigenen, „da es unter diesen auch einige gibt, die reich sind“87. Sowohl in der Gebührenordnung für die Amtschreiber als auch in der für die Anwälte / Prozessbevollmächtigten (Procuradores) an den Gerichten des Staates erhielten in diesem Sinne Arme – und nicht die Indigenen – staatliche Subventionen.88 Die Abgeordneten definierten also die Anderen weder primär ethnisch noch materiell, sondern – so die hier vertretene These – kulturell über unterschiedliche Lebensstile. Der Soziologe Pierre Bourdieu hob bei seiner als klassisch zu bezeichnenden Untersuchung über Lebensstile deren distinktiven Charakter hervor: Er definiert Lebensstil „als System von klassifizierten und klassifizierenden Praktiken“89. Ohne intensiver auf seine, an der französischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts entwickelte Theorie eingehen zu wollen, neigen Menschen nach ihm „zur (materiellen und/oder symbolischen) Aneignung einer bestimmten Klasse klassifizierter und klassifizierender Gegenstände und Praktiken“90, um sich derart von anderen zu unterscheiden, zu distinguieren. Diese Annahme lässt sich meines Erachtens fruchtbar auf die diskursive Praxis der Abgeordneten Michoacáns anwenden: Sie schreiben den Anderen Lebensstile zu, um die guten Ciudadanos von diesen zu unterscheiden. Die Attribute reichen von Konnotationen wie traditionell verhaftet und rückständig, über abergläubisch-irrational bis hin zu unzivilisiert-barbarisch, womit sie dem Fortschrittsdenken der Aufklärung folgten. Dieses Denken ist geprägt durch das Bewusstsein von der „Ungleichzeitigkeit verschiedener, aber im chronologischen Sinne gleichzeitiger Geschichten“, also von ungleich weit fortgeschrittenen Gesellschaften beziehungsweise Gesellschaftsgruppen. Im Zitat von 87 Sitzung Nr. 22 vom 03.09.1828 (c. 8, e. 1). 88 Vgl. Dekret s./Nr. (12.02.1829) / Art. 35, in: RdL, III, S. 129 bzw. Dekret s./Nr. (17.02.1829) / Art. 5, in: RdL, III, S. 132. Interessanterweise erhielten auch Bettelorden ähnliche Unterstützungen bzw. Ermäßigungen. 89 Bourdieu: Unterschiede, S. 280. 90 Bourdieu: Unterschiede, S. 283.
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Koselleck heißt es weiter: „Blickte man vom zivilen Europa auf das barbarische Amerika, so war das auch ein Blick zurück“91. Die zitierten Abgeordneten übertrugen diese atlantische Perspektive auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse. Mit ihrer Rückständigkeit schadeten die Pueblos im Urteil der Abgeordneten dem Aufbau der neuen Gesellschaft. Das taten sie allerdings nicht bewusst: Die Pueblos wählten sich nach Einschätzung der Abgeordneten ihre Lebensstile nicht selbst, sondern waren passiv durch die Tradition in sie hinein gezwungen. Die Abgeordneten stellten die Lebensstile der Pueblos mit denen der eigenen, abgelegten Vergangenheit auf eine Stufe und implizierten damit einen Reform- und Erziehungsauftrag an sich selbst. Diese Denkschemata sollen insbesondere am Beispiel der Diskussionen über populäre Fest- und Vergnügungskulturen illustriert werden. Schon kurz nach Zusammentritt des ersten Kongresses nahmen die Abgeordneten Maßnahmen in Angriff, die „die Missbräuche verhüten [sollen], die auf den Märkten und Festen der Pueblos anzutreffen sind“92. Peguero konstatierte, dass man wohl kaum „negieren könne …, dass die öffentlichen Spektakel und Feiern große Übel mit sich bringen“93. Als erster Missbrauch beziehungsweise als erstes Übel wurde zugleich das Glücksspiel identifiziert, dessen Verbot der Gouverneur auf Grundlage geltender Gesetze aus der Kolonialzeit mit möglichst effizienten Maßnahmen durchsetzen sollte.94 Glücksspiele, schon im Privaten oder in Spielhäusern als nicht „empfehlenswert“ beziehungsweise als „verdächtig“95 klassifiziert, galten bei „öffentlichen Versammlungen von Männern auf den Plätzen und Straßen“ als „skandalös“. Dass „man auf der Plaza mayor [dem Hauptplatz] und anderen Straßen dieser Hauptstadt Gruppen von Männern spielen sah“, so Peguero, „beweist die Notwendigkeit einer wirksamen Maßnahme“. Auch wenn keine Einigkeit darüber bestand, ob Glücksspiele an sich oder nur deren „Exzesse“96 schädlich für die Gesellschaft waren, sah die Kongressmehrheit eine Verpflichtung, diese populäre Vergnügung einzudämmen und die Bevölkerung derart zu erziehen, dass sie sich diesen nicht mehr irrational hingeben. In diesem Sinne stellte der Kongress 91 92 93 94
Koselleck: Zukunft, S. 323. Sitzung vom 17.08.1825 (c. 2, e. 5). Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1). Sitzung vom 20.08.1825 (c. 2, e. 5). In der Folge war man sich einig darüber, dass die kolonialen Regelungen auf Widersprüche zum neuen System zu prüfen seien. Solche Widersprüche bestanden beispielsweise bei der Strafhöhe: Sie sollte an das jeweilige Einkommen angepasst werden; vgl. Sitzung vom 19.11.1825 (c. 2, e. 9); Sitzung Nr. 100 vom 16.08.1826 (c. 4, e. 2). Vgl. zu Glücksspielen in der Kolonialzeit: Lozano Armendares: Juegos. 95 Sitzung Nr. 59 vom 20.10.1827 (c. 5, e. 3), bzw. Sitzung Nr. 87 vom 02.12.1831 (c. 15, e. 4). 96 Sitzung Nr. 100 vom 16.08.1826 (c. 4, e. 2).
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professionelle Spieler 1831 in dem oben zitierten Gesetz auf eine Stufe mit den Vagos. Sie waren somit strafrechtlich zu verfolgen. Einige Abgeordnete verwiesen darauf, dass alternative, positiv konnotierte Vergnügungen wie Theater noch nicht weit genug verbreitet seien, so dass man Spiele aus politischen Erwägungen heraus noch nicht bekämpfen dürfe.97 Ein weiterer, viel schwerwiegenderer „Missbrauch“ populärer Feste – und hier waren sich alle Abgeordneten einig – stellten Stierkämpfe (Corridas) dar. Nach Domínguez präsentierte „diese Vergnügung eine der barbarischsten Gepflogenheiten der alten Herrschaft“. Als solche wurden sie auch „von den am besten gebildeten Nationen eingestuft“98. González folgte der Einschätzung – „absolut barbarisch“ – und skizzierte die Gefahr, die von den Stieren für die Anwesenden ausgehen kann – „sie können den Tod herbeiführen“99–, um dann die Abschaffung zu fordern. Dem schloss sich die Mehrheit des Kongresses an. Neben dem Verbot der Stierkämpfe dekretierte er 1826 die Beschränkung von Festen mit ausdrücklich nicht-religiösem Charakter auf eine Länge von maximal drei Tagen. 100 Manuel Chávez hatte auf eine genaue Unterscheidung der Festlegung gedrungen, insbesondere da „in den Pueblos regelmäßig die Feiern für die Titularheiligen mit jener Klasse von Festen verbunden“101 werden. So gab der Kongress einem Antrag aus Taretan nicht statt, der ein Fest für den Titularheiligen mit einer Corrida krönen wollte.102 Zwei Jahre später, 1828, sah sich der Kongress nach einer Initiative aus Puruandiro gezwungen, auch bei den Stierkämpfen Kompromisse einzugehen und vom absoluten Verbot abzurücken.103 Die Abgeordneten waren sich in der Ablehnung zwar wieder weitgehend einig: Nach Peguero war dies „ein grausames Spektakel“, das „der ersten der sozialen Tugenden, ... der Menschlichkeit“ entgegenstand, eine „unerhörte Grausamkeit“104 darstellte und eine „Härte des Charakters“ verursacht. Um dem entgegenwirken zu können, müsse man „Mittel zur Verfügung stellen, durch die sich die Ciudadanos bilden können“105. Die Befürworter einer Zulassung der Corridas argumentierten vor allem taktisch und nicht inhaltlich: Dies sei „eine nationale Vergnügung“, in den „Umständen, in denen wir uns befinden“, dürfe man sie „noch [Hervorhebung S.D.] nicht angreifen“. Und es sei „politisch“ geboten, sie zuzulassen, da die 97 98 99 100 101 102 103 104 105
Vgl. Sitzung vom 20.10.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung vom 19.11.1825 (c. 2, e. 9). Sitzung vom 29.12.1825 (c. 4, e. 2). Vgl. Dekret Nr. 9 (24.01.1826), in: RdL, II, S. 47; Sitzung vom 19.11.1825 (c. 2, e. 9). Sitzung vom 19.11.1825 (c. 2, e. 9). Vgl. Sitzung vom 08.03.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. Sitzung Nr. 32 vom 18.09.1828 (c. 8, e. 1). Sitzung Nr. 60 vom 24.10.1828 (c. 9, e. 1). Sitzung Nr. 61 vom 25.10.1828 (c. 9, e. 1).
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Bewohner das Verbot „in allen Ranchos und Haciendas und sogar in den Pueblos übertreten“ 106 . Die Befürworter meinten, sie „könnten Orte und Personen nennen ... und nach der Doktrin von Montesquieu darf man die Sorge nicht direkt attackieren“, man müsse also vorsichtig vorgehen. Da es außerdem „keine andere Vergnügung gibt, braucht es diese“107. Der Kongress entschied sich schließlich, dass die Regierung einzelne Lizenzen vergeben dürfe, „solange bis die Umstände eine andere Art der Vergnügung erlauben“ 108 . Drei Jahre später schlug Domínguez vor, man solle jetzt pro Stierkampfveranstaltung 50 bis 100 Pesos für die Verbesserung des Straßennetzes verlangen. Er war der Meinung, dass es nun „schon [Hervorhebung S.D.] andere Vergnügungen innerhalb des Staates gibt, die zur Bildung und zur Verbesserung der Sitten beitragen“109 – vermutlich spielte er damit auf Theatervorstellungen an. Endlich war man nun also so weit fortgeschritten, dass man nicht mehr auf diese barbarischen Spektakel angewiesen sei. In anderem Zusammenhang begründeten einige Abgeordnete die Ausnahmestellung religiöser Feste mit „der Frömmigkeit der Pueblos“: Nach José Antonio Pérez Gil waren die Pueblos „noch [Hervorhebung S.D.] nicht in der Lage, der Angst in religiösen Angelegenheiten zu entkommen“, nach Ignacio Villavicencio „sind viele der Pueblos daran gewöhnt, in den Kult irgendwelcher Heiliger die Gelder, um die es sich handelt, zu investieren, weswegen man die Frömmigkeit nicht frontal angreifen könne; [dies gilt] insbesondere unter den Indígenas, die solche Gewohnheiten schon als Gesetz haben“ 110 . Auch in Glaubensfragen sollte also der vermeintlich irrationale Lebensstil behutsam reformiert werden. Der Mensch war demnach prinzipiell verbesserungsfähig, die Anderen aber in der Einschätzung der Abgeordneten auch prinzipiell verbesserungswürdig. Wie in anderen von der Aufklärung geprägten Gesellschaften wird auch hier das Denkschema der „Verzeitlichung des Perfektionsideals“ 111 sichtbar. In den obigen Zitaten ist das nicht zuletzt erkennbar durch Einschübe wie „schon“, „noch nicht“, „sogar“, „solange bis“ et cetera oder durch Komparative und 106 Lediglich auf den Vorwurf, dass Stierkämpfe grausam machten, führten sie inhaltliche Argumente an und entgegneten im Vergleich mit „anderen Nationen ... sei diese weniger grausam“, obwohl sie schon lange diese Tradition pflege; alle Zitate aus Sitzung Nr. 60 vom 24.10.1828 (c. 9, e. 1). 107 Sitzung Nr. 60 vom 24.10.1828 (c. 9, e. 1). 108 Dekret s./Nr. (07.11.1828) / Art. 1, in: RdL, III, S. 109. 109 Sitzung Nr. 89 vom 05.12.1831 (c. 15, e. 4). Da der Vorschlag als „interessant“ eingestuft wurde, wurde er ohne zweite Lesung an die Kommission überwiesen, eine Diskussion fand allerdings auf Grund der nachfolgenden Ereignisse nicht statt. 110 Sitzung Nr. 22 vom 03.09.1828 (c. 8, e. 1). 111 Koselleck: Fortschritt, S. 390.
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Superlative. Das Bewusstsein der Koselleck’schen „Ungleichzeitigkeit verschiedener, aber im chronologischen Sinne gleichzeitiger Geschichten“ lässt sich in einer Mental map der Abgeordneten verräumlichen. Diese zeichnete sich nicht primär durch geographische oder sozio-ökonomische Entfernungen aus – auch wenn sie durchaus eine Rolle spielten –, sondern vielmehr durch Differenzen im Lebensstil. Ganz alltäglich zeigte sich dieser Diskurs auch bei der Diskussion, ob der Kongress einen Antrag auf Einstellung als Amtschreiber bewilligen sollte, obwohl der Antragsteller seine Taufbescheinigung nicht vorgelegt hatte und er sie auf Grund der Entfernung seiner Heimatstadt Texcoco nicht so schnell besorgen könne. Silva plädierte für den Verzicht auf die Vorlage, da „man nicht daran zweifeln kann, dass er getauft ist, da er von einem ziemlich zivilisierten Ort ist[, der] sehr nah bei der Hauptstadt der Republik, oder besser der Föderation“ 112 liegt. Das Zentrum des Landes Mexiko-Stadt garantierte demnach nahezu einen zivilisierten Lebensstil, zu dem eben hier auch der Eintritt in die christlich-katholische Gemeinschaft zählte. Diese Differenzierung auf einer Mental map klang schon bei den Verfassungsdiskussionen über die Ayuntamientos und über die Landesverwaltung, bei der Gegenüberstellung von Pueblos und Städten, von Nord- und Süd-Michoacán wie auch bei dem Erziehungsziel der Urbanität an. Sie manifestiert sich aber auch bei den Debatten über die drei Ebenen der Wahlversammlungen und andernorts immer wieder, exemplarisch bei dem eben zitierten Ausführungen über die Vagos und bei dem Versuch der Heranführung der „verstreuten Jünglinge“ an die Gesellschaft. Als weiterer negativer Eigenschaft waren die Pueblos in diesem Sinne auch des Traditionalismus verdächtig: „Wegen der blinden Bewunderung zu Gunsten von allem, was alt ist, und ihrer Verachtung von allem, was neu ist ... kann man, solange diese Hindernisse nicht zerstört oder gemindert wurden, das Gesetz nicht ändern“. Damit die hier diskutierte Maßnahme, die Einführung direkter Steuern, nützlich sein könne, brauche man ein „Reservoir an Bildung wie das der Hamburger“ 113 . Die Bewohner Hamburgs galten in vielen Teilen Spanisch-Amerikas, wohl über das positive Bild, das Adam Smith von Hamburg zeichnete, als in Steuerangelegenheiten besonders gebildet.114 Direkte Steuern standen im Ruf, fortschrittlicher zu sein, da sie liberalen Vorstellungen entsprachen: Jeder sollte nach seinen Einkommens-
112 Sitzung vom 19.06.1829 (c. 10, e. 2). 113 Sitzung Nr. 115 vom 20.09.1826 (c. 4, e. 2). 114 Herrn Horst Pietschmann danke ich für diesen Hinweis; vgl. auch: Overhoff: Hamburg, insb. S. 178f.
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möglichkeiten zum Staatshaushalt beitragen.115 Indirekte Steuern hingegen sollten wegen ihrer Ungerechtigkeit schrittweise abgeschafft werden. Das lange diskutierte und erst 1829 verabschiedete Gesetz legte schließlich fest, dass „jeder Michoacano gleich welcher Klasse, welchen Geschlechts oder Alters“116, der ein persönliches Einkommen hatte, pro Jahr den Gegenwert von drei Tagen Einkommen als direkte Steuern zahlen sollte. Die Einnahmen aus den direkten Steuern fielen in Michoacán übrigens, wie in anderen Regionen Mexikos, zunächst sehr gering aus, blieben nach den vorliegenden, bis 1830 reichenden Zahlen deutlich unter zehn Prozent der Gesamteinnahmen. Die Alcabala als klassische indirekte Steuer war durchgängig deutlich ertragreicher. 117 Im gleichen Zusammenhang bewiesen die Abgeordneten ihre eigene Fortschrittlichkeit und die der Verfassung durch die Kenntnis der „am meisten gefeierten Wirtschaftsfachleute und Publizisten ... Cabraxas [?], Zay, Filanjieri, Eimir“118 und durch die Feststellung, diese stimmten mit der Verfassung überein. Weitere Beispiele aus dem Bereich der Infrastrukturmaßnahmen sollen hier zur Veranschaulichung des Perfektionsideals kurz zitiert werden. Sie weisen darauf hin, dass die Pueblos durch staatliche Institutionen auf das gleich zu behandelnde Ideal des Ciudadano hin erzogen werden sollten. Sie zeigen aber eben auch, dass die Pueblos als durchgängig erziehungsbedürftig eingestuft wurden. Die Debatte über ein neues Ayuntamiento-Gesetz 1831 weist diesen pädagogischen Impetus besonders deutlich auf: In ihr sprachen sich einige Abgeordnete für eine Vermehrung der Ratsgremien aus, da die „wenig zivilisierten“ Pueblos über die Einrichtung von Ayuntamientos „politische Kenntnisse gewinnen ... Sehr wohl kann man sagen, dass sie ihnen als Schule dienen, wo sie ihre Rechte kennen lernen“119. Im gleichen Jahr forderte Rivas bei den Diskussionen über die Reform des Justizwesens auf der unteren Ebene, mindestens ein Gericht auf 20.000 Seelen zu veranschlagen, da sonst „die
115 Vgl. zu den parlamentarischen Diskussionen: Sitzungen Nr. 114-116 vom 18., 20. u. 23.09.1826 (c. 4, e. 2); Sitzung vom 02.03.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung vom 26.03.1929 (c. 10, e. 2). Auch die Cortes von Cádiz hatten 1813 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Vgl. zu ähnlichen Tendenzen in anderen Staaten Mexikos, insbesondere zu Jalisco: Ibarra: Reforma, v.a. S. 139ff. 116 Dekret s./Nr. (09.04.1829) / Art. 1, in: RdL, III, S. 157. Auf die Frau als Steuerzahlerin wird im Kapitel zur Familia michoacana gesondert eingegangen. 117 Vgl. Tabelle „Staatshaushalt“ im Anhang III. José Antonio Serrano Ortega bezeichnet Jalisco als „exceptional case“, da dieser Staat als einziger auf „progressive taxes on individual capital as basis of the public treasury“ abzielte; vgl. insgesamt: Serrano Ortega: Cádiz, Zitat S. 268; vgl. auch die Tabelle der Einnahmen bei: Ibarra: Reforma, S. 164. 118 Sitzung Nr. 115 vom 20.09.1826 (c. 4, e. 2). 119 Sitzung Nr. 64 vom 03.11.1831 (c. 15, e. 4).
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Richter von der Führung von ignoranten und verdrehten Menschen zu weit entfernt“120 seien. In diesem Erziehungszusammenhang besonders erwähnenswert ist auch ein Kolonisierungsprojekt von 1827 und 1828. Mit diesem reihte sich Michoacán in einen Mexiko-weiten Politikversuch ein, der allerdings in den meisten Gebieten zunächst kaum Erfolg hatte: Ausländische, implizit vor allem europäische und US-amerikanische Immigranten sollten ihr Know-how an die Bevölkerung weiterreichen.121 In Michoacán dekretierte der Kongress für die an der Küste liegende Region um Coalcomán, in der man vermehrt eisenhaltige Mineralien abbaute und die als Brückenkopf für den Pazifikhandel ausgebaut werden sollte, 122 zum einen die Verlagerung der Bezirkshauptstadt aus Coahuayana dorthin und zum anderen eine vollständige Steuerbefreiung für drei Jahre. Dies wurde zwar von der bearbeitenden Kommission eingangs als „ein in einer demokratischen Regierung wenig angebrachtes Privileg“ abgelehnt. Die Mehrheit entschied sich trotzdem dafür, da man derart „die neuen Siedler anrege ... und die Bevölkerung in einem fruchtbaren Terrain so wachse, dass sie innerhalb einer Generation dem Staat große Einnahmen produzieren würde, weil seine Vecinos zu nützlichen, fleißigen und vielleicht reichen Ciudadanos werden“ beziehungsweise da „seine Bewohner ... dem Staat tüchtige Landarbeiter, ehrenwerte Ciudadanos, nützliche Entdeckungen und der Staatskasse Mehreinnahmen bescheren werden“123. Ein dort eingerichtetes Gefängnis sollte die Insassen zur „Reform der Sitten und zur Liebe zur Arbeit“ 124 erziehen. Wie schon zuvor zeigt sich auch hier ein utilitaristischer Grundtenor. Pädagogisch argumentierten die Abgeordneten auch bei einem Antrag aus Tancitaro von 1827 auf steuerliche Vergünstigungen für die Errichtung eines Gemeindehauses. Domínguez verteidigte ihn mit dem Argument der „geringen
120 Sitzung Nr. 49 vom 14.10.1831 (c. 15, e. 4). 121 Vgl. insgesamt: Hale: Liberalism, S. 179f. u. 209; Heimann: Liberalismus, S. 134; für einen Überblick über die Debatten in den verfassunggebenden Versammlungen Gesamtmexikos von 1822-1824: Reyes Heroles: Liberalismo, Bd. I, S. 130-146; für die Anwendung der Kolonisierungsvorhaben und ihr vorläufiges Scheitern vgl. Olveda: Proyectos, S. 23-47; Güémez Pineda: Liberalismo, S. 105-108 u. S. 123-140. 122 Vgl. auch: Sánchez Díaz: Suroeste, S. 32f. u. 80-83. 123 Sitzung Nr. 36 vom 23.02.1828 (c. 7, e. 2). Vgl. auch Sitzung Nr. 87 vom 22.11.1827 (c.5, e. 3); Sitzung Nr. 6 vom 29.12.1827 (c. 5, e. 3); Sitzung Nr. 32 vom 18.02.1828 (c. 7, e. 2), u. das Dekret s./Nr. (12.03.1828), in: RdL, III, S. 39. Nach weiteren Diskussionen durfte die alte Hauptstadt Coahuayana als weiteres Privileg für den Bezirk ihr Steueramt behalten. Vgl. Sitzungen Nr. 67 u. 69 vom 15. u. 19.04.1828 (c. 7, e. 2); Sitzung Nr. 83 vom 13.05.1828 (c. 8, e. 1), u. das Dekret s./Nr. (13.06.1828), in: RdL, III, S. 55f. 124 Sitzung Nr. 39 vom 28.02.1828 (c. 7, e. 2).
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Bildung, die die Pueblos haben“. Sie seien „nicht vom System durchdrungen“125 und dürften ergo als Unmündige eine Sonderbehandlung erfahren. Ein ähnlicher Antrag aus Paracho wurde nur unter Bedenken diskutiert: Mit einer solchen Extrastellung würden „die Pueblos das System [!] nie verstehen“126. Hier sollte zunächst nochmals verdeutlicht werden, dass der Kongress sich beziehungsweise andere staatliche Einrichtungen als Erziehungsinstitution gegenüber den Pueblos verstand – auf diese Denkfigur und ihre Implikationen wird in Teil E II noch einzugehen sein. Wichtig ist weiterhin festzuhalten, dass die Abgeordneten die Schuld an der Rückschrittlichkeit nicht den Pueblos selbst zuschrieben, sondern Umständen, die außerhalb deren Verantwortungsbereiches lagen. Schuld war demnach die Herrschaft des Antiguo régimen, die „barbarische Unterdrückung, in der sie [die Indigenen] seit undenklicher Zeit lebten“127. „Unsere Conciudadanos spürten das volle Gewicht der Unterdrückung, als sie durch die spanische Regierung regiert wurden“ 128 , weswegen „in bestimmter Weise die zivile Gleichheit fehlte und damit jene Übereinstimmung in den Interessen, die gleichzeitig alle Ciudadanos bewegen sollte“ 129 . Die Schuld an diesem Zustand wurde also externalisiert, auch hier galten die Indigenen nicht als verantwortlich. Das Ideal einer mit gleichen Interessen und Zielen ausgestatteten Staatsbürgergesellschaft konnte deswegen noch nicht erreicht werden. Durch die Unabhängigkeit rückte dies jedoch vermeintlich näher: Für „die Naturales, die bis jetzt wegen des Zustands der Niedergeschlagenheit und Unterdrückung Infelices waren, ist der Fall eingetreten, in dem sie mit Mitteln versorgt werden, die ihre Misere beseitigen“ 130 . Der „Zeit der Barbarie“ wurde das „neue System“ 131 in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen gegenübergestellt. Im „neuen System“ sollte über die „zivile Gleichheit“ eine Übereinstimmung der Interessen herbeigeführt werden. Wie zur Kolonialzeit war diese Übereinstimmung in Form eines Fortschritts jedoch gleichbedeutend gedacht mit einer Angleichung an die Interessen der guten Staatsbürger. Mit dieser Argumentation definierten die Abgeordneten die Anderen in die Unmündigkeit und weiter in die Passivität: Sie waren Opfer der „barbarischen Unterdrückung“ des Antiguo régimen und bedurften als solche weiterhin einer Führung.
125 126 127 128 129 130 131
Sitzung Nr. 66 vom 30.10.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung Nr. 54 vom 15.10.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung Nr. 152 vom 13.12.1826 (c. 4, s./e.). Sitzung Nr. 39 vom 27.09.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung Nr. 152 vom 13.12.1826 (c. 4, s./e.). Sitzung vom 29.12.1826 (c. 3, e. 6). Sitzung Nr. 140 vom 16.11.1826 (c. 4, s./e.).
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Dabei standen auch hier die Indigenen als besonderer Teil für das Ganze: Juan José Gómez de la Puente setzte sich dafür ein, Tagelöhner von Strafen bei Nicht-Antritt bei den Milizen zu befreien: Die Indigenen seien „Infelices, die nichts schaffen, außer sich derart zu erhalten, dass man sie immer nackt sieht; und diese Infelices in solcher Bedürftigkeit zu belasten, sei sehr hart ... sie sollten zumindest besser als unter der spanischen Regierung dastehen“ 132 . Das Argument, diese Bevölkerungsteile seien an ihrem Zustand selbst schuld und somit durchaus an den Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen, war kaum diskussionsfähig: Francisco Camarillo stellte aber beispielsweise fest, dass „die Tagelöhner sich selber unglücklich machen, nicht weil ihnen Ressourcen fehlen, sondern aus Trägheit und Faulheit ... [sie sind] in einem Zustand der Niedergeschlagenheit und Misere nur durch ihr Wollen. Für diese Klasse an Menschen gibt es keinen Grund, sie von der Zahlung zu befreien“133. Das aber blieb eine einsame Stimme. Nicht nur bei der Steuerbefreiung spielte das Element der Rücksicht auf Unmündige eine Rolle: Rivas forderte beispielsweise 1830 nach einem Aufstand, dass „die ignoranten Infelices, die sich in den Umsturz gemischt hatten, begnadigt werden sollten, die Anführer müssten aber den Gesetzen unterworfen werden“134. Die unterschiedlichen Zuschreibungen über Pueblos und Vagabunden, die teilweise mit Facciosos gleichgesetzt wurden – lassen sich gut an folgendem Plädoyer des Abgeordneten Rivas von 1832 zusammenfassend nachvollziehen. Er argumentierte damit gegen Einkommensauflagen bei der Staatsbürgerschaft: „Die Vagabunden haben in friedlichen Zeiten nichts zu erhoffen. Aber ihm [Rivas] kommt die Furcht, dass eine von der Ignoranz der Pueblos lebende Faktion eine neue Revolution vorantreibt und nährt, indem sie sie [also die Faktionen die Pueblos] glauben macht, dass man ihnen das Staatsbürgerschaftsrecht raubt … Die Geschichte Roms und Athens zeigte, dass durch die Reklamation des Staatsbürgerschaftsrechts ein blutiger Krieg entstand, da man ihm dort große Achtung schenkte. Und auch wenn es hier nicht das gleiche Motiv gäbe, hätten sie [also die Facciosos] einen Vorwand, die Pueblos aufzuhetzen“135.
Die unmündig-passiven, ignoranten, unglücklichen Pueblos blieben aus philanthropischen Gründen somit außerhalb der gesellschaftlichen Verantwortung, von ihnen ist in friedlichen Zeiten nichts zu befürchten. Erst Agitato132 Sitzung Nr. 50 vom 13.03.1828 (c. 7, e. 2). Vgl. ähnliche Argumente bspw. auch: Sitzung Nr. 39 vom 27.09.1827 (c. 5, e. 3); Sitzung vom 26.03.1929 (c. 10, e. 2); Sitzung Nr. 44 vom 25.09.1830 (c. 11, e. 3); Sitzung Nr. 106 vom 15.12.1830 (c. 12, e. 2). 133 Sitzung Nr. 50 vom 13.03.1828 (c. 7, e. 2). 134 Außerordentliche Geheimsitzung vom 12.10.1830 (c. 12, e. 1). 135 Sitzung Nr. 35 vom 27.09.1832 (c. 17 , e. 1).
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ren wie Facciosos und Vagabunden (hier wieder gleichgesetzt) machten sie gefährlich – dafür dürfte man dann aber nur die Agitatoren zur Verantwortung ziehen.
c.
Die guten, verantwortungsbewussten Staatsbürger – die Hombres de bien
Wie aber sah nun das Bild von den guten Ciudadanos, dem gesellschaftlichen Ideal aus? Michael Costeloe beschrieb in einer einschlägigen, gesamtmexikanischen Studie den Typus des Hombre de bien als „ideal citizen“ 136 der 1820er, 30er und 40er Jahre, als den an Bildung und Tugenden interessierten „gentleman“ und als „believer in the Roman Catholic faith, with a strong sense of honour and morality, and of sufficient financial means to maintain a certain life-style“137. In Übereinstimmung mit den hier vorliegenden Ergebnissen war die Typisierung somit nicht primär sozio-ökonomisch bestimmt: Die meisten Hombres de bien stammten nach Costeloe aus einer neu entstehenden Mittelklasse, die Art der finanziellen Ressourcen – ob aus Grundbesitz, aus anderen Geschäften oder einer Anstellung – war zweitrangig, zentral war allein, sich einen bestimmten, distinguierten und distinguierenden Lebensstil leisten zu können: „Class distinctions, therefore, were very important for him, and his greatest fear in the face of all the political chaos that existed around him was what he would call ‚social dissolution’ (disolución social)“ 138 . Auch findet man ebenfalls in Übereinstimmung mit den in der vorliegenden Studie entwickelten Thesen, wie Costeloe hervorhebt, „in none of the contemporary definitions of an hombre de bien ... any reference to ethnic origin“139. Dies trifft wie in Teil D I gesehen, insbesondere auf die Europa-Spanier zu, die meist als gute Ciudadanos galten. Bei der Spaniervertreibung hatte der Kongress „seine eigene Meinung dem allgemeinen Wohl geopfert“, wie er es am 8. November 1827 formuliert hatte. Er war also eigentlich gegen die Vertreibung gewesen Die vielen stattgegebenen Anträge von Spaniern auf Rückkehr beziehungsweise auf Verbleib ab 1831 drücken viel eher die herrschende Meinung der Abgeordneten aus. So hieß es dann folgerichtig, es „wäre an der Zeit, dass einige Spanier zurückkehren, damit sich die Pueblos daran gewöhnen, sie zu sehen“ 140 . Wie auch Margaret Chowning feststellte, waren für die kreolischen Eliten Michoacáns die Europa-Spanier, die vormaligen Gachupines seit circa 1815 nicht mehr das Feind136 137 138 139 140
Costeloe: Republic, S. 16. Costeloe: Republic, S. 17. Costeloe: Republic, S. 22. Costeloe: Republic, S. 18. Geheimsitzung vom 17.08.1831 (c. 16, s./e. 2).
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bild, vielmehr schienen die Identitätsdiskurse aus der späten Kolonialzeit elitenverbindend weiter zu wirken.141 Der Begriff des Ciudadano erhielt im hier betrachteten Zeitraum eine zweifache Konnotation, zum einen die rechtliche, die sich an den sehr weit gefassten Kriterien der Verfassung orientierte – und in die dann auch die Mitglieder der Pueblos potentiell fielen. Die andere Zuschreibung war die der kulturell definierten guten Ciudadanos, der Costeloe’schen „ideal citizens“, die mit dem Bild des Hombre de bien idealerweise beschrieben werden können. In Europa würde man diese Personen als die (Gut-)Bürgerlichen bezeichnen. Bezüglich der ersten Konnotation und vor der Folie der obigen Diskussion über das aktive und passive Wahlrecht kann der These von Chowning Recht gegeben werden, dass sich wie in Gesamt-Mexiko auch in Michoacán ein Wandel hin zu einem restriktiveren Gesellschaftsverständnis ab dem Ende der 1820er Jahre vollzog. Aber bezüglich der zweiten, kulturellen und von vornherein enger gefassten Zuschreibung lässt sich diese Aussage nicht verifizieren: Die Pueblos waren von Anfang an die Pueblos, die Anderen, und die guten Ciudadanos waren auch von Anbeginn das Wir, die Guten. Der Bedarf zur Kritik – um wieder die Position der Abgeordneten einzunehmen – ist somit ein konstantes Phänomen und kein akzidentielles, durch eine vermeintliche Fehlentwicklung oder Enttäuschung initiiertes, als welches es beispielsweise Chowning beschreibt. Die Erfindung des Pöbels war strukturell, nicht akzidentiell zur Distinktion notwendig. Folgende Äußerung Chownings trifft also nur auf die politisch-rechtliche Konnotation des Ciudadano zu: „Slowly the language and the substance of the debates began to deemphasize freedom and equality and to emphasize instead the need for government to find a way to secure peace and tranquility“142. Bei der kulturellen Definition des Ciudadano handelte es sich schon von Beginn an um einen distinguierenden Ehrentitel, nicht um Gleichheit. Bereits im September 1824 schlug der für seine liberalen Ansichten bekannte Lloreda vor, „dass man ein Gesetz erarbeitet, das erklärt, welche Qualitäten den Menschen zur Würde eines Staatsbürgers erheben [Hervorhebung S.D.], und welche Vorrechte ihm als solchen zukommen“ 143 . Die so begriffene „Würde eines Staatsbürgers“ ist ein mit Privilegien ausgestattetes Merkmal. Die Abgrenzung hatte sich in der obigen Auseinandersetzung mit den Pueblos bereits gezeigt. Das Distinktionsbedürfnis der Abgeordneten gegenüber den Anderen wird im nächsten Kapitel weiter zu behandeln sein, auch dort wird ein strukturelles Element erkennbar. Meines
141 Vgl. Chowning: Wealth, S. 131-134. 142 Chowning: Wealth, S. 131. 143 Sitzung vom 20.09.1824, in: AyD, I, S. 280.
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Erachtens lassen sich hier zudem Kontinuitätslinien zum Ende der Kolonialzeit erkennen, als die Elite versuchte, abgrenzbare Lebensstile auszubilden.144 Durch welche Lebensstile aber ließen sich die guten Ciudadanos von den Pueblos unterscheiden? Die Ausführungen von Costeloe treffen, wie gesehen, auch für Michoacán zu. Der Katholizismus galt traditionell als Grundlage der gesamten Gesellschaft – abzugrenzen wäre hier allerdings schon seit der Zeit des Antiguo régimen, wie in Kapitel A gesehen, zwischen einem bewusstrationalen Umgang und der (soeben wieder) kritisierten „Angst in religiösen Angelegenheiten“ bei den Pueblos, zwischen der schmucklosen, strengen Piedad austera und der barocken Volksfrömmigkeit. Weiterhin grenzten sich die Ciudadanos von den ignoranten Pueblos durch das Interesse an Bildung ab. Unterstreichen lässt sich das schön anhand folgender Äußerung von Juan Gómez de la Puente und Rivas: Nach ihnen haben die Ciudadanos „immer ein stärkeres Interesse an Bildung, weil sie [derart] ihre Ziele über die Moralisierung der Pueblos absichern“ 145 . Gleichzeitig wird hier auch wieder der distinguierende Erziehungsauftrag sichtbar. Ein weiteres, als wesentlich erscheinendes und eng damit verbundenes Kriterium stellt das Sich-Bekannt-Sein dar. Dieses Motiv tauchte in den obigen Debatten immer wieder auf, meist in der Aufteilung, dass die Ciudadanos sich gegenseitig bekannt sind, oder dass sie, wie es die Verfassung ausdrückt, eine „bekannte Lebensweise“ vorweisen können. Auf der anderen Seite definierten die Gesetzgeber die Vagos in erster Linie als diejenigen, von denen man nicht wusste, „von was ihnen die Subsistenz zukommt“. Hier geht es weniger um das persönliche Sich-Kennen als vielmehr um das Bewusstsein, sich im Lebensstil ähnlich zu sein, in den grundsätzlichen Fragen ähnlicher Meinung zu sein, sich auf diese Weise nahe und vertraut zu sein. Die Solidarität und gegenseitige Achtung musste sich nicht auf politische Ansichten durchschlagen, wie auch Costeloe ausdrücklich betont hat.146 Die gegenseitige Vertrautheit sollte durch die als Ehrensache bezeichnete Bindung an die Gesetze abgesichert werden. So stellte Manuel Chávez fest: „Die wahre Ehre jedes Ciudadano besteht darin, ein Sklave der Gesetze zu sein“147, oder Peguero ähnlich plakativ: „In einem System wie das, das die Nation angenommen hat, macht den Ciudadano nichts würdiger als die blinde Erfüllung des Gesetzes; hier handelt es sich um ihre religiöse Beachtung“148. 144 Vgl. allgemein zu Kontinuitäten über die vermeintliche Epochengrenze hinweg: Lempérière: Reflexiones. 145 Sitzung Nr. 14 vom 22.04.1831 (c. 14, e. 2). 146 Vgl. Costeloe: Republic, S. 28f. 147 Sitzung vom 01.02.1827 (c. 3, e. 6). 148 Sitzung Nr. 73 vom 08.11.1827 (c. 5, e. 3).
Ideales Gesellschaftsmitglied
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Das Ehrgefühl als weiteres Distinktionskriterium drückt sich prägnant in den gängigen Umschreibungen „ehrenhafter Ciudadano“ oder „ehrenhafter Vecino“ aus. „Obwohl es wahr ist, dass diese [die Miliz] aus ehrenhaften Ciudadanos bestehen sollte“, musste Basileo de Velasco 1828 eingestehen, „dass dann sehr wenige blieben; denn es gebe viele, die ein schlechtes Verhalten an den Tag legen, obwohl sie Familie haben“149. Auf diesen Nachsatz wird gleich ausführlich einzugehen sein. Nach Ansicht der Abgeordneten sollten die „Ciudadanos, die ehrenhaft sein müssen“, beziehungsweise derjenige Ciudadano, der „Ehre und Familie hat“, auch im Gefängnis „irgendeine Distinktion“ erfahren, weswegen jene nach Verurteilung nicht in das öffentliche Gefängnis mit den „einfache[n] Staatsbürger[n]“ 150 gebracht werden sollten. „Einfache Staatsbürger“ und ehrenhafte Ciudadanos mit Familie stellten hier besonders aussagekräftig zwei Kategorien dar. Ende 1828 wurde der „Präfekt von Uruapan“, also der des Süddepartements, aufgefordert, dass er „mit den Alcaldes, Ayuntamientos, Pfarrern und den ehrenhaften Vecinos Maßnahmen vereinbare, die passend sind, die Facción zu schwächen“151. Damit scheint sich die These, die Victor Uribe-Uran für das Neu-Granada (heute: Kolumbien) der frühen Unabhängigkeitszeit aufgestellt hat, auf Michoacán übertragen zu lassen: Obwohl sich die Zusammensetzung der politischen Elite nach der Unabhängigkeit deutlich veränderte, behielten kulturelle Muster ihre Prägekraft. Wie für die alten Eliten galt auch für die kreolischen Aufsteiger eine ehrenhafte Lebensweise als orientierendes Ideal. 152 Ein Indiz hierfür ist nicht zuletzt, dass die Abgeordneten in den Protokollen immer wieder als Don bezeichnet wurden. Um das Recht, diesen Ehrentitel tragen zu dürfen, hatte es während der Kolonialzeit häufig Auseinandersetzungen gegeben.153 Hier ist gleichzeitig ein weiteres Unterscheidungsmerkmal erwähnt, nämlich das Engagement für die Gemeinschaft sowie für die neue Ordnung und damit gegen die spaltenden Faktionen. Dieses Kriterium zeigte sich schon im Wahlkapitel, deutete sich aber beispielsweise auch bei der Diskussion um die Einrichtung von Milizeinheiten an: Man habe diese Einheiten „mit Achtung zu behandeln, die Ciudadanos erfordern. Auch wenn ihr Elend notorisch ist, haben sie immer den Adel des Feuers und des liberalen Enthusiasmus, der sie bewegt, unter Beweis gestellt; sie haben die größten Entbehrungen sogar des Essens in 149 Sitzung Nr. 65 vom 10.04.1828 (c. 7, e. 2). 150 Sitzung Nr. 83 vom 13.05.1828 (c. 8, e. 1). 151 Außerordentliche Geheimsitzung vom 04.12.1828 (c. 12, e. 1). Bei der Faktion handelte es sich um die Mitglieder einer beim Gouverneur angezeigten Verschwörung in Ario und Zacapu, bei der auch der schon aus der Wahldiskussion bekannte „Padre Carbajal“ als einer der „Agenten“ bezeichnet wurde. 152 Vgl. mit weiterer Literatur auch zu anderen Regionen: Uribe-Uran: Meaning. 153 Vgl. u.a. Uribe-Uran: Meaning, S. 62. Zur Anrede im Kongress vgl. das Kapitel F I.
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Kauf genommen, um den Dienst zu leisten, den das Vaterland ihnen auferlegte“154. Das Engagement für die Gemeinschaft konnte wie auch bei der Übernahme von Wahlämtern in eine Opferbereitschaft übergehen. In diesem Sinne präsentierte der Abgeordnete, der „einen ehrenhaften Posten“ 155 einnehmend im „Streben nach dem Bien público“ sogar „seine Gesundheit opfert“156, das Ideal des guten Ciudadano. Huarte wies schon in der Konstituante darauf hin, dass „die Abgeordneten die Gesetze nicht für sich selbst, sondern für die Pueblos machen, weswegen man nie glauben dürfe“, sie machten ihre Aufgabe aus „der Liebe zu den Sitzen“157. Diäten galten lediglich als Aufwandsentschädigung.158 Die höchste „Strafe“ war in diesem Diskurs diejenige, „nicht mehr Abgeordneter sein“159 zu dürfen. Privatinteressen hatten in den Hintergrund zu rücken. So berichtete Aragón im Dezember 1825 davon, dass „in der Nacht des vorherigen Tages die Kleinhändler der Stadt in großer Zahl an seinem Haus mit dem Ziel zusammenkamen, ihm zu danken, da er deren Antrag in der Diskussion unterstützt habe“. Ohne sein Wissen hinterließen sie zwölf Pesos, die seiner Meinung nach nun mit der Begründung zurückgegeben werden sollten, dass „die Verhandlungen des Ehrenwerten Kongresses immer vom Bien común geleitet und von der Gerechtigkeit unterstützt seien, ohne irgendeine Rücksicht auf bestimmte Personen“160. Das Engagement für das Gemeinwohl unterschied schließlich die guten Ciudadanos von den Facciosos, den Anhängern von Faktionen. Wie im Kapitel über das Thema Wahlen gesehen, warf man diesen grundsätzlich vor, ähnlich wie die Vagos ihre Partikularinteressen zu verfolgen, sich außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses zu stellen. Vor allem daher rührte deren häufige Gleichstellung Das letzte Kapitel zeigte, dass zwar das moderne Ideal des Individuums fest in der Diskusssions- sowie Gesetzgebungspraxis und in der Vorstellungswelt der Abgeordneten verankert war. Aber dieses Individuum war nicht auf Grund seines „eigeninteressierten Handelns“ (Heimann) das Ideal, wie es dem liberalen Gesellschaftsmodell entspräche. Es ist in erster Linie gesellschaftlich definiert als Individuum, das in der und für die Gesellschaft Verantwortung übernimmt und nicht wie die Facciosos seine Partikularinteressen verfolgt, aber auch nicht 154 155 156 157 158
Sitzung Nr. 20 vom 03.09.1827 (c. 5, e. 2). Sitzung Nr. 27 vom 12.09.1831 (c. 15, e. 2). Geheimsitzung vom 06.05.1829 (c. 12, e. 1). Sitzung vom 20.04.1825, in: AyD, II, S. 245f. Vgl. bspw. entsprechende Diskussionen: Geheimsitzungen vom 28.05., 28.07. u. 24.08.1828 (c. 12, e. 1); Außerordentliche Geheimsitzungen vom 30.04.1829 u. 16.11.1830 (c. 12, e. 1); Sitzung vom 28.02.1831 (c. 12, e. 2); Geheimsitzung vom 27.10.1831 (c. 16, s./e. 2). 159 Sitzung Nr. 27 vom 12.09.1831 (c. 15, e. 2). 160 Sitzung vom 17.12.1825 (c. 2, e. 10).
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wie die Pueblos ignorant-passiv bleibt. Das ideale Individuum ist aber gleichzeitig in Abgrenzung gegenüber den Anderen definiert, es besaß – im Gegensatz zu den Pueblos und den gleichfalls individuellen Vagos – einen bestimmten Lebensstil, bestimmte „klassifizierte und klassifizierende Praktiken“ (Bourdieu). Zur Distinktion betonten die Eliten als „Mentoren der Massen“ 161 die Rückständigkeit „ihrer“ Gesellschaft – ein übrigens im atlantischen Raum weit verbreitetes Phänomen. Betont wurde ferner primär der Besserungsbedarf, nicht die Besserungsfähigkeit. Idealtypisch vereinigen sich die hier erwähnten Attribute im verantwortungsbewussten, die Bildung seiner Kinder fördernden, ehrenhaften und gesetzestreuen Familienvater. Wie gleich zu sehen, dachten die Abgeordneten dem Kongress eine entsprechende innergesellschaftliche Rolle zu.
II. Das natürliche und das inszenierte Gesellschaftsideal Der folgende, umfassendere Teil dieses Kapitels untersucht verschiedene Formen des von den Deputierten entworfenen Gesellschaftsideals und die Rolle, die die Abgeordneten dem Kongress beziehungsweise sich selbst in dieser Gesellschaft zudachten. Hier interessiert insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Der vorhergehende Teil konnte zeigen, dass die Parlamentarier Michoacáns das ideale Gesellschaftsmitglied, den Ciudadano, zwar als Individuum zeichneten, dass sich dieses aber zum einen als ein für die Gesellschaft Verantwortung übernehmendes Individuum definierte und zum anderen als sich gegenüber der Gesellschaft distinguierendes Individuum. Welche Vorstellungen hatten die Diputados michoacanos von dieser Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft? Eine Differenzierung dieser zwei Begriffe wird in diesem Kapitel folgen. Insbesondere zwei hier interessierende Modelle lassen sich in den Vorstellungswelten der Abgeordneten unterscheiden: zum einen das natürliche der Familia michoacana und zum anderen das inszenierte und gefeierte der nationalen Opfergemeinschaft. Der erste Abschnitt untersucht Vorstellungen über die Familie, und zwar sowohl über die staatliche Familie der Michoacanos, über die Familia michoacana, als auch über die natürliche Familie. Beide Familienmodelle galten als zentrales Element der sozialen Kohäsion und gleichzeitig durch vermeint161 So schreibt Hellmut Seier bspw. zum Kurhessen des Vormärz: „Das städtische Bürgertum ... verstand sich als Mentor der Massen, Vormund der Unselbständigen, Schiedsrichter im dörflichen Interessenstreit“ (Seier: Liberalismus, S. 118).
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liche Auflösungserscheinungen als gefährdet und förderungswürdig. Zugleich versucht der Abschnitt Parallelen zwischen den beiden Modellen herauszuarbeiten: Daran lässt sich erkennen, dass die Abgeordneten von der natürlichen, konkret erlebten Familie Vorstellungen auf die staatliche Familie übertrugen. Im zweiten Abschnitt (b) wird unter anderem auch der Frage nachgegangen, wie die Abgeordneten das sich im atlantischen Raum ausbreitende Konzept der Nation auf Michoacán hin aneigneten, wie das in Teil (a) skizzierte Ideal der Familia michoacana in die neue Situation hinein übersetzt werden sollte. Dabei spielen insbesondere die offiziellen Erinnerungspraktiken eine zentrale Rolle. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Nationskonzept leitet diese Untersuchung in Teil (b) ein.
a.
Das Ideal der natürlichen Familia michoacana
Der folgende Abschnitt ist den Vorstellungen der Abgeordneten über die natürliche Familie und über die staatliche Familie, die so genannte Familia michoacana, gewidmet. Insbesondere soll in einem Vergleich gezeigt werden, wie die hiesigen Akteure, die Abgeordneten, den konkret fassbare Erfahrungsraum der natürlichen Familie auf Vorstellungen für die zu bildende Staatsfamilie übertrugen. Wenn sich das ideale Verhältnis des natürlichen Familienvaters gegenüber seinen Kindern in erster Linie als verantwortungsbewusst und erziehend beschreiben lässt, und wenn umgekehrt die Kinder ihrem Vater insbesondere gehorchen sollen, so übertrugen die Abgeordneten diese familiären Beziehungen auch auf die Staatsfamilie. Beide Familienmodelle galten durch den Zerfall der Gesellschaft, durch die Disolución social, als bedroht, beide Modelle galt es entsprechend für die Stabilisierung der Gesellschaft zu fördern. Das folgende Kapitel skizziert zunächst relativ kurz das Verständnis der Abgeordneten bezüglich der natürlichen Familie, und zwar sowohl ihr Ideal wie auch ihre Defizite. Der zweite Teil geht dann auf die staatliche Familie und die Position ein, die der Kongress sich dabei zugewiesen hatte. Eine Debatte über die Förderung von Familie und Ehe vermittelt einen guten Einblick über die Grundpositionen bezüglich dieser Sozialmodelle. Francisco Aragón hatte im ersten Kongress Förderungsvorschläge mit den scharfen Worten eingebracht, dass das „Junggesellentum [celibato] ein soziales Verbrechen ist …, die Korruption des Jahrhunderts“162. Er begründete seine Position damit, dass die Erziehung der Kinder als äußerst wichtige Aufgabe von den Eltern zu erledigen sei, da „die Junggesellen ohne die Verpflichtungen einer 162 Sitzung Nr. 69 vom 30.11.1825 (c. 2, e. 9). Die folgenden Zitate entstammen alle diesem Protokoll.
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Familie im Normalfall weniger ehrenhaft und stärker dem Verbrechen ausgesetzt sind“. An dieser Aussage lässt sich die gängige diskursive Verknüpfung von Ehre, Familie, Verantwortung und Erziehung nachvollziehen: Nach den Zitaten am Ende des vorherigen Kapitels galten „Ehre und Familie“ als Distinktionskriterium, sie wurden nahezu gleichgestellt. Eine „Familie haben“ sollte „schlechtes Verhalten“ ausschließen – und war somit zentrales Merkmal eines ehrenhaften, Verantwortung übernehmenden Gesellschaftsmitglieds. Die Tatsache, als Eltern seine Kinder zu erziehen, scheint nicht nur innerfamiliäres, sondern auch gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein und Ehrenhaftigkeit zu garantieren, während Junggesellen eine Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens und ein „soziales Verbrechen“ darstellten. Manuel Chávez unterstützte das Anliegen Aragóns zur Familienförderung mit der Begründung, dass Ehelosigkeit zur Auflösung („disolución“) der Gesellschaft führe, also nicht nur familieninterne Konsequenzen mit sich bringen würde. Die primäre Schuld hierfür sah er bei den „prostituierten Frauen“, bei den „hemmungslosen [disolutos] Jugendlichen“, aber auch bei den „verstoßenen Geistlichen“, die er mit den „Verführern der Frauen“ in einem Atemzug nannte. All diesen Gruppen sei gemeinsam, dass sie die „Sitten verderben und beide Geschlechter von der Ehe abhalten“. Auch González sprach in diesem Zusammenhang von der „Verderbnis der Sitten“ und Huarte beziehungsweise Navarro davon, dass man „bei den Verheirateten eher auf Klugheit und Solidität träfe“ beziehungsweise auf „Tugenden ..., über die sie eine gewisse Verflechtung oder Bande mit der Gesellschaft“ haben. Zincunegui schloss sich ebenso an, da mit der Familienförderung nicht nur die Bevölkerungsmenge gesteigert werden könnte, sondern vor allem der „Anteil an Ciudadanos“, die „wohltuend und nützlich für das Vaterland“ sind. Domínguez und Peguero untermauerten die Argumentation weiter mit Maßgaben des katholischen Glaubens, die jedoch im Gegensatz zu den rein innerweltlich-gesellschaftlichen Ansprüchen interessanterweise nicht als ausschlaggebend galten. In diesem Sinne argumentierte Navarro erfolgreich, dass der Kongress hier nicht mit der Kirche kooperieren könne, da er „sehr gut weiß, dass das die Souveränität angreifen“163 hieße. Der Staat dürfe also nicht auf kirchliche Ressourcen zurückgreifen. Ehelosigkeit war für die Mehrheit gleichbedeutend mit Verantwortungslosigkeit und damit eine der primären Ursachen für das Auseinanderfallen der Gesellschaft. Nur eine kleine Minderheit sprach sich gegen Förderungsmaßnahmen aus, vor allem Echaíz, der den „Willen, sich zu verheiraten, als freien Akt“ und diesbezügliche Privilegien als „konträr zum liberalen System“ bezeichnete. Außerdem würden sich Junggesellen mit „mehr Effizienz“, mit „mehr Zeit und 163 Sitzung Nr. 69 vom 30.11.1825 (c. 2, e. 9).
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Ruhe“ 164 der Erziehung der Kinder widmen können, da sie keine anderen Verpflichtungen hätten. Ob er damit im Umkehrschluss in gänzlich unkatholischer Manier präferierte, dass man als Unverheirateter eigene Kinder erzieht, geht aus der Passage leider nicht hervor. Schließlich setzte sich jedoch die Mehrheit durch und räumte den Verheirateten, und unter diesen, denen mit mehr Kindern, einen Vorzug bei der Besetzung von bezahlten staatlichen Ämtern ein. Bei Wahlämtern sollte demnach bei Stimmengleichheit nicht mehr das Los, sondern eben der Stand als Ehemann beziehungsweise Familienvater entscheiden. Der Zusatz „bezahlt“ wurde aufgenommen, da andere Anstellungen auch hier als Beschwernis empfunden wurden, für die man nicht ausreichend „mit der Ehre entschädigt“ 165 werde. Die Wahrnehmung der Abgeordneten korrespondierte allerdings nicht mit einer niedrigen Heiratsquote in Michoacán: So werden in der Regierungsdenkschrift von 1829 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 422.472 Einwohnern immerhin 5.945 innerhalb eines Jahres neu geschlossene Ehen angeführt, also immerhin fast 12.000 Neuverheiratete.166 Eine weitere bemerkenswerte Sonderbehandlung erhielten Verheiratete bei der Vertreibung der Spanier 1827: Nur Ledige und „Verheiratete, die kein Eheleben führen“167, mussten den Staat laut erstem Vertreibungsgesetz verlassen. Juan Gómez de la Puente wollte den Artikel insofern spezifizieren, als dass nur die Spanier ausgewiesen werden sollten, die selbst „Schuld“ am Nicht-Eheleben haben, „da es gut geschehen kann, dass wegen der Unvernunft, der Indiskretion oder wegen anderer Motive der Frauen“ diese die Schuld tragen. Falls Spanier trotzdem „die Pflichten eines guten Familienvaters erfüllen, indem sie ein Kind erziehen“ 168 , sollten sie von der Vertreibung ausgenommen werden. Felipe Carbajal sprach zwei Jahre später von „vielen ehrenhaften Spaniern, die ihre Familien versorgen und in den Pueblos ihres Wohnsitzes sehr nützlich sind“169. Auch wenn der Kongress den Vorschlag von Gómez de la Puente wegen Realisierungsschwierigkeiten und aus Zeitknappheit nicht weiter verfolgte, wird doch deutlich, dass ein guter Familienvater und Ehemann der Gesellschaft nicht gefährlich werden konnte, und das sogar, obwohl er Spanier war. So ist es folgerichtig, dass der Kongress zwei Jahre später die Argumentation von Gómez de la Puente übernahm, indem er „Verheiratete, die selbstverschuldet kein Eheleben führen, und die sich von der Versorgung ihrer Familie ab164 165 166 167 168 169
Sitzung Nr. 69 vom 30.11.1825 (c. 2, e. 9). Dekret Nr. 10 (01.02.1826), in: RdL, II, S. 47f. Vgl. Memoria 1829, Tafel 1. Dekret s./Nr. (09.11.1827) / Art. 1, in: RdL, III, S. 13. Außerordentliche Sitzung Nr. 74 vom 08.11.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung Nr. 74 vom 06.11.1829 (c. 11, e. 1).
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wenden“ 170 , zusammen mit Vagos und anderen in die Riege der unverantwortlichen Mitglieder der Gesellschaft und in die Reihe der zu korrigierenden Personen einordnete. Die Vorbildlichkeit der Abgeordneten äußerte sich in diesem Punkt unter anderem durch die verantwortungsvolle Versorgung ihrer Familien, die immer wieder als Entschuldigungsgrund für Abwesenheit bei den Debatten angebracht und fast immer umstandslos akzeptiert wurde.171 Das ideale Kind hingegen war diskursiv durch seinen Gehorsam und seine Unterstellung unter die elterliche Verantwortung charakterisiert. Erst mit dem Austritt aus dem Elternhaus konnten sie potentiell zur Verantwortung gezogen werden. So heißt es 1828, dass Personen bis zum 25. Lebensjahr, die noch unter der Aufsicht der Eltern leben, keinen Beitrag zur Finanzierung der Milizen leisten mussten. 172 Die in die gleiche Richtung weisenden Debatten um das Mindestalter von Abgeordneten und anderen Amtsträgern wurden bereits zitiert: Verheiratete galten als potentiell früher verantwortungsbewusst, konnten früher Ämter übernehmen. Im Sinne des Landverteilungsgesetzes waren Verheiratete gleich welchen Alters als Anspruchseinheit anerkannt, Alleinstehende hingegen erst mit mindestens 25 Jahren. Als vierte Anspruchskategorie führten die Deputierten nach einer längeren Debatte Waisen ein, wobei hier alle Geschwister als eine Einheit betrachtet wurden. Eine längere Diskussion entbrannte dann bei der Frage, ob Waisen mit über 25 als eigene Berechtigungseinheit gelten sollten, wobei die abschließende Regelung dies nicht eindeutig festlegte. 173 Peguero resümierte eingestehend, dass es hier keine absolute Gerechtigkeit gebe, dass „man eine Basis fixieren müsse, die sich am ehesten der Gerechtigkeit nähert, welche keine andere sein kann als die der Familie“174. Fehlender Gehorsam von Minderjährigen gegenüber ihren Eltern war, wie bei der obigen Diskussion gesehen, ein Definitionskriterium zur Einstufung als Vago. Zincunegui hatte gegen diesen Artikel opponiert, da er es als widrig 170 Dekret Nr. 17 (10.12.1831) / Art. 1, in: RdL, V, S. 14. 171 Vgl. zu Entschuldigungen bspw. wegen der Krankheit des Vaters: Sitzung vom 30.01.1827 (c. 3, e. 6); Geheimsitzung vom 13.02.1827 (c. 2, e. 6) oder wegen der „Subsistenz der Familie“ [Sitzung vom 25.01.1827 (c. 3, e. 6)]. In diesem Sinne begründete bspw. Lloreda auch eine nicht zu ausgedehnte Sitzungsperiode des Kongresses damit, dass so sonst die Familien der Abgeordneten Nachteile erleiden würden; vgl. Sitzung vom 20.04.1825, in: AyD, II, S. 243. 172 Vgl. Sitzung Nr. 61 vom 01.04.1828 (c. 7, e. 2). 173 Vgl. Sitzungen vom 02. u. 04.01.1827 (c. 3, e. 6). 174 Sitzung vom 04.01.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. insgesamt Dekret Nr. 23 (18.01.1927) / Art. 7, in: RdL, II, S. 62; Reglamento para la partición de tierras (15.02.1828), in: RdL, III, S. 29-35; im Anhang des Reglements (S. 35-39) befindet sich eine minutiöse, für weitere Familien-untersuchungen aufschlussreiche Auflistung unterschiedlicher Fälle, die im Sinne des Gesetzes als „Familie“ gegolten haben.
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gegenüber den „Gefühlen der Natur“ empfand, „dass ein Vater seine Söhne einer fremden Autorität übergibt“. Es sei also das natürliche Bedürfnis eines Vaters, seine Kinder zu versorgen, der Staat könne hier keine Ersatzfunktion übernehmen. José Maria Pallares meinte, dieses Bedürfnis sei nicht bei allen vorhanden, „wie der Umstand unter Beweis stellt, sie [die Kinder] bis nach China zu schicken“175. Die Figur der Mutter als Einzelperson und Akteuse fehlte in den Debatten fast vollständig, nur zuweilen wurde sie, wie gesehen, als Erziehungspartnerin des Ehemanns skizziert, häufig scheint sie jedoch wie ihre Kinder eher ein Erziehungsobjekt darzustellen. Der (Ehe-)Frau hingegen hing tendenziell der Ruf der Unvernunft, aber auch der der Schuld am Niedergang des Familienmodells an, wobei diese Aussagen durch weitere Untersuchungen vertieft werden müssten: Berücksichtigt werden hierfür müsste neben dem Gewicht, dem man der (Aus-)Bildung von Frauen zumaß, meines Erachtens auch die zitierte Bestimmung bezüglich der indirekten Steuer, nämlich dass „jeder Michoacano gleich welcher Klasse, welchen Geschlechts [Hervorhebung S.D.] oder Alters“176, der ein persönliches Einkommen hatte, pro Jahr den Gegenwert von drei Tagen Einkommen als direkte Steuern zahlen sollte. Die (Ehe-)Frau nahm hier durchaus eine Subjektrolle ein, ähnlich der Vecina im Antiguo régimen. 177 Frauen galten allerdings insofern nicht als gleichverpflichtet, als dass für sie die Regelung erst ab einem Einkommen von mindestens 100 Pesos griff. Das Gesetz legte gleichzeitig auch fest, dass das „Familienoberhaupt“ 178 , also der Pater familias, für die Steuerzahlung aller Familienmitglieder verantwortlich war. Auch wenn die Abgeordneten es nicht explizit formulierten, schien als familiäres Ideal die Kleinfamilie im Vordergrund zu stehen. Die Angehörigen der Großfamilie, welche im Mexiko der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch dominierte, also auch die Angestellten eines Haushalts, tauchten in den Diskussionen kaum auf.179 Die Behandlung dieser sehr disparaten Themen macht evident, dass sich der gute Familienvater durch Ehre, durch eine verantwortungsvolle Erziehung mit dem Ziel der Schaffung von Ciudadanos auszeichnete, um so dazu beizutragen, die gesellschaftliche Auflösung sowie den Sittenverfall zu verhindern: Der Status des Hombre de bien, des guten Ciudadano, vollendete sich in der Figur des verantwortungsbewussten und Gehorsam verdienenden Familienvaters. Er 175 Sitzung Nr. 133 vom 30.10.1826 (c. 4, s./e.). 176 Dekret s./Nr. (09.04.1829) / Art. 1, in: RdL, III, S. 157. 177 Vgl. zur Rolle der Frau und der Individualisierung der Familie in der Umbruchszeit, insbesondere nach dem Erlass der in Kapitel A II behandelten Real pragmática von 1776: García Peña: Continuidades; Lipsett-Rivera: Marriage. 178 Dekret s./Nr. (09.04.1829) / Art. 7, in: RdL, III, S. 158. 179 Vgl. zu den beiden Familienmodellen im 19. Jahrhundert Mexikos: Esteinou: Surgimiento.
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war die zentrale Figur, die die vermeintliche Disolución social und die Gefährdung des Sozialmodells Familie aufzuhalten hatte. In einigen Bereichen wie der Bildung und Erziehung oder auch im Gesundheitswesen vertrauten viele Abgeordnete hingegen offensichtlich nicht auf das alleinige Funktionieren des Familienmodells, insbesondere dann, wenn die Patres familias ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden. Hier sollten außerfamiliäre, vor allem staatliche Institutionen, entweder der Präfekt, der Subpräfekt, der Lehrer oder der Pfarrer als externe Autoritäten Aufsichtspflichten im intrafamiliären Bereich übernehmen: Sie sollten beispielsweise dafür sorgen, dass Kinder von ihren Eltern zur Schule180 beziehungsweise zum Impfen181 gebracht werden. Die Skepsis gegen einen zu starken Familieneinfluss zeigte sich aber auch schon in der zitierten Festlegung, dass nicht zu viele Familienmitglieder in einem Ayuntamiento versammelt sein durften. Ein Gesetz von 1830, das das oben zitierte von 1825 konkretisierte, sollte gemäß den Debatten insbesondere verhindern, dass in den Orten außerhalb der Hauptstadt einzelne Familien eine dominierende Rolle einnehmen konnten, beispielsweise sollten sich die munizipalen Gelder nicht „in das Eigentum einiger Familien verwandeln“182. Da hier nicht Familienmodelle als solche untersucht werden – was sich mit dem vorliegenden Material durchaus lohnen würde –, soll an dieser Stelle lediglich festgehalten werden, dass die Institution Familie zwar grundsätzlich positiv konnotiert war, dass aber durchaus auch kritische Töne existierten. Wenn im Folgenden kurz die Ebene der staatlichen Familie betrachtet wird, ist zunächst festzuhalten, dass die Metapher der Staatsfamilie schon seit der Zeit Platons (427-347 v. Chr.) und Aristoteles’ (384-322 v. Chr.) Einzug in das gesellschafts- und staatstheoretische Denken der westlichen Welt gehalten hatte. Jean Bodin (1530-1596) und Johannes Althusius (1557-1638) betonten im 16. und 17. Jahrhundert insbesondere den naturgegebenen Anspruch der väterlichen Autorität, des Monarchen auf den Gehorsam der Untertanen. John Locke hingegen opponierte gegen eine solche Unterordnung und stellte als Verfechter der Vertragslehre, also der Einsetzung der Herrscher durch den Willen der Beherrschten, vielmehr die elterlich-herrschaftliche Verantwortung für das Erwachsenwerden der Kinder in den Mittelpunkt.183
180 Vgl. Sitzungwn vom 23.05. u. 11.06.1829 (c. 10, e. 2). 181 Vgl. Sitzung Nr. 18 vom 31.08.1831 (c. 15, e. 2). 182 So Domínguez bezüglich Zamoras, nach Einschätzung der Abgeordneten die zweitgrößte Ortschaft Michoacáns: Sitzung Nr. 68 vom 26.10.1830 (c. 12, e. 2); vgl. auch Dekret Nr. 60 (06.11.1830), in: RdL, IV, S. 77f. Vgl. weitere Äußerungen in diese Richtung: Sitzung vom 21.12.1825 (c. 4, s./e.); Sitzung Nr. 71 vom 30.10.1830 (c. 12, e. 2). 183 Vgl. König: Weg, S. 123f. u. ausführlicher Schochet: Patriarchialism, Kap. II u. XIII.
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Anhand des Gebrauchs von Familienmetaphern, besonders plakativ der der Familia michoacana, und der Charakterisierung des Aufgabenbereichs des Kongresses lässt sich zeigen, dass die Übertragung des Bildes auf Michoacán bei den Abgeordneten weit verbreitet war – und zwar in den beiden eben skizzierten Traditionen: in der des verantwortungsbewussten und in der des Gehorsam fordernden Vaters. Die einzige ausdrückliche Erwähnung des Terminus der Familia michoacana ist in einer Rede von José Salgado von 1825 zu finden, in der er mit Bezug auf den „gefeierten Bentham“ auf die Notwendigkeit eines vom Kongress zu erarbeitenden Landverteilungsgesetzes hinwies: So sollten zum individuellen und „allgemeinen Nutzen des Staates und der Familia michoacana“ möglichst viele produktive Einzeleigentümer kreiert werden. 184 Auch wenn der Begriff der Familia michoacana also wenig verbreitet war, so trifft er doch die dahinter stehende Gesellschaftsvorstellung am besten. So definierte der Kongress, die Vater-Kind-Metapher aufnehmend, 1827 seine Rolle eindeutig: „Man muss den Kongress als Vater betrachten, der die Sicherheit seiner Familie“ im Auge hat, weswegen er, wie hier im Falle der Spaniervertreibung, „seine Meinung dem allgemeinen Wohl opfert“185. Der Kongress übernahm demnach wie der Hombre de bien auf der Ebene der natürlichen Familie die Position des für die Allgemeinheit Verantwortung übernehmenden Vaters. 1829 beschloss er in diesem Sinne eine Unterstützung für die in Michoacán verbleibenden, notorisch armen Familienmitglieder der vertriebenen Spanier in Form einer monatlichen Pension, da „der Staat der Vater der Familien von diesen ist“186. Bei diesen beiden Zitaten verdeutlicht sich jedoch zudem, dass der Kongress sich auch insofern als Vater gerierte, als dass er über den Dinge zu stehen habe, sei es, indem er seine Meinung opferte, sei es, indem er sich von der Meinung des Volkes absetzte und die von den anderen metaphorischen Kindern aus dem Kreis der Familie ausgestoßenen Spanier weiter versorgte. Die Spaniervertreibung – und deshalb ist es besonders bezeichnend, dass hier die Vatermetapher gleich zweimal auftaucht – verweist aber inhaltlich zugleich, um im Bild der Familia michoacana zu bleiben, auf die Instabilität der familiären Beziehungen. Der Kongress nahm als Staatsoberhaupt der Familia michoacana auf Grund der Disolución social ähnliche Probleme wie bei der natürlichen Familie wahr: Die häufig wiederholten Klagen über fehlenden Gehorsam, mangelnden Gemeinschaftssinn, über unterentwickeltes Verantwortungsbewusstsein beziehungsweise Vertrauen gegenüber der Gesamtheit weisen auf das Gefühl der Bedrohung 184 Vgl. neben den Ausführungen oben v.a.: Sitzung vom 11.07.1825, in: AyD, II, S. 392. 185 Außerordentliche Sitzung Nr. 74.vom 08.11.1827 (c. 5, e. 3). 186 Sitzung vom 02.03.1829 (c. 10, e. 2). Vgl. auch Dekret s./Nr. (03.03.1829), in: RdL, III, S. 156.
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beider Familien hin. Wie die Ausführungen zu Beginn des Kapitels D bezüglich des Kontextes zeigten, wurde der Kongressanspruch als ordnungsetablierende Institution nicht immer akzeptiert. Das natürliche Modell der Familia michoacana drohte in den Augen der Abgeordneten zu zerfallen. Vor dem Hintergrund der in den Abschnitten A und D dargestellten tief greifenden gesellschaftlichen Krise der späten Kolonialund der frühen Unabhängigkeitszeit kann diese Befürchtung kaum überraschen. Anders als in den jungen USA überwog hier nicht der Fortschrittsoptimismus. Um der Disolución social entgegenzuwirken, sollte wie im folgenden Abschnitt ausführlich gezeigt wird, eine (neue) Gemeinschaft errichtet werden. Für den hiesigen Abschnitt bezeichnend ist, dass weitere Familienmetaphern insbesondere im Zusammenhang mit dieser zu bildenden Gemeinschaft anzutreffen sind. So unterstützte der Kongress 1828 die Feierlichkeiten zum nationalen Feiertag des 16. Septembers, um die „Sensation im amerikanischen Herz“ zu verankern, der Kongress wollte „das patriotische Feuer nähren und von den Vätern an die Söhne weiterreichen“187. Wie ebenfalls gleich zu sehen sein wird, erhielt die Hauptstadt Michoacáns 1828 einen neuen Namen, und zwar in Anspielung auf José María Morelos, den „wohlverdienten Sohn der Patria“188. Hinzuzufügen wäre beispielsweise auch die Auseinandersetzung über die Frage, wie viel der Staat zur Finanzierung der Neuauflage einer Historia antigua de Michoacán beitragen sollte, die der Ciudadano Abarca dem Kongress angeboten hatte. Der Autor der Schrift wurde leider nicht erwähnt, laut Regierungsschrift könnte es sich aber um Pablo Beaumont handeln, den Franziskanermönch und Verfasser der schon zitierten Crónica de Michoacán (1776-1780). 189 González sprach sich erfolgreich für einen staatlichen Beitrag aus: Die Zirkulation unter den „Söhnen des Staates“ 190 verspräche, obwohl sie „teuer“ wäre, einen „Nutzen für den Staat: Die Michoacanos wissen, ihre Unabhängigkeit mehr zu schätzen, wenn sie das Verhalten der Spanier kennen, während sie sie dominierten“ 191 . Ähnlich hatte die Regierung argumentiert: Die Crónica sollte kopiert werden, um „unter unseren Conciudadanos die Liebe zur Freiheit, den Hass auf die Tyrannei und eine leidenschaftliche Hingebung zu den Nachfahren 187 Sitzung Nr. 4 vom 09.08.1828 (c. 8, e. 1). 188 Sitzung Nr. 15 vom 23.08.1828 (c. 8, e. 1). 189 Vgl. Memoria 1828, S. 26. Dort ist von einer Kopie eines Werks, „geschrieben vom Padre Beaumont“, die Rede. 190 Sitzung Nr. 102 vom 22.08.1826 (c. 4, e. 2). 191 Außerordentliche Sitzung vom 26.07.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. außerdem: Sitzung Nr. 114 vom 18.09.1826 (c. 4, e. 2); Sitzung Nr. 134 vom 31.10.1826 (c. 4, s./e.); Außerordentliche Sitzung vom 28.07.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung Nr. 1 vom 06.08.1827 (c. 5, e. 2). Zu Beginn der nächsten Legislatur lag die Kopie dem Kongress vor, allerdings ohne Angabe der Auflagenzahl. Auch über die weitere Verbreitung ist leider nichts bekannt.
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der ersten Siedler zu erzeugen, die noch existieren und damit die überkommene Sklaverei ihrer Vorväter bezeugen“192. Das Ziel der Abgeordneten als Väter der Familia michoacana war die Bekämpfung der so wahrgenommenen gesellschaftlichen Auflösung durch – und hier folgten sie einer weit verbreiteten aufgeklärt-liberalen Tendenz – Erziehung auf das Ideal des Ciudadano hin. Besonders pointiert drückte dies Agustín Aguiar bei einer Diskussion über die Landverteilung aus. Er sei hier zur Verdeutlichung ausführlich zitiert: „Im aktuellen Stadium der Rohheit unserer Indígenas gebe man ihnen ein wirksames Mittel, ihre Stämme isoliert zu halten, wenn man die Vermischung mit den anderen Staatsbürgern ablehnt ... Ohne weitere Unterscheidung als die der Tugend und des Verdienstes müssen wir darauf bestehen, eine neue Rasse von Menschen zu formieren ... müssen wir darauf bestehen, diese Stämme von versklavten Menschen tatsächlich in Staatsbürger mit dem Epitheton frei zu verwandeln“193.
Er sprach sich in diesem Sinne dafür aus, den Gemeindebesitz nicht nur unter der indigenen Bevölkerung zu verteilen, sondern unter allen Bewohnern der Pueblos, um durch ein Zusammenleben „diese Stämme von versklavten Menschen“ in eine „neue Rasse“ von freien, also wirklichen Staatsbürgern zu verwandeln. Eine zweite implizite Annahme ist die, dass der Kongress beziehungsweise seine Abgeordneten die Verantwortung für die Bildung einer neuen Gesellschaft übernahmen. Er ist insbesondere gegenüber den Pueblos der aktiv erziehende Vater. Viele Politikbereiche sind von dieser Erziehungsfunktion – wie schon gezeigt – implizit und explizit geprägt. Die Frage nach der Perspektive scheint mir als Ergebnis dieses Abschnitts zentral: Die Abgeordneten gaben das von ihnen gewollte Gesellschaftskonzept als Ideal vor und zielten auf die Umerziehung der Pueblos, der Anderen, in gute Ciudadanos ab. Sie konstruierten es, wie in Teil E I gesehen, weithin als Gegenprojekt zu dem der Pueblos und Vagos. Die Abgeordneten nahmen immer wieder vor allem die Perspektive des Staates ein und gleichzeitig die der Elite, der guten Ciudadanos. Damit blieben sie dem oben skizzierten Denken der Verfassungsväter treu. Diese Doppelposition äußert sich besonders deutlich im Bildungsbeziehungsweise Erziehungsideal: Einerseits versuchten sich die Abgeordneten 192 Memoria 1828, S. 27. In eine ähnliche Richtung wies auch der Vorschlag der Regierung, ein Museum für Funde aus der Gegend der ehemaligen Purhepecha-Hauptstadt Tzintzuntzan zu errichten. Michoacán wurde hier als eines „der drei bekannten Reiche“ bezeichnet – und damit (vermutlich) auf eine Stufe gestellt mit den Azteken. Die Funde könnten „vielleicht für nützliche Erkundungen dienen, die für die Geschichte jener Länder vor der spanischen Herrschaft hilfreich“ (Memoria 1828, S. 26) sind. 193 Sitzung Nr. 152 vom 13.12.1826 (c. 4, s./e.).
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als Ciudadanos darüber von den ignoranten Pueblos zu unterscheiden, sich im Bourdieu’schen Sinne zu distinguieren. Andererseits beanspruchten sie im Sinne Kosellecks als Abgeordnete die Position des außen stehenden Kritikers. Wie der Kongress es als seine Aufgabe ansah, zur Bekämpfung der so wahrgenommenen Disolución social die natürliche Familie zu fördern, so verhielt es sich auch bezüglich der staatlichen Familie, der Familia michoacana.
b. Die gefeierte und inszenierte nationale Opfergemeinschaft Um noch differenzierter die Vorstellungen über die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ und deren Beziehung zu den Individuen betrachten zu können, werden im Folgenden die Erinnerungspolitiken des Kongresses untersucht. Wie angekündigt, folgt zunächst ein Überblick über die Theorie der Nationsforschung. Analysiert wird darauf aufbauend, wie sich die Abgeordneten die offiziellen Festakte vorstellten und wie sie sie planten. Dann folgt die Betrachtung von weiteren konkreten Erinnerungspolitiken des Kongresses, wie die Debatten über Nationalfeiertage und -helden sowie die (Um-)Benennung von Ortschaften. Welche Aspekte galten ihnen als erinnerungswürdig und als Grundlage der zu bildenden Gemeinschaft? Wen und was wollten die Abgeordneten feiern, welche Traditionslinien betonen oder gar erfinden, welches Gemeinschaftsideal imaginieren?194 Hier wie im Folgenden verdeutlicht sich auch, dass die Abgeordneten die Nación michoacana nicht als Gegenentwurf zur Nación mexicana betrachteten. Vielmehr ging es ihnen um die Bildung einer Gemeinschaft von Menschen, die sich im republikanischen Sinne über ihren gemeinschaftlichen Charakter definierten. Aber zunächst folgt ein Überblick über die Nationsforschung: Nach Max Weber fehlte es der auf rationalen Kriterien, beispielsweise einem Verfassungsvertrag basierenden Gesellschaft an einer „subjektiv gefühlte[n] (affektuelle[n] oder traditionale[n]) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“195. Es fehlte ihr an Gemeinschaft – Weber folgt hier explizit dem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies. Das Bedürfnis nach einer „die Gesellschaft umfassenden Gemeinschaft“, nach einer „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ 196 stellt sich für die Mehrzahl der sich damit beschäftigenden Forschung, wie hier für Richard Münch, als ein Grundbedürfnis der Herausbildung 194 Vgl. hierzu die mittlerweile als klassisch zu bezeichnenden Werke von Anderson: Communities u. Hobsbawm / Ranger (Hgg.): Invention, insb. die Einleitung: Hobsbawm: Introduction. 195 Weber: Wirtschaft, S. 21; vgl. dazu auch Tönnies: Gemeinschaft, S. 7-70. 196 Münch: Struktur, S. 261 und weiterführend das gesamte Kapitel II (S. 261-301).
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der modernen, immer weiter über den lokalen Rahmen hinauswachsenden Gesellschaft dar. Demnach gilt die Nation als die herausragende Form einer solchen Vergemeinschaftung. 197 Die Nation soll, „einen neuen solidarischen Zusammenhang zwischen Personen [stiften], die bis dahin Fremde füreinander waren“ 198 . In diesem Sinne ist sie – anders als die natürliche Familie – eine „vorgestellte Gemeinschaft“199. Anthony Smith stellte in einer Untersuchung über verschiedene Ansätze zum Thema Nation und Nationalismus fest, dass eine das gesamte, ihr zugeordnete Spektrum an Phänomenen erklärende und zusammenfassende Theorie (bislang) nicht vorliegt. 200 In ähnlicher Weise wie bei der Familie als Gesellschaftsmodell trifft man allerdings auch hier in der Forschungsliteratur häufig auf eine analytische Zweiteilung. Hier folgen einige meines Erachtens grundlegende Überlegungen. Der renommierte Nationsforscher Eric Hobsbawm unterschied zwischen der „nationalist“ und der „revolutionary-democratic“201 Vorstellung. Erstere knüpft an die gedachten gemeinsamen Grundlagen einer Gemeinschaft wie Sprache, ethnische Herkunft, Geschichte et cetera an und strebt eine weitgehend homogene Gemeinschaft an. In ihr wird die eigene Nation prinzipiell gegenüber dem Individuum und gegenüber anderen Völkern beziehungsweise Volksgruppen als höherwertig betrachtet. Sie legitimiert sich über die Volkssouveränität naturrechtlich und vorpolitisch und ist somit nicht an einen bestimmten Verfassungstypus gebunden. Bei ihr besteht, wie Rainer Lepsius betont, die relativ einfache Möglichkeit einer „Umvolkung“202, also der Neudefinition dessen, was die Nation ausmacht und welche Regierungsform ihr entspricht. Im Gegensatz dazu definiert sich das Modell der revolutionärdemokratischen Nation, der Staatsbürgernation in plural-liberaler Denkweise, über ihre gleichberechtigten, individuellen Mitglieder als „the body of citizens whose collective sovereignity constituted them a state which was their political expression“ 203 . Ihre Legitimation basiert auf der liberal-demokratischen Verfassungsordnung und deren Umsetzung in die Realität. Im Idealfall wird sowohl nach außen, gegenüber anderen Staaten, wie auch im Inneren, gegenüber 197 198 199 200
Vgl. resümierend Breuer: Staat, S. 190. Habermas: Einbeziehung, S. 156. Anderson: Communities. Vgl. Smith: Nationalism, S. 221-223. Vgl. im Überblick auch: Dorsch: Staatsbürgerschaft, S. 4-6. 201 Hobsbawm: Nations, S. 22. 202 Lepsius: Nation, S. 19. Lepsius bezeichnet diesen Typen als Volksnation, die primär auf ethnisch-rassischen Merkmalen basiert, aber zusätzlich auf kulturelle Eigenschaften zurückgreifen muss, da erstere (meist) nicht als Basis ausreichen; vgl. Lepsius: Nation, S. 15-19. 203 Hobsbawm: Nations, S. 18f.
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Individuen und Minderheiten, das Selbstbestimmungsrecht garantiert – eine „kulturelle Zwangsassimilation“ 204 findet nach diesem Modell nicht statt, interne Konflikte werden über institutionalisierte Verfahren geregelt. Auch in der Konzeption von Jürgen Habermas hat die Nation „zwei Gesichter“: „die geborene Nation der Volksgenossen“ und „die gewollte Nation der Staatsbürger“205. Das erste Gesicht sorgt für die sozio-kulturelle Integration in die nationale Gemeinschaft, das zweite für die demokratische Legitimation des politischen Systems und für die politische Einbeziehung. Die Abgrenzung gegenüber dem Anderen ist die Kehrseite der Integration. Beide Prozesse ergänzen einander in wechselnder Gewichtung: Die tendenziell eher inkludierende „Staatsnation als Willensgemeinschaft“ steht somit in enger Verbindung mit der eher exkludierenden „Kultur- oder Sprachnation als Herkunftsgemeinschaft“ 206 , nach Habermas „changiert“ „das Nationalbewusstsein ... eigentümlich zwischen erweiterter Inklusion und erneuter Abschließung“207. Betrachtet man die Nationsforschung zu Mexiko (beziehungsweise Lateinamerika), fallen insbesondere zwei immer wieder genannte Themenkomplexe auf. Als Problem wird ex- und implizit auf die Unterschiedlichkeit zur europäischen, als Ideal betrachteten Entwicklung hingewiesen: Zum einen sind hier der vermeintlich besonders stark ausgeprägte korporative Charakter, die ethnische Diversifizität sowie der starke katholische Einfluss und die oft mit diesen Facetten verbundene, als rückständig empfundene Situation der Gesellschaft zu nennen. Ob dies tatsächlich so war, dies zu untersuchen, ist nicht das Ziel der vorliegenden Studie. Mit den vorangegangenen Abschnitten wurde jedoch deutlich, dass die meinungsbildenden Eliten (erheblich) zur Verbreitung dieser Wahrnehmung – nach innen wie nach außen – beitrugen. Als zweites, eng verbundenes Spezifikum wird die besondere Situation nach dem schnellen Eintritt in die Unabhängigkeit genannt, welche die Gesellschaften beziehungsweise ihre Eliten – so die Forschung – damit konfrontierte, im Gegensatz zu Europa zunächst staatliche Strukturen aufbauen zu müssen, um erst dann eine (auch von den Nachbarn abgrenzbare) nationale Gemeinschaft konstruieren zu können. Nach dieser Meinung war es „für die Triumphatoren der Unabhängigkeitskriege die große Aufgabe des 19. Jahrhunderts … zuerst den Staat und dann, von dort aus, die moderne Nation zu konstruieren“208. Sie konnten dabei nur selten, an Identitäten mit überregionaler Bedeutung anknüpfen. In den Bürgerkriegen und Konflikten, die schließlich zur 204 205 206 207 208
Lepsius: Nation, S. 24. Habermas: Einbeziehung, S. 139. Vgl. Langewiesche: Nation, S. 39-41, Zitat S. 46. Habermas: Einbeziehung, S. 156. Guerra: Modernidad, S. 350.
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Unabhängigkeit führten, appellierten die Meinungsführer auch weniger an die spätere Nation, sondern eher an Amerika im gesamten. Mónica Quijada bezeichnet die lateinamerikanischen Gesellschaften beziehungsweise ihre Eliten deswegen als „authentische Nation-builder“209. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Erinnerungspolitiken des Congreso michoacano im Untersuchungszeitraum betrachtet, zunächst relativ ausführlich die offiziellen Festakte. Hierbei stehen die gerade gewonnene Unabhängigkeit und deren Helden eindeutig im Vordergrund. Was aber wurde an ihnen besonders hervorgehoben, was macht sie zu Personen, die gefeiert und als Ideal bewundert werden konnten und sollten? Auch hier stellt sich wieder die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Individualität und Kollektivität sowie zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Denn, inwiefern kann es im Sinne einer neu zu etablierenden Autorität sein, Revolutionäre gegen die Autorität zu feiern? Besteht dadurch nicht die Gefahr, dass der Kampf gegen eine konkrete, als ungerecht empfundene Autorität uminterpretiert wird in den allgemeinen Kampf für den eigenen Willen, der sich dann auch gegen die neue Autorität wenden kann? Eine Grundsatzentscheidung bestand in Michoacán wie in Gesamt-Mexiko über weite Strecken des 19. Jahrhunderts zunächst darin, welcher Tag zu feiern sei. Insbesondere die Entscheidung zwischen dem 16./17. und dem 27. September war eine hochpolitische, die je nach den Mehrheitsverhältnissen entschieden wurde. Schon 1812 hatte der Unabhängigkeitsführer Ignacio Rayón für den 16. September Feiern in Erinnerung an den Grito de Dolores von Miguel Hidalgo (1810) angeordnet. Unter dem Kaiserreich Iturbides (1822-1823) galt der Grito als vernachlässigbar, während vielmehr der 27. September in den Vordergrund gerückt wurde, also der Tag des Einzugs der siegreichen Truppen Iturbides in Mexiko-Stadt (1821), der zudem der Geburtstag des Kaisers war. Hinzu kamen weitere vermeintlich wichtige Daten des Kaiserreiches wie der Jahrestag der Verkündung des Plans von Iguala (24. Februar) und die Thronbesteigung (19. Mai). Der 27. September fand während des 19. Jahrhunderts insbesondere dann Beachtung, wenn eher konservative oder gar monarchische Gruppen das Sagen hatten.210 Heute haben sich der 16. und 17. September als
209 Quijada: Nación, S. 288. Vgl. zu diesem Komplex neben den weiteren in den nächsten beiden Kapiteln zitierten Werken im Überblick: König: Reflexiones, v.a. S. 26-29; Pérez Collados: Discursos, S. 50-53; Renaut: Lógicas, S. 42-62; Chasteen: Introduction. José María Pérez Collados schreibt von einem „Estado artificial“, von dem aus die mexikanischen Kreolen die „ficción de una nación“ entwarfen. In der Fußnote meint er: „Das ist der Schlüssel, der die gesamte Geschichte Mexikos bestimmt“ (Pérez Collados: Discursos, S. 53). 210 Erst ab 1838 wurde Iturbide als Nationalheld rehabilitiert und seine Gebeine feierlich von Querétaro, wo er 1824 erschossen worden war, nach Mexiko-Stadt überführt;
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nationale Feiertage durchgesetzt. Auf eine Differenzierung der beiden Tage wird weiter unten eingegangen. Ein weiterer Anlass, der 11. September als Jahrestag des Sieges gegen den spanischen Invasionsversuch von Tampico 1829, hatte in Mexiko immer dann Konjunktur, wenn der Sieger von Tampico, Antonio Lopéz de Santa Anna, eine mächtige Position innehatte, was bis in die 1850er Jahre häufig der Fall war. 211 In Michoacán verhielten sich die Abgeordneten aber selbst 1829 kurz nach dem Sieg eher zurückhaltend. Der Abgeordnete Martin Garcia de Carrasquedo beschwerte sich zwar, dass sich im Gegensatz zu vielen anderen „Michoacán so kühl verhalte“212, trotzdem unterstützte der Kongress die Feiern nur mit einer kleinen Geldsumme und wollte ihn mit Verweis auf die Verfassung auch nicht in den Rang eines nationalen Feiertages erheben, ihn also nicht arbeitsfrei machen. Nicht einmal eine Ansprache wird erwähnt.213 Mit der Absetzung des Kaisers und der Ausrufung der Republik 1823 stand im Betrachtungszeitraum der 16. September im Vordergrund. So installierte ein föderales Dekret 1824 den Grito neben dem 4. Oktober, dem Tag der Verabschiedung der Constitución federal, als alleinigen zivilen Nationalfeiertag. 214 Der Kongress von Michoacán hatte allerdings noch wenige Wochen zuvor festgestellt, dass der 27. September als Feiertag anzusehen sei. Deswegen dekretierte der Kongress auch noch am 24. September ein entsprechendes, noch zu behandelndes, Reglement.215 An dieses hielt sich der Gouverneur, als er am 27. September 1824 „kam, um den Kongress zu beglückwünschen“ und „nachdem dieser Akt mit der Ansprache, die er hielt und auf die der Präsident antwortete, beendet war, zog er sich zurück“216. In den nächsten Jahren galt der 27. im Kongress dann hingegen nicht mehr als erinnerungswürdig, sondern als normaler Arbeitstag. An Iturbide, den gebürtigen Sohn der Stadt, der wie Morelos oder Hidalgo eng mit Valladolid verbunden war, wurde nicht mehr
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während der Zeit der zentralistischen Republik zwischen 1836 und 1846 galt dann auch der 27. Sept-ember wieder als feiernswert; vgl. bspw. Lempérière: República, S. 342f. Vgl. hierzu: Costeloe: Junta, S. 46. Sitzung Nr. 42 vom 28.09.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. Sitzungen Nr. 42, 44 u. 46 vom 28., 30.09.u. 03.10.1829 (c. 11, e. 1). In Ausführung eines föderalen Dekretes ordnete der Gouverneur zwar die Installation einer Junta patriótica an, verschob den Feiertag aber zugleich auf den Jahrestag der Constitución federal; vgl. Orden (27.09.1929), in: RdL, IV, S. 26f. Dekret Nr. 442 (27.11.1824), in: LM. Vgl. Sitzung vom 23.09.1824, in: AyD, I, S. 287 und Dekret Nr. 23 (24.09.1824), in: RdL, I, S. 45. Sitzung vom 27.09.1824, in: AyD, I, S. 295.
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offiziell gedacht. Diese Tradition verlief parallel zu der auf föderaler Ebene. Wie dort standen fortan die Feiern des Grito im Vordergrund.217 Der Jahrestag des Grito de Dolores war in dem eben erwähnten föderalen Dekret von 1822 zum nationalen Feiertag erklärt worden.218 Im ersten Jahr, in dem die Konstituante – und damit die erste Legislativkörperschaft Michoacáns überhaupt – im Amt war, stellte der Kongress am 16. September 1824 fest, dass „in dieser Hauptstadt das Dekret vom 1. März 1822 nicht erfüllt wurde, indem man den Tag, an dem man den heroischen Ruf [Grito] der Freiheit, gegeben im Dorf von Dolores durch den Ciudadano Miguel Hidalgo y Costilla, [indem man diesen Tag] nicht mit den zu der Zeit der Cortes gewohnten Demonstrationen feierte“219.
Der Kongress Michoacáns beschloss wegen dieser Nichtbefolgung, selbst ein Reglement zu entwerfen. Eine gute Woche später dekretierte er, wie „die erinnerungswürdigen Tage zu feiern [seien], an denen die großartigen Vorkommnisse der Estados Unidos Mexicanos Epoche machten“: Nach einer „Messe des Dankes [Misa de gracia]“ sollte der Gouverneur dem Kongress seine Glückwünsche überbringen und schließlich weitere, nicht namentlich genannte „Autoritäten“220 selbiges gegenüber dem Gouverneur tun. Die Regierung sollte die entsprechenden Maßnahmen einfordern, „insbesondere gegenüber den Korporationen, Büros und übrigen öffentlichen Angestellten, die wegen ihrer Anstellung und Repräsentation im Besonderen verpflichtet sind, all das Vorgesehene bezüglich der Nationalfeierlichkeiten auszuführen“221. Nach den Parlamentsprotokollen der Jahre 1825 und 1826 ist davon auszugehen, dass der Gouverneur dem Kongress jeweils am 16. September seine Glückwünsche überbrachte.222 Ein Dekret vom 11. September 1827 widerrief dann allerdings
217 Vgl. zu Mexiko-Stadt: Beezley / Lorey: Introduction, S. ix u. x; zu San Luis Potosí: Cañedo Gamboa: Independence, S. 77-85; allgemein: Lempérière: República, S. 337-342; Connaughton: Ágape, S. 282. Erst mit dem Zusammenbruch der ersten föderalen Republik 1835 / 1836 versuchten die politischen Entscheidungsträger ein Nebeneinander der beiden September-Feiern. Vgl. zur Geschichte des 16. Septembers im 19. Jahrhundert: Fernández Tejedo / Nava Nava: Images. 218 Dekret Nr. 283 (01.03.1822), in: LM. 219 Sitzung vom 16.09.1824, in: AyD, I, S. 274f. 220 Dekret Nr. 23 (24.09.1824), in: RdL, I, S. 45. 221 Sitzung vom 16.09.1824, in: AyD, II, S. 275. 222 Vgl. die weiter unten zitierte Rede in: Sitzung Nr. 113 vom 16.09.1826 (c. 4, e. 2). Für 1825 sind die Protokolle der entsprechenden öffentlichen Sitzungen nicht überliefert; allerdings wurde am 14. September beschlossen, dem Gouverneur bekannt zu geben, dass eine solche Sitzung zur Feier des 16. Septembers stattfinden solle; vgl. Geheimsitzung vom 14.09.1825 (c. 2, e. 6).
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die Auflage, dass der Gouverneur dem Kongress an „nationalen Feiertagen“223 seine Aufwartung machen muss. In den folgenden Jahren fanden keine feierlichen Sitzungen des Kongresses mehr statt. Dies passt zu einer insgesamt eher zurückhaltenden Position sowohl gegenüber Feiern als auch gegenüber staatlichen Aktivitäten in der Öffentlichkeit insgesamt. Ab 1826 schien sich allerdings die Praxis zu etablieren, das Kongressgebäude jeweils am 16. September zu beleuchten.224 Schon 1824 hatte der Abgeordnete José Salgado vorgeschlagen, dass nach dem Vorbild von Mexiko-Stadt außerhalb des Kongresses eine Junta de premios, also eine Prämienkommission gebildet werde, die später auch als „Junta patriótica tituliert als de premios“ 225 bezeichnet wurde. Auf den zuerst genannten Zweck dieser Vereinigung, die Vergabe von Prämien an Unabhängigkeitskämpfer, wird noch einzugehen sein. Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Kongress es offensichtlich nicht als seine Aufgabe ansah, die Organisation der Feierlichkeiten zu übernehmen. Für Mexiko-Stadt hat Michael Costeloe herausgearbeitet, dass sich ab 1825 für die Veranstaltung der großen nationalen Feste teils hochrangige Elitemitglieder in einer jährlich neu bestimmten, so genannten Junta patriótica freiwillig zusammengeschlossen haben und regelmäßig trafen. Sie organisierten über Sammelkomitees die Finanzierung und den Ablauf der Feiern. Erst ab Anfang der 1830er Jahre schienen sie auf staatliche Co-Finanzierung angewiesen zu sein. 226 Ob die von Salgado vorgeschlagene Junta schon 1824 und 1825 existierte, geht aus den Protokollen nicht hervor. Von einer Junta patriótica, die die Organisation der Feierlichkeiten übernahm, ist dann erst 1827 die Rede, als sie beantragte, ihr die Stühle des Sitzungssaales des Kongresses für ein am 16. September aufzustellendes Podest auszuleihen. Der Kongress entschied sich ohne Angabe von Gründen dagegen.227 Das Aufstellen eines Podests mit Stühlen weist wie auch die folgende Diskussion darauf hin, dass es sich 1827 wohl um eine größere Veranstaltung handelte: Der Abgeordnete (und Milizionär) Francisco Camarillo forderte am 1. September 1827 bezüglich der anstehenden Frage, ob man die lokale Miliz mit neuen Kleidern und Gewehren ausstatten solle, man möge die Debatte 223 Dekret s./Nr. (11.09.1827) / Art. 1, in: RdL, III, S. 7. 224 Vgl. entsprechende Beschlüsse: Außerordentliche Geheimsitzung vom 13.09.1826 (c. 2, e. 6); Außerordentliche Geheimsitzung vom 12.09.1827 (c. 12, e.1); Geheimsitzungen vom 09. u. 11.09.1828 (c. 12, e. 1); für 1829 wurde die Beleuchtung ebenfalls beantragt, über den Beschluss liegen allerdings keine Aufzeichnungen vor: Außerordentliche Geheimsitzung vom 15.09.1829 (c. 12, e. 1). Zum Kongressgebäude vgl. das Kapitel F III. 225 Sitzung vom 28.09.1824, in: AyD, I, S. 298; vgl. zum ersten Antrag Salgados: Sitzung vom 26.07.1824, in: AyD, I, S. 173. 226 Vgl. Costeloe: Junta, S. 43-63; ähnlich: Lempérière: República, S. 338-346. 227 Vg. Außerordentliche Geheimsitzung vom 12.09.1827 (c. 12, e.1).
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vorziehen, da die Entscheidung „den größeren Glanz der Feier des 17. des laufenden Monats stark beeinflussen könnte“. Domínguez begrüßte die staatliche Unterstützung, da die Miliz der Hauptstadt einen „Civismo und Patriotismus gezeigt hat, der den in diesem Aspekt am meisten gefeierten Republiken ähnlich“ ist, „ihr Enthusiasmus und ihre Tugenden sind der höchsten Anerkennung würdig“228. Noch am gleichen Tag beschloss der Kongress, dem Ayuntamiento Valladolids das Geld für die Ausstattung zu leihen. Auch im nächsten Jahr setzten sich die Abgeordneten laut Protokoll mit den Feierlichkeiten auseinander. Anlass war der Antrag des Präsidenten der Junta patriótica General José Lovato, der Junta eine jährliche Geldsumme zu gewähren, um „dem Jahrestag des ruhmreichen, in Dolores gegebenen Grito der Freiheit Glanz zu verleihen“229. Nach längerer, später zu behandelnder Diskussion wurde eine Einmalzahlung von 500 Pesos genehmigt, 1829 eine solche dann allerdings abgelehnt.230 Die Organisatoren hatten im Gegensatz zu ihren Pendants in MexikoStadt von Beginn an mit finanziellen und materiellen Engpässen zu arbeiten. Die Junta kümmerte sich jedoch ähnlich wie die in Mexiko-Stadt nicht nur um die Feierlichkeiten des Grito: Im März 1828 hatte die Junta patriótica aus der Hauptstadt um eine Spende für die Bergung eines Schiffes, nämlich der Nationalen Brigg Guerrero, gebeten. Was es mit diesem Schiff auf sich hatte, konnte nicht ausfindig gemacht werden, ist hier aber auch nicht zentral. Camarillo nahm diesen Aufruf zum Anlass, über die Regierung die Einrichtung von Juntas patrióticas in allen Pueblos des Staates voranzutreiben, die dann Gelder sammeln sollten. Aus den Protokollen wird zwar nicht deutlich, ob diesem Antrag zugestimmt wurde, 231 allerdings stellte die Regierung 1829 fest, dass „sich eine Art von Gesellschaften im gesamten Staat verbreitet hat, die sehr gute Ergebnisse erzielte, nämlich die Bergung der Brigg Guerrero“. Sie wertete dies als „weiteren Beweis des Enthusiasmus der Michoacanos und ihrer Liebe zur Unabhängigkeit“ 232 . Besonders aktiv war laut Korrespondenz mit dem Kongress die Junta der Hauptstadt: So bat ihr Schatzmeister, der gleichzeitig Schatzmeister des Staates war, bei den Abgeordneten um eine Spende für den genannten Anlass.233 Am 18. August 1829 erhielt, um ein weiteres Betätigungsfeld der Junta zu erwähnen, der Kongress 17 Exemplare – also für jeden Abgeordneten eines – einer Ansprache der „Junta patriótica an die Bewohner dieser 228 Sitzung Nr. 19 vom 01.09.1827 (c. 5, e. 2). Auf die hier angedeutete Frage, ob der Haupt-stadt besondere staatliche Mittel zustünden, wird noch einzugehen sein. 229 Sitzung Nr. 4 vom 09.08.1828 (c. 8, e. 1). 230 Vgl. Sitzung Nr. 42 vom 28.09.1829 (c. 11, e. 1). 231 Vgl. Sitzung Nr. 60 vom 31.03.1828 (c. 7, e. 2). 232 Memoria 1829, S. 20. 233 Vgl. Sitzung Nr. 68 vom 17.04.1828 (c. 7, e. 2).
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Hauptstadt wegen der spanischen Invasion”234. Auf die spanische Invasion in Tampico wird noch einzugehen sein. Einen guten Monat später sammelte der Abgeordnete José María Silva im Auftrag der Junta für die anstehenden Feiern des mexikanischen Sieges in Tampico Geld bei den Abgeordneten, wobei sich im Anschluss ein kurzer Disput darüber entspann, ob er für Tampico oder für den Jahrestag der Jungfrau von Guadalupe am 12. Dezember gesammelt hatte.235 Wie der Jahresbericht der Regierung von 1829 konstatierte, war die Junta zu diesem Zeitpunkt bereits fest etabliert: „Diese Gesellschaft vereinigt sich jedes Jahr“ 236 , ob auch außerhalb der Hauptstadt, wird hier nicht ersichtlich. Allerdings tauchte sie in den folgenden Jahren nicht mehr explizit in den Protokollen auf. Auch wenn die Organisation der Feiern somit nicht vom Kongress ausging, standen Junta und Kongress diesbezüglich personell und finanztechnisch doch in enger Verbindung. Der Kongress diskutierte zudem immer wieder mögliche Ziele und Zwecke der Feiern, und somit über die Art, wie die „gesellschaftliche Gemeinschaft“, die Nación michoacana zu konstruieren sei. Die am 16. September 1826 vom Gouverneur im Kongress gehaltene Rede kann erste Hinweise über die Ziele der Feiern dafür liefern: Dort heißt es, „indem er an den ruhmreichen Grito unserer Unabhängigkeit erinnerte ..., hielt er eine Lobrede zur Erinnerung an diesen illustren Caudillo [Hidalgo] und an die anderen, die ihn begleiteten und bis dahin nachfolgten, sich im Dienste der Patria geopfert zu haben“237. Das Motiv des Opferns für die Gemeinschaft stand auch bei weiteren Anlässen an zentraler Stelle: Beispielsweise 1828 als es darum ging, über den Antrag der Junta über finanzielle Zuschüsse zu entscheiden, konnte sich die Gruppe der Befürworter nicht zuletzt mit dem Argument durchsetzen, dass die veranschlagten 500 Pesos auch für den 17. September eingesetzt werden „zu Gunsten jener Seelen, die für die Freiheit der Patria starben [und] denen wir Wohltaten schulden“238. Während der 16. September den Tag der Feier darstellte, galt der 17. als der des Gedenkens an die Opfer.239 Er sollte gemäß den Parlamentsprotokollen in den folgenden Jahren immer mehr Beachtung finden. So stellte Juan Gómez de la Puente in Übereinstimmung mit Villavicencio beziehungsweise Velasco fest, der 17. September sei „sicherlich ein sehr interessanter Tag, um dem Pueblo Enthusiasmus zu geben, indem man an die Helden erinnert, die ihre Leben für die Patria opferten“ beziehungsweise indem man an 234 235 236 237 238 239
Sitzung Nr. 9 vom 18.08.1829 (c. 10, e. 2). Vgl. Sitzung Nr. 42 vom 28.09.1829 (c. 11, e. 1). Memoria 1829, S. 20. Sitzung Nr. 113 vom 16.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. auch Cañedo Gamboa: Independence, S. 81f.
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„jene Männer [erinnert], die für die Freiheiten der Patria den Tod fanden“240. Der Tag müsse also unter anderem dadurch gewürdigt werden, dass die Angestellten der Tribunale, wie sonst nur an den großen nationalen Feiertagen, arbeitsfrei erhalten und am Trauergottesdienst teilnehmen. Zudem regte Velasco erfolgreich an, man solle an diesem Tag allgemeiner der „Opfer, und nicht der Helden der Patria“ gedenken, „da der erste Begriff sehr allgemein sei und alle umfasse, die ... ihr Blut für die Freiheit der Patria vergossen hatten“. Der zweite Begriff, der der Helden hingegen, beziehe sich „nur auf die ersten Caudillos. Und der Jahrestag wird für die einen wie für die anderen abgehalten“241. Diese Anregung schlug sich dann in den Formulierungen immer wieder nieder. Durch die „Demokratisierung“ sollte aller Opfer gedacht werden – ein Aspekt, der auch später wieder auftaucht und der für die Analyse wichtig werden wird. Im Jahr 1829 wurde vorgeschlagen, am 16. lediglich eine Rede zu halten und am 17. ein Requiem für „die Ruhe der Seelen der ersten Helden“242 abzuhalten. Auch wenn der Beschluss dieses Vorschlags nicht vorliegt, zeigte sich doch die Tendenz, den Opfer- und Traueraspekt, mithin also den 17. gegenüber dem 16. September stärker zu gewichten. 1830 wurde wieder in Frage gestellt, ob am 17., „dem Jahrestag der Opfer der Patria“ 243 , die gewöhnliche Parlamentsdebatte abgehalten werden sollte oder ob der Tag auf die gleiche Stufe wie die beiden großen nationalen Feiertage (neben dem 16. September der 4. Oktober) zu heben sei, indem man ihn für arbeitsfrei erklärte. Auch wenn sich der Kongress dagegen entschied, beschloss er doch, den Beginn der Debatte um eine Stunde vorzuverlegen, um so den Parlamentariern die private Teilnahme an den Feierlichkeiten zu ermöglichen.244 Es macht den Eindruck, dass der für Cádiz von Javier Varela festgestellte Wandel im Umgang mit dem Tod auch für Feiern in Michoacán zutrifft: Im Gegensatz zum Barock handelte es sich nach ihm „nicht mehr darum, die Sterblichkeit zu erinnern ... oder die jenseitige Glückseligkeit des Verstorbenen“, sondern „das Leben und den Tod des Helden zu feiern, um sie auf immer im Gedächtnis der Staatsbürger zu verankern“ 245 , mithin also um eine Säkularisierung und Medialisierung. Es ging eben in erster Linie darum, „dem Pueblo Enthusiasmus zu geben, indem man an die Helden erinnert, die ihre Leben für die Patria opferten“.
240 241 242 243 244 245
Sitzung Nr. 34 vom 20.09.1828 (c. 8, e. 1). Sitzung Nr. 34 vom 20.09.1828 (c. 8, e. 1). Sitzung Nr. 5 vom 12.08.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 37 vom 15.09.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. Sitzung Nr. 37 vom 15.09.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. Varela: Muerte, Zitat S. 22. Vgl ähnlich: Butrón Prida: Fiesta, S. 173-176.
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Welche Funktionen sollten die Feiern also übernehmen? Wie schon mehrfach anklang, lässt sich der Zweck der Feiern mit William Beezley und David Lorey als „informal education“-Funktion umschreiben: 246 Um die „Sensation im amerikanischen Herz“ zu verankern, wollte der Kongress „das patriotische Feuer nähren und von den Vätern den Söhnen weitergeben“ 247 . Juan Gómez de la Puente sah 1828 den „realen und positiven Nutzen der Feierlichkeit des großartigen und für jeden Amerikaner erinnerungswürdigen Tages“, gemeint war der 16. September, darin, dass so „das patriotische Feuer gedeiht, die Unabhängigkeit gestärkt und die Liebe zur Freiheit genährt wird, indem man neuen Enthusiasmus verbreitet, um die nationalen Rechte zu verteidigen“ 248 . Die Erinnerung an die vorbildlichen und erinnerungswürdigen Taten und Personen sollte in den Herzen emotional und somit dauerhaft verankert werden, jeder Amerikaner sollte des Kampfes für die Freiheit gedenken und sich, so die Schlussfolgerung, diese Opferhaltung für die Gemeinschaft zum Vorbild machen: Durch die Erinnerung an entsprechende Traditionen sollte – und hier kommt die Demokratisierung der Trauer wieder ins Spiel – eine Opfer- und eben keine Heldengemeinschaft imaginiert beziehungsweise erzogen werden. Gleichzeitig konnte der Kampf auf diese Weise als Sache der Vergangenheit dargestellt werden: Jetzt ging es nicht mehr um den aktiven Einsatz, sondern eben um die „Verteidigung“ der schon erreichten „nationalen Rechte“. Das Gemeinschaftliche drückt sich nicht zuletzt auch darin aus, dass der Kampf der abstrakten Freiheit im Singular, also der Unabhängigkeit der Patria galt, und nicht den individuellen, konkreten Freiheiten im Plural. Wie in Puebla und Oaxaca sollte vor allem das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt werden.249 Dieses Ergebnis schließt an das republikanisch, nicht liberal geprägte Gesellschaftsbild der Verfassung an. Interessant ist hier zudem, dass es den Parlamentariern nicht darum ging, Michoacán gegenüber Mexiko abzugrenzen. Die Patria, also der Geburtsort, war nicht auf die eigene Region begrenzt. Wie „’konzentrische Kreise’“250 standen die Loyalitätskonzepte auf lokaler, regionaler und auf den überregionalen Ebenen neben- und nicht gegeneinander. In ähnlicher Weise entwickelte Dieter Langewiesche für die Vielzahl der „Staaten deutscher Nation“ das Konzept der „föderative[n] Nation“251 mit einer Nationsbildung auf zwei Ebenen, nämlich 246 247 248 249
Beezley / Lorey: Introduction. Sitzung Nr. 4 vom 09.08.1828 (c. 8, e. 1). Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. Connaughton: Ágape, S. 287, 299 u. 308. Dies schlug sich besonders in dem für Oaxaca gültigen Bild der Patria als Familie symbolisch nieder. 250 Quijada: Nación, S. 297. Vgl. zum Sprachgebrauch von Patria: Quijada: Nación, S. 291f. 251 So der Titel von: Langewiesche / Schmidt: Nation.
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auf der der Einzelstaaten und auf der des Gesamtstaates. Dieses Konzept war nach Langewiesche insbesondere für die Zeit vor der Gründung des deutschen Einheitsstaates 1870/71 wirkmächtig.252 Die Idee lebte jedoch als „Nation of heimats“253 über 1871 hinaus weiter fort. Damit argumentierten sie insbesondere gegen die Geschichtsschreibung zur deutschen Nation, die Mehrfachidentitäten auszuschließen versuchte. In diesem Sinne ließe sich auch Mexiko als „föderative Nation“ kennzeichnen. Auch für Spanien spricht die Regionalforschung von „geteilten Identitäten“254. Die „singularización de la nación“255 hatte sich wie in Deutschland nicht durchgesetzt. Allerdings liegt für das unabhängige Mexiko dazu aus regionaler Perspektive noch keine Untersuchung vor. Diese soll hier für das Verhältnis von Michoacán zu Mexiko folgen. Für Gesamt-Mexiko, die Estados Unidos Mexicanos, drückt sich das Bild der „föderativen Nation“ besonders prägnant in der unten abgedruckten Graphik aus, die der Sammlung der einzelstaatlichen Verfassungen aus dem Jahre 1828 entstammt: In ihr wurde der aztekische Gründungsmythos auf die in den Kaktussegmenten genannten Einzelstaaten übertragen. Nach diesem Mythos sollten die Mexica, wie sich die Azteken selbst nannten, dort die Hauptstadt ihres neuen Reiches errichten, wo sich ein Adler auf einem Kaktus niederlässt. Die graphische Metapher steht für den Versuch, unter Bezugnahme auf vorspanische Bausteine eine die regionale Vielfalt überwölbende, aber sie berücksichtigende Identität zu erzeugen. Die Entstehungsgeschichte des staatseigenen Wappens manifestiert das ambivalente Verhältnis Michoacáns zur Nación mexicana. Einerseits sollte sich das Wappen nach dem Willen der Verfassungsväter vom Zentrum abgrenzen und die Eigenständigkeit Michoacáns unterstreichen. Nach Artikel 1 der Verfassung sollte es, wie in Kapitel B IV zitiert, ja „mit irgendeiner Anspielung auf das, was der Name Michoacán bedeutet, geformt“ werden, was, wie gleichfalls ausgeführt, eine deutliche Stoßrichtung des nie von den Azteken eroberten Purhepecha-Reiches gegen das vermeintlich übermächtige Zentrum implizierte. In der Praxis war den späteren Abgeordneten die symbolische Frontstellung dann jedoch offensichtlich nicht so wichtig. Als 1828 ein Consejero anbot, das alte Wappen Michoacáns zur Begutachtung mitzubringen, beschloss man zu-nächst, sich dafür mehr Zeit zu lassen.256 252 Vgl. Langewiesche: Nation, S. 55-96. 253 So wurde sie von Alon Confino in einer Studie über das Württemberg des Kaiserreichs getauft; das Zitat ist Teil der Überschrift des zweiten Parts. 254 Sánchez: Revolución, S. 43. 255 Quijada: Nación, S. 299. 256 Vgl. Sitzung Nr. 24 vom 05.09.1828 (c. 8, e. 1). Allerdings entstand das neue Wappen nicht mehr im Betrachtungszeitraum.
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Quelle: Colección, Bd. I, Seite vor dem Prolog.
Der Aspekt der „föderativen Nation“ kommt stattdessen besonders gut bei einem anderen Staatsemblem zum Ausdruck: Schon 1825 verabschiedete die Constituyente ein Dekret über die Form des Stempels, mit dem offizielle Papiere zu versehen waren. Dieser hatte also ebenfalls eine plakative Wirkung: In dem Dekret heißt es: „Der Stempel wird der des Wappens der Nation sein“, wobei nota bene mit Nation Gesamt-Mexiko gemeint war. Weiter heißt es dann jedoch: Er, der Stempel trägt „in der oberen Hälfte seines Umkreises die Inschrift
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Estado de Michuacan [!]“257. Damit orientierte sich dieses Emblem ebenfalls an dem Azteken-Mythos des nationalen Wappens, kombinierte es jedoch mit der Eigenständigkeit Michoacáns. 1829 bekräftigte ein Dekret diese Stempelform ausdrücklich mit der leicht veränderten Inschrift Estado de Michoacán, also mit der in der Verfassung beschlossenen Schreibweise. Die Forderung, man solle hier die Vorläufigkeit durch ein „für jetzt“ betonen, da „der Staat sein [eigenes] Wappen haben werde“258, wurde ausdrücklich nicht aufgenommen.259
Quelle: Honorable congreso. El ciudadano … (1834 / 1835), in: AHCM, Varios, VI. Legislatura, c. 7, e. 17.
Wie die folgenden Abschnitte immer wieder implizit zeigen werden, handelte es sich tatsächlich eher um ein Nebeneinander und nicht um ein Nachordnungsverhältnis oder gar um ein Gegeneinander verschiedener Identitätskonzepte. Neben der Familia michoacana ko-existierte ja sogar laut Verfassung die „gran familia mexicana“, wie es beim Verweis auf die gesamt-mexikanischen Bürgerpflichten hieß. Und wie in Kapitel F ausführlich zu sehen sein wird, sollte an der einen Stirnseite des Plenarsaals des Kongresses das Bild der Jungfrau von Guadalupe, der „Patronin der Nation“ 260, also Gesamt-Mexikos, hängen und auf der anderen das Wappen des Staates, und nicht das der Nación mexicana. Auch wenn auf (macht-)politischer Ebene Konflikte zwischen Michoacán als Einzelstaat und der gesamt-mexikanischen Föderation nicht selten waren – in der vorliegenden Arbeit spielen sie auf Grund des Blickwinkels keine größere Rolle –, so schienen die Abgeordneten auf kultureller Ebene keine größeren Schwierigkeiten darin zu sehen, überlokale Zugehörigkeiten zu verbinden. Zu257 Dekret Nr. 30 (04.01.1825) / Art. 2, in: RdL, I, S. 60. Der Artikel orientiert sich an einem föderalen Gesetz von 1823 über das Aussehen des föderalen Stempels; vgl. Dekret Nr. 366 (06.10.1823), in: LM. Vgl. die kurzen Diskussionen über Größe und Form – ob oval oder, wie dann beschlossen, rund: Sitzungen vom 10. bzw. 11.01.1825, in: AyD, II, S. 26 bzw. 31. 258 Sitzung Nr. 71 vom 03.11.1829 (c. 11, e. 1). 259 Vgl. auch Dekret Nr. 26 (07.11.1829) / Art. 2, in: RdL, IV, S. 34. Notwendig war die Neuauflage nach Auskunft der Exekutive geworden, da die notwendige Sanktionierung im ersten Fall gefehlt haben soll; vgl. Sitzung Nr. 45 vom 02.10.1829 (c. 11, e. 1). 260 Sitzung vom 05.07.1825, in: AyD, II, S. 374.
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weilen trat neben die regional- und föderalstaatliche gar noch eine (spanisch-) amerikanische Zugehörigkeit. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass es den Abgeordneten in erster Linie darum zu tun war, überhaupt gemeinschaftliche Werte zu etablieren, bei denen es nicht vordergründig darum ging, ob sie sich auf Amerika, Mexiko, auf Michoacán oder auch auf die Gemeinschaft der Katholiken bezogen. Für Michoacán lässt sich dieses Verständnis auch gut anhand der Gegenüberstellung von staatlichem Zentrum und vermeintlich staatsfernen Pueblos erkennen, wie sie sich in den bisherigen Ausführungen immer wieder zeigte: Auch wenn staatliche Strukturen allmählich etabliert werden konnten, fehlte es aus Sicht der Abgeordneten noch an einem Gemeinschaftssinn, einem Espíritu público. In die Familienmetapher übersetzt hat dies in plakativer Weise Isidro Huarte, als er die Umstellung von indirekten auf direkte Steuern mit dem Argument ablehnte, dass die erst genannten „durch eine Autorität erhoben werden, die das Pueblo wie den Vater liebt, und diese ist keine andere als die munizipale“261. Die andere Autorität, die die direkten Steuern erheben sollte, nämlich der staatliche Vater war – diese Metapher weiter gedacht – (noch) nicht geliebt, konnte also (noch) nicht den Stand des natürlichen Vaters beanspruchen. Die „subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit der Beteiligten“ (Weber) war also auf über-kommunaler Ebene demnach noch unterentwickelt. Es fällt auf – was für die vorliegende Studie von besonderem Interesse ist –, dass die Abgeordneten die konstitutionelle Tradition des Staates im Vergleich zum 16. September kaum feiern ließen, dass sie sie kaum als erinnerungswürdig erachteten. Für die erste auf dem Territorium Michoacáns verabschiedete Verfassung, die der Aufständischen von Apatzingán (1814), ist bereits oben deutlich geworden, dass sie bei den Verhandlungen in den Kongressen von Michoacán zumindest explizit keine Rolle gespielt hat. Dies ist bei Michoacán insofern von besonderer Bedeutung, da José María Morelos und auch Ignacio Rayón, die Vordenker der Verfassung, wie gleich zu sehen sein wird, als Führer, als Caudillos der Unabhängigkeitskämpfer große Anerkennung erfuhren. Als Verfassunggeber aber erhielten sie von Seiten der Abgeordneten keine Bedeutung zugemessen. Dies ist umso auffälliger, als dass den meisten Deputierten diese Traditionslinie durchaus bekannt gewesen sein muss. Wie gesehen, saßen ja auch einige ehemalige Aufständische, unter anderem der Bruder von Ignacio Rayón, im Kongress. Die einzige Erwähnung erfuhr der Verfassungstext von Apatzingán im Juli 1824, als José María Paulín vorschlug, dass die „Edikte abgehängt werden, die die Verfassung von Apatzingán für häretisch erklären, [und] die noch in einigen
261 Sitzung Nr. 114 vom 18.09.1826 (c. 4, e. 2).
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Gemeinden aufgehängt sind, ausgestellt von der erloschenen Inquisition“ 262 . Aber selbst hier wird deutlich, dass es der Mehrheit der Abgeordneten weniger um die Verfassung als vielmehr um die Unabhängigkeitshelden ging: Der Kongress beauftragte schließlich die Regierung, dass „die Edikte der erloschenen Inquisition von den Kirchen abgehängt werden, die unserem aktuellen System widersprechen und die die ersten Caudillos der Freiheit beleidigen“. Ausdrücklich heißt es in diesem Protokoll, dass diese Edikte „das Ansehen und den guten Namen der Caudillos der Unabhängigkeit angreifen“, die Verfassung von Apatzingán wird hier hingegen nicht mehr erwähnt. Pastor Morales hatte sich selbst gegen diese Form der Anerkennung ausgesprochen, da seiner Meinung nach schon „andere Dokumente existieren, die die antiguos Patriotas ehren, wie es gerecht ist“ 263 . Entgegen der späteren Nationalgeschichtsschreibung, die der Verfassung von Apatzingán als erster nationaler Konstitution eine große Bedeutung zumaß,264 hatte sie diese für die Abgeordneten ihres Heimatstaates der 1820er und 30er Jahre nicht. Dies hängt sicherlich auch mit der geringen Relevanz dieses spezifischen Verfassungstextes für die Abgeordneten zusammen, ist aber zugleich Ausdruck eines allgemeineren Desinteresses an (anderen) konstitutionellen Traditionen. So fand der Tag der Unterzeichnung und Verabschiedung der ersten, oben ausführlich behandelten Verfassung von Michoacán, also der 19. Juli, keinen Eingang in den Festtagskalender des Staates. Dies stand im Gegensatz zu Cádiz, wo mit dem 19. März der Tag gefeiert werden sollte, an dem „die guten und loyalen Spanier … den geheiligten Codex ihrer Freiheit und Rechte erhalten“ haben, um den „Espíritu público“ und den „Entusiasmo nacional“265 zu fördern. In Michoacán feierte man diesen Anlass gemäß den Protokollen lediglich im Jahre der Publikation, also 1825. Ohne Diskussion verabschiedeten die Verfassungsväter folgendes Zeremoniell: Alle Abgeordneten sollten am 19. Juli drei Originale des Textes unterzeichnen. Eines war dann dem Gouverneur zu überreichen. Am nächsten Tag sollte der Präsident des Kongresses in die Hände der Kongress-Sekretäre die Einhaltung der Verfassung beschwören, dann sollte der Schwur der restlichen Abgeordneten und schließlich der des Gouverneurs sowie der des Präsidenten des Supremo tribunal de justicia (das es dann jedoch noch nicht gab) in die Hände des Kongresspräsidenten folgen. Danach hatte
262 Sitzung vom 10.07.1824, in: AyD, I, S. 140f. Vgl. auch Sitzung vom 19.07.1824, in: AyD, I, S. 157. 263 Sitzung vom 20.07.1824, in: AyD, I, S. 161. 264 Vgl. stellvertretend: Torre Villar: Constitución. 265 Dekret Nr. 234 (15.03.1813), in: CdDO, IV, S. 11f.
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der Gouverneur zu einem Te Deum in die Kathedrale zu schreiten. 266 Ohne große Feierlichkeit sollte laut Dekret auch die Publikation der Verfassung in der Hauptstadt und in den Pueblos des Staates sowie der Schwur der anderen Autoritäten, Korporationen und Angestellten verlaufen: Es heißt dort schlicht, die Veröffentlichung solle möglichst bald und „feierlich“ von Statten gehen. Über die Form und den Tag des Eides sollte der Gouverneur befinden, lediglich eine Messe wurde vorgeschrieben. 267 Der Gouverneur hingegen ordnete dreitägige Feierlichkeiten an, beginnend mit einer feierlichen Veröffentlichung des Publikationsdekretes durch den Präfekt und das Ayuntamiento in der Hauptstadt. Am nächsten Tag sollten zunächst die obersten kirchlichen, zivilen und militärischen Autoritäten vor dem Gouverneur den Schwur auf die Verfassung ablegen und dann die weiteren Amtsträger jeweils vor ihren Vorgesetzten. Am gleichen Tag hatten auch die Mitglieder des Ayuntamiento vor dem Präfekt zu schwören und der Sekretär des Ayuntamiento „mit lauter Stimme“ die Verfassung zu verlesen, bevor das Volk den Schwur „per Akklamation“ ablegte. Der letzte Tag war der gemeinsamen Messe vorbehalten. Alle Handlungen sollten „wie gewohnt mit Salven und Glockengeläut“ feierlich gestaltet werden. Alle Ortschaften des Staates wurden aufgefordert, dieses Zeremoniell innerhalb von 15 Tagen nach Erhalt der Verfassung soweit möglich nachzuahmen und dem Gouverneur entsprechende Bestätigungen zuzusenden. Abschließend heißt es: „Die Regierung erwartet vom Patriotismus und der Liebe der Michoacanos, dass sie dem Staat alle Demonstrationen machen, die für ein so großes und der Erinnerung würdiges Ereignis angemessen sind“268. Entgegen der vom Gouverneur erwarteten Erinnerung stellte der 19. Juli bei den Abgeordneten in den folgenden Jahren kein hervorgehobenes Datum dar. Dies hat nur zum Teil daran gelegen, dass an diesem Tag, der kurz vor Beginn der ordentlichen Sitzungen lag, der Kongress fast nie versammelt war. Ebenfalls in diesem, der Verfassung wenig feierliche Aufmerksamkeit schenkenden Sinne lehnte die Constituyente es ab zu dekretieren, dass das Jahr der Verfassungsverabschiedung bei offiziellen Schreiben zu nennen sei. 269 Der Verweis auf wichtige Daten der Geschichte, wie Unabhängigkeit, Föderalisierung et cetera bei der Datumsangabe war eine gängige Praxis der Zeit.270 Die Cortes von Cádiz hatten beispielsweise 1813 verordnet, dass „man in allen Dokumenten, die das 266 Vgl. Sitzungen vom 21.03. bzw. 02.05.1825, in: AyD, II, S. 199 bzw. 271, in denen das Zeremoniell vorgeschlagen und ohne Diskussion verabschiedet wurde; vgl. Dekret Nr. 48 (08.07.1825), in: RdL, I, S. 95f. 267 Vgl. Dekret Nr. 51 (16.07.1825), in: RdL, I, S. 97f., Zitat Art. 1. 268 Orden (11.10.1825), in: RdL, II, S. 44-46, Zitate Art. 4, 3, 6 u. 11. 269 Vgl. Sitzung vom 09.06.1825, in: AyD, II, S. 310. 270 Vgl. bspw. diverse Dokumente in: El federalismo en Jalisco (1823). Selección de documentos e introducción por José María Muría, México D.F. 1973, S. 32, 53f., 56 u. 67.
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Jahr der Regierungszeit Ferdinands VII. ausdrücken, [auch] das der Verfassung angibt“271. Den Abgeordneten schien, um in ihrer Sprachregelung zu bleiben, die Verfassung tatsächlich keine „Epoche zu machen“, der 19. Juli kein „erinnerungswürdiger Tag“272. Zu vergegenwärtigen ist auch an die gaditanische Bestimmung, dass alle Pueblos ihren Hauptplatz in Plaza de la constitución umbenennen sollten. Der Kongress von Michoacán legte darauf keinen Wert. Eine kleine Ausnahme stellte eine Verfügung von 1825 dar, die vorgab, dass je eine Generalvisitation der Gefängnisse am 19. Juli und eine andere am 4. Oktober, also dem Tag der Verabschiedung der Constitución federal, stattfinden sollte. Gefängnisvisitationen waren eine alte Praxis, bei der Gefangene befragt und eventuelle Mängel in der jeweiligen Be- und Verhandlung geprüft wurden. 273 Sie ersetzten damit die an zwei alten Nationalfeiertagen abgehaltenen Visitationen: Nämlich die vom 24. Februar beziehungsweise die vom 27. September, also die Jahrestage des die Unabhängigkeit besiegelnden Plans von Iguala beziehungsweise des Einzugs von Iturbide in Mexiko-Stadt. Die Visiten am 24. Dezember und am Donnerstag der Woche zur Feier des die Unabhängigkeitskämpfe initialisierenden Grito de Dolores sollten weiter Bestand haben.274 Im Gegensatz zu Michoacán hatte auf föderaler Ebene der Tag der Verfassungsverabschiedung, also der 4. Oktober, den Status eines nationalen Festtages erhalten. 275 Insofern musste er auch in Michoacán gefeiert werden. Der Kongress von Michoacán beging den 4. Oktober, indem wie in Artikel 29 der Verfassung des Staates für „sehr feierliche nationale Feste“ vorgesehen, jeweils keine Sitzungen stattfanden – mit zwei aussagekräftigen Ausnahmen: Die erste bildete die Sitzung vom 4. Oktober 1826, die „nur für den Akt des Empfangs der Glückwünsche, ... die der Gouverneur zur Feier der Sanktion der politischen Verfassung der Estados Unidos Mexicanos überbrachte“, abgehalten wurde. In seiner Ansprach „inspirierte“ der Gouverneur nach dem Protokoll „die Michoacanos mit der wahren Liebe zu dieser berühmten Carta, die das soziale Gebäude der mexikanischen Republik festigte, uns in den Rang freier Menschen erhob und unsere auswärtigen Beziehungen mit den übrigen Republiken ausweitete und sicherte“276. 271 Dekret 311 (13.09.1813), in: CdDO, IV, S. 253. 272 So bezüglich der „erinnerungswürdigen Tage“ des Staates: Dekret Nr. 23 (24.09.1824), in: RdL, I, S. 45. 273 Vgl. zu Visitationen in Mexiko-Stadt während der föderalen Republik: Arnold: Politics, v.a. S. 482-488. 274 Vgl. Dekret Nr. 4 (26.09.1825), in RdL, II, S. 43f. 275 Vgl. Dekret Nr. 442 (27.11.1824) / Art. 2, in: LM. 276 Sitzung Nr. 121 vom 04.10.1826 (c. 4, e. 2). Wie schon im Kapitel über die Verfassungsverhandlungen festgestellt, wurde hier wieder die Gemeinschaft der Republiken – wohl
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In den Jahren zumindest der Anfangszeit ist anzunehmen, dass am 4. Oktober öffentliche Zeremonien zwar stattfanden, an dessen Organisation sich der Kongress aber nicht beteiligte. 277 Auch ist von einer Teilnahme des Kongresses an diesen Festivitäten nicht die Rede. Dieser Tag schien wie andere konstitutionelle Feiertage für die politischen Entscheidungsträger also von zweitrangiger Bedeutung zu sein. Besonders deutlich wird das bei der zweiten Ausnahme von der eben festgestellten Unterbrechung der Parlamentssitzungen an nationalen Feiertagen: Als am 4. Oktober 1828 eine außerordentliche Sitzung zum Zweck der Revision von Wahlunterlagen abgehalten wurde, gestand der Redner der Regierung ein, dass die Exekutive es „nicht präsent hatte, dass heute ein nationaler Feiertag“278 sei. Und die Abgeordneten hatten die Exekutive zumindest nicht darauf aufmerksam gemacht. Am 16. September wäre dies mit Sicherheit nicht passiert. Der Kongress gab dem Tag auch nach diesem Versäumnis keine große Bedeutung, jedenfalls entschied er sich explizit gegen den Vorschlag des Regierungsredners, die nicht sonderlich dringliche Sitzung abzubrechen. Die Abgeordneten führten die Sitzung fort – Vergleichbares wäre für andere Feiertage undenkbar gewesen. Auch auf föderaler Ebene galt der 4. Oktober wohl eher als zweitrangiger Festtag, jedenfalls wurde die für die Gestaltung der Festtage zuständige Junta patriótica von Mexiko-Stadt nur dann mit dessen Organisation betraut, wenn überzeugte Republikaner die Mehrheit im Kongress hatten.279 Die Abgeordneten erhoben aber immerhin den 6. August, also den Tag der Installation des Kongresses, zum „nationalen Festtag des Staates“280. Allerdings galt auch dieser Anlass, gedacht „um die Erinnerung an die großartigen Geschehnisse zu verewigen, die die Zeit der Souveränität des glorreichen Volkes von Michoacán fixierten“ 281 , nur als zweitrangig: Er sollte zwar so gefeiert werden „wie alle anderen nationalen, aber ohne Unterbrechung der Arbeit in den Büros“282. Der Antritt des Gouverneurs wurde in diesem Sinne nur 1825 als öffentlicher Festakt mit Gewehrsalven begangen.283 Das Feiern der
277 278 279 280 281 282
283
gegenüber dem monarchischen Europa – herausgestrichen. Ähnliches hat Connaughton auch für Jalisco herausgearbeitet. Vgl. Connaughton: Ágape, S. 291 u. 307. Vgl. den Verweis auf Verbesserungsvorschläge für das Zeremoniell für den 4. Oktober in: Sitzung Nr. 36 vom 24.09.1827 (c. 5, e. 3). Zum Zeremoniell vgl. das Kapitel E II. Sitzung Nr. 43 vom 04.10.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. Costeloe: Junta, S. 46. Sitzung vom 25.04.1825, in: AyD, II, S. 258. Sitzung vom 05.02.1825, in: AyD, II, S. 86. Sitzung vom 28.06.1825, in: AyD, II, S. 357. Vgl. den zunächst weiter gefassten Antrag von Pastor Morales und Lejarza: Sitzungen vom 25. bzw. 26.08.1824, in: AyD, I, S. 234 bzw. 241. Geheimsitzung vom 03.09.1825 (c. 2, e, 6).
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konstitutionellen Ordnung hatte für die Abgeordneten somit keine Priorität. Darüber kann auch nicht hinweg täuschen, dass dem Staat für die Manumission einer Sklavin aus Uruapan, deren französischer Besitzer den Staat verlassen wollte, nach langwieriger Diskussion 284 ein öffentlicher Akt wichtig war: Ihr sollte öffentlich eine Urkunde mit folgendem Wortlaut überreicht werden: „Der Staat entlässt Euch ... in die Freiheit“285. Für den Kongress von Michoacán lässt sich konstatieren, dass die Abgeordneten kaum daran interessiert waren, die „wahre Liebe“ zu den in Frage kommenden Verfassungen zu verbreiten. Diese Feststellung tritt beim Vergleich mit anderen Erinnerungstraditionen noch deutlicher hervor und wird im Resümee des Kapitels wieder aufzunehmen sein. Die eben aufgestellten Thesen sollen anhand weiterer parlamentarischer Erinnerungspolitiken überprüft werden. Dabei handelt es sich insbesondere um drei Felder, nämlich um die Vergabe von Privilegien an Betroffene des Bürgerkrieges, um die Ernennung von bestimmten Personen zu „Wohlverdienten“ des Staates, quasi zu offiziellen Staatshelden, und drittens um die (Um-)Benennung von Ortschaften und Städten. Die 1824 von Salgado, später bekanntes Mitglied der Yorkinos, geforderte Einrichtung einer außerparlamentarischen „Prämienkommission [Junta de premios]“ – später auch als „Junta patriótica de premios“ bezeichnet – sollte laut Vorschlag insbesondere die Qualifikation und Klassifikation der „Dienste von Gewicht in Verteidigung der Freiheit und der Unabhängigkeit der Patria“286 übernehmen. Zwei Arten der Belohnungen standen dabei im Vordergrund: die Bevorzugung bei der Besetzung von Posten und direkte Unterhaltszahlungen an die Witwen und Waisen beziehungsweise alternativ die Vergabe von Lizenzen für die Errichtung eines Krämerladens. Lloreda zeigte sich 1824 skeptisch, ob Michoacán als Einzelstaat „die Söhne des Staates, die sich um die Patria verdient gemacht haben“ 287 , prämieren darf, da sich der Generalkongress die Möglichkeit der Auszeichnung von „großen Diensten an der Republik“ und die Erklärung „öffentlicher Ehren für die Erinnerung an die großen Männer“288 vorbehalten hatte. Salgado erwiderte, dass es sich hier um „jene kleinen Dienste, die in den Staaten vollbracht wurden“, handelt und deswegen Michoacán eine eigene Kommission einrichten dürfe. Später verweigerte sich wie die Mehrheit 284 Vgl. die erstmalige Erwähnung der Sklavin: Sitzung Nr. 74 vom 07.01.1826 (c. 2, e. 6) und die anschließenden langwierigen Diskussionen, bei denen es hauptsächlich um die Finanzierung und Zuständigkeiten zwischen Legislative und Exekutive ging: Sitzungen Nr. 97f. vom 10. u. 12.08.1826 (c. 4, e. 2); Sitzungen Nr. 140f. vom 16. u. 18.11.1826 (c. 4, s./e.). 285 Sitzung Nr. 10 vom 18.08.1827 (c. 5, e. 2). 286 Sitzung vom 26.07.1824, in: AyD, I, S. 173. 287 Sitzung vom 22.07.1824, in: AyD, I, S. 164. 288 Sitzung vom 01.10.1824, in: AyD, I, S. 301.
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des Kongresses auch Lloreda dieser Argumentation nicht mehr. Während Salgado eher von zehn Witwen ausging, die in den Genuss von Pensionen oder der Krämerladenlizenz kommen könnten, meinte Lloreda, dass „die Zahl sicherlich tausend überschreite“289. Der Kongress übergab schließlich die Qualifikationskompetenz dem Gouverneur mit seinem Consejo und nicht der Junta. Sie blieb also eine staatliche Aufgabe. Der Staat sollte direkt Verantwortung für die „Familien derjenigen übernehmen, die sich auf dem Altar der Patria geopfert haben“ 290 , er hatte also die Aufgabe des versorgenden Familienvaters zu – bezeichnenderweise galten Witwer nicht als antragsberechtigt. Im Dekret hieß es weiter, dass die „guten Dienste bei der Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der mexikanischen Nation“ durch sie ausgezeichnet werden sollen, und zwar erstens durch die bevorzugte Besetzung von staatlichen Stellen; 291 und zweitens durch die Vergabe von Verdienstmöglichkeiten an die „Eltern, Kinder und Witwen der bei der Verteidigung der Unabhängigkeit Verstorbenen ..., [die] keine Pension oder Prämie der Regierung der Föderation genießen“292. Das Problem der zwei staatlichen Ebenen war also in den Diskussion durchaus präsent, wurde jedoch auch hier durch eine komplementäre (und für den Staat kostengünstige) Kompetenzverteilung gelöst: Schließlich konnte auch Michoacán Dienste für die mexikanische Nation auszeichnen, wenn diese nicht schon gewürdigt worden waren. Von Antragstellern ist in den weiteren Protokollen des Kongresses allerdings nichts berichtet. In diesem Sinne hatte die Constituyente auch die Frage gelöst, ob der Staat beziehungsweise der einzelstaatliche Kongress selbständig Personen mit dem Titel „Wohlverdiente des Staates“ auszeichnen durfte. Diese Kompetenz erhielt ja dann sogar Verfassungsrang. 293 Die ersten diesbezüglichen Anträge stellten schon im ersten Kongress Domínguez und Echaíz für den Offizier der Unabhängigkeitskämpfer Manuel Villalongín sowie für José de Garcia de Obeso, einem der führenden Verschwörer von Valladolid von 1809. In der vorliegenden Erstfassung des Protokolls wird für Villalongín vorgebracht, dass seine „Opfer für den gesamten Staat offenkundig“ seien, und für Garcia de Obeso, dass er „einer der frühesten und ersten gewesen war, der die Freiheit der Patria versucht hatte, weswegen er große Entbehrungen erlitt, an denen er den Tod fand“ 294 . In der Endfassung des Protokolls ist diese Begründung dann 289 290 291 292
Sitzung vom 01.10.1824, in: AyD, I, S. 302. Sitzung Nr. 27 vom 02.09.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. Dekret Nr. 36 (27.01.1825) / Art. 1, in: RdL, I, S. 73. Dekret Nr. 36 (27.01.1825) / Art. 3, in: RdL, I, S. 73f. Vgl. zur gesamten Debatte: Sitzungen vom 26.07., 28.09. u. 23.10.1824, in: AyD, I, S. 173f., 298 u. 351-354. 293 Vgl. die obige Diskussion und Verfassung von Michoacán, Art. 42/19. 294 Sitzung vom 20.08.1825 (c. 2, e. 5).
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allerdings durchgestrichen. Manuel Chávez sprach sich gegen Obeso aus, da dieser trotz „großartiger Ideen bezüglich unserer politischen Regeneration“ – ein Begriff, auf den noch einzugehen sein wird – keinen praktischen Erfolg hatte und man sich fragen müsse, ob er „nur wegen des Gefängnisses einer solchen Ehre würdig“ sei. Villalongín hingegen „erlitt seine Opfer, mit seinem Blut, indem er sein Leben in den Händen der Tyrannen verlor, als er die von den Feinden befestigte Garnison [die von Valladolid] überfallen und seine Frau aus dem Gefängnis befreit hatte (diese Tat wird seine Erinnerung mit Ehre erfüllen)“. Wieder verdeutlicht sich der für die Erinnerungswürdigkeit offen-sichtlich zentrale Charakter des Opferns, der hier durch den Einsatz für die Familie noch eine Steigerung erfuhr. In ähnlichem Sinne verteidigte Domínguez den Antrag für Obeso, indem er darauf hinwies, dass er nach seinem Gefängnisaufenthalt keine Ressourcen mehr hatte und schlimmer noch, dass „er nicht auf seinem Boden, sondern in México starb, eine enorme Bürde seines Elends“. Die Mehrheit stimmte dann allerdings Huarte zu, der meinte, es gebe viele ähnliche Fälle und nicht einmal Ignacio Rayón, ein „Ciudadano mit großem Namen“295, erhielt diese Ehrerweisung. Der Kongress erklärte weder Obeso noch Villalongín zu Wohlverdienten des Staates. Auch der Sohn von letzterem erhielt anders als im Antrag vorgesehen keine staatlichen Zuschüsse zum Unterhalt, sollte aber für diesen Zweck der Föderation empfohlen werden. Ein zweiter, wieder an die Föderation verwiesener Antrag zur Unterstützung des VillalongínSohnes wurde ausdrücklich mit der von einem „Schriftsteller“ festgestellten menschlichen Neigung begründet, dass mehr gearbeitet wird, wenn man „seine Kinder ehrbar, gut gestellt und ausgestattet hinterlässt“ 296 . Die plakative Versorgung der Kinder sollte Nachahmer animieren. Auch der zweite Versuch einer Erklärung zum Staats„-helden“ schlug fehl. Am 28. September 1829 hatte Martín Carrasquedo vorgeschlagen, alle „Offiziere und Soldaten, die sich bei der Aktion vom 10. des gegenwärtigen [Monats] in Tampico am meisten ausgezeichnet haben“297, zu Ciudadanos des Staates zu erklären beziehungsweise die beiden Generäle Manuel Mier y Terán und Antonio Lopéz de Santa Anna zu „Wohlverdienten des Staates“. Ohne zitierte Diskussion beschloss der Kongress noch in der gleichen Sitzung dann lediglich Glückwünsche an den Präsidenten der Republik, an das Parlament von Tamaulipas, also dem Bundesstaat, in dem Tampico liegt, und an die beiden Generäle. Die zurückhaltende Distanz zu den Helden von Tampico äußert sich hier wie auch schon oben angedeutet. Erfolgreich war schließlich aber der dritte, allerdings nicht inhaltlich diskutierte Versuch vom 2. Januar 1831 für die Erklärung zum Wohlverdienten 295 Sitzung Nr. 69 vom 30.11.1825 (c. 2 , e. 9). 296 Sitzung Nr. 83 vom 27.01.1826 (c. 2, e. 6). 297 Sitzung Nr. 42 vom 28.09.1829 (c. 11, e. 1).
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des Staates des Oberst der aktiven Miliz von Guanajuato Pedro Otero: Er erhielt diesen Ehrentitel „für die wichtigen Dienste, die er gegen die Facciosos am 25. und 29. des letzten Dezember leistete“298 – er hatte die Truppen von Juan José Codallos, einem Anführer im Krieg des Südens, kurz vor der Hauptstadt zurückgeschlagen. Den „übrigen Chefs und Offizieren, die für die brillanten Aktionen jener Tage zusammenkamen“ 299 , sollte ebenfalls im Namen des Staates gedankt werden. Dem Kampf gegen die Facciosos galt, wie schon festgestellt, eine große Beachtung, er konnte allerdings je nach Besetzung des Kongresses die Stoßrichtung ändern. So handelte es sich bei dieser Erklärung um eine hoch politische Entscheidung: Noch wenige Tage vorher hatte der Kongress Otero wegen der Erschießung von neun Personen am 8. Dezember ohne Beachtung rechtlicher Formalia angeklagt. So spricht das Protokoll der geheimen Debatte vom 16. Dezember 1830 bezüglich der Erschießungen von „skandalösen Taten“. Durch die einstimmig verabschiedete Aufforderung an die zuständige föderale Regierung zu einer Bestrafung wolle man „den Pueblos einen klaren Beweis geben, dass die Regierung keine Ausnahmen genehmige, sondern allein die genaue Beachtung der Verfassung und der Gesetze“ 300 . Wenige Tage später erhielt Otero die genannte Ehrerweisung.301 1833 erklärte der fünfte Kongress das Ernennungsdekret des vierten Kongresses zum „Attentat gegen die öffentliche Moral“. Nach dem Willen des fünften Kongresses sollte „an dem Ort, wo die Opfer des 8. Dezember 1830 geopfert wurden“302, ein Monument errichtet werden. Das Ziel solcher Ehrbekundungen verdeutlicht sich bei der Auszeichnung der Miliz Pátzcuaros einige Wochen früher: Diese hatte, indem sie die „heroische Verteidigung“ 303 der Stadt gegen eine Bande von Facciosos am 28. August 1830 gesichert hatte, ihre „Pflicht als Ciudadanos honrados“ erfüllt und
298 Dekret Nr. 76 (03.01.1831) / Art. 1, in: RdL, IV, S. 87. Vgl. die nicht vorhandene Diskussion in: Außerordentliche Geheimsitzung vom 02.01.1831 (c. 12, e. 1); Außerordentliche Sitzung Nr. 121 vom 02.01.1831 (c. 12, e. 2). 299 Dekret Nr. 76 (03.01.1831) / Art. 3, in: RdL, IV, S. 87. Vgl. Chowning: Wealth, S. 134. 300 Geheimsitzung vom 16.12.1830 (c. 12, e. 1). Noch am 30. Dezember erhielt der Kongress eine Bestätigung des Senators Tomas Vargas, dass er diesen Antrag an den zuständigen Minister in Mexiko-Stadt weitergeleitet habe; vgl. Geheimsitzung vom 30.12.1830 (c. 12, e. 1). 301 Vgl. auch Bravo Ugarte: Historia, S. 79-81. 302 Dekret Nr. 24 (23.07.1833) / Art. 1f., in: RdL, VI, S. 42. In einer Fußnote der Gesetzessammlung heißt es dann, dass den Opfern zu Ehren 1861 der Hauptplatz Valladolids zum Platz der Märtyrer umbenannt wurde. 303 Sitzung Nr. 30 vom 06.09.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. auch die erste Meldung: Sitzung Nr. 26 vom 01.09.1830 (c. 11, e. 3).
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insbesondere ihren „geläuterten Patriotismus“ 304 unter Beweis gestellt. Der Kongress beschloss für die Offiziere beschleunigte, da bevorzugt zu behandelnde Aufstiegsmöglichkeiten und die Vergabe einer halben Unze Gold an alle Grade unterhalb der Unteroffiziere und an die Mutter eines bei der Militäraktion umgekommenen Milizionärs. Diese Auszeichnungen sollten ausdrücklich in einer feierlichen Zeremonie „auf einem öffentlichen Platz“305 durch das Ayuntamiento der Stadt vorgenommen werden und zwar mit dem „Ziel, die armen Leute zu stimulieren“, und um „den übrigen Orten des Staates als Ansporn zu dienen“306. Die von der vorschlagenden Kommission zunächst angedachten Wappen für die Miliz wurden als in diesem Sinne zu ineffektiv verworfen. Die erziehende Vorbildfunktion solcher Auszeichnungen war also eine primäre Motivation: Möglichst viele Menschen, und hier im Besonderen die anderen Milizen, sollten sich ein Beispiel nehmen an dem Patriotismus und dem Einsatz für die Gemeinschaft, um so die Pflichten eines Ciudadano honrado zu erfüllen. In diesem Sinne lässt sich auch das dritte Feld der parlamentarischen Erinnerungspolitik deuten, die Betitelung beziehungsweise (Um-)Benennung von Ortschaften und Städten. Die Erhebung einer Ortschaft in den Stand einer Villa oder einer Ciudad befand sich wie viele andere Rechtsgebiete auch noch in einer Zwischenstellung zwischen traditionellen Vorstellungen einerseits, die von der Betitelung als Ehrerweisung ausgingen, und andererseits dem Anspruch, allgemein-objektive Kriterien zu erlassen. Gleichzeitig lässt sich bestätigen, dass die Unterscheidung zwischen den früheren Repúblicas de indios und Repúblicas de españoles keine Rolle mehr spielte. So brachte Lloreda schon 1824 den Vorschlag ein, dass der Kongress die Auszeichnung von Santa Clara mit dem „Privileg des Titels einer Villa“ bestätigen solle, die dieses Pueblo durch ihre „sehr großen und kostenreichen Opfer“ für die „Freiheit der Patria“ 307 von Iturbide erhalten hatte. Er ging davon aus, dass der Staat wie früher die Krone für die Erteilung dieses Privilegs Geld, in diesem Fall 300 Pesos, erhalten würde.308 Pastor Morales und Villaseñor entgegneten, die Opfer Santa Claras seien nicht übermäßig groß und Iturbide sei zu einer solchen Privilegierung nicht berechtigt gewesen. Außerdem habe der Staat noch keine „neuen Gesetze über die Errichtung von
304 305 306 307 308
Sitzung Nr. 34 vom 11.09.1830 (c. 11, e. 3). Dekret Nr. 50 (13.09.1830) / Art. 68, in: RdL, IV, S. 68. Sitzung Nr. 34 vom 11.09.1830 (c. 11, e. 3). Sitzung vom 07.10.1824, in: AyD, I, S. S. 316. Vgl. bspw. zum spanischen Stadtrecht: Blickle: Kommunalismus, S. 46.
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Villas der neuen Kreation“309. Das Bewusstsein, ein der neuen politischen Ordnung angepasstes Stadtrecht zu benötigen, war also vorhanden. Santa Clara erhielt den Titel ebenso wenig wie zwei Jahre später das Pueblo Los Reyes, das sich darauf berief, den Titel von Miguel Hidalgo, dem „ersten Caudillo der Unabhängigkeit“, erhalten zu haben, vor allem da es „viele Kanonen für die Artillerie für den Krieg gegen die Feinde der Unabhängigkeit fabriziert hatte“. Einige unterstützten das Ansinnen, um die Erinnerung an Hidalgo hochzuhalten und „die Pueblos nicht in Mutlosigkeit eintreten zu lassen und so den allgemeinen Enthusiasmus“ 310 zu ersticken. Wiederum ein Jahr später beantragte Zamora den Titel einer Ciudad, den ihr auch schon Hidalgo verliehen hatte. Der Antrag mit dem „Hauptziel, die Erinnerung des ersten Helden zu feiern“311, wurde noch in der gleichen Sitzung behandelt und ohne weitere Diskussion befürwortet. 312 Vermutlich spielte hier der Umstand eine Rolle, dass Zamora seit einigen Jahrzehnten stark prosperierte, dass also auf der anderen Seite auch objektiv messbare Indikatoren wie Bevölkerungszahl und Handelsaufkommen Einfluss hatten. Bezüglich Reyes gingen die Abgeordneten davon aus, dass man mit „so großer Oberflächlichkeit den ersten Helden der Patria sicherlich nicht so geehrt hätte, wie es sein unschätzbarer Verdienst verdient“. So forderte der Kongress Reyes dazu auf, gemäß den „geltenden Bestimmungen“ 313 eine Begründung vorzulegen, allerdings ohne Hinweis darauf, welche Bestimmungen das waren. Der zweite Kongress schien weniger restriktiv, denn nach der Aufwertung Zamoras erhielt im nächsten Jahr auch das bisherige Pueblo Tacambaro den Titel einer Villa, da – so im Antrag – es „sich durch seine Dienste distinguierte“ 314 . Leider ist nicht überliefert, auf welche Dienste hier rekurriert wurde. Festzuhalten bleibt auch hier, dass Hidalgo, nicht aber Iturbide als Held der Patria und somit als Autorität anerkannt wurde. Städtebaulich wurde der Unabhängigkeit und ihren Helden nur zu einem Anlass gedacht, und dies auch erst auf Antrag beziehungsweise nach einem Auftrag aus Mexiko-Stadt. Schon 1823 waren die Diputación provincial und das Ayuntamiento von Valladolid aufgefordert worden, des Unabhängigkeitskämpfers Mariano Matamoros zu gedenken. Matamoros war beim Eroberungsversuch von Valladolid Ende 1813 von den Royalisten gefangen genommen und dort 309 310 311 312 313 314
Sitzung vom 07.10.1824, in: AyD, I, S. S. 317. Sitzung Nr. 112 vom 13.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 24 vom 07.09.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. auch Dekret s./Nr. (07.09.1827), in: RdL, III, S. 7. Sitzung Nr. 112 vom 13.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 68 vom 02.11.1827 (c. 5, e. 3); vgl. auch: Sitzung Nr. 80 vom 15.11.1827 (c. 5, e. 3) und v.a. Sitzung Nr. 66 vom 03.11.1828 (c. 9, e. 1); Dekret s./Nr. (06.12.1828), in: RdL, III, S. 112.
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hingerichtet worden. Die Umsetzung des Vorhabens verschleppte sich, so dass der Generalkongress 1827 nochmals dazu aufrief, „an der Stelle in der Hauptstadt eine Pyramide zu errichten, an der der Señor General D. Mariano Matamoros von den Tyrannen geopfert worden war“315. Aber auch 1828 sah sich das zuständige Ayuntamiento der Hauptstadt finanziell nicht dazu in der Lage. Ein von einer Parlamentskommission vorgelegter Vorschlag wurde 1828 ebenfalls aus finanziellen Gründen nochmals zurückverwiesen – aber auch, da man sich nicht einigen konnte, ob dem Dekret aus Mexiko-Stadt auch insofern Folge zu leisten war, als dass das Grab an genau dem vorgeschriebenen Platz zu errichten sei, oder ob es nicht „mitten auf der Plaza [also dem Hauptplatz] oder in San Francisco [dem zweiten zentralen Platz] passender wäre“ 316 , wo es besser besichtigt werden könnte. 317 Auch hier schienen die Erziehungsfunktion und die Opfersituation im Vordergrund zu stehen. Neben der Verleihung von Ehrentiteln und städtebaulichen Maßnahmen sollte auch die (Um-)Benennung von Orten eine symbolische Funktion übernehmen. So wurde in dem oben behandelten Kolonisierungsdekret die Regierung aufgefordert, dass sie „den Kongregationen, die hundert Familien versammeln, Namen gebe“, die dem Ziel entsprechen, „die Erinnerung an die Helden der mexikanischen Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten“ 318 . Die bekannteste Stadttaufe Michoacáns – auch wenn sie nicht Folge einer Kolonisierungsmaßnahme war – bezog sich dann auf die Umbenennung der Hauptstadt des Staates. Domínguez hatte bereits 1826 den Namen „Stadt des Morelos“319 ins Spiel gebracht, im Kongress diskutiert wurde sie dann jedoch erst ab Ende August 1828 nach einem wiederholten Vorschlag von Ignacio Villavicencio, Basileo de Velasco, Joaquín Tomás Madero und Manuel Chávez. Sie begründeten den Vorschlag in einer ausführlichen Stellungnahme damit, dass „die ersten Usurpatoren des weiten mexikanischen [!] Imperiums“ durch die Vergabe spanischer Namen für die von ihnen gegründeten und eroberten Siedlungen „das Ziel verfolgten, ihre Heimaterde zu ehren“. Dadurch „perpetuiere sich die Erinnerung an ihre kanonisierten Grausamkeiten ... aus diesen Prinzipien entstanden die Namen von Valladolid, Salamanca, Neu-Galizien ...“. Da aber „die Zeiten der Unterdrückung und der Schmach endeten und auf 315 Sitzung vom 30.01.1827 (c. 3, e. 6). 316 Sitzung Nr. 53 vom 16.10.1828 (c. 9, e. 1), 317 Vgl. den Briefwechsel zwischen Mexiko-Stadt und Valladolid in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 5, e. 9 und das Dekret (21.07.1823), in: LM. Vgl. auch Sitzung vom 20.08.1825 (c. 2, e. 5); Sitzung Nr. 66 u. 69 vom 26. u. 30.11.1825 (c. 2, e. 9); und die nochmalige Verweisung in die Kommission, von der es dann jedoch nicht mehr zurückkam: Sitzung Nr. 68 vom 05.11.1828 (c. 9, e. 1). 318 Dekret s./Nr. (31.07.1828) / Art. 39, in: RdL, III, S. 79. 319 Vgl. Sitzung Nr. 118 vom 27.09.1826 (c. 4, e. 2).
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diese die des Ruhmes und des Aufstiegs folgten, ... dürfen wir nicht mehr unserer Sklaverei gedenken“. Deswegen sollte sich Michoacán dem Vorschlag einiger „weiser Gesetzgeber“ anschließen, die den Siedlungen entweder die vormaligen Namen oder die der „Helden, die ihr Leben auf dem Altar der Patria opferten“, (wieder) gaben. Und da Valladolid die „Stadt ist, in der einer der schillerndsten Märtyrer der Patria, der Indito, der Valiente, der unerschrockene Campeón D. José María Morelos das Licht der Welt erblickte, scheint es außer jeglichen Zweifels zu sein, dass Eure Souveränität [also der Kongress] den Vorschlag, den wir unterschrieben haben, annimmt, um den Namen des Erlauchten Sohnes dieses Bodens, der die Ehre und der Ruhm dieser Stadt ist, unsterblich zu machen“.
Der Name Valladolid sollte gemäß dem Vorschlag durch eine Anspielung auf den „wohlverdienten Sohn der Patria“320 ersetzt werden. Indito und Valiente, also der kleine Indio beziehungsweise der Tapfere, waren gängige Bezeichnungen für Morelos und bezogen sich einerseits auf seine partiell indigenen Wurzeln und andererseits auf seine Fähigkeiten im bewaffneten Kampf. Wie Pablo Peguero feststellte, waren sich alle über die Abschaffung des alten Namens einig. Eine Diskussion entspann sich dann allerdings über den neuen Namen: Die Kommission hatte zunächst die Wiederannahme des vor-spanischen Namens Guayangareo empfohlen, in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem ersten Artikel der Verfassung, nach dem „der Staat von Michoacán diesen Namen, den er von alters her erhielt, behalten werde“. In der Abstimmung unterlag dieser Vorschlag jedoch, eine Anspielung auf Morelos schien „passender“ für das „allgemeine Ziel, die Dankbarkeit der Michoacanos“ – weiter unten ist auch von der „Dankbarkeit der Amerikaner“ die Rede – „in Anspruch zu nehmen und ihr patriotisches Feuer anzuzeigen“ 321 . Sowohl auf Stadt des Morelos als auch auf Patria des Morelos konnten sich die Abgeordneten aber nicht einigen. Als die Kommission nach der Beratung mit Fachleuten dann nach dem Vorbild unter anderem von Bolivia (Bolivien, in Erinnerung an den südamerikanischen Unabhängigkeitshelden Simón Bolívar) den Namen Morelia einbrachte, erklärte sich Peguero auch damit nicht einverstanden, da man dann „kühl spricht, ohne dass viele fähig sind, den Ursprung, den der Name Morelia hat, zu erkennen, da man ihr ein anderes Derivat gibt ... und nach einigen Jahren, wird man nicht mehr wissen, welches Motiv der Gesetzgeber hatte, den Namen zu ändern“. Er fände Morelos in Analogie zu Washington besser, damit sich die Ziele nicht „nur für die Weisen, die die Kombinationen machen
320 Sitzung Nr. 15 vom 23.08.1828 (c. 8, e. 1). 321 Sitzung Nr. 25 vom 06.09.1828 (c. 8, e. 1).
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können“322, erfüllen. Die Mehrheit sprach sich gegen Peguero trotzdem für die feierliche Umbenennung in Morelia am symbolträchtigen 16. September des Jahres aus. 323 Am 18. September 1828 erschien dann erstmalig im Protokoll statt „In Valladolid …“ die neue Eingangsformel: „In der Stadt Morelia, Hauptstadt des Staates von Michoacán ...“324. In der Debatte lassen sich also alle oben konstatierten Elemente wieder finden, von der Familienmetapher über die Opfergemeinschaft zur Erziehungsfunktion über die Erinnerung an die abgeschlossene Vergangenheit, die hier mit Begriffen wie Märtyrer und Altar der Patria deutlich sakrale Züge erhielt. Ähnliches wurde auch für andere Regionen Mexikos festgestellt.325 Paradigmatisch für die eben skizzierte Erinnerungspolitik ist die Ansprache des Pfarrers von Patzcúaro und ehemaligen Abgeordneten Manuel Torre Lloreda am 17. September 1828: Er spricht dort von der Kolonialzeit als „wahrhaft dunkler Zeit“, von der Unabhängigkeit als „Türschwelle zur Bildung“, vom Conquistador Hernan Cortés als „Bandit“ und von Hidalgo als Zivilisator. Er forderte seine Zuhörer zu „Opfern“ auf dem „Altar der Patria“ auf. Sie sollten als „wahrhafte Patrioten“ ihren „Aspirantismus“ und „hypokritischen Egoismus“ zurück- und die Patria in den Vordergrund stellen. Ziel seiner Ansprache sei die Entfachung eines „patriotischen Feuers“326. Die Erinnerungspolitiken des Kongresses resümierend, lassen sich einige zentrale Merkmale der Vorstellungen über die zu imaginierende „gesellschaftliche Gemeinschaft“ festhalten. Von zentraler Bedeutung für die Abgeordneten war die Erziehungsfunktion: So sollte dem Pueblo, den armen Leuten, den Milizen et cetera und „nicht nur den Weisen“ durch die verschiedenen Maßnahmen „Enthusiasmus“ und „patriotisches Feuer“ eingeflößt werden, also ein Gemeinschaftsgefühl emotional verankert werden. Ziel war hier, wie bei anderen oben zitierten Politikfeldern, die Bildung von guten, am Gemeinwohl orientierten und überzeugten Ciudadanos honrados. In diesem Sinne sollte eine demokratisierte Opfer- und eben keine Heldengemeinschaft konstituiert werden. Insbesondere auch „kleine“ Opfer galten als erinnerungswürdig, vorbildhaft und nachahmenswert. Mit dieser Demokratisierung des nationalen Pantheons verband sich dessen Aristokratisierung. Was hier zunächst als Wider322 323 324 325 326
Sitzung Nr. 27 vom 10.09.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. auch Dekret s./Nr. (12.09.1828), in: RdL, III, S. 96f. Sitzung Nr. 32 vom 18.09.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. für Oaxaca: Guardino: Time, S. 166. Discurso que en el solemne aniversario de los difuntos patriotas… (17.09.1828), in: Anales del Museo Michoacano, 2. Epoche, Nr. 5 (1952), S. 191-200, Zitate S. 194, 196, 197 u. 198 (Dokument auch abgedruckt in: LAF 768/2).
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spruch erscheint, wurde durch die Sakralisierung und Heroisierung der „Aristokraten“ diskursiv aufgelöst: Die so genannten Märtyrer der Patria wie Morelos, Hidalgo oder Matamoros, die sich auf dem Altar der Patria opferten, galt es „unsterblich zu machen“. Durch ihre Heiligung wurden sie unangreifbar und für Normalsterbliche auch unerreichbar. Wie auf Erden herrschte auch im Pantheon eine Zweiklassengesellschaft. Während die Opfer des Freiheitskampfes als konkrete Vorbilder dienen konnten und sollten, wurden die ersten Caudillos zu abstrakten, unerreichbaren und unsterblichen Symbolen der Vergangenheit stilisiert. Diese Stilisierung kann auch als eine Maßnahme gelten, die eingangs gestellte Frage zwischen Individualität und Kollektivität sowie zwischen Diskontinuität und Kontinuität jeweils zu Gunsten der Ordnung erhaltenden zweiten Alternative aufzulösen. Gefeiert wurden nicht die auf ihre individuellen Interessen abzielenden Revolutionäre, sondern die an das Bien común denkenden, dem politischen Alltag entzogenen Heiligen aus der Vergangenheit. Als legitim definierten die Abgeordneten in diesem Sinne auch nicht den Einsatz für konkrete Rechte und individuelle Freiheiten, sondern nur den für die bereits gewonnene, abstrakte Freiheit beziehungsweise für die Unabhängigkeit der Patria. Zuweilen gewinnt man gar den Eindruck, es handelte sich um einen weiter andauernden Verteidigungskampf für den Erhalt der Freiheit. Dabei stand nicht die Frage im Mittelpunkt, um welche Gemeinschaft beziehungsweise Patria es sich handelte, es konnte die Michoacáns, die Mexikos oder gar die Amerikas sein. Das Modell einer „föderativen Nation“ (Langewiesche) scheint im Bereich der Imagined community auf Michoacán anwendbar. Dieses Nebeneinander kollektiver Identitäten nahmen die Abgeordneten – im Gegensatz zur späteren Nationsforschung – nicht als Problem wahr. Dies steht, wie gesehen, durchaus im Widerspruch zur immer wieder mit Konflikten beladenen Tagespolitik ab den späten 1820er Jahren. Der Einsatz für die Gemeinschaft gleich welcher Ebene galt als auszeichnungswürdig und vorbildhaft. Damit bestätigen sich zudem die Annahmen bezüglich des idealen, sich an der Gemeinschaft orientierenden Ciudadano und der Erziehungsziele aus Kapitel E I. Die mit der These, der „mexikanische Staat käme vor [Hervorhebung S.D.] der Nation dieses Namens“ 327 , ausgedrückte Sonderstellung der Staats- und Nationsentwicklung in Lateinamerika ließ sich für Michoacán allerdings nicht bestätigen. Abgesehen davon, dass in der Forschung diese Reihenfolge auch für andere atlantische Regionen angenommen wird,328 konnte hier für Michoacán 327 Pérez Collados: Discursos, S. 53. 328 Vgl. bspw. Gosewinkel: Untertanschaft, S. 518: „In der englischen, amerikanischen und französischen Geschichte entwickelte sich der Staat vor der Nation oder zugleich mit ihr“.
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einerseits festgestellt werden, dass die Abgeordneten sowohl das State- als auch das Nation-building von Beginn an als ihre Aufgabe betrachteten, es also kein Nach-, sondern vielmehr ein Nebeneinander gab. Erinnert sei hier auch an die entsprechenden Diskussionen der Konstituante, insbesondere des ersten Verfassungsartikels. Und andererseits knüpften die Deputierten an gemeinschaftliche Diskurse aus der spätkolonialen Zeit an, also aus einer Zeit, als es noch keinen eigenen Staat gab.329 In Anlehnung an spätkoloniale kreolische Diskurse beziehungsweise in deren Weiterführung wurden die Spanier im Abstrakten zur Legitimierung des Freiheitskampfes als grausame Usurpatoren, Unterdrücker und Fremdkörper auf dem amerikanischen Kontinent skizziert, von denen nun eine „Regeneration“ notwendig sei. Zur Überwindung der Zeit der „Usurpation“ und „Sklaverei“ erhielten der Staat und seine Hauptstadt Namen, die an vorbeziehungsweise an post-spanische Traditionen erinnern sollten. Diese Skizze des grausamen Spaniers stand in einer großen Diskrepanz zu dem beispielsweise bei der Spaniervertreibung nachvollziehbaren positiven Verhältnis der hier im Kongress versammelten kreolischen Eliten zu den konkreten Europa-Spaniern. An dieser offensichtlich als notwendig erachteten Legitimationsstrategie gegenüber dem abstrakten Spanier konnten radikalere Kräfte wie die, die die Spaniervertreibung propagierten, anknüpfen. Ob in deren Folge bei den Regierenden in Michoacán ein Umdenken stattfand, dies festzustellen, fällt nicht mehr in den hier betrachteten Bearbeitungszeitraum. Eine transzendent-providentialistische Legitimierung der Unabhängigkeit, wie von Brian Connaughton festgestellt, tauchte in den hier untersuchten Diskursen hingegen nicht auf. Folgender Aussage, die er insbesondere auf Grundlage von Äußerungen von Geistlichen getroffen hat, kann man für Michoacáns Abgeordnete nicht zustimmen: „Häufig sah man die Unabhängigkeit Mexikos nicht nur als ein Produkt der göttlichen Vorsehung oder der Einmischung der Jungfrau von Guadalupe, sondern noch spezifischer als ein geeignete Möglichkeit zur Überwindung des fehlgesteuerten und irreligiösen Weges der Alten Welt“330. Guerra spricht in ähnlicher Weise von der Unabhängigkeit Mexikos als Produkt der Geschichte und der göttlichen Vorsehung im Sinne eines „neuen Israels“331. Die Legitimation der Diputados michoacanos blieb vielmehr im Diesseitigen – obwohl viele Geistliche im Kongress saßen und Michoacán als stark katholisch galt. Die schon mehrfach angesprochene Säkularisierung zeigt auch hier ihren Niederschlag. Religiöse Elemente finden sich in erster Linie bei der Sakralisierung diesseitiger Heldenfiguren. 329 Vgl. hierzu auch Brading: America. 330 Connaughton: Ágape, S. 284. 331 Guerra: Ocaso, S. 126.
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Auffällig ist ferner – insbesondere im Kontrast zu anderen atlantischen Regionen –, dass der Kongress fast ausschließlich den militärisch-personalen Traditionen, nicht aber den konstitutionell-abstrakten gedachte. 332 Dies sticht für Michoacán vor allem insofern ins Auge, als dass die spätere Historiographie die Verfassung von Apatzingán häufig als Gründungsdokument der neuen Nation feierte. Deutlich wird das auch in der Figur von Morelos, den man auch als Verfassungsvater hätte feiern können, und in der geringen Berücksichtigung der konstitutionellen Feiertage. Über die Unabhängigkeit hinaus zeigte das zudem die Tatsache, dass zwar militärische Führer zu Helden oder Wohlverdienten des Staates erklärt werden sollten, nicht aber beispielsweise Verfassungsväter. Nicht etwa Lloreda oder Martínez de Lejarza galten somit als Gründungsväter des neuen Staates, sondern vielmehr Hidalgo und Morelos oder so zweifelhafte Gestalten wie Pedro Otero. Ausnahmen von diesem Nicht-Feiern der konstitutionellen Tradition ließen sich nur am Beginn der Unabhängigkeit erkennen. Liegt da nicht der Schluss nahe, dass das Vertrauen in die integrierende und inkludierende Wirkung der durch die Verfassung grundgelegten Staatsbürgergesellschaft sehr schnell verloren gegangen ist? In diesem Sinne ließe sich die These von Guerra verifizieren, dass beim Übergang zur Loyalität zu einem abstrakten Gesellschaftsbild Schwierigkeiten auftauchten. 333 Vielen Abgeordneten schien das konkret fassbare Bild der Familia michoacana für die Schaffung der Nación michoacana ergiebiger als das abstrakt-rationale der Staatsbürgergesellschaft. Besonders deutlich wird diese Konkretisierungsmaßnahme darin, dass auch der Einsatz für die natürliche Familie – Beispiel Villalongín – als auszeichnungswürdig galt. Das Modell der „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ wurde auch in Michoacán nicht erfunden, sondern aus einem vorhandenen Fundus an Traditionen selektiert.334 Die Abgeordneten zogen die als natürlich wahrgenommene Familia michoacana zur Inszenierung der Nation heran, sie verwendeten die Familienmetapher hier besonders häufig. Wie von der herrschenden, oben zitierten Meinung der Nationsforschung festgestellt, changierte auch in Michoacán das Modell zwischen Staatsbürgernation und Abstammungsgemeinschaft. Nach der euphorischen Anfangsphase schlug das Pendel in Richtung der zweiten Alternative aus. In Zeiten des schnellen Wandels griff die politische Elite auf Modelle zurück, die Stabilität, Dauer, Urwüchsigkeit versprachen. In diesem Sinne hielten die Abgeordneten 332 Vgl. mit einer wesentlich stärker ausgeprägten konstitutionellen Fest- und Erinnerungskultur im süddeutschen Raum zwischen 1815 und den 1830er Jahren: Blänkner: Vorrang, S. 316-323. 333 Vgl. u.a. Guerra: Ocaso, S. 125f. 334 Vgl. hierzu jüngst, die Theoriedebatte aufnehmend: Langewiesche: Erfindung.
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bei Feiern ähnlich wie in Spanien lange an traditionellen Ritualen und Zeremonien fest.335 Die Familienmetapher galt auch insofern als passender, als dass sich der Kongress so als Padre legitimieren konnte. Er war im Koselleck’schen Sinne der über der Gesellschaft stehende Kritiker. Er kritisierte nicht nur die Gesellschaftsmitglieder in Gute und Schlechte (E I), sondern interpretierte auch die Vergangenheit und gab den Weg in die Zukunft vor. Diese Denkfigur wird auch im nächsten Kapitel F eine zentrale Rolle spielen.
335 Vgl. zum Spanien der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts: Butrón Prida: Fiesta, v.a. S. 161-169.
F. Parlamentarische Inszenierung: „Wie es ein Vater seinen Kindern erklärt …“
Der Abgeordnete Juan Gómez de la Puente verwendete 1828 die für die Kommunikation zwischen Kongress und Bevölkerung äußerst aussagekräftige Metapher: „Die Gesetze sollen so eindeutig geschrieben sein, dass keiner über ihre Bedeutung zweifelt, so wie wenn ein Vater etwas seinen Kindern erklärt, damit sie es verstehen, ohne die Notwendigkeit, Rechtsgelehrte aufzusuchen“1. Der reife, ausgewachsene und somit zu Erklärungen legitimierte und befähigte Vater, der Gesetzgeber, steht seinen heranwachsenden Kindern gegenüber. Er agiert als einheitliche Institution, als souveränes Staats- oder, um in der Metapher zu bleiben, Familienoberhaupt, das bereits Einblick gewonnen hat. Er handelt in dem fürsorglichen Streben, dass die Gesetzesadressaten nichts tun (müssen), außer die für sie aufbereiteten Erklärungen entgegenzunehmen. Er hat die Initiative und er hat die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Kommunikation direkt, ohne Vermittler funktioniert. Gleichzeitig weist die Aussage darauf hin, dass die Abgeordneten Kommunikation und Transparenz als notwendig ansahen. Die Kommunikation beziehungsweise das Verhältnis des Kongresses mit beziehungsweise zur Außenwelt beschäftigte in unterschiedlichen Facetten die Abgeordneten von Beginn an, wie folgende Episoden aus der Konstituante belegen. In der zweiten Sitzung, am 7. April 1824, erschien laut Protokoll „der Abgeordnete Lloreda und machte, nachdem er den Schwur abgelegt und Platz genommen hatte, den Vorschlag, dass weder der Kongress noch irgendeiner der Repräsentanten irgendein Tratamiento2 erhalten“ solle. Trotzdem beschlossen die Abgeordneten dann für den Kongress die Anrede in der dritten Person und die Betitelung als „Ehrenwerter Kongress“ („Honorable congreso“), aber „weder für den Präsidenten noch für die Sekretäre und die übrigen Abgeordneten ein anderes Tratamiento als das der Ciudadanos“3. Als die Frage nach der Betitelung der Staatsgewalten bei öffentlichen Auftritten wegen des zu Karfreitag anstehenden Kirchenbesuchs des Gouverneurs wieder auf der Tagesordnung stand, führte Manuel de la Torre Lloreda aus: „Obwohl er sich in der zweiten 1 2
3
Sitzung Nr. 26 vom 29.01.1828 (c. 7, e. 2). Tratamiento kann sowohl mit „Anrede“ als auch mit „Titel“ übersetzt werden. Die Bedeutung oszilliert zwischen diesen beiden Möglichkeiten, weswegen das Wort als Terminus technicus im Weiteren in uneindeutigen Fällen unübersetzt bleibt. Sitzung vom 07.04.1824, in: AyD, I, S. 6.
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Sitzung gegen diese Distinktionen aus Sorge um die Gleichheit gemäß des republikanischen Systems geäußert habe“, sei er nach dem Vergleich mit anderen Staaten mit der „selben liberalen Maxime“4 doch für die Betitelung der obersten Staatsgewalten und auch der einzelnen Abgeordneten. Weder der Kongress noch die Abgeordneten sollten also von der Öffentlichkeit mit der „Gleichheit gemäß des republikanischen Systems“ behandelt werden, sondern mit Distinktion. Schon knapp zwei Monate nach Beginn der Sitzungen, Ende Mai 1824, forderte Manuel González, dass „man im Folgenden kein einziges geheimes Protokoll“ mehr anfertigen solle, da eine Nicht-Veröffentlichung auf Grund sonst möglicher „düsterer Interpretationen“ nicht mit „dem Schwur, mit der Ehre der Abgeordneten und mit der Würde des Kongresses“5 vereinbar sei. Die Verfassung von 1825 sah schließlich die grundsätzliche Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen vor (Art. 31). Auch an einer weiteren Stelle legten die Verfassungsväter den fundamentalen Charakter von Publizität fest: „Kein Gesetz werde ohne die von der Regierung beauftragte Veröffentlichung verpflichten“ (Art. 52). Für die Parlamentarier Michoacáns war, so scheint es, „Kommunikation … für Politik lebenswichtig und konstitutiv“6. Die eben angeführten Festlegungen machen zweierlei deutlich, nämlich erstens dass die Abgeordneten die Notwendigkeit sahen, nach außen aufzutreten. Und zweitens hatte es für sie eine große Bedeutung, das Verhältnis zu diesem „Außen“ selbst definieren zu können. Wie zu sehen sein wird – und wie oben schon angedeutet –, behandelten die Abgeordneten das Außen meist als kritisches Potential, als das gefährliche, nicht genau fassbare Andere, gegen das es sich zu schützen galt. Die im Einganszitat implizierte Passivität der Kinder schien vor allem Wunschdenken – eine Wahrnehmung, die durch die in Teil D aufgeführten Aktivitäten und Widerstände der Bevölkerung nachvollziehbar erscheint. Der Begriff der Öffentlichkeit wird hier bewusst unideologisch verwendet. Welche Art von Öffentlichkeit den Abgeordneten vorschwebte, soll zwar abschließend herausgearbeitet werden. Zunächst sollen aber die kommunikativen Akte mit der Außenwelt untersucht werden. Im folgenden Kapitel thematisiert die Studie also nicht wie viele andere primär die Frage, ob sich im Michoacán des betrachteten Zeitraums eine moderne deliberative, „bürgerliche Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas etablieren konnte.7 Es geht also nur indirekt darum, ob das Parlament seine Herrschaft im vor-
4 5 6 7
Sitzung vom 13.05.1824, in: AyD, I, S. 43. Geheimsitzung vom 29.05.1824, in: AyD, I, S. 69. Frevert: Kommunikation, S. 9. Vgl. das klassische Werk: Habermas: Strukturwandel.
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modernen Sinne „statt für das Volk, ‚vor’ dem Volk“8 repräsentierte oder ob die Öffentlichkeit „nach liberaler Lesart das Korrektiv politischer Herrschaft und Instrument der Meinungsbildung zugleich“9 werden sollte. Die vorliegende Studie löst sich vielmehr von diesem normativen Modernitätskonzept: Es soll wieder aus der Perspektive der Abgeordneten gefragt werden, wie diese sich, ihre Arbeit und den Kongress gegenüber der Außenwelt präsentierten und inszenierten. Wie bisher interessiert hier die „Dimension der Subjektivität“ (Schlegelmilch), interessieren die Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmuster der Abgeordneten. So erhalten wir wie im vorangegangen Kapitel einen weiteren Blick auf die Vorstellungen der Abgeordneten über das Gemeinwesen und über das Verhältnis des Kongresses zu diesem. Wie zu sehen sein wird, spielt dabei das Konzept der „Institutionalität“ im Sinne von „Ordnungsbehauptung“ 10 und das der „Symbolisierung“ eine jeweils zentrale Rolle.11 Die Abgeordneten intendierten durch bestimmte Formen des (Nicht-)Auftritts, Ordnung zu behaupten und in Szene zu setzen. Durch die Ent-Menschlichung und die Institutionalisierung der Herrschaft sollte gegenüber den Regierten das Bild einer geordneten Welt evoziert werden. Um ein Ergebnis aus den Kapiteln B und C zur Verfassung von Michoacán aufzunehmen, ging es den Abgeordneten in Abwandlung des liberalen Diktums von John Adams („government of law, not of men“) darum, ein Government of institutions, not of men zu errichten. Die Regierung sollte wie bei Adams ent-menschlicht, ent-personalisiert werden. Die Abgeordneten Michoacáns misstrauten allerdings nicht nur der menschlichen Fähigkeit zu gerechter Herrschaft, sondern auch dem liberalen Instrument der Gesetzesherrschaft. Sie intendierten vielmehr ein „government of institutions“. Hierauf wird insbesondere im Resümee noch ausführlich einzugehen sein. Symbolische Kommunikation, der symbolische Auftritt nach außen, versteht sich dabei als integrativer Bestandteil von Institutionen, erst durch ihr SichtbarWerden können sie eine ordnungsbehauptende Funktion einnehmen. Das Government of institutions sollte – so die These – gelingen, indem die Deputierten persönlich-unmittelbare Auftritte möglichst mieden oder zumindest distinktiv 8
Habermas: Strukturwandel, S. 19. Vgl. zur Herausbildung einer Öffentlichkeit im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen die Hinweise in Kapitel A III. 9 Göhler: Einleitung, S. 7. 10 Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 10. 11 Von besonderer Bedeutung für das folgende Kapitel sind die Ergebnisse des Dresdner Sonderforschungsbereiches 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ und v.a. der Tagungsband: Melville (Hg.): Institutionalität; sowie die Ergebnisse des Münsteraner SFB 496: „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. Vgl. zum noch zu erläuternden Begriff der Institution insb.: Rehberg: Weltrepräsentanz.
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und stark ritualisiert gestalteten (II) und dafür mittelbare Auftritte in den Vordergrund rückten. Zur Untersuchung stehen zwei Formen der medialen Kommunikation: die architektonische (III) und die schriftliche (IV) Kommunikation. In beiden Fällen werden die Debatten über die Etablierung der jeweiligen Infrastruktur und Medien als politische Entscheidungsprozesse verstanden und ihnen in der Analyse eine entsprechende Rolle eingeräumt. Dadurch gelangen bisher für Mexiko kaum untersuchte Elemente in den Blick, wie der Palacio del congreso und der Plenarsaal, bei denen das Verhältnis von Repräsentativität und Funktionalität zu betrachten sein wird, aber auch schriftliche Produkte wie Gesetze und Protokolle sowie ihre Entstehungs- und Verteilungswege (Druckerei-, Post- und Zeitungssystem). Vor der Untersuchung des Auftritts nach außen wird mit der kongressinternen politischen Kultur zunächst der Auftritt nach innen betrachtet (I). Gerade in der Kontrastierung fällt dabei der in den Debatten gepflegte kritische und vertrauensvolle Umgang als Cuerpo colegiado auf.
I. Der interne Auftritt: Der Kongress als kritisch miteinander umgehender Cuerpo colegiado Die interne Diskussionskultur von Parlamenten ist für den hispanischen Raum der Zeit der Atlantischen Revolutionen bislang kaum untersucht worden. Zwar liegen Studien zu kolonialen Stadträten sowie zu den Cortes von Cádiz und ihren Geschäftsordnungen vor.12 Zur Anwendung in der Praxis, also zur politischen Kultur der Kongresse hingegen fehlen sie genauso wie zum frühen mexikanischen Parlamentarismus. Mit Hilfe einer solchen Untersuchung soll hier gezeigt werden, wie die Parlamentarier ihre Gesellschaftsideale in der Praxis umsetzten. Insofern ist dieser Abschnitt auch im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Kapitel über Gesellschaftsvorstellungen zu lesen – insbesondere im Schlussresümee wird dieser Zusammenhang wieder aufgenommen. Diesem Abschnitt steht die These voran, dass es sich bei der Gemeinschaft der Parlamentarier um eine eingeschworene, kritisch miteinander umgehende und wenig ritualisierte Kollegialkörperschaft (Cuerpo colegiado) handelte. Dies fällt besonders in der Kontrastierung zum später zu behandelnden, stark ritualisierten Auftritt des Kongresses nach außen auf, aber auch im Vergleich zur stark ritualisierten Initialisierung der Legislaturperioden. Wie gleich zu sehen sein wird, bildete der Kongress erst nach dem Schwur ein intern 12 Vgl. die Literatur im folgenden Abschnitt.
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vertrauensvolles Kollegialorgan. Der folgende Abschnitt analysiert das, was bisher gleichsam als Nebenprodukt präsentiert wurde, nämlich die politische Kultur des Parlamentes. Gabriel Almond und Sydney Verba legten mit ihrem 1963 erschienenen Werk „The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations“13 das Standardwerk der politischen Kultur-Forschung vor. 14 Sie definierten den Begriff der politischen Kultur folgendermaßen: „When we speak of the political culture of a society, we refer to the political system as internalized in the cognitions, feelings, and evaluations of its population“15 und als „special set of orientations toward a special set of social objects and processes“16. Die politische Kultur-Forschung fragt also nach den subjektiven politischen Einstellungen und Vorstellungen einer Gesellschaft bezüglich des politischen Systems. Als Gesellschaft soll hier die Gesellschaft der Parlamentarier verstanden werden. Mit Martin und Silvia Greiffenhagen ist es für sinnvolle Forschungsergebnisse „unerlässlich, ... das praktische Verhalten, wo immer möglich, in politische Kulturdiagnosen miteinzubeziehen“17. Der folgende Abschnitt nimmt sowohl die in der Geschäftsordnung (Reglamento interior) niedergelegten Normund Idealvorstellungen in den Blick als auch die Praxis, wie sie sich in den Debatten und im Verhalten der Parlamentarier untereinander äußert. Ein für die weiteren Teile der vorliegenden Arbeit zentraler Begriff ist der des Rituals. Er ist einerseits zentral für den unten zu untersuchenden Außenauftritt, andererseits für die gleich zu betrachtende Initialisierung der Legislaturperioden und weitere feierliche Anlässe innerhalb des Kongresses. Die Erforschung von Ritualen, vormalig ein Gebiet der Ethnologie, hat seit einigen Jahren verstärkt Einzug in geschichtswissenschaftliche Untersuchungen erhalten. „Unter einem Ritual wird“, im engeren Sinne, „eine aus mehreren Elementen bestehende, formal normierte, symbolische Handlungssequenz verstanden, die eine spezifische Wirkmächtigkeit besitzt“ 18 . Die einzelnen Bestandteile der rituellen Handlung sind durch Regeln streng normiert und untereinander geordnet, was eine stark ausgeprägte formale Rigidität zur Folge hat. Rituale finden nicht zufällig statt, sondern sind bis ins Detail (Kleider- und Sitzordnung, Sprachformeln et cetera) geplant, sie heben sich durch ihren Inszenierungscharakter vom alltäglichen Handeln ab und gewinnen eine gewisse 13 14 15 16 17 18
Almond / Verba: Culture. Vgl. zur Einordnung: Greiffenhagen: Kultur, S. 167f. Almond / Verba: Culture, S. 14. Almond / Verba: Culture, S. 13. Greiffenhagen: Kultur, S. 176. Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 503. Die theoretischen Ausführungen folgen insbesondere den Kompilationen bei Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 502-504; Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 33-35 und Tambiah: Theorie.
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„Alltagsentrücktheit“19. Damit implizieren sie laut Forschung das „Eingreifen einer überempirischen, spirituellen Macht“20, wodurch die Akteure des Rituals eine transzendente Autorität erhalten (können). Unter der „spezifischen Wirkmächtigkeit“ ist die Tatsache zu verstehen, dass Rituale eine „Zustandsveränderung bewirken“, beispielsweise den Statuswechsel einer Person. Sie haben also „performativen Charakter: Sie sagen nicht nur etwas, sie tun etwas; sie bewirken, was sie bezeichnen, und verpflichten die Beteiligten auf entsprechendes Verhalten in der Zukunft“ 21 . Nach Stanley Tambiah besitzen „Rituale, die aufgrund des sakralen Charakters von Verfassungen ... entstanden sind und die der Bewahrung der Wahrheit oder der Beschwörung als große Ereignisse gewidmet sind, … (wie Moore und Myerhoff sagen) eine ‚traditionalisierende Rolle’“22. Rituell-symbolischem Handeln haftet seit der Aufklärung ein irrational-vormoderner Zug an, eine Zuordnung, die im Zuge der Kritik an der vermeintlich rationalen Moderne immer stärker in Frage gestellt wird: Nach Barbara Stollberg-Rilinger hat „kein Geringerer als Max Weber … vor dem Mißverständnis gewarnt, das Handeln der einzelnen sei im Prozeß der Moderne immer rationaler geworden in dem Sinne, daß rituelles Handeln zunehmend durch Handeln aufgrund rationaler Einsicht ersetzt worden sei“23. Die Konstituierung des Parlamentes war als feierlicher Anlass stark ritualisiert, und zwar sowohl gemäß den einschlägigen Regularien als auch in der Praxis. Jeweils am 27. Juli im Jahr der Wahlen hatten sich die neu gewählten Abgeordneten laut Geschäftsordnung unter Vorsitz der Diputación permanente der vorherigen Legislatur in der Hauptstadt zu einer vorbereitenden Versammlung (Junta preparatoria) einzufinden. Nach der Überprüfung ihrer Wahlbescheinigungen durch eine von den neuen Abgeordneten gewählten und besetzten Kommission fand am 4. August auf der dritten und letzten Junta preparatoria-Sitzung die Konstituierung des neuen Kongresses statt: Jeder Abgeordnete musste vor dem Sekretär der Diputación permanente den in der Verfassung vorgegebenen (und oben zitierten) Schwur ablegen. „Sofort“ wählten sich die versammelten Deputierten daraufhin einen Präsidenten, einen Vizepräsidenten und zwei Sekretäre. Unmittelbar im Anschluss nahmen diese ihre Plätze ein und „der Präsident verkündet[e] mit lauter Stimme: ‚Der Congreso constitucional de Michoacán erklärt sich legitimerweise für konstituiert’“24. Danach zog sich die Diputación 19 20 21 22 23 24
Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 35. Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 504. Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 503. Tambiah: Theorie, S. 216. Vgl. Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Zitat S. 390. Reglamento (21.07.1825) / Art. 9, in: RdL, II, S. 5.
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permanente zurück. Mit der Konstituierung hatte sich der alte Kongress aufgelöst und dem neuen die Amtsgeschäfte übergeben.25 „Acto continuo“, also direkt anschließend, ernannte der Präsident eine dreiköpfige Kommission (darunter einen Sekretär), die dem Gouverneur die Konstituierung mitteilte. Die Kommission kam jeweils mit der Antwort des Gouverneurs zurück, dieser sei von dem „löblichen Ereignis“26 verständigt worden. „Und nachdem sie zurückkehrt [ist], wird sich die Kommission, ihrer Aufgabe entledigt, auflösen“27. Der Akt der Konstituierung war also minutiös vorgegeben und ritualisiert. Auch der Tag der Eröffnung des neuen Kongresses, der 6. August, galt als feierlicher Anlass, laut Reglamento interior als „día de etiqueta“28. Dies bedeutete für die Abgeordneten eine strenge Kleider- und Sitzordnung sowie eine rigide Regelung des Sitzungsablaufs bis hin zu vorgegebenen Sprachformeln – durchweg Facetten, durch die sich der „Tag der Etikette“ vom Verhandlungsalltag abhob. Da der Auftritt des Gouverneurs hier eine zentrale Rolle spielte, wird er im nächsten Abschnitt im weiteren Rahmen der Außenkontakte des Kongresses ausführlich behandelt. Hier folgt zunächst nur eine kurze Darstellung: Nach dem Empfang des Gouverneurs am Saaleingang und dem Geleit an seinen Platz, hielt er eine „den Umständen entsprechende Ansprache“29, worauf der Präsident des Kongresses in „allgemeinen Begriffen“ 30 zu antworten hatte. Nach dem Rückzug des Gouverneurs erklärte der Präsident wieder „mit lauter Stimme: ‚Der Congreso constitucional de Michoacán eröffnet heute, 6. August des soundsovielten Jahres, seine Sitzungen’“31. Die formale Rigidität der Kongresskonstituierungen und -eröffnungen manifestiert sich – zumindest im Schriftlichen – in der genauen Übereinstimmung von gesetzlicher Vorgabe und Protokoll. In diesem Sinne beschrieben die Protokolle die gouvernementale Ansprache jeweils lediglich als „entsprechend dem erhabenen Akt“32, also jeweils ohne Hinweis, was Inhalt der Rede war. Der Inhalt trat in der Bedeutung hinter 25 Zum Vergleich: Auch die Wahlperiode des deutschen Bundestags endet nach Artikel 39/1 Grundgesetz mit dem „Zusammentritt eines neuen Bundestages“. Früher endete sie hingegen mit der Wahl des neuen Bundestages. 26 Sitzung vom 04.08.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung vom 04.08.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung vom 04.08.1831 (c. 15, e. 2). 27 Reglamento (21.07.1825) / Art. 10, in: RdL, II, S. 5. 28 Reglamento (21.07.1825) / Art. 21, in: RdL, II, S. 7. Aus der Geschäftsordnung geht nicht hervor, ob auch der 4. August als „Tag der Etikette“ galt. 29 Verfassung von Michoacán, Art. 32. 30 Reglamento (21.07.1825) / Art. 179, in: RdL, II, S. 33. 31 Reglamento (21.07.1825) / Art. 11, in: RdL, II, S. 5. 32 So Sitzung vom 06.08.1825 (c. 2, e. 5); Sitzung Nr. 1 vom 06.08.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung Nr. 1 vom 06.08.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung Nr. 1 vom 06.08.1830 (c. 11, e. 3); Sitzung Nr. 1 vom 06.08.1831 (c. 15, e. 2); Sitzung Nr. 1 vom 22.02.1833 (c. 18 , e. 3).
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die Form zurück. Im Vordergrund stand der rituell-symbolische Charakter der Kongresseröffnung und der externen Anerkennung durch die Exekutive. Dies wird insbesondere bei den beiden nicht-regulären Kongresskonstituierungen 1830 und 1833 deutlich. Trotz veränderter Rahmenbedingungen sollte jeweils die formale Rigidität und somit die legitimierende Tradition gewahrt bleiben. So entsandte der Kongress auch 1830 und 1833 jeweils eine Kommission an den Gouverneur „für die Feierlichkeit des Aktes“33. Dies ist insofern auffällig, als dass in beiden Fällen bei der Konstituierung des Kongresses der Gouverneur selbst an Stelle der Junta preparatoria anwesend war, er also eigentlich bereits unmittelbar verständigt war. Trotzdem verließ der Gouverneur nach der Konstituierung den Kongresssaal, um kurz danach, wie vorgeschrieben, jeweils die Kommission zu empfangen, welche dem Gouverneur dann offiziell die Konstituierung mitteilte. Danach kehrte die Kommission in den Sitzungssaal zurück und überbrachte die Antwort des Gouverneurs, die auch in diesen beiden Fällen lautete, man habe von der Konstituierung „mit größtem Vergnügen“ beziehungsweise mit „Genugtuung“34 gehört. Betrachtet man die Symbolik der Kongresskonstituierung und -eröffnung, so fällt zum einen auf, dass mit der Vertretung der vorherigen Legislatur als zunächst ordnende Instanz und insbesondere als Eid-„verwahrer“ Kontinuität hergestellt wurde. Dieser Akt verkörpert damit gut die oben festgestellte Grundidee des Parlamentes als Volksvertretung: Das Volk als ständige, quasi natürliche Institution hat und braucht eine ständige Vertretung, damit es permanent handlungsfähig bleibt. Es heißt auch nicht „der soundsovielte Kongress erklärt sich für konstituiert“, sondern „der Kongress erklärt sich legitimerweise für konstituiert ...“. Die alte ‚Besatzung’ wird ohne zeitlichen Zwischenraum durch eine neue abgelöst, die alte tritt mit der Konstituierung der neuen ab. So ist mit der Kontinuität die Betonung der eigenständigen Legitimität der neuen Volksvertreter eng verbunden: Sie waren berechtigt, die Rechtmäßigkeit ihrer Wahl selbst festzustellen, sich selbst ein neues Präsidium zu wählen sowie sich dann – und das ist zentral – durch ihre eigene Ordnungsinstanz, den Präsidenten, selbst für legitimerweise konstituiert zu erklären. Das Neue ist durch seine Wahl – und nicht durch ein externes Institut – legitimiert, sich zu konstituieren. Die Legitimität gründet sich sowohl auf Kontinuität als auch mit der Neuwahl durch den Souverän auf Diskontinuität. Die nachfolgende Kommunikation mit der Exekutive ist dann ein symbolischer Akt, er soll die Konstituierung und Anerkennung des neuen Kongresses sichtbar machen. 33 Sitzung vom 04.08.1830 (c. 11, e. 3). 34 Sitzung vom 04.08.1830 (c. 11, e. 3) bzw. Sitzung vom 21.02.1833 (c. 18, e. 3). Der Abgeordnete Domingo Maciel begründete dieses Vorgehen 1830 mit einer analogen Praxis in den Cortes von Cádiz.
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Als zweites zentrales Element des Rituals zeigt sich seine spezifische Wirkmächtigkeit beziehungsweise sein performativer Charakter, der eine Zustandsveränderung bewirkte: Der „religiöse Akt“35 des Schwurs – als der er immer wieder bezeichnet wurde – war aufs Engste mit der Herstellung der Handlungsbeziehungsweise Sprachfähigkeit des Kongresses verbunden. „Sofort“ nach dem Eid wählten sich die Abgeordneten ein Präsidium. Der individuelle und transzendente Akt des Schwurs bereitete die Abgeordneten – denn als solche galten sie bereits durch ihre Wahl36 – auf den Eintritt in ein Gremium vor. Das Gremium erhielt dann erst durch die „laute“ Erklärung des Präsidenten nach außen hin Form. Erst diese Erklärung, oder um mit dem Sprachakttheoretiker John Austin zu sprechen, diese Performative utterance machte die Verwandlung der in der Junta preparatoria versammelten Abgeordneten in die neue Institution Congreso constitucional de Michoacán sichtbar und „bewirkte somit eine Veränderung innerhalb der Situation“ 37: Die Diputación permanente konnte sich jetzt zurückziehen, die Aufgaben ihrem Nachfolger überlassen und der Kongress konnte seine Installation nach außen melden. Resümierend lässt sich festhalten: Die Konstituierung des Kongresses und die Eröffnung der Sitzungen erhielten über ihre starke Ritualisierung einen außeralltäglich-feierlichen Charakter. Sie unterschieden sich von den gleich zu behandelnden alltäglichen Sitzungen deutlich durch ihre Formalität, Rigidität, Redundanz und Verdichtung, wodurch sie auf das „Eingreifen einer überempirischen, spirituellen Macht“ 38 , auf eine höhere Ordnung verwiesen. Das Festschreiben von Terminen unterstreicht die „Alltagsentrücktheit“ dieser Sitzungen. Die Konstituierung hatte nicht so und so viele Tage nach der Wahl stattzufinden, sondern immer am 4. und die Eröffnung immer am 6. August. Nach der stark ritualisierten, transzendent-religiös verankerten Konstituierung konnte der Kongress seine Arbeit aufnehmen. Als was aber agierten die Abgeordneten in der durch sie bestückten Institution abseits dieser alltagsentrückten Rahmung? War die Diskussionspraxis ähnlich ritualisiert? Blieben die Abgeordneten Michoacáns der vermeintlich traditionellvormodernen, der rituellen politischen Kultur verhaftet, wie es viele Zeitzeugen 35 Vgl. bspw. Außerordentliche Sitzung vom 17.10.1824, in: AyD, I, S. 339; Sitzung Nr. 83 vom 22.11.1828 (c. 9, e. 1); Sitzung vom 21.02.1833 (c. 18, e. 3). 36 Das wird darin besonders deutlich, dass sie schon vor der Vereidigung als „Diputados“ bezeichnet werden. 37 Iser: Modell, S. 131. Vgl. zu ähnlichen Sprachakten bei der Installation weiterer Kollegialorgane, bspw. der obersten Gerichte: Dekret Nr. 30 (03.04.1827) / Art. 7, in: RdL, II, S. 74 oder des Consejo: Dekret Nr. 3 (01.09.1825) / Art. 7, in: RdL, II, S. 43. 38 Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 503.
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und spätere Betrachter erwarten würden? 39 Für den Stadtrat von Puebla der späten Kolonialzeit leitete Reinhard Liehr aus dem Reglamento auch für den Verhandlungsalltag eine starke Ritualisierung ab: Die Ayuntamiento-Mitglieder hatten dort durchgängig eine festgelegte Kleiderordnung – differenziert nach Vorsitz, Milizoffizieren und weiteren Mitgliedern – einzuhalten. Nach einer „barocke[n] Begrüßungszeremonie zwischen dem Vorsitzenden und den eintretenden Ratsherren“ nahmen die Abgeordneten nach einer genauen Sitzordnung gemäß Rang und Dienstalter ihre Plätze ein. Auch die Reihenfolge der Diskussionsbeiträge war normiert. Private Vorberatungen waren laut Reglamento verboten. Eine ähnliche Geschäftsordnung dürfte auch im Rat von Valladolid gegolten haben, die aber leider nicht vorliegt: Obwohl die Ayuntamientos Geschäftsordnungsautonomie besaßen, orientierten sich die meisten nach Liehr an der Ordnung von Mexiko-Stadt.40 Im Folgenden wird Puebla als Vergleichsbeispiel der spätkolonialen Ordnung herangezogen. Ritualisierungen und starke Normierungen des parlamentarischen Alltags, wie eben für Puebla gesehen, lassen sich im atlantischen Raum auch noch in den 1820er und 30er Jahren finden.41 Nicht zuletzt Almond und Verba hatten in ihrer oben zitierten Studie zur politischen Kultur die mexikanische Gesellschaft als eine traditional-parochial verhaftete „‚non-atlantic community’“42 beschrieben. Damit hatten sie die seit der europäischen Aufklärung diskursiv fest verankerte Tradition fortgeführt und Ibero-Amerika wieder einmal als das nicht zu Modernität passende Paradebeispiel präsentiert. Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass die politische Kultur des Kongresses außerhalb der feierlichen Anlässe dieser Zuordnung nicht entsprach. Sowohl die Geschäftsordnung als auch die Diskussionsund Abstimmungspraxis weisen auf ein wenig ritualisiertes Handeln und Denken im parlamentarischen Alltag hin. Dies soll im Folgenden auf der Geschäftsordnungs- und auf der Praxisebene gezeigt werden. Das Reglamento legte abseits der Días de etiqueta – neben der Kongresseröffnung zählte hierzu lediglich die Schließung der Sitzungen und wahrscheinlich der Tag des Schwurs der obersten Gewalten – keinen ritualisierten Verhaltenscodex fest, sondern setzte im Sinne von Niklas Luhmann vielmehr eine Verfahrensnorm. Nach ihm unterscheidet sich das Verfahren vom Ritual dadurch, dass es „eine ‚offene’ Identität“ schafft, „die Variationsmöglichkeiten nicht ausschließt, aber sie einschränkt“ 43 . Das Verfahren zeichnet sich nicht durch formale Rigidität aus, sondern durch 39 40 41 42 43
Vgl. kritisch: Rodríguez O.: Introduction, S. 1. Vgl. Liehr: Stadtrat, S. 100-102 u. 104f., Zitat S. 101. Vgl. bspw. ausführlich zu Bayern: Götschmann: Parlamentarismus, S. 236-239. Almond / Verba: Culture, S. 40. Luhmann: Legitimation, S. 42.
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„selektive Entscheidungen der Beteiligten, die Alternativen eliminieren, Komplexität reduzieren, Ungewißheit absorbieren oder doch die unbestimmte Komplexität aller Möglichkeiten in eine bestimmbare, greifbare Problematik verwandeln“44. Das Reglamento war mehr Spielregel als starres Korsett. Das von den Verfassungsvätern Michoacáns 1825 erarbeitete Reglamento para el gobierno interior de las legislaturas del estado wies viele Anleihen aus den Geschäftsordnungen der Cortes von Cádiz (1813) 45 und des föderalen Kongresses (1823 beziehungsweise 1824) auf. Insbesondere die Ähnlichkeit zum Reglamento von 1823 ist insofern wenig verwunderlich, da der Diputado michoacano Juan José Pastor Morales als ihr Autor gilt.46 Im Vergleich mit der vorliegenden Geschäftsordnung von San Luis Potosí (1827) 47 werden einige Ähnlichkeiten deutlich, so dass sich vermuten lässt, dass im Mexiko der ersten föderalen Republik das Vorbild der gaditanischen Geschäftsordnung starkes Gewicht hatte. Auf Ähnlichkeiten mit der leider nicht vorliegenden Geschäftsordnung von Jalisco, die ja 1824 für die Konstituante von Michoacán für gültig erklärt worden war, lässt sich indirekt zurückschließen, da sich die Praktiken in der Konstituante kaum von den in den späteren Kongressen unterschieden. Daneben lässt sich der Einfluss des für die Entwicklung von parlamentarischen Geschäftsordnungen im atlantischen Raum zentralen Werkes „Essay on political tactics“ (Erstausgabe 1791) von Jeremy Bentham (17481832) nachweisen, und zwar sowohl auf Grund einer analogen Grundidee als auch wegen direkter Hinweise von Abgeordneten.48 Die französische Ausgabe war 1820/21 in Spanien „well known“, die erste spanische Übersetzung folgte 1823. 1824 ließ der erste Präsident der Vereinigten Provinzen von Río de la Plata (später Argentinien) Bernadino Rivadavia das Werk ein weiteres Mal übersetzen.49 In mindestens drei Fällen zitierten Abgeordnete Michoacáns die Überlegungen Benthams zu Geschäftsordnungsverfahren sogar namentlich. Lloreda sprach 1825 von der „Doktrin von Bentham in Bezug auf Abstimmungen … auf die goldene Stimme [voto de calidad]“50, José Salgado kurze Zeit später von der „Meinung Benthams“ über die Veröffentlichungspflicht von 44 Luhmann: Legitimation, S. 40. Vgl. zusammenfassend auch Hofmann / Riescher: Einführung, S. 114f. 45 Vgl. zu Cádiz: Marcuello Benedicto: Cortes, S. 74-82. 46 Vgl. Tavera Alfaro: Introducción, S. IX. 47 Vgl. Reglamento interior del H. Congreso del Estado libre de San Luis Potosí. 1827, Nachdruck o.O. 1877. 48 Marcuello Benedicto nennt Bentham allerdings bei seiner Auswertung der gaditanischen Geschäftsordnung nicht, obwohl auch hier sein Einfluss wahrscheinlich ist; vgl. Marcuello Benedicto: Cortes. 49 Vgl. James /Blamires / Pease-Watkin: Introduction, S. xxxvi-xxxvii. 50 Außerordentliche Sitzung vom 16.04.1825, in: AyD, II, S. 241.
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Gesetzesprojekten, „um die öffentliche Meinung zu befragen“51. Pablo Peguero hielt es 1828 unter Bezugnahme auf das „Prinzip von Bentham“ 52 für notwendig, dass jeder Gesetzesvorschlag mit je neun Pro- und Contra-Wortmeldungen abgewogen werden sollte. Aber auch in der Grundüberzeugung ähnelte die Debattenkultur dem Ansinnen Benthams. Dieses lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Die Qualität des Ergebnisses ist unmittelbar abhängig von der Qualität der Deliberation und diese wiederum von der Güte der Verfahrensregeln“53. Der deliberative Grundgedanke war auch im Denken der Diputados michoacanos fest verankert, wie folgende Beispiele unterstreichen: „Um die Wahrheit offen zu legen“, wäre nach Navarro sogar ein „espíritu de partido“ nützlich, wenn er sich nur auf unterschiedliche „Meinungen“ 54 beziehen würde. Peguero war der Ansicht, dass „die Erfahrung gezeigt habe, dass es notwendig ist, dass häufig das Wort genutzt wird, da jeder Abgeordneter eine Angelegenheit unter verschiedenen Aspekten betrachtet“ 55 . Ähnliche Äußerungen lassen sich häufig finden. Wichtiger ist jedoch, dass die Abgeordneten diese Grundidee nicht nur theoretisch formulierten, sondern, wie zu sehen sein wird, auch praktisch umsetzten. Gleichzeitig war man sich mit Bentham einig, dass Verfahrensvorschriften unabkömmlich seien, um „die parlamentarische Beratung so [zu] leiten, daß aus den Meinungen vieler ein politischer Gesamtwille der Versammlung entsteht“56. So hatte die Konstituante schon in der ersten Sitzung beschlossen, vorläufig die Geschäftsordnung von Jalisco zu übernehmen; vorher konnten die Verhandlungen nicht beginnen. Später galt das eigene Reglamento als „heiliges Gesetz mit konstitutionellem Charakter“57, war also ähnlich der Verfassung nicht zu hinterfragen. Zwar berichten die Protokolle hin und wieder von Verstößen gegen diese Ordnung, gleichzeitig aber auch von erfolgreichen Reklamationen, über die der Kongresspräsident zu entscheiden hatte.58 Im Gegensatz zu Bayern, wo das Parlament 1825 ein königliches Oktroi der Geschäftsordnung akzeptierte, galt das Reglamento in Michoacán nicht als „Mittel der Disziplinierung, Kontrolle und Lenkung des Parlamentes“59, sondern vielmehr als anerkanntes und effektives Mittel der Selbstdisziplinierung. Selbstverständlich stand in Michoacán die Geschäftsordnungsautonomie nicht zur Debatte. 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Sitzung vom 04.07.1825, in: AyD, II, S. 369. Sitzung Nr. 57 vom 22.03.1828 (c. 7, e. 2). Vgl. auch Hofmann / Riescher: Einführung, S. 102 u. 107-115, Zitat S. 108. Sitzung Nr. 40 vom 05.10.1832 (c. 17 , e. 1). Sitzung Nr. 47 vom 12.10.1831 (c. 15, e. 4). Hofmann / Riescher: Einführung, S. 108. Sitzung vom 20.02.1827 (c. 3, e. 6); vgl. ähnlich Sitzung vom 03.02.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 116 u. 119, in: RdL, II, S. 25. Götschmann: Parlamentarismus, S. 209.
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Die Geschäftsordnung sah auf einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis basierende Regelungen vor: Das Ideal war die kritisch-kollegiale Deliberation auf Grundlage der Geschäftsordnung. So hieß es, die Abgeordneten hätten gegenüber „dem Kongress und untereinander den größten Respekt“ 60 zu wahren. Sollte sich ein Abgeordneter „angegriffen fühlen“, sollte dies der Kongress „am selben Tag oder in der unmittelbar nächsten Sitzung verhandeln und das beschließen, was er für passend hält … für die Einheit, die unter seinen Mitgliedern herrschen soll“ 61 . Gleichzeitig sollten die Verhandlungen möglichst wenig ritualisiert sein und das Ziel einer möglichst umfassenden Deliberation verfolgen. Beides lässt sich gut an der Sitz-, Kleider- und Anredeordnung verdeutlichen. So durften die Abgeordneten anders als Auswärtige „das Wort an den Kongress richten ohne eine andere Anrede als die Unpersönliche“62, ihn also in der dritten Person ansprechen. Nur ihnen war es also erlaubt, den obligatorischen Titel Honorable congreso wegzulassen. Selbst der Parlamentssekretär, der ja auch ein Abgeordneter war, sollte auf Grund seiner externen Position – er durfte nicht im Plenum sitzen63 – den Kongress nur mit folgender Formel ansprechen: „Man fragt den Honorable congreso“64. Die Anrede unter den Abgeordneten als Señor beziehungsweise Ciudadano war auch über den Constituyente hinaus umstritten, wie sich unter anderem an der unterschiedlichen Nomenklatur erkennen lässt.65 Zuweilen, ohne eine erkennbare Regelmäßigkeit, taucht auch noch der traditionell dem Adel vorbehaltene Titel des Don auf, meist kombiniert als Señor Don (abgekürzt als „Sr. D.“66) oder als „Sr. Diputado D.“67. Eine persönlich-feierliche Begrüßungszeremonie wie zur Kolonialzeit beispielsweise im Rat Pueblas sah die Geschäftsordnung Michoacáns nicht vor. Bezüglich der Sitzordnung legte sie ebenfalls im Gegensatz zu Puebla fest, dass „die Abgeordneten untereinander gar keinen Vorzug bei den Sitzen haben“. „Die hierarchische Ordnung nach Rängen“, die „im Wertesystem der Vormoderne zweifellos ein zentraler Wert“ 68 war, wurde aufgelöst. Selbst der Präsident saß an allen Tagen, außer an denen der „Etikette“, auf gleicher Höhe 60 61 62 63 64 65
Reglamento (21.07.1825) / Art. 119, in: RdL, II, S. 25. Reglamento (21.07.1825) / Art. 119, in: RdL, II, S. 25. Reglamento (21.07.1825) / Art. 115, in: RdL, II, S. 25. Reglamento (21.07.1825) / Art. 42f., in: RdL, II, S. 12. Reglamento (21.07.1825) / Art. 43, in: RdL, II, S. 12. Vgl. hierzu auch die unten ausgeführte, schließlich von der Kongressmehrheit positiv beantwortete Frage, ob bei der Veröffentlichung der Protokolle den Abgeordneten das Tratamiento gegeben werden sollte. 66 Vgl. bspw. Geheimsitzung vom 30.10.1824, in: AyD, I, S. 369; Geheimsitzung vom 31.01.1828 (c. 12, e. 1); Sitzung Nr. 57 vom 28.05.1831 (c. 14, e. 2). 67 Vgl. bspw. Sitzung Nr. 23 vom 06.09.1827 (c. 5, e. 2). 68 Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 507.
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an einem Tisch. Damit hatten sich die Abgeordneten gegen einen ersten Vorschlag entschieden, der vorgesehen hatte, dass der Präsident ständig einen erhöhten Rang einnehmen sollte. Wie im Kapitel über die Architektur des Kongresses noch gezeigt wird, war die Anordnung der Sitze im Plenarsaal auf Funktionalität ausgelegt. „Wie die übrigen“69 blieb der Präsident – ebenso gegen einen anders lautenden Vorschlag 70 – bei Wortmeldungen sitzen und besaß ebenso nur eine einfache Stimme, die er bei namentlichen Abstimmungen als letzter abzugeben hatte. Auch existierte keine rigide Kleiderordnung: Außerhalb der zeremoniellen Tage sollten sich die Abgeordneten mit „dezentem und schicklichem Anzug“ 71 präsentieren. Machtinsignien wie Uniformen oder der „Amtsstab mit Quasten aus schwarzer Seide“72 waren ausdrücklich nur an den Tagen der Etikette erlaubt. Der Schwerpunkt lag also auch hier auf der Gewährung freier, zielorientierter Verhandlungen und nicht auf der Repräsentation von Rangunterschieden – wiederum im Kontrast zu Puebla, wo Milizoffiziere seit 1806 sogar ihren Befehlsstab und Degen tragen durften. 73 Das Präsidium wurde jeden Monat neu gewählt, eine Wiederwahl in der gleichen Sitzungsperiode in das gleiche Amt war nicht möglich, ausdrücklich, da „die Dauerhaftigkeit in den Ämtern der Regierungsform, die uns regiert, diametral entgegen steht“ 74 . So hatte Pastor Morales seinen schließlich stattgegebenen Widerspruch gegen die Regelung damit begründet, dass die beiden Sekretäre zur Gewährung einer besseren Ordnung dauerhaft ihre Ämter bekleiden sollten. Alle sollten gleichermaßen beteiligt, oligarchische Tendenzen ausgeschlossen werden.75 Sowohl die Ämter des Präsidiums als auch die der beiden Sekretäre waren als Posten konzipiert, die das Funktionieren der Sitzungen und des weiteren Ablaufs im Kongress zu organisieren beziehungsweise zu supervisieren hatten. Außer an den seltenen Días de etiqueta hatten sie keine hervorgehobene Stellung. 76 Zusammen mit dem Präsidenten bildeten die Sekretäre die so genannte Comisión de policía, die für die Ordnung innerhalb des Kongress69 70 71 72 73 74 75
Reglamento (21.07.1825) / Art. 35, in: RdL, II, S. 10. Vgl. Sitzung vom 07.07.1825, in: AyD, II, S. 384. Reglamento (21.07.1825) / Art. 53, in: RdL, II, S. 13. Reglamento (21.07.1825) / Art. 53, in: RdL, II, S. 13f. Vgl. hierzu weiter auch unten. Vgl. Liehr: Stadtrat, S. 101. Sitzung vom 07.07.1825, in: AyD, II, S. 382. Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 28-32, in: RdL, II, S. 8. In Bayern bspw. amtierte das Präsidium jeweils dauerhaft, die Abgeordneten durften nicht in dessen Befugnisse eingreifen; vgl. Götschmann: Parlamentarismus, S. 193f. u. 227. 76 Vgl. zum Präsidium und zu den Sekretären: Reglamento (21.07.1825) / Art. 33-45, in: RdL, II, S. 9-12 bzw. zur Sitzungsleitung: Reglamento (21.07.1825) / Art. 93-119, in: RdL, II, S. 22-25.
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gebäudes, für die Zeremonien und als Tesorería für die Organisation des kongressinternen Haushaltes verantwortlich war.77 Die jeweiligen Mitglieder dieser Kommission waren von der Arbeit in den ständigen, Gesetze vorbereitenden Kommissionen befreit. Der Präsident übernahm einerseits die Erstellung und Verkündung der Tagesordnung am Ende jeder Sitzung für die je nächste sowie andererseits die Leitung der Sitzungen mit der Möglichkeit zur Ermahnung bis hin zum Saalverweis und zur Suspension der Diskussion bei „Erhitzung“. Weiter oblag ihm die Organisation und Unterzeichnung der parlamentarischen Korrespondenz. Als Chef der „Guardia del congreso“ hatte er zudem für Ordnung im Kongressgebäude zu sorgen. In dieser Funktion war ihm und seiner Wache das Tragen von Waffen innerhalb des Kongressgebäudes vorbehalten. Die Wache bestand spätestens seit 1827 aus insgesamt 16 Soldaten – darunter auch zwei Trommelspieler –, die abwechselnd von der Miliz abgestellt wurden. An den Tagen der Eröffnung und Schließung des Kongresses sowie an Feiertagen sollte die Anzahl erhöht werden. Der zweite Kongress begründete die Größe mit der „Ehre“ der Institution und beschloss für die Dienst habenden Milizionäre ein zusätzliches Gehalt, begründet mit dem „Ansehen und der Würde der souveränen Versammlung und [mit] der Dringlichkeit, das Geheimnis seiner Sitzungen zu gewährleisten“ 78 . Der Vizepräsident fungierte in Abwesenheit des Präsidenten als dessen Stellvertreter. In den Aufgabenbereich der beiden Sekretäre fielen insbesondere die Erstellung der Protokolle und die Organisation weiterer Dokumente. Dazu standen ihnen laut Geschäftsordnung das Sekretariat mit insgesamt sieben Personen zur Verfügung: neben den zwei Sachbearbeitern (Oficiales) und den drei Schreibkräften der Pförtner sowie eine Reinigungskraft (Mozo de aseo). Der erste Sachbearbeiter verteilte – falls dies nicht die Sekretäre taten – die Aufgaben unter den Angestellten so, dass er seiner Verantwortung für deren „beste und schnellste Erledigung“79 gerecht werden konnte. Auch die Regularien für die Bearbeitung von Gesetzesprojekten weisen deutlich darauf hin, dass die umfassende Deliberation der Beratungsgegenstände gewährt werden sollte. So sollten zu Beginn jeder Legislaturperiode
77 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 82f., 201-205 u. 209-213, in: RdL, II, S. 20 u. 36-38. 78 Sitzung Nr. 12 vom 21.08.1827 (c. 5, e. 2); vgl. auch: Dekret s./Nr. (27.08.1827), in: RdL, III, S. 6. Zur generellen Einrichtung der „Guardia del congreso“ vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 36 u. 206-208, in: RdL, II, S. 10 u. 37f.; zu den damit verbundenen Problemen wegen mangelnder Ausstattung und finanzieller Engpässe vgl. Geheimsitzung vom 03.09.1825 (c. 2, e. 6); Sitzung Nr. 10 vom 18.08.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung Nr. 52 vom 10.10.1829 (c. 11, e. 1). 79 Reglamento (21.07.1825) / Art. 187, in: RdL, II, S. 34. Vgl. für Einzelheiten zur Erstellung der Protokolle und zum Sekretariat das Kapitel F III.
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Fachkommissionen „bestehend aus jeweils drei Mitgliedern“ 80 gebildet, für besondere Anlässe konnten temporäre Spezialkommissionen eingesetzt werden. „Alle Angelegenheiten, die sich der Deliberation des Kongresses präsentieren, werden an sie [die Kommission] geleitet“ 81 , Gesetzesvorschläge von Abgeordneten nach ihrer vorherigen Prüfung im Kongress und externe Vorschläge direkt. Es durfte kein Projekt beraten werden, „ohne dass es zuerst an die Kommission geleitet wurde“ 82 . Sie erarbeitete Abstimmungsvorlagen (Dictamenes), „die eine klare und einfache Darstellung dessen umfassen, was zur Erhellung der Materie Ziel führend ist“ 83 . Ein abweichendes Votum musste ebenso schriftlich begründet vorgelegt werden. Beide Voten waren dann zweimal mit zwei Tagen Pause im Kongress vorzutragen. Auch bei der Vorbereitung der Voten sollte den Abgeordneten freie Hand gegeben werden. Im Rahmen der Vorgabe, täglich zu tagen, blieb es den Kommissionen überlassen, ihren Zeitplan untereinander zu vereinbaren. Sie waren – im Gegensatz zur Ordnung von Puebla – nicht an einen bestimmten Ort gebunden, allerdings hatten sie ein eigenes Archiv zu verwalten. 84 Alle Abgeordneten hatten das Recht, allen anderen Kommissionen freilich ohne Stimmrecht beizuwohnen. Auch die eigentliche Diskussion zielte auf umfassende Beratung ab. 85 So durfte jeder Abgeordnete vorab die Dictamenes und die Verlängerung der Einarbeitungszeit erbitten. Dann sollten der Vorschlag und das zugehörige Dictamen nochmals verlesen und letzteres auf Nachfrage durch eines der Kommissionsmitglieder erläutert werden. Daraufhin erfolgte die Diskussion erst des gesamten Projektes und dann der einzelnen Artikel. Alle Abgeordneten durften sich „nach der Ordnung, in der sie das Wort erbeten haben“ 86 , maximal zweimal äußern. „Wenn keiner das Wort gegen ein Dictamen erbittet, führt ein Mitglied der Kommission die Schwierigkeiten aus, die diese bei ihren privaten Konferenzen hatten“ 87 . Wenn dann immer noch keiner gegen das Dictamen argumentierte, wurde gefragt, ob das Projekt als wichtig eingestuft wurde. Im Fall einer positiven Antwort, wurde die Angelegenheit in der nächsten Sitzung nochmals vorgelegt, wenn nicht, sofort abgestimmt. Als wichtig eingestufte Themen sollten unbedingt behandelt werden. In allen Fällen fragte der Präsident nach maximal sechs Wortmeldungen, ob der Kongress zur Abstim80 Vgl. zu den Kommissionen insg.: Reglamento (21.07.1825) / Art. 69-84, in: RdL, II, S. 17-20, Zitat Art. 69. 81 Reglamento (21.07.1825) / Art. 70, in: RdL, II, S. 18. 82 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 85-90, in: RdL, II, S. 20f., Zitat Art. 90. 83 Reglamento (21.07.1825) / Art. 76, in: RdL, II, S. 19. 84 Vgl. Liehr: Stadtrat, S. 100. 85 Vgl. zu den Vorschriften: Reglamento (21.07.1825) / Art. 93-119, in: RdL, II, S. 22-25. 86 Reglamento (21.07.1825) / Art. 99, in: RdL, II, S. 23. 87 Reglamento (21.07.1825) / Art. 102, in: RdL, II, S. 23.
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mung bereit sei. Bei einer negativen Antwort wurde weiter diskutiert, bis maximal 18 Wortmeldungen erreicht waren. Für eine größere „Klarheit“ sah eine Reform von 1827 des entsprechenden Artikels vor, dass sich Pro- und ContraBeiträge abwechseln sollten.88 Zusätze zu den Projekten waren möglich, mussten allerdings ebenfalls erst durch die zuständige Kommission beraten werden. Für die Abstimmungen sah die Geschäftsordnung drei unterschiedliche Modi vor. 89 Als „generelle Regel“ 90 galt die Abstimmung durch Aufstehen (Zustimmung) beziehungsweise Sitzenbleiben (Ablehnung). Namentliche Abstimmungen konnten von jedem Abgeordneten erbeten werden: Dann hatte sich jeder zu erheben und mit lauter Stimme sein Votum bekannt zu geben, welches dann in den Protokollen vermerkt wurde. Nur bei Wahlen und Abstimmungen über Personen fanden geheime Stimmabgaben statt: Entweder sollten die Abgeordneten dann per Stimmzettel wählen oder vor einem der Sekretäre und dem Präsidenten die Namen der Gewählten bekannt geben. „Unter keinem Vorwand“ konnte sich ein anwesender Abgeordneter der Stimme entziehen, auf der anderen Seite durfte „derjenige, der an der behandelten Angelegenheit ein persönliches Interesse hat, weder abstimmen noch anwesend sein“91. Bei einem Unentschieden gab es eine Wiederholung, dann eine Verschiebung. Jeder Abgeordnete durfte darum bitten, sein Abstimmungsverhalten im Protokoll festzuhalten. Die Idee der Geschäftsordnung eines kritisch-deliberativen, gesetzestreuen Kollegialorgans setzte sich in der Praxis durch, war ein zentrales Element der politischen Kultur. Im internen Diskussions- und Sprachgebrauch trifft man immer wieder auf die Vorstellung eines „Cuerpo colegiado“. Durch das Ritual des Schwurs verwandelten sich demnach die Gewählten in vertrauenswürdige Mitarbeiter (Kollegen) mit einem vor Gott und dem Volk beeideten, gemeinsamen Ziel, dem „Wohl und der Prosperität“ des Staates – wie es die Schwurformel ausdrückte. Dementsprechend wurden später dazukommende Abgeordnete an der Tür des Sitzungssaales empfangen und an den Tisch des Kongresspräsidenten geführt: Dort mussten sie den Eid ablegen und „sofort inkorporiert sich der Abgeordnete in den Kongress“92. Die Metapher des Körpers knüpfte in der diskursiven Praxis an weit verbreitete organische Vorstellungen des natürlich Gewachsenen an. In diesem 88 89 90 91 92
Sitzung Nr. 27 vom 12.09.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. zu den Abstimmungen: Reglamento (21.07.1825) / Art. 120-134, in: RdL, II, S. 26f. Reglamento (21.07.1825) / Art. 121, in: RdL, II, S. 26. Reglamento (21.07.1825) / Art. 132, in: RdL, II, S. 27. Reglamento (21.07.1825) / Art. 54, in: RdL, II, S. 14. Vor diesem Schwur wurden auch deren Bescheinigungen durch die Kommission überprüft, die das auch schon in der Junta preparatoria übernommen hatte; vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 4, in: RdL, II, S. 4.
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Sinne bestand generell die Gefahr des Verfalls, der Erkrankung. Dies kommt besonders aussagekräftig zum Ausdruck in dem, an die Lehre Machiavellis erinnernden Analogieschluss Pablo Pegueros zwischen kränkelnden politischen und physischen Körpern, denen man in gleicher Weise eine „Medizin“93 verabreichen müsse. Wie in Kapitel C II zu sehen, war diese Zuschreibung und die Fama des (leicht) Korrumpier- und Manipulierbaren insbesondere auf die Ayuntamientos gemünzt. Auch schien Vertrauen untereinander, gremienintern, kaum möglich, wie Bemerkungen über die Unmöglichkeit in einem Kollegialorgan, Geheimnisse zu wahren, vermuten lassen.94 Der Kongress galt in dieser Hinsicht als Ausnahme, als gesunder Körper, in dem Vertrauen untereinander möglich war. Dem Schwur der Abgeordneten kam bei der Herstellung von Vertrauen eine wichtige Rolle zu. Den anderen Abgeordneten konnte man auf Grund ihres Status als Abgeordneter vertrauen. Dies ist insbesondere an der schließlich erfolgreichen Forderung zu erkennen, dass Abgeordnete einen Schwur über ihre Geheimhaltungspflicht bei Beratungen in Geheimsitzungen ablegen mussten: So waren sie dann im juristischen Sinne persönlich-individuell verantwortlich für Verstöße.95 Ihrem durch Eid bezeugten Gesetzesgehorsam konnte vertraut werden. In diesem Sinne wurde 1832 in Frage gestellt, ob denn „ehrenhafte“96 Abgeordnete überhaupt einer Immunität bedürfen. Auch schien interne Kungelei wenig verbreitet, wie es Rivas 1831 auf den Punkt bringt: Es gibt „nicht den korporativen Geist [espirítu de corporación], den man vermutet, ... viel weniger noch in der gegenwärtigen Zeit, da jedes Individuum seine Meinung hat und immer will, dass man sich distinguiert, wie wir es im Kongress sehen“97. Sowohl bei den Debatten als auch bei den Abstimmungen ließen sich kaum F(r)aktionsbildungen erkennen.
93 Sitzung vom 21.12.1826 (c. 4, s./e.). Vgl. weitere ähnliche Andeutungen in: Sitzung vom 19.12.1825 (c. 2, e. 10); Sitzung Nr. 65 vom 10.04.1828 (c. 7, e. 2); Sitzung vom 22.02.1831 (c. 12, e. 2); Sitzung Nr. 75 vom 09.06.1831 (c. 14, e. 2). 94 Vgl. bspw. Geheimsitzung vom 08.01.1825, in: AyD, II, S. 23f.; Sitzung Nr. 88 vom 28.11.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. bezüglich den traditionellen Körpervorstellungen: Sitzung Nr. 36 vom 23.02.1828 (c. 7, e. 2); für Mexiko: Yujinowsky: Libertad; Lempérière: República; Guerra: Independencia, S. 23; allg. zur Geschichte der Körpermetaphorik: Stollberg-Rilinger: Staat, S. 36-61, zu Machiavelli: S. 43-48; Zippelius: Staatslehre, S. 28ff. 95 Vgl. Geheimsitzungen vom 08. u. 13.08.1825 (c. 2, e. 6); zur Umsetzung vgl. bspw.: Außerordentliche Geheimsitzung vom 30.11.1826 (c. 2, e. 6); Geheimsitzung vom 02.12.1826 (c. 2, e. 6); Sitzung vom 10.01.1830 (c. 11, e. 3). 96 Sitzung Nr. 9 vom 21.08.1832 (c. 17 , e. 1); vgl. weiter: Sitzung Nr. 10 vom 22.08.1832 (c. 17 , e. 1). 97 Sitzung Nr. 52 vom 18.10.1831 (c. 15, e. 4).
Interner Auftritt: Der Kongress als kritischer Cuerpo colegiado
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Diese Feststellung ließ sich anhand der Verhandlungspraxis des Kongresses durchaus nachvollziehen. Da hierfür die gesamte Studie immer wieder Beispiele liefert, sollen hier lediglich einige Facetten komprimiert wiedergegeben werden. Hinzufügen ist allerdings, dass sich die eingeschworenen Kollegen weitestgehend an das Verfahren der Geschäftsordnung hielten und insofern individuelles Auftreten möglich und für die Deliberation gar erwünscht war. So nutzten die Kommissionsmitglieder, wenn „es besser“ war, die Möglichkeit, „manchmal im Hause eines Mitglieds“ zu tagen, „wo man mit mehr Annehmlichkeit arbeiten und Autoren konsultieren kann, die nicht im Archiv des Kongresses existieren“ 98 . Deliberativ-konkurrierende Elemente finden sich nicht zuletzt bei den Abstimmungen und in den Diskussionen selbst. In diesem Sinne fielen kongressinterne Wahlen wie die für das monatlich neu zu bestimmende Präsidium, für die Mitglieder des Gran jurado oder der Diputación permanente in den seltensten Fällen einstimmig aus. Auch zweite Wahlgänge waren nicht selten. 99 Auch bei Abstimmungen in Sachfragen, obwohl ja nicht geheim, waren, wie gesehen, Gegenstimmen an der Tagesordnung. Bei abweichender Meinung forderten Abgeordnete häufig entweder komplett namentliche Abstimmungen oder zumindest den Vermerk ihres Namens im Protokoll. Die Nennung des Namens, die individuelle Distinktion, steigerte nach Meinung der Deputierten das Verantwortungsbewusstsein und drückte andererseits die Übernahme individueller Verantwortung aus. Namentlich vermerkt wurde am Ende jedes Protokolls auch das Fernbleiben von Sitzungen, für das man sich beim Präsidenten entschuldigen musste. Besonders rigide handhabte der vierte Kongress das durchgängige Fehlen von José María Izasaga und Manuel Leiba, deren Rücktrittsgesuche jeweils nicht anerkannt worden waren: Nach jedem Protokoll über fast die gesamte Legislaturperiode hinweg stehen ihre Namen als unentschuldigt fehlend.100 Der Normalfall war, dass Begründungen für Abwesenheit – häufig die eigene Gesundheit oder die eines Familienangehörigen – meist nicht angezweifelt, oft nicht einmal diskutiert wurden. 101 So äußerte Nicolás Menocal diesbezüglich gar, dass „der H.C. 98 Geheimsitzung vom 06.09.1830 (c. 12, e. 1); vgl. ähnlich: Außerordentliche Geheimsitzung vom 07.12.1825 (c. 2, e. 6); Sitzung Nr. 11 vom 20.08.1827 (c. 5, e. 2). 99 Vgl. zu den Wahlen für das Kongresspräsidium die Tabelle im Anhang IV. 100 Vgl. zur Nichtanerkennung ihrer Gesuche: Sitzung Nr. 25 vom 09.09.1831 (c. 15, e. 2). Gegen Leiba sprach, dass bekannt war, dass er trotz der vom Arzt attestierten Krankheit sein Amt als Geistlicher ausübte, gegen Izasaga, dass dessen „Dienste für das Vaterland schon kompensiert worden seien“ [Sitzung Nr. 25 vom 09.09.1831 (c. 15, e. 2)]. 101 Vgl. zur rechtlichen Regelung: Reglamento (21.07.1825) / Art. 46-52, in: RdL, II, S. 13. Als legitim anerkannt wurden nach Artikel 52 „die Notwendigkeit, das Klima wegen fehlender Gesundheit zu wechseln, die einer gewissen Assistenz für seine Interessen wegen eines schweren Schadens für diese und andere ähnliche Fälle“.
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[Honorable Congreso] sich daran gewöhnt hat, auf jene Formalität zu verzichten“ 102 , womit er auf die an sich geforderte schriftliche Vorlage der Abwesenheitsmeldung anspielte. Die Mehrheit gab ihm Recht. Namentliche Angaben wie man „oszilliere in seiner Meinung“ 103 , sei von „seiner Meinung abgewichen“104, „die Argumente des … haben überzeugt“105 oder man sei „diesen Punkt reflektierend“ von einer anderen Meinung „überzeugt worden“ 106 , lassen sich immer wieder finden. Die namentliche Kritik an der Meinung anderer, an der der Kommission oder der eines „Vorredners“ war gang und gebe. Ebenso verhält es sich mit Hinweisen auf „erhitzte Diskussionen“, die dann zum Teil durch den Präsidenten ausgesetzt werden mussten. „Lebhaftere Auseinandersetzungen“107 fanden also im Gegensatz beispielsweise zur bayerischen zweiten Kammer der gleichen Zeit durchaus statt. Besonders aufschlussreich ist folgende Episode aus dem ersten Kongress: Als der amtierende Präsident „in Gebrauch … des Reglamento interior die Diskussion suspendierte, da sie sich erhitzt hatte“, entgegneten ihm Peguero und José Joaquín Domínguez, dass er, als er Präsident war, den Kongress gefragt hatte, ob er „Schwierigkeiten“ für die Fortführung der Debatte sieht, die jetzige „Suspension mache V.E. [Eurer Exzellenz] keine Ehre“. Manuel González verteidigte den Präsidenten: „Es mache auch den Herren [Peguero und Domínguez] keine Ehre, dass sie das Verfahren bekämpfen, wenn man davon ausgeht, dass man die Wahrheit finden will“108. Der Präsident sollte mit Hilfe der Geschäftsordnung also eine kühl abwägende, rationale Debatte gewährleisten. In diese Richtung geht auch die wiederholte Enthaltung bei Abstimmungen wegen „persönlichen Interesses“, das vermeintlich eine objektive Abwägung ausschloss. Hier sei eine weitere Episode aus dem ersten Kongress zitiert: Nachdem eine Abstimmung unentschieden ausgegangen war, fragte Pablo Peguero, ob González als Autor des Antrags überhaupt mit stimmen dürfe. Dieser entgegnete, dass die Geschäftsordnung einen nur bei einem „interés personal“ ausschließe, in diesem Fall aber habe nicht „Manuel González als Einzelperson die Ausführung gemacht, sondern ein Abgeordneter, oder besser, der Staat selbst“ und als Abgeordneter sei er sogar verpflichtet, „seine politischen Gefühle“ einzubringen. Als Abgeordneter, als Inkarnation 102 103 104 105 106 107 108
Außerordentliche Geheimsitzung vom 19.09.1829 (c. 12, e. 1). Sitzung vom 27.03.1929 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 134 vom 31.10.1826 (c. 4, s./e.). Sitzung Nr. 44 vom 05.10.1827 (c. 5, e. 3). Sitzung Nr. 10 vom 22.08.1832 (c. 17 , e. 1). Götschmann: Parlamentarismus, S. 239. Sitzung vom 01.02.1827 (c. 3, e. 6). Die Sitzung endete schließlich nach langer Verfahrensdiskussion, da die Zeit laut Geschäftsordnung vorbei war.
Interner Auftritt: Der Kongress als kritischer Cuerpo colegiado
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des Staates, des „öffentlichen Interesses“109 vertrete er per se eine für das Gemeinwohl wichtige Meinung. Eine Anordnung und Praxis des Kongresses unterstreicht den kollegialen Charakter in besonderer Weise: Bei schwerer Erkrankung eines Abgeordneten sollte dieser durch zwei Kollegen „möglichst häufig“ besucht und, falls notwendig, mit Hilfsmitteln bis zur „heiligen Wegeszehrung“ und Bestattung ausgerüstet werden. In diesem Sinne zahlte der Constituyente 1824 die „Ausgaben der Sakramente, der Besuche von Medizinern und Botanikern“ 110 für den kranken Lejarza. Ein Antrag Rayóns nach dessen Tod, die Abgeordneten selbst mögen an den Testamentsvollstrecker insgesamt 500 Pesos übergeben, scheiterte trotz der Begründung, dies „sei ehrenvoll für den Kongress“111. Man wollte das nicht zur allgemeinen Praxis machen. Am 9. April 1825 – also auch noch bevor entsprechendes in die Geschäftsordnung aufgenommen worden war – erhielt der Ersatzmann Quevedo wegen schwerer Erkrankung als „Anzeichen der Brüderschaft“ gleichfalls einen „Assistenten“ 112 . Als Villaseñor im Juni 1832 schwer erkrankte, genehmigte der Kongress ebenso Beistand sowie 200 Pesos und, falls notwendig, die Kosten für die Beerdigung.113 Der Kongress lässt sich also abschließend als eine im wörtlichen Sinne eingeschworene, kritisch miteinander umgehende Gemeinschaft von Kollegen beschreiben. Unter den Abgeordneten war eine kritisch-kollegiale Deliberation möglich, da Vertrauen unter ihnen herrschte. Vertrauen generierte hier einerseits die allseits anerkannte Gesetzesherrschaft, hier in Form der „ley constitucional“ der Geschäftsordnung, sowie andererseits eine große Übereinstimmung im ehrenhaften Lebensstil und dem gemeinsamen Einsatz für das Bien común. Beides fehlte – zieht man die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Gesellschaftstypen zum Vergleich heran – offenbar in der Nación michoacana (noch): Sie war nach Ansicht der Abgeordneten erst auf dem Wege zum Gesellschaftsideal der (kollegialen) Gemeinschaft.
109 110 111 112 113
Sitzung vom 20.01.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung vom 02.09.1824, in: AyD, I, S. 255. Geheimsitzung vom 30.09.1824, in: AyD, I, S. 298. Sitzung vom 09.04.1825, in: AyD, I, S. 218. Vgl. Außerordentliche Geheimsitzung vom 22.06.1832 (c. 16, s./e. 2); für weitere derartige Fälle vgl. für Chávez: Sitzung Nr. 83 vom 22.11.1828 (c. 9, e. 1); für Ocampo: Sitzung Nr. 60 vom 16.11.1825 (c. 2, e. 9); für Zincunegui: Sitzung der Diputación permanente vom 01.08.1825 (c. 3, e. 2).
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II. Der persönliche Auftritt der Abgeordneten: Die zwei Körper des Kongresses Nachdem im letzten Abschnitt der interne Auftritt der Parlamentarier untersucht wurde, folgt hier nun die Kontrastierung mit dem Auftritt nach außen. Die Untersuchung lässt – freilich in übersetzter Form – das Denkschema von Ernst Kantorowicz’ über die zwei Körper des Königs als passend erscheinen: Nach außen sollte der Kongress nicht den unsteten „Body natural“ präsentieren, sondern den „Body politic“. 114 Die Abgeordneten gaben sich selbst – und wie in den folgenden Kapitel zu sehen sein wird auch dem Kongress im Gesamten – für den Auftritt nach außen einen zweiten Körper, einen steten, überpersönlichen, einen institutionellen Charakter: Der Kongress und die Abgeordneten sollten sich in eine Institution verwandeln und damit die „Behauptung von Dauer“ 115 und Ordnung (Rehberg) sicherstellen. Dieser Abschnitt ist zweigeteilt: Vor dem Auftritt des Kongresses nach außen (b) soll zunächst der Eintritt des Außen in den Kongress, also der Kontakt mit NichtParlamentariern innerhalb des Kongresses betrachtet werden (a). Hier spielt zunächst die Frage nach der Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen eine Rolle.
a.
Der Kontakt mit Nicht-Parlamentariern im Kongress
Die Verfassung verankerte, wie gesehen, die grundsätzliche Öffentlichkeit der Kongresssitzungen. Dies ist im betrachteten Zeitraum keinesfalls selbstverständlich. Im englischen Parlamentarismus mit seiner langen Tradition hatte sich die Forderung nach Öffentlichkeit erst mit den Reformen der 1830er Jahre durchgesetzt. „Bis dahin“ waren nicht nur die Sitzungen nicht öffentlich, sondern sogar „die Veröffentlichung der Debatten verboten, um den parlamentarischen Diskurs nicht in das Volk zu tragen und den Abgeordneten Schutz zu gewähren. Ihre Reden und Debattenbeiträge sollten unabhängig und nicht der Kritik des Volkes ausgesetzt sein“116. Zwar waren auch im Kongress Michoacáns diese Argumente präsent, insgesamt sahen sich die Abgeordneten jedoch eher der jüngeren französisch-hispanischen Tradition verpflichtet, wo die Verfassungen von 1791 und 1812 beziehungsweise für Mexiko das Reglamento von 1824 jeweils die grundsätzliche Öffentlichkeit der Sitzungen vorgeschrieben und damit die Anwesenheit von Publikum im Plenarsaal erlaubt 114 Vgl. Kantorowicz: King’s. 115 Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 10. 116 Vgl. Hofmann / Riescher: Einführung, S. 16f., Zitat S. 16.
Persönlicher Auftritt der Abgeordneten
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hatten.117 Allerdings sahen auch sie jeweils die Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit in Geheimsitzungen vor. Der folgende Abschnitt setzt sich zunächst mit dem Öffentlichkeitsverständnis bezüglich der Sitzungen auseinander, um danach auf den Kontakt mit Nicht-Parlamentariern im Plenarsaal zu sprechen zu kommen. In Michoacán folgten die Abgeordneten mit der Verankerung der grundsätzlichen Öffentlichkeit einerseits ideologischen Rücksichten – Salgado hatte, wie gesehen, das „Prinzip der Öffentlichkeit“118 von Bentham aufgegriffen –, und andererseits öffentlichen Forderungen: So machte Lloreda schon im Mai 1824 darauf aufmerksam, dass „es nicht so häufig Geheimsitzungen geben solle, da das Volk dies seltsam finden könnte, und außerdem seien sie dem republikanischen System nicht sehr entsprechend“ 119 . González, der wie Salgado und Lloreda häufig liberale Vorstellungen vertrat, setzte sich für das entsprechende konstitutionelle Gebot ein, da es einer „republikanischen Regierung angemessen sei, ... dem Publikum die Arbeiten und Verhandlungen des Kongresses zu präsentieren“120. In diesem Sinne galten geheime Sitzungen nur in Sonderfällen als zulässig. Nach Rayón aber „weiß das Publikum, dass es Angelegenheiten gibt, die im Geheimen behandelt werden müssen“121. Huarte forderte die Festlegung auf zwei Geheimsitzungen pro Woche, „damit keine öffentliche Aufmerksamkeit erregt werde“122. Juan José Pastor Morales plädierte hingegen für eine flexiblere Lösung: Geheimsitzungen solle es nur bei „sehr außerordentlichen Vorfällen“ 123 geben dürfen, die durch eine Zweidrittelmehrheit des Kongresses festgestellt werden müssten. Das Reglement sah dann einen Kompromiss vor: Ausnahmen von der Öffentlichkeit sollte es in den Fällen geben, „die nach der Geschäftsordnung im Geheimen abgehalten werden sollen“124. Die Geschäftsordnung legte zwei ordentliche Geheimsitzungen pro Woche à zwei Stunden fest, zusätzliche außerordentliche waren allerdings relativ leicht einzuberufen. 125 Der Kompromiss bestand darin, dass alle Geheim-
117 Vgl. Französische Verfassung von 1791, Kap. II, Sekt. II, Art. 1 bzw. Verfassung von Cádiz, Art. 126; Dekret Nr. 448 (Reglamento interior para el gobierno interior del congreso general, 23.12.1824) / Art. 33, in: LM. 118 Hofmann / Riescher: Einführung, S. 107. 119 Geheimsitzung vom 22.05.1824, in: AyD, I, S. 59. 120 Sitzung vom 03.03.1825, in: AyD, II, S. 155. 121 Sitzung vom 13.07.1824, in: AyD, I, S. 146. 122 Außerordentliche Geheimsitzung vom 19.06.1824, in: AyD, I, S. 99. 123 Sitzung vom 20.10.1824, in: AyD, I, S. 346. 124 Sitzung vom 03.03.1825, in: AyD, II, S. 155. 125 So heißt es in der Geschäftsordnung: „Es gebe eine außerordentliche Geheimsitzung, wenn außerhalb dieser Tage irgendeine reservierte Angelegenheit ansteht, die keinen
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sitzungen mit der Frage zu beginnen und zu schließen hatten, „ob die Angelegenheit für die geheime oder öffentliche Sitzung sei“126. Nur Anklagen gegen Abgeordnete waren grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verhandeln. Eine Reform des Reglamento von 1827 erweiterte diesen Kanon um Klagen gegen alle Mitglieder der obersten Gewalten, die Bearbeitung von Korrespondenz mit entsprechendem Vermerk („de reservado“) und Angelegenheiten, die der Präsident für diese Sitzungen reservierte, sowie, als weitere inhaltliche Feststellung, die Verhandlungen über kirchliche oder religiöse Angelegenheiten. 127 Sowohl personen- als auch interessanterweise kirchlichreligiöse Themen galten ähnlich wie in der Föderation als besonders sensibel.128 Zur Vervollständigung der zentralen Argumente für und wider die Publizität der Sitzungen sei die geheime Diskussion über einen Konflikt mit dem Cabildo eclesiástico angeführt – dieser hatte ein Gebäude, das der Kongress für sich beanspruchte, an den neuen Konvent der Santa Teresa übergeben. Der Geistliche Lloreda forderte zur „besseren Diskussion“ der Materie, dass „jeder Abgeordnete seine Meinung ... vor dem Pueblo äußere, das sie dann bewerten“ könne und damit das Volk wisse, „wie jeder einzelne denkt“. Außerdem könne so den „Feinden der Unabhängigkeit“ entgegengewirkt werden, die versuchten – darüber habe ihn ein ehemaliges Mitglied der föderalen Konstituante informiert – „Zusammenstöße zwischen den Autoritäten und dem Klerus zu betreiben“. Nach ihm sollten deswegen alle Verhandlungen mit „Verbindung zur kirchlichen Autorität immer öffentlich“ sein. Sowohl Pastor Morales als auch Isidro Huarte – wie gesehen Befürworter einer Reduktion von Geheimsitzungen – sprachen sich dagegen aus, da man im Geheimen mit einem „vertraulichen Ton“ zu einer „besseren Aufklärung“ kommen und zudem verhindern könne, „dem Pueblo oder den Zuschauern irgendeine Unordnung oder wenig würdige Worte“ zu präsentieren. González hingegen schloss sich zur Verhinderung von „düsteren Interpretationen“ Lloredas Forderung an. Diese entstünden zwangsweise, da die „Erfahrung gezeigt habe, dass, kaum nachdem eine geheime Sitzung beendet sei, man alles darin Behandelte in der Öffentlichkeit kennt“129. Für geheime Sitzungen, und damit für den Ausschluss der Öffentlichkeit, sprach also, dass man so die Präsentation von Unordnung und Konflikten
126 127
128 129
Aufschub zulässt, was entweder ein Mitglied des Kongresses oder der Staatssekretär im Namen der Regierung fordert“ [Reglamento (21.07.1825) / Art. 63, in: RdL, II, S. 15]. Reglamento (21.07.1825) / Art. 64, in: RdL, II, S. 15f. Sitzung Nr. 28 vom 13.09.1827 (c. 5, e. 2). Zwei Jahre zuvor war die Aufnahme kirchlicher Angelegenheiten in die Liste noch gescheitert; vgl. Sitzung vom 06.05.1825, in: AyD, II, S. 283. Vgl. Dekret Nr. 448 (Reglamento interior para el gobierno interior del congreso general, 23.12.1824) / Art. 36, in: LM. Geheimsitzung vom 08.01.1825, in: AyD, II, S. 23.
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verhindern und das Ansehen und damit die Würde des Kongresses bewahren könne. Aber auch die Gegner argumentierten mit dem Ansehen des Kongresses, es ginge darum, „düstere Interpretationen“ zu verhindern, mithin Kritik am Kongress. Geheimsitzungen fanden in der parlamentarischen Praxis der folgenden Jahre vor allem dann statt, wenn Persönliches der Abgeordneten verhandelt wurde, wie insbesondere Anträge auf zeitweilige Freistellung vom Amt (Licencias) oder Rücktrittsgesuche. Und andererseits verhandelten die Abgeordneten im Geheimen interne Konflikte sowie externe mit Kirche 130 , Regierung, Milizen oder mit der Föderation, wie folgende Beispiele demonstrieren sollen. So „wollte“ Domínguez „nicht, dass man weiß, dass die Licencia von Navarro geendet habe“, da „viele Ciudadanos das Verhalten des Kongresses peinlich genau beobachten“. Mariano Rivas beschwichtigte ihn damit, dass solche Angelegenheiten immer in Geheimsitzungen behandelt werden, dass in den „öffentlichen Protokollen nicht mehr als die Bemerkung erscheint, dass sie [die entsprechenden Abgeordneten] mit Licencia fehlen“131. Als Ende 1825 eine Zehn-Tage-Lizenz abgelaufen war, hieß es im Protokoll der eigens einberufenen Geheimsitzung, dass der entsprechende Abgeordnete eventuell das „Vertrauen verlieren“ 132 würde. Kurz vorher hatte der Kongress in einer Geheimsitzung „vereinbart, dass sich die Herren Abgeordneten wegen ihrer eigenen Ehre und wegen des Ansehens der Versammlung zurückhalten, so häufig wie bis jetzt [aus dem Sitzungssaal] hinauszugehen“133. Aber auch Konflikte mit Nichtparlamentariern verdienten Geheimhaltung, wie beispielsweise mit Abarca, der mehr Geld für die Erstellung der Kopie der Historia de Michoacán verlangte, oder mit dem ehemaligen Besitzer der freigelassenen, oben erwähnten Sklavin, dessen Verhalten „so viel Skandal … und Verlust des Ansehens und des guten Namens dieser Legislatur“ verursachte.134 Oder auch die Feststellung, dass Geld in der Staatskasse fehlte, was „eine ziemlich erhitzte Diskussion hervorrief“, führte dazu, dass der Präsident die öffentliche Sitzung in eine geheime umwandelte, „da die Regierung angegriffen werden“ 135 könnte. In einer außerordentlichen Geheimsitzung beauftragte der Kongress 1827 seinen Präsidenten mit der
130 Vgl. neben den eben schon angeführten Beispielen insbesondere die schon erwähnte und weiter unten ausführlich behandelte, sich über Jahre hinziehende Diskussion über kirchliche Ehrerweisungen gegenüber staatlichen Autoritäten oder die Auseinandersetzungen über den Kirchenzehnt ab 1827; vgl. den Auftakt hierzu: Außerordentliche Geheimsitzung vom 25.01.1827 (c. 2, e. 6). 131 Außerordentliche Geheimsitzung vom 10.07.1832 (c. 16, s./e. 2). 132 Außerordentliche Geheimsitzung vom 29.12.1825 (c. 2, e. 6). 133 Geheimsitzung vom 10.10.1825 (c. 2, e. 6). 134 Vgl. Sitzungen Nr. 134 u. 141 vom 31.10. u. 18.11.1826 (c. 4, s./e.). 135 Sitzung Nr. 13 vom 22.08.1829 (c. 10, e. 2).
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„Vermittlung zwischen der zivilen und militärischen Autorität“ 136 . 1829 beschloss er, „sich mit den obersten Autoritäten von Jalisco und Guanajuato“ in Verbindung zu setzen, um mit ihnen mögliche Maßnahmen zu vereinbaren, die verhindern sollten, dass die Zentralregierung die direkten Steuern einzieht, womit zu erwarten wäre, dass sie die „Souveränität der Staaten unterdrückt“137. Insbesondere ab Ende der 1820er Jahre traten vermehrt die Debatten über außergewöhnliche Umstände hinzu, die die „öffentliche Ruhe“ 138 stören könnten, wie die Spaniervertreibung oder militärische Auseinandersetzungen. Die Norm blieben hingegen die dem „republikanischen System“ entsprechenden öffentlichen Sitzungen. Das von den Abgeordneten Behandelte sollte der Öffentlichkeit zugänglich sein. In diesem Sinne durfte laut Verfassung auch in außerordentlichen öffentlichen Sitzungen nur das debattiert werden, was angekündigt worden war, denn „ihre Mitstreiter sollen wissen, für was sie außerhalb der Ordnung zusammenkommen, da sie sonst für eine Freimaurerloge gehalten werden“. Im hier angesprochenen Fall löste sich die wie festgestellt „nicht legale“ Sitzung auf und – dies ist freilich ein formalistischer Extremfall – trat nach einer halben Stunde wieder zusammen, nachdem der „Hinweis eingetroffen war, dass das Einberufungsdekret handschriftlich publiziert“139 worden war. Den Besuch der Parlamentsdebatten ermöglichen sollte laut Reglamento architektonisch das Aufstellen von „ausreichend vielen Bänken oder Sitzen für die Zuschauer“ im Sitzungssaal. 140 Allerdings weist in den vorliegenden Protokollen nichts darauf hin, dass inoffizielles konkretes Publikum je zugegen war, dass also die für dieses Publikum vorgesehenen Bänke tatsächlich genutzt wurden. So fanden in keinem der Protokolle Personen außerhalb der unten zu behandelnden offiziellen Besucher Erwähnung, etwa in Form von Zwischenrufen, von Maßregelungen auffälligen Verhaltens oder von Kommunikationsakten sonstiger Art zwischen Parlamentariern und Externen. Dies muss zwar zunächst nicht heißen, dass es dieses Publikum nicht gab. Aber die Tatsache, dass die Protokolle dem inoffiziellen Publikum keinerlei Bedeutung zumaßen, spricht dafür, dass keines zugegen war; insbesondere vor dem Hintergrund, dass den anderen Außenkontakten – wie in den folgenden Kapiteln zu sehen – enorme Bedeutung beigemessen wurde: Als die Parlamentarier beispielsweise einmal einen Gesandten aus Jalisco, also einen Fremden, im Kongress 136 137 138 139 140
Außerordentliche Geheimsitzung vom 08.09.1827 (c. 12, e. 1). Geheimsitzung vom 16.06.1829 (c. 12, e. 1). Außerordentliche Geheimsitzung vom 03.10.1827 (c. 12, e. 1). Sitzung vom 15.03.1831 (c. 12, e. 2). Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 34. Reglamento (21.07.1825) / Art. 25, in: RdL, II, S. 8. Auf die Architektur wird weiter unten eingegangen.
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erwarteten, wurde um dessen Empfang großes Aufheben gemacht – und zwar offensichtlich unabhängig davon, ob dieser ein Regierungsvertreter war oder nicht.141 So wäre es meines Erachtens verwunderlich, wenn andere Gäste nicht zumindest erwähnt worden wären. Weiterhin – als weiteres Indiz – wurde innerhalb einer Sitzung immer wieder sehr schnell zwischen ihrem öffentlichen und geheimen Charakter gewechselt, ohne dass Publikum hätte heraus gebeten werden müssen. Potentiell sollte ein Publikum allerdings zugegen sein können, wie die undiskutierte Ablehnung eines Antrages vom Oktober 1827 unterstreicht: Es war vorgeschlagen, aber zugleich mehrheitlich abgelehnt worden, dass außer den Abgeordneten und den Mitgliedern der Regierung „kein anderer einen Sitz im Saal“142 haben soll. Vermutlich beschränkte sich jedoch auch das weitgehend auf offizielle Amtsträger, so beschloss die Constituyente, dass die Bänke für das Ayuntamiento „mit Vorhängen geschmückt“143 werden. Die Abwesenheit von inoffiziellem Publikum war für den beginnenden Parlamentarismus auch außerhalb Michoacáns durchaus nicht unüblich. 144 Die Abgeordneten – wie auch eingangs González – scheinen bei den oben angeführten Diskussionen vielmehr auf den unterschiedlichen Umgang mit den anzufertigenden Protokollen abzustellen. So waren die Protokolle der Geheimsitzungen nicht zu publizieren. Das Nicht-Publizieren der Protokolle war, wie das obige Zitat verdeutlichte, auch in England / Großbritannien Ursache für die grundsätzliche Geheimhaltung der Parlamentssitzungen bis in die 1830er Jahre, es galt dort damit „den Abgeordneten Schutz zu gewähren“. Für Michoacán zeigt sich dies auch an der Auflage, dass erst unmittelbar in der Stunde gefragt wurde, ob das zu behandelnde Thema der Geheimhaltung unterlag. Die Aufmerksamkeit galt hier also nicht dem potentiell unmittelbar anwesenden Zuhörern, sondern den potentiellen Lesern der Protokolle. So sollten nach der Geschäftsordnung die Protokolle der Geheimsitzungen in einem „Geheimarchiv ... mit zwei unterschiedlichen Schlüsseln“145 aufbewahrt werden, während die anderen zu publizieren waren, worauf in Kapitel F IV ausführlich einzugehen sein wird.146 So beschränkte sich der persönlich-unmittelbare Kontakt im Kongress gemäß den Protokollen auf die offiziellen Besuche, insbesondere durch Mitglieder der Exekutive, und wesentlich seltener auch der Judikative. Neben den 141 142 143 144
Vgl. Geheimsitzungen vom 24.09. u. 01.10.1829 (c. 12, e. 1). Geheimsitzung vom 29.10.1827 (c. 12, e. 1). Dekret Nr. 18 (21.08.1824), in: RdL, I, S. 31. Vgl. Patzelt: Symbolizität, S. 624; vgl. aber leicht anders: Götschmann: Parlamentarismus, S. 161-163. 145 Reglamento (21.07.1825) / Art. 200, in: RdL, II, S. 36. 146 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 67, in: RdL, II, S. 16.
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wiederholten Arbeitsvisiten der Regierungsredner, auf die noch einzugehen sein wird, waren das: der Besuch des Gouverneurs bei der Eröffnung beziehungsweise bei der Schließung der ordentlichen Sitzungen des Kongresses sowie die Tage, an denen die obersten Gewalten ihren Schwur vor dem Kongress abzulegen hatten. Die Geschäftsordnung des Kongresses deklarierte diese Tage zu „días de etiqueta“ beziehungsweise zu „días de ceremonia“147. Hinzu kamen außer der Reihe 1826 die zwei oben dargestellten Auftritte zu den Festtagen des 16. September beziehungsweise des 4. Oktober. Die folgenden Abschnitte zeichnen exemplarisch anhand der rechtlichen Vorgaben den Auftritt der Exekutive im Kongress nach. Die Beschreibung der Praxis stimmte stark mit den rechtlichen Vorgaben überein. Damit soll gezeigt werden, dass sich diese Fremdkontakte des Kongresses durch eine starke Ritualisierung deutlich vom oben skizzierten Verhandlungsalltag abhoben. Da viele Aspekte beim Auftritt des Kongresses nach außen erneut auftauchen, wird hier zunächst auf eine ausführliche Analyse und Interpretation verzichtet, aufgegriffen werden lediglich einige spezifische Merkmale. Insbesondere bei der Regelung dieser Fremdkontakte fallen Ähnlichkeiten mit der föderalen Geschäftsordnung auf. Inwiefern sich Einflüsse aus der Kolonialzeit niederschlugen, ließ sich auf Grund fehlender einschlägiger Studien nicht eruieren.148 Allerdings waren die Regularien des Antiguo régimen, beispielsweise zum Auftritt des Vizekönigs, durchaus als Vorlage präsent, wie Hinweise in den Protokollen zeigen. Dass sich die „Tage der Etikette“ deutlich vom Verhandlungsalltag abhoben, wurde oben schon angedeutet und soll nun hier, zunächst an der Einführung einer Kleiderordnung, expliziert werden: An diesen Tagen hatten die Abgeordneten nach der Geschäftsordnung „schwarze Kleidung oder eine Uniform ihrer Klasse“ zu tragen und es war ihnen ausnahmsweise gestattet, einen „Amtstab mit Quasten aus schwarzer Seide“149 mit sich zu führen. Nur dann, also vor den offiziellen Gästen, durften sie diese Distinktionsmerkmale präsentieren. Der Auftritt des Gouverneurs im Kongress war minutiös geregelt, sollte somit einen stark rituell-symbolischen Charakter annehmen. 150 Eine Kommission aus vier Abgeordneten, darunter ein Sekretär, empfing ihn an der äußeren Tür des Sitzungssaales und geleitete ihn zu dem Tisch, an dem der Präsident im Kongressalltag saß. Beim Eintritt des Gouverneurs hatten sich alle 147 Reglamento (21.07.1825) / Art. 21 bzw. 53, in: RdL, II, S. 7 bzw. 13. 148 So äußert sich bspw. Reinhard Liehr nur zu den Regularien für den „Alltag“ des Ayuntamiento von Puebla. 149 Reglamento (21.07.1825) / Art. 53, in: RdL, II, S. 13f. 150 Vgl. im Überblick das entsprechende Kapitel: Reglamento (21.07.1825) / Art. 174-179, in: RdL, II, S. 33.
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Abgeordneten zu erheben, bis auf den Präsidenten, der erst aufstehen sollte, wenn jener seinen Tisch erreichte. Danach nahmen der Präsident und der Gouverneur gemeinsam ihre Sitze auf einem Podest unter einem Baldachin ein, die „nur an den Tagen der Etikette“151 genutzt werden durften. Nur an diesen Tagen nahm der Kongresspräsident damit eine erhabene, über Ordnungsfunktionen hinausreichende, Position ein. Der Gouverneur hatte sich links neben den Präsidenten zu setzen. Wenn der Vizegouverneur den Gouverneur begleitete, hatte dieser sich auf die andere Seite zu setzen, „auf gleicher Ebene, aber außerhalb des Baldachins“152. Auch beim Hinausgehen des Gouverneurs hatten alle Abgeordneten aufzustehen und die Kommission ihn zum Ausgang zu begleiten. Der Vizegouverneur hatte sich – um rituell den Rangunterschied deutlich zu machen – auch dann außerhalb des Baldachins zu setzen, wenn er alleine kam. In diesem Fall kam ihm bei seinem Eintritt keine vier-, sondern nur eine zweiköpfige Kommission entgegen und die Abgeordneten blieben sitzen. Der Baldachin blieb den beiden obersten Würdenträgern vorbehalten. Die Bedeutungsverschiebung macht der Vergleich mit der Geschäftsordnung von Cádiz besonders anschaulich: Bei analogen Anlässen, also bei Zusammentreffen von Legislative und Exekutive, saß dort der König auf seinem Thron und der Präsident der Cortes hatte seinen Platz auf einem „Stuhl [silla]“ einzunehmen, der „auf der rechten Seite des Thrones, und unmittelbar neben ihm, aber außerhalb seiner Tribüne“ stand, allerdings setzte er sich erst, nachdem der Monarch Platz genommen hatte.153 Sowohl mit der Platzierung außerhalb des Baldachins und der Tribüne als auch mit der auf einem Stuhl gegenüber dem Thron, sollte die Nachordnung des Cortes-Präsidenten verdeutlicht werden.154 In Michoacán saßen sowohl der Gouverneur als auch der Kongresspräsident jeweils auf „Sitzen [asientos]“, und zwar auf einer Höhe unter dem gleichen Baldachin. Ob es eine Bedeutung hatte, dass der Gouverneur wie der König und wie der Präsident im föderalen Kongress den Platz auf der linken Seite erhalten hatte, wäre noch genauer zu untersuchen.155 Dass dies ein Hinweis auf eine Vorrangstellung des Gouverneurs ist, scheint angesichts der in Teil C aufgestellten These vom Kongress als Ersatzmonarch und der weiter unten zu 151 Reglamento (21.07.1825) / Art. 21, in: RdL, II, S. 7. 152 Reglamento (21.07.1825) / Art. 177, in: RdL, II, S. 33. 153 Vgl. Dekret Nr. 293 (Reglamento para el gobierno interior de las Cortes, 04.09.1813) / Art. 146-148, Zitat Art. 148, in: CdDO, IV. Im Folgenden abgekürzt als „Reglamento von Cádiz“. 154 Vgl. zu den Sitzungsmöglichkeiten im spanischen Hofzeremoniell der frühen Neuzeit: Jorzick: Herrschaftssymbolik, S. 44-46. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Büschges. 155 Vgl. auch Dekret Nr. 448 (Reglamento interior para el gobierno interior del congreso general, 23.12.1824) / Art. 171, in: LM. Eine analoge Regelung traf San Luis Potosí; vgl. Reglamento … San Luis Potosí, Art. 134.
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sehenden, rituellen Nachordnungen der Exekutive jedoch eher fraglich.156 Dem Gouverneur war anders als dem König mit seinem Thron die Präsentation eigener Machtinsignien im Kongress – wie Waffen, Amtstab oder eine militärische Begleitung – verboten.157 Das Zeremoniell ähnelte in vielen Details dem des spanischen Königshauses, welches wiederum häufig auf antike Vorbilder zurückgriff. Die Anleihen mögen aus pragmatischen Gründen gewählt sein, daneben spielte aber auch, wie noch zu sehen sein wird, der Verweis auf die legitimierende Tradition eine Rolle. Ihren konstitutionell zum Amtsantritt geforderten Schwur am 6. Oktober hatten der Gouverneur und sein Stellvertreter „aufgerichtet [puestos a pie] in die Hände des Präsidenten“ 158 abzulegen. Die Rangverschiebung zur gaditanischen Ordnung wird auch hier deutlich: Dort hatte der Kongresspräsident zum Thron aufzusteigen und der König sich dann zum Schwur zu erheben. 159 Aufschlussreich sind die für 1825 verfügten, andersartigen Auflagen für den Schwur der Consejeros: „Der [amts-]jüngere Sekretär [des Kongresses] nehme den Eid von jedem der Consejeros ab, welche sich an den Tisch annähernd diesen auf Knien [Hervorhebung S.D.] ablegen“160. Während der (Vize-)Gouverneur also auf gleicher Augenhöhe blieb, hatten sich die Consejeros symbolisch unterzuordnen. Nach dem Schwur nahmen der Gouverneur und sein Vertreter ihre Sitze unter beziehungsweise neben dem Baldachin ein. Die Consejeros hingegen hatten ihre Sitze „vermischt unter den Abgeordneten“ 161 einzunehmen. Seinen Eid abschließend „richtet[e] der Gouverneur das Wort an den Kongress“162. Diesem Zeremoniell sollten „alle Autoritäten, Korporationen und Angestellte der Hauptstadt“ beiwohnen, laut Geschäftsordnung „mit dem Ziel“, den Gouverneur und den Vizegouverneur 156 Vgl. zur „Seitesymbolik“ am spanischen Hof, wonach „der Platz zur Rechten des Königs … demjenigen vorbehalten [war], dem im jeweiligen Rahmen die größte Würde zukam“: Jorzick: Herrschaftssymbolik, S. 48-50, Zitat S. 49. 157 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 33/3 bzw. 174, in: RdL, II, S. 10 bzw. 33. 158 Reglamento (21.07.1825) / Art. 177, in: RdL, II, S. 33. Im Dekret zum Schwur von 1825 ist zwar nicht von der Klausel „in die Hände des Präsidenten“ die Rede. Da aber sowohl das föderale Reglamento von 1824 (Art. 170) als auch das aus San Luis Potosí (Art. 133) dies vorsahen, kann davon ausgegangen werden, dass die Regelung der Geschäftsordnung galt und es sich im Dekret um einen (Schreib-)Fehler handelte; vgl. Dekret Nr. 2 (19.08.1825) / Art. 4, in: RdL, II, S. 41f. 159 Vgl. Reglamento von Cádiz, Art. 149. 160 Dekret Nr. 2 (19.08.1825) / Art. 5, in: RdL, II, S. 42. 161 Reglamento (21.07.1825) / Art. 177, in: RdL, II, S. 33. Vgl. zum Schwur der Consejeros, der zusammen mit dem des Gouverneurs stattfinden sollte: Dekret Nr. 2 (19.08.1825), in: RdL, II, S. 41f.; und die dauerhafte Regelung: Dekret s./Nr. (13.10.1827), in: RdL, III, S. 11f. 162 Dekret Nr. 2 (19.08.1825) / Art. 7, in: RdL, II, S. 42.
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„zusammen mit den Consejeros in die Kathedrale zu geleiten“. Dort sollte mit den „religiösen Gemeinden“ 163 ein feierliches Te Deum gesungen werden, danach hatte die genannte Entourage – nicht die Kongressmitglieder – den (Vize-) Gouverneur und die Consejeros an ihre jeweiligen Amtssitze zurückzuführen. Bemerkenswert ist, dass beim Schwur – auch bei dem der Parlamentarier – eine religiöse Rahmung nicht vorgeschrieben war: Es hieß wie in Mexiko-Stadt oder San Luis Potosí im Gegensatz zu Cádiz nicht,164 dass man auf die Bibel schwören müsse – ein weiteres Indiz für Säkularisierungstendenzen. Dies interpretierten allerdings in der Praxis gegen Ende des Untersuchungszeitraumes einige – nicht alle – Amtsträger neu: Sie legten ihren Schwur dann auf das „Buch der heiligen Evangelien“ 165 ab. Bezeichnenderweise kniete sich in diesen Fällen auch der gewählte Gouverneur nieder vor der Bibel nieder. Die symbolische Legitimation schob sich somit weiter in einen transzendenten Bereich vor. Die Bibel gewann gegenüber dem weltlichen Souverän an Bedeutung. Eine Tendenz, die gut in das Bild einer zunehmenden Betonung von alten Werten am Ende der ersten föderalen Republik passt. Gemäß den Gesetzen präsentierte sich somit dieser erste Kontakt mit dem „Außen“ als stark stilisiert und ritualisiert. Soweit in den Protokollen überliefert, folgte die Praxis diesen Auflagen. Häufig heißt es in den Protokollen: Die Zeremonie, der Schwur verlief „wie im Reglamento, Art. XY“ vorgesehen. Hier sei exemplarisch der Eid des Gouverneurs Diego Moreno und des Vizegouverneurs José Manuel Chávez vom 23. August 1830 dargestellt, der relativ ausführlich beschrieben wurde. Die beiden „präsentierten sich …, um die konstitutionelle Amtszeit abzuschließen“. Ihre Vorgänger waren, wie im obigen Kapitel zur Prosopographie gesehen, mit der Auflösung des Kongresses abgesetzt worden. „Eine Kommission, zusammengesetzt aus den Señores diputados Gómez Puente (D. Rafael) und Domínguez, ging, um sie an der äußeren Türe zu empfangen. Und nachdem sie sie vor den Tisch hinaus geleitet haben, legten sie stehend jeweils ihren Schwur gemäß dem Wortlaut, den der Artikel 67 der Verfassung vorschreibt, ab, begleitet von den Tribunales supremo y superior de justicia, dem Ilustre ayuntamiento und dem Präfekt dieses Departements. Diesen Akt beendet, nahmen sie ihre jeweiligen Sitze gemäß Reglamento ein und der erste hielt eine Rede den gegenwärtigen Umständen entsprechend. Und ihm wurde durch den E. S. [Excelente señor,
163 Dekret Nr. 2 (19.08.1825) / Art. 9, in: RdL, II, S. 42. 164 Vgl. Reglamento von Cádiz, Art. 149; vgl. zur Praxis auch: Annino: Ballot, S. 76. 165 Vgl. Sitzungen vom 04.08. u. 06.09.1830 (c. 11, e. 3); Sitzung Nr. 81 vom 16.06.1831 (c. 14, e. 2); Sitzung vom 22.08.1831 (c. 15; e. 2); Sitzung vom 21.02.1833 (c. 18, e. 3).
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gemeint ist der Kongresspräsident] in allgemeinen Worten geantwortet. Im Anschluss zog er sich, begleitet von der Kommission, gemäß Reglamento zurück“166.
Durch ihre Definition als Tage der Etikette gewannen die offiziellen Auftritte ähnlich wie die oben beschriebenen konstituierenden Sitzungen einen außeralltäglichen Charakter, was sich nicht zuletzt an der veränderten Kleiderordnung167 und der betonten Höflichkeit (Aufstehen und Geleit) erkennen lässt, noch deutlicher aber an der genauen und ausgefeilten Choreographie bezüglich der Sitzordnung nach Rängen: Bezeichnend ist hier die ausführliche Diskussion um die Frage, ob sich der Staatssekretär zwischen die Consejeros, vor oder hinter sie zu setzen habe, wenn er den Gouverneur in den Kongress begleitete. Die Mehrheit entschied sich für die erste Variante, unter anderem mit der bezeichnenden Begründung, wenn „man ihn isoliert hinter den Consejo setzt, sei dies anstößig, da es ihm Übergewicht vor dem Supremo tribunal verleihe“168. Die symbolische Wichtigkeit dieser Rangordnung wird bei den gleich zu behandelnden öffentlichen Auftritten noch deutlicher hervortreten Gegenüber dem offiziellen Besuch, dem Gouverneur wie den versammelten „Autoritäten“, sollte nicht der Cuerpo colegiado-Charakter präsentiert werden, sondern die Etikette des Honorable congreso. Dieser Aspekt der Aufspaltung in zwei Erscheinungsbilder wird bei den gleich zu behandelnden Außenkontakten des Kongresses beziehungsweise der Abgeordneten weiter zu verfolgen sein. In diesen Zeremonien und Ritualen 169 wird die Rangordnung zwischen den Gewalten verkörpert und gegenüber der anwesenden offiziellen Öffentlichkeit präsent gemacht.
166 Sitzung Nr. 21 vom 23.08.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. für den Schwur ähnlich: Außerordentliche Sitzung Nr. 46 vom 06.10.1825 (c. 2, e. 8); Sitzung Nr. 48 vom 06.10.1829 (c. 11, e. 1); für Sitzungseröffnungen des Parlaments die Hinweise im obigen Kapitel. 167 Besondere Bedeutung gewinnt die Kleiderordnung noch dadurch, dass man eine solche in den Geschäftsordnungen des föderalen Kongresses nicht vorgesehen hatte, hingegen aber im Reglamento von Cádiz für die Präsenz von Mitgliedern des Königshauses oder der Exekutive und für die parlamentarischen Kommissionen an den Königspalast; vgl. Reglamento von Cádiz, Art. 51. 168 Sitzung Nr. 29 vom 12.09.1828 (c. 8, e. 1). 169 Stollberg-Rilinger grenzt Zeremonien von Ritualen durch deren „eher säkular[en]“ Charakter ab, bei denen keine Zustandsveränderung statt findet, gleichzeitig weist sie auf fließende Übergänge hin; vgl. Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 503.
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b. Der Auftritt der Parlamentarier nach außen Wie bei den Kontakten mit Externen innerhalb des Kongresses war die Etikettierung des Auftritts nach außen für die Abgeordneten von höchster Bedeutung: Bereits in seiner zweiten Sitzung beschloss die Constituyente die für Nicht-Parlamentarier verpflichtende Anrede des Parlamentes mit dem Titel „Ehrenwerter Kongress“ und in der unpersönlichen Form der dritten Person. Das „Epitheph des Honorable“ 170 verweist auf das von den Abgeordneten intendierte Bild, mittels dessen sich der Kongress nach außen präsentieren sollte. Bevor auf die „Ehre als Medium des Konfliktaustrags“171 eingegangen wird, wird hier zunächst gefragt, was der Kongress versuchte, nach außen zu symbolisieren. Wie sollte der Auftritt der Kommissionen aussehen? Durch welches Erscheinungsbild sollten die unmittelbaren Kommunikationsakte des Kongresses mit der Außenwelt charakterisiert sein? Einen ersten Hinweis kann uns folgende Festlegung liefern: „Der als Körper versammelte Kongress wird nie an einer Veranstaltung teilnehmen“ 172 . Der Kongress selbst tritt nicht auf, er ist als Vertreter der Souveränität unbeweglich. Er geht auf niemanden zu, wer mit ihm in Kontakt treten wollte, musste auf ihn zugehen. Bei dieser Kontaktaufnahme musste ihn außer den Abgeordneten jeder mit seiner vollständigen Etikette ansprechen beziehungsweise anschreiben. In diesem Sinne hatte eines der ersten Dekrete der Konstituante festgelegt – der erste Kongress erweiterte diese Festlegung dann –, dass alle Anträge der Staatsbürger über den vorgeschriebenen Dienstweg (Gouverneur) an den Kongress zu richten seien.173 Eine direkte Kommunikation mit dem Kongress war also nicht vorgesehen. „Als Körper versammelt“ trat der Kongress nicht nach außen hin auf. Er sollte als Vertreter der Souveränität das In-SichRuhende und Außeralltägliche präsentieren, oder nach der zu Beginn des Kapitels zitierten Vater-Metapher das Bild des in sich ruhenden Vaters. Dieser Entzug aus dem Alltag stand aber im Widerspruch zur allseits festgestellten Notwendigkeit der Kommunikation mit der Außenwelt. Um diesen Widerspruch aufzulösen, sah die Geschäftsordnung für den Fall, dass unmittelbare Kommunikation notwendig erschien, die Bildung von Kommissionen vor. Falls 170 Sitzung vom 16.02.1827 (c. 3, e. 6). 171 Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 519. 172 Reglamento (21.07.1825) / Art. 164, in: RdL, II, S. 32; Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 5, in: RdL, I, S. 22. 173 Vgl. Dekret Nr. 7 (04.05.1824), in: RdL, I, S. 15, das diese Klausel zunächst nur für Ciudadanos festlegte. Im ersten Kongress erweiterte man das nach Diskussionen auf „Ange-stellte …, Autoritäten und Korporationen“, Dekret Nr. 12 (01.02.1826), in: RdL, II, S. 48f., Zitat Art. 1; vgl. auch Geheimsitzung vom 17.08.1824, in: AyD, I, S. 225; Sitzung vom 04.09.1824, in: AyD, I, S. 255.
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also ein parlamentarischer Auftritt notwendig werden sollte, durfte nur ein Teil, eine Abordnung des Souveräns auftreten. Gleichzeitig erfüllte die Bildung von Abordnungen auch eine zweite Anforderung, nämlich die, dass der Kongress nie durch eine einzelne Person repräsentiert werden durfte. Dies hatte sich schon bei den mindestens zweiköpfigen Empfangskommissionen innerhalb des Kongresses angekündigt und soll nun weiter verfolgt werden. Die Geschäftsordnung unterschied zwei Arten von Abordnungen, eine für öffentliche und eine für regierungsinterne Anlässe. Bezüglich der regierungsinternen legte sie fest: „Der Kongress kommuniziert mit der Regierung mittels öffentlicher oder geheimer Kommissionen“ 174 . Die Ernennung beziehungsweise Rückkehr solcher Kommissionen fanden in den Protokollen immer wieder Erwähnung. Die Wache des Kongresses hatte dieser Kommission, wenn sie sich auf dem Weg zum Gouverneur befand, durch „das Präsentieren der Waffen“ 175 die Ehre zu erweisen. Im Gebäude des Gouverneurs angelangt, sollte der Staatssekretär sie „auf dem oberen Teil der Treppe empfangen, um sie vor den Gouverneur zu führen“176, der im für solche Anlässe vorgesehenen Saal unter einem Baldachin warten und bei Eintritt der Kommission aufstehen sollte. Der Präsident der Kommission setzte sich sodann rechts neben den Gouverneur, „aber [!] außerhalb des Baldachins“177. Die anderen Kommissionsmitglieder setzten sich um sie herum – allerdings erst, nachdem der Gouverneur sich niedergelassen hatte. Der Staatssekretär setzte sich zu den übrigen Kommissionsmitgliedern und führte sie später wieder zum Empfangsort zurück. Der Kommissionspräsident hatte dem Gouverneur in „kurzen und einfachen Begriffen das Ziel der Abordnung“ zu erläutern, wobei er den Gouverneur „unpersönlich“178 anzusprechen hatte. Jener antwortete auf die gleiche Art. Bei der Verabschiedung sollte der Gouverneur bis zum Austritt des Kommissionspräsidenten stehen bleiben. So sollte nicht nur der Kontakt innerhalb des Kongresses mit Externen stark ritualisiert und „unpersönlich“ verlaufen, sondern auch derjenige außerhalb mit dem Gouverneur. Im Auftritt der Kongresskommissionen bei öffentlichen Anlässen manifestieren sich weitere Charakteristika, und damit weitere Reaktionsweisen auf die Spannung zwischen amobilem, souveränem Sein des Kongresses und der Notwendigkeit der Kommunikation. Umfassenderes Material – neben Normen auch Hinweise auf deren praktische Umsetzung – machen hier eine genauere Untersuchung möglich. Von der Ritualisierung lassen sich analytisch zwei 174 175 176 177 178
Reglamento (21.07.1825) / Art. 165, in: RdL, II, S. 32. Reglamento (21.07.1825) / Art. 167, in: RdL, II, S. 32. Reglamento (21.07.1825) / Art. 168, in: RdL, II, S. 32. Reglamento (21.07.1825) / Art. 170, in: RdL, II, S. 32. Reglamento (21.07.1825) / Art. 172, in: RdL, II, S. 32f.
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weitere Merkmale unterscheiden: der Versuch der Distinktion und der Entzug aus der Alltäglichkeit. Die drei Charakteristika lassen folgendes theoretisches Deutungsmuster als passend erscheinen. In Übersetzung von Kantorowicz’ Untersuchung von den zwei Körpern des Königs lässt sich feststellen, dass der Kongress nicht den unsteten „Body natural“, sondern den „Body politic“, das „inmutable within time“ 179 , die „inmortality“ 180 , und damit den Majestätscharakter präsentieren und entsprechend von außen wahrgenommen haben wollte. Dafür erhielten der Kongress und seine Mitglieder einen zweiten Körper, sie erhielten „von Amts wegen, … ihre Funktionen ausübend“181 – wie es im Tratamiento-Dekret heißt – einen steten, überpersönlichen, einen institutionellen Charakter: Sie sollten sich als Kongress beziehungsweise als Abgeordnete in eine Institution verwandeln und damit die „Behauptung von Dauer“182 sicherstellen. Den institutionellen Body politic erhielten die Abgeordneten zwar schon durch ihre Vereidigung und ihre Inkorporation in den Kongress, dort war er aber unter Kollegen – wie oben gezeigt – zunächst nicht erforderlich. Das wird er erst beim Kontakt mit dem Außen: So wie sich der Kongress bei der Außenpräsentation von einem Cuerpo colegiado in den Honorable congreso verwandelte, so verwandelten sich die Kollegen in Señores diputados. Nur mit dieser Etikette war es ihnen erlaubt, den Kongress zu vertreten. Die „stabilisierte ... Spannung“183, die nach Arnold Gehlen einer Institution zu eigen ist, drückt sich in der Figur der zwei Körper in idealer Weise aus. So konnten „prekäre Gleichgewichtszustände geschaffen und institutionell festgehalten“ werden, „und zwar durch Ritualisierungen und Verhaltensstilisierungen“ 184 . Die Spannung zwischen souveränem Sein des Kongresses und der Notwendigkeit der Kommunikation lösten die Gesetzgeber also durch die Verwandlung des Body natural in den Body politic, in eine Institution auf. Dazu muss sich die Institution ihrer unsteten Natur, aber auch der des kritisch streitenden Kollegen entbinden. Beim Auftritt beim Gouverneur funktionierte die Verwandlung über rituelles Verhalten und Höflichkeit: Der Gouverneur hatte die Abgeordneten als Señor diputado, als Vertreter der Souveränität zu empfangen, und nicht persönlich anzusprechen. Die Höflichkeit zwischen den obersten Regierungsgewalten musste gewahrt bleiben. Zum Schutz des institutionellen Charakters tritt der Señor diputado auch nicht als Einzelner auf. Wenn er sich aber nicht als 179 180 181 182 183 184
Kantorowicz: King’s, S. 8. Kantorowicz: King’s, S. 13. Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 4, in: RdL, I, S. 22. Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 10. Arnold Gehlen zitiert nach: Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 13. Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 13.
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Repräsentant des Kongresses präsentiert, also sein Amt nicht ausübt, verliert er laut Geschäftsordnung seinen Anspruch auf das Tratamiento und verwandelt sich demnach in den Body natural zurück. Es handelt sich damit anders als bei Kantorowicz’ König bei den zwei Körpern der Abgeordneten nicht um eine „unit indivisible“185. Beim Auftritt nach außen – so die hier vertretene These – hatten die Abgeordneten ihren Body natural des Kollegen gegen den Body politic der Etikette einzutauschen und somit „king’s temporariness“ abzulegen und sich in „King’s semiternity“ 186 , also in eine Institution, zu verwandeln. Zur Prüfung dieser These wird im Folgenden auf die drei oben genannten Charakteristika des Auftritts in den öffentlichen Raum – der Entzug aus der Alltäglichkeit, die Distinktion und die Ritualisierung – eingegangen werden. Als erstes Charakteristikum des öffentlichen Auftritts lässt sich also der Entzug aus der Alltäglichkeit fassen. Im Tratamiento-Gesetz heißt es nach der Festlegung, dass der versammelte Kongress nicht auftritt: „Wenn in irgendeinem Fall eine Abordnung aus seinen Reihen [einer Veranstaltung] beiwohnen sollte, hat der Präsident von ihr den ersten Platz, nach ihm der Gouverneur des Staates, und sofort die anderen Mitglieder“187 der Abordnung. Selbst für diese Deputation schien der Auftritt – folgt man der grammatikalischen Konstruktion – als möglichst selten wahrzunehmende Pflicht. Und auch dann sollte dies nur in Begleitung des Gouverneurs, der exekutiven Gewalt, erfolgen.188 Der nächste Artikel unterstreicht weiter, dass es sich bei den Auftritten um Ausnahmefälle handeln sollte, eigentlich war für diese der Gouverneur zuständig: „Außerhalb dieses Falles wird der Gouverneur bei allen öffentlichen Anlässen den bevorzugten Platz einnehmen“189. Die Praxis entsprach diesem Ansinnen. So ist im gesamten hier betrachteten Zeitraum lediglich von einer solchen Kommission die Rede, und selbst die wurde – wie es im Rückblick hieß – nur nach „einer sehr erhitzten Diskussion und mit einer sehr knappen Mehrheit“ 190 möglich. Sie galt der öffentlichen Bildung als „fundamentaler Basis einer guten Gesellschaft“: Der LancasterGesellschaft der Hauptstadt sollten im Februar 1827 hundert Pesos überreicht werden, damit diese sie als Preis an diejenigen Schüler weitergebe, die sie im anstehenden Examen „verdienen“. Dies war soweit unstrittig. Strittig war hingegen, ob das Geld aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden solle oder durch 185 186 187 188
Kantorowicz: King’s, S. 9. Kantorowicz: King’s, S. 20. Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 6, in: RdL, I, S. 22. Die verpflichtende Präsenz des Gouverneurs war im ersten Vorschlag noch nicht enthalten; vgl. Sitzung vom 01.06.1824, in: AyD, I, S. 71. 189 Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 7, in: RdL, I, S. 22. 190 Sitzung Nr. 37 vom 01.10.1832 (c. 17 , e. 1).
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private Beiträge der Abgeordneten, da eine so kleine Summe gegen die „Würde der souveränen Versammlung“ verstoße und da es sich nicht um eine gesamtstaatliche, sondern um eine partikulare, Hauptstadt-spezifische Angelegenheit handelte. Schließlich überzeugte wohl das Argument Zincuneguis, dass allein der Symbolcharakter entscheidend sei, da jede Summe als „zu niedrig eingeschätzt“ würde. Wenn der Preis aber „im Namen des Souveräns“ vergeben werde, erhielte er „mehr Glanz“. Mit diesem Argument wurde auch die zweite strittige Frage gelöst, nämlich die, ob der Kongress, um „seinen souveränen Schutz [für die Bildung] unter Beweis zu stellen, eine Kommission aus seinen Reihen delegiert, die teilnimmt und den Akt mit seiner Anwesenheit bei einer der Prüfungen feierlich gestaltet“. Domínguez hatte zu bedenken gegeben, dass dies „den Akt zu sehr feiern“ würde, insbesondere wenn der Präsident der Kommission auch noch eine „kurze Ansprache“191 halten solle. Nach über vier Stunden Diskussion und mit drei ausdrücklich im Protokoll festzuhaltenden Gegenstimmen wurde schließlich auch dieser Artikel – allerdings ohne die zunächst vorgeschlagene präsidiale Ansprache – angenommen und eine dreiköpfige Kommission ernannt. Im Folgenden schienen für die Anwesenheit einer Kommission überhaupt nur noch Anlässe mit Bezug zur öffentlichen Bildung in Betracht zu kommen. So lud im Mai 1832 der Vizerektor des Seminario zur Präsentation eines Philosophie- und Mathematik-Werkes eines Schülers ein. Dieses sollte dem Kongress gewidmet werden. Der Kongress lehnte die Anwesenheit einer Kommission allerdings ab, da es sie nach dem Reglamento nur zu „sehr feierlichen Anlässen“ geben sollte und ganz konkret, da, „sie in einer Beleidigung“ für die Kommission ende, „falls es keinen oder einen geringen Zulauf gebe“. Außerdem – so die beratende Kommission – zielte „das Colegio“ mit der Widmung „auf keine andere Sache als auf die Akzeptanz der Veranstaltung“ 192 . Sie sei also nur vorgespielt, nur Mittel zum Zweck. Der Kongress beschloss, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und den Schüler mit einem rechtswissenschaftlichen Buch zu beschenken und auf diese Weise die Jugend zum Studieren zu animieren. Bei einem weiteren Anlass, der Eröffnung der vom Abgeordneten Mariano Rivas mit-initiierten Escuela normal in der Hauptstadt Ende 1832, stellte Huarte gar fest, die „Kommissionen sollten an keiner Veranstaltung teilnehmen“193, wie dies auch der Kongress des Estado de México handhabe. Auch die Geschäftsordnung von San Luis Potosí legte den Nichtauftritt fest. 194 Manuel Alvires 191 192 193 194
Außerordentliche Sitzung vom 23.02.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung Nr. 23 vom 21.05.1832 (c. 16, s./e. 1). Sitzung Nr. 37 vom 01.10.1832 (c. 17, e. 1). Vgl. Reglamento … San Luis Potosí, Art. 139.
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fügte hinzu, dass sie „nicht einmal bei den nationalen Festlichkeiten wie dem 16. September“ auftreten sollten. Obwohl José María Navarro Bildung als „einzigen Quell, aus dem Prosperität“ entstehe, bezeichnete und der beantragende Rivas forderte, dass der „Souverän von Michoacán unter einem freien System nicht weniger an der Bildung seiner Bewohner interessiert sein sollte, als es die absoluten Monarchen von Europa waren“, setzte sich schließlich mit neun zu fünf Stimmen die von Juan Gómez de la Puente auf den Punkt gebrachte Meinung durch: Man solle die „Assistenzen des Cuerpo legislativo nicht vergeuden, damit seine Autorität nicht verfällt“ 195 . So trat, wie gesehen, der Kongress nicht einmal bei Feierlichkeiten wie den 16. September auf, zeigte sich dort nicht einmal als Organisator. Auch Beerdigungen von aktuellen Parlamentariern galten als zeremonieller Anlass, bei denen laut Geschäftsordnung eine vierköpfige Kommission anwesend sein sollte. Allerdings beschloss die Constituyente nach zwei unentschiedenen Abstimmungen am 30. September 1824, nicht an der Beerdigung Lejarzas teilzunehmen – bezeichnenderweise „mit dem hauptsächlichen Grund ..., dass man einer Kommission des Honorable congreso alle Ehrerbietungen erweisen müsste, die ihm als Souverän gebühren“196. Eine Kommission konnte also nicht einfach so teilnehmen. Der Würde des Kongresses, des Souveräns entsprach es also gemäß den Abgeordneten nicht, sich der Alltäglichkeit auszusetzen. Der Kongress als Ganzes durfte gar nicht und seine eigens dafür geschaffenen Abordnungen möglichst selten auftreten. Die Abgeordneten sollten ihre und die Autorität des Souveräns nicht der Gefahr einer potentiellen „Beleidigung“ aussetzen, ihre Anwesenheit nicht „vergeuden“. Gerade weil in der Praxis kaum Auftritte stattfanden, fällt die große Bedeutung auf, die die Abgeordneten dem zweiten Charakteristikum des parlamentarischen Auftritts nach außen zumaßen, der Distinktion. Die oben angesprochene Verwandlung von Bürgern beziehungsweise von Kollegen in Señores diputados zeigt sich beim Umgang mit dem Tratamiento als Distinktiv besonders deutlich: Die Etikette musste bei der Kommunikation mit der Außenwelt strikt gewahrt werden. Das Tratamiento der Abgeordneten mit Señor, des Präsidenten mit Excelencia stand für den externen Kontakt anders als für den internen Gebrauch nach anfänglicher Kritik außer Frage. Die Abgeordneten erhielten es laut Dekret „nur von Amts wegen“, also auf Grund ihres Status als Abgeordnete, entsprechend hatten sie darauf wie auch andere Amtsträger nur „bei der
195 Sitzung Nr. 37 vom 01.10.1832 (c. 17, e. 1). 196 Geheimsitzung vom 30.09.1824, in: AyD, I, S. 300; vgl. auch Reglamento (21.07.1825) / Art. 55, in: RdL, II, S. 14.
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Ausübung ihrer Funktionen“ 197 einen rechtlichen Anspruch. Bezeichnend hierfür ist der Beschluss des Kongresses, den erst kurz vorher abgesetzten und kurze Zeit später restituierten Gouverneur Salgado in einem Beschluss vom Dezember 1828 nicht mit dem Tratamiento der Excelencia zu versehen, sondern mit Ciudadano.198 Dem Amt gebührte die Ehre, nicht der Person. Über das Tratamiento drückten sich Rangunterschiede und damit verbundene Ehrerweisungen aus, denen zumindest für die offizielle Kommunikation eine hohe Bedeutung zugemessen wurde, wie folgende Festlegungen zeigen: Nach demselben Dekret vom Juli 1824 – in der Folge als Tratamiento-Dekret bezeichnet – erhielten der Gouverneur und die Vorsitzenden der beiden oberen Tribunale und des Consejo das gleiche Tratamiento wie der Parlamentspräsident, nämlich das der Excelencia, die je weiteren Mitglieder dieser drei Organe das der Abgeordneten (Señor). 199 Auch andere Institutionen forderten den Señor-Titel, wie beispielsweise der Gouverneur – erfolgreich – für seinen Sekretär oder zwei Jahre später die Präfekte des Nord- und Westdepartments für sich. Da deren Betitelung wohl schon gängige Praxis geworden war, gewährte man sie nun allen Präfekten wie auch dem Generalschatzmeister für die „offizielle Kommunikation“ 200 . Der Vorschlag, der Junta für die Aufsicht der öffentlichen Bildung den Titel der Excelencia zu verleihen, um deren Mitglieder „mit Ehre zu stimulieren“201, scheiterte daran, dass dieser Titel den höchsten Gewalten vorbehalten war. Auch die Alternative Ilustríssima (Erlauchteste) war nicht mehrheitsfähig, so dass sie schließlich „in jeder amtlichen Kommunikation“202 wie das Ayuntamiento als Ilustre bezeichnet werden sollte. Auch die Kleiderordnung galt in diesem Sinne als distinguierendes Merkmal für öffentliche Anlässe. Die Konstituante legte wie zu den zeremoniellen Anlässen innerhalb des Kongresses auch für die externen eine „schwarze Bekleidung oder eine Uniform ihrer Klasse“ fest sowie einen „Stab mit Quasten aus schwarzer Seide“. Für den Kongressalltag war den Abgeordneten das Mitführen des Stabes mit dem Argument verboten worden, dass „ihn [nur] die
197 Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 4, in: RdL, I, S. 22. 198 Vgl. Außerordentliche Sitzung Nr. 96 vom 17.12.1828 (c. 9, e. 1); Dekret s./Nr. (18.12.1828), in: RdL, III, S. 112. 199 Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 2f., in: RdL, I, S. 22. 200 Dekret Nr. 56 (20.10.1830), in: RdL, IV, S. 76; vgl. auch Sitzung Nr. 60 vom 16.10.1830 (c. 11, e. 3). Zum Secretario de gobierno vgl. Sitzung Nr. 24 vom 05.09.1828 (c. 8, e. 1); Sitzung Nr. 29 vom 12.09.1828 (c. 8, e. 1). 201 Sitzung Nr. 16 vom 25.04.1831 (c. 14, e. 2). 202 Dekret Nr. 94 (30.05.1831) / Art. 24, in: RdL, IV, S. 110.
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ersten Autoritäten tragen“ 203 . So durfte ihn im Kongress nur der Kongresspräsident mit sich führen.204 Die anderen Abgeordneten verwandelten sich im Sinne dieser Ordnung also nur an den Tagen des öffentlichen Auftritts in eine „erste Autorität“. Der Festlegung der Kleiderordnung war zunächst der Beschluss für das Tratamiento-Gesetz vorausgegangen, dass bei öffentlichen Auftritten der Kommission „die Abgeordneten des Kongresses als Unterscheidungsmerkmal [distintivo] eine dreifarbige Schleife auf der linken Seite der Brust tragen“ 205 sollen. Juan José Martínez de Lejarza hatte zunächst das Herausnehmen dieses Artikels aus dem Dekret beantragt, um das Thema für ein eigenes Gesetz zu diskutieren. 206 Ein solches Gesetz gab es dann nicht, vielmehr die obige Kleiderordnung des Reglamento interior, deren Diskussion aber leider nicht überliefert ist. Kurz zuvor war allerdings ein Antrag aussagekräftig debattiert worden, bei dem es um die Frage ging, welches Distinktionsmerkmal die Mitglieder der Ayuntamientos statt ihrer bisherigen Uniform tragen dürfen. Lloreda stellte dazu eingangs fest: „Die Distintivos sind lächerliche Reize, mit denen die despotischen Regierungen die Völker gekauft haben“, wie beispielsweise der „berühmte Bonaparte“: „Deswegen sei es notwendig, dass in unserem wahrhaft freien System solche Manien für immer abgeschafft werden“207. Diese Einschätzung erinnert stark an die oben zitierte Äußerung des Manifiesto, das der Constitución federal voransteht: Die „alten Gesetzgebern … versuchten mit Prunk und Zeremonien die Imagination aufzuerlegen, da sie die Vernunft nicht lehren konnten“. Nach Lloreda waren die lokalen Amtsträger anders als die Militärs bekannt, so dass auch keine pragmatischen Gründe für eine Uniform sprachen. Mit dieser Meinung blieb er jedoch allein. Vielmehr entsprach die Haltung Villaseñors derjenigen der Mehrheit: Er konstatierte bezüglich der Distintivos, dass auch „Republiken wie ... Rom, Griechenland und Athen sie immer verwendet haben; und wir wissen, dass diese Distinktionen sogar im Himmel je nach dem Verdienst der Seligen existieren“ 208 . Außerdem wirken sie nach Villaseñor stimulierend auf die Arbeit – ein Argument, das, wie gesehen, auch 203 Sitzung vom 18.06.1825, in: AyD, II, S. 95; vgl. den Antrag Salgados und den Vorschlag der mit dem Reglamento befassten Kommission: Sitzungen vom 12.06.1824 bzw. 20. u. 21.07.1825, in: AyD, I bzw. II, S. 86 bzw. 415. 204 Reglamento (21.07.1825) / Art. 36/3, in: RdL, II, S. 10. 205 Sitzung vom 10.06.1824, in: AyD, I, S. 84. 206 Vgl. Sitzung vom 18.06.1824, in: AyD, I, S. 96. Dem wurde offensichtlich statt gegeben, auch wenn die vorhandenen Protokolle davon nichts berichten: Im Tratamiento-Gesetz erscheint der Artikel nicht. 207 Sitzung vom 27.04.1825, in: AyD, II, S. 259. 208 Sitzung vom 27.04.1825, in: AyD, II, S. 260.
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bei Tratamiento-Debatten eine Rolle spielte. In namentlicher Abstimmung entschieden sich gegen Lloreda neun Abgeordnete für die Erlaubnis: Die Mitglieder der Ayuntamientos durften zur Distinktion ein goldgelbes Band tragen. Gut zwei Wochen später plädierte allerdings auch Lloreda für eine Kleiderordnung, und zwar nicht nur für die Zeit im Dienst, sondern auch für den außerparlamentarischen Alltag: Da mit dem zu erwartenden Bevölkerungswachstum in der Hauptstadt auch die Lebenshaltungskosten steigen würden, forderte er höhere Diäten für die Abgeordneten mit der Begründung, „im Luxus und in der Mode gibt es bestimmte Sachen, die nach den Bräuchen notwendig sind“, damit man sich, also hier die Abgeordneten, „mit angemessenem Luxus und Anständigkeit im Öffentlichen präsentieren“ 209 kann. Distinguierender Luxus schien ihm für Abgeordnete „angemessen“. Fast wortgleich argumentierte Aragón zwei Jahre später wieder bezüglich der Höhe der Diäten.210 Auch das Gehalt für andere Staatsangestellte wurde nicht zuletzt an deren distinguiertem und distinguierendem Auftreten orientiert, das der Würde des Amtes beziehungsweise des Staates angemessenen sein sollte.211 Distinktionsbedürfnisse waren also mitnichten auf exklusivere Tendenzen zu Beginn der 1830er Jahre zurückzuführen – wie dies Margaret Chowning beispielsweise für Michoacán postulierte –, 212 sondern lassen sich vielmehr als Strukturmerkmal bezeichnen. Für die Zeit davor konstatierte sie: „It is impossible to read the debates of the mid-1820s without coming away with the impression that they reflect genuine support of the principles of liberalism and federalism and equality, if not always of unadulterated democracy“213. Ein Befund, auf den noch zurückzukommen sein wird. Chowning führte in ihrer Studie gleichfalls die eben zitierte Debatte über die Kleiderordnungen für die Ayuntamientos an, leitete ihre These allerdings aus der primären Position Lloredas ab. Meines 209 Sitzung vom 09.05.1825, in: AyD, II, S. 286. Pastor Morales argumentierte hingegen, dass es bei den Abgeordneten nicht auf das äußere Erscheinungsbild ankäme: „Das Volk unterscheidet sie sehr gut durch ihre patriotischen Tugenden“ (Sitzung vom 09.05.1825, in: AyD, II, S. 287). 210 Vgl. Sitzung vom 21.03.1827 (c. 5, e. 2). 211 Vgl. die in Kapitel C II diskutierten Auflagen für die (Sub-)Präfekte; ähnlich für den Sekretär des Gouverneurs: Sitzung Nr. 89 vom 24.11.1827 (c. 5, e. 3); für den Amtschreiber, der wegen gestiegener Preise mehr Gehalt als zur Kolonialzeit benötigte: Sitzung Nr. 113 vom 28.07.1828 (c. 8, e. 1); und für den zweiten Generalkassenwart: vgl. Sitzung Nr. 19 vom 14.05.1832 (c. 16, s./e. 1). Auch die Angehörigen der Milicia civica sollten eine Uniform erhalten; vgl. entsprechende Diskussionen in: Geheimsitzung vom 03.09.1825 (c. 2, e. 6); Sitz-ung Nr. 50 vom 13.03.1828 (c. 7, e. 2); Sitzungen Nr. 42 u. 54f. vom 26.06., 13. u. 14.07.1832 (c. 16, s./e. 1). 212 Vgl. Chowning: Wealth, S. 125. 213 Chowning: Wealth, S. 141f.
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Erachtens überbewertet sie dabei jedoch einerseits diese, und integriert andererseits die hier weiter zitierten Debatten und Abstimmungsergebnisse nicht (ausreichend) für die Bewertung. Lloreda stand mit seiner Schlussfolgerung, was das „wahrhaft freie System“ impliziert, allein. Die Mehrheit war der Ansicht, dass Distinktionen immer, selbst in Athen und im Himmel, gesellschaftskonstituierend seien. In der zweiten Debatte propagierte auch Lloreda diesen Standpunkt, erweiterte ihn sogar auf den privaten Bereich. Dass diese Ausweitung über den beruflichen auf den privaten Bereich keine Ausnahme war, zeigt abschließend der Vorschlag Francisco Camarillos vom Oktober 1832. Er forderte mit Bezug auf ein Gesetz der Recopilación de leyes de indias, dass wie im Antiguo régimen die Richter jetzt auch die Abgeordneten, der Gouverneur und die Consejeros im Chorgestühl der Kirchen Platz nehmen könnten – und zwar ausdrücklich als „Privatpersonen“. Nur Huarte und Alvires widersprachen, da dies „wahrhaftig einer aristokratischen Regierung entspricht“. Andere bezeichneten deren Widerspruch hingegen als „Sarkasmus“: Vielmehr sei „das Volk eng damit verbunden, diese Distinktionen zu treffen, und jetzt ist es notwendig sich an den Brauch zu gewöhnen, da wir nicht zur Perfektion der Demokratie gelangt sind“ (Domínguez). Man sei sogar dazu verpflichtet, „damit das Volk sie [die Funktionäre] nicht mit Missachtung betrachtet“ (Juan Gómez de la Puente). Auch in den „liberalsten Republiken“ (Rivas) sei dies üblich und selbst das „Natur- und göttliche Recht“ (Peguero) sehe das so vor. „Die äußeren Distinktionen haben starken Einfluss auf den geschuldeten Gehorsam“214. Der Vorschlag wurde dann wegen der vorzeitigen Auflösung des Kongresses nicht weiter behandelt – es hatte sich aber, wie gesehen, eine starke Zustimmung angedeutet. So lässt sich auf Grund der letzten Debatte zwar vermuten, dass sich das Distinktionsbedürfnis der Abgeordneten während der ersten föderalen Republik verstärkte. Festzuhalten bleibt trotzdem eine sich kontinuierlich zeigende Grundhaltung: Der metaphorische Vater sollte im Auftritt Distanz gegenüber seinen Kindern bewahren. In der Öffentlichkeit sollten und wollten die Abgeordneten nicht als Body natural auftreten, sondern als Institution anerkannt werden – und zwar nicht nur während der Amtszeit. Mit Pierre Bourdieu werden hier Tendenzen zur Etablierung eines „Staatsadel[s]“ erkennbar: Durch „Weihe- und Ordinationsriten werden, wie, Marc Bloch zufolge, durch den Ritterschlag und durch alle Initiationsriten, Ordnungen, oder, in Webers Sprache, Stände geschaffen, Korporationen, die wie der alte Blutsadel vom (All-)Gemeinen abgesondert und in diesem Sinne heilig sind“215. So ließe sich die These aufstellen, dass die Abgeordneten sich über ihren Habitus vom „Volk“ abzugrenzen versuchten, und zwar über ihre Zeit als Abgeordnete 214 Sitzung Nr. 62 vom 31.10.1832 (c. 18 , e. 3). 215 Bourdieu: Unterschiede, S. 456.
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hinaus. Sie legten sich eine „zweite[…] Natur“216 zu. Mit dem Amt dürfte somit ein Status verbunden gewesen sein, der die Abgeordneten zu einem Teil der gesellschaftlichen Elite werden ließ, wie sie im Teil A für die Kolonialzeit und in Teil D für die Zeit nach der Unabhängigkeit beschrieben wurde. Wie einleitend zu diesem Kapitel angedeutet, gehörte es zum standesgemäßen, ehrenwerten Charakter des Honorable congreso und seiner Mitglieder, dass Ehrkonflikte in der Öffentlichkeit vermieden wurden. Dazu sollte in erster Linie ein genau ausgehandeltes, rigides Protokoll dienen – womit wir beim dritten und letzten Charakteristikum des Auftritts sind, der Ritualisierung. Jedem sollte ein ihm entsprechender Platz zugeordnet werden. Beim Auftritt nach außen schien dies – folgt man der Intensität der Diskussion und den Regelungen – noch wichtiger zu sein als bei den Kontakten innerhalb des Kongresses. Dazu diente neben der Festschreibung eines festgelegten Tratamiento auch die rigide Rangordnung der Institutionen beim öffentlichen Auftritt: Nach dem einschlägigen Dekret folgte dem Präsidenten der Kongresskommission, dem Gouverneur und den übrigen Kommissionsmitgliedern der Consejo, dann der oberste Gerichtshof, die Audiencia, dann das Ayuntamiento – offensichtlich das der Hauptstadt, wodurch dessen weiterhin staatlich herausgehobene Bedeutung unterstrichen wird. Der Generalkommandeur folgte nach dem Präsidenten der Audiencia oder nach dem des Ayuntamiento, „falls jener nicht teilnimmt“217, und zuletzt kam der Richter des (Hauptstadt-)Bezirkes. Für die den drei höchsten Gewalten jeweils präsidierenden Personen sollte je ein „erhabener Sitz mit dem angemessenen Schmuck“218 aufgestellt werden, den anderen Mitgliedern Stühle. Über ein späteres Dekret erhielten auch die Mitglieder der Audiencia, also des zweithöchsten Gerichts, die gleiche „Distinktion“ 219 . Die Priorität, mit der dieses Dekret behandelt wurde – es war eines der ersten –, verweist ebenso wie das mehrmalige Verschieben seiner Verabschiedung auf die hohe Sensibilität, die das Thema für die Abgeordneten hatte: Die erste Verschiebung folgte aus der Frage nach der Position des Ayuntamiento220, die zweite da man noch andere diesbezügliche Regelungen zu Rate ziehen wollte. 221 Wegen der Position der Audiencia und des Ayuntamiento entstand in der nächsten Sitzung wieder eine „lange Debatte“ 222, die man in der anschließenden Sitzung nach zweimaliger 216 217 218 219
Daniel: Kompendium, S. 189. Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 10, in: RdL, I, S. 22. Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 12, in: RdL, I, S. 23. Sitzung vom 21.08.1824, in: AyD, I, S. 234; vgl. Dekret Nr. 18 (21.08.1824), in: RdL, I, S. 31. 220 Sitzung vom 03.06.1824, in: AyD, I, S. 73. 221 Sitzung vom 05.06.1824, in: AyD, I, S. 76f. 222 Sitzung vom 08.06.1824, in: AyD, I, S. 81.
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Abstimmung zunächst beilegen konnte223. Als aber das fertige Dekret wie üblich nochmals vorgelegt wurde, fragte der Präsident Lloreda, welchen Platz denn der Generalkommandeur haben sollte, „falls die Audiencia nicht teilnimmt, dazu neigend, dass er in diesem Fall den nach dem Präsidenten des Ayuntamiento besetzen sollte“224. Weiterhin wurde nach der Rolle des Vizegouverneurs, wenn er nicht den Gouverneur vertritt, gefragt und danach, ob die Abgeordneten den Stab führen dürften. Wie gesehen klammerte man die Frage nach den Distinktionen der Abgeordneten dann für ein eigenes Gesetz aus; der Vizegouverneur erhielt seinen Platz unter den Consejeros225: Vor dem (ersten) gemeinsamen Auftritt der obersten Gewalten sollte ein genau ausgehandeltes Protokoll stehen und Ehrkonflikte vermeiden. Genau diese Ehrkonflikte traten jedoch auf, als der Kongress nach nicht überlieferter Diskussion Ende 1824 einen Artikel verabschiedete, in dem er forderte, dass man den „ersten Autoritäten des Staates“ beim Kirchenbesuch „die gleichen Ehrerweisungen darbiete, die nach den Statuten und Bräuchen den Vizekönigen im erloschenen Regierungssystem entsprachen“, womit unter anderem für den Vorsitz „der Gebrauch des Baldachins“226 gemeint war. Das Recht, in der Kirche unter einem Baldachin sitzen zu dürfen, war vormals dem König beziehungsweise den Vizekönigen vorbehalten. 227 In der nächsten Sitzung heizte der Präsident Lloreda die Diskussion an, indem er zwei Dekrete der Heiligen Rituskongregation von 1657 und 1691 (auf Latein) zitierte, die auf das Verbot von Baldachinen in Kirchen hinwiesen beziehungsweise auf andere Begrüßungszeremonien. Daraufhin entbrannte eine „hitzige“ Diskussion, bei der „verschiedene Male zur Ordnung“ gerufen werden musste. Obwohl Villaseñor ausführte, dass die zitierten Dekrete der „konstanten Praxis der Kirche“ widersprachen, und Huarte – wie Villaseñor tendenziell Anhänger regalistischer Positionen – darauf bestand, dass hier nicht „einzelne Subjekte“, sondern der „Souverän“ 228 auftrete und dass dieser als solcher diese Ehrerweisungen verlangen dürfe, sprach sich die Mehrheit für eine Verschiebung der Diskussion und für die Überweisung an eine Sonderkommission aus.229 Am 20. Juli 1824 223 224 225 226 227 228
Sitzung vom 10.06.1824, in: AyD, I, S. 84. Sitzung vom 12.06.1824, in: AyD, I, S. 86. Sitzung vom 19.06.1824, in: AyD, I, S. 97. Sitzung vom 30.06.1824, in: AyD, I, S. 115. Vgl. Cañeque: King´s, S. 125. Sitzung vom 01.07.1824, in: AyD, I, S. 118. Rayón betonte in der nächsten Sitzung, dass er nur unter der Prämisse für den Baldachin gestimmt hatte, dass er aufgestellt würde, wenn „die Souveränität vereint“ (Sitzung vom 03.07.1824, in: AyD, I, S. 119) wäre, also alle Gewalten gemeinsam vertreten wären. 229 Dass das Verhältnis zur Kirche zu diesem Zeitpunkt stark Konflikt beladen war, zeigt auch, dass noch in der gleichen Sitzung eine „andere, noch stärker erhitzte Debatte als
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entschied sich „ausführlich diskutiert“ 230 die Mehrheit dafür, den Baldachin nicht ausdrücklich zu erwähnen, den „ersten Autoritäten des Staates“ seien aber beim Kirchenbesuch – so heißt es im verabschiedeten Dekret – „die gleichen Ehrerweisungen“ entgegenzubringen wie „nach den Statuten und Bräuchen den Vizekönigen im erloschenen Regierungssystem“231. Die Heftigkeit und die Dauer der Debatten weisen darauf hin, wie wichtig den Abgeordneten die Präsentation von Ordnung, die Wahrung des Protokolls und der Etikette beim öffentlichen Auftritt waren. Sie sind nicht zuletzt Symbol der Anerkennung beziehungsweise Nicht-Anerkennung staatlicher Autorität. Hier wurden nicht nur Äußerlichkeiten verhandelt, sondern zentrale Fragen der Anerkennung und des Selbstverständnisses: Von der Kirche als etablierter und zentraler Institution des öffentlichen Lebens verlangte man die gleiche Anerkennung wie sie den Vizekönigen, den Vorgängern in der Funktion als oberste weltliche Autoritäten, zuteil geworden war. Daran hielten die Abgeordneten trotz der Nichterwähnung des Baldachins fest. Als der öffentliche Schwur auf die Constitución federal Mitte Oktober 1824 anstand, wurde der Cabildo der Kathedrale nach einer Diskussion von dreieinhalb Stunden bis 23 Uhr in geheimer Sitzung entsprechend aufgefordert, sich an das Gesetz zu halten und nicht die gleichen „Fehler“ wieder zu begehen. Dies gelte auch, wenn nicht der Kongress, sondern „nur“ der Gouverneur daran teilnehmen werde: Er ist wie die Vizekönige zu behandeln, und zwar nicht in Funktion des „Patrons“, also des Inhabers der Patronatsrechte – was ja noch nicht geklärt war –, sondern als „oberste Gewalt“232: Ihm gebührte die kirchliche Ehrerweisung. Der Dekan des Cabildo folgte dieser Anweisung unter Angabe von Zeitgründen nicht. In der anschließenden, sich über einen Monat hinziehenden Diskussion wurde immer wieder betont, dass es sich hier um Fragen des „Ansehens und der Souveränität“ 233 des Kongresses und um eine Missachtung der Staatsgewalt seitens der Kirche handle. Schließlich wurde der Gouverneur beauftragt, diese Forderung durchzusetzen.234 Offensichtlich war dies vergeblich, denn auch in den Folgejahren waren die kirchlichen Ehrerweisungen für die staatlichen Autoritäten ein immer wiederkehrendes Konfliktfeld, beispielsweise stellte Domínguez 1827 fest, dass für den 16. September wieder „weder ein Baldachin
230 231 232 233 234
die erste“ (Sitzung vom 01.07.1824, in: AyD, I, S. 119) über die letztlich nicht beantwortete Frage stattfand, ob der kirchlichen Autorität alle Dekrete zugeschickt werden sollen. vgl. Sitz-ungen vom 03. bzw. 17.07.1824, in: AyD, I, S. 121 bzw. 154. Sitzung vom 20.07.1824, in: AyD, I, S. 160. Dekret Nr. 16 (24.07.1824) / Art. 14, in: RdL, I, S. 23. Geheimsitzung vom 16.10.1824, in: AyD, I, S. 339. Geheimsitzung vom 21.10.1824, in: AyD, I, S. 350. Vgl. Sitzung vom 11.11.1824, in: AyD, I, S. 388f.
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noch andere Zeremonien als königlicher Patron“235 bereitgestellt worden waren. Damit bezog er sich auf ein föderales Dekret von 1824, das diese Ehrerweisungen für den Präsidenten der Republik gefordert hatte und das durch ein kurz vorher in Michoacán verabschiedetes Gesetz auf den Gouverneur übertragen worden war. 236 Der vorläufige, oben behandelte Verzicht auf den Baldachin beendete den Konflikt. Weitere Konflikte mit dem Cabildo und, seitdem die Sedisvakanz des Bischofsstuhls 1831 beseitigt worden war, auch mit dem Bischof folgten. 237 Umso dringlicher erschien es dem Kongress, in den Protokollen von den wiederholten Besuchen des Bischofs im Herbst 1831 beim jeweils neu gewählten Parlamentspräsidenten zu berichten: Da dieser „dem Ehrenwerten Kongress mit seiner Person seinen Respekt ausdrücken“ wolle, habe man „diese neuen Beweise der Hochachtung, die ein solch empfehlenswerter Prälat den legitimen Autoritäten gab, mit der größten Freude gehört“238. Auch ähnliche, aber weniger heftige Auseinandersetzungen mit einer weiteren Institution, der Miliz, deuteten sich an: Ein Konflikt über militärische Ehrerweisungen wurde 1824 vermieden, indem der Kongress festlegte, zwei entsprechende Artikel zu suspendieren. Bei den suspendierten Artikeln handelte es sich um die Verordnung von Ehrerweisungen durch den Generalkapitän und dessen Wache, wobei hier Regelungen der Föderation abzuwarten gewesen wären.239 Lloreda hatte auf die Festlegung gedrängt, da die öffentliche Feier zum Antritt von Papst Leo XII. kurz bevorstand, und dieser wie gewohnt zu begehen war.240 Das Zerwürfnis mit der Kirche reichte also nicht soweit wie beispielsweise am Río de la Plata, wo der päpstliche Amtsantritt offiziell nicht mehr gefeiert werden sollte.241 Es lässt sich festhalten, dass die Abgeordneten die Ehrkonflikte als Anerkennungskonflikte verstanden: Die parlamentarisch-staatliche „Ordnungsbehauptung“, die parlamentarisch-staatliche Institution galt ihnen als noch nicht ausreichend anerkannt. Folgende Aussage scheint somit für den Kongress von 235 Sitzung Nr. 36 vom 24.09.1827 (c. 5, e. 3). 236 Vgl. Dekret s./Nr. (11.09.1827) / Art. 2, in: RdL, III, S. 7f. bzw. Dekret Nr. 442 (27.11.1824) / Art. 3, in: LM. 237 Vgl. insbesondere für die Zeit ab 1831: Guzmán Pérez: Relaciones. 238 Sitzung Nr. 75 vom 17.11.1831 (c. 15, e. 4); vgl. auch Sitzung Nr. 92 vom 09.12.1831 (c. 14, e. 1). 239 Vgl. zum weiteren Verlauf die oben zitierte lange Debatte um die Kongresswache. 240 Sitzung vom 04.08.1824, in: AyD, I, S. 195. Lloreda sprach damit wohl den sich auf den Kirchenbesuch beziehenden Teil des Dekretes an, der Rest war bereits am 24. Juli verabschiedet worden. Die Datumsangabe in der vorliegenden Gesetzessammlung, die sich auf beide Teile bezieht, ist somit nicht vollständig korrekt. 241 Vgl. auch die gouvernementale Anweisung fünf Jahre später für die Feier aus Anlass des Antritts von Pius VIII.: Orden (21.07.1829), in: RdL, III, S. 177f.
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Michoacán zuzutreffen: „Institutionelle Stabilisierungen beruhen auf der Kraft des Imaginativen und haben insofern stets auch etwas ‚Fiktionales’“ 242 . Die drei Charakteristika Entzug aus dem Alltag, Distinktion und Ritualisierung machen deutlich, dass die Abgeordneten sowohl den Kongress als auch sich selbst als in sich ruhende, souveräne Institutionen präsentieren wollten. Nicht das Bild des Cuerpo colegiado beziehungsweise des Kollegen, sondern das des Honorable congreso beziehungsweise des Señor diputado, das des Body politic und nicht des Body natural sollte in Erscheinung treten. Ihrer Position als Souverän und als Institution sollte nach außen Ausdruck verliehen werden. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens ist anzunehmen, dass die Abgeordneten dieses Außen, die Öffentlichkeit, als Bedrohung oder zumindest als etwas Fremdes, nicht Vertrautes wahrgenommen haben. Vor dieser Gefahr galt es sich und den Kongress zu schützen. Die Abgeordneten entschieden sich trotz der wahrgenommenen Pflicht der Kommunikation mit außen tendenziell für die Abgrenzung. Eine vertrauensvolle, persönliche Kommunikation wie innerhalb des Kongresses schien nicht möglich – selbst als Privatpersonen bestanden sie auf ihre Etikette. Diese Annahme lässt sich durch die beiden weiteren, unten behandelten Auftrittsformen des Kongresses bestätigen. Durch die Verwandlung des Kongresses beziehungsweise der Abgeordneten – so der zweite Schluss – gewinnt der Auftritt etwas Theatralisches: Nach außen intendierten die Abgeordneten etwas anderes darzustellen als innerhalb des Kongresses, nicht mehr den Kollegen, sondern eben den Señor diputado. So lässt sich fragen, ob die Abgeordneten tatsächlich an die Auflösung des „Arkanum“ im „inneren Zirkel der Öffentlichkeit“243 – wie Habermas es nannte – dachten, ob sie an der Öffnung hin zu einem räsonierenden Publikum innerhalb der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ tatsächlich interessiert waren. Oder intendierten sie nicht doch eher die Beibehaltung einer „repräsentativen Öffentlichkeit“, in der sie sich als „Verkörperung einer wie immer ‚höheren Gewalt’“244 vor Kritik schützen konnten? Die von Habermas als normative Dichotomie verstandene Gegenüberstellung von moderner bürgerlicher Öffentlichkeit und vormoderner repräsentativer Öffentlichkeit soll hier, wie schon eingangs beschrieben, aufge-hoben werden: Die Abgeordneten versuchten mit ihrem Auftritt beziehungsweise Nicht-Auftritt nach außen Ordnung zu behaupten, sie wollten im Sinne 242 Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 11. 243 Habermas: Strukturwandel, S. 21. 244 Habermas: Strukturwandel, S. 19. Habermas verweist in der auf das Zitat folgenden Fußnote auf Gadamers Erklärung des Repräsentationsbegriffes: „Repraesentare heißt Gegenwärtigseinlassen“ und „Doch heißt repraesentatio deshalb nicht etwa Aufführung, sondern meint bis ins 17. Jahrhundert hinein die dargestellte Gegenwart des Göttlichen selbst“.
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neuerer Ansätze zur Institutionenforschung als ordnungsbehauptende Institution wahrgenommen werden. Und auch in der vermeintlich rationalen Moderne blieben, wie Karl-Siegbert Rehberg es formulierte, „institutionelle Stabilisierungen … eng geknüpft an ... Ordnungs-‚Magie’“245, also an vermeintlich irrationale Legitimationsstrategien. Gegen Habermas ist dabei anzunehmen, dass selbst hier, bei der Etablierung des „demokratischen Verfassungsstaates“, den Habermas als Paradebeispiel des „normativen Selbstverständnisses der Moderne“ auffasst, dass selbst hier „symbolische Ausdrucks- und rituelle Darstellungsformen kollektiver Identitäten“ noch zur „‚Durchsetzung’ von normativen Geltungsansprüchen“ 246 beitrugen. Wie wollten Abgeordnete diese „normativen Geltungsansprüche“ und somit die Staatlichkeit durchsetzen, wenn sie das, was Weber als rationalisierende Entzauberung247 und Habermas als Auflösung des Arkanums beschrieben haben, nicht vollständig vollzogen? Beim unmittelbaren Auftritt beziehungsweise der unmittelbaren Kommunikation mit der Außenwelt scheinen die Abgeordneten auf die „Verkörperung einer wie immer ‚höheren’ Gewalt“ zu setzen und mit der Inszenierungspraxis auf eine jenseitige Legitimation abzuzielen. Der theoretisch formulierte Anspruch der diesseitigen Legitimation durch die Wahl des souveränen Volkes schien nicht auszureichen. Die wiederholten Verweise auf die Tradition, auf die Vizekönige wie auch auf die „Republiken wie ... Rom, Griechenland und Athen“ verdeutlichen dies ebenso wie die Argumentation mit transzendenten Gründen: „und wir wissen, dass diese Distinktionen sogar im Himmel je nach dem Verdienst der Seligen existieren“. Wenn es selbst im Himmel, im „göttlichen Recht“, und in den „liberalsten Republiken“ eine Ordnung und Rangunterschiede gibt, dann dürfen und müssen sie auch im gegenwärtigen Michoacán etabliert werden. Dazu dienten „Attribute der Person“ wie Insignien (Abzeichen), Habitus (Kleiderordnung), Gestus (Grußform), Rhetorik (Anrede) – nach Habermas durchgängig Hinweise auf die „Entfaltung 245 Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 34. 246 Habermas: Ausdruck, S. 55. Dort konzediert Habermas, dass in der Moderne die zitierten „symbolische Ausdrucks- und rituelle Darstellungsformen kollektiver Identitäten gewiss nicht überflüssig“ sind, gesteht ihn aber bei der Erzeugung der „normativen Geltungsansprüche“ hinter der „Akzeptabilität guter Gründe“ einen lediglich sekundären Rang zu; vgl. hierzu und zur weiteren Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Institutionenbegriff: Habermas: Ausdruck und Rehberg: Weltrepräsentanz, S. 18-20. 247 Weber: Wirtschaft, S. 308: „Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt ‚entzaubert’ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ‚sind’ und ‚geschehen’, aber nichts mehr ‚bedeuten’, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung’ je als Ganzes, daß sie bedeutungs-haft und ‚sinnvoll’ geordnet seien“.
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der repräsentativen Öffentlichkeit“ 248 . Die Abgeordneten intendierten wohl kaum das „Säurebad eines erbarmungslosen öffentlichen Diskurses“249 – man sei eben nicht zur „Perfektion der Demokratie gelangt“. Andererseits versuchten sie aber nicht, den neuen Staat ausschließlich „durch symbolische Gewalt, also begründungsfrei durchzusetzen“250, wie insbesondere der schriftliche Auftritt des Kongresses und die damit verbundene Teilung des öffentlichen Raumes zeigen wird. Zur Abgrenzung diente zudem der Entzug aus der Alltäglichkeit: Die „Assistenzen des Cuerpo legislativo“ sollte man nach Ansicht der Abgeordneten „nicht vergeuden“. Die hier aufgeworfenen Aspekte und Fragestellungen sind in den beiden nächsten Kapiteln, die sich mit dem medialisierten Auftritt des Kongresses auseinandersetzen, weiter im Auge zu behalten.
III. Der Palacio del congreso zwischen Repräsentativität und Funktionalität Nachdem im vorangegangenen Kapitel über den unmittelbaren Auftritt des Kongresses deutlich wurde, dass die Abgeordneten durch Institutionalisierung Kritik am Kongress und an sich zu verhindern suchten, geht es in den beiden folgenden Kapiteln um die Frage, wie sich die Abgeordneten den medialisierten Auftritt vorstellten und welche Bedeutung sie ihm zumaßen. Sahen die Abgeordneten einen Unterschied zum unmittelbaren Auftritt, und wenn ja, welche Vor- und welche Nachteile verbanden sie mit der medialisierten Inszenierung? Welche Medien setzten die Abgeordneten wie ein? Wie sollte der Kongress beziehungsweise die Abgeordneten in der beziehungsweise in den medialisierten Öffentlichkeit(en) erscheinen? Die Studie verwendet einen weiten Medienbegriff im Sinne von Mitteln der Kommunikation. Eine einschlägige Forschung betont immer stärker den Einfluss der physischen Materialität der Medien auf die Kommunikationsakte. Sie wird auch hier in den beiden folgenden Kapiteln mit ein zu beziehen sein.251 248 Habermas: Strukturwandel, S. 20. 249 Habermas: Ausdruck, S. 67. Ein solches „Säurebad“ nimmt Habermas für die deutsche Diskussion eines Mahnmalprojektes in Berlin um die Jahrtausendwende an. 250 Habermas: Ausdruck, S. 55. 251 Vgl. zum zunehmend vernetzten Forschungsbereich von Kommunikation, Medialität und Symbolik: Stollberg-Rilinger: Kommunikation, v.a. S. 512-516; Frevert: Kommunikation; Schlögl: Symbole; bes. zur Verschriftlichung der Verfassung: Vorländer: Gründung, v.a. S. 254f.; Blänkner: Vorrang, S. 312; Müller: MedienAneignungen.
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Bevor abschließend das klassische Medium Papier / Schrift betrachtet wird, geht es hier zunächst um den architektonischen Auftritt in die Außenwelt, in erster Linie also um die Gestaltung des Parlamentsgebäudes und seiner Räumlichkeiten, mithin um die „symbolische Kraft der gestalteten Räume“252. Zur politischen Architektur in Spanisch-Amerika fehlt es bislang weitgehend an Studien. 253 Der architektonische Auftritt nimmt in zweifacher Weise eine Zwischenstellung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Kommunikation ein: Erstens ist er zwar vermittelt, ist aber an einen festen Ort gebunden und besitzt einen entsprechend eingeschränkten Adressatenkreis. Das Medium Gebäude kann noch weniger als andere Medien beliebig eingesetzt werden. Und zweitens vermittelt das Innere des Parlamentsgebäudes, insbesondere der Plenarsaal, den unmittelbaren Kontakt, stellt also das Medium für eine Form des unmittelbaren Kontaktes dar: Es war die Bühne für das Zusammentreffen der Abgeordneten mit ihrem Publikum, gleichzeitig war dies aber auch der Arbeitsraum der Parlamentarier. Insofern gilt dem Verhältnis von Repräsentativität und Funktionalität besondere Aufmerksamkeit. Dass das Gebäude und insbesondere der Plenarsaal von inoffiziellem Publikum in der „Realität“ wahrscheinlich nicht aufgesucht wurde, spielt für die Untersuchung keine Rolle, da ja die Perspektive und die Vorstellungen der Abgeordneten zur Debatte stehen – und gemäß diesen Vorstellungen schien, wie gesehen, kein inoffizielles Publikum anwesend gewesen zu sein – zumindest war es nicht erwähnenswert. In diesem Sinne ist es für diese Fragestellung auch nicht zentral, dass zu den Medienaneignungen durch die Adressaten nichts bekannt ist, dies gilt auch für den schriftlichen Auftritt. Viele Analysen über politische Architektur basieren auf Bauwerken, die eigens für den entsprechenden Zweck geplant und/oder erstellt worden sind, wie beispielsweise Kirchen, Bürgerhäuser, Städte et cetera.254 Beim Parlamentsgebäude Michoacáns handelt es sich um die Umwidmung und den Umbau eines bereits bestehenden Gebäudes – Vorgänge, die für die Anfangszeit des Parlamentarismus mit prominenten Ausnahmen wie dem Palace of Westminster in London und dem United States Capitol in Washington beidseitig des Atlantiks üblich waren. 255 Der Kongress Michoacáns hatte somit fast nur auf die 252 Rehberg: Weltrepräsentation, S. 40. 253 Vgl. aber bspw. die Untersuchung von Mark Szuchman zur Architektur von Buenos Aires als Abbild sozialer, politischer und kultureller Veränderungen in der städtischen Bevölkerung: Szuchman: City. 254 Vgl. Reinhard: Anthropologie. 255 Vgl. Cullen: Parlamentsbauten, S. 1849, der als einzige Ausnahme innerhalb des Deutschen Bundes den Neubau des Badischen Ständehauses hervorhebt; Patzelt: Symbolizität, S. 625-627. Sowohl der seit dem 16. Jahrhundert ausschließlich parlamentarisch genutzte Palace of Westminster als auch das ab Ende des 18. Jahrhunderts
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innenarchitektonische Ausgestaltung Einfluss. Aber auch so lassen sich Schlüsse auf Repräsentativität und Funktionalität ziehen. Dazu sollen hier sowohl das in den rechtlichen Regelungen niedergelegte Ideal in den Blick genommen werden als auch die Realisierungsversuche und die Aneignung des Gebäudes durch die Abgeordneten. Auf diese Art lässt sich zudem ein ergänzender Blick auf die politische Kultur des Kongresses gewinnen. Denn es wird davon ausgegangen, dass „politische Architektur nichts anderes als die Materialisierung von politischer Kultur“256 ist. Die Verfassung hatte – wie oben ausgeführt – festgelegt, dass die Sitzungen des Kongresses in einem eigens dafür vorgesehenen Gebäude in der Hauptstadt des Staates stattfinden sollten. Der Souverän sollte also einen festen, ständigen Sitz erhalten. Die Verfassungsväter hatten dann in der Geschäftsordnung weitergehend definiert, dass das Parlamentsgebäude den Namen „Palacio del congreso“ trägt. Diese Nomenklatur entstammte einer endogenen Tradition, sie hatte von europa-spanischer Seite her kein Vorbild. Schon vor der Unabhängigkeit wurden die Sitze der Ayuntamientos in Neu-Spanien als Paläste bezeichnet, während dies auf der anderen Seite des Atlantiks nicht der Fall war.257 Für die Parlamente tauchte der Begriff dann erst in den Geschäftsordnungen der mexikanischen Kongresse auf. Das Reglamento der spanischen Cortes von 1813 vergab in monarchischer Tradition die Bezeichnung Palast nur für die Sitze des Königshauses und an einer Stelle für den der Exekutive.258 Der Kongress Michoacáns bezeichnete dann lediglich das Parlamentsgebäude als Palast und ordnete es insofern von der Nomenklatur deutlich den anderen Gewalten über. So firmierte der Sitz des Gouverneurs beziehungsweise seines Stellvertreters schlicht als „Haus“ 259 , die anderen Einrichtungen erhielten keine besondere Bezeichnung. Gleichzeitig verdeutlicht sich auch in der Architektur die den Institutionen im politischen System von den Abgeordneten zugedachte Stellung. Der Kongress Michoacáns setzte seinen Standort von den Amtssitzen der anderen
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erbaute United States Capitol sind als prominente Ausnahmen von der Regel zu bezeichnen. Der gesamt-mexikanische Kongress tagte ab 1822 zunächst in der Kirche San Pedro y San Pablo, später dann im Palacio Nacional, dem ehemaligen vizeköniglichen Palast. Reinhard: Anthropologie, S. 17. Herrn Horst Pietschmann danke ich für diesen Verweis auf die Tradition. In Artikel I des Reglamento von Cádiz heißt es für die Cortes lediglich: „Es wird ein Gebäude zum Abhalten der Sitzungen geben“. Vom Palacio del gobierno ist in Art. 158 die Rede. Vgl. bspw. Sitzung vom 04.08.1830 (c. 11, e. 3); Geheimsitzung vom 15.12.1831 (c. 16, s./e. 2); oder die Selbstbezeichnung in den Ausführungsbestimmungen zum Schwur auf die Verfassung: Orden (03.12.1825) / Art. 2, in: RdL, II, S. 44.
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Gewalten deutlich ab. Das noch heute bestehende Gebäude des Kollegs der 1767 vertriebenen Jesuiten, der so genannte Palacio Clavijero, ist ein monumentaler, zweigeschossiger Barockbau mit einem großen Innenhof aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Er steht im Zentrum der Stadt, allerdings nicht direkt am Hauptplatz (Nr. 34 in der folgenden Karte). Zwar erhielt der Kongress keinen repräsentativen Neubau wie in England oder in den USA, er ordnete sich aber wie diese sowohl von der Nomenklatur als auch architektonisch der Exekutive und den anderen staatlichen Einrichtungen über. Stadtplan von Valladolid (um 1800)
Quelle: Chowning: Wealth, S. 18.260
Von der nicht einfachen (städtebaulichen) Etablierung der neuen Institutionen zeugen die diesbezüglichen Anstrengungen. Vor dem Bezug des Gebäudes hatte die Volksvertretung (mindestens) zweimal ihren ordentlichen Sitzungsort ändern müssen. Zweimal war sie zunächst Gast: Nachdem die Diputación provincial im Februar 1822 zunächst in einem Saal des Bischofspalastes getagt hatte261, eröffnete die Konstituante gut zwei Jahre später in der großen Aula des Colegio seminario. 262 Bald darauf muss allerdings schon der endgültige Sitz des Kongresses auserkoren worden sein: Als Ende Juni 1824 der Kongress den Gouverneur aufforderte, den Präsidenten der Föderation zu bitten, ihm das 260 Copyright 1999 erteilt vom Board of Trustees of the Leland Stanford Jr. University. 261 Später ist von einem eigens eingerichteten Sitzungssaal und einem Sekretariat die Rede; vgl. Sitzungen vom 01.02. bzw. 31.05.1822, in: ADPM, S. 13 bzw. 59. 262 Vgl. Sitzung vom 06.04.1824, in: AyD, I, S. 3.
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Gebäude kostenlos zu übergeben, hatte er in Erwartung einer positiven Antwort bereits „ansehnliche Ausgaben“263 für den Umbau getätigt. Am 20. August verkündete der mit der Aufsicht des Umbaus beauftragte, im Sekretariat des Kongresses angestellte Francisco Aragón – ein späterer Abgeordneter –, dass ab dem folgenden Mittwoch der „Palacio nacional“ in einem sitzungstauglichen Zustand sei. Der Kongress beschloss daraufhin, dass das Sekretariat samt „Archiv und anderen Utensilien“264 den Umzug bis dahin bewerkstelligen sollte. Der Umzug des Kongresses in „seinen Palast“265 wurde dann am 25. August mit zwei nicht überlieferten Reden gefeiert. Allerdings entzündete sich an den Besitzrechten an dem Gebäude ein intensiv geführter Konflikt mit dem Domkapitel, der sich zu einem weiteren Grundsatzkonflikt über die Anerkennung des neuen Staates seitens der Kirche entwickelte: Der Cabildo hatte einen Anbau des Gebäudes dem Orden der Teresas übergeben und damit die Besitzrechte für sich reklamiert, was von einer knappen Mehrheit des Kongresses 1825 als „böse Absicht“266 bezeichnet wurde. Der Kongress sah sich durch die Abgabe des Gebäudeteiles nicht in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt,267 er wollte in diesem Konflikt vielmehr grundsätzlich die Anerkennung seiner Souveränität durchsetzen – hier auf städtebaulicher Ebene. Zur Position der Kirche bekannte sich vor allem wieder Lloreda, der davon ausging, dass der König dem Bischof das Gebäude nach der Jesuitenvertreibung (1767) geschenkt habe. Dies bestritt besonders heftig Huarte: „Der König hatte nicht das Recht, Fincas der Nation zu veräußern“ 268 . In diesem Sinne sei der Kongress der rechtmäßige Eigentümer, da ihm das Gebäude von der Föderation überlassen worden war. Der Konflikt schien erst mit einem Schreiben der föderalen Regierung beigelegt, das besagte, dass der Gebäudekomplex dem Kongress gehöre.269 263 Geheimsitzung vom 27.06.1824, in: AyD, I, S. 111. Ein erster, zunächst auch angenommener Entwurf der Geschäftsordnung intendierte die Festschreibung dieses Gebäudes als Sitzungsort; später wurde dies verworfen; vgl. Sitzung vom 04.09.1824, in: AyD, I, S. 254. 264 Außerordentliche Sitzung vom 20.08.1824, in: AyD, I, S. 230. 265 Sitzung vom 25.08.1824, in: AyD, I, S. 234. 266 Vgl. Geheimsitzung vom 04.03.1825, in: AyD, II, S. 161-165, Zitat S. 163. 267 Dies geht daraus hervor, dass Jiménez und Paulín vorschlugen, der Kongress solle den gleichen Gebäudeteil den Teresas schenken – er brauchte ihn also nicht. Durch diesen Zug geriete das Domkapitel in Zugzwang und müsste sich klar positionieren, worauf man dann entsprechend reagieren könnte. 268 Geheimsitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 40. Vgl. die anhaltenden Diskussionen in: Geheimsitzungen vom 30.12.1824, in: AyD, I, S. 509; Geheimsitzungen vom 08.01., 13.01., 01.02., 05.02., 21.02., 03.03. bzw. 04.03.1825, in: AyD, II, S. 22-25, 39-41, 80, 9092, 125f., 156 bzw. 161-165. 269 Geheimsitzung vom 17.03.1825, in: AyD, II, S. 191.
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Über Arbeiten am äußeren Aussehen des Gebäudes, also über eine aktive Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes, ist fast nichts überliefert. Im Herbst 1829 hieß es lediglich, dass der Kongress die Fortsetzung der Ausbesserung der dorthin führenden, nahezu „unbegehbaren“ Straße beim Ayuntamiento in Auftrag gab. Ohne diese Arbeiten stünden die umliegenden Gebäude durch die „Feuchtigkeit vor dem baldigen Ruin“270 . Der Kongress bewilligte lediglich vor Festtagen wie dem Schwur auf die Verfassung, dem Antritt des Gouverneurs und immer wieder für die Feiern des 16. Septembers die Beleuchtung der Außenfassade, nur dann wurde das Kongressgebäude nach außen in Szene gesetzt. Die anfängliche Idee, „dass alle Gewalten unter dem gleichen Dach und in einem Gebäude versammelt“ werden sollten, war früh gescheitert, da der Kauf eines entsprechend großen Hauses am Hauptplatz gegenüber der Kathedrale und neben dem Colegio seminario wahrscheinlich wegen Kaufpreisdifferenzen und unklaren Eigentumsverhältnissen nicht gelungen war. 271 Nicht nur der Exekutive mit ihrem „Haus“, über dessen Lage und äußere Beschaffenheit allerdings nichts bekannt ist, schrieb der Kongress eine nach geordnete Rolle zu, sondern auch, und zwar noch deutlicher, der judikativen Gewalt. Damit unterstrichen sie deren schon in der Verfassung festgehaltene Position. So hatte die zuerst ins Leben gerufene Audiencia im August 1824 zunächst keinen eigenen Sitz und tagte im Plenarsaal des Kongresses, kurze Zeit später wurde sie – quasi als die Kongresssitzungen störende Verfügungsmasse – dann in einen anderen Raum innerhalb des Palacio del congreso verlegt.272 Bezüglich des Supremo tribunal de justicia hieß es von Seiten des Regierungssprechers im Jahr seiner Gründung, 1827, der Kongress habe ihm einen relativ kleinen, schlecht ausgestatteten, nach geordneten Saal innerhalb des Kongressgebäudes „überlassen“273. Aus Debatten geht hervor, dass dieser Raum sogar noch kleiner war als der für die Kommissionen des Parlamentes vorgesehene, dass er über kaum geeignetes Mobiliar verfügte und außerdem, dass die Gerichte keinen eigenen Raum für das Sekretariat besaßen. Der Umzug in ein eigenes Gebäude mit eigener Infrastruktur war wohl erst Mitte 1829 abgeschlossen. 274 Auch der Consejo del gobierno, der 270 Außerordentliche Geheimsitzung vom 15.09.1829 (c. 12, e. 1). Vgl. auch Geheimsitzungen vom 28.09. u. 05.11.1829 (c. 12, e. 1); Sitzungen Nr. 52 u. 55 vom 10. u. 14.10.1829 (c. 11, e. 1). 271 Vgl. Sitzung Nr. 18 vom 31.08.1827 (c. 5, e. 2); vgl. auch: Sitzung Nr. 19 vom 01.09.1827 (c. 5, e. 2). 272 Vgl. Außerordentliche Sitzung vom 20.08.1824, in: AyD, I, S. 230. 273 Sitzung vom 22.03.1827 (c. 5, e. 2). 274 Erst im Sommer 1828 ist für die obersten Gerichte von der Möblierung eigener Säle und Räume mit „Baldachin, Tischen, Stühlen und Teppich“ (Sitzung Nr. 93 vom 07.06.1828 (c. 8, e. 1)) beziehungsweise von der Anmietung eines Hauses die Rede. Die Regierung
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Regierungsrat, besaß zunächst kein eigenes Gebäude. So ist 1827 davon die Rede, dass die Consejeros „lächerlicherweise in einem Salon der [Tabak-]Faktorei untergebracht“ sind, weswegen „der Staat Bedarf an einem Gebäude hat“275. Freilich drückte sich die in der Verfassung angelegte Eigenständigkeit des Consejo gegenüber dem Gouverneur auch darin aus, dass ihm dann ein eigener Sitz zugestanden wurde. 1828, erhielt er angemessene Räume. 276 Auch für andere neue staatliche Institutionen sind Schwierigkeiten bei der Raumsuche überliefert.277 Vier Jahre nach Verabschiedung der Konstitution, also 1829, waren die Institutionen des Staates architektonisch in der Stadt etabliert. Die erheblichen Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten ab lagen weniger an einem Mangel an solchen Räumen – Valladolid war im Bürgerkrieg ja relativ verschont geblieben 278 , so dass Neubauten kaum als notwendig beziehungsweise als möglich erschienen. Vielmehr gab es Probleme mit den Kosten beziehungsweise mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen. Nicht zuletzt wurde damit aber auch die den Institutionen beigemessene Bedeutung deutlich: Der Kongress erhielt sehr schnell einen pompösen Bau im Zentrum der Stadt.
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wurde er-mächtigt, für die Ausstattung 1.374 Pesos auszugeben; abgeschlossen scheinen die Arbeiten erst ein Jahr später gewesen zu sein, eine weitere Rechnung über gut 100 Pesos für Mobiliar wird im Juni 1829 erwähnt: vgl. Sitzungen Nr. 91 u. 93 vom 03. u. 07.06.1828 (c. 8, e. 1); Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1); Sitzung vom 11.06.1829 (c. 10, e. 2). Noch im Oktober 1827 hatte Peguero einen Antrag zurückgezogen, in dem das Supremo tribunal auf-gefordert werden sollte, die Stühle des Sitzungssaals zurückzugeben; vgl. Geheimsitzung vom 20.10.1827 (c. 12, e. 1). Kurz vorher war entschieden worden, diese Stühle nicht an die Junta patriótica zu verleihen – ob dies ein Zeichen für die Knappheit des Mobiliars oder für die Besonderheit der kongresseigenen Stühle war, wird nicht deutlich; vgl. Geheimsitzungen vom 12. u. 13.09.1827 (c. 12, e. 1). Sitzung Nr. 5 vom 11.08.1827 (c. 5, e. 2). Laut eigener Geschäftsordnung von 1828 sollte sein Sitzungssaal ähnlich ausgestattet werden wie der des Kongresses, über dessen Inneneinrichtung gleich zu sprechen sein wird: Das Reglamento spricht von einem Baldachin, von Stühlen, einem Wappen und einem Guadalupe-Bild und von Bänken für Zuschauer; auf einem Tisch sollten die Verfassungen und die Dekrete der Föderation und des Staates liegen; vgl. Reglamento para el gobierno interior del consejo (21.08.1828) / Art. 2-5, in: RdL, III, S. 83. Unter anderem führte das dazu, dass die Verwaltung der Alcabala im Privathaus seines Direktors untergebracht war; vgl. Sitzung Nr. 103 vom 24.08.1826 (c. 4, e. 2). Auch für andere Amtsträger des Staates wurden Mieten für die jeweiligen Amtssitze bewilligt; vgl. für den Generalschatzmeister und die Verwaltung des Kirchenzehnts: Sitzung Nr. 112 vom 13.09.1826 (c. 4, e. 2); Geheimsitzung vom 20.03.1827 (c. 2, e. 6); auch außerhalb der Hauptstadt, bspw. für die Steuerverwaltung in Piedad, beanspruchte die Regierung Gebäude für ihre Angestellten; vgl. Sitzung Nr. 43 vom 30.09.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. die Beschreibung Valladolids bei Hardy: Travels, S. 40ff.
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Das Innere des Kongressgebäudes sollte laut Geschäftsordnung „mit der angemessenen Annehmlichkeit die für seine Verhandlungen notwendigen Säle“ umfassen, und zusätzlich Räume „für seine Kommissionen, für die Erholung der Abgeordneten, das Sekretariat und die Bibliothek“ besitzen. Da zur Innenarchitektur mehr Material vorliegt, sind hier spezifischere Aussagen über die Inszenierung und über das Verhältnis von Repräsentation und Funktionalität möglich als bei der äußeren Erscheinung. Ein erster, in diesem Punkt stärker an der Geschäftsordnung des Föderalkongresses orientierter Entwurf hatte zunächst auch eine eigene Kapelle und Schatzkammer vorgesehen, was aber unbegründet gestrichen worden war. 279 Insbesondere die Streichung der Kapelle scheint angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Gebäude um eine ehemals religiös genutzte Einrichtung handelte, bedeutsam: Der funktionale Gebrauch sollte im Vordergrund stehen – die folgenden Diskussionen werden dies belegen. Die Tatsache, über wie viele Räume der Kongress während des betrachteten Zeitraums tatsächlich verfügte, ließ sich leider nicht genau eruieren, sie finden in den Protokollen lediglich in ihrem Funktionszusammenhang beziehungsweise im Kontext ihrer Ausstattung Erwähnung. Neben dem Plenarsaal ist vor allem vom Sekretariat und dem Saal für die Arbeit der Kommissionen die Rede, in den sich die Abgeordneten immer wieder zu Verhandlungen zurückzogen. 280 Verbürgt ist zudem ein Erholungsraum, der allerdings auf Grund seiner Feuchtigkeit „sehr ungesund“ war, und ein Zimmer für den Offizier der Kongresswache, das „sehr weit entfernt war vom Saal der Kommissionen“281. Ob es sich bei dem schon erwähnten Geheimarchiv um einen eigenen Raum handelte, wird nicht ersichtlich. Auch ist es zunächst eher fraglich, ob die Bibliothek als eigener Raum errichtet wurde: Als Navarro 1826 die Anschaffung von Rechts- beziehungsweise Gesetzeswerken „für die bessere und exaktere Erledigung der Kommissionen“ betrieb, sollten diese „im Sekretariat verbleiben“282. Die Anschaffung weiterer Bücher und Regale könnten allerdings auf die Einrichtung eines Bibliotheksraumes hinweisen. Im nächsten Jahr forderte der amtierende 279 Vgl. Sitzung vom 05.07.1825, in: AyD, II, S. 373f. 280 Vgl. Sitzung Nr. 11 vom 20.08.1827 (c. 5, e. 2); Geheimsitzung vom 20.10.1827 (c. 12, e.1); Geheimsitzung vom 06.09.1830 (c. 12, e. 1); Sitzung Nr. 69 vom 27.10.1830 (c. 12, e. 2); Sitzung Nr. 26 vom 19.09.1832 (c. 17 , e. 1). 281 Sitzung vom 22.03.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. auch Sitzung Nr. 6 vom 13.08.1830 (c. 11, e. 3). 282 Sitzung Nr. 105 vom 28.08.1826 (c. 4, e. 2). Er forderte nachfolgende Rechts- bzw. Gesetzeswerke: Den Codigo de las partidas, die Recopilación de Indias y España, das Cuerpo del derecho canónico, die Kollektion der Dekrete der Cortes und die der Föderation sowie das Standardwörterbuch Diccionario de la lengua castellana. Wenige Tage später wurde noch die Ordenanza de intendentes y minería auf die Liste gesetzt und die Recopilación nueva durch die Novísima ersetzt; vgl. Sitzung Nr. 110 vom 09.09.1826 (c. 4, e. 2).
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Präsident weitere Bücher: Sie seien „sehr förderlich für den Erfolg der Kommissionen“283 und umfassten diesmal über den juristischen Bereich hinaus ein wesentlich größeres Spektrum zur Information der Gesetzgeber. Allerdings wurde wegen der Finanzlage zunächst nur dem Kauf eines kleinen Anteils stattgegeben. 284 Von einer Bestellung von 100 Exemplaren der Statistik von Lejarza 1824 dürfte vermutlich eines im Kongress verblieben sein, 1825 ist die Rede davon, dass eine Karte von Mexiko und Mittelamerika des Geographen „Mr. Bruce“ in London gekauft worden war. 285 Ende September 1829 befürwortete der Kongress die Anschaffung von zwei Exemplaren der Historia Mexicana von Carlos María Bustamante für 100 Pesos, da es „immer so sei, dass die gebildeten Nationen ihre Historiker mit dauernden Pensionen unterstützen“ und da es „sehr nützlich und gerecht sei, die Historiker zu beschützen“286. Kurz darauf forderte Domínguez die Anschaffung neuer Regale, da die bisherigen mit Büchern überfüllt waren, außerdem Extraregale für die Kommissionen mit verschließbaren Türen, „damit auf diese Weise alle Papiere sicherer sind“287. 1829 ist dann von einer eigenen Bibliothek und von einem eigenen Finanztopf für die Anschaffung von Büchern die Rede.288 Über die Inneneinrichtung dieser Räume war nichts in der Geschäftsordnung geregelt worden. Das sticht vor allem in der Kontrastierung mit dem gleich zu behandelnden Plenarsaal hervor und lässt darauf schließen, dass deren Ausgestaltung den funktionalen Anforderungen der parlamentarischen Praxis überlassen bleiben sollte, was ja dann auch so geschah. Die oben zitierte „angemessene Annehmlichkeit“ der Räume, also die Schaffung guter Arbeitsmöglichkeiten, stand hier im Mittelpunkt.289 283 Sitzung Nr. 8 vom 16.08.1827 (c. 5, e. 2). Das Spektrum reichte von Werken der Kriminalistik (Práctica criminal von Colón oder von Gutierrez), der Ökonomie (Elementos de Hacienda von Canga Argüelles, Informes sobre ley agraria von Jovellanos sowie „ein Werk mit bestem Ruf über Landwirtschaft, Gewerbe, Handel und öffentliche Bildung“), über Geschichte (Conquista de Nueva España von Clavijero), hin zu Werken von „zwei Publizisten und Wirtschaftsfachmännern des besten Rufs“ sowie die von Humboldt und Pradt. 284 Allerdings sollten erst nur die Ordenanzas militares von Colón und die Bücher des Vorjahres gekauft werden; vgl. Sitzung Nr. 13 vom 22.08.1827 (c. 5, e. 2). 285 Vgl. Sitzungen vom 01.06. bzw. 23.12.1824, in: AyD, I, S. 70 bzw. 495f.; Sitzung vom 02.12.1825 (c. 2, e. 10). 286 Sitzung Nr. 39 vom 27.09.1827 (c. 5, e. 3). Schon die Constituyente hatte Bustamante bei der Erstellung seines bis heute als Klassiker geltenden Werkes mit Informationen zu Morelos unterstützt; vgl. Sitzungen vom 16. u. 18.12.1824 bzw. 09.02.1825, in: AyD, I bzw. II, S. 473, 487 bzw. 100 u. 103. 287 Geheimsitzung vom 08.10.1827 (c. 12, e. 1). 288 Geheimsitzung vom 27.04.1929 (c. 12, e. 1); Sitzung vom 29.05.1829 (c. 10, e. 2), wo der scheidende Präsident dem neuen gut 170 Pesos für den Kauf von Büchern überreicht. 289 Anders als etwa das bayerische Parlament im Vormärz schien man in Mich-oacán keine Platzprobleme zu haben; vgl. Götschmann: Parlamentarismus, S. 153 u. 884f.
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Auch für den Plenarsaal – nach Werner Patzelt „zweifellos“ „das Symbolzentrum eines Parlamentes“290 – schrieb die Geschäftsordnung Funktionalität als erstes Kriterium vor: „Der Sitzungssaal“ sollte „auf eine Weise eingerichtet sein, dass die Abgeordneten in ihren Sitzen angenehm“ 291 saßen. An dieser Anordnung lässt sich verdeutlichen, dass die „Dingfunktion der Architektur“, durch die die „Bedürfnisse politischer Eliten befriedigt“ werden, nicht von der die „Werte und Normen“ vermittelnden „Symbolfunktion“ 292 zu trennen ist: Auch Präferenzen für Funktionalität haben symbolische Wirkung, eben die, dass die Parlamentarier großen Wert auf gute Arbeitsbedingungen legten. Funktional-symbolischen Wert hatten auch die mehrfachen Hinweise darauf, dass architektonisch eine gute Akustik nach innen, vor allem aber nach außen gewährleistet werden sollte: Die Sitze der Abgeordneten sollen so aufgestellt werden, dass sie „untereinander, wie auch von den Zuschauern gehört werden können“293, die Sitze für die Zuschauer so, „dass sie die Diskussionen leicht hören“ konnten. Am „für die Abgeordneten vorgesehenen Platz“ waren „ein oder zwei Lesepulte oder Tribünen [aufzustellen], von denen die Sekretäre von allem, was vorfällt, Kenntnis erhalten“. Die „Abgeordneten, die wollen“ 294 , konnten von dort aus sprechen.295 Auch für die Redakteure und Stenographen – auf sie wird noch einzugehen sein – war „im Saal ein angenehmer Ort“296 einzurichten, von dem aus sie mit „Annehmlichkeit hören können“ 297 . Ein erster Vorschlag für diesen Artikel hatte die Aufstellung der Tribünen erst für den Fall vorgesehen, „wenn die Erfahrung zeigt, dass das Vorlesen der Sekretäre von ihren Sitzen nicht mit Klarheit von den Zuschauern wahrgenommen wird“ 298 . Ob sich die Änderung des Artikels bereits auf entsprechende Erfahrungen berief, ist nicht nachvollziehbar. Der Saal war also in mehrfacher Weise auf Kommunikationstauglichkeit ausgelegt. Eine ähnlich symbolisch-funktionale Doppelfunktion hatte ein Antrag, man möge zur Benachrichtigung des Publikums „täglich an der Tür des Palacio del 290 Patzelt: Symbolizität, S. 624. 291 Reglamento (21.07.1825) / Art. 21, in: RdL, II, S. 7. 292 Reinhard: Anthropologie, S. 19. Ähnlich Cullen: Parlamentsbauten, S. 1845f., der zwischen „Repräsentation“ und „Zweckmäßigkeit“ unterscheidet und den Konflikt zwischen diesen beiden Parametern als so alt wie die Geschichte der Parlamentsbauten selbst sieht. 293 Reglamento (21.07.1825) / Art. 21, in: RdL, II, S. 7. 294 Reglamento (21.07.1825) / Art. 25f., in: RdL, II, S. 8. 295 Ein Hinweis auf den Bau der Tribünen findet sich kurze Zeit später, als González Geld für deren Konstruktion beantragt; vgl. Geheimsitzung vom 17.08.1825 (c. 2, e. 6). 296 Reglamento (21.07.1825) / Art. 27, in: RdL, II, S. 8. 297 Reglamento (21.07.1825) / Art. 68, in: RdL, II, S. 16. 298 Sitzung vom 13.09.1824, in: AyD, I, S. 269.
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congreso eine Liste der Angelegenheiten ... für die Diskussion“299 befestigen oder auch der Beschluss, „andere Teppiche für den Sitzungssaal [zu kaufen], die von der besten Qualität sein sollen, die im Staat hergestellt wird“300. Dieser Auftrag hatte gar eine doppelte Symbolfunktion: Zum einen sollte ausdrücklich ein Produkt des Landes gekauft werden, zum anderen sollte dieses „von bester Qualität“ sein – der Preis schien zweitrangig: „Das Material gewinnt ... seinerseits symbolische Bedeutung. Es unterstreicht die Würde und die Macht des Auftraggebers“301. Ähnlich scheint der Fall bei der Anschaffung einer neuen Uhr für den Sitzungssaal „im Wert von bis zu 200 Pesos“302 zu liegen – die alte sollte im Gegenzug verkauft werden. Der Wert der Uhr entsprach damit fast dem dreifachen, oben zitierten, von Juan Gómez de la Puente angenommenen Jahreseinkommen (70 Pesos) vieler Menschen in Michoacán. Wie an den vorangehenden Manifestationen – sei es in der Geschäftsordnung oder in den Protokollen – schon erkennbar geworden ist, trug auch in Michoacán der Plenarsaal „eine Hauptlast parlamentarischer Selbstsymbolisierung“ 303 . Neben die Präsentation als Arbeitsgremium mit Funktionalitätsund Öffentlichkeitsanspruch trat die Wertevermittlung bei der Ausstattung mit zunächst wenig funktional erscheinenden Gegenständen: Auf dem Tisch des Parlamentspräsidenten sollte nicht nur das Reglamento, das Buch mit den Protokollen des Kongresses, die Sammlung aller Dekrete der Föderation und des Staates, die Listen mit der Besetzung und den jeweiligen Arbeitsschwerpunkten der Kommissionen sowie „weitere notwendige Dokumente“ liegen. Neben diesen, für die Geschäftsführung als sinnvoll erachteten Gegenständen sollte auf dem Tisch zum einen ein ausdrücklich „auffällig eingebundenes Buch, das die Acta constitutiva, die Constitución federal und die [Verfassung] des Staates“ 304 umfasste, liegen: Die Verfassungstexte erhielten also eine herausgehobene Stellung. Von besonderer symbolischer Aussagekraft ist zudem, dass ein „kleines Kruzifix“ erst nach zweimaligem Unentschieden und einer Vertagung mit auf die Liste der aufzustellenden Gegenstände gelangt ist. Dieser Aspekt hatte „eine lange Diskussion darüber ausgelöst, ob das Bild unseres Herren Jesucristu auf dem Tisch oder an einem anderen Ort“ 305 299 Sitzung Nr. 32 vom 18.09.1827 (c. 5, e. 3). 300 Geheimsitzung vom 19.10.1829 (c. 12, e. 1). Vgl. den Antrag: Geheimsitzung vom 15.10.1829 (c. 12, e. 1). 301 Roeck: Wahrnehmung, S. 534. 302 Geheimsitzung vom 19.11.1829 (c. 12, e. 1). 303 Patzelt: Symbolizität, S. 624. 304 Reglamento (21.07.1825) / Art. 23, in: RdL, II, S. 7. Ausdrücklich geschah dies insofern, da in einem ersten Entwurf von diesem Einband noch nicht die Rede ist, also erst hinzugesetzt wurde; vgl. Sitzung vom 09.09.1824, in: AyD, I, S. 262. 305 Sitzungen vom 09.09. bzw. 13.09.1824, in: AyD, I, S. 262f. bzw. 269, Zitat S. 262.
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platziert werden sollte. Es bleibt lediglich zu vermuten, dass dies als Widerspruch zur Funktionalität des Arbeitsbereiches des Präsidenten empfunden wurde. Dass ein Kruzifix im Plenarsaal vorhanden sein sollte, stand aber wohl ebenso wenig zur Debatte wie das Aufhängen eines Bildes der Jungfrau von Guadalupe an der Wand.306 In der ersten Fassung des Artikels hieß es, dass man im gleichen Zuge die Guadalupe zur Patronin des Kongresses erklären könne. Ohne Angabe von Gründen strich der Kongress diesen Zusatz und ersetzte ihn durch „Patronin der Nation“307. Aber auch säkulare Symbole sollten den Kongress schmücken. Sie unterstreichen die im Abschnitt über die Nationsvorstellung getroffenen Aussagen über die föderative Nation: Auf die andere Stirnseite des Plenarsaales sollte das Wappen des Staates – und ausdrücklich nicht das der Föderation – gehängt werden.308 Die Gestaltung der Fassade des Plenarsaales vervollständigt haben Bilder mit Landschaftsmalereien des damals offensichtlich bekannten Malers Manuel Ravia.309 An eine Frontseite des Saales für die Kommissionssitzungen platzierte der Kongress ein von Carlos María Bustamante vermachtes Bild des Unabhängigkeitshelden Morelos.310 Auch die Diskussion über die Aufstellung der Bestuhlung hatte symbolische Funktion: Zunächst hatten die Abgeordneten beschlossen, der Parlamentspräsident solle auf dem Podest seinen dauerhaften Sitz haben. Der Zusatz, dass er dort nur an den Tagen der Etikette unter dem Baldachin zu sitzen hatte, fußte auf einer späteren Entscheidung.311 Auch die Zuschauerränge hätten laut ersten Überlegungen zunächst eine interne Unterteilung haben sollen, was aber bezeichnenderweise schließlich verworfen wurde: So hatte der erste Vorschlag eine „Extra-Bank [banca distinguida] mit schicklicher Decke“ 312 vorgesehen, und zwar für die Abgeordneten des Generalkongresses, der anderen Staaten 306 Hier wurde bei der Diskussion der Geschäftsordnung der Ort von der dem Eingang gegenüberliegenden Seite hin zur Stirnseite des Saals verlagert – wohl dem Umstand geschuldet, dass ein solches Bild dort bereits existierte. 307 Vgl. Sitzungen vom 13.09.1824 bzw. 05.07.1825, in: AyD, I bzw. II, S. 269 bzw. 374, Zitat S. 374; Reglamento (21.07.1825) / Art. 24, in: RdL, II, S. 7f. Den hohen Stellenwert, den die Guadalupe zu diesem Zeitpunkt in Michoacán besaß, äußerte sich auch in der test-amentarischen Überlassung eines Guadalupe-Bildes des verstorbenen Abgeordneten Lejarza an das Sekretariat des Kongresses; vgl. Sitzung vom 09.10.1824, in: AyD, I, S. 318. 308 Sitzungen vom 13.09.1824 bzw. 05.07.1825, in: AyD, I bzw. II, S. 269 bzw. 374. 309 Vgl. Geheimsitzung vom 20.04.1825, in: AyD, II, S. 248f. 310 Vgl. Sitzung vom 09.02.1825, in: AyD, II, S. 100f. Zum Vergleich: Im Oktober 1829 erhielt der Kongress eine Druckschrift aus Tamaulipas, dass dort die Namen von zwei Wohlverdienten des Staates „mit Buchstaben aus Gold in den Saal jenes Kongresses geschrieben werden“ (Sitzung Nr. 60 vom 20.10.1829 (c. 11, e. 1)). 311 Vgl. den zugestimmten Entwurf in: Sitzung vom 04.09.1824, in: AyD, I, S. 254. 312 Sitzung vom 13.09.1824, in: AyD, I, S. 269.
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und für deren sowie für die eigenen Ex-Deputierten. Der zweite Vorschlag veranschlagte gar zwei zusätzliche Galerien, die erste für Politiker sowie für weitere Würdenträger und die zweite für Frauen wegen der „geschuldeten Trennung“ 313 . Gegenüber vorherigen Geschäftsordnungen war dies ein großer Schritt: Cádiz hatte Frauen den Zutritt noch gänzlich verboten, auch das föderale Reglamento von 1823 sah für die Galerien vor, dass „für jetzt und bis es auf andere Art konstruiert werden kann, den Frauen der Eintritt zu ihnen verboten wird“314. Sie folgten damit einer Forderung Benthams. Nach diesem „hat sich herausgestellt, daß ihre Anwesenheit den Verhandlungen eine bestimmte Wendung verlieh, daß Selbstverliebtheit eine zu große Rolle spielte, daß die Persönlichkeiten sehr viel lebhafter wurden und zuviel der Eitelkeit und dem Witz geopfert wurde“ 315 . In der endgültigen Fassung der MichoacánGeschäftsordnung fanden Frauen keine separate Erwähnung. Die Unterteilung in unterschiedliche Klassen von Zuschauern fiel – wie auch in den beiden eben erwähnten Ordnungen – ebenso heraus. 316 Die fehlende Sonderbehandlung könnte als weiterer Hinweis auf das Fehlen entsprechender Zuschauergruppen gedeutet werden. Ein späteres, oben schon zitiertes Dekret sah allerdings doch eine Distinktion vor: Die Bänke für das Ayuntamiento wurden demnach „mit Vorhängen geschmückt“317. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das äußere Erscheinungsbild des Kongressgebäudes dessen Souveränitätsverständnis gut widerspiegelte: Die oberste Gewalt hatte in einem der herausragenden Bauwerke der Hauptstadt ihren dauernden Sitz. Wie ein Monarch residierte der Kongress in seinem „Palast“. Die in der Verfassung postulierte Suprematie über die anderen Gewalten drückte sich somit auch von der Nomenklatur und architektonisch aus. Außerdem schien das Gebäude nur bei besonderen Anlässen durch Beleuchtung aktiv in Szene gesetzt werden zu müssen. Dies lässt sich analog zu dem Verbot des mittelbaren Auftritts des Gesamtkongresses in die Öffentlichkeit lesen. Der Kongress konnte zwar durch die Öffentlichkeit aufgesucht werden, zumindest bei den dafür vorgesehenen Sitzungen, aber nicht selbst auftreten.
313 Sitzung vom 05.07.1825, in: AyD, II, S. 375. 314 Dekret Nr. 327 (Reglamento del soberano congreso, 25.04.1823) / Art. 11, in: LM. Vgl. zu Cádiz: Reglamento von Cádiz, Art. 7. 315 Zitiert nach und übersetzt von Hofmann / Riescher: Einführung, S. 108. 316 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 25, in: RdL, II, S. 8. 317 Dekret Nr. 18 (21.08.1824), in: RdL, I, S. 31.
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Der architektonische Auftritt des Kongresses unterstreicht das Bild des in sich ruhenden, souveränen Vaters aus der Eingangsmetapher, des im Palast residierenden Monarchen überzeugend. Die Innenarchitektur hingegen war einerseits stark an der Arbeitstauglichkeit orientiert, worin sich wieder das Muster der zwei Körper des Kongresses erkennen lässt, nach dem Motto: nach innen Funktionalität, nach außen Repräsentation der Souveränität. Auf der anderen Seite legten die Abgeordneten vor allem bei der Gestaltung des Symbolzentrums Plenarsaal viel Wert auf den Transport von Werten wie Katholizismus und Patriotismus, aber auch auf die Kommunikationsfähigkeit. Auch beim architektonischen Auftritt hatte der Kongress somit zwei Körper.
IV. Die schriftliche Inszenierung des Kongresses Nachdem somit sowohl die persönlich-unmittelbare als auch die architektonisch-mittelbare Präsentation stark der Metapher des in sich ruhenden, souveränen Vaters entsprachen, scheint der schriftliche Auftritt als die primäre Form der Kommunikation mit der Außenwelt übrig zu bleiben. Diese schriftlichmedialisierte Inszenierung des Kongresses soll hier abschließend untersucht werden. Der in der Vater-Metapher steckende Widerspruch zwischen der in sich ruhenden, von der Welt der Kinder abgehobenen Souveränität und dem Anspruch, diesen Kindern die Welt, in der sie leben, zu erklären, steht dabei im Mittelpunkt: Trat der sich als institutionalisierte Souveränität begreifende Kongress mittels der Schrift aktiv nach außen auf und wenn ja, wie? Schriftliche Formen der Präsentation entsprechen in einem besonderen Maße dem Rationalitätsanspruch der aufgeklärt-liberalen Theorie und lassen sich in diesem Sinne von persönlich-subjektiven Kommunikationsformen abgrenzen. In der Medialisierung, und besonders in der Verschriftlichung, wurden nicht nur zentrale Voraussetzungen der Etablierung eines öffentlichen Raumes gesehen, sondern auch ein Grundmuster einer rationalisierten Modernisierung: So sollte das liberale Prinzip der Gesetzesherrschaft durchgesetzt werden. Über die Schrift war es demnach möglich, Formen der irrationalen, da persönlichsubjektiven Kommunikation zu ersetzen. Andererseits unterstreicht eine neuere Forschungsrichtung auch für Schriftstücke die Wirkung ihrer physischen Materialität, der Oberfläche: Demnach musste „Schrift ... durch das Ritual erst autorisiert und authentifiziert werden“318, ihre rein rationalisierte Betrachtung würde nach diesen Ansätzen zu kurz greifen. Schriftlichkeit hat zudem den für eine 318 Stollberg-Rilinger: Kommunikation, S. 516. Vgl. auch die in F III zitierten Werke.
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überlokal zu organisierende Gesellschaft immensen Vorteil der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung, ermöglicht also nach Jürgen Habermas eine „kontinuierliche Staatstätigkeit“ 319 . Schriftlichkeit machte Face-to-faceKommunikation immer weniger hinreichend und immer weniger erforderlich. Die Verfassung von Michoacán verpflichtete die Kongresse über die Publikationspflicht ihrer Gesetze ausdrücklich zum schriftlichen Auftritt in die Öffentlichkeit. Die Geschäftsordnung des Kongresses sprach außerdem in ihrem Artikel 67 von „Protokollen der Sitzungen des Congreso constitucional von Michoacán“, „die veröffentlicht werden müssen“. Im folgenden Kapitel werden insbesondere diese beiden zwei zentralen schriftlichen Präsentationsformen (Gesetze und Protokolle) – die zugleich wesentliche Grundlage der vorliegenden Arbeit sind – in den Blick genommen: Welche Erwartungen und Ziele verbanden die Abgeordneten mit ihrer schriftlichen Präsentation? Wie setzten sie sie gegenüber der Außenwelt in Szene? Galt diese Präsentation als weniger gefährlich als der mittelbare Auftritt? Miteinbezogen in diese Untersuchung werden die Diskussionen über die zentralen materiellen Voraussetzungen dieser Auftritte: das Papel sellado, wörtlich das „gestempelte Papier“, sowie das Presse-, Zeitungs- und Postwesen.
a.
Die Präsentation der Gesetze und der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur (Druckerei- und Postwesen)
Für die Publikation von Gesetzen sah die Verfassung in Verbindung mit der Geschäftsordnung vor, dass die Sekretäre des Kongresses je eine Kopie der vom Kongress verabschiedeten Entwürfe in ein dafür vorgesehenes Buch und zugleich an die Regierung zu übermitteln hatten. Sowohl die Sekretäre als auch der Präsident mussten die Texte unterzeichnen und sollten somit die Übereinstimmung mit dem parlamentarischen Entschluss garantieren. 320 Der Gesetzestext war für die Publikation gemäß Verfassung mit folgender Formel zu versehen: „Der verfassungsmäßige Kongress des Staates von Michoacán dekretiert (hier der Text) Der Gouverneur des Staates möge verfügen, dass es publiziert, verteilt und beachtet wird“ 321 . Der Gouverneur, dessen primäre konstitutionelle Aufgabe nach Artikel 73/1 ja die Verbreitung und die Umsetzung der Gesetze sowie die Überwachung ihrer Einhaltung darstellte, hatte sie dann „mit folgender Formel“ zu publizieren: 319 Habermas: Strukturwandel, S. 30. 320 Vgl. Verfassung von Michoacán, Art. 46; Reglamento (21.07.1825) / Art. 44/6, in: RdL, II, S. 12. 321 Verfassung von Michoacán, Art. 46.
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„Der Gouverneur des Staates von Michoacán an alle seine Einwohner, wisset: Der Kongress des nämlichen Staates hat das, was folgt, dekretiert (hier der Text) Deswegen weise ich an, dass es gedruckt, veröffentlicht und zirkuliert wird, und dass man ihm die geschuldete Erfüllung gibt.“322
Damit sind die zentralen Schritte der Gesetzespublikation benannt: das Drukken und das Zirkulieren der Dekrete im Staat, wobei unter der Zirkulation sowohl die Verteilung im Staat als auch die eigentliche Publikation vor Ort gemeint waren. Die Diskussion über diese drei Schritte sollen im nächsten Kapitel vor dem Hintergrund der eben gestellten Fragen und unter Beachtung ihrer jeweiligen Infrastruktur untersucht werden. Zum besseren Verständnis der Begriffe „Gesetz [ley]“ und „Dekret [decreto]“ beziehungsweise „Beschluss [acuerdo]“ und „Anordnung [órden]“ sollen diese hier kurz erläutert werden: Alle vier Termini stellten im Sprachgebrauch des Kongresses Rechtsnormen dar. Die beiden ersten zeichneten sich dadurch aus, dass sie publiziert werden mussten und entsprechend einen allgemeinen Adressatenkreis ansprachen, während die beiden letzteren für konkrete Einzelpersonen und -institutionen galten. Sie waren direkt adressiert und konnten auch vom Gouverneur ausgestellt werden.323 Innerhalb dieser Gruppen ließen sich nach ihrer Anwendung im Sprach- und Schriftgebrauch keine Unterschiede ausmachen: Wie gesehen „dekretierte“ der Kongress sowohl Gesetze als auch Dekrete, ein Gesetz konnte mal als Ley, mal als Decreto bezeichnet werden. Dies überrascht insofern, als dass zur Zeit des Antiguo régimen zwischen den verschiedenen Typen von Rechtstexten genau unterschieden wurde, lässt aber darauf schließen, dass dies in Michoacán – und in Mexiko insgesamt – im Betrachtungszeitraum keine verbreitete Praxis mehr war: Auch in föderalen Gesetzen verwendete man, unter anderem in der Constitución federal, „Dekrete“ und „Gesetze“ häufig synonym. In Cádiz hatten die Abgeordneten hingegen noch formal eindeutig unterschieden: Leyes waren von den Cortes gemeinsam mit dem König verabschiedete Rechtsnormen, den Dekreten fehlte die königliche Sanktion. 324 Für die vorliegende Arbeit wurde die Synonymie Gesetze gleich Dekrete übernommen.
322 Verfassung von Michoacán, Art. 74/9. 323 Vgl. hierzu im Besonderen, dass es 1830 beispielsweise für Domínguez von großer Bedeutung war, dass ein Beschluss zurückgezogen wurde, einen Erlass des Kongresses nicht als Decreto, sondern als Acuerdo zu publizieren: Sitzung Nr. 54 vom 09.10.1830 (c. 11, e. 3); vgl. weitere ähnliche Unterscheidungen: Sitzung vom 09.01.1827 (c. 3, e. 6); Sitzung Nr. 41 vom 01.10.1828 (c. 9, e. 1); Sitzung Nr. 109 vom 26.07.1831 (c. 15, e. 2). 324 Vgl. Marcuello Benedicto: Cortes, S. 88f.; Garriga Acosta / Lorente Sariñena: Modelo, S. 595.
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Die eben zitierte, konstitutionell verankerte Publikationsformel Michoacáns sprach in Analogie zur föderalen Lösung „alle Einwohner“ an.325 Damit unterschied sie sich deutlich von ihren Vorläufern. Noch das erste in Michoacán verabschiedete, oben zitierte Dekret zur Bekanntmachung der Installation der Constituyente vom 6. April 1824 hatte folgende Formel aus Cádiz übernommen: Dieses Dekret war an „alle, die das vorliegende sehen und verstehen“326, adressiert. Die spätere Formel spiegelt somit wider, wie sich das Verständnis des Adressatenkreises erweiterte und sich aus korporativen und exklusiven Vorstellungen löste. Einerseits dehnte sie den Adressatenkreis aus: Alle und nicht nur die Verstehenden waren angesprochen. Andererseits schränkte sie ihn auf die Staatsbewohner ein, passte ihn also entsprechend dem territorialstaatlichen Souveränitätsanspruch dem Geltungsbereich der Gesetze an. Die Lösung aus korporativen Vorstellungen äußerte sich weiterhin darin, dass der Kongress in der ersten Publikationsformel noch der Exekutive aufgetragen hatte, das Dekret ausdrücklich an „alle Autoritäten und Korporationen“ zu schicken. Damit hatte sie sich ebenfalls an der Verfassung von Cádiz orientiert, die hier wiederum der Tradition folgte: 327 Dort hatte der König das Dekret ausschließlich an „alle Tribunale, Richter, Jefes, Gouverneure und an die übrigen Autoritäten [zu senden], sowohl an die zivilen als auch an die militärischen und kirchlichen von jeder Klasse und Würde, damit sie das vorliegende Gesetz in all seinen Teilen beachten und beachten lassen, erfüllen und durchführen“328. Der nächste Artikel verfügte dann, dass die Dekrete über die sachlich zuständigen Ministerien an die „höheren Autoritäten“ gesandt werden sollten, die sie dann an die „subalternen“ weiterzuleiten hatten. Von einer verpflichtenden Publikation ist weder hier noch in der Geschäftsordnung die Rede. Bezeichnenderweise spricht Cádiz auch nicht von der Publiccación der Gesetze, sondern von ihrer Promulgación, also der (feierlichen) Verkündung oder Bekanntgabe. Auch spricht sie im Gegensatz zur Constitución michoacana nicht davon, dass Gesetze erst nach ihrer Veröffentlichung verpflichten. Carlos Garriga Acosta 325 Vor Inkrafttreten der Verfassung verwendete der Kongress noch eine leicht unterschiedliche Wortwahl. So heißt es bei den Dekreten der Constituyente vor dem eigentlichen Text: „Der verfassunggebende Kongress des freien, souveränen und unabhängigen Staates von Michoacán hat freundlicherweise das Folgende dekretiert [se ha servido decretar]“ und nach dem Gesetzestext: „Der stellvertretende Gouverneur des Staates möge es verstanden haben [tendrá entendido] und seine Erfüllung verfügen, indem er es drucken, publizieren und zirkulieren lässt“. 326 Von der gaditanischen Formel unterscheidet sich diese Passage nur dadurch, dass dort der König das Dekret zu sanktionieren hatte; vgl. Verfassung von Cádiz, Art. 155. 327 Vgl. zur Tradition die Anredeformeln in der Recopilación de indias bzw. in der Real ordenanza para el establecimiento e instrucción de intendentes. 328 Verfassung von Cádiz, Art. 155.
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und Marta Lorente Sariñena sprechen angesichts dieses Fehlens eines „principio de publicidad“329 von einer nicht vorhandenen Allgemeingültigkeit der Gesetze, was ihrer Meinung nach, wie in Teil A allerdings kritisch ausgeführt wurde, zentrales Element eines eigenständigen „modelo constitucional“ war. Auch wenn in Michoacáns erstem Dekret im Gegensatz zu Cádiz hinzugefügt wurde, dass das Versenden an „alle Autoritäten und Korporationen“ „zu ihrem Verständnis und zu dem aller übrigen Bewohner“ geschehen sollte, stand doch der korporative Grundgedanke im Vordergrund. Dagegen verschwindet er in der neuen, konstitutionellen Formel und entspricht dem liberalen Anspruch: „Alle Einwohner“ waren gleichermaßen und ohne vermittelnde Korporationen angesprochen, dem Dekret „die geschuldete Erfüllung zu geben“. Nach der Publikation des Dekretes hatte also jeder zu gehorchen, nicht nur diejenigen, „die das vorliegende sehen und verstehen“, wie es in Cádiz hieß. Ebenso eine Zwischenstellung nahm in diesem ersten Dekret die Aufforderung des Jefe político Antonio de Castro ein, es „durch Aushang in dieser Hauptstadt und in den übrigen Städten, Dörfern und Orten“ des Staates zu veröffentlichen: Er sprach damit nicht eine abstrakt-allgemeine Öffentlichkeit an, sondern wie zur Kolonialzeit üblich die konkreten und geteilten öffentlichen Räume in den Kommunen.330 Das Dekret sollte dann zwar in Form von so genannten Bandos „an den gewohnten Stellen ausgehängt“ werden. Aber auch hier blieben – als weiterer Unterschied zu der konstitutionellen Verfügung – als spezieller Adres´satenkreis diejenigen Personen besonders hervorgehoben, „die es betrifft, sich um seine Observanz zu kümmern“. Es waren also nicht alle Gesetzesunterworfenen gleichermaßen angesprochen, sondern nur bestimmte Vermittler. Auch diese Graduierung der Adressaten wich nach der konstitutionellen Publikationsformel dem liberalen Anspruch der Egalisierung.331 Vollständig egalisiert war die Praxis freilich nicht: Zu verweisen ist beispielsweise auf die oben zitierte Debatte, ob man dem Cabildo die Dekrete weiterhin extra zusenden sollte. Zu erkennen ist diese Praxis aber auch daran, dass die Abgeordneten Michoacáns und nicht der Kongress im Gesamten die Dekrete der Föderation erhielten und dies auch immer wieder einforderten: In den Protokollen ist häufig die Rede davon, dass die Dekrete aus Mexiko-Stadt „gewohnheitsgemäß“ unter den Abgeordneten verteilt und die Restexemplare an das Archiv geschickt wurden.332 Keinen Erfolg hatte hingegen – und darin 329 Vgl. Garriga Acosta / Lorente Sariñena: Modelo, S. 597-600. 330 Vgl. bspw. Disposición Nr. 37 (10.12.1799), in: LM. 331 Während der Constituyente wurde nur noch ein weiteres Mal auf diese gaditanische Formel zurückgegriffen; vgl. Dekret Nr. 16 (24.07.1824), in: RdL, I, S. 23. 332 Für alle Dekrete aus Mexiko-Stadt war es „Sitte“, dass sie im Kongress verteilt wurden; vgl. bspw. Sitzung Nr. 120 vom 03.10.1826 (c. 4, e. 2).
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drückt sich die praktizierte Egalisierungstendenz aus – der Vorschlag von José María Silva, zur Kosteneinsparung die Bekanntmachung des Endes der Tagungsperioden des Kongresses beziehungsweise deren Verlängerung nur per Acuerdo direkt an „die Korporationen und übrigen Personen, die es betrifft“333, zu schicken und nicht per Gesetz. Die Mehrheit sprach sich dagegen aus, da diese Information „alle Staatsbürger“334 betrifft. Ähnlich verlief die Diskussion 1831, als die Regierung aus Kosten- und Organisationsgründen forderte, die Dekrete der Föderation, die nicht von „allgemeinem Nutzen“ seien, weil sie beispielsweise nur für den Distrito federal gültig waren, nicht mehr nachdrucken und im eigenen Staat publizieren zu müssen. Ein endgültiger Entscheid ist zwar nicht übermittelt. Interessant ist allerdings die Kritik Villaseñors, dass alle föderalen Dekrete gemäß der Publikationsformel nach Artikel 111 der Constitución federal „allen Einwohnern der Republik“ 335 zur Kenntnis gebracht werden müssen. „Alle Einwohner“ hatten Anspruch auf Information.336 Wie aber sollten „alle Einwohner“ erreicht werden? Folgt man der konstitutionellen Formel waren dafür folgende drei Schritte vorgesehen: das Drucken, die Verteilung im Staat und dann die eigentliche Publikation vor Ort. Damit ist die Untersuchung bei den materiellen Voraussetzungen des schriftlichen Auftritts angelangt. Wie die folgenden Diskussionen zeigen werden, maßen die Abgeordneten einer funktionierenden Infrastruktur eine sehr hohe Bedeutung zu, also insbesondere einem Druckerei- und Postwesen, das der zunehmenden staatlichen Publikationstätigkeit gerecht werden sollte. Mit dem eben zitierten Regierungsverweis auf die Kosten und die Organisation hatten sich hier schon erste materielle Hindernisse angedeutet, die es zu überwinden galt. Von Beginn an sollten die Dekrete Michoacáns also gedruckt werden. Wie aber stand es um das Druckereiwesen in Michoacán? Während der Zeit vor 1810 existierte in der Region keine eigene Presse. Wie schon oben ausgeführt, besaßen die Aufständischen zur Zeit der Unabhängigkeitskriege zeitweilig eine Druckerpresse und 1821 erhielt auch Valladolid mit dem Drucker Luis Arango seine erste eigene Presse. Damit war Valladolid unter den großen Städten NeuSpaniens ein Nachzügler: Mexiko-Stadt hatte seine erste Presse bereits kurz nach der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert, Puebla eine erste im 17. Jahrhundert erhalten. Ende des 18. Jahrhunderts folgten Guadalajara und 333 334 335 336
Sitzung vom 04.05.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung vom 12.05.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 9 vom 18.08.1831 (c. 15, e. 2). Die Festlegung, dass die Einzelstaaten die jeweilige Publikation zu übernehmen hatten, kann als weiterer Beleg – u.a. neben dem Fehlen einer gesamt-mexikanischen Staatsbürgerschaft – dafür gelten, dass die Föderation keinen direkten Bezug zu den „Einwohnern der Republik“ aufbaute.
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Veracruz, Oaxaca und Merida in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts. Wie in Kapitel A III gesehen, stieg die neu-spanische Schriftproduktion Ende des 18. Jahrhunderts deutlich an, um vor allem ab 1808 förmlich zu explodieren.337 Die erste, relativ kleine Presse in Valladolid genügte den Anforderungen allerdings schon bald nicht mehr, so dass sich die etablierenden (prä-)staatlichen Institutionen gezwungen sahen, Druckaufträge außerhalb von Michoacán aufzugeben, vor allem wenn sie größeren Umfang hatten, wie die 100 Exemplare der Lejarza-Statistik, deren Druck die Diputación provincial wegen der „ständigen Besetzung der einzigen Presse“ nach außerhalb vergeben musste, wofür wiederum Geld geliehen werden sollte. Erst zwei Jahre später, im Dezember 1824, trafen nach wiederholter Rückfrage die Statistiken ein. 338 Auch den Abgeordneten der Constituyente war es noch selbstverständlich, dass der Druck einer „gebührenden Anzahl an Exemplaren der Verfassung“ nicht in Valladolid, sondern in Mexiko-Stadt zu erfolgen habe: Der Regierung sollte mitgeteilt werden, dass die Exemplare, „sobald sie aus México zurückkehren“ 339 , entsprechend verteilt werden. Mit den externen Druckaufträgen war ein großer Zeit-, Finanz- und Organisationsaufwand verbunden. Um diesen Zustand zu verändern, bemühten sich die Abgeordneten schon bald nach ihrem Zusammentritt 1824 um die Anschaffung einer neuen Presse.340 Der Kongress sollte handlungsfähig sein und dazu gehörte nach ihrer Ansicht eine funktionierende Publikationstätigkeit. Als José María Jiménez im November 1824 vorschlug, den Druck des ersten Verfassungsprojektes in Mexiko-Stadt zu organisieren, wurde dies bezeichnenderweise dadurch gegenstandslos, dass Huarte die Ankunft der „neuen Druckerpresse“341 für den nächsten Donnerstag ankündigte. Allerdings stellte sich bald heraus, dass auch diese Presse, die der Staat wohl stark in Anspruch nahm, überlastet war. So regte Miguel Zincunegui 1826 an, deren Benutzung besser zu koordinieren, und implizierte damit, den Dekreten Michoacáns Vorrang zu geben vor den föderalen, die die Gouverneure der Einzelstaaten innerhalb von drei Tagen nach Erhalt nachdrucken und veröffentlichen lassen mussten.342 Auf diese Weise sollte der Polemik Vorschub 337 Vgl. Guerra: Modernidad, S. 282-296. 338 Sitzung vom 03.01.1823, in: ADPM, S. 130. Vgl. auch: Sitzungen vom 01.06. bzw. 23.12.1824, in: AyD, I, S. 70 bzw. 495f. 339 Sitzung vom 20.07.1825, in: AyD, II, S. 414. Vgl. zur Verteilung er Verfassungen unten. 340 Vgl. Sitzungen vom 22.04. bzw. 04.05.1824, in: AyD, I, S. 15 bzw. 28. Vgl. zur Überforderung der Presse, die einen strikten Zeitplan im Druckverfahren notwendig machte: Sitzung vom 19.11.1824, in: AyD, I, S. 415. 341 Sitzung vom 09.11.1824, in: AyD, I, S. 383. Die von Huarte im Oktober 1824 angekündigte Presse eines Navarrete kam schließlich nicht; vgl. Geheimsitzung vom 05.10.1824, in: AyD, I, S. 312 u. 520 (Endnote 3). 342 Vgl. Disposición Nr. 436 (11.11.1824) / Art. 1, in: LM.
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geleistet werden, dass nur „alle tausend Jahre ein Dekret herausgeht“, weswegen der Kongress als „träge und apathisch“ kritisiert worden sei. Außerdem bliebe ohne die Publikation das Ansinnen des Kongresses, nämlich „das so lobenswerte Ziel, den Pueblos gegenüber wohltätig zu sein, ohne Wirkung“343. Für die Präsentation des Kongresses gegenüber einer weiteren Öffentlichkeit, gegenüber den Pueblos, war die Publikation der Dekrete das zentrale Medium: So wurden er und seine Arbeit sichtbar. Gleichzeitig verdeutlicht sich hier, dass sich die Abgeordneten unter Erwartungs- und Legitimationsdruck sahen, dem sie durch Sichtbar-Werdung entgegentreten wollten. Trotz dieser zweiten Presse plädierten die Abgeordneten für den weiteren Ausbau des Druckereiwesens in Michoacán: 1825 beauftragte der Kongress die Regierung mit dem Kauf einer „regulären“344 beziehungsweise „guten Presse“. Als im Oktober 1825 die Ankunft einer Druckerpresse aus London in MexikoStadt bekannt wurde, galt sie als nicht zweckmäßig, da sie wie die, „die der Staat aktuell hat“ und die ihn circa 600 Pesos gekostet hatte, nur „zwei Typen von Buchstaben“ drucken kann. Der Kongress kaufte sie schließlich nicht, sondern diskutierte, sich nach einer anderen im „Norden von Amerika“345 umzusehen. Fündig wurde man schließlich in London.346 Ein knappes Jahr später wies der Kongress den Beauftragten für die „für den Staat gekaufte Druckerpresse“347 an, dass er die „Überführung in den Staat veranlasst, sobald sie in Veracruz ankommt“ 348 . Die Ankunft erfolgte kurze Zeit später, so dass in Michoacán Ende 1826 wohl neben der ersten von 1821 zwei funktionstüchtige Druckerpressen existierten, wobei die zuletzt erworbene Presse des Staates gegenüber der zweiten, von José Miguel de Oñate betriebenen eine weitere Verbesserung darstellte.349 Allerdings schienen auch diese die gestiegenen Anforderungen bald nicht mehr zu erfüllen. Beispielsweise stellte Juan Gómez de la Puente 1828 den Antrag, dass „der Druck der Dekrete aktiviert werde“350. Ins343 344 345 346 347 348 349
Sitzung Nr. 111 vom 11.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung vom 17.03.1825, in: AyD, II, S. 193. Sitzung vom 07.10.1825 (c. 2, e. 8). Vgl. Sitzung vom 04.01.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung Nr. 111 vom 11.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 99 vom 14.08.1826 (c. 4, e. 2). Mitte September verlautbarte Domínguez, dass er per Post davon erfahren habe, dass die Presse vor einem Monat in Veracruz angekommen sei; vgl. Sitzung Nr. 111 vom 11.09.1826 (c. 4, e. 2). Anders als in der Literatur behauptet, handelt es sich allerdings um die insgesamt dritte Presse in Michoacán. Dies unterstreicht auch die Äußerung eines Regierungssprechers, der ausdrücklich von „zwei neuen Pressen“ [Sitzung Nr. 26 vom 09.09.1828 (c. 8, e. 1)] spricht; vgl. dagegen: Cortés Zavala: Vida, S. 383, Fußnote 56; Romero Flores: Imprenta, S. 47f. 350 Geheimsitzung vom 16.03.1828 (c. 12, e. 1).
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besondere größere Druckaufträge, wie 1828 der für eine Sammlung der Dekrete, mussten immer noch extern vergeben werden. 351 Die Anschaffung einer weiteren Presse rückte auf die Tagesordnung.352 Ein funktionstüchtiges Druckereiwesen war den Abgeordneten also von hoher Wichtigkeit. Es war für die Kommunikation mit der Bevölkerung essentiell. Dies manifestierte sich nicht nur in den Äußerungen, sondern beispielsweise auch am Kaufpreis für die dritte Presse: Die Regierung war ermächtigt worden, die bewusst offen gelassenen „notwendigen Kosten“353 zu übernehmen: Sie kostete schließlich über 5.000 Pesos plus weitere Ausgaben von mindestens 178 Pesos für Utensilien. 354 Auch bei der Diskussion über den Transport der Presse aus Veracruz waren die Kosten in den Hintergrund gerückt, ihr Nutzen galt als unhinterfragbar, „insbesondere bei den [heutigen] Verhältnissen, da die Meinung einen hohen Aufschwung erfährt, da es genug gebe, die ans Publikum schreiben, und es gebe diese bei einem Fehlen der Presse nicht“355. Hinzu kamen laut Regierung weitere jährliche Kosten von etwa 1.500 Pesos. Im Staatshaushalt war das Pressewesen ein eigener Posten. Es stellte dort eine der wenigen staatlichen Infrastrukturmaßnahmen dar. 356 Um eine möglichst effiziente Nutzung der Staatspresse zu erzielen, beauftragte der Kongress die Regierung, einen privaten Betreiber zu finden. Nach Meinung der Abgeordneten sollte so der „beste Einsatz“ der Presse gewährleistet werden, damit die „Michoacanos dieses Organ des öffentlichen Willens genießen“ können. Denn „aus ihrer besten Verwaltung hängt der größte Nutzen für denjenigen ab, der sie erhält“. Der private Vertragspartner sollte aus seinem Wunsch nach Gewinnmaximierung heraus eine möglichst effiziente Nutzung garantieren, während dies nicht der Fall wäre, wenn sie auf „Rechnung des Staates“ laufen würde, da dann „der Drucker ein und dasselbe Gehalt bekommt, [gleich ob] sie gut oder schlecht betrieben“ wird. Allerdings sollte der Konzessionär den „Angelegenheiten der Regierung und des Kongresses“ Vorrang einräumen müssen. Auf diese Weise sollten zwei „löbliche Ziele“ erreicht werden: die Einrichtung einer privat nutzbaren, „freien Druckerpresse im Staat“ 357 und 351 Dieser Auftrag war an die Druckerei eines Francisco Retana gegangen; vgl. Sitzung Nr. 64 vom 30.10.1828 (c. 9, e. 1). 352 Vgl. entsprechende Klagen: Sitzung Nr. 26 vom 09.09.1828 (c. 8, e. 1); Sitzung Nr. 77 vom 10.11.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. auch die Einschätzung der Regierung: Memoria 1828, S. 51-53. 353 Sitzung vom 17.03.1825, in: AyD, II, S. 193. 354 Der Kongress genehmigte zusätzlich zu den bereits getätigten 178 Pesos weitere, für den Betrieb notwendige Ausgaben im Voraus; vgl. Sitzung vom 04.01.1827 (c. 3, e. 6). 355 Sitzung Nr. 99 vom 14.08.1826 (c. 4, e. 2). 356 Vgl. Memoria 1827, Tafeln 7-9; Memoria 1829, Tafel 10/6; Memoria 1830, Tafel 11. 357 Sitzung vom 04.01.1827 (c. 3, e. 6).
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zugleich die Verhinderung von Verzögerungen bei staatlichen Druckaufträgen. Diese zwei zentralen Ziele des Druckereiwesens standen auf Grund der knappen Kapazitäten jedoch in der Folgezeit meist im Widerspruch zueinander, so dass die private Nutzung in den Hintergrund gedrängt wurde. Absolute Priorität hatten die staatlichen Druckerzeugnisse und zuvorderst die Dekrete. Von vornherein als problematisch betrachteten die Abgeordneten das Finden eines für beide Ziele geeigneten Vertragspartners. So stellte Domínguez gleich am 9. Januar 1827 fest, dass es zwar in Mexiko-Stadt viele potentielle Partner gebe, hier in „Valladolid vielleicht aber nicht einmal einen“358. Einen guten Monat später wurde die Regierung aufgefordert, „von Neuem, Vertragspartner“ zu finden in der Hoffnung, dass „derart das Angebot, das bisher gemacht wurde, verbessert werden könne“. Weiterhin sei es bezüglich der Presse immer noch Ziel des Kongresses, „derart den Michoacanos eine möglichst freie Nutzung von ihr zu gewährleisten“ 359 . Im November 1828 wurde die Regierung wieder aufgerufen, dem besten Bieter die Presse zu verpachten.360 Die Versteigerung fand dann am 25. November statt, aber ohne dauerhaften Erfolg: Der nächste Kongress musste im Oktober 1829 die Regierung zu einer nochmaligen Versteigerung auffordern. 361 Auch diese schlug wohl fehl: Ein Antrag von Luis Arango vom 12. September 1829 bezüglich der Staatspresse wurde zunächst an die Regierung zur Prüfung zurückverwiesen 362 , und im November diskutierte der Kongress die Ausarbeitung eines neuen Vertrages mit verschärften Bedingungen, denn jetzt sollten die staatlichen Drucken explizit absoluten Vorrang vor den privaten genießen. Wenn hier keiner gefunden werden könne, müsse „die Presse weiter auf Rechnung des Staates laufen“363. Während die Presse von José Miguel de Oñate zunächst auf dessen eigene Kosten und „in seiner Wohnung“364 lief, betrieb zwischen 1824 und 1828 sowie dann wieder ab 1831 Arango die Staatspresse. Oñate hatte zwischen 1828 und 1831 den staatlichen Zuschlag erhalten. 365 Auch wenn aus dem vorliegenden Material nicht eindeutig klar wird, ob es sich bei ihnen um Pächter handelte oder um Angestellte, die sie auf Kosten des Staates betrieben, deuten die 358 359 360 361 362 363 364
365
Sitzung vom 09.01.1827 (c. 3, e. 6). Sitzung vom 24.02.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. Sitzung Nr. 75 vom 13.11.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. Sitzung Nr. 84 vom 24.11.1828 (c. 9, e. 1) bzw. Sitzung Nr. 63 vom 23.10.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. Sitzung Nr. 31 vom 12.09.1829 (c. 11, e. 1). Sitzung Nr. 77 vom 10.11.1829 (c. 11, e. 1). Memoria 1828, S. 50. Allerdings hatte Oñate schon 1824 vor dem Kongress beantragt, die Presse „unter dessen Schutz“ stellen zu dürfen. Darüber wurde zunächst nicht abschließend befunden; vgl. Sitzung vom 29.11.1824, in: AyD, I, S. 433. Vgl. Cortés Zavala: Vida, S. 383, Fußnote 56.
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erwähnt konstanten und klar kalkulierbaren Kosten, die wiederholten Versteigerungsversuche, das Fehlen von Pachteinnahmen sowie andere Indizien eher auf die zweite Variante hin. Wie die Regierung in ihrer Gedenkschrift 1828 mitteilte, „beschäftigen sich die beiden Druckerpressen ... kaum mit Produktionen von Privatpersonen“366. Der Kongress sah sich genötigt, um nicht „träge und apathisch“ zu wirken, seiner Präsentation über die von ihm erarbeiteten Dekrete den Vorrang zu geben. Die konstitutionelle Publikationsformel der Dekrete sollte erfüllt, „alle seine Bewohner“ erreicht werden. Dafür hatte er allerdings auch den Organisationsaufwand und die Kosten zu übernehmen. Waren die Dekrete gedruckt, sollten sie – folgt man der obigen Anweisung – im Staat zirkulieren. Für die „zügige Publikation“ 367 in ihrem Amtsbezirk waren schließlich die jeweiligen Alcaldes zuständig. Wie aber kamen die Dekrete dorthin? Unklar bleibt, ob die Regierung die Dekrete direkt oder – wie es eigentlich dem Dienstweg entsprach – über die Präfekte und Subpräfekte versandte. Die Zahlen sprechen eher für die erste Variante: Aus einer Auflistung aus dem Jahresbericht der Regierung geht hervor, dass zwischen April 1824 und Juli 1827 von insgesamt 7.745 „Schreiben, Dekreten etc.“ die Alcaldes mit 1.414 nach dem Kongress (1.485) die meisten erhielten, die Präfekte folgten mit 666 deutlich abgeschlagen noch hinter den Ayuntamientos (883).368 Die Verteilung im Staat erfolgte über das Postsystem: Nach der Unabhängigkeit 1821 hatte Michoacán zusammen mit Mexiko-Stadt das 1747 zum Monopol erklärte Postwesen übernommen, und mit ihm die angelegte Grundstruktur. 369 Von Mexiko-Stadt aus bedienten Reiterstafetten die großen, mit Postämtern ausgestatteten Städte, von wo aus dann weitere Boten die Versorgung der kleineren Orte übernahmen. Nach 1821 existierten in Valladolid und mindestens noch in Zamora von der Föderation besetzte Verwaltungs-
366 367 368 369
Memoria 1828, S. 50. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 51, in: RdL, I, S. 69. Vgl. Memoria 1827, Tafel 1. Vgl. zum seit Ende des 16. Jahrhunderts etablierten Postwesen in der Kolonialzeit im Überblick: Gonzalbo Aizpuru: Intimidad, v.a. S. 25-31; und die Ordenanza general de correos (1794) unter: Disposición Nr. 22 (30.06.1794), in: LM. Die Ordenanza general de correos hatte u.a. einen besseren Schutz und die Einführung von festen Zeitplänen festgelegt. Nach 1824 koordinierte die Föderation das nationale Postwesen weiterhin und auch die Ordenanza general de correos fand zumindest in Teilbereichen weiter Anwendung; vgl. Constitución federal, Art. 50/2. So forderte die Constituyente Michoacáns die Regierung auf, dass sie die Befolgung der Ordenanza bezüglich der Sicherheit der Briefe gegenüber der Verwaltung durchsetzen solle; vgl. Sitzung vom 26.07.1824, in: AyD, I, S. 175.
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stellen.370 Valladolid war mit der Hauptstadt der Republik innerhalb von knapp einer Woche verbunden.371 Von Valladolid aus versorgten ordentliche Postverbindungen der Föderation einige, bei weitem jedoch nicht alle Regionen des Staates. So war Michoacán von Beginn an darauf bedacht, auch diese Regionen zu versorgen: Schon 1822 wurde angekündigt, dass der interne Postdienst der Provinz (Correo interior de la provincia) ab sofort montags aus Valladolid starte, weswegen die Sitzungstage der Diputación provincial verschoben wurden. 372 Dieser funktionierte allerdings nicht mehr so gut wie zuvor. Die ehemals zwei wöchentlichen Verbindungen nach Zamora wurden 1824 auf eine reduziert, und zwar so lange, „bis die Steigerung des Handels die Wiedererrichtung notwendig macht“ 373 . Vier Jahre später schlug ein Abgeordneter vor, dass die Wahlbescheinigungen aus den „sehr abgelegenen Partidos“ 374 nicht über die Post, sondern persönlich von den Gewählten mitgebracht werden sollten, damit sie noch rechtzeitig in der Hauptstadt eintreffen. 1831 galt Zitácuaro als „isoliert“, da es über keine ordentlichen Verbindungen verfügte, weshalb es gegenüber Maravatio, über das die Verbindung mit Mexiko-Stadt lief, einen Standortnachteil hatte.375 Das südlich gelegene Huetamo verfügte 1831 wegen „fast unüberwindbarer“ Hindernisse nicht einmal über eine postalische Verbindung mit Zitácuaro, „woraus sich ergibt, dass sich die Zirkulation der Gesetze und 370 Vgl. bspw.: Sitzung Nr. 115 vom 23.12.1830 (c. 12, e. 2); Sitzung Nr. 44 vom 25.09.1830 (c. 11, e. 3). 371 1828 hatte der Verwalter in Valladolid mitgeteilt, dass die Post, die montags und donnerstags bisher um 18.00 Uhr von hier los ging, in Zukunft drei Stunden früher starten werde, da die Korrespondenz aus den „Hauptstädten der Staaten“ [Sitzung vom 06.05.1828 (c. 7, e. 3)] in Mexiko-Stadt an den gleichen Wochentagen spätestens zwischen acht und neun Uhr morgens einzutreffen habe. Diese Zeit korrespondiert mit den Angaben von Chowning, die zwischen sechs und neun Tagen für eine Reise zwischen den Städten angibt; vgl. Chowning: Wealth, S. 14. In der Praxis setzte sich dann jedoch eher der Freitag als Stichtag für die Post durch: Die Abgeordneten führten ihn häufig als Grund an, Verhandlungen zu beschleunigen; vgl. Sitzung Nr. 97 vom 10.08.1826 (c. 4, e. 2); Sitzung Nr. 45 vom 07.03.1828 (c. 7, e. 2); Sitzung Nr. 4 vom 09.08.1827 (c. 5, e. 2). Die Ankunft der Post aus Mexiko-Stadt erfolgte in Valladolid, soweit sie in den Protokollen erwähnt wurde, sonntags und mittwochs; vgl. Sitz-ung Nr. 47 vom 07.10.1825 (c. 2, e. 8); Sitzung vom 16.12.1826 (c. 4, s./e.); Geheimsitzung vom 24.01.1828 (c. 12, e. 1); Sitzung vom 13.05.1829 (c. 10, e. 2); Sitzung Nr. 40 vom 30.09.1831 (c. 15, e. 4); Sitzung Nr. 44 vom 07.10.1831 (c. 15, e. 4). 372 Sitzung vom 01.07.1822, in: ADPM, S. 76. Vgl. in der Anwendung: Sitzung vom 21.01.1823, in: ADPM, S. 136. 373 Sitzung vom 27.09.1824, in: AyD, I, S. 294. 374 Sitzung Nr. 71 vom 08.11.1828 (c. 9, e. 1). 375 Vgl. die oben bereits erwähnte Diskussion um den Standort der Hauptstadt des OstDepartements: Sitzung Nr. 75 vom 17.11.1831 (c. 15, e. 4).
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Anordnungen in jenem Gebiet verspätet“ 376 . Als Infrastrukturmaßnahme für das Kolonisierungsprojekt im Bezirk von Coalcomán sollte im gleichen Jahr eine außerordentliche, vierzehntägliche Postverbindung geschaffen werden. 377 1832 gingen die Abgeordneten davon aus, dass ein Dekret „nicht vor zwanzig Tagen in allen Pueblos des Staates verteilt und publiziert werden“378 könne. Der Abgeordnete Silva veranschlagte 1829, dass der Druck und die Verteilung eines Dekrets den Staat ungefähr 40 Pesos kosten.379 In welcher Form aber präsentierte der Kongress nach der Verteilung im Staat seine Gesetze und damit sich selbst vor Ort? Grenzte er sich, wie von der föderalen Konstituante in dem der Constitución federal voranstehenden Manifiesto postuliert, von den „alten Gesetzgebern“ ab, die „die Veröffentlichung ihrer Gesetze mit Prunk und Zeremonien begleitet hatten …, um den Respekt und die Bewunderung zu schaffen“ und die also versucht hatten, „die Imagination aufzuerlegen, da sie die Vernunft nicht lehren konnten“? Konnte der Kongress von Michoacán nach dem „Jahrhundert der Aufklärung und der Philosophie dieses Hilfsprestige verschwinden lassen“380? Damit ist die Untersuchung nach dem Drucken und der postalischen Verteilung beim dritten Schritt angelangt, bei der Publikation vor Ort. Auch wenn in der konstitutionellen Publikationsformel nicht mehr die Aufforderung stand, die Dekrete an den „gewohnten Stellen auszuhängen“, war deren Publikation an „den öffentlichen Wänden des Staates“ 381 noch Praxis. 1829 beschloss der Kongress beispielsweise, „wie es Stil ist, Anschläge an den Wänden für die Benachrichtigung des Publikums anzubringen“382. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Regierungsredner beschwert, dass einige Menschen „das Gesetz, das über die Vertreibung der Spanier aufgehängt worden war, abgerissen haben“383. Erinnert sei auch an die oben ausführlich behandelten Wahlbekanntmachungen, die jeweils ausdrücklich „in feierlicher Weise“ ausgehängt werden sollten. Was der Hinweis der Feierlichkeit bedeuten sollte, führten die Abgeordneten leider nicht aus. Es lässt sich vermuten, dass damit koloniale Praktiken wieder aufgenommen wurden, wie dies beispielsweise für Oaxaca herausgearbeitet worden ist. Dort sollte ein „örtlicher Offizieller“ von einer 376 377 378 379 380 381 382 383
Sitzung Nr. 45 vom 08.10.1831 (c. 15, e. 4). Vgl. Sitzung Nr. 65 vom 04.11.1831 (c. 15, e. 4). Sitzung Nr. 70 vom 10.11.1832 (c. 18 , e. 3). Vgl. Sitzung vom 06.05.1829 (c. 10, e. 2). Constitución federal, Manifiesto, S. 24. Sitzung Nr. 49 vom 11.10.1828 (c. 9, e. 1). Sitzung vom 26.06.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 79 vom 13.11.1827 (c. 5, e. 3). Vgl. auch die Aushänge des Ayuntamiento der Hauptstadt bspw. in: AHAM, c. 4, e. 34
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Eskorte, einem Trommler und einem Trompeter begleitet, am Hauptplatz jedes Ortes auf- und abmarschieren und „in jeder Ecke“ las er „das Gesetz ‚in lauter, langsamer und deutlicher Weise’“384 vor. Für eine ähnliche Praxis in Michoacán spricht, dass die Alcaldes im Vorfeld der Wahlen aufgerufen waren, neben dem Aushängen weitere „Mittel, die im Dorf Usus“, waren, zu nutzen, um die Vecinos zur Zusammenkunft für die Wahlen zu „zitieren“385. Vor allem bei besonderen Anlässen schien den Abgeordneten das einfache Aushängen der Gesetze also nicht zu genügen. So forderte der Kongress beispielsweise 1829 den Gouverneur auf, ein Gesetz, das die Versammlung bewaffneter Menschen unter Strafe stellte, „mit der möglichen Feierlichkeit in allen Pueblos des Staates an drei aufeinander folgenden Tagen, an denen Markt ist, zu veröffentlichen“386. Die Publikation der Verfassung kann in dieser Hinsicht mit ihren mehrtägigen Feierlichkeiten als Paradebeispiel gelten. Für den schriftlichen Auftritt nach außen reichte den Abgeordneten die Autorität des geschriebenen und veröffentlichten Gesetzestextes offensichtlich nicht grundsätzlich aus, er musste durch Feierlichkeit oder weitere Kommunikationsmittel, das „Hilfsprestige“ der „Imagination“, verstärkt und ergänzt werden. Wie sah aber die normale, nicht-„feierliche“ Publikation der Dekrete aus? Hier ist zunächst festzustellen, dass die Kongresse Michoacáns dem Gesetz nach Papel sellado verwendeten. Das Papel sellado ist ein durch einen Stempel für den amtlichen Gebrauch vorgesehenes Papier, das von offizieller Seite verkauft wurde. In Kastilien, wo es 1636 ursprünglich als steuerliche Einnahmequelle eingeführt worden war, galt es je ein Jahr lang, in Amerika nach der Einführung 1638 jeweils für ein Bienio, also für zwei Jahre. 387 Ein Reglement des zweiten gesamt-mexikanischen Verfassungskongresses von 1823 hatte verfügt, dass unter anderem „Bekanntmachungen, die an öffentlichen Wänden befestigt werden“388, nur auf Papel sellado publiziert werden dürften.389 Die Constituyente 384 385 386 387 388
Guardino: Time, S. 163. Dekret Nr. 34 (24.01.1825) / Art. 52, in: RdL, I, S. 69. Sitzung Nr. 21 vom 01.09.1829 (c. 11, e. 1). Vgl. Baltar Rodríguez: Notas. So das Reglamento sobre papel sellado: Disposición Nr. 366 (06.10.1823) / Art. 9, in: LM. Dort heißt es weiter, dass für „jedwede Bekanntmachung, unabhängig von der Größe des Anschlags, ein einziger Stempel ausreicht“. 389 Demnach sollte es vier Klassen von Papel sellado geben. Die Klassen orientierten sich am Wert – die erste Klasse entsprach sechs Pesos, die vierte einem halben Real – und waren den im Reglement bestimmten Anwendungsgebieten zugeordnet. Sie reichten vom amtlichen Briefverkehr und Ernennungsurkunden über Register, Testamente, Verträge, Gerichtsurteile bis hin zu den für die vorliegende Arbeit besonders interessanten Protokollbüchern (Libros de actas) und den zitierten Bekanntmachungen. Nach der Gültigkeitsdauer konnte bzw. musste das Papier umgetauscht werden. Der Wert war unter
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von Michoacán und später der dritte Kongress erklärten dieses Reglement explizit zu geltendem Recht,390 nahmen aber die Herausgabe eigenen Papiers für Michoacán in Anspruch. Wie gleich zu sehen sein wird, hatte dies fiskalische, aber auch symbolische Ursachen. Nur der staatliche Generalschatzmeister war autorisiert, das Papier zu stempeln und wie seit der Intendantenreform über die Tabakverwaltung im Staat zu verkaufen. 391 Fälschungen wurden unter hohe Strafe bis hin zum Landesverweis gestellt.392 Die Authentizität des staatlichen Auftritts sollte unter allen Umständen verbürgt bleiben. Die Einnahmen des Verkaufs galten im Haushalt des Staates – wie schon zu Kolonialzeiten –, wenn nicht als großer, so doch als durchgängig eigenständiger Posten. 393 Nur die Präfekte, die Alcaldes und deren Stellvertreter – sowie in dieser Logik wohl auch die Subpräfekte – erhielten das Papier für den amtlichen Gebrauch kostenfrei zur Verfügung gestellt.394 Ein Antrag, die Preise insgesamt zu senken, da die hohen Kosten „für die Pueblos zu häßlich“ seien, wurde mit dem Argument der „Knappheit des Haushalts“395 überstimmt. Die Ausgabe des Papiers erfüllte jedoch nicht nur fiskalische Interessen, sondern auch symbolische. So war der Stempel auf dem Papier auch eine politische Frage der Darstellung von symbolischer Macht und Souveränität – und zwar sowohl gegenüber der Föderation als auch zeitlich gegenüber der Kolonialzeit. Dies verdeutlicht sich 1825, als der Staat von Michoacán in einem als solchen begriffenen Hoheitsakt selbständig gestempeltes Papier herausgab. Im Dekret heißt es: „Der Staat stempelt selbst das Papier, das er braucht, ohne
390 391 392
393 394
395
anderem an der verhandelten Geldsumme beziehungsweise den Einkommen der Beteiligten orientiert; vgl. Disposición Nr. 366 (06.10.1823), in: LM. Vgl. Dekret 30 (04.01.1825) / Art. 4, in: RdL, I, S. 60 bzw. Dekret Nr. 26 (07.11.1829) / Art. 4, in: RdL, IV, S. 34. Real Ordenanza (1786), Art. 156 bzw. Disposición Nr. 366 (06.10.1823) / Art. 17, in: LM. Disposición Nr. 366 (06.10.1823) / Art. 11, in: LM. Auch wenn dies wohl teilweise Praxis war, war es anderen Offiziellen verboten, Papel sellado auszugeben. Außerdem durfte falsch oder nicht gestempeltes Papier nicht angenommen werden; vgl. eine gouvernementale Verfügung, die auf diese Missstände eingeht: El gobernador del Estado de Michoacán (18.03.1828), in: RdL, III, S. 40f. bzw. Disposición Nr. 366 (06.10.1823) / Art. 10, in: LM. Vgl. die Auflistungen im Anhang III. Für die Präfekte vgl. Dekret Nr. 40 (15.03.1825) / Art. 32, in: RdL, I, S. 80; für die Alcaldes und ihre Stellvertreter galt dies gemäß der gouvernementalen Verfügung ebenfalls als selbstverständlich, vgl. Orden (18.03.1828) / 2, in: RdL, III, S. 41. Für die Subpräfekte ist wie bei anderen Verfügungen anzunehmen, dass sie auch hier als Prä-fekte en miniature behandelt wurden, insbesondere wenn man deren niedriges Gehalt bedenkt. Sitzung vom 15.01.1825, in: AyD, II, S. 27.
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es von der Föderation zu erbitten“.396 Diese Festlegung hatte zu Konflikten mit der Exekutive geführt, die hier einen Widerspruch zu einer föderalen Verfügung sah. 397 Der Kongress stellte jedoch die staatliche Souveränität wie selbstverständlich – jedenfalls ohne angeführte Argumente – über diese Bedenken, so dass für das Bienio 1825/26 das föderale und das staatliche Stempelwesen parallel existierten. 398 Bei der Diskussion der nahezu wortgleichen Wiederholung des Dekretes von 1825 vier Jahre später sprach sich der Kongress gegen den Beisatz des ersten Dekrets „ohne es von der Föderation zu erbitten“ aus. Der Souveränitätsanspruch galt den Abgeordneten nun demonstrativ als selbstverständlich.399 Der Stempel auf dem Papel sellado war nicht nur eine finanzielle Einnahmequelle und als Schutzmechanismus gegen Fälschungen Bürge der Authentizität, sondern eben zugleich ein Symbol (einzel-)staatlicher Souveränität und Autorität, die auf den ausgehängten Dekreten gegenüber der Bevölkerung präsentiert werden sollte. Bei der Gestaltung des Stempels verbanden die Abgeordneten – aber eben aus eigener souveräner Entscheidung – dann einzelstaatliche und gesamt-mexikanische Symbolik. Der Stempel Michoacáns sollte laut Dekret das föderale Wappen abbilden, also den auf einem Kaktus sitzenden Adler, sowie im Halbkreis darum die Inschrift Estado de Michoacán tragen. „Um die Fälschung zu verhindern“, hatte dies „mit Zierlichkeit und den notwendigen Vorkehrungen“ 400 zu geschehen. Auf den beiden Seiten des Wappens und über dieses hinweg sollte ein im Rechteck angelegter, schwarzer Schriftzug ohne Abkürzungen die Klasse, den Wert und das Bieno angeben.401 Allerdings lässt sich dieser Stempel erst zu Beginn der 1830er Jahre finden.402 Bevor sich dieses Aussehen durchgesetzt hatte trug der Stempel das föderale Wappen ohne die Inschrift Estado de Michoacán, dafür aber den Schriftzug mit Klasse, Wert und Gültigkeitszeitraum um das Wappen mit dem Satz:
396 Dekret Nr. 30 (04.01.1825) / Art. 1, in: RdL, I, S. 60. 397 Vgl. die Auseinandersetzungen in: Sitzungen vom 08.11., 11.11. bzw. 20.12.1824, in: AyD, I, S. 379, 386 bzw. 487/489f.; Sitzungen vom 04.01., 10.01., 09.02. bzw. 23.02.1825, in: AyD, II, S. 14, 26f., 99f. bzw. 129. 398 Vgl. bspw. den staatlichen Stempel bei: Los Ciudadanos Narziso [?] Madrigal, Alcalde del pueblo … (??.05.1826), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 4 bzw. den föderalen Stempel in: Libro en que quedan copiados las iniciativas … (1825 und 1826), in: AHCM, Varios, IV. Legislatura, c. 2, f. 1. 399 Vgl. Sitzung Nr. 71 vom 03.11.1829 (c. 11, e. 1). 400 Disposición Nr. 366 (06.10.1823) / Art. 2, in: LM. 401 Vgl. Dekret Nr. 30 (04.01.1825) / Art. 2, in: RdL, I, S. 60 bzw. Dekret Nr. 26 (07.11.1829) / Art. 2, in: RdL, IV, S. 34. 402 Eine Abbildung findet sich in Kapitel E II.
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„Ermächtigt durch den Staat von Michoacán für das Bienio …“403. Schon hier trat der einzelstaatliche Hoheitsanspruch hervor. Dieser äußerte sich nicht nur gegenüber der Föderation, sondern, wie gesagt, auch gegenüber der kolonialen Vergangenheit. So forderte der Abgeordnete Jiménez Anfang 1825 in der Constituyente, das alte Papier mit dem „Wappen und Bild des Königs von Spanien“404 an die Tabakverwaltung zu schicken, um es dort mit dem neuen Wappen zu überstempeln. Der Staat Michoacán sollte nicht mit dem „Bild des Königs von Spanien“ auftreten. Allerdings drückte sich die Zeit des Umbruchs nach der Unabhängigkeit bis 1825 beziehungsweise 1826 in Michoacán auch auf dieser Ebene in einem Nebeneinander unterschiedlicher Typen von Papel sellado aus: Aus offensichtlicher Knappheit griff man auf altes Papier zurück, so verwendete der Kongress für interne Kopiervorlagen altes Stempelpapier oder erhielt Schreiben auf ebensolchem. Anzutreffen sind beispielsweise Stempel aus der Zeit „Karls IV., durch die Gnade Gottes König der Hispanier“ 405 (1806/07), der Zeit „Ferdinands VII., durch die Gnade Gottes Monarch“ 406 (1812/13) beziehungsweise „Ferdinands VII., durch die Gnade Gottes und die Verfassung König der hispanischen Monarchie“407 (1813/14) oder aus der Zeit des „Mexikanischen Imperiums“ 408 (1822/23). Aber auch hier stand dann zumindest bei den offiziellen Schreiben der je aktuelle Stempel Michoacáns als Ausdruck des Souveränitätsanspruchs daneben. Vor einem Zwischenresümee dieses Abschnitts sei noch auf eine zweite Art der Publikation der Dekrete hingewiesen, nämlich auf diejenige in Buchform als so genannte „Colección de decretos“. Domínguez hatte sie 1827 vorgeschlagen, „um sie [die Dekrete] im Blick zu haben“409. Die Abgeordneten beschlossen daraufhin den Druck aller bisherigen Dekrete und einen entsprechenden
403 Bspw. Los Ciudadanos Narziso [?] Madrigal, Alcalde del pueblo … (??.05.1826), in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 4 o. Indice de las actas recibidas … (28.05.1829), in: AHCM, Varios, IV. Legislatura, c. 1, e. 7. 404 Sitzung vom 15.01.1825, in: AyD, II, S. 27. Dieser Antrag galt als erste Lesung, weitere sind allerdings nicht überliefert, so dass über den Ausgang nichts bekannt ist. 405 „Carolus IV D. G. Hispaniorum Rex“, in: Honorable Congreso. El Ciudadano …, in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3. 406 „Fernando VII D. G. M.“, in: Honorable Congreso. El Ciudadano ..., in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 6, e. 3. 407 „Ferd. VII D. G. et Const. Monarch. Hisp. Rex“, in: Serenisimo Señor. Por el Gouvierno Político ..., in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 5, e. 9. 408 „Imperio mexicano“, in: Serenisimo Señor. Por el Gouvierno Político ..., in: AHCM, Varios, II. Legislatura, c. 5, e. 9. 409 Sitzung Nr. 10 vom 18.08.1827 (c. 5, e. 2).
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Auftrag an die Folgekongresse jeweils „nach ihrer Erneuerung“410. Den Druck übernahm bis zur Sammlung des dritten Kongresses jeweils die Druckerei von Galván in Mexiko-Stadt, erst 1834 druckte Oñate sie in Morelia. 411 Als Abnehmer der Kollektionen galten in erster Linie und in dieser Reihenfolge die „S[eño]res Diputados“ Michoacáns, „las Legislaturas y Gobernadores“ der anderen Staaten und schließlich „los Tribunales, Oficinas y Corporaciones“412 Michoacáns. Diese erhielten sie jeweils kostenlos.413 Der „Rest“ 414 wurde ans „Publikum“ 415 zum Selbstkostenpreis verkauft, da der Kongress „mit seinen Dekreten kein Geschäft machen darf“ 416 . Gemeint war mit dem Publikum insbesondere das der Hauptstadt, der Generalschatzmeister sollte sie hier verkaufen. 417 Über die Auflage und somit über die potenzielle Verbreitung liegt leider keine Information vor. Deutlich wird hier freilich, dass die Abgeordneten das Publikum nicht als primären Adressaten betrachteten, an sie sollten – quasi um sie nicht wegschmeißen zu müssen – die „Rest“-exemplare verkauft werden. Etwas mehr ist über die Verbreitung der Verfassung bekannt. Auch sie deutet auf eine Zweiteilung des Adressatenkreises hin. So beauftragte die Konstituante im Zusammenhang mit dem Erstdruck, die Kopien, sobald sie aus MexikoStadt zurück seien, die Regierung mit der Verteilung und zwar „zwei Exemplare an jede der übrigen Legislaturen“ der anderen Einzelstaaten, „genauso viele an jeden Abgeordneten des aktuellen Kongresses und die gleiche Anzahl an den Generalkongress“ sowie „nach dem Brauch an alle übrigen Autoritäten innerhalb und außerhalb des Staates“418. Der Verkauf von Verfassungen unter den Institutionen galt als nicht „regulär“419. Erst der erste Kongress regulierte den öffentlichen Verkauf dann ausführlicher. Sie sollten zu fünf Reales verkauft werden, und „nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in den Hauptorten der 410 Dekret s./Nr. (17.09.1827) / Art. 2, in: RdL, III, S. 9. Vgl. die Diskussion: 10.09.1827 (c. 5, e. 2). 411 Vgl. Fußnote 2, in: RdL, III, S. 9. 412 Außerordentliche Geheimsitzung vom 18.04.1832 (c. 16, s./e. 2). 413 Vgl. Beschluss in: Außerordentliche Geheimsitzung vom 18.04.1832 (c. 16, s./e. 2). 414 Sitzung Nr. 8 vom 27.04.1832 (c. 16, s./e. 1). 415 Sitzung Nr. 9 vom 16.04.1831 (c. 12, e. 2). 416 Sitzung Nr. 71 vom 08.11.1828 (c. 9, e. 1). Vgl. auch die Festlegung für die Sammlungen des zweiten und dritten Kongresses: Sitzung Nr. 8 vom 27.04.1832 (c. 16, s./e. 1). Ungebunden kosteten sie einen, gebunden zwei Pesos. Vgl. auch die folgenden Erwähnungen zum Druckprozedere: Sitzung Nr. 26 vom 11.09.1827 (c. 5, e. 2); Sitzung Nr. 64 vom 30.10.1828 (c. 9, e. 1); Geheimsitzung vom 23.09.1830 (c. 12, e. 1); Geheimsitzungen vom 11.08.1831 u. 24.05.1832 (c. 16, s./e. 2). 417 Vgl. den Beschluss von 1832 über den Verkauf der Restexemplare beim Generalschatzmeister, das sich in der Hauptstadt befand: Sitzung Nr. 8 vom 27.04.1832 (c. 16, s./e. 1). 418 Sitzung vom 20.07.1825, in: AyD, II, S. 414. 419 Hier in Bezug auf die föderale Verfassung: Sitzung vom 13.01.1825, in: AyD, II, S. 35.
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Bezirke“ 420 . 1828 beantragte Galván den Nachdruck der Verfassung für die Sammlung aller einzelstaatlichen Konstitutionen. Daraufhin entspann sich eine Debatte, ob man den Nachdruck „liberaler“ gestalten sollte, „da dieses Dokument für die Bildung der Jugend fehlen würde“. Schließlich überwog die Befürchtung, dass „man sich derart von seinem Besitz verabschieden“ würde. Als Kompromiss vergab der Kongress eine zweijährige Lizenz.421 Auch 1829 wurde die Verfassung im öffentlichen Verkauf angeboten.422 Resümierend lässt sich zunächst konstatieren, dass der Kongress mit seinen Dekreten in den öffentlichen Raum auftrat, sie und damit die Arbeit des Kongresses sollten für alle Einwohner lesbar beziehungsweise erfahrbar gemacht werden. Im Unterschied zum Antiguo régimen waren alle direkt unterworfen und nicht erst durch die Aufsicht der Korporationen als vermittelnde Instanzen. Diese egalisierenden und individualisierenden Tendenzen symbolisieren die neue Regierungsform. Aber gleichzeitig äußerte sich Skepsis gegenüber der rein rationalen Gesetzesherrschaft: Die Veröffentlichungen sollten weiterhin – wie es despektierlich im Manifest zur Constitución federal hieß – von „Prunk und Zeremonien begleitet werden …, um Respekt und Bewunderung zu schaffen“. Noch immer versuchten sie so „die Imagination aufzuerlegen, da sie die Vernunft nicht lehren konnten“. „Das Jahrhundert der Aufklärung und der Philosophie“ hatte „dieses Hilfsprestige“ noch nicht verschwinden lassen. Im nächsten Abschnitt über die Publikation der Protokolle sind die Ziele, die die Abgeordneten mit dem schriftlichen Auftritt des Kongresses nach außen verbanden, näher zu untersuchen. Bei den Gesetzen ließen sich Debatten über die Ziele kaum finden. Dabei wäre auch weiterzuverfolgen, ob „das Erlassen und – zunehmend – das Publizieren von Gesetzen [beziehungsweise hier auch von Protokollen] seinen Sinn“ weiterhin „in sich selbst“ hatte – wie es Jürgen Schluhmbohm für den frühneuzeitlichen europäischen Staat konstatierte (vgl. Teil A), ob das Zeigen als Obrigkeit „schon ein wesentlicher Teil dessen [war], was von der Herrschaft erwartet“ worden war. Mit dem vorliegenden Material lässt sich das nur ansatzweise erhärten: Der Kongress legte weiterhin mehr Engagement in das Erstellen und in das Drucken, Zirkulieren und Publizieren der Gesetze als in die Überwachung bezüglich der Befolgung: In den Diskussionen spielten die Einhaltung der Gesetze, ja die Adressaten insgesamt eine untergeordnete Rolle. Oder wie das Eingangszitat diese bevorzugte Art der Kommunikation von oben nach unten beschreibt: Der Kongress verwendet die Gesetze, um den Söhnen 420 Vgl. Geheimsitzung vom 23.09.1825 (c. 2, e. 6). 421 Sitzung Nr. 54 vom 18.03.1828 (c. 7, e. 2); vgl. auch Sitzung Nr. 37 vom 26.02.1828 (c. 7, e. 2) u. eine frühere Diskussion: Sitzung vom 14.07.1825, in: AyD, II, S. 402. 422 Vgl. Astro Moreliano Nr. 5 (16.04.1829), I.
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etwas zu erklären. Er publizierte, um sichtbar zu sein, um nicht als „träge und apathisch“423 kritisiert zu werden.
b. Die Präsentation der Parlamentsprotokolle in der Zeitung: „Die Uniformierung der öffentlichen Meinung“ Ähnlich wie bei der Druckerpresse war der Legislative das Projekt der „Errichtung einer Zeitung“424, wie es in einem Vorschlag von González und Lloreda schon im April 1824 hieß, von Beginn an ein wichtiges Anliegen. Welche Erwartungen besaßen die Abgeordneten und welche Ziele verfolgten sie mit dem Auftritt mittels Zeitung? Wie wollten sie sich wem gegenüber inszenieren? Bevor auf diese Fragen einzugehen sein wird, folgt hier zunächst wieder die Untersuchung der entsprechenden materiellen Grundlagen. In Michoacán hatte ein endogenes Zeitungswesen keine große eigene Tradition: Bis 1829 wurde in der Region keine Zeitung aufgelegt, abgesehen von den erwähnten Projekten der Aufständischen, auch diese hatten aber keinen primär regionalen Anspruch. In Mexiko-Stadt erschien seit 1722 in unregelmäßigen Abständen eine Zeitung (Gaceta de México), 1805 dann mit dem Diario de México die erste Tageszeitung, zwei Jahre später eine weitere Wochenzeitung in Veracruz (El jornal económico de Veracruz), weitere Zeitungen mit mehreren Ausgabe pro Woche erschienen in Mexiko-Stadt. Somit war schon vor der Krise von 1808 die Anzahl der Exemplare von 26 vor der Jahrhundertwende auf jährlich über 500 gestiegen. Danach stieg die Zahl bis 1812 im so genannten „Krieg der Worte“ (Guerra) weiter an, und zwar bei beiden Bürgerkriegsparteien.425 Im unabhängigen Mexiko regionalisierte sich die Zeitungsproduktion schnell, eine Vielzahl der Bundesstaaten hielt es für notwendig, schon bald nach 1824 eigene Publikationsorgane zu etablieren. Nicht-gouvernementale, rein privat finanzierte Zeitungen existierten hingegen kaum. Carlos Forment macht dafür zum einen den eingeschränkten Adressatenkreis verantwortlich und zum anderen die hohen Produktionskosten, welche wiederum darauf zurückzuführen waren, dass Mexiko fast alle Produktionsmittel importieren musste.426 Wie gesehen galt dies auch für Michoacán, das für seine Druckerpresse sowohl in England als auch in den USA suchte. 423 424 425 426
Sitzung Nr. 111 vom 11.09.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung vom 22.04.1824, in: AyD, I, S. 15. Vgl. Guerra: Modernidad, S. 285-288. Vgl. Forment: Democracy, S. 193-196. Vgl. zu Oaxaca, für das Guardino konstatiert, dass meist auch eine nicht gouvernementale, oppositionelle Zeitung existierte: Guardino: Time, S. 161f. Zum Vergleich: In den USA existierten 1787 bereits 92 Zeitungen und Zeitschriften, bis 1800 ca. 250 Zeitungen; vgl. Heideking: Verfassung, S. 63-65.
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Für Michoacán hatte Lloreda eine eigene Zeitung bezeichnenderweise über eine Zeitung aus Puebla schon 1821 gefordert. Bevor sie dann erst 1829 realisiert werden konnte, wurden Dokumente des Parlamentes zur Bekanntgabe an Zeitungen aus Mexiko-Stadt, insbesondere an El Sol und El Águilar, geschickt.427 Die Gründung der ersten Zeitung in Michoacán ging dann auf eine Initiative der Regierung José Salgados aus dem Jahre 1829 zurück. Die erste Ausgabe erschien schließlich am 2. April 1829. Unter dem Namen El Astro Moreliano. Periódico Político, was übersetzt so viel heißt wie Der Stern von Morelia. Politische Zeitung, erschien sie, gedruckt in der von José Miguel de Oñate betriebenen Druckerei des Staates, ein knappes Jahr lang mit 104 Nummern zweimal wöchentlich (montags und donnerstags). Als Herausgeber fungierte der als Yorquino bekannte Isidro Garcia Carrasquedo. Sie überlebte damit die Amtszeit von Salgado sowie die des ersten dritten Kongresses, welche am 6. beziehungsweise am 11. März 1830 endeten, nur um wenige Wochen. In den letzten zwei Monaten ihres Erscheinens existierten über knapp zwei Monate hinweg zwei Zeitungen in Michoacán, denn am 3. Februar 1830 wurde die erste Ausgabe von El Michoacano Libre. Periódico político y literario (Der freie Michoacano. Politische und literarische Zeitung) publiziert. Auch der Michoacano Libre erschien unter ihrem Redakteur, dem Geistlichen und späteren Abgeordneten Mariano Rivas, zweimal wöchentlich, und zwar bis Ende 1832.428 Der Michoacano galt zunächst als Oppositionsblatt, erhielt aber wenig später nach dem Antritt des zweiten dritten Kongresses, wie zuvor der als „liberal“ bezeichnete Astro, den Status eines offiziellen Regierungsorgans und lag dann häufig im Kongress aus. 429
427 Vgl. bspw. die Bekanntgabe der Verabschiedung und des Schwurs der Verfassung: Sitzung vom 21.07.1825, in: AyD, II, S. 416; ein Antwortschreiben an den Senat bei einem Konflikt mit diesem: Sitzung vom 11.01.1827 (c. 3, e. 6); die Verschiebung der Publikation eines Manifestes in El Sol; Geheimsitzung vom 10.01.1828 (c. 12, e. 1); die Ausführung gegen einen Amnestieantrag der „Gefangenen von Tulancingo“ [Sitzung Nr. 45 vom 07.03.1828 (c. 7, e. 2)] oder die Initiativen von diversen Ayuntamientos des Staates über das Verbot von Geheim-gesellschaften, beginnend mit Pátzcuaro in: Sitzung Nr. 60 vom 24.10.1828 (c. 9, e. 1). 428 Ende September 1832 wurde der Michoacano noch im Kongress erwähnt. Anfang Januar 1833 stellte Salgado dann schon fest, dass „die Herausgeber der Zeitung mit dem Titel ‚El Michoacano libre’ bereits aufgehört haben“ (A mi ingreso nuevamente al Gobierno del Estado ... vom 04.01.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura; c. 1, e. 12, s./f.). 429 Gedruckt wurde die neue Zeitung zunächst auf der so genannten „Presse im colegio Clerical“, später auf der „Presse des Michoacano Libre“. Nach Angaben aus der Sekundärliteratur handelt es sich hierbei um die Presse von Luis Arango; eindeutig bestätigen ließ sich dies jedoch nicht. Die Leitung hatte zunächst Joaquín Tejeda, dann Arango, Antonio Quintana und wieder Joaquín Tejeda inne. Vgl. insgesamt entsprechende Ausgaben der Zeitungen und Cortés Zavala: Vida, S. 359f.; Chowning: Wealth, S. 141.
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Nach der Einstellung des Michoacano libre unterstützte Salgado, der wieder Gouverneur war, und dann auch der neue Kongress das erstmalig am 28. Januar 1833 „von unterschiedlichen Ciudadanos“ 430 herausgegebene Blatt El Eco de la Libertad (Das Echo der Freiheit).431 In der vorliegenden Arbeit folgt keine ausführliche Auswertung des Zeitungsmaterials, vielmehr liegt der Fokus wieder auf den über die Protokolle überlieferten Perspektiven der Abgeordneten. Die Zeitungen enthielten in erster Linie offizielle Schriftstücke wie die im Weiteren ausführlich zu behandelnden Protokolle der Kongresse, sowie Gesetze, Regierungsschreiben, Informationen von den Gerichten, Milizen und der staatlichen Verwaltung. Daneben wurden auch Leserbriefe, Nachrichten aus Michoacán, Mexiko und der Welt, Anzeigen (staatliche Stellen, Theater et cetera), Variedades (Vermischtes), alltagspraktische Informationen sowie Literatur in Kurzform abgedruckt.432 In allen drei Zeitungen galt der Präsentation der Kongressarbeit die Priorität.433 Wie schon oben konstatiert, hatten also hier die Politiker aus ihrer Monopolstellung heraus im Unterschied sowohl zu Europa als auch zu den USA sehr viel stärker die Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu prägen. Sowohl die Leserbriefe als auch die abgedruckte offizielle Korrespondenz stammte nicht nur aus der Hauptstadt, sondern aus allen Teilen Michoacáns. Auch wenn keine Zahlen über die Auflage der Zeitung vorliegen, lässt sich somit eine relativ weite Verbreitung in die Regionen des Staates annehmen. Schon für eine der ersten Ausgaben des Eco beispielsweise ist von Abonnementgebühren aus Morelia, Puruandiro, Piedad und Angamacutiro die Rede.434 Der Vertriebsweg deutete wie der hohe Preis auf einen klar definierten, eher kleinen Adressatenkreis hin: Sowohl der Astro als auch der Michoacano kosteten sieben Reales pro Monat oder für ein Jahr neun Pesos (Astro) beziehungsweise
430 431 432 433
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Beide Zeitungen sind auf Mikrofiche in der Biblioteca Nacional de Antropología e Historia des Instituto Nacional de Antropología e Historia in Mexiko-Stadt erhältlich (Serie Morelia, Rollo 15 bzw. 16). Die Ausgaben des Astro sind dort komplett vorhanden, die des Michoacano lediglich bis zum 2. Februar 1832. Vgl. den Antrag Salgados: A mi ingreso nuevamente al Gobierno del Estado ... vom 04.01.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. Vgl. zudem die am 15. März 1833 genehmigten Vorschläge der Kommission: Está fuera de toda duda ... vom 09.03.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. Vgl. auch die Ankündigung des Astro: Prospecto von 1829, in: AHAM, c. 19, e. 40. Vom Eco liegen zwar leider keine Exemplare mehr vor, allerdings verband der Kongress im März 1833 dessen Kofinanzierung mit der Verpflichtung zur Publikation derselben offiziellen Dokumente; vgl. Está fuera de toda duda ... vom 09.03.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. Vgl. Estado que manifiesta las entradas y gastos ... (28.02.1833), in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f.
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zehn Pesos und vier Reales (Michoacano). Für den Vertrieb außerhalb der Hauptstadt war eine monatliche Portogebühr von drei beziehungsweise zwei Reales zu zahlen. Bei einem vermuteten Jahreseinkommen vieler Michoacanos von 70 Pesos waren Zeitungen damit ein Luxusgut einer kleinen Schicht. Die jeweilige Summe war im voraus zu entrichten, was die beiden Blätter zu reinen Abonnentenzeitungen machte, und zwar an die Steuerverwalter beim Astro und an die Postverwaltung beim Michoacano sowie in einigen Städten außerhalb des Staates an eigens aufgezählte Einzelpersonen.435 Es ist anzunehmen, dass diese Stellen im Gegenzug für die Bezahlung – wie im Postwesen üblich – die Zeitungen verteilten. Im freien Verkauf erschienen die Zeitungen wohl nicht. 1830 ging Domínguez davon aus, dass „viele Abonnenten, vielleicht die Mehrheit von außerhalb des Staates sind“436. Zu ihnen zählten neben Privatpersonen vermutlich auch die Kongresse sowie eventuell weitere Institutionen in Mexiko-Stadt und in anderen Staaten, denn seit der Mitte der 1820er Jahre war es üblich gewesen, dass die Kongresse die Zeitungen aus den anderen Staaten erhielten. Im Kongress Michoacáns lagen sie immer wieder und mit zunehmender Häufigkeit aus, Anfang der 1830er Jahre waren es oft mehrere Zeitungen täglich. 437 Sie galten den Abgeordneten als eine zentrale Informationsquelle und wurden immer wieder zitiert. 438 In der Konstituante hatte Lloreda „das Abonnieren der Zeitungen“439 als einen der zentralen Ausgabenposten eines Abgeordneten aufgezählt. Ob die Abgeordneten die Blätter auch noch privat erhielten, nachdem sie im Kongress auslagen, ließ sich nicht eruieren – auf alle Fälle gehörte es aber zum guten Ton, sie zu lesen. Sowohl die Preise als auch die Vertriebswege sprechen also für einen kleinen, klar abgrenzbaren Adressatenkreis, bei dem es sich in erster Linie wohl um politisch Tätige und um Hombres de bien innerhalb und außerhalb des Staates handelte. Betrachtet man die Herausgeberseite spricht vieles für einen starken Einfluss des jeweiligen Kongresses beziehungsweise der jeweiligen Regierung, was die Zeitungen zu quasi-gouvernementalen Organen werden ließ: Die Mit-Initiatoren aus den Reihen des Parlamentes sprechen dafür ebenso wie die jeweiligen Gründungs435 Diese Städte waren Mexiko-Stadt, Guadalajara, Querétaro, San Luis Potosí, Guanajuato für beide und nur für den Astro Puebla, Zacatecas und Colima; vgl. El Astro Moreliano Nr. 1 (02.04.1829), I, S. 1 bzw. El Michoacano Libre Nr. 1 (03.02.1830), I, S. 1. 436 Sitzung Nr. 69 vom 27.10.1830 (c. 12, e. 2). 437 Vgl. die ersten Erwähnungen: Sitzung Nr. 75 vom 09.01.1826 (c. 2, e. 6); Sitzung Nr. 95 vom 06.08.1826 (c. 4, e. 2); weitere Beispiele: Sitzung Nr. 1 vom 11.04.1832 (c. 16, s./e. 1); Sitzung Nr. 6 vom 18.04.1832 (c. 16, s./e. 1). 438 Beispielsweise galten die in El Sol abgedruckten Artikel als Vorbild und Diskussionsgrundlage für ein 1830 diskutiertes Projekt über die Justizverwaltung: vgl. Sitzungen Nr. 73, 78, 82f. u. 91 vom 03., 10., 15., 16. u. 25.11.1830 (c. 12, e. 2). 439 Sitzung vom 09.05.1825, in: AyD, I, S. 286.
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zeitpunkte und die Erscheinungszeiträume, die jeweils mit bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Kongress übereinstimmten, oder die Tatsache, dass, wie gesehen, der Astro Moreliano trotz knapper Kapazitäten von Beginn an auf der Druckerei des Staates gedruckt wurde. Oppositionsblätter, wie es der Astro nach dem Antritt des zweiten dritten Kongresses war, galten als kritikwürdig: Er „erscheint mit Parteilichkeit im Staat, indem er alle, die nicht mit seinen Ideen übereinstimmen, abkanzelt, ohne dass er Widerspruch hat, da es keine andere Zeitung gibt“. Es sei „schädlich am Astro, dass er bereit ist, gegen diejenigen, die nicht mit den Blicken von drei oder vier Individuen konform gehen, Verleumdungen zu prägen“ 440 . Um dies zu verhindern, wurde dann ja der Michoacano libre ins Leben gerufen; der Astro hatte dann bezeichnenderweise keine lange Überlebenschance. Besonders deutlich wird der gouvernementale Charakter freilich bei der staatlichen Co-Finanzierung. Häufig reichten die Abonnentengebühren nicht zur Deckung der Kosten.441 In diesen Fällen sah der Kongress die finanzielle Unterstützung als seine Pflicht an. Beispielsweise beantragten die Herausgeber des Michoacano im September 1832 beim Kongress wegen zu geringer Einnahmen staatliche Finanzzuschüsse, ebenso wie 1833 eine Kongresskommission für den Eco de la Libertad. Das Defizit war – nach eigenen Angaben – jeweils die Folge einer Abonnentenknappheit. Die Mehrheit der Abgeordneten schlossen sich diesem Ansinnen in beiden Fällen an und gewährten Zuschüsse,442, und zwar mit der Begründung: „Kein Staat, nicht einmal von den sehr nördlichen [muy internos]443, lässt von dieser Ressource ab, die wegen ihrer bekannten Nützlichkeit unentbehrlich ist“444. So lässt sich, fasst man das bisher Gesagte zusammen, resümieren, dass wie die Druckerpresse auch die Zeitung sehr stark mit dem jeweils amtierenden Kongress verbunden war und staatliche Aufgaben zu übernehmen hatte.
440 Sitzung Nr. 77 vom 10.11.1829 (c. 11, e. 1). 441 Vgl. ähnlich für Oaxaca: Guardino: Time, S. 162. 442 Vgl. Sitzung Nr. 28 u. 33 vom 18. u. 25.09.1832 (c. 17 , e. 1); vgl. auch den Hinweis darauf in: A mi ingreso nuevamente al Gobierno del Estado ... vom 04.01.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. Beim Eco standen Einnahmen von gut 88 Pesos kurz nach dem erstmaligen Erscheinen Ausgaben von gut 159 Pesos entgegen; vgl. Estado que manifiesta las entradas y gastos ... vom 28.02.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f.; für die ersten beiden Aus-gaben standen entsprechend Kosten von 44 Pesos zu Buche; vgl. Cuenta de los gastos ... vom 04.02.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. 443 Gemeint sind hier die so genannten Provincias internas bzw. Estados internos an der nördlichen Grenze Mexikos. 444 Sitzung Nr. 33 vom 25.09.1832 (c. 17 , e. 1).
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Worin bestand diese „bekannte Nützlichkeit“ für die Abgeordneten? Welche Ziele verfolgten sie mit dem schriftlichen Auftritt per Zeitung? Einen ersten Hinweis lieferte Salgado, der schon 1824 den Bedarf einer neuen Druckerpresse in erster Linie mit der Notwendigkeit begründet hatte, die Protokolle des Kongresses drucken und dann im Staat verteilen zu können. So sollten „die Pueblos seine Arbeiten mit den Händen greifen können und die Bissigkeit von vielen, die ihn anklagen, zum Schweigen gebracht werden“445. Salgado verortete also in der publikumswirksamen Darstellung der Kongressarbeit in erster Linie eine Legitimationsfunktion. Zwei Jahre später und nach dem Eintreffen der Presse diskutierte der Kongress darüber, ob sowohl das Gesetzesprojekt als auch die Protokolle mit den Debatten zur Landverteilung zu publizieren seien. Wegen seines exemplarischen Charakters sei dieser Fall hier ausführlich behandelt. Pablo Peguero argumentierte ideologisch für eine öffentliche Kommunikation: „Dadurch unterscheiden sich die freien Regierungen von den despotischen“. Gegen den Vorwand, dies koste zu viel, wandte er ein, es seien wegen des „allgemeinen Interesses ... unabdingbare Kosten“. Domínguez unterstützte ihn darin, da bereits über 5.000 Pesos für die Anschaffung der Presse ausgegeben worden seien, und zwar mit dem „vornehmlichen Ziel, dass die Pueblos das Interesse sehen, das der H.C. [der Ehrenwerte Kongress] an ihrem Wohl hat“ 446 . Einige Abgeordnete definierten also den schriftlichen Auftritt in die Öffentlichkeit, die Präsentation ihrer „Arbeit“ in Form der Protokolle als wesentlichen Bestandteil des parlamentarischen Selbstbildes. Die Mehrheit sprach sich dann zunächst für die Publikation der Protokolle aus. Auf der anderen Seite – und auch das wird in den folgenden Jahren als Argument immer wieder auftauchen – forderten die Abgeordneten einen vorsichtigeren Umgang, weswegen in diesem Fall die Protokolle über die Landverteilung schließlich auch nicht gedruckt wurden: Der Sekretär hatte den Druckauftrag nicht an die Regierung weitergeleitet, da die „Diskussion zu diffus“ 447 und somit nicht präsentabel gewesen sei. Die Kongressmehrheit entschied sich dann für den Verweis der Protokolle an die Comisión de policía und für die nochmalige Überprüfung durch den Kongress in seiner Funktion als Gran comisión. Und offensichtlich hatte dann ein Antrag von José Antonio Pérez Gil Anfang Januar 1827 Erfolg, der den obigen Beschluss zur Drucklegung rückgängig machte. 448 So lässt sich festhalten, dass gegenüber dem 445 446 447 448
Geheimsitzung vom 05.10.1824, in: AyD, I, S. 312. Sitzung Nr. 146 vom 30.11.1826 (c. 4, s./e.). Sitzung vom 16.12.1826 (c. 4, s./e.). Vgl. Sitzungen vom 05. u. 09.01.1827 (c. 3, e. 6). Die weitere Behandlung dieses Antrags ist zwar nicht überliefert, jedoch ist weder vom Ergebnis der Gran comisión noch von der Vorlage des Druckes die Rede; und selbst das entsprechende Dekret wurde erst Ende
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Publikationspostulat nicht nur technische und finanzielle Skepsis existierte. Der schriftliche Auftritt per Zeitung sollte also mit großer Vorsicht vorbereitet und mehrfach abgesichert werden. In diesem Sinne durften die zu publizierenden Protokolle auch nur durch eine dem Kongress zugehörige Person erstellt werden, diese sensible Aufgabe sollte nicht in fremde Hände, beispielsweise eines Zeitungsredakteurs, gelangen. Auch hierfür engagierte sich der Kongress wiederum finanziell: Für die Erstellung der Protokolle erhielt der Sekretär – auch er ja ein gewählter Abgeordneter – vom Staat fünf Pesos monatliche Extraprämie.449 Lorenzo Aurioles erwähnte in diesem Kontext das nicht näher erläuterte Projekt des vorherigen Kongresses einer „offiziellen Zeitung, mit dem Ziel, die Protokolle dem Publikum vorzulegen“450. Beim schriftlichen Auftritt per Zeitung stand also die Veröffentlichung der Protokolle im Vordergrund. Der Kongress beschloss beim oben zitierten Antrag des Eco de la Libertad auf finanzielle Unterstützung von 1833 in diesem Sinne dann gar über den Vorschlag der Kommission hinaus die Erhöhung der wöchentlichen Ausgaben, „wenn die Regierung die beiden Ausgaben für die Erfüllung des im vorherigen Artikel genannten Ziels nicht für ausreichend hält“. Dieser vorherige Artikel nannte die Publikation von „Protokollen, Gesetzesvorschlägen ... und weiteren legislativen Dokumenten“451 als vorrangiges Ziel der Zeitung und stimmte darin mit den vorherigen Kongressen überein. Bevor auf den Komplex der Veröffentlichung der Protokolle eingegangen wird, soll hier zunächst ihre Entstehung in den Blick genommen werden. Denn schon bei der Erarbeitung der Protokolle legte der Kongress größte Vorsicht an den Tag. Die Geschäftsordnung sah als erste, je wöchentlich alternierende Aufgabe der beiden Sekretäre vor, „die Protokolle der öffentlichen und geheimen Sitzungen anzufertigen“452. Zu diesem Zweck sollten beide Sekretäre über die Geschehnisse der Sitzungen „nur eine einfache und genaue Aufzeichnung“453 erstellen. Die Hauptschreibarbeit oblag den zum Sekretariat gehörigen Schreib-
449 450 451 452
453
Januar, also Wochen nach seiner Verabschiedung, in den Druck gegeben; vgl. Sitzungen vom 16. u. 30.01.1827 (c. 3, e. 6). Vgl. Sitzung Nr. 16 vom 27.08.1831 (c. 15, e. 2). Sitzung Nr. 16 vom 27.08.1831 (c. 15, e. 2). Está fuera de toda duda ... vom 09.03.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. Reglamento (21.07.1825) / Art. 40/1, in: RdL, II, S. 11. Dem jeweils anderen Sekretär oblag die Entgegennahme „aller Dokumente, die [während der Sitzung] gelesen werden“ und deren Kennzeichnung für die weitere Verarbeitung; Reglamento (21.07.1825) / Art. 41, in: RdL, II, S. 11f. Reglamento (21.07.1825) / Art. 66, in: RdL, II, S. 16.
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kräften: Auch sie „nahmen mit Pünktlichkeit von Anfang bis Ende an den Sitzungen teil“ und zwar so, dass sie „bequem hören können, um ihre Aufzeichnungen zu machen“ 454 . Laut Geschäftsordnung hatten die Protokolle, „die publiziert werden sollen“, einerseits „das, was in den Sitzungen passiert“ ist, zu enthalten und andererseits einen „Extrakt der in der Diskussion verwendeten Argumente, unter Angabe ihrer Autoren“455. Nach der Redaktion der Protokolle legten die Schreibkräfte diese der aus dem Kongresspräsidenten und den Sekretären bestehenden Comisión de policía zur Prüfung und Verbesserung vor.456 Ein Sekretär trug das so erstellte Protokoll dann zu Beginn der nächsten Kongresssitzung im Plenum vor. Erst nach der Zustimmung des Kongresses, die durch die Kurzunterschriften (Rúbricas) des Präsidenten und der beiden Sekretäre verbürgt wurde, durfte es dann in das „entsprechende Buch“457 übertragen werden. Nach nochmaliger Prüfung der Kopie unterschrieben die drei genannten Personen diese endgültige Version mit ihrer vollständigen Unterschrift (Firma).458 454 Reglamento (21.07.1825) / Art. 68, in: RdL, II, S. 16. 455 Reglamento (21.07.1825) / Art. 67, in: RdL, II, S. 16. Die Reden der Abgeordneten sollten nur dann vollständig eingeführt werden, wenn sie diese nach der Sitzung im Sekre-tariat schriftlich ablieferten. In den Protokollen sind allerdings nur wenige ausführliche Reden übertragen, obwohl sie wohl gängig waren. Der Versuch, 1829 für die Mitschrift der Reden eine zusätzliche Schreibkraft einzustellen, scheiterte; vgl. Sitzung Nr. 6 vom 13.08.1829 (c. 10, e. 2); Sitzungen Nr. 37 u. 59 vom 23.09. u. 19.10.1829 (c. 11, e. 1). 456 Später vereinbarte der Kongress, dass der Redakteur der Comisión die Protokolle bis vier Uhr nachmittags vorzulegen habe; vgl. Sitzung vom 18.01.1827 (c. 3, e. 6). 457 Reglamento (21.07.1825) / Art. 44/5, in: RdL, II, S. 12. 458 Vgl. Reglamento (21.07.1825) / Art. 44/6, in: RdL, II, S. 12. Die Unterschrift trat also in zweierlei Gestalt auf: Bei der Rúbrica kam es weniger auf das Erkennen des Namenszuges, sondern stärker auf eine schnelle Handhabbarkeit an, ohne dass dabei allerdings der Authentifizierungscharakter verloren gehen durfte. So gab Salgado 1829 in einem Schreiben an den Kongress beziehungsweise an die Regierung in Mexiko-Stadt sowie vermutlich an weitere Autoritäten die Veränderung seiner Rúbrica offiziell bekannt: „Um die Arbeitsintensität der Aufgaben der Regierung und die Notwendigkeit, sogar die kleinsten Handlungen des Amtes zu vereinfachen, hielt ich es für angemessen, die Rúbrica, die ich bis heute benutzt habe, zu verändern, in der Art, wie sie am Rand dieses Schreibens steht.“ [Considerando la laboriosidad de las atenciones del Gobierno ... (20.08.1829), in: AGN, Historia, leg. 31, c. 3 (= c. 60), e. 16]. Vgl. auch das im Kongress eingegangene Schreiben: Sitzung Nr. 13 vom 22.08.1829 (c. 10, e. 2). Da es sich bei dem zitierten Brief um einen Vordruck handelte, ist davon auszugehen, dass ihn eine große Zahl von Empfängern, auch in anderen Staaten, erhielt. Diese Unterrichtung schien nicht unüblich, jedenfalls erhielt der Kongress wenig später ein Schreiben der Regierung von Coahuila y Texas, dass ein Minister ebenfalls seine Rúbrica verkleinert habe; vgl. Sitzung Nr. 36 vom 22.09.1829 (c. 11, e. 1).
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Was weiter mit dem erwähnten Buch mit den Protokollen geschehen sollte, war in der Geschäftsordnung nicht geregelt. Es ist jedoch zu vermuten, dass es unter der Obhut des zweiten Sachbearbeiters, der in erster Linie als Archivar fungierte, im Kongress verwahrt wurde.459 Domínguez ging jedenfalls 1827 wie selbstverständlich davon aus, dass, „wenn ein anderer Kongress antritt, dessen Individuen bei einer Frage über diesen Punkt eine Orientierung in Anspruch nehmen wollen“, zu den Protokollen greifen würden. Deswegen müssten sie auch die „wichtigen Argumente“ 460 beinhalten. Ein Druck und eine Vervielfältigung dieser Bände wurden im Betrachtungszeitraum, anders als beispielsweise vom föderalen Kongress oder von der Constituyente des Estado de México überliefert, nicht diskutiert.461 Die Protokolle verblieben also im Kongress, ob eine Ansicht für Externe möglich war, ist mit dem vorliegenden Material nicht zu beantworten. Allerdings scheint dies in der Praxis nicht der Fall gewesen zu sein, jedenfalls deuten die nachfolgend zitierten Diskussionen darauf hin, dass erst nach der später erfolgten Drucklegung der Protokolle diese für die Öffentlichkeit zugänglich wurden. In der Theorie wurde also auf die Anfertigung der Protokolle eine große Sorgfalt verwendet und auf die Richtigkeit großer Wert gelegt. Wie aber sah das in der Praxis aus? Die Abgeordneten sahen sich hier im Spannungsfeld zwischen einer „möglichen Perfektion“ 462 und einer pragmatischen, nicht zu zeitintensiven Lösung. Zunächst ist festzustellen, dass die Protokolle in fast allen Fällen bis zur nächsten Sitzung angefertigt und dann dort verlesen wurden. 463 Reformvorschläge von Seiten der Abgeordneten wurden regelmäßig angebracht und akzeptiert, allerdings geht aus den meisten Protokollen nicht hervor, um welche Veränderungen es sich handelte: Meist heißt es, die Protokolle seien mit den von Abgeordneten X angezeigten Reformen verabschiedet 459 Vgl. zu den Aufgaben des Archivars: Reglamento (21.07.1825) / Art. 188 u. 190-192, in: RdL, II, S. 35f.: Er hatte über alle vom Kongress empfangenen Dokumente Buch zu führen und sie zu ordnen. 460 Sitzung Nr. 32 vom 18.09.1827 (c. 5, e. 2). Vgl. auch den Monate später vorgetragenen Verbesserungshinweis von Peguero in: Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1). 461 Vgl. hierzu die Geschäftsordnung des föderalen Kongresses: Dekret Nr. 327 (Reglamento del soberano congreso, 25.04.1823) / Art. 80, in: LM; die Auslage des föderalen Regierungsblattes Registro oficial ab September 1830, das die Protokolle der Kongresssitzungen beinhaltete bzw. auch das Eintreffen des achten Protokollbandes der Constituyente des Estado de México im Kongress von Michoacán in gedruckter Form: Sitzung Nr. 114 vom 18.09.1826 (c. 4, e. 2). 462 Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). 463 Seltene Ausnahmen gab es bspw., wenn der zuständige Redakteur erkrankt war; vgl. Sitzung Nr. 35 vom 21.10.1825 (c. 2, e. 8); Sitzung vom 19.08.1826 (c. 4, e. 2) oder bei „außerordentlichen Arbeiten im Sekretariat“: Sitzung vom 09.01.1827 (c. 3, e. 6).
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worden.464 Huarte sprach 1826 allgemein von „zahlreichen Reklamationen“465. Meist dürften wohl die inhaltliche „Vorstellung“ oder „Idee“ 466 von Äußerungen Anlass für Reformanträge gewesen sein, zuweilen aber auch eher pragmatische Aspekte wie die Klärung von Missverständnissen 467 oder die nachträgliche Bekanntgabe einer Ursache, warum man in einer Sitzung gefehlt hatte. 468 Die Abgeordneten legten also auch in der Praxis viel Wert auf die „mögliche Perfektion“ der Protokolle. Auf der anderen Seite sollte nicht zu viel Zeit mit dem Lesen und Korrigieren der Protokolle verbracht werden. Deshalb schaffte der Kongress schon im Oktober 1825 die anfänglich gepflegte Praxis ab, sowohl die Aufzeichnungen der Redakteure als auch die der Sekretäre mitsamt den von ihnen gesammelten Dokumenten zu verlesen. Von nun an sollten nur mehr die Redakteursprotokolle vorgelesen werden. 469 Huarte begründete diese Kompromisslösung damit, dass man so „keine Zeit verliere, da es [erstens] eine allgemeine Praxis aller Kongresse sei, da so [zweitens] die Ideen eher begründet werden, und schließlich weil man jetzt die Reden der Señores sieht, auch wenn nicht mit der gewünschten Genauigkeit und Perfektion. [Andererseits würden] sie nie erscheinen, wenn man das Protokoll des Redakteurs nicht liest.“470
So einigte sich der Kongress auf diese Variante, mit der man beide Erfordernisse – hohe Genauigkeit und wenig Zeitverlust – zu erfüllen hoffte. Die Befürworter unterlegten diesen Kompromiss damit, dass man sich der angestrebten Genauigkeit und Perfektion der Protokolle weiter nähern würde, wenn die bereits beantragten Stellen an „Stenographen [taquígrafos]“471 besetzt würden. Schon bei der Erarbeitung der Geschäftsordnung in der Konstituante hatten die Abgeordneten solche Stellen eingeplant, obwohl die Stenographie 464 Vgl. u.a. Sitzung Nr. 35 vom 21.10.1825 (c. 2, e. 8); Sitzung Nr. 147 vom 02.12.1826 (c. 4, s./e.); Sitzung vom 06.05.1828 (c. 7, e. 3). 465 Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). 466 So die Umschreibungen bei einer ausführlichen Diskussion um Reformanträge von vier Abgeordneten in: Sitzung Nr. 147 vom 02.12.1826 (c. 4, s./e.). 467 Vgl. Sitzung vom 21.12.1826 (c. 4, s./e.). 468 Vgl. Sitzung Nr. 65 vom 10.04.1828 (c. 7, e. 2); Sitzung Nr. 37 vom 23.09.1829 (c. 11, e. 1). Teilweise wurden solche Anmerkungen auch erst Monate später angebracht: Sitzung Nr. 6 vom 12.08.1828 (c. 8, e. 1). 469 Vgl. die folgende, leider nur partiell überlieferte Diskussion: Sitzung Nr. 45 vom 01.10.1825 (c. 2, e. 8); Sitzung Nr. 58 vom 14.11.1825 (c. 2, e. 9); Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). 470 Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). 471 Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2).
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erst in ihren Kinderschuhen steckte.472 Anfang 1826 hatte Domínguez vorgeschlagen, „diese prächtige Erfindung des menschlichen Genies“ einzuführen. Sie sei zwar „in Michoacán noch unbekannt. Andere Staaten aber haben schon vorgesorgt“. Deswegen, so der Antrag, möge auch Michoacán über die Zeitungen „zwei Professoren der Stenographie aus Mexiko-Stadt oder Guadalajara“473 anwerben. Diese sollten einerseits die Kongressdebatten mitschreiben, andererseits weitere Personen in ihrer Fertigkeit ausbilden. Nach der Sitzungspause erwähnt das Protokoll einen weiteren Antrag, und zwar den eines Mitarbeiters des Sekretariats, er würde seinen Sohn gegen Übernahme der Kosten zur Ausbildung nach Mexiko schicken. 474 Dieses Projekt schien sich allerdings zunächst nicht umsetzen zu lassen. Ein möglicher Grund hierfür mag der durch den Wettbewerb unter den Staaten hohe Preis gewesen sein: Huarte stellte jedenfalls fest, dass die Regierung von Veracruz, obwohl sie mit 900 Pesos Jahresgehalt noch 300 mehr als Michoacán geboten hatte, keinen geeigneten Stenographen hatte anwerben können.475 Als wichtigste Maßnahme zur angestrebten „Perfektion der Protokolle“ führte Huarte 1826 bezeichnenderweise das Eigeninteresse der Abgeordneten an: Wenn „die Protokolle ans Licht gebracht werden, werden die Señores diputados darauf achten, dass ihre Reden so aufgeführt werden, wie sie vorgetragen wurden“476. Solange sie nicht – so auch Domínguez vier Jahre später – „ans Publikum gegeben worden waren, hatte man keinen Skrupel, den einen oder anderen Redaktionsfehler durchgehen zu lassen; wenn sie aber veröffentlicht werden sollen, ist es notwendig ..., dass der Stil korrekt ist“477. Die Öffentlichkeit übte demnach disziplinierende Wirkung auf die Abgeordneten aus. Im Unterschied zum unmittelbaren und zum architektonischen Auftritt des Kongresses würde demnach der schriftliche in Form der Protokolle unmittelbar-persönliche Konsequenzen für die Abgeordneten nach sich ziehen. Der unmittelbare Auftritt war, wie gesehen, nur in Kommissionen gestattet und in den sehr seltenen Fällen, in denen er stattfand, sollte er stark ritualisiert und damit ent-persönlicht werden: Nicht die Person, sondern der Señor diputado als 472 Vgl. die Festlegung, dass neben den Redakteuren auch die „Stenographen (wenn es sie gibt)“ [Reglamento (21.07.1825) / Art. 68, in: RdL, II, S. 16] von Anfang bis Ende an den Sitzungen teilnehmen sollten. Vgl. zum bayerischen Landtag, wo Gabelsberger in den 1820er Jahren die treibende Kraft war. Ab 1831 hatte das Parlament dann schon zehn Stenographen eingestellt; vgl. Götschmann: Parlamentarismus, S. 182-185. 473 Sitzung Nr. 73 vom 04.01.1826 (c. 4, e. 2). 474 Vgl. Sitzung Nr. 95 vom 06.08.1826 (c. 4, e. 2). 475 Vgl. Sitzung Nr. 105 vom 28.08.1826 (c. 4, e. 2). 476 Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). 477 Sitzung Nr. 69 vom 27.10.1830 (c. 12, e. 2).
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Funktion des Staates trat auf. Und während der architektonische Auftritt per se unpersönlich war, scheinen bei schriftlich-medialisierten Auftritten die Abgeordneten als Personen betroffen zu sein. Auch über die Publikationen in Gesetzesform, die ja immer ein Produkt des Gesamtkongresses waren, ging die protokollarische Inszenierung diesbezüglich hinaus. Auf der anderen Seite lässt sich freilich der gegenüber den Gesetzespublikationen eingeschränkte Adressatenkreis erkennen. Die folgende Abhandlung soll zum einen die gerade präsentierten (Hypo-)Thesen untermauern und zweitens nach Gründen und nach Auswirkungen fragen. Im Oktober 1827 verabschiedete der Kongress eine generelle Richtlinie, nach der „nur jene Protokolle gedruckt werden, die nach Einschätzung des Kongresses, ... Diskussionen enthalten, deren Interesse die öffentliche Aufmerksamkeit erregen“478. Als Domínguez im Mai 1829 die Publikation der Debatten über Konflikte zwischen den beiden höchsten Gerichten forderte, erhielt er hierfür wieder (wie im November 1826) nur Unterstützung von Peguero: „Eine der Sachen, die das aktuelle Regierungssystem erfordert, ist die Manifestation der Motive jedweder Verhandlung an seine Auftraggeber [also dem Wahlvolk], sonst wäre es eine despotische und willkürliche Regierung“479. Beide tendierten dazu, der Öffentlichkeit ein allgemeines Interesse an den Verhandlungen zu unterstellen, standen damit aber wieder allein. Die Mehrheit sah dieses Interesse nicht und sprach sich unter Verweis auf die hohen Ausgaben gegen die Publikation aus.480 Ähnlich hatten die beiden ein Jahr zuvor argumentiert, als es darum ging, die Debatte über die Klärung des Verfassungsartikels, der sich mit der Wiederwahl des Gouverneurs auseinandersetzte, zu publizieren. Im Hintergrund dieser Debatte stand die Frage, ob Salgado als Vizegouverneur, der das Amt des Gouverneurs jedoch seit dem Rücktritt Morenos führte, wieder antreten darf. Wie in Kapitel D I gesehen, war dies eine hochpolitische Frage. Die Publikation hatte hier wieder disziplinierende Wirkung: Wenn die Öffentlichkeit unterrichtet sei – so die Argumentation –, könnte die Wahlversammlung den Artikel nicht falsch interpretieren. Domínguez zog seinen Antrag dann jedoch zurück, was er damit begründete, dass „er nur das Gesamtwohl des Staates anstrebe“ Deswegen sei er dagegen, dass ein einzelner die Kosten für den Druck übernehme. Pedro Camarillo hatte dies 1828 mit dem aussagekräftigen Hinweis angeboten, um den Kongress im Konflikt mit Salgado „nicht lächerlich zu machen“481. 478 Sitzung Nr. 55 vom 16.10.1827 (c. 5, e. 3). 479 Sitzung vom 13.05.1829 (c. 10, e. 2). Vgl. auch den Antrag und die zu veröffentlichende Sitzung: Sitzung vom 02.05.1829 (c. 10, e. 2). 480 Vgl. Sitzung vom 13.05.1829 (c. 10, e. 2). 481 Sitzung Nr. 79 vom 17.11.1828 (c. 9, e. 1).
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Mit dem Gang in die Öffentlichkeit war also das Risiko verbunden, lächerlich (gemacht) zu werden und damit die Honorabilidad, die Ehrenhaftigkeit, zu verlieren. Dies galt nicht nur für den Kongress als Ganzes, sondern auch für die einzelnen Abgeordneten: So äußerte sich der amtierende Präsident Antonio Chávez 1829, als er bei Reden im Kongress davon ausging, dass man „zu deren Verfassen vielleicht drei bis vier Tage bräuchte, denn, da es für das Publikum ist, will sich niemand lächerlich machen“482. In diesem Sinne verbot der Kongress 1826 nachträgliche Protokolländerungen am Sinn einer Argumentation, auch wenn es sich nur um den Tausch „eines einzigen Wortes“ handelte, da sie „die übrigen Abgeordneten ins Lächerliche ziehen“483 würden. Wie bei den anderen Auftritten in die Öffentlichkeit, stand auch durch die schriftliche Inszenierung der ehrenwerte Charakter des Kongresses und seiner Mitglieder auf dem Spiel. So hatte schon die Geschäftsordnung festgelegt: „Wenn die Meinung von einem oder mehreren Abgeordneten bekämpft wird, werden ihre Namen nicht erwähnt, und die Worte und Argumente von dem, der spricht, werden auf den Punkt der Fragestellung beschränkt, ohne die Personen zu berühren“ 484 . Demnach gibt es zwar Konflikt und Kritik, das „Lebenselixier“485 eines Parlamentes, deren Subjekte beziehungsweise Objekte sollten aber nicht präsentiert werden, damit der Kongress – wie es der nächste Artikel ausdrückt – „seine Schicklichkeit und die Union, die zwischen seinen Mitgliedern herrschen soll“ 486 , wahren kann. Nach außen sollte somit laut Reglamento ein anderes Bild abgegeben werden, als dem, das der Praxis des Kongresses entsprach, also nicht das der streitenden Kollegialkörperschaft, sondern das des Honorable congreso. Dies wurde, wie gesehen und wie bei der Diskussion um den Umgang mit den Protokollen noch näher zu erörtern sein wird, nur partiell umgesetzt. So ist auch zu verstehen, warum sich die Mehrheit der Abgeordneten immer wieder skeptisch gegenüber der Publikation äußerte. Sie sahen sich auch als Personen in Frage gestellt, in ihren Reden traten sie persönlich auf und nicht nur als Institution. Ihr Name stand über ihren Reden, die, so der amtierende Präsident 1826, „man als ein Eigentum ihrer Autoren annehmen muss“487. In diesem Sinne gab Manuel Chávez zu bedenken, dass ein „guter Stenograph“, der alles mitschreiben kann, was in der Sitzung passiert, „vielleicht nicht immer schmeichelt, da oft Ideen vorgebracht werden, deren Ausdruck besser 482 483 484 485 486 487
Sitzung Nr. 4 vom 11.08.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 148 vom 05.12.1826 (c. 4, s./e.). Reglamento (21.07.1825) / Art. 118, in: RdL, II, S. 25. Patzelt: Symbolizität, S. 603. Reglamento (21.07.1825) / Art. 119, in: RdL, II, S. 25. Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2).
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gestrichen würde, sei es, weil sie in Eile entstanden sind oder weil sie in einer erhitzten Debatte provoziert wurden“488. Sowohl die Tendenz, in der Publikation der Protokolle eine Möglichkeit zur Legitimation zu sehen, als auch diejenige, sie als Risiko zu betrachten, tauchten auch in den Debatten auf, die die im Kontext mit der Etablierung des Zeitungswesens in Michoacán entstanden. Zunächst überwog die erste Tendenz: So hatte Salgado 1829 im Kongress die Ausarbeitung eines neuen „Drucksystems“ beantragt, da das bisherige, „obwohl es zwei neue Pressen gibt“ unter anderem deswegen nicht ausreiche, da „das Gebäude, wo es [jetzt] ist, nicht das entsprechende Ausmaß gewährt“. Das neue System sollte so viele Kapazitäten aufweisen, damit „eine Zeitung errichtet werden kann, in der die Bildung vieler Individuen kommuniziert wird, die bei ihrem Fehlen verborgen bleibt“489. Noch bevor der Astro Moreliano dann am 2. April 1829 erstmalig erschien, hatte José Miguel Oñate als Beauftragter der Staatspresse beim Kongress angefragt, ob „man ihm über das Sekretariat des H.C. eine Kopie der Protokolle bereitstelle, um sie in der Zeitung, die errichtet wird, zu publizieren“ 490 . Der Kongress stimmte der Vorlage der Kommission dann zwei Tage später ohne Debatte zu: Dem Verwalter der Presse sollten die Entwürfe der Protokolle, sobald sie in der Endfassung vorlagen, übergeben werden. Falls dieser die mit der Übertragung verbundene Verzögerung umgehen wollte, konnte er auch „eine Schreibkraft schicken, die diese unmittelbar nach der Genehmigung kopiert“491. Der Kongress zeigte also großes Entgegenkommen, fast gewinnt man den Eindruck, als habe er auf diese Möglichkeit gewartet. So hatte Domínguez schon einen Tag vor der eben erwähnten Genehmigung in einer Diskussion über die Organisation der Miliz einen Vorredner darauf hingewiesen, dass man mittels der neuen Zeitung die laufende Diskussion publizieren könne, „damit das Publikum sich einen Eindruck mache von den Argumenten ... Der verständige Teil wisse, den Motiven einen guten Sinn zu geben“492. Als es konkret wurde, am Tag vor dem erstmaligen Erscheinen des Astro, forderte Domínguez dann allerdings doch eine genaue Festlegung, ob man der Zeitung die Protokolle komplett oder nur in Auszügen geben solle. Er, eigentlich ein Befürworter der Publikation, begründete sein Anliegen bezeichnenderweise mit der Gefahr der Lächerlichkeit. Die Herausgeber dürften die Protokolle als
488 489 490 491 492
Sitzung Nr. 78 vom 16.01.1826 (c. 4, e. 2). Sitzung Nr. 26 vom 09.09.1828 (c. 8, e. 1). Vgl. auch Memoria 1828, S. 50f. Sitzung vom 26.03.1929 (c. 10, e. 2). Sitzung vom 28.03.1929 (c. 10, e. 2). Sitzung vom 27.03.1929 (c. 10, e. 2).
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„Eigentum des Kongresse nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis nach ihrem Gutdünken verkürzen; ... dies würde bedeuten, ihnen ein offenes Feld zu überlassen, damit sie die Abgeordneten im Speziellen und den Kongress im Allgemeinen der Lächerlichkeit preisgeben.“493
Er kenne zwar die Herausgeber der Zeitung nicht, aber keiner könne ignorieren, „dass die aktuellen Abgeordneten viele Feinde haben“494. Er konnte sich allerdings mit dieser Argumentation nicht durchsetzen, vielmehr überzeugten diejenigen, die meinten, die Herausgeber zu nichts verpflichten zu können. Einige Monate später stellte der Kongress allerdings nochmals heraus, dass kein Protokoll ohne die Autorisierung des Sekretariats an die Zeitung gehen dürfe.495 Der Kongress musste kontrollieren, was von ihm und von seiner Arbeit an die Öffentlichkeit gelangt. Im folgenden Jahr (1830), kurz nach der Installation des zweiten dritten Kongresses erhielt der Michoacano libre zunächst ähnlich umstandslos die Erlaubnis, die Protokolle abdrucken zu dürfen: Diesmal hatte sie Manuel Menéndez mit der „Notwendigkeit“ begründet, „dass sich das Publikum über die Operationen der Staatsfunktionäre unterrichtet, um sich ein Urteil über die gute oder schlechte Führung der Gewalten zu bilden“496. Domínguez forderte zwar auch hier wieder ein, dass nur die Protokolle gedruckt werden, „die hier gelesen werden“497 – allerdings zunächst erfolglos. Einen endgültigen Entschluss über den Modus der Publikation fällte dann erst der vierte Kongress, der sich als Ausdruck der Dringlichkeit wieder kurz nach seiner Installation im August 1831 mit der Materie beschäftigte: Der Sekretär sollte aus den Protokollen jeweils eine Kurzfassung erarbeiten, und zwar ohne Erwähnung der Argumentation. Hiergegen hatten Domínguez, Peguero und Rivas, der Herausgeber des Michocano, Protest eingelegt, da man mit einer solchen Kurzfassung „das Publikum nicht von den Meinungen der Señores diputados unterrichtet. Für diesen Fall würden auch die Gesetze ausreichen ..., da man hier das letzte Ergebnis der Diskussionen sieht“498. Nach ihnen sollten zumindest die wichtigsten Argumente abgedruckt werden. Schließlich entschieden sich jedoch sieben gegen drei Abgeordnete für die Publikation in Form von anonymisierten Extrakten: Sonst würden die Protokolle ihrer Meinung nach zu lang und außerdem könne niemand darüber befinden, welches 493 494 495 496
Sitzung vom 01.04.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung vom 01.04.1829 (c. 10, e. 2). Sitzung Nr. 40 vom 26.09.1829 (c. 11, e. 1). Sitzung Nr. 23 vom 26.08.1830 (c. 11, e. 3). Vgl. die Genehmigung: Sitzung Nr. 28 vom 03.09.1830 (c. 11, e. 3). 497 Sitzung Nr. 69 vom 27.10.1830 (c. 12, e. 2). 498 Sitzung Nr. 16 vom 27.08.1831 (c. 15, e. 2).
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die wichtigsten Argumente waren. Diese Debatte und der Beschluss heben das konstant starke und nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellte Interesse der Abgeordneten an einem schriftlichen Auftritt deutlich hervor. Gleichzeitig schien so die Gefahr der Lächerlichkeit gebannt. Zudem schien man nun mit der Publikation in anonymisierten Extrakten ein passendes Format gefunden zu haben: Das Publikum war über die Arbeit des Kongresses unterrichtet, die Abgeordneten aber nicht dem Risiko der Lächerlichkeit ausgesetzt. Und in von ihm festgelegten Einzelfällen konnte der Kongress darüber entscheiden, ob er umfassender publizieren wollte: So beschloss er 1831 beispielsweise ein Gesetzesprojekt zu drucken „mit dem Ziel, dass die Fachleute ihre Meinung dazu kundtun können“ 499 . Und im folgenden Jahr meinte Peguero bei der Diskussion einer Verfassungsreform bezüglich der Ayuntamientos, man möge das Projekt im Michoacano abdrucken mit der ausdrücklichen Aufforderung, dass die Ayuntamientos „Beobachtungen anstellen können, die sie für den besten Erfolg für angemessen halten“. Den Vorschlag hatte Huarte – und das scheint bezeichnend für die Publikationstätigkeit des Honorable congreso – mit dem Ziel eingebracht, dass „dessen Druck und Zirkulation sehr passend sei, damit sie den Pueblos als Lektion dienen“500. Auch wenn die Abstimmung über den Antrag anhängig blieb, ist hier deutlich die Positionierung des Kongresses als erklärender Vater zu erkennen. Das äußerte sich auch an dem Argument vom Dezember 1831, dass man über die Protokolle, die man dem Michoacano aushändigen wolle, die Kritik am Kongress über seine Untätigkeit widerlegt und die Arbeit der Abgeordneten damit ins rechte Licht rückt. In dem Protokoll sollte folgendes übermittelt werden: „Sobald der H.C. die traurige Situation, in der sich die Justizverwaltung befindet, erfasst hatte, beschäftigte er sich mit der möglichen Lösung ...“501. Mit Vorzug sollte dieses Protokoll in der Zeitung abgedruckt werden. Besonders eindringlich formulierte dies die Kommission des Parlamentes, die, wie oben gesehen, 1833 erfolgreich den Ausgleich des monatlichen Defizits des Eco begründete: „Alle freien Regierungen brauchen diese mächtige Antriebskraft der Presse, um ihre Verwaltungsakte zu publizieren und die Meinungen der Ciudadanos zu Gunsten der heiligen Sache der Freiheit zu vereinheitlichen“502. Auch
499 500 501 502
Sitzung Nr. 14 vom 25.08.1831 (c. 15, e. 2). Sitzung Nr. 1 vom 11.04.1832 (c. 16, s./e. 1). Sitzung Nr. 97 vom 16.12.1831 (c. 14, e. 1). Está fuera de toda duda ... vom 09.03.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f.
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Salgado hatte ähnlich argumentiert: Eine Zeitung sei notwendig, um „die öffentliche Meinung zu uniformieren und zu begradigen“503. In einer abschließend zitierten Diskussion wird dann besonders deutlich, was sich hier bereits ankündigte: Auf Grund des eingeschränkten Abonnentenkreises der Zeitungen kommunizierte der Kongress nicht mit einem weit gefassten Publikum, sondern mit einer ausgewählten Leserschicht. Juan Gómez de la Puente unterschied 1829 das „besonnene Publikum“, das „diese Sachen objektiv zu sehen versteht“, von der „Mehrheit des Pueblo, das die Tätigkeiten der Diputados bewertet“504. Domínguez stellte 1830 fest, dass die meisten Subskribenten der Zeitung wohl außerhalb des Staates zu finden seien. Damit aber „das Ziel erreicht wird, wäre es eher ratsam, dass sie an die Ayuntamientos, Korporationen und Angestellten gratis verteilt werden“. Gómez de la Puente stimmte dem zu, da „es den Vorteil hätte, dass diese [die Ayuntamientos] ihre Beschlüsse und Sitzungen“ an denen des Kongresses „orientieren würden, und dass auf diese Weise viele Individuen gebildet werden und andere weniger Faule die Bildung genießen könnten, die die Protokolle geben“ 505 . Der Kongress unterstützte diesen Antrag einhellig und beschloss, seine finanzielle Beteiligung an der Zeitung zu erhöhen.506 So lässt sich resümierend festhalten, dass die Abgeordneten von Beginn an den internen Auftritt vom Auftritt nach außen sehr deutlich unterschieden, und zwar sowohl in der Gesetzestheorie als auch in der Verhandlungspraxis. Bei den alltäglichen Parlamentsverhandlungen präsentierten sie, wie gesehen, den ersten Körper, den Body natural. Hier wurde im Sinne Benthams eine kritisch-kollegiale Deliberation praktiziert, persönliche Kritik war ebenso möglich wie Meinungsänderungen. Sowohl bei Abstimmungen als auch bei den Diskussionen waren konträre Meinungen üblich. „Jedes Individuum hat in der gegenwärtigen Zeit seine Meinung und will sich immer distinguieren, wie wir es im Kongress sehen“ (Rivas). In wesentlichen Annahmen stimmten die Abgeordneten jedoch überein, nämlich einerseits in Bezug auf einen ehrenhaften Lebensstil und bezüglich des gemeinsamen Einsatzes für das Gemeinwohl und andererseits in Bezug auf die Anerkennung der Gesetzesherrschaft. Beide Merkmale hingegen fehlten nach Einschätzung der Deputierten in der Gesellschaft. Dieser Gesellschaft gegenüber, beim Auftritt nach außen, durften weder die Abgeordneten noch der Kongress den Body natural präsentieren, sondern den 503 A mi ingreso nuevamente al Gobierno del Estado ... vom 04.01.1833, in: AHCM, Varios, V. Legislatura, c. 1, e. 12, s./f. 504 Sitzung vom 27.03.1929 (c. 10, e. 2). 505 Sitzung Nr. 69 vom 27.10.1830 (c. 12, e. 2). 506 Vgl. Sitzungen Nr. 74, 93 u. 96 vom 06., 27.11. u. 02.12.1830 (c. 12, e. 2).
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Parlamentarische Inszenierung
überpersönlichen Body politic. Neben dem persönlich-unmittelbaren Auftritt wurden mit dem „architektonischen“ und mit dem „schriftlichen“ zwei medialisierte Inszenierungsformen betrachtet. Bei den verschiedenen Auftrittsformen ließen sich analytisch drei Charakteristika abgrenzen: der Entzug aus der Alltäglichkeit, die Distinktion und die Ritualisierung. Den ersten Aspekt, den Entzug aus der Alltäglichkeit, brachte Gómez de la Puente auf den Punkt, als er 1832 feststellte, man solle die „Anwesenheit des Kongresses nicht vergeuden, damit seine Autorität nicht verfällt“. Während der Zeit bis 1835 ist entsprechend nur ein einziger unmittelbarer Auftritt in die Öffentlichkeit überliefert. Freilich trat auch hier nicht der gesamte Kongress auf – dies verbat die Geschäftsordnung sogar –, sondern nur eine Abordnung. Und selbst für diese Kongresskommissionen stand, wie gesehen, für die Abgeordneten die Gefahr der „Beleidigung“ des Souveräns, wie es an anderer Stelle hieß, im Vordergrund. Um diese „Beleidigung“, die Kritik zu verhindern, setzten die Abgeordneten neben der Außeralltäglichkeit auf das zweite oben genannte Charakteristikum, nämlich auf Distinktionen, auf die Abgrenzung gegenüber der Außenwelt. Dies wird sowohl bei den theoretischen Diskussionen deutlich als auch bei den Kontakten mit der „Außenwelt“ innerhalb des Kongresses, also bei den Kontakten mit offiziellem Besuch. Zur Distinktion dienten zum einen festgelegte Anredeformeln: Die Abgeordneten und der Kongresspräsident hatten bei der offiziellen Kommunikation Anspruch auf bestimmte Titel, beispielsweise durfte der Kongress selbst nur in der dritten Person und mit dem Titel des „Ehrenwerten Kongresses“ angesprochen werden. Stärker umstritten waren dann der Anspruch auf das Tragen einer Uniform in der Öffentlichkeit und der auf Sonderbehandlung bei Kirchenbesuchen. Lloreda stellte bezüglich der Uniform 1825 fest, diese „Distintivos sind lächerliche Reize, mit denen die despotischen Regierungen, wie beispielsweise der berühmte Bonaparte, die Völker gekauft haben“: „Deswegen ist es notwendig, dass in unserem wahrhaft freien System solche Manien für immer abgeschafft werden“. Allerdings vertrat er eine Einzelmeinung, Villaseñor brachte die der Mehrheit auf den Punkt: Selbst „Republiken wie ... Rom, Griechenland und Athen haben sie [die Distintivos] immer verwendet; und wir wissen, dass diese Distinktionen sogar im Himmel je nach dem Verdienst der Seligen existieren“. Distinktionen waren nach Gómez de la Puente sogar erforderlich, „damit das Volk die Funktionäre nicht mit Missachtung betrachtet“. Selbst in den „liberalsten Republiken“ (Rivas) sei dies üblich und auch im „Natur- und göttlichen Recht“ (Peguero) so vorgesehen, denn: „Die äußeren Distinktionen haben starken Einfluss auf den geschuldeten Gehorsam“. So beschloss der Kongress, dass den „ersten Autoritäten des Staates“ beim Kirchenbesuch „die gleichen Ehrerweisungen“ entgegenzubringen seien wie „nach den Statuten und Bräuchen den Vizekönigen im
Schriftliche Inszenierung des Kongresses
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erloschenen Regierungssystem“. Hierbei wurde die Selbst-Positionierung des Kongresses als Ersatz-Monarch besonders deutlich: Die Abgeordneten maßen dem Kongress eine ähnliche sozio-kulturelle Funktion zu wie „den Vizekönigen im erloschenen Regierungssystem“. Der Auftritt nach außen sollte aber nicht nur außeralltäglich distinguiert sein, sondern als drittes Charakteristikum auch stark ritualisiert. Die Ritualisierung äußerte sich in einer starken rechtlichen Formalisierung des Auftritts, in der Rigidität des Protokolls, bei der Choreographie der Abläufe sowie bei der Rang-, Sitz- und Kleiderordnung und bei den schon erwähnten Anredeformeln. Diese Außenkontakte hoben sich schließlich durch ihre Redundanz und durch ihre verdichtete Symbolik vom Verhandlungsalltag ab. Mit Hilfe der drei genannten Charakteristika sollte gegenüber der Öffentlichkeit der stete Body politic des Ehrenwerten Kongresses präsentiert werden und nicht der Body natural der streitenden Kollegialkörperschaft. Der Kongress sollte sich in eine Institution verwandeln und damit die „Behauptung von Dauer“ und von Ordnung sicherstellen. Auch beim architektonischen „Auftritt“ spiegelte sich dieser Anspruch gut wider: Während nach innen bei der Einrichtung des Plenarsaales die Funktionalität im Vordergrund stand, galt es nach außen zu repräsentieren: Die oberste Gewalt hatte in einem der herausragenden Bauwerke der Hauptstadt ihren dauernden Sitz. Das Parlament residierte wie ein Monarch in seinem „Palacio del congreso“. Was sich hier schon andeutete, wird bei der dritten Auftrittsform, der schriftlichen Inszenierung noch deutlicher: Die Abgeordneten sahen trotz ihrer Bedenken bezüglich der „Beleidigung“ des Kongresses die dringende Notwendigkeit zur Kommunikation mit dem Volk. Diese Spannung lösten die Abgeordneten auch hier durch die Verwandlung des Body natural in eine Institution auf. Die Deputierten setzten wie bei den anderen Auftrittsformen auch bei der Veröffentlichung der Gesetze und der Protokolle viel daran, kommunikationsfähig zu werden und eine entsprechende Infrastruktur zu etablieren: Dies beginnt bei der Versorgung mit Papier und Stenographen, reicht über die Ausstattung mit vor allem vom Kongress genutzten Druckereikapazitäten, und über den Wiederaufbau des Postsystems bis hin zur Gründung einer gouvernementalen Zeitung. Der Kritik von Jürgen Schlumbohm an der These vom modernen europäischen Gesetzgebungsstaat ist demnach zuzustimmen, wenn er behauptet, dass „offenbar das Erlassen und – zunehmend – das Publizieren von Gesetzen seinen Sinn in sich selbst“507 hatte: „Die Obrigkeit zeigte sich als Obrigkeit, und zwar gegenüber den eigenen Untertanen wie nach außen gegenüber anderen Herrschaften. … Das war schon ein wesentlicher Teil
507 Schlumbohm: Gesetze, S. 659. Vgl. hierzu auch den Teil A I.
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Parlamentarische Inszenierung
dessen, was von der Herrschaft erwartet wurde“508. Das Publizieren von Gesetzen und damit der Auftritt der gesetzgebenden Autorität galt als Machtsetzung. Auch bei der schriftlichen Inszenierung legten die Abgeordneten dabei großen Wert darauf, nicht die Ehre zu verlieren, nicht als „lächerlich“ zu erscheinen, wie es immer wieder heißt. Entsprechend sollten die Namen der Abgeordneten in den veröffentlichten Protokollen nicht genannt werden, damit der Kongress – wie es die Geschäftsordnung ausdrückt – „seine Schicklichkeit und die Union, die zwischen seinen Mitgliedern herrschen soll“, wahren kann. Freilich intendierte das Parlament auch hier seine Position als Ersatz-Monarch, als ordnende Institution und als erklärender Padre zu betonen: Die Zeitung und die darin abgedruckten Protokolle hatten der „Bildung“ (Juan Gómez de la Puente) und „Uniformierung der Meinung“ (Salgado) zu dienen. Und, wie eingangs zitiert, sollten auch „die Gesetze so eindeutig geschrieben sein, dass keiner über ihre Bedeutung zweifelt, so wie wenn ein Vater etwas seinen Kindern erklärt“.
508 Schlumbohm: Gesetze, S. 660.
G.
Resümee: Die Errichtung eines „government of institutions, not of men“ und der Kongress als Ersatz-Monarch
Der Abgeordnete José Joaquín Domínguez forderte am 10. Oktober 1827 seine Kollegen auf, die Menschen „insbesondere im Bereich der Interessen“ so zu sehen, „wie sie sind und nicht, wie sie sein sollen“1. Konkret diskutierte der Kongress hier die Frage, wie Ersatz-Richter und Ersatz-Anwälte am Obersten Gerichtshof zu vergüten seien. Insbesondere ging es darum, ob man diese Entscheidung dem Gericht überlassen kann oder ob man als Kongress eine „generelle Regel“ in Form einer Gebührenordnung verabschieden soll. Auf abstrakter Ebene debattierten die Deputierten dabei grundlegende Aspekte des Menschen-, Gesellschafts- und Gesetzesverständnisses. Welches Bild vom Menschen ist bei der Gesetzgebungsarbeit als Grundlage zu verwenden, das ideale („wie sie sein sollen“) oder das tatsächliche („wie sie sind“)? Wegen ihrer Grundsätzlichkeit wird diese Passage hier zu Beginn des die Studie abschließenden Resümees ausgeführt und dann mit den Fragestellungen der Einleitung konfrontiert. Zunächst hatte die mit der Materie befasste Kommission, wie sie einige Wochen später eingestehen musste, kein besseres Verfahren gefunden als die Festlegung der Gebührensätze „der Klugheit des Gerichts zu überlassen“. Ignacio Villavicencio unterlegte den Vorschlag damit, dass „man den Menschen nicht immer misstrauen darf, da es auf diese Weise keine Gesellschaft in der Welt gibt“. Wie Domínguez forderte dann allerdings vor allem Pablo Peguero eine „generelle Regel“, da man sonst, „der Willkür die Tür öffnet“: Auch wenn „man die Menschen für unbestechlich hält, sind sie doch niemals frei von Leidenschaften“. Zudem müsse „man im liberalen System die Rechte eines jeden einzelnen respektieren“, weswegen eine generelle, über der „Klugheit des Gerichts“ stehende Regelung zu befürworten sei. Im weiteren Verlauf forderte er, „innigst durchdrungen von der Gerechtigkeit“, und von den „zu beachtenden Menschenrechten“, die es durch eine allgemeine Regelung zu schützen galt: „Die Institutionen des angenommenen [Regierungs-]Systems müssten in religiöser Weise beachtet werden“, weswegen „Finger auf die Willkür gelegt werden müssen, um die Missbräuche zu vermeiden“. Dann wiederholte er die Meinung von Domínguez: Ein Gesetz müsste so geschrieben sein, dass es „die Menschen nicht nur so beurteilt, wie sie sind oder wie sie sein sollten, sondern 1
Sitzung Nr. 49 vom 10.10.1827 (c. 5, e. 3).
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Resümee
dass es sie auch als ausgesetzt betrachtet, tausend Exzesse zu begehen“ 2 . Schließlich einigte sich der Kongress auf einen Kompromiss: Das Gericht hatte die jeweilige Vergütung für die Ersatzleute unter Beachtung der einschlägigen, vom Gesetzgeber erarbeiteten Gebührenordnung festzulegen.3 Welches Bild vom Menschen, vom Funktionieren der Gesellschaft und der Rolle von Gesetzen sollten die Abgeordneten ihrer Gesetzgebungstätigkeit also zu Grunde legen? War es das des nur an sich selbst interessierten Wesens, geprägt von Leidenschaften und von seiner zu tausend Exzessen und zur Willkür neigenden Natur, dem man an sich nicht vertrauen kann und das damit auch nicht gesellschaftsfähig ist? Demnach wäre selbst der Klugheit des Obersten Gerichts, immerhin eine der drei höchsten Staatsgewalten, nur mit Einschränkung zu vertrauen. Die Abgeordneten würden so also primär von der Malicia humana, der menschlichen Bosheit, ausgehen. Auf der anderen Seite sahen sie sich herausgefordert durch Ansprüche einer ‚atlantischen’ Sollensordnung, hier in Gestalt des so genannten liberalen Systems, der Menschrechte und der Gesetzesherrschaft. Die Abgeordneten differenzierten an dieser Stelle besonders eindrücklich zwischen dem mit Mängeln aller Art verbundenem Sein der eigenen, konkreten Situation und dem implizit vorhandenen, aus extern-theoretischen Quellen gewonnenen Gegenentwurf einer rational-idealen Sollensordnung. Dies macht die Vorstellung einer ‚atlantischen’ beziehungsweise einer ‚atlantisierten Region’ besonders anschaulich. Am Ende der obigen Diskussion steht bezeichnenderweise ein Kompromiss: Vom Kongress beziehungsweise den Abgeordneten verabschiedete Normen sollten den mit der Malicia humana verbundenen Gesetzesunterworfenen als Leitlinie dienen, und damit die Ideale des liberalen Systems garantieren. Andererseits vertrauten die Abgeordneten der Klugheit der Mitglieder des Obersten Gerichtes doch soweit, als dass sie ihnen innerhalb der von ihnen vorgegebenen Norm einen gewissen Entscheidungsfreiraum überließen. Die Abgeordneten Michoacáns suchten zwischen den Ansprüchen der Seinsund Sollensordnungen einen eigenen, eigensinnigen Weg. Für sie existierte – anders als ex post häufig unterstellt – die „Vielfalt der Moderne“ (Eisenstadt). Die Studie hatte sich die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, wie sie die als Zeitalter der atlantischen Revolutionen bezeichnete Epoche vor dem Hintergrund ihres spezifischen Kontextes ausgestalteten. Sie stellte damit makrohistorische, meist eurozentristische Sichtweisen in Frage, die von einer mangelbehafteten 2 3
Sitzung Nr. 86 vom 21.11.1827 (c. 5, e. 3). Vgl. Sitzung Nr. 92 vom 28.11.1827 (c. 5, e. 3); Dekret s./Nr. (10.12.1827), in: RdL, III, S. 25.
Resümee
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Übertragung der Konzepte Verfassung / Staat auf Gesellschaften außerhalb des nordatlantischen ‚Zentrums’ sprechen, davon, dass der Staat eine europäische Erfindung war, der dann übertragen wurde (Reinhard), von hybridisierten Verfassungen oder Staatsordnungen im Vergleich zu den vermeintlich authentischen Idealtypen oder von den „drei wesentlichen Traditionslinien des modernen Konstitutionalismus“ (Preuß)? Die vorliegende Studie geht den Weg andersherum, sie fragt nicht (nur) nach ideengeschichtlichen „Stammbäumen“, beschränkt sich nicht rein „auf das Analysieren der Verfassungstexte“ (Pietschmann), auf eine „sozialkontextunabhängige Ideengeschichte“ (Dutt). Der hier gewählte integrierende Ansatz einer „veralltäglichten und akteursbezogenen Ideengeschichte“ oder einer „ideengeschichtlichen Alltagsgeschichte“ untersuchte also – wie in der Einleitung ausgeführt – nicht nur die Gesetzesnormen ‚an sich’, sondern auch die mit ihnen verbundenen Vorstellungen bei den diese Normen erarbeitenden Akteuren. Die Studie nahm also die Gesetzgeber als konkret in ihrer Situation handelnde und leidende Menschen ernst, die sich atlantisches Gedankengut auf ihre Bedürfnisse hin aneigneten, verstand sie nicht nur als abstrakte und passive Ideenträger und –empfänger. So war es möglich, das Postulat der Einleitung einzulösen, und den Vorstellungswelten, Erwartungshaltungen und Argumentationsmustern der Abgeordneten nachzugehen. Wegen des enorm reichen Materials konnte dies in sehr dichter Form und aus verschiedenen Blickwinkeln geschehen. Der Studie gelingt es damit einerseits, ein methodisches Desiderat zu erfüllen und andererseits vermeidet sie mit diesem Perspektivwechsel die Gefahr, sich in den nationalgeschichtlichen Fortschrittlichkeitsdiskurs einzuschreiben, sei es aus einem eurozentrischen, oder einem Mexiko-zentrischen Blickwinkel. Letzterer manifestiert sich in der einschlägigen Historiographie insbesondere in der Betonung des besonders liberalen Charakters der mexikanischen Gesellschaften beziehungsweise ihrer Eliten. So konnte die starke atlantische Kontextualisierung, die die Abgeordneten vollzogen, für die Analyse berücksichtigt werden. Auch „jenseits des Nationalstaats“ (Osterhammel) waren Akteure miteinander verflochten. 4 Über die vergleichende Geschichtsschreibung hinaus bezog die Studie damit also auch beziehungsgeschichtliche Elemente mit ein, Elemente des wechselseitigen, multilateralen Austausches. Die Abgeordneten verstanden sich als Teil eines atlantischen (Ideen- und Wissens-)Raumes mit wechselseitigen Transfers. Gleichzeitig konnte damit gezeigt werden, dass sie auf der bislang wenig 4
Vgl. hierzu den Überblickartikel: Kaelble: Debatte, mit der Auseinandersetzung mit Konzepten wie „Transfer(-geschichte)“ (Michel Espagne), „entangled history / Verflechtungsgeschichte“ (Sebastian Conrad / Shalini Randeria), „histoire croisée“ (Michael Werner / Bénédicte Zimmermann).
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Resümee
beachteten regionalen Ebene wenig „provinziell“ diskutierten. Sie rezipierten nicht nur, sie verstanden sich beispielsweise in puncto republikanisch-konstitutioneller Ideen und Einstellungen gegenüber dem monarchisch-traditionellem Europa als Teil des fortschrittlich-vorbildlichen Amerika.5 Konkret hieß das hier zu untersuchen, warum und wie die Abgeordneten und die Verfassungsväter Michoacáns sich aus dem atlantischen und – als Teil davon – aus dem endogenen Ideenfundus bedienten und ihn auf ihre Situation hin anwendeten. Im Zwischenresümee zur Verfassung (Kapitel C III) wurde die These formuliert, dass die Verfassunggeber Michoacáns in Umwandlung des John Adam’schen Diktums vom „government of law, not of men“ intendierten, ein „government of institutions, not of men“ zu etablieren. Institution wurde dabei als „symbolische Ordnung“ aufgefasst, als „Ordnungsbehauptung“ (Rehberg). Durch die Institutionalisierung und die Entpersönlichung der Herrschaft sollte gegenüber den Regierten das Bild einer geordneten Welt evoziert werden. Als zentrale staatliche Institution fungierte hierbei der Kongress, der rechtlich-institutionell vielerlei Kompetenzen des vormaligen Monarchen übernehmen sollte – nicht zuletzt die des Trägers der Souveränität und die der über den Gesetzen stehenden Gnadeninstitution. Auf diese Thesen vom „government of institutions“ und von des Kongresses als ErsatzMonarchen – auch über den rechtlichen Bereich hinaus – hin werden Ergebnisse der vorliegenden Studie im Folgenden nochmals in den Blick genommen. Nach der langandauernden und tiefgreifenden spätkolonialen Legitimationskrise und dem vielfältige soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Institutionen und (Vertrauens-)Beziehungen zerstörenden elfjährigen Bürgerkrieg hatte die neue regionale Elite 1824 / 1825 die Möglichkeit gesehen, die stetig stärker gewordene Forderung nach einer gerechten Repräsentation und Konstitution zu realisieren. Gleichzeitig hatte die Wahrnehmung einer stark gespaltenen und zerissenen Gesellschaft starken Einfluss auf die Ausbildung der republikanischen Politikkultur. Im Gegensatz zu den meisten ihrer europäischen Pendants sahen sich die Verfassung- und Gesetzgeber vor die „überkomplexe Aufgabe“ (Grimm) gestellt, sowohl für eine neue staatliche als auch für eine neue gesellschaftliche Ordnung die Verantwortung zu übernehmen, das hieß, nicht nur neue Staatsinstitutionen zu etablieren, sondern auch die Disolución social zu bekämpfen. Letzteres taten sie beispielsweise durch die Förderung des Sozialmodells Familie oder durch Nation-building. Der Kongress beanspruchte dabei die ehemals monarchische Position des Pater familias für sich.
5
Vgl. zur Ausdifferenzierung des Amerikabildes im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen: Rinke: Amerika.
Resümee
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Geprägt war die Konstitutionalisierung von einem immensen Vertrauensdefizit gegenüber dem „Anderen“. Es äußerte sich rechtlichinstitutionell gegenüber Exekutive und Judikative sowie gegenüber der Landesverwaltung (Kapitel B und C), aber auch – das wurde in den Kapiteln D (asymmetrische Vertrauensbeziehung!) und E noch deutlicher – gegenüber der eigenen Bevölkerung. Der Kongress beanspruchte die Übernahme der Souveränität, ergo der gesamten Verantwortung und Macht. Die aus der Kolonialzeit tradierte paternalistische Grundhaltung in den Eliten schien sich eher noch zu intensivieren, was sich besonders eindrücklich im Konstrukt des Kongresses als Ersatz-Monarch äußerte. Gleichzeitig ist dieses Konstrukt ein Paradebeispiel für die Aneignung, die Übersetzung, einer alten, etablierten Institution – nämlich die des Monarchen – auf die neue Situation hin. Was sich bei der Behandlung der Staatsangehörigkeit in Kapitel B schon andeutete, wurde dann bei der Untersuchung des Wahlrechts noch deutlicher. Die Diputados michoacanos definierten die Beziehungen zu den Regierten zuvorderst als persönliche Vertrauensbeziehung und nicht primär als rechtlichsachliche Relation. Trotz einer positivrechtlichen Gestaltbarkeit – auch hier stand man in einer langandauernden Entwicklung weg vom traditionellen Verständnis eines transzendent gesetzten Rechtes –, trotz der intensiven Reformtätigkeit der (Wahl-)Gesetze konnten die Wähler, insbesondere die der Juntas primarias, das Vertrauen der Regierenden nicht gewinnen. Die asymmetrische Vertrauensbeziehung war ein strukturell-konstituierender Bestandteil der Politik- und Gesellschaftskonzeption der Eliten – auch die oben zitierte Passage deutet auf dieses Vertrauensdefizit hin. Entsprechend dieser Feststellung – und dem dichotomischen Denken der Aufklärung folgend – kritisierten die Abgeordneten die Regierten in gute und schlechte Gesellschaftsmitglieder, und zwar in erster Linie gemäß ihres Lebensstils und nicht über ökonomische oder (bemerkenswerterweise) über ethnische Merkmale – unter anderem die Diskussionen um die Boletas de seguridad zeigten dies. Tief in diesem dichotomischen Denken verankert nahmen sie ‚ihre’ Gesellschaft als stark gespalten wahr: Die Vagos wurden als „perverse Menschen“ (Salgado) ex-sozialisiert, sie galten als entmenschlichte „Motte“, von der die Gesellschaft „zu reinigen“ (Huarte) sei. Aber auch gegenüber den Pueblos, die den größten Bevölkerungsteil stellten, betonten die Abgeordneten in erster Linie die Unterschiede (Unmündigkeit, Rückständigkeit, Ignoranz et cetera) und weniger das Potential der Annäherung. Die durch die Aufklärung induzierte Leyenda negra gegenüber der eigenen Bevölkerung blieb konstitutiv, die konkreten Michoacanos galten als das zu reformierende Übel. Anders als die USA, die sich kulturell in ihrer Konstituierungsphase ja weitgehend als neue und bessere europäische Gesellschaft definierten und sich entsprechend kaum mit dem indigenen Anderen auseinandersetzten, hatte hier eine stärkere
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Resümee
Mestizisierung Fuß gegriffen: Das Andere innerhalb der eigenen Gesellschaft war konstitutiver Bestandteil der kreolischen Identitätskonstruktion, und musste also verortet werden. So lässt sich annehmen, wie dies das Kapitel F zumindest andeutet, dass die Abgeordneten sich in einem zweigeteilten Kommunikationsraum verorteten: Der Sociedad michoacana stand die atlantische Gesellschaft gegenüber. Während man gegenüber ersterer eine einseitige Topdown-‚Kommunikation’ anstrebte, galt letztere als ernstzunehmender Orientierungsrahmen. Immanuel Kant hatte, wie in der Einleitung zitiert, 1781 seine Zeit als „das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß“, bezeichnet. Sehr vieles schien machbar geworden zu sein. Von dieser Annahme waren auch die Abgeordneten Michoacáns überzeugt: Sie sahen es als ihre Aufgabe an, eine neue Gesellschaft zu entwickeln, Vertrauen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern zu schaffen. Das Bild der natürlich gewachsenen Familia michoacana wurde durch das der zu konstruierenden Nación michoacana überlagert, wenn auch nicht verdrängt. Allerdings muss die Frage, ob die Abgeordneten dabei tatsächlich auf die Bildung einer alle Schichten, also auch sie selbst, umfassenden „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ abzielten, negativ beantwortet werden. Die Abgeordneten beanspruchten nicht, die Gesellschaft von Grund auf neu zu erfinden. Sie integrierten vielmehr einige als natürlich wahrgenommene Elemente aus der eigenen Geschichte genauso wie aus den persönlichen Erfahrungen. Innergesellschaftliche Unterschiede galten demnach als natürlich: Schon in den „Republiken wie ... Rom, Griechenland und Athen“ und „sogar im Himmel existieren diese Distinktionen“ (Villaseñor). Dabei beanspruchten die Abgeordneten die Distinktionen, die Unkritisierbarkeit nicht nur für den Kongress, sondern auch für sich als Teil des Pars sanior der Gesellschaft. Sie setzten sich in ihrer Eigendarstellung als vernünftige Abgeordnete von den leidenschaftlichen Menschen, als für die Gesamtgesellschaft Verantwortung übernehmende Abgeordnete von den egoistischen Menschen ab. Zuweilen wurde diese Unterscheidung auch auf einer Fortschrittlichkeitsskala verortet. Die Diputados michoacanos, die miteinander kritisch-kollegial umgingen – Kritikfähigkeit war also vorhanden –, besaßen gegenüber ‚ihrer’ Gesellschaft, die sie als anders und fremd wahrnahmen, ein ausgeprägtes und strukturelles Distinktionsbedürfnis. Denn – so Koselleck –: „Die Kritik ist der Tod des Königs“ 6 . Auch hier wird deutlich, dass es sich um eine nach-jakobinische Gesellschaftsgründung handelte, der der Optimismus der Aufklärung abging. Gleichzeitig äußert sich der trotz Säkularisierungstendenzen – wie beispielsweise beim Umgang mit dem Tod, bei der Ausgestaltung des Schwurs
6
Koselleck: Kritik, S. 97.
Resümee
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auf die Verfassung oder der Beschreibung der Staatsaufgaben – nach wie vor starke katholische Einfluss. Der – für Michoacán beispielsweise von Margaret Chowning – festgestellte „genuine support of the principles of liberalism and federalism and equality, if not always of unadulterated democracy“ 7 in den Eliten bis zum Ende der 1820er Jahre konnte nicht bestätigt werden. Die vermeintlichen konservativen Abgrenzungstendenzen der Eliten ab den späten 1820er Jahren präsentierten also keinen „response to events and behaviors and tendencies that, perhaps naively, they had not foreseen when they embraced liberalism and federalism before and after independence“, die konservativen Tendenzen sind mithin keine akzidentiellen Entscheidungen. Freilich kann man die Eliten deswegen nicht als „fundamentally conservative“ und als Personen brandmarken, die schon in den Unabhängigkeitskriegen nur darauf aus waren, „to seize power for themselves but never to bring about real social change“8. Vielmehr zeigte das Zwischenresümee, dass die Gegenüberstellung liberal versus konservativ – übersetzt: fortschrittlich versus rückschrittlich – für ordnungsetablierende Verfassungen als primäres Klassifikationskriterium offenbar wenig erkenntnisbringend ist: Die Abgeordneten konnten keine alte Ordnung konservieren, sie galt als zerstört. Sie fürchteten als neue, fragile politische Elite zwar um ihre Besitzstände, wehrten sich aber nicht „mit Berufung auf Geschichte, Recht und Kultur“ 9 gegen die Veränderungen. Sie waren nicht grundsätzlich „Gegner von Aufklärung und Revolution“ 10 . Vielmehr versuchten sie, die Revolution zu gestalten beziehungsweise waren dazu gezwungen und setzten dazu mit der Verfassung und den Gesetzen liberale Mittel ein. Wie das Zwischenresümee zeigten auch die weiteren Kapitel, dass die Deputierten wenig ideologisiert waren, sich vielmehr aus diversen Ideencorpora bedienten und diese auf konkrete Diskussionszusammenhänge anwendeten. Sowohl bei den Debatten als auch bei den Abstimmungen ließen sich kaum F(r)aktionsbildungen erkennen. Es gab nicht die Liberalen oder die Konservativen. Wie für das Gesamt-Mexiko der 1820er und 30er Jahre festgestellt, lässt sich hier keine
7
Chowning: Wealth, S. 141f. Insbesondere für die Abgeordneten stellte sie, wie gesehen, diese liberale Grundeinstellung fest; vgl. Chowning: Wealth, S. 125: „… ubiquity with which liberal individualism and political openness were embraced is especially easy to observe in the debates of the state congress“. Für den hispanischen Bereich der 1810er Jahre vgl. die zitierten Werke von Manuel Chust. 8 Chowning: Wealth, S. 141. So auch resümierend und in Abgrenzung zu Carlos Stoetzer für die iberische Welt: Mücke: Aufklärung, S. 24. 9 So ein erster Definitionsschritt von Ulrich Mücke (Mücke: Aufklärung, S. 40) mit Bezug auf Rudolf Vierhaus. 10 Mücke: Aufklärung, S. 29.
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Resümee
Ausdifferenzierung erkennen.11 Selbst unter den Freimaurerlogen der Yorkinos beziehungsweise Escoseses, häufig als Vorläufer späterer Parteien betrachtet, standen liberale und konservative (Welt-)Anschauungen je nach Situation nebeneinander. So beispielsweise bei José Salgado, einem der Anführer der Yorkinos in Michoacán, der aber – gänzlich illiberal – u.a. für die „Uniformierung“ der öffentlichen Meinung plädierte. Am ehesten ließ sich der Geistliche Manuel de la Torre Lloreda als Liberaler kennzeichnen, aber auch er befürwortete Distinktionen, die Reduktion kommunaler Mitsprache und eine starke Stellung der Kirche. Als zentralen Baustein der neuen Ordnung etablierten die Abgeordneten den Kongress als ordnungsbehauptende und -sichernde Institution, für den sie entsprechend die Definitionsmacht beanspruchten. In diesem Rahmen und zur Erreichung dieses Ziels konnten dann auch Reformen im Wahlrecht durchgeführt werden, die im Kampf gegen die als bedrohlich erlebten Facciones neben der Zentrale vor allem das Individuum stärkten (Wahlregister- und scheine, abgesicherte Widerspruchsverfahren, feste Zeitvorgaben et cetera). Die dortige Feststellung, dass die Abgeordneten bei den Reformen das Verhalten der Regierten berücksichtigten, widerlegte zudem den „Mythos“, „that liberalism was not an applied doctrine“, „that nineteenth-century Latin American Liberals [– wenn man sie denn so bezeichnen will –] were highly principled men who subbornly refused to bend their exalted ideas to the necesities of power“ 12 . Die Abgeordneten Michoacáns orientierten ihre Vorstellungen durchaus an den Bedingungen der Seinsordnung. Die Definitionsmacht beanspruchten sie dabei freilich für sich. Dieser Anspruch war aber, wie gesehen, auf mannigfache Weise mit Widerständen, innergesellschaftliche Auseinandersetzungen und Anerkennungskonflikten verbunden, insbesondere mit dem Domkapitel, dem Rathaus (vor allem der Hauptstadt), den Milizen oder auch mit den so genannten Facciones. Zudem hatte sich auch nach 1824, wie die hohe Fluktuation auf allen Ebenen des Wahlprozesses zeigte, keine stabile Elite herausbilden können. Personen aus einer sich entwickelnden (bildungs-)bürgerlichen Mittelschicht drängten in politische Führungspositionen, die die Mitglieder der ehemals dominanten Familien allerdings weiterhin zu besetzen versuchten. Die neuen Institutionen hatten offenbar ein gewisses Renomée, ergo Anerkennung, gewonnen. Trotz der zahlreichen außerparlamentarischen (Macht-)Kämpfe trugen sie damit zu einem gewissen Grad an Ordnung bei: Hier herrschten keine Caudillos und Familien. Die Herrschaft des Caudillo Guzmán über den nach wie in der
11 Vgl. zu Mexiko jüngst: Mücke: Aufklärung, S. 357-360 bzw. weiter: 360-392. 12 Peloso / Tenenbaum: Introduction, S. 1 bzw. 2.
Resümee
571
Kolonialzeit kaum integrierten Süden der Region macht diese zumindest partiell erfolgreiche Ordnung im Kontrast besonders anschaulich. Bei den Wahlreformen ließ sich zudem erkennen, dass es den Abgeordneten nicht nur um die zitierten „necesities of power“ ging, sondern auch um die Übernahme von gesamt-gesellschaftlicher Verantwortung – auch hier lässt sich eine Kontinuität zur späten Kolonialzeit erkennen. Bei den Reformen ging es konkret um den Kampf gegen die Facciones, die pejorativ mit Individualinteressen verknüpft wurden. Die bisher von der State building-Forschung meist praktizierte Fokussierung auf Machtfragen scheint also (zumindest hier) zu kurz zu greifen. So nahm der Aspekt der Verantwortung dann auch im Kapitel zur parlamentarischen Gesellschaftskritik einen zentralen Stellenwert ein. Bei der diskursiven Verortung der Gesellschaftsmitglieder durch die Abgeordneten skizzierten jene diejenigen als Ideal, die für die Gesellschaft Verantwortung übernahmen oder sich gar – das zeigten die Abschnitte über die Nationalfeiern – für die Gemeinschaft opferten. Das individuelle Element stand auch hier hinter dem gemeinschaftlichen und dem für die Gesellschaft Verantwortung übernehmenden zurück. Als Ideal gefeiert wurden nicht die auf ihre individuellen Interessen abzielenden Revolutionäre, sondern die an das Bien común denkenden und sich opfernden Nationalhelden. Gleichwohl galten sie nicht als konkrete Vorbilder, was die neue Ordnung hätte gefährden können. Vielmehr konstruierten die Abgeordneten sie als unerreichbare, dem politischen Alltag entzogene Quasi-Heilige aus der Vergangenheit. Als legitim definierten die Abgeordneten entsprechend nicht den Einsatz für konkrete Rechte und individuelle Freiheiten, sondern nur den für die bereits gewonnene, abstrakte Unabhängigkeit der Patria vom usurpatorischen (bourbonischen) Spanien. Die abstrakten Verfassungstraditionen (Apatzingán!) galten in diesem Sinne kaum als erinnerungswürdig. Was neuere Ansätze der Geschichtsschreibung zur frühen Unabhängigkeit Mexikos bisher vor allem allgemein-theoretisch postulierten, konnte hier dann konkret nachvollzogen werden: Das gesellschaftliche Ideal war nicht das liberal-eigeninteressierte Individuum, sondern vielmehr das republikanische, primär am Gemeinwohl orientierte Gesellschaftsmitglied. Auch in diesem Kapitel zeigte sich wieder der Anspruch der Abgeordneten, für den Kongress, aber auch für sich die Position des Kritikers einzunehmen, ergo der Anspruch auf Definitionsmacht. Kant konkretisierte seine oben zitierte Aussage vom Zeitalter der Kritik folgendermaßen: „Religion durch ihre Heiligkeit und“ – für die hiesige Studie besonders interessant – „Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben [also der Kritik] entziehen“ 13. Für das Michoacán der 13 Kant: Vorrede, S. 9, Anmerkung.
572
Resümee
1820er und 30er Jahre trifft diese Aussage in besonderer Weise zu: Die Gesetzgebung, obgleich weitgehend positiviert, versuchte sich vor Kritik zu schützen, und zwar durch ihren „monarchisierenden“, majestätischen Anspruch. Sie versuchte eine neue, unhinterfragbare Ordnung zu setzen. Wie sich die Deputierten das in der Praxis vorstellten, wurde im letzten Kapitel an Hand unterschiedlicher Inszenierungspraktiken untersucht. Wie schon bei den Verfassungsverhandlungen angedeutet und in der Verfassung festgehalten, ließ sich der Kongress als Inbegriff des Staates nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße (vor allem beim Schutz der Religion nach Artikel 5) auf eine Akteursrolle verpflichten. Dies fällt nicht zuletzt beim Vergleich mit den vielfältigen Auftritten des Staates der Französischen Revolution auf, wie ihn beispielsweise Lynn Hunt gezeichnet hat. Hier hatte der Staat die Aufgabe, in die Gesellschaft hineinzuwirken, sie aktiv zu formen, beispielsweise durch das Bildungswesen, das Militär und die Bürokratie, aber auch durch ‚pädagogische’ Feste und den Versuch, eine Bürgeruniform zu kreieren.14 Der Staat von Michoacán hielt sich hierbei stark zurück, beanspruchte nur in eingeschränktem Maße eine gesellschaftsprägende Rolle; einen sozialstaatlichen Impetus besaß er beispiels-weise gar nicht15, und auch bei der Steuerquote war er zurückhaltend – zur Erinnerung: Er forderte bei der Einführung der direkten Steuer nur einen jährlichen Satz von drei Tagesgehältern.16 Hier tritt ein anderes Politikverständnis zu Tage, eine andere politische Kultur, wie es bei Lynn Hunt heißt, als in der Französischer Revolution, welche auf einen „Sprung in die Zukunft“17 abzielte. In diesen Kontext lässt sich auch die schwach ausgeprägte Ideologisierung in Michoacán verstehen, während im Frankreich der Revolution das „Konzept der Ideologie entstand“ 18 : In Michoacán sollte nach außen nicht der aktive, Veränderungen aufweisende Body natural in Erscheinung treten, sondern der stete, Ordnung repräsentierende Body politic, die Etikette des Honorable congreso, des Señor diputado beziehungsweise – architektonisch übersetzt – die des Palacio del congreso. Wie auch die Veröffentlichung der Protokolle beziehungsweise die entsprechende Diskussion veranschaulichte, intendierten die Abgeordneten eine möglichst entpersönlichte Kommunikation. Durch die Institutionalisierung und die Entpersönlichung der Herrschaft sollte gegenüber den Regierten das Bild 14 Vgl. Hunt: Symbole, S. 75-90 u. 96-105. 15 So verwundert es noch mehr, dass Jorge Sayeg Helú das konstitutionelle Denken Mexikos von Beginn an als entschieden sozial-liberal charakterisierte; vgl. Sayeg Helú: Constitucionalismo. 16 Diese schwach ausgeprägte staatliche Position hat bis heute Tradition: Mexiko ist unter den Industrie- und Schwellenländern das Land mit der geringsten Steuerquote. 17 Hunt: Symbole, S. 52. 18 Hunt: Symbole, S. 13.
Resümee
573
einer geordneten Welt evoziert werden. Die Weber’sche Entzauberung der Moderne fand nicht statt, vielmehr – im Sinne Cassirers und Kantorowicz’ – die Mystifizierung des Staates. Gleichzeitig war den Abgeordneten die Notwendigkeit von Kommunikation bewusst – die großen Anstrengungen bezüglich einer entsprechenden Infrastruktur (Sitzungssaal, Druckerpresse, Zeitung, Postwesen et cetera) verdeutlichten dies. Allerdings sollte diese Kommunikation, folgt man der Intention der Abgeordneten, einseitig bleiben: Ziel war die „Uniformierung der öffentlichen Meinung“ (Salgado) und dass der Kongress als nicht zu hinterfragender Vater den Regierten die Welt erklärt (Juan Gómez de la Puente). Auch dieser Anspruch herrschte strukturell und war nicht erst akzidentiell mit den Erfahrungen der späten 1820er Jahre aufgekommen. Denn, wie Peguero es 1827 in der oben zitierten Passage postulierte, „die Institutionen des angenommenen Regierungssystems sollten in religiöser Weise beachtet werden“. Die Abgeordneten zielten darauf, der neuen Ordnung durch die Institutionalisierung eine höhere, jenseitige, und deswegen vermeintlich unhinterfragbare, Legitimation zu verleihen. Für dieses „government of institutions“ bot sich den Abgeordneten das schon mehrmals erwähnte Konstrukt des Kongresses als Ersatz-Monarch in besonderer Weise an. So adaptierten sie die Institution des Monarchen und übersetzten sie in die neue historische Situation hinein – übrigens ‚monarchisierten’ auch die jungen USA ihren Präsidenten in ähnlicher Weise. Dies taten die Diputados michoacanos zum einen im institutionell-rechtlichen Bereich, wo der Kongress viele ehemals monarchische Kompetenzen übernehmen sollte. Diese Adaption vollzogen sie darüber hinaus im Gesellschaftlichen, indem sie dem Kongress die Rolle des ‚Vaters der Gesellschaft’ zuordneten. Besonders deutlich zeigte sich die Monarchisierung des Kongresses dann im kulturellen Feld: Der Kongress beziehungsweise die Abgeordneten sollten wie der „(Vize-)König im erloschenen Regierungssystem“ auftreten. Damit verbanden sie Elemente der eigenen Verfassungstradition, in der die Figur des Monarchen ja eine zentrale Rolle gespielt hatte („¡Viva el rey! ¡Muera el mal gobierno!“), 19 mit dem Anspruch der neuen, an atlantischen Vorstellungen orientierten (republikanischen Verfassungs-)Ordnung. Nicht zuletzt so ist die Schizophrenie zwischen liberal-republikanischen und ‚monarchisierenden’ Ansprüchen zu verstehen. Schließlich prägte das Gesellschaftsbild der Eliten wegen ihrer starken Monarchisierungsbestrebungen auch das Geschichtsbild und die Historiographie zu Mexiko nachdrücklich. Schließlich galt es im Kongress, um mit 19 Vgl. für den gesamten hispanischen Raum der Zeit auch: Timmermann: Monarchie, S. 25, der die monarchische Ordnung neben dem Katholizismus als zentrale Teile des „historisch legitimierten Grundbestand[s] nicht veränderbarer Prinzipien“ bezeichnet.
574
Resümee
einem aufschlussreichen Bonmot aus einer Parlamentsdebatte von 1827 mit sehr ‚fortschrittlich-vorbildlichem’ Inhalt zu enden, galt es als „sehr nützlich und [als] gerecht, die Historiker zu protegieren“. Denn „die gebildeten Nationen haben ihre Historiker seit jeher mit dauernden Pensionen unterstützt“20.
20 Sitzung Nr. 39 vom 27.09.1827, in: AHCM, Actas, c. 5, e. 3.
Anhang
Anhang I Besetzung der Kongresse Michoacáns (1822-1835) Kursiv: nicht angetreten beziehungsweise als Suplente nicht herangezogen (für den fünften und sechsten Kongress wurde dies nicht überprüft). Unterstrichen: war schon vorher mindestens einmal als Abgeordneter oder Ersatzmann gewählt worden. Diputación Ramón José José M. Juan José Francis- Manuel Pedro Provincial Huarte Díaz de Ortiz Iz- José Mar Manuel co Diego Villa(1822-23) (Int. Prä- Ortega quierdo tínez de de MiCamaSolorza- señor sident) Lejarza chelena rillo no José Juan Juan Congreso José José Pedro J. J. José José Isidro Manuel Foncerra- Martínez María María José Constituyente Antonio María Trinidad VillaHuarte González 1 Rayon da y Sora- de señor Pastor Macías (1824-25) Salgado Jiménez Paulín Pimentel 2 3 Lejarza villa Morales José Ersatzmän- Manuel Mariano Mariano Juan Agustin QueveManuel ner de la MenénGómez de Aguiar4 5 6 do Ruiz de Torre dez la Puente Chávez7 Lloreda Manuel Erster Isidro José Pablo José FrancMiguel Agustin Mateo Antonio José Manuel Huarte9 González Kongress Joaquín José Antonio Zincúisco (de) Aguiar 8 Echaíz Chávez Ruiz de Pimentel (1825-27) Domín- Pérez Peguero Aragon negui Chávez guez Gil
José Ignacio Ocampo10
José María Pallares
José María Navarro 11
1
Macias’ Wahl wurde noch vor seinem Antritt für ungültig erklärt, für ihn rückte Lloreda nach.
2
Foncerrada gab am 14.10.1824 bekannt, nicht antreten zu können, da er vom Estado de México zum Abgeordneten des Generalkongresses gewählt wurde.
3
Am 30.09.1824 wurde Lejarzas Tod bekannt gegeben.
4
Aguiar kündigte am 04.11.1824 an, wegen einer Krankheit erst in einem Monat kommen zu können; er vertrat evtl. Foncerrada und blieb dann bis zum Schluss der Sitzungen.
5
Am 01.10.1824 wurde Menéndez als Ersatz für Lejarza berufen; er nahm aber auch schon vorher teil, evtl. für Foncerrada; er blieb bis zum Schluss der Sitzungen.
6
Quevedo vertrat Paulín bis zu dessen Antritt am 30.06.1824.
7
Ruiz de Chávez nahm kurze Zeit für Pastor Morales an den Sitzungen teil.
8
Aguiar nahm erst ab dem 09.01.1826 an den Sitzungen teil.
9
Huarte war zu Beginn der Legislaturperiode krank und ab 11.11.1826 nicht mehr anwesend, zunächst ohne Angabe von Gründen, später wegen anderer Beschäftigungen.
10
Ocampo trat verspätet am 20.10.1825 an, war dann allerdings meist krank, am 10.12.1825 ist von seiner „absoluten Trennung“ (13.12.1825 (c. 2, e. 10)) vom Amt die Rede.
11
Navarro stellte in der geheimen Sitzung am 11.11.1826 einen Antrag auf Entlassung, dem stattgegeben wurde.
Mariano Ruiz de Chávez Gil
Ersatzmänner
Timoteo Castrejon12
Mariano Ruiz de Chávez y Carillo13
José Joaquín M. Cendejas14
Zweiter Kongress (1827-29)
Pablo José Peguero
Basileo de Velasco
Ersatzmänner
José María Martínez
Juan Gómez de la Puente Manuel Peñalosa 18
17
Dritter Kongress I (1829-30)
Luciano Farias
Juan Gómez Puente21
Ersatzmänner
Francisco Benitez
Manuel Garcia22
Juan Nepomu ceno Sierra19 Manuel Alvires José Antonio Méndez Cano
José Joaquín Domínguez
José Antonio Pérez Gil
Francisco Camarillo
José María Silva
Miguel de la Parra
José Manuel Ruiz de Chávez15
Joaquín Tomás Madero
Ignacio Soria16
Manuel de Iriarte
Ignacio Villavicencio
Juan José Farfan
Francisco Méndez de Torres
Isidro Garcia Carrasquedo
Onófre Pintado
Felipe Carbajal
Tomas Arriaga
Ramón Echenique
Francisco Antonio Iturbide
Antonio Bribiezca
Antonio Chávez 20
Joaquín Ladron de Guevara José Luis Soria
Nicolás Menocal José Ortiz
Martin Garcia Carrasquedo Manuel Carbajal
José María Silva
Pedro Romero
José María Ruiz de Chávez
12
Castrejón legte am 13.02.1827 seinen Eid ab.
13
Mariano Chávez Carillo vertrat ab 08.08.1825 Huarte, welcher ab 03.09.1825 mit Unterbrechungen erwähnt wurde; ab dem 13.12.1825 trat er erstmalig als ständiger Suplente für Ocampo, der endgültig ausgeschieden war, auf. Er wurde in den Protokollen immer als Chávez Carillo, während der andere Mariano Chávez zunächst als „Chávez (D. Mariano)“ und ab August 1826 als „Chávez Gil“ geführt wurde.
14
Cendejas schwor am 23.12.1826 und nahm bis zum Schluss an den Sitzungen teil.
15
Ruiz de Chávez schied am 31.01.1828 aus. Das „Ruiz de“ und José erscheint manchmal, manchmal nicht – einige Überschneidungen deuten auf die Identität der Person hin.
16
Am 10.10.1828 wurde der Tod von Soria bekannt gegeben, der vorher schon lange Zeit wegen Krankheit gefehlt hat.
17
Martinez wurde am 13.07.1829 als Secretario vermerkt.
18
Peñalosa wurde am 25.02.1829 erstmalig erwähnt.
19
Sierra wurde am 17.03.1828 erstmalig erwähnt; vermutlich als Suplente für Jose Manuel Ruiz de Chávez.
20
Chávez wurde am 02.10.1827 erstmalig erwähnt; vermutlich als Suplente für Miguel de la Parra; starb am 23.11.1828.
21
In der ersten Sitzung der Diputación permanente wurde Gomez Puentes Rücktritt bekannt gegeben.
22
Garcia wurde am 12.10.1829 erstmalig erwähnt, war erst krank und wohl ab 15.01.1830 vermutlich als Suplente für Juan Gómez de la Puente Abgeordneter.
578
Anhang I: Besetzung der Kongresse
Dritter Kongress II (183031)
Antonio Guerrero
Juan Gómez de la Puente
Ersatzmänner
José María Cabadas
Vierter Kongress (1831-33)
Pablo José Peguero
Antonio Frutos de Olmos Juan Gómez de la Puente
Ersatzmänner
Luis González Movellan
Antonio Frutos de Olmos
Atanasio Domínguez Fernan do Roman25
Antonio Manso Ceballos Miguel Méndez López
Lorenzo Aurioles
Manuel Alvires
José Joaquín Domínguez
Juan Girón
Agustin Aguiar
Manuel Menéndez
Ignacio Barrera
Manuel Alzúa
Basilio López de Paramo
Lorenzo Aurioles
Manuel Menéndez
Ignacio Barrera
Marian o Castro
Mariano Anzorena y Fonserrada
Francis co Santoyo31
Pedro Villaseñor
Marian o Rivas
Pedro Villaseñor26
Marian o Rivas
Domin go Maciel
Manuel Tiburcio Orozco23
Vicente Herrera
Isidro Huarte
Juan José Méndez de Corral
Juan de Dios López de Lara
24
Rafael Gómez de la Puente
José María Navarro
Joaquín Iriarte
Rafael Gómez Puente
José María Navarro
José María Izasaga
Juan Ignacio Auriola
27
28
Manuel Leiba29
Francis co Camarillo 32
30
23
Orozcos Rücktritt wurde am 13.08.1830 bekannt gegeben.
24
Herreras Rücktritt wurde am 13.08.1830 bekannt gegeben.
25
Am 14. Februar 1831 kam Fernando Roman als Ersatz für Domínguez, dessen Tod an diesem Tag bekannt gegeben wurde.
26
Villaseñors Tod wurde am 2. Juli 1832 bekannt gegeben.
27
In der Diskussion am 09.09.1831 wurde Izazagas Antrag auf Rücktritt nicht stattgegeben; er wurde in den Protokollen immer als fehlend registriert.
28
Am 08.08.1831 wurde Auriolas Rücktritt bekannt gegeben.
29
Am 08.08.1831 wurde Leibas Rücktritt bekannt gegeben, diesem in der Diskussion am 09.09.1831 allerdings nicht stattgegeben; er wurde in den Protokollen immer als fehlend registriert.
30
Anzorena schwor am 22.08.1831; kam vermutlich als Suplente für Auriola.
31
Santoya schwor am 21.02.1833; er kam evtl. als Suplente für Izazaga oder Leiba.
32
Camarillo schwor am 07.07.1832, er kam als Suplente für Villaseñor.
Fünfter Kongress (1833-34)
Onofre Calvo Pintado
José María Zerrano
Joaquín Cendejas
Joaquín Guevara
Nicolás Menocál
Miguel Zincunegui
Francis co Santoyo
Ersatzmänner
Mariano Mejio y Lago
Manuel Garcia
Vincente Ricon
Francisco Gaona
Maximiano Madrigal
Cayetano Otero
Sechster Kongress (1834-35)
Juan Manuel Olmos
Juan Gómez de la Puente
Manuel Alvires
Miguel Méndez López
Rafael Robles
Manuel Foncer rada y Soravilla Manuel Alzúa
Ersatzmänner
Rafael Guedea
Mariano Peñalosa
Nicolás Ruiz de Chávez
Cayetano Gómez
Mariano Castro
Mariano Ramirez
Rafael Puga
Isidro Garcia de Carrasquedo
Agustin Tena
Gregorio Ceballos
Francisco Silva
Fernando Rihóz
Juan José Orozco
Vicente Sosa
Antonio Peña
Francis co Romero y Soravilla
Antonio Garcia Rojas
Vicente Herrera
José Ignacio Alvarez
José Ugarte
José María Pallares
Francisco Méndez e Torres José María Izazaga
Mariano Suarez
Mariano Porto Manuel Leiba
Anhang II Abgeordnetenverzeichnis Name des Abgeordneten
Abgeordneter im regionalen Kongress33
Aguiar, Agustín
1824/25 S; 1825/27; 1831/33 1834/35; 1835/? 1829/30; 1831/33; 1834/35 1830/31S; 1834/35; 1853
Álvarez, José Ignacio Alvirez, Manuel Teodosio Alzúa y Huarte, Manuel Anzorena y Foncerrada, [José] Mariano Aragón, Francisco de Arriaga, Tomas Auriola, Juan Ignacio Aurioles, Lorenzo Barrera, Ignacio
1831/33 S 1825/27 1829/30 1831/33 1830/31; 1831/33 1830/31; 1831/33; 1835/?
Weitere Ämter34 mit Jahresangabe
Sozioprofessionelle Gruppe / Beruf Hacendado
Beteiligung bei Unabhängigkeit35
Wohnsitz in Michoacán und/oder regionale Herkunft Zamora36
Sonstiges
Valladolid, 18041866
lehrte am Colegio de San Nicolás; 1859 Mitherausgeber der Zeitung La constitución
Valladolid
Mitglied der (einfluss-)reichen Alzúa-Familie, Sohn von Pacual Alzúa und Carmen Huarte, Neffe von Isidro Huarte
Valladolid, 1788
Alteingesessene Familie; Sohn des Intendanten Anzorena (unter Hidalgo)
AF 1827/28, 1844/45, 1846?37
A 1827, 1830, 1833 1838; Cons. supl. 1846/47 AF 1822, 1828; A 1831; (V)G 1834/35; Cons. 1829/30 A (Maravatio) 1830; AF 1844/45 supl. AF 1823/24 WM (Piedad) WM 1829 (Uruapan); AF 1844/45
Lic.; Richter an Supremo Tribunal Händler, Hacendado
vorher im Sekretariat des Kongresses beschäftigt Geistlicher Geistlicher Geistlicher
wohl Mitglied der alteingesessenen und reichen Arriaga-Familie Piedad
Gründungsmitglied der Compañia lancastariana; 1830 Pfründe in Tlazazalca
Uruapan?
33 Hierunter fällt in der folgenden Aufstellung, wenn mit „1822/23“ gekennzeichnet, auch die Diputación provincial. 34 Für die Kürzel in der Tabelle werden folgende Zuweisungen verwendet: Gouverneur / Intendant / Vizegouverneur / Consejero / Richter an oberstem Gericht Michoacáns / Abgeordneter/Senator im föderalen Kongress / Subdelegado / Prefecto / Subprefecto / Ayuntamiento Valladolid/Morelia / Cabildo 35 Royalist / Aufständischer / bei Verschwörung von 1809 / Unentschieden 36 Chowning: Wealth, S. 128. 37 Verfassunggebender Kongress
Benitez, Francisco Bribiezca, Antonio Cabadas, José María Calvo Pintado, Onofre Camarillo, Francisco Carbajal, Felipe Carbajal, Manuel Castrejón, Timoteo Castro y Elorza, Mariano de Ceballos y Sañudo, Gregorio Cendejas, José Joaquín María de Chávez, Antonio Díaz de Ortega, José Domínguez, Atanasio Domínguez, José Joaquín Echaiz, Mateo Echenique, Ramon Farfan, Juan José Farias, Luciano
1829/30 S
A 1845
Lic.
1829/30
AV 1829
Lic.
1830/31 S
WM 1828 (Zamora)
Geistlicher, Dr.
1833/34; 1835/? 1822/23; 1827/29; 1831/33 S 1829/30 1829/30 S 1825/27 S
AF 1845/46; G 1859?
Lic.
Zamora (Ende 18. Jh.) Tingüindín
WM 1821, 1822 (je AV); AV 1831;
Militär
Pátzcuaro
Geistlicher
1831/33 S; 1834/35 S 1833/34
A 1832; G 1848/49; 1850/51; 52/?
Lic., Richter an Supremo Tribunal (ab 1826) Lic., Anwalt
1825/27 S; 1833/34 1825/27; 1827/28† 1822/23
C/1821†
Geistlicher; Dr.
1830/31
WM 1825 (V)
Geistlicher
1825/27; 1827/29; 1831/33 1825/27
Initiator der Brücke in Piedad über Rio Lerma 1832, Doktor in Theologie und Fachmann in Naturwissenschaften Verwalter des Pastor Morales-Gutes
Militär WM 1831 (Zitácuaro); AF 1846?
in Kolonialverwaltung von Puruandiro
Durango / Valladolid
Studium am Seminario tridentino; Neffe von span. Großhändler und Hacendado; nach Ayutla kurze Zeit Präsident der Republik
Burgos (Spanien) / Valladolid
Sohn des zweiten Intendanten; konnte Amt in Diputación provincial nicht mehr antreten Bruder von José Dominguez
Valladolid
Tochter mit Sohn von Isidro Huarte verheiratet
Zitácuaro?
1829/30 1827/29 1829/30
Geistlicher
1830 Pfründe in Angamacutiro
582 Foncerrada y Soravilla, Juan Nepomuceno Foncerrada y Soravilla, Manuel Frutos de Olmos, Antonio Gaona, Francisco Garcia de Carrasquedo y Ortiz Izquierdo, Martín Garcia de Carrasquedo y Ortiz Izquierdo, Isidro Garcia Rojas, Antonio Garcia, Manuel Girón, Juan Gómez de la Puente, Juan José
Gómez de la Puente, Raphael Gomez de Soria, Cayetano González Movellan, Luis
Anhang II: Abgeordnetenverzeichnis 1824/25
AF 1822; A 1822
1833/34 S 1830/31 S; 1831/33 S 1833/34 S; 1846/47 S 1829/30
1829/30; 1833/34; 1846/47 S
Militär
V, A
Valladolid, 1782
Militär
Alteingesessene Familie; Sohn von Bernardo Foncerrada; Schwager von José María García de Obeso Alteingesessene Familie; nicht klar, wie mit Juan Nepomuceno verwandt
Con. 1834
Cortes 1821; C (auch als Erzdiakon)
Geistlicher
V, A
Valladolid
Reiche Hacendado-Familie; Bruder von Isidro; 1821 für Cortes gewählt; Freund von Hidalgo; yorkino (in Junta Patriotica) (wichtig für Sp-V)38;
WM 1822 (AV); A 1823, 1826
Notar, Hacendado
V
Valladolid, 1790
Reiche Hacendado-Familie; Bruder von Martin; Schwiegervater von Manuel Gomez de la Puente (Sohn v. J.J.); Redakteur des Astro Moreliano39; 1834 Secretario del Gobierno
1834/35 1829/30 S; 1833/34 S 1831/33 S 1824/25 S; 1827/29; 1829/30; 1830/31; 1831/33; 1834/35 1830/31; 1831/33 1834/35 S 1831/33 S
38 Chowning: Wealth, S. 131. 39 Romero Flores: Imprenta, S. 48.
SP 1829 (Huetamo) AF 1825/26
Huetamo Militär; Hacendado
R
Puruándiro / Valladolid
Studium am Seminario Tridentino; heiratet 1807 Witwe von Ponce de León
Maravatio, 1791
alteingesessene Familie; mit Alzúa verheiratet, verwandt mit Huarte, González Pimentel Verwandt mit González Pimentel
Cons. supl. 1834/35 A 1822 (?); WM 1830/2 (V);
Händler Lic.
González Pimentel, Manuel Guedea, Rafael Guerrero, Antonio Herrera, Vicente Huarte, Isidro (jun.)
1824/25; 1825/27 (?)40 1834/35 S 1830/31
AF 1829/30; Cons. 1834/35 WM 1830/2; A 1829
1830/31; 1834/35 1824/25; 1825/27; 1831/33
AF 1846
Huarte, Ramón
1822/23
Iriarte, Joaquín Iriarte, Manuel de Iturbide, Francisco Antonio Izasaga, José María Jiménez, José María Ladron de Guevara, Joaquín Leiba, Manuel
1830/31 1827/29 1829/30
Lopez de Lara, Juan de Dios Lopez de Paramo, Basilio Macías, José Antonio Maciel, Domingo Madero, Joaquín Tomás
mehrmals AV 18051820; SF 1827/30; AF 1831/32, 1834/35 (je supl.) AV 1814; 1818; 1820/21; I 1821/24; WM 1821, 1822 (je V) Con. Supl 1831/33
nicht Valladolid
Verwandt mit Solorzano und González Movellán; 1828 Secretario de Gobierno
Geistlicher Pátzcuaro
Anwalt
Militär41, Händler
U
Valladolid
Sohn von Isidro Huarte (sen.); Bruder von Ramón
Valladolid
Sohn von Isidro Huarte (sen.); Bruder von Isidro; bis Mitte der 30er Comisario general
Pátzcuaro
1831/33; 1834/35 S 1824/25
WM 1820; AF 1823/24, 1824/26 supl. WM 1820
Lic.
1829/30; 1833/34 1831/33; 1834/35 S 1831/33
AF 18444/45
Geistlicher
WM 1830 (Pátzcuaro)
Geistlicher
V, A
San Luis de la Paz, 1787 Uruapan
R
Valladolid
Mitglied des Ayuntamiento von Maravatio? 1830 Verwandter von Kaiser Iturbide Schüler in San Nicolás
Lic. A.
Pátzcuaro?
1830/31 S 1824/25 1830/31 1827/29
verwandt mit José María Silva Cons. supl. 1829/31, 34/35 WM 1830 (Zitacuaro); WM 1830/2;
Lic.
40 Unklar, ob hier González Pimentel oder González Urueña gemeint ist. 41 Chowning: Wealth, S. 33.
1831 Präfekt im Departamento de Oriente
584
Anhang II: Abgeordnetenverzeichnis
Madrigal, Maximiano Manso Ceballos, Antonio
1833/34 S
Martínez de Lejarza y Alday, Juan José Martinez, José Maria Mejio y Lago, Mariano Mendez Cano, José Antonio Mendez de Corral, Juan José Mendez de Torres, Francisco Mendez Lopez, Miguel Menéndez, Manuel Menéndez, Mariano Menocal, Nicolas
1822/23; 1824†
Michelena Gil, Juan José de Navarro, José María Ocampo, José Ignacio Olmos, Juan Manuel Orozco, Juan José
Cons. supl. 1846/47
1830/31
A 1813, 1818, 1820, 1823; WM 1821, 1822 (je V)
Militär
Valladolid, 1785
Gründungsmitglied der Compañia lancastariana; wohl Mitglied einer Händlerfamilie; Sohn des Aufständischen José Antonio Manzo de Cevallos, der 1813 in Tajimaroa zum Wahlmann für Congreso nacional der Aufständischen gewählt wurde Studium an San Nicolás; Verfasser der Statistik von 1822
1827/29 S 1833/34 S 1829/30 S 1831/33
WM 1825 (V)
Valladolid?
1827/29; 1834/35 1830/31S; 1834/35 1830/31; 1831/33 1824/25 S 1829/30; 1833/34 1822/23
Militär
R
Pátzcuaro
C
Geistlicher, Dr.
Valladolid, 1772
1825/27; 1830/31; 1831/33 1825/27
WM 1822 (AV); 1825 (V); AF 1827/28
Militär
Valladolid?
1834/35
AF 1844/45
1833/34
WM 1829 (Jiquilpan)
Geistlicher
Mitglied einer vermögenden Hacendado-Familie mit Bestzungen in der Tierra caliente (mit Zuckerpresse) Sohn von Juan Manuel de Michelena, Bruder von zwei Teilnehmern der Verschwörung von 1809
1830 Sacristei in Piedad
Lic. Jiquilpan
Orozco, Manuel Tiburcio Ortiz Izquierdo, José María
1830/31
Ortiz, José Otero, Cayetano Pallares, José Maria Parra, Miguel de la Pastor Morales, Juan José Paulín, José María
1829/30 S 1833/34 S 1825/27; 1834/35 S 1827/29; 1846/47 1824/25
Peguero, Pablo José
1825/27; 1827/29; 1831/33; 1835/? 1834/35 1827/29 S 1834/35 S
Peña, Antonio Peñalosa, Manuel Peñalosa, Mariano Pérez Gil, José Antonio Pintado, Onófre Porto, Mariano Puga, Rafael Quevedo, Mariano Ramirez, Mariano
1822/23; ?1829/3042
1824/25
1825/27; 1827/29 1829/30; 1835/? 1834/35 1833/34 1822/23 S; 1824/25 S 1834/35; 1846/47
Geistlicher
Uruapan A
A 1813, 1820; WM 1821, 1822 ; R 1824/30; SF 1831/32; WM 1830/2 WM 1829 (Cocuparo)
Anwalt; Richter an Suprema Corte 1831
SF 1833/34
Lic.
WM 1820; Cons. 1829/30 Cons. 1825/27, 1827/29; AF 1831/32, 1834/35†; WM 1830 (Zitacuaro); WM 1830/2 AF 1844/45
Geistlicher
A?
Geistlicher
A, dann R
AF 1844/45
Geistlicher
1830 Pfründe in Villa de Santiago / Guanajuato
Valladolid Cocuparo?
Hacienda de Tecacho
Abgeordneter in Diputacion provincial von México 1820/21
San José de Sauz / Cuineo / Valladolid, geb. 1789 Tlazazalca?
Tochter mit Sohn von J.J. Gómez de Puente verheiratet
Valladolid?
Mitglied der alteingesessenen Quevedo-Familie
WM 1830 (Puruandiro) WM 1830 (Pátzcuaro); Con 1831/33; WM 1830/2; G 1831; (V)G 1834/35
A 1820 A (Valladolid) 1831
42 Evtl. Übereinstimmung mit José Ortiz.
Lic. Militär
V
Valladolid?
586 Rayón, José María Ricón, Vincente Rihóz, Fernando Rivas, Mariano Robles, Rafael Roman, Fernando Romero y Soravilla, Francisco Romero, Pedro Ruiz de Chávez y Gil, Mariano Ruiz de Chávez y Carillo, Mariano Ruiz de Chávez, José Manuel Ruiz de Chávez, José María Ruiz de Chávez, Nicolás Salgado, José Trinidad Santoyo, Francisco Sierra, Juan Nepomuceno Silva, Francisco Silva, José Maria
Anhang II: Abgeordnetenverzeichnis 1824/25
WM 1830 (Zitacuaro); WM 1830/2; C 1831/33
1833/34 S 1833/34 1830/31; 1831/33 1834/35 1830/31 S
Geistlicher, Lic.
A
Militär Lic.; Hacendado
Tlalpujahua , 1767
Bruder von Ignacio, Ramon u. Francisco Rayón y Lopez Aguado
Zinapecuaro Gründungsmitglied der Compañia lancastariana, Rektor des Seminario u. Hg. von „El Michoacano Libre“
1834/35
verwandt mit Anzorena- und Foncerrada-Familie; Bruder von Aufständischem
1829/30 1825/27
WM 1829 (Tlalpujahua)
1825/27 S
AV 1822
1824/25 S; 1825/27; 1827/29 1829/30 S
VG 1830/31; G 1831
Tlalpujahua? Alteingesessene Familie Puruándiro / Valladolid Huango
Alteingesessene Familie; Sohn von Nicolás (?), Bruder von José María (?) Alteingesessene Familie
WM 1829 (Zitácuaro)
Zitácuaro?
Alteingesessene Familie; Bruder von Mariano (?)
1834/35 S
AF 1846
Alteingesessene Familie
1824/25
VG 1825/27; G 1827/28, 29/30, 1833
Puruándiro / Valladolid nicht Valladolid
1831/33 S; 1833/34 1827/29 S 1833/34 1827/29; 1829/30; 1846/47
43 Chowning: Wealth, S. 149f.
V Hacendado
Militär
V
A
Testamentsvollstrecker von Pastor Morales43; Yorkino (Junta patriotica), zentral für Spaniervertreibung; Unterstützer von Guerrero
Militär
AF 1833/34; G. 1834
Pátzcuaro
verwandt mit José Antonio Macías; ?, Besitzer der Hacienda de San Marcos
Solórzano, Manuel Diego
1822/23
Soria, Ignacio Soria, José Luis Sosa, Vicente
1827/29 1829/30 S 1834/35
Suárez, Mariano Tena, Agustin Torre Lloreda, Manuel de la Ugarte, José
1834/35 1833/34 1824/25 S
Velasco, Basileo Villaseñor, Pedro
1827/29 1822/23; 1824/25; 1830/31; 1831/33 1827/29
Villavicencio, Ignacio Zincúnegui, Miguel Zerrano, José Maria
1834/35
1825/27; 1833/34 1833/34
44 Chowning: Wealth, S. 177. 45 Ugarte: Historia, S.54. 46 Ibarrola: Familias, S. 501.
WM 1820; AF 1823/24; SF 1824/26
Richter am STJ; Anwalt an Audiencia von Mexiko, Lic.
Pátzcuaro
WM 1820 AF 1846
Geistlicher Militär, Händler
Pátzcuaro
Geistlicher
V
Alteingesessene Familie Alteingesessene Familie Aufstieg aus Unterschicht als Händler, für Zentralismus44; Gründungsmitglied der Compañia lancastariana
Pátzcuaro
1830 Sacristia in San Miguel Allende / Guanajuato
Mexiko-Stadt
aus reicher Valladolid-Familie; mit Tochter von Juan Ceballos verheiratet; Beteiligung an zentralistischen Revolten 1833f. Nachfahre des „Abraham Michoacano“46
G 1852/?, „varias veces“
Militär
WM 1825 (V); V 1827/28; G 1828/29
Militär
A45
Valladolid
G 1858; Cons. ?
Militär
A
Pátzcuaro, 17991872
Anhang III Der Staatshaushalt Michoacáns nach den Denkschriften der Regierung47 (Angaben gerundet auf Pesos) Jahr 182449 1825 1826 1827 1828 1829 1830
Einnahmen48 9.367 305.103 478.317 489.930 509.336 551.04950 537.921
Ausgaben 8.994 303.083 442.283 451.615 498.530 703.46051 501.613
Guthaben / Defizit + 372 + 2.020 + 36.034 + 38.315 + 10.806 - 152.31152 + 36.308
Einnahmen Jahr 1824 1825 1826 1827 182853 1829 183054
Alcabala 1.090 44.899 80.890 68.101 63.226 78.405 47.732
Direkte Steuern 17.123 38.103 32.292 32.550 17.187 17.561
Tabak 4.780 198.400 312.950 274.405 244.438 351.355 206.526
Papel sellado 2.500 5.690 9.445 8.777 10.018 10.983 8.674
Deposito de rentas
Bienes de comunidad
Novenos y vacantes
30.736 14.537 11.465 5.600
5.465 14.143 2.748 7.145
40.000 70.000
46.584
111
51.042
47 Die folgenden Angaben stammen für die Jahre 1824-1826 aus der Memoria 1827, Tafel 6-8, f. 84-91; für 1827 aus der Memoria 1828, Tafel 9, S. 143; für 1828 aus der Memoria 1829, Tafel 4; für 1829 aus der Memoria 1830, Tafel 13; für 1830 aus der Memoria 1831, Tafel 7. 48 Unter Einnahmen werden auch die Restbestände des Vorjahres gerechnet. 49 Für 1824 sind nur die Einnahmen und Ausgaben der letzten Monate, vermutlich seit der Errichtung des Generalschatzamtes, aufgelistet. 50 In der Aufstellung der Memoria von 1830 werden von den Gesamteinnahmen unmittelbar die Verwaltungskosten in Höhe von 240.959 Pesos abgezogen, so dass liquide Mittel in Höhe von 310.090 Pesos blieben, für eine bessere Vergleichbarkeit erscheinen hier die Gesamteinnahmen. 51 Als Kosten werden hier, abweichend von der Memoria, aber wie in den Jahren zuvor die eben genannten Verwaltungskosten in Höhe von 240.959 Pesos mit berechnet. 52 In der Memoria erscheint ein Schreib- bzw. Rechenfehler, dort sind lediglich 52.411 Pesos Defizit aufgelistet. 53 Rückzahlungen von geliehenem Geld : 31.815 Pesos. 54 Zwangsanleihe: 73.626 Pesos – freiwillige Schenkungen: 14.261 Pesos – Schenkung für Bergantin Guerrero: 5.403 Pesos.
Ausgaben Jahr 1824 182557 182658 182760 182861 182962 183065
Contingente55
Tabak
Kongress56
20.884 66.298 82.916 107.535 303.66663 146.165
207.337 272.30159 227.135 161.802 221.191 54.36166
3.316 24.834 24.005 26.980 29.359 31.390 20.241
Gouverneur / Sekretariat 1.045 5.788 /1.626 5.000 /1.349 4.994 /1.953 5.000 /5.099 12.47764 4.348 /6.737
Consejo 2.128 8.135 8.172 8.779 11.876 8.515
Superior / Supremo Tribunal 3.798 14.210 13.432 11.201 / 8.585 13.383 / 13.162 12.400 / 12.100 12.177 / 11.396
55 Abgabe an die Föderation. 56 Diäten und Gehälter. 57 Reintegro a deposito de rentas: 1825: 6.328 Pesos. 58 Reintegro a deposito de rentas: 1826: 26.192 Pesos. 59 40.215 für Papier für Tabakfabrik und 232.086 für Tabak. 60 Kosten für Papier: 39.976 Pesos (vermutlich für Tabakfabrik und Regierung). 61 Papier für Tabakfabrik und Regierung: 13.316 Pesos. 62 Ausgaben für Miliz: 19.624 Pesos. 63 Zum ordentlichen Contingente kam eine Sonderzahlung in Höhe von 187.000 Pesos. 64 Kosten für die Secretaría del gobierno nicht separat aufgelistet. 65 Rückzahlung von Zwangsanleihen: 56.570 Pesos – Rückzahlung für die Bergantin Guerrero: 3.646 Pesos. 66 Unterteilt in 40.821 Pesos für (Roh-)Tabak und 13.540 Pesos für Generalverwaltung.
Generalschatzamt / (Sub-) Präfekte
Druckerei
Sonderausgaben
5.261 / 3.021 4.880 / 2.107 5.542 / 14.993 4.506 / 13.649 6.081 / 14.320 5.662 / 13.370
1.553 1.531 1.232 1.096 1.560 1.765
904 6.389 15.528 51.984 6.000 115.268
Anhang IV Kongressämter67 Constituyente Datum der Wahl 05.05.1824 07.06.1824 06.07.1824 07.08.1824 06.09.1824 07.10.1824 06.11.1824 06.12.1824 07.01.1825 07.02.1825 07.03.1825 April 182568 06.05.1825 06.07.1825
Präsident Rayón Huarte (10/11) Lloreda (5/9, 2. G) Salgado (6/9, 2. G) Pastor Morales (8/9) Jiménez (7/10) Paulín (6/8) González (6/9) Menéndez (5/8) Villaseñor (5/9) Rayón (5/9, 2. G) Jiménez (5/8, 2. G) Pastor Morales Aguiar (6/9) Villaseñor (5/9)
Vizepräsident
Salgado (4/7) Aguiar (5/9)
Datum der Wahl 04.08.1825 Sept. 1825 07.10.1825 07.11.1825 07.12.1825 07.01.1826 15.07.1826 06.08.1826
Präsident González (10/??) Huarte A. Chávez (7/12) Domínguez (8/12) Peguero (11/13) Aragón (10/14) Pérez (7/11) Navarro (8/11)
Vizepräsident Navarro (8/??) Aragón Domínguez (8/12) Aragón (8/12) Echaíz (11/13) González (10/14) Zincunegui (7/11) Aragón (8/11)
Lloreda (7/11) Villaseñor (8/9) Lejarza (5/8, 2. G) González (7/9) Rayón Villaseñor (4/6, 2. G) Menéndez (5/9, 2. G) Huarte (Los, 3. G) Rayón (2. G) Jiménez (6/9, 2. G) Pastor Morales (5/8, 3. G)
1. Sekretär González Salgado (10/11) Jiménez (7/9) Paulín (6/9) Menéndez (5/?) Huarte (8/10) Rayón (2. G) Lloreda (8/?) Pastor Morales (6/8) González (4/6, 2. G) Aguiar (10/11) Salgado (6/10) Salgado Jiménez (8/9) Rayón (4/7)
2. Sekretär
Paulín
Erster Kongress 1. Sekretär Peguero (8/??) Pallares Zincunegui (11/12) Mar. Chávez (10/12) Pérez (11/13) Echaíz (11/14) Navarro (9/11) Domínguez (7/11)
2. Sekretär / Ersatz Aragón (7/??) Man. Chávez Ocampo (10/12) Navarro (11/12) A. Chávez (7/12) Chávez Carillo (7/11)69 González (7/11)70
67 In Klammern Anzahl der erhaltenen Stimmen/Anzahl der abgegebenen Stimmen. Angabe des Wahlgangs, falls nicht im ersten Wahlgang (2. Gang, 3. Gang). 68 Protokoll der Wahl fehlt. 69 Als Ersatz: Huarte (7/11). 70 Chávez Carillo (9/11).
06.09.1826 07.10.1826 07.11.1826 07.12.1826 09.01.1827 06.02.1827 07.03.1827 26.05.1827 23.07.1827
Pérez (6/11) Chávez Gil (9/12) Aguiar (9/12) Echaíz (5/9, 2. G) Zincunegui (10/12) González (6/11, 2. G) Chávez Carillo (8/12, 2. G) Man. Chávez Aragón (10/11)
Zincunegui (7/11) Pallares (7/12) Peguero (7/12) Domínguez (6/11) Man. Chávez (10/13) Pérez (7/11, 2. G + Los im 1. G) Castrejon (9/14) Peguero (Los) Pérez (2. G)
Datum der Wahl 04.08.1827 06.09.1827 06.10.1827 06.11.1827 17.12.1827 17.01.1828 18.02.1828 17.03.1828 17.04.1828 17.05.1828 05.07.1828 August 182874 06.09.1828 06.10.1828 06.11.1828 06.12.1828 04.02.1829 04.03.1829 27.04.1829
Präsident Gómez de la Puente (11/12) Camarillo (8/13) Pérez (13/14) Peguero (10/13) Domínguez (8/11) A. Chávez (13/14) Pérez (6/11, 2. G) Silva (Los, 3. G) Soria (9/10, 2. G) Velasco (Los, 3. G) Villavicencio (10/11) A. Chávez Madero (10/11) Mendez (6/11) Pérez (7/11) Camarillo (5/9) Farfan (8/9) Iriarte (9/10) Sierra
Vizepräsident Camarillo (11/12) Madero (7/13) Peguero (13/14) Domínguez (9/13) Velasco (7/11) Villavicencio (10/13) Silva (7/13) Soria (7/12) Velasco (7/10, 2. G) Mendez (6/10) Iriarte (9/10)
A. Chávez (6/11) Navarro (7/12) Chávez Carillo (9/12) Aragón (6/11) Peguero (10/13) Pallares (11/13) Echaíz (12/14) Pérez Peguero (7/?)
Pallares (8/11) Peguero (6/10, 2. G) Pérez (8/12) Chávez Gil (7/11) Zendejas (9/13) Domínguez (11/13) Zendejas (11/13) Zincunegui Domínguez (8/?)
1. Sekretär Peguero (11/12) Domínguez (10/13) Silva (9/12, 2. G) Pérez (12/13) Soria (6/11) Velasco (12/14) Mendez (12/13) Farfan (11/12) Iriarte (9/10) Villavicencio (Los, 3. G) Gómez (9/10) Mendez Velasco (8/11) Madero (6/11) Farfan (9/11) Gómez (8/10) Velasco (8/9) Gómez (7/10) Mendez
2. Sekretär / Ersatz Velasco (11/12)71 Silva (11/13) Iriarte (9/14) A. Chávez (10/13) Madero (6/11)72 Farfan (13/14) Iriarte (10/13) Villavicencio (Los, 3. G) Sierra (2. G) Peguero (6/10) Sierra (10)73 Peguero Sierra (7/12) Peguero (6/11) Iriarte (7/11) Pérez (8/10) Silva (7/8)75 Peñalosa (9/10) Peñalosa76
Zweiter Kongress
71 Als Ersatz: Domínguez (9/12). 72 Als Ersatz: Villavivencio (7/11) und Mendez (8/11). 73 Als Ersatz: Silva (2. G) und Madero (9/10). 74 Keine Wahlen protokolliert. 75 Als Ersatz: Gómez (8/9) und Mendez (8/9). 76 Als Ersatz: Silva und Martinez.
Gómez (5/9, 2. G) Camarillo (6/11) Domínguez (6/11) Peguero (7/9) Domínguez (8/9) Velasco (7/10) Domínguez
592
Anhang IV: Kongressämter
27.05.1829 27.06.1829
Domínguez (9/10) Iriarte (6/8)
Madero (8/10) Velasco (7/8)
Datum der Wahl 04.08.1829 07.09.1829 06.10.1829 06.11.1829 04.08.1830 06.09.1830 06.10.1830 06.11.1830 06.12.1830 14.02.1831 15.03.1831 06.04.1831 06.05.1831 06.06.1831 06.07.1831 01.08.1831
Präsident Arriaga (13/14) Pintado (12/13) Guevara (11/12) Alvires (11/12) Navarro (10/12) Aurioles (13/14) Manzo (12/14) J. Gómez (12/13) Domínguez (12/13) Menéndez (7/8) Manzo (9/10) Rivas (11/12) R. Gómez (11/12) Iriarte (8/14) Villaseñor (11) Barrera (13/15)
Vizepräsident Alvirez (13/14) Farias (12/13) Irurbide (10/12) Carvajal (12/13) Aurioles (6/10, 2. G) Manzo (12/14) Villaseñor (13/14) Iriarte (7/12) Rivas (12/13) Olmos (7/8) Villaseñor (7/10) ??? (10/12) Villaseñor (8/12) Maciel (8/12, 2. G) Guerrero (5/9, 2. G) Menéndez (12/15)
Martinez (6/10) Gómez (6/8)
Iriarte (9/10)77 Domínguez (6/8)
1. Sekretär Silva (13/14) Echenique (12/13) Romero (11/12) Bribiercas (11/13) J. Gómez (10/12) R. Gómez (13/14) Rivas (12/14) Maciel (12/13) Manzo (10/13) Barrera (6/8) Olmos (8/10) Roman (11/12) Barrera (10/12) Navarro (11/14) Rivas (8/11) R. Gómez (11/15)
2. Sekretär / Ersatz Carrasquedo (13/14)78 Romero Carvajal (11/12)79 M. Garcia (11/12) Domínguez (11/12)80 Maciel (12/14) Olmos (12/14) Cabados (9/13) Navarro (/11, 2. G) Iriarte (7/8)81 Cabadas (9/10)82 J. Gómez (11/12)83 Olmos Manzo (7/12, 2. G) R. Gómez (8/11) Olmos (12/15)84
Dritter Kongress
77 Als Ersatz: Farfan (9/10). 78 Als Ersatz: Bribiercas (13/14) und Guevara (13/14). 79 Als zweiter Ersatz: Garcia (11/12). 80 Als Ersatz: Barrera (8/10, 2. G). 81 Als Ersatz: J. Gómez (5/8). 82 Als Ersatz: Barrera (6/10). 83 Als Ersatz: Guerrero (11/12). 84 Als Ersatz: Iriarte (10/15).
Vierter Kongress Datum der Wahl 04.08.1831 06.09.1831 06.10.1831 07.11.1831 06.12.1831 02.01.1832 13.03.1832 11.04.1832 11.05.1832 22.06.1832 11.07.1832 05.08.1832 06.09.1832 06.10.1832 06.11.1832 11.12.1832 22.12.1832 28.12.1832
85 Als Ersatz: Corral (10/14). 86 Als Ersatz: Domínguez (9/11). 87 Als Ersatz: Menéndez (11/13). 88 Als Ersatz: Domínguez. 89 Als Ersatz: Camarillo (10/12). 90 Als Ersatz: Rivas (10/12). 91 Als Ersatz: Domínguez (10/13). 92 Als Ersatz: Alvírez (7/9).
Präsident Huarte (13/14) Villaseñor (12/14) Domínguez (9/11) Navarro (7/8, 2. G) Aurioles (11/13) Aurioles (8/10) J. Gómez (7/12) Rivas (6/10, 2. G) Barrera (7/9) Lopez (8/9) Anzorena (5/8, 2. G) Peguero (11/12) R. Gómez (8/12) J. Gómez (10/12) Navarro (5/9, 2. G) Navarro (11/13) Anzorena (12/13) J. Gómez (7/12)
Vizepräsident Peguero (13/14) Anzorena (9/15) Alvirez (10/11) Lopez (7/8, 2. G) Menéndez (12/13) Lopez (7/10) Peguero (11/12) Anzorena (10/11) R. Gómez (8/9) Mendez (7/9) Barrera (5/8, 2. G) Navarro (6/10, 2. G) Aurioles (10/13) Alvirez (7/13) R. Gómez (7/8) R. Gómez (11/13) Alvirez (9/13) Lopez (8/12)
1. Sekretär J. Gómez (13/14) Rivas (8/15) Mendez (8/11) Barrera (8/14) R. Gómez (10/14) Barrera (9/10) Anzorena (10/12) Alvirez (8/12) Anzorena (8/9) Aurioles (6/9) Camarillo (5/8, 2. G) Anzorena (10/12) Barrera (8/13) Mendez (8/13) Alvirez (5/9, 2. G) Alvirez (12/13) Navarro (11/13) Peguero (11/12)
2. Sekretär / Ersatz Aurioles (13/14)85 Menéndez (8/15) R. Gómez (Los, 3. Gang) Alvirez (12/15) Huarte (9/14) R. Gómez (9/10)86 Corral (11/12)87 Corral (7/10, 2. G)88 J. Gómez (8/9) Rivas (8/9) Lopez (9/10) Domínguez (11/12)89 Lopez (9/13) R. Gómez (8/13) Camarillo (9/10) Camarillo (12/13)90 Rivas (11/13)91 Domínguez (11/12)92
Anhang V Datum der Installation der Constituyentes und der Verfassungen der Estados Unidos Mexicanos93 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Staat Jalisco Oaxaca Zacatecas Tabasco Nuevo León Yucatán Tamaulipas Veracruz Michoacán Querétaro Durango Occidente Chiapas Chihuahua Puebla Guanajuato San Luís Potosí México Coahuila y Texas
Installation der Constituyentes94 14.09.1823 (3) 01.07.1823 (1) 19.10.1823 (4) 03.05.1824 (11) 01.08.1824 (14) 20.08.1823 (2) 07.05.1824 (12) 09.05.1824 (13) 06.04.1824 (9) 17.02.1824 (5) 08.09.1824 (16) 12.09.1824 (18) 05.01.1825 (19) 08.09.1824 (16) 19.03.1824 (7) 25.03.1825 (24?) (8) 21.04.1825 (10) 02.03.1824 (6) 15.08.1824 (15)
Errichtung als Staat95 23.12.1823 21.12.1823 23.12.1823 07.02.1824 07.05.1824 23.12.1823 07.02.1824 22.12.1823 20.12.1823 23.12.1823 22.05.1824 10.01.1824 Sept. 1825 06.07.1824 21.12.1823 20.12.1823 22.12.1823 20.12.1823 07.05.1824
Verabschiedung der Verfassung96 18.11.1824 10.01.1825 17.01.1825 05.02.1825 05.03.1825 06.04.1825 06.05.1825 03.06.1825 19.07.1825 12.08.1825 01.09.1825 31.10.1825 19.11.1825 (Nov. 1826 publiziert) 07.12.1825 07.12.1825 14.04.1826 16.10.1826 14.02.1827 11.03.1827
93 Auflistung nach Datum der Verabschiedung der jeweiligen Verfassung. 94 Nach Benson: Diputación, S. 227. In Klammern Reihenfolge. 95 Benson: Diputación, S. 227. 96 Nach jeweiliger Verfassung in: Colección de constituciones de los Estados Unidos Mexicanos. 97 Ankunft im Kongress nach Angaben in den Protokollen.
Verfassung im Kongress von Michoacán97 07.12.1824 Erster Teil: 08.07.1824; komplett: 09.02.1825 13.07.1824 (Verfassung!; schon am 8.7. erwähnt) ?? 14.02.1825 (Entwurf) 07.10.1824 (Verfassung [!?]) 13.07.1825 07.02.1825 (Projekt); 22.06.1825 (Verfassung) -02.03.1825 (Projekt) 09.11.1825 ?? 02.01.1826 ?? 09.01.1826 ?? 29.12.1826 12.03.1827 ??
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Register
Abad y Queipo, Manuel 56f., 59ff., 78, 86, 104, 109f., 118f., 133, 148f., 205 Absolutismus 41ff., 93, 103, 124, 130, 164f., 213 Adams, John 215, 293, 465 Aguiar, Agustín 150, 157, 166, 224, 237, 430 Alamán, Lucas 3, 124, 143, 217, 308, 312 Alcalde 37ff., 47ff., 246ff., 253, 267, 273ff., 348, 398, 419, 534, 537f. Althusius, Johannes 427 Alvires, Manuel 339, 372, 385, 499f., 504 Anzorena, José María 110, 148, 301 Apatzingán, Verfassung von 10, 114, 287, 445f., 461, 571 Apatzingán 84, 119, 332 Aragón, Francisco de 365, 375, 381f., 385, 404, 420, 422f., 503, 515 Arango, Luis 125, 156, 529, 533 Ario 25, 304, 314ff., 419 Aufklärung 3, 7, 18, 21, 46, 51, 57ff., 67, 73, 81, 131, 141, 181, 290ff., 392, 407, 410, 524, 567ff. Aurioles, Lorenzo 339, 365, 385, 549 Ayuntamiento 38f., 60ff., , 102ff., 122ff., 154, 156f., 194, 233, 235, 248f., 264, 267ff., 310ff., 398, 403, 411, 472, 489, 501f., 505f., 513, 558f. Bajío michoacano 23ff., 108 Bárcena, Manuel de la 79, 118, 121, 149 Bayonne, Verfassung von 79, 81 Beaumont, Pablo 68, 429 Beccaria, Cesare 244 Bentham, Jeremy 60, 428, 473f., 485, 523, 559 Bodin, Jean 164, 427 Bolívar, Simón 139, 143, 283, 287, 457 Bürger(lichkeit) 21, 64ff., 106, 130, 150f., 300, 391, 393, 416ff., 509, 570
Bustamante, Carlos María 3, 143, 519, 522 Cabados, José María 364, 366 Cabildo (eclesiástico) (Domkapitel) 55ff., 109ff., 319, 486, 507f., 515, 528 Cabrera, José María 138 Cádiz (Cortes – Verfassung von) 20, 75, 82, 90, 93ff., 106, 121, 124f., 130, 145, 148, 162, 164, 174, 183, 192f., 198, 201, 204ff., 219, 222, 234, 243f., 246, 249, 259, 271, 283f.,.326ff., 343, 375, 399, 440, 446ff., 466, 491, 493, 523, 526ff. Camacho, Antonio 360, 369 Camarillo, Francisco 337, 342, 415, 437f., 504, 554 Carbajal, Felipe 424 Carrasquedo vgl. Garcia de Carrasquedo y Ortiz Izquierdo Castro, Antonio de 114, 138, 146, 151, 154 Charo 27, 262f., 314, 352 Charte constitutionelle (1814) 175f., 255f., 285 Chávez, Antonio 364, 555 Chávez vgl. auch Ruiz de Chávez Coahuayana 120, 181, 331f., 394, 413 Coalcomán 25, 369f., 413, 536 Codallos, Juan José 309, 453 Colegio de San Nicolás (Hidalgo) 7, 56ff., 147, 319, 360 Colegion seminario (tridentino) 56, 58, 60, 114, 118, 146ff., 151, 319, 499, 514, 516 Colima 22, 113, 179f. Constant, Benjamin 254, 268, 276, 286 Constitution française (1791) 95ff., 173f., 184, 192, 199, 210, 240, 283ff., 330 Díaz de Ortega, Felipe 50, 65, 78, 127 Díaz de Ortega, José 127 Diputación provincial 102f., 123f., 126ff. Distinktion 65f., 400f., 407, 417ff., 423, 464f., 481, 490, 497, 500ff., 523, 560, 568ff.
Register Domínguez, José Joaquín 339, 386, 400, 403, 405, 409f., 413, 423, 438, 451f., 456, 482, 487, 493, 499, 504, 507, 519, 533, 540, 546, 548, 551, 553f., 556f., 559, 563 Domkapitel (s. Cabildo) Druckerei / Druckerpresse 115, 156, 365, 529ff., 541f., 544, 547f., 561, 573 Echaíz, Mateo 329, 381f., 395, 403, 423, 451 Ehre, Honorabilidad 39, 69, 114, 155, 185, 200f., 335, 337f., 355f., 384, 395f., 406, 417ff., 463f., 477, 480, 482f., 487, 495f., 500ff., 505ff., 508, 555, 559ff. Eid/Schwur 79, 91, 95f.,103f., 121, 155f., 158, 173f., 253, 446f., 463f., 466, 468, 471f., 479f., 490, 492f., 507, 516 Escoceses 304ff. Estado de México 53f., 148, 155, 163, 180, 229, 271, 280, 287, 329f., 362, 499, 530, 551 Faktion(ierung), Parteiung 93, 141, 254, 289, 300, 304, 308, 338ff., 345f., 353, 355, 364f., 370ff., 381f., 388f., 415, 419f., 547, 570 Familie 21, 63f., 66, 146ff., 193, 197f., 203, 266, 299f., 309, 396f., 400ff., 419, 421ff., 444f., 451f, 458, 461f., 481, 566, 568, 570 Federalists 215 Ferdinand VII. 79f., 84, 86f., 91, 97, 103, 107f., 113, 116, 121, 124, 126, 164f. Föderalismus, Föderalisierung 101f, ^06, 133, 137ff., 269, 285, 312, Foncerrada y Soravilla, Bernardo 60, 64 Foncerrada y Soravilla, José Cayetano 91f., 101, 103, Foncerrada y Soravilla, Juan Nepomuceno 148ff., 157 Frau / Mutter 192, 201f., 226, 321, 333, 395, 423f., 426, 523 Freistaat (Estado libre) 175ff. Galván, Martín 363f., 366 Gálvez, José 43ff., 49, 75 Garcia de Carrasquedo y Ortiz Izquierdo, Isidro 544 Garcia de Carrasquedo y Ortiz Izquierdo, Martín 104, 305, 435
631 García de Obeso, Gabriel 62 García de Obeso, José María 62, 64, 87f., 148, 451 Geschäftsordnung (Reglamento interior) 152, 234f., 467ff., 473ff., 488 Gesetzgebungsstaat 36, 41, 99f., 240, 388 Gewaltenteilung 98, 112, 114, 145, 214ff. Gnade 237f. Gómez Farías, Valentín 310 Gómez de la Puente, Juan José 1, 64, 150, 301, 335, 337, 342, 377, 380, 387, 399, 402, 404, 406f., 415, 418, 424, 439, 441, 463, 500, 504, 521, 531, 559f. Gómez de la Puente, Raphael 333, 339, 341, 373, 493 Gómez de Soria, Cayetano 300 Gómez Pedraza, Manuel 306 González Pimentel, Manuel 150f., 157, 161, 166, 168, 206, 219, 226f., 245, 263, 265, 275, 281, 322, 333, 335, 337f., 365, 378, 381, 403f., 409, 423, 429, 464, 482, 485f. González Urueña, Manuel 320 Gottesgnadentum 97, 160, 164, 166, 175, 540 Guadalajara siehe Jalisco Guadalupe, Jungfrau von 80, 108, 110, 131, 439, 444, 460, 522 Guanajuato 22ff., 88, 107ff., 117f., 127f., 138, 155, 162, 195, 202, 299, 302, 306, 310, 319, 328, 367, 488, 546 Guerrero, Vicente 124, 306ff. Guzmán, Giordano 116, 309, 332 Hardy, Robert William Hale 120 Hidalgo, Miguel 57, 107ff., 122, 131, 133, 147ff., 305, 307, 434ff., 439, 455, 459, 461 Hobbes, Thomas 210 Hombre de bien 393f., 399, 416ff., 426, 428, 546 Huarte, Isidro (jun.) 62, 78, 86. 91, 104, 110, 138, 147, 166, 176, 178, 180, 185ff., 207f., 219, 221, 224, 229, 230, 236ff., 245, 248, 256, 260f., 264, 266, 269, 271, 273, 275, 279ff., 329, 350, 394, 420, 423, 445,
632 452, 485f., 499, 504, 506, 515, 530, 552f., 558 Huarte, Isidro (sen.) 25, 62, 91, 147, 151, 153, 156, 158 Huarte, Ramón 64, 127 Huetamo 261, 302, 314, 535f. Humboldt, Alexander v. 2f., 61, 64, 70, 148, 177 Ideologie, Ideologisierung 61ff., 67f., 74, 102, 108, 268, 289f., 300, 485, 548, 569, 572 Individuum, Individualisierung 29, 43, 67, 73, 94, 115, 130f., 181ff., 203f., 209ff., 240, 242, 245, 255, 268, 281, 290ff., 326, 349, 351, 353f., 357, 365, 370ff., 381, 386ff., 390ff., 420f., 431ff., 459, 480f., 547, 559 Institution(alisierung) 9, 49, 74, 107ff., 132, 141, 164, 232, 293f., 463, 465, 497ff., 507, 510f., 561f., 563ff. Iturbide, Agustín 1, 64, 110, 113, 124ff., 133, 137ff., 147, 164, 216f., 286, 311, 435, 448, 454f. Iturbide, José Joaquin 60, 62 Iturrigaray, José de 83 Izasaga, José María 88, 481 Jalisco, Guadalajara 23, 25, 29f., 83, 111, 113, 117, 126, 138f., 152, 155, 179, 195, 208, 229, 271, 287, 304, 306, 328, 412, 449, 488, 529 Jesuiten(vertreibung) 44f., 56ff., 514 Jiménez, José María 150f., 153, 157, 205, 227, 245, 264, 269, 276, 281, 530, 540 Jiquilpan 368ff. Junta patriótica (insb. von Valladolid) 304, 318, 437ff., 449ff. Junta suprema central (1808-10). 84ff., 93 Junta suprema nacional americana (Junta von Zitácuaro) 112f. Kant, Immanuel 16, 568, 571 Karl III. 43, 45, 69, 71, 75 Karl IV. 75, 78f., 84 Kasuistik 36, 40f., 46, 72, 99, 243 Katholizismus 18, 55ff., 70, 80ff., 97ff., 108f., 129, 131, 142, 166f., 173f., 186,
Register 196, 204ff., 279, 284, 289f., 319, 418, 423f., 433, 445, 460, 569 Konservativ, Konservatismus 68, 74, 82, 98, 131, 291f., 304, 434, 569f. Lächerlichkeit 554ff. Landverteilung 317, 405, 425, 428ff. Lebensstil 51f., 64ff., 397, 407ff., 416ff., 483, 559, 567 Lejarza vgl. Martínez de Lejarza y Alday Liberalismus, Liberal 2ff., 44, 67, 74, 84, 93f., 101f., 107, 115, 126, 130f., 140ff., 163, 186, 204, 214, 227, 245, 253f.,264, 268, 276, 280, 284, 287ff., 304, 310, 334, 355, 357, 389, 390ff., 402, 411f., 417, 419f., 423, 430, 432, 464f., 485, 503f., 510, 524, 528, 542, 544, 564ff., 570ff. Lloreda vgl. Torre Lloreda Locke, John 60, 414f., 239, 325, 334, 427 Lopéz de Santa Anna, Antonio 216f., 306ff., 435, 452 Macías, José Antonio 369 Madero, Joaquín Tomás 456 Mal gobierno 38, 73, 108, 213f., 253, 256, 274 Malicia humana 238, 255, 293, 381, 390f. Maravatio 24, 313f., 535 Martínez de Lejarza y Alday, Juan José 62, 64, 123, 127, 148, 150f. , 178, 256f., 260, 406, 461, 483, 500, 502, 519, 530 Matamoros, Mariano 118, 456f., 459 Mendéz Lopéz, Miguel 339 Menéndez, Manuel 557 Menéndez, Mariano 251, 266 Menocal, Nicolás 316, 481f. Mestizisierung 26ff., 132, 399ff., 406 México vgl. Estado de México Michelena, José Mariano 64, 87, 123, 304, 308 Michelena Gil, Juan José Manuel de 60, 127 Michelena, José Nicolás de 62, 88 Mier y Terán, Manuel 62, 452 Miliz 44, 62ff.,87f., 122, 127, 147ff., 232, 236, 258, 278 Montañeses 62, 74, 78, 86
Register Montesquieu, Charles de 60, 142, 170, 215, 239ff., 276, 286, 379, 410 Morelia vgl. Valladolid Morelos, José María 10, 112ff., 133, 286, 429, 435f., 445, 456ff., 461, 519, 522 Moreno, Diego 309f., 493, 554 Napoleon Bonaparte 67, 79ff. Naturaleza 68ff., 189ff. Navarrete, Francisco 337 Navarro, José María 306, 332, 394, 404, 423, 474, 487, 500, 518 (Neo-)Scholastik 39f., 97f., 168 Oaxaca 28, 113, 127f., 138, 155, 162, 222f., 228, 250, 272, 298ff., 329, 367, 400, 441, 530, 536f. Obeso vgl. García de Obeso Öffentlichkeit 65f., 79ff., 107ff., 111, 125f., 132, 408, 437, 448ff., Kap. F (463ff.) Oñate, José Miguel de 531, 533, 541, 544, 556 Ortiz Izquierdo, José María 123, 127 Otero, Pedro 309, 453, 461 Pallares, José María 426 Papel sellado (Stempelpapier) 537f. Paracho 414 Pastor Morales, Juan José 122, 149f., 153, 157f., 177f., 180, 185f., 193, 196f., 208, 225, 227, 236, 238, 249, 256f., 260, 264f., 268ff., 276f., 280f., 287, 350, 387, 399, 446, 454, 473, 476, 485f., 503 Pátzcuaro 22ff., 60, 62, 64, 88, 123, 127, 138, 148, 260ff., 314, 321, 352, 360f., 453 Paulín, José María 150, 157f., 178, 212, 287 Peguero, Pablo José 331, 337, 339, 342, 362, 365, 372ff., 379f., 385f., 393, 398, 400, 407ff., 418, 423, 425, 457f., 474, 480, 482, 504, 548, 554, 557ff., 563 Pérez Gil, José Antonio 373, 376, 410, 548 Piedad 50, 260f., 315f., 321, 359 Piedad austera 58, 168, 418 Plan de Iguala (1821) 124, 128f., 193, 196, 204, 399, 434, 448 Postwesen 44, 534ff. Provinzdeputationen (vgl. iputaciones provinciales)
633 Puebla 126, 198, 202, 250, 328f., 344, 400, 441, 472, 475ff., 529 Puruándiro 26, 64, 120, 261, 314f., 320 Quevedo, Mariano 149, 153, 257, 483 Rayón, Ignacio 112ff., 133, 138, 434, 445, 452, Rayón, José María 149ff., 157, 160, 180, 185f., 205ff., 225, 227, 229f., 236f., 251, 257, 266, 269, 277, 286, 483, 485, Recopilación de leyes de los reynos de las indias (1680) 38ff., 286, 504, 518 Regierungsrat (Consejo de regencia) 90ff. Repúblicas de españoles 38f., 61ff. Repúblicas de indios 38f., 52ff., 122 Republikanismus 40ff., 114, 143, 292f., 326, 355, 389, 431ff., 441, 464, 485ff., 566, 571ff. Reyes 314f., 455 Ritual 466ff. Rivas, Mariano 339, 341, 373, 376f., 384, 412, 415, 418, 480, 487, 499f., 504, 544, 557, 559f. Romero, Francisco 363, 366, 368, Rousseau, Jean-Jacques 60, 170, 210, 283, 293 Ruiz de Chávez y Carillo, Mariano Ruiz de Chávez y Gil, Mariano 404 Ruiz de Chávez, José Manuel 88, 149f., 153, 329, 378, 400, 409, 418, 423, 452, 456, 493, 555 Salgado, José Trinidad 150f., 153, 155, 158, 224, 257, 272, 277, 281, 305ff., 336f., 361f., 368, 370, 394, 428, 437, 450f., 473f., 485, 501, 544f., 548, 554, 556, 559 San Luis Potosí 22f., 96, 102, 118, 196, 198f., 272, 316, 319, 473, 493, 499 Santa Clara (del Cobre) 50, 60, 88, 304, 316f., 331, 454f. Seminario tridentino vgl. Colegion seminario (tridentino) Sieyès, Emmanuel Joseph 170f., 252 Silva, José María 360, 370, 375, 411, 439, 526, 539 Sklaverei 107f., 110f., 184, 187, 430, 457
634 Solórzano, Manuel Diego (auch „Soloronzo“ genannt) 123, 127, 138 Sondergerichtsbarkeit (Fuero) 64, 182, 205, 240, 246 Souveränität 8, 20f., 40f., 45, 48f., 79, 82, 84, 93, 95, 97, 100f., 122, 128, 137f., 144, 159f., 164ff., 207, 210, 219ff., 232, 268f., 276, 284f., 292f., 322ff. Spaniervertreibung 304ff., 416, 424, 429f., 446, 460 Staatsbürgerschaft (Ciudadanía)/gesellschaft 8, 15, 94, 100, 125, 145, 166, 225ff, 247, 251, 265f., 281, 285, 290ff., 332ff., 348ff., 371, 373, 390ff., 397ff., 527 Staatsoberhaupt 254f., 428f. Stadtrecht 38, 454ff. Stempel 443f., 537ff. Stenographie 520, 552ff. Stierkämpfe 320, 409ff., Tacambaro 316f., 369, 455 Tampico (Invasion von) 307f., 435, 439, 452 Tancitaro 322, 413 Taretan 263, 316f., 321, 352, 409 Terán, Alonso de 78, 86, 88, 91, 109ff. Territorialstaat(lichkeit) 36, 44, 49, 72, 133, 179ff., 210, 249, 258, 330, 527 Theater 66, 320, 409ff. Tiripetio 120, 305, 359 Tlalpujahua 24, 112f. 313, 316ff. Tocqueville, Alexis de 276, 286 Torre Lloreda, Manuel de la 58, 88, 125f., 149f., 153, 155, 157, 161, 166, 168f., 171, 176, 178, 180, 184ff., 196, 205ff., 209, 245, 257, 261, 268ff., 276ff., 287, 289, 322, 329, 369, 394, 417, 450f., 458, 461, 463, 473, 485f., 502ff., 515, 543ff., 560, 570 Tratamiento 463f., 498ff., 506f. Tzintzuntzan 24, 27, 314f., 430 Uruapan 54, 119, 260f., 302, 304, 314ff., 419, 450 Utilitarismus 65, 67, 73, 97f., 131, 244f., 286, 292, 395, 413
Register Valladolid, Morelia (v.a. Verschwörung und Umbenennung) 46, 60ff., 70, 79ff., 87ff., 117ff., 122ff., 177, 435, 438, 455ff. Vecindad, Vecino/a 65, 86, 94f., 194ff., 201ff., 226, 251, 267f., 275, 313ff., 322, 327, 335ff., 394, 413, 426 Velasco, Basileo de 419, 439f., 456 Veracruz 28f., 117, 167, 195, 202, 222, 228, 250, 298, 306, 329, 529ff., 543, 553 Verantwortung 51, 67, 100, 115, 133, 204, 213, 231, 238, 264, 269, 273ff, 281, 288, 334f., 356, 373f., 386, 389, 416ff., 451, 463, 481, 566ff. Verfassungsgerichtsbarkeit 252 Verfassungsreform(en) 167ff., 328f., 340f. Vertrauen / Misstrauen 1, 8, 21, 86, 114, 174, 189, 196ff., 211, 219, 228ff., 238f., 251, 255, 269, 281f., 293, 325ff., 336ff., 344ff., 388f., 466f., 479f., 483, 563ff. Villalongín, Manuel 451f., 461 Villaseñor, Pedro 127, 149ff., 157, 166, 171, 185, 196, 206ff., 219, 227, 229ff., 236, 245f, 257, 261ff., 266, 272, 275, 285, 306, 332f., 350, 367, 399, 404, 454, 483, 502ff., 506, 529, 560 Villavicencio, Ignacio 369, 410, 430, 456 Wahlscheine (Boletas) 371ff. Wahltisch (Mesa) 361, 381ff. Wappen 177f., 442ff., 454, 522, 539f. Yorkinos 304ff., 450 Zacatecas 27, 138, 162, 225, 250, 272, 328, 344, 546 Zamora 23, 26, 60, 88, 91, 103, 113, 260f., 263, 301, 314, 317, 352, 357, 362ff., 368ff., 428, 455, 534f. Zeitung 112, 115f., 126, Kap. F II b (495ff.) Zincunegui, Miguel 365, 378, 381, 385f., 395, 423, 425, 483, 499, 530 Zitácuaro 25f., 91, 112, 120, 126, 260, 313f., 337, 370, 535f. Zivilgesellschaft 302ff., 318ff.