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German Pages [305] Year 2016
LATEINAMERIKANISCHE FORSCHUNGEN Beihefte zum Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas
Herausgegeben von
Thomas Duve, Silke Hensel, Ulrich Mücke, Renate Pieper, Barbara Potthast Begründet von
Richard Konetzke (†) und Hermann Kellenbenz (†) Fortgeführt von
Günter Kahle (†), Hans-Joachim König, Horst Pietschmann, Hans Pohl, Peer Schmidt (†)
Band 47
Ethnizität, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit im Zeitalter der Revolution Afroamerikaner und Indigene in Mexiko um 1800 von
David Grewe
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
David Grewe ist Historiker und verfasste diese Studie als Mitglied im Kompetenznetz Lateinamerika – Ethnicity, Citizenship, Belonging an der WWU Münster.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Zugleich Dissertation Universität Münster 2015 unter dem Titel: „Ethnizität, korporative Gesellschaft und Staatsbürgerschaft im Zeitalter der Revolution – Afroamerikaner und Indigene in Mexiko um 1800“ D6 Umschlagabbildung: „Cuadro de Castas“, Öl auf Leinwand, 18. Jahrhundert, Maler unbekannt. Standort: Museo Nacional del Virreinato, Tepozotlán, Mexiko. Verfügbar über: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ACasta_painting_all.jpg https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e8/Casta_painting_all.jpg © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50575-2
Inhaltsverzeichnis Danksagung................................................................................................... 7 Einleitung ....................................................................................................... 9 I. Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft... 31
1. 2. 3. 4. 5.
Die Ursprünge der calidades..............................................................................31 Verwaltungspraxis und die Dimensionen der calidad um 1800 .................52 Indigene in der korporativen Gesellschaft....................................................67 Afroamerikaner in der korporativen Gesellschaft .......................................80 Zum Konzept der calidad .................................................................................97
II. Ethnizität und Staatsbürgerschaft ..................................................... 103
1. Die legislative Ebene ..................................................................................... 104 a) Die Krise der Monarchie und die Verfassung von Cádiz ................. 105 b) Das Erste Imperium und die Republik ................................................ 121 2. Afroamerikaner und Staatsbürgerschaft..................................................... 131 a) Afroamerikaner, spanische Verwaltung und politische Rechte ....... 132 b) Der lokale Umgang mit der Exklusion ................................................ 151 3. Indigene und Staatsbürgerschaft ................................................................. 165 a) Die Bedeutung korporativer Verfasstheit ............................................ 168 b) Die Aneignung liberaler Argumente..................................................... 191 III. Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit ................................................. 205
1. 2. 3. 4. 5.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808.............................. 207 Amerikanische Nation und spanische Nation .......................................... 218 Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg .......................................... 232 Afroamerikaner und Gruppenbewusstsein................................................ 250 Ethnische Kategorien im mexikanischen Nationalstaat .......................... 262
Fazit ............................................................................................................ 273 Anhang ....................................................................................................... 285 Literatur- und Quellenverzeichnis ........................................................... 287
Danksagung An erster Stelle danke ich herzlichst Silke Hensel. Sie förderte meinen wissenschaftlichen Werdegang, ermutigte mich zu dieser Studie, begleitete meine Arbeit mit größtem Interesse und stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Durch ihre wertvollen Anregungen in zahlreichen Diskussionen trug sie bedeutend zu dieser Studie bei. Ebenso danke ich Wolfgang Gabbert für die anregenden Gespräche, das Interesse an meinem Forschungsprojekt und die Erstellung des Zweitgutachtens. Darüber hinaus haben viele weitere Menschen und Institutionen das Gelingen dieser Arbeit ermöglicht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellte die finanziellen Mittel für diese Studie zur Verfügung, die zwischen 2010 und 2014 im Rahmen des Kompetenznetzes Lateinamerika – Ethnicity, Citizenship, Belonging entstand. Die Mitglieder des Kompetenznetzes bereicherten meine Forschung durch interdisziplinären Austausch sowie viele konstruktive und freundschaftliche Gespräche. Die Kolleginnen und Kollegen am Historischen Seminar in Münster berieten und ermutigten mich, waren freudige Diskussionspartner und bewirkten, dass Mittagessen und Cappuccino nie zu kurz kamen. Insbesondere Frederik Schulze unterstützte durch wertvolle Kommentare zum Text. Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Jahrbuchs für Geschichte Lateinamerikas nahmen diese Arbeit in die Lateinamerikanischen Forschungen auf und Ulrich Mücke machte hilfreiche Anmerkungen zum Manuskript. Mit ihren Anregungen zu meinem Forschungsprojekt haben auch Michael Ducey, Matthew O’Hara, Erika Pani, Juan Manuel de la Serna und Israel Ugalde meine Arbeit bereichert. Das Personal der mexikanischen Archive ermöglichte nicht nur meine Recherchen, sondern machte die Archivaufenthalte zu einem weniger einsamen Unterfangen. Cornel Lobitz unterstützte meine Arbeit durch die digitale Erfassung von Zensusdaten des 18. Jahrhunderts. Viele Freunde, insbesondere Delphine Prunier, Álvaro Rodríguez Luévano, Verónica Kugel, Manfred Kaindl, Abbdel Camargo Martínez, Susana Vargas Evaristo, Tanguy Samzun, Goyo Schäpers, Triny Cruz Paredes, Gilberto Rescher, María Guadalupe Rivera Garay und die Gruppe für akademischen Austausch Zope halfen bei der Organisation und Durchführung der Forschungsaufenthalte. Michael Altmaier war eine große Hilfe beim Korrekturlesen und Juan Carlos Rivera Mera beriet mich bei der Übersetzung spanischer Zitate. Ulrike Grewe engagierte sich im Korrekturlesen des Textes und war gerade in der letzten Phase vor der Abgabe eine riesige Unterstützung. Besonders Lotte Nordhus trug seit Beginn des Forschungsprojektes auf unzählige Weisen zum Gelingen dieser Arbeit bei. Ihnen allen gilt mein größter Dank. Dass ich die Möglichkeit hatte, ein tiefes wissenschaftliches Interesse zu entwickeln und ihm mit dieser Arbeit nachzugehen, ist vielen Menschen zu
verdanken, denen ich in den vergangenen 33 Jahren begegnet bin und die mich begleitet haben. Erwähnt sei hier ganz besonders meine Mutter, der ich diese Studie widme. Frankfurt am Main, Juli 2016
Einleitung Die indigene Bevölkerung Lateinamerikas hat seit den 1990er-Jahren große politische und akademische Aufmerksamkeit erfahren. Indigene Gemeinden und Gruppen erhielten in vielen Ländern Sonderrechte hinsichtlich der Verwaltung ihrer Ländereien und Rechtsprechungskompetenzen. Diese multikulturalistisch orientierten Maßnahmen wurden mit den ethnischen oder kulturellen Merkmalen indigener Bevölkerungsgruppen begründet. Indigene Aktivisten konnten ihre Forderungen nach Sonderrechten auch mit ihrer Eigenschaft als Ureinwohner des Kontinents legitimieren. Die politischen Eliten sahen die Zuerkennung von Sonderrechten für Indigene häufig als gerechtfertigt an, während es im Fall der Afroamerikaner anders aussah. Die afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen des Kontinents, beispielsweise in Ecuador und Kolumbien, hatten weitaus größere Schwierigkeiten, als ethnische Gruppen anerkannt zu werden und auf dieser Basis Sonderrechte einzufordern.1 Die hier umrissenen Unterschiede in der Wahrnehmung von Indigenen und Afroamerikanern haben historische Ursachen, die in die spanische Kolonialzeit zurückreichen. Die Ursprünge der Unterscheidung zwischen beiden Kategorien liegen in der Errichtung spanischer Herrschaft in Amerika um 1500 sowie dem Beginn der massenhaften Verschleppung von Afrikanern im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels. Seit der Etablierung spanischer Herrschaft in Amerika zu Beginn der Neuzeit teilte die spanische Krone die Bevölkerung der amerikanischen Besitzungen gemäß ihrer Abstammung in rechtliche Kategorien ein. Indigene, Spanier, afrikanische Sklaven und ihre Nachkommen sollten unterschiedliche rechtliche Status erhalten. Alle Personen sollten entsprechend ihrer Abstammung registriert und rechtlich behandelt werden. Die frühen Studien des 20. Jahrhunderts betrachteten die Einteilung nach indios, españoles, mulatos etc. unter den Vorzeichen moderner ‚Rassen‘-Kategorien oder als eine Differenzierung entlang phänotypischer Merkmale.2 In späteren Arbeiten wurde diese rechtliche Differenzierung meist als eine mehrstufige Hierarchie ethnischer Kategorien aufgefasst.3 Diese Auffassungen sind jedoch problematisch, denn die rechtliche Differenzierung nach jenen Abstammungskategorien – den calidades oder castas – war 1
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Vgl. z.B. Hooker, Juliet: Indigenous Inclusion/Black Exclusion. Race, Ethnicity and Multicultural Citizenship in Latin America, in: Journal of Latin American Studies 37 (2005), H. 2, S. 285–310; Restrepo, Eduardo: Etnización y Multiculturalismo en el bajo Atrato, in: Revista Colombiana de Antropología 47 (2011), H. 2, S. 37–68. León, Nicolás: Las castas del México colonial o Nueva España. Noticias etnoantropológicas, México 1924; Lipschütz, Alexander: Indoamericanismo y raza india, Santiago, Chile 1937; Diggs, Irene: Color in Colonial Spanish America, in: The Journal of Negro History 38 (1953), H. 4, S. 403–427. So z.B. Mörner, Magnus: Race Mixture in the History of Latin America, Boston 1967.
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Einleitung
Teil der korporativen Gesellschaftsordnung der frühneuzeitlichen spanischen Welt. Ein Vergleich von Indigenen und Afroamerikanern lässt diesen Zusammenhang erkennen, denn die beiden Kategorien waren in unterschiedlichem Maße an korporative Institutionen gebunden.4 Die Kategorie indio implizierte in Neuspanien – dem Vizekönigreich, aus dem Mexiko hervorging – für gewöhnlich die Zugehörigkeit zu einer indigenen Gemeinde: Wer als Mitglied einer indigenen Gemeinde anerkannt wurde, galt rechtlich als indio. Kategorien afrikanischer Abstammung wie negro oder mulato waren hingegen nicht mit einer solchen korporativen Dimension verbunden, weder wenn sie sich auf freie Afroamerikaner bezogen, noch wenn es sich um Sklaven handelte. Es existierten zwar Korporationen, die sich ausschließlich aus Afroamerikanern zusammensetzten, insbesondere die afroamerikanischen Milizen, aber die Krone erkannte Gemeinden, deren Bewohner vornehmlich als Afroamerikaner galten, in der Regel nicht als Korporationen mit eigenen Rechten an. Die Vorstellung einer Hierarchie ethnischer Kategorien greift aus einem weiteren Grund zu kurz. Die rechtliche Differenzierung zwischen Spaniern, Mestizen, Indigenen und Afroamerikanern war nicht einfach eine mehrstufige graduelle Unterscheidung. Vielmehr gab es einen fundamentalen qualitativen Unterschied zwischen freien Afroamerikanern und der übrigen Bevölkerung: Indigene, Spanier und ihre Nachkommen galten als Eingeborene (naturales) der spanischen Monarchie, Afroamerikaner hingegen nicht, sondern Letztere wurden im Prinzip als Fremde angesehen.5 Diese Position der Indigenen hing auch mit der besonderen Bedeutung zusammen, die die Indigenen im Verhältnis zwischen der Krone und ihren spanischen Besitzungen hatte: Erst die Christianisierung der Indigenen rechtfertigte die spanische Herrschaft in Amerika. Die korporative Dimension der calidades wie auch die Unterscheidung zwischen Eingeborenen und Fremden sind nicht nur essenziell, wenn es darum geht, die Bedeutung der calidad im Antiguo Régimen zu verstehen. Sie ist auch für das Verständnis der mexikanischen Nationalstaatsbildung zentral. Im frühen 19. Jahrhundert fanden die korporative Gesellschaftsordnung und die Unterscheidung nach calidades mit der Einführung allgemeiner Staatsbürgerschaft ihr Ende. Die sozialen Kategorien und korporativen Institutionen, die sich mit Indigenen und Afroamerikanern verbanden, wurden auf legislativer Ebene abgeschafft, blieben aber de facto zum Teil bestehen. Indio und indígena wurden weiter als 4 5
Darauf wies schon Peter Wade hin: Wade, Peter: Race and Ethnicity in Latin America, London 2010, S. 27-28. Vgl. Herzog, Tamar: Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America, New Haven 2003, S. 159; Herzog, Tamar: Naturales y extranjeros. Sobre la construcción de categorías en el mundo hispánico, in: Oscar Recio Morales/Thomas Glesener (Hrsg.), Los extranjeros y la nación en España y la América española, Madrid 2011, S. 21–31.
Einleitung
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Kategorien in Fremdzuschreibungen genutzt. In vielen Gemeinden blieb auch die kategorielle Unterscheidung zwischen Indigenen und Nicht-Indigenen relevant, Selbstverwaltungsstrukturen indigener Gemeinden bestanden fort und manche Akteure identifizierten sich nach wie vor als Eingeborene (naturales). Kategorien afrikanischer Abstammung verschwanden mit der Gründung des mexikanischen Nationalstaats hingegen weitgehend aus der historischen Dokumentation. Aus einer vergleichenden Perspektive wird daher in dieser Arbeit die Bedeutung der kolonialzeitlichen Unterscheidung zwischen Indigenen und Afroamerikanern in der Phase der mexikanischen Nationalstaatsbildung untersucht. Dabei werden indigene und afroamerikanische Akteure im Kontext korporativer Zugehörigkeit untersucht und die frühneuzeitliche Unterscheidung zwischen Eingeborenen und Fremden findet besondere Beachtung. Indigene und Afroamerikaner werden hier als jene Akteure begriffen, die gemäß der Klassifizerung des spanischen Verwaltungsapparats als indios bzw. als mulatos, negros etc. betrachtet wurden. Diese Klarstellung ist wichtig, da viele Nachfahren der amerindischen Bevölkerung nicht als indios galten, sondern beispielsweise als mestizos. Ebenso konnten Menschen, die afrikanische Vorfahren hatten, seitens der Verwaltung mitunter als indio, mestizo oder Spanier registriert werden. Ist hier die Rede von Indigenen und Afroamerikanern, sind also jene rechtlichen Konstrukte gemeint. Inwiefern diese Kategorien auch für die Wahrnehmung einer Person jenseits von Verwaltungsinteraktionen relevant waren, wird in der Arbeit diskutiert.6 Hieraus ergibt sich allerdings die Frage, welche Akteure noch sinnvoll als Indigene oder Afroamerikaner bezeichnet werden können, wenn in der konstitutionellen Phase die Unterscheidung nach calidades ein Ende findet. De facto wurden die Kategorien teilweise weiter verwendet, hatten also nach wie vor eine Bedeutung für die Zeitgenossen. Die Arbeit geht davon aus, dass Kategorien wie indio oder mulato weiterhin Konzepte zugrundelagen, die auf der bisherigen Zuschreibungspraxis unter spanischer Herrschaft beruhten, wenn auch manche Bedeutungsdimensionen, insbesondere die Zuschreibung eines Rechtsstatus, an Relevanz verloren. Gerade die Frage nach der Bedeutung und Verwendung der Kategorien in der konstitutionellen Phase wird in dieser Studie in den Blick genommen. In der bisherigen Historiographie ist der Bedeutungsunterschied der Kategorien zur Bezeichnung von Indigenen und Afroamerikanern nicht systematisch untersucht worden, obwohl er die Forschung zu Neuspanien und Mexiko in hohem Maße prägt. Die Geschichtswissenschaft interessiert sich schon lange für die indigene Bevölkerung der Kolonialzeit, insbesondere für die indigenen Gemeinden. Seit den 1960er-Jahren rekonstruierten HistorikerInnen indigene 6
Siehe Kap.1.1.
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Einleitung
Selbstverwaltungsstrukturen und soziale Hierarchien innerhalb der Gemeinden. Auch religiöse Praktiken und Institutionen sowie das Verhältnis der Gemeinden zu Priestern, Kronbeamten und Großgrundbesitzern wurden analysiert.7 Die erste Monographie zur afroamerikanischen Bevölkerung Mexikos wurde bereits 1944 veröffentlicht. Im Zentrum der Arbeit standen Sklavenhandel, das sistema de castas und die Frage nach dem afroamerikanischen Bevölkerungsanteil Neuspaniens.8 Ähnlich behandelten viele wirtschafts- und sozialgeschichtlich orientierte Studien der 1980er-Jahre Afroamerikaner im Kontext von Haciendawirtschaft und Sklaverei.9 Seit den 1990er-Jahren wurden Afromexikaner mit dem Aufkommen der multikulturalistisch orientierten Politik in Lateinamerika als die dritte Wurzel der mexikanischen Nation neben Indigenen und Spaniern betrachtet.10 Das wissenschaftliche Interesse an Afroamerikanern nahm in der Soziologie, Ethnologie und Geschichtsschreibung auffällig zu.11
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Siehe z.B. Aguirre Beltrán, Gonzalo: Formas de gobierno indígena, México 1953; Gibson, Charles: The Aztecs under Spanish Rule. A History of the Indians of the Valley of Mexico, 1519-1810, Stanford 1964; Chance, John K.: Race and Class in Colonial Oaxaca, Stanford 1978; Taylor, William B.: Drinking, Homicide and Rebellion in Colonial Mexican Villages, Stanford 1979; Farriss, Nancy M.: Maya Society under Colonial Rule. The Collective Enterprise of Survival, Princeton 1984; Chance, John K.: Conquest of the Sierra. Spaniards and Indians in Colonial Oaxaca, Norman [u.a.] 1989; Ouweneel, Arij/Miller, Simon (Hrsg.): The Indian Community of Colonial Mexico. Fifteen Essays on Land Tenure, Corporate Organizations, Ideology and Village Politics, Amsterdam 1990; Haskett, Robert Stephen: Indigenous Rulers. An Ethnohistory of Town Government in Colonial Cuernavaca, Albuquerque 1991; Romero Frizzi, María de los Angeles: El sol y la cruz. Los pueblos indios de Oaxaca colonial, México, D.F. 1996. Aguirre Beltrán, Gonzalo: La población negra de México. Estudio etnohistorico, México, D.F. 1972. Vgl. Martin, Cheryl English: Rural Society in Colonial Morelos, Albuquerque 1985; Mentz, Brígida von: Pueblos de indios, mulatos y mestizos, 1770-1870. Los campesinos y las transformaciones protoindustriales en el poniente de Morelos, México, D.F. 1988; Naveda Chávez-Hita, Adriana: Esclavos negros en las haciendas azucareras de Córdoba, Veracruz, 1690-1830, Veracruz 1987; Ngou-Mve, Nicolás: El Africa bantú en la colonización de México (1595-1640), Madrid 1994; Martínez Montiel, Luz María (Hrsg.): Presencia africana en México, México, D.F. 1994. Siehe z.B. Lara, Gloria: Una corriente etnopolítica en la Costa Chica, México (19802000), in: Odile Hoffmann (Hrsg.), Política e identidad. Afrodescendientes en México y América Central, México, D.F. 2010, S. 307–334. Für einen Überblick über die Forschung zu Afromexikanern siehe z.B. Vinson III, Ben/Vaughn, Bobby (Hrsg.): Afroméxico. El pulso de la población negra en México, una historia recordada, olvidada y vuelta a recordar, México, D.F. 2004; Velázquez Gutiérrez, María Elisa/Correa Duró, Ethel (Hrsg.): Poblaciones y culturas de origen africano en México, México, D.F. 2005; Vasquez, Irene A.: The Longue Durée of Africans in Mexico. The Historiography of Racialization, Acculturation, and Afro-Mexican Subjectivity, in: The Journal of African American History 95 (2010), H. 2, S. 183–201.
Einleitung
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Die bisherigen historischen Studien beschränken sich weitgehend auf die Kolonialzeit.12 Wie im Fall der indigenen Bevölkerung betonen viele der neueren Studien die Aushandlungsspielräume von Sklaven und freien Afroamerikanern. Freie Afroamerikaner bildeten in Neuspanien zum Ausgang des 18. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit der Afroamerikaner, während die Institution der Sklaverei im Aussterben begriffen war. Eine vollkommen neue Perspektive auf Afroamerikaner in der neuspanischen Gesellschaft nahmen Arbeiten zu afroamerikanischen Korporationen wie Laienbruderschaften und Milizen ein.13 Ben Vinson III zeigte mit seiner Studie zu afroamerikanischen Milizen, dass Afroamerikaner über die Milizen einen Platz in der korporativen Gesellschaft einnehmen konnten. Er wies u.a. nach, dass Kategorien afrikanischer Abstammung durch korporative Zugehörigkeit deutlich aufgewertet und zu einem positiven Distinktionsmerkmal werden konnten.14 Die Befunde seiner Arbeit bilden daher eine wichtige Grundlage dieser Untersuchung. Wie Peter Wade schon 1997 kritisierte, werden Indigene und Afroamerikaner in der sozialwissenschaftlichen Forschung ohnehin zu sehr unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.15 So würden Indigene bevorzugt in der Anthropologie behandelt, während Afroamerikaner Untersuchungsgegenstand der Soziologie seien. Indigene würden stärker mit kulturellen Merkmalen und Ethnizität assoziiert, Afroamerikaner hingegen mit phänotypischen und race. Die Kategorie des Indigenen würde damit auch eher als wandelbar betrachtet, während die des Afroamerikaners als fest und gegeben erscheint.16 Diese Zweiteilung der Perspektive auf Indigene und Afroamerikaner lässt sich auch für das koloniale spanische Amerika beobachten. Afroamerikaner 12
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Vinson III, Ben: Bearing Arms for His Majesty. The Free Colored Militia in Colonial Mexico, Stanford 2001; Carroll, Patrick J.: Blacks in Colonial Veracruz. Race, Ethnicity, and Regional Development, Austin 2001; Campos García, Melchor: Castas, feligresía y ciudadanía en Yucatán. Los afromestizos bajo el régimen constitucional español, 17501822, Mérida 2005; Bennett, Herman Lee: Africans in Colonial Mexico. Absolutism, Christianity, and Afro-Creole Consciousness, 1570-1640, Bloomington 2005; Velázquez Gutiérrez, María Elisa: Mujeres de orígen africano en la capital novohispana, siglos XVII y XVIII, México, D.F. 2006; Germeten, Nicole von: Black Blood Brothers. Confraternities and Social Mobility for Afro-Mexicans, Gainesville 2006; Bristol, Joan Cameron: Christians, Blasphemers, and Witches. Afro-Mexican Ritual Practice in the Seventeenth Century, Albuquerque 2007; Bennett, Herman Lee: Colonial Blackness. A History of AfroMexico, Bloomington 2009; Restall, Matthew: The Black Middle. Africans, Mayas and Spaniards in Colonial Yucatan, Stanford 2009; Proctor, Frank T.: Damned Notions of Liberty. Slavery, Culture, and Power in Colonial Mexico, 1640-1769, Albuquerque 2010. Germeten, Black Blood, 2006 Vinson III, Bearing Arms, 2001. Wade, Peter: Race and Ethnicity in Latin America, London [etc.] 1997, S. 30-39; er wiederholte diese Kritik 2010: Wade, Race, 2010, S. 24. Wade, Race, 1997, S. 30-39.
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Einleitung
werden als eine Gruppe betrachtet, die im sistema de castas rechtlich benachteiligt wurde, die Kategorie des indio ist dagegen offenbar erst im Kontext der korporativen Gesellschaftsordnung zu verstehen. Kategorien wie indio und mulato erscheinen als zwei verschiedene calidades des sistema de castas, als zwei Punkte in einem Kontinuum, die jedoch in der korporativen Gesellschaft vollkommen unterschiedliche Bedeutungen hatten. Um diesen Zusammenhang aufzuklären, müssen Indigene und Afroamerikaner im Vergleich untersucht werden. Der vergleichende Blick auf Indigene und Afroamerikaner schärft also nicht nur das Verständnis für die Bedeutung dieser Kategorien, sondern ist auch längst überfällig, um das Phänomen calidad als solches zu begreifen. Für Neuspanien ist eine solche Perspektive bisher nicht eingenommen worden und auch für das übrige spanische Amerika sind Studien, die beide Kategorien betrachten, rar.17 Matthew Restall publizierte einen Sammelband zum Verhältnis zwischen Indigenen und Afroamerikanern in Neuspanien, jedoch nimmt der Band keine vergleichende Perspektive ein.18 Die Abschaffung der rechtlichen Differenzierung nach calidades und die Einführung der allgemeinen Staatsbürgerschaft im frühen 19. Jahrhundert waren Teil des Prozesses der mexikanischen Nationalstaatsbildung. Seit den 1990erJahren tendieren viele HistorikerInnen dazu, diese politische und gesellschaftliche Umbruchszeit im sogenannten ‚Zeitalter der Revolution‘ zu verorten, und sie so implizit oder ausdrücklich in einen Zusammenhang mit Ereignissen wie der amerikanischen und der französischen Revolution zu stellen.19 Während klassische Werke zu dieser Phase das spanische Amerika weitgehend unberücksichtigt ließen, gibt es für Lateinamerika und insbesondere Mexiko mittlerweile eine Vielzahl an Studien, die den Zeitraum zwischen 1750 und 1850 als Übergang vom Antiguo Régimen20 zum Nationalstaat untersuchen.21 Gerade der Bicentenario, der 200. Jahrestag des Ausbruchs des Unabhängigkeitskriegs, führte nicht nur in mexikanischen Medien und populärwissenschaftlichen Publikationen, sondern auch im akademischen Feld zu einem erhöhten Interesse und entsprechend vielen Publikationen. 17 18 19
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Eine Ausnahme bildet z.B.: O’Toole, Rachel Sarah: Bound Lives. Africans, Indians, and the Making of Race in Colonial Peru, Pittsburgh 2012. Restall, Matthew (Hrsg.): Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005. Zur Entstehung des Begriffs: Palmer, Robert R.: The Age of the Democratic Revolution, Princeton 1959; Hobsbawm, Eric John: The Age of Revolution. 1789-1848, New York 1962; Godechot, Jacques Leon: France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1770-1799, New York 1965. Der Begriff Antiguo Régimen meint hier analog zum Begriff des Ancien Régime die politische und rechtliche Ordnung der spanischen Monarchie vor der konstitutionellen Phase. Siehe für Lateinamerika z.B. Uribe-Uran, Victor (Hrsg.): State and Society in Spanish America During the Age of Revolution, Wilmington 2001.
Einleitung
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Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete im spanischen Amerika eine Umbruchphase, denn die Reformen der Bourbonen zielten auf eine erhöhte wirtschaftliche Ausbeutung und engere administrative Kontrolle der amerikanischen Gebiete ab. Der Abgabendruck auf die Bevölkerung der Kolonien wurde verstärkt, korporative Privilegien wie die des Klerus attackiert und die Kreolen, d.h. die in Amerika geborenen Spanier, wurden aus Posten der vizeköniglichen Verwaltung gedrängt. Neben anderen Faktoren werden diese Reformen als einer der langfristigen Gründe der Unabhängigkeitsprozesse im spanischen Amerika betrachtet.22 Seit der Krise der spanischen Monarchie von 1808 traten im spanischen Amerika Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen offen zutage, in deren Folge Spanien nahezu alle seine amerikanischen Besitzungen verlor. Die Frage nach den langfristigen Ursachen der mexikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen ist seit den 1990er-Jahren in den Hintergrund getreten. Mit der Verortung der mexikanischen Unabhängigkeit im Zeitalter der Revolution wurden die Unabhängigkeitsphase und die Gründung des Nationalstaats vor allem in Hinblick auf gesellschaftlichen und innenpolitischen Wandel untersucht.23 Dabei haben konkret die Bildung einer konstitutionellen Monarchie im spanischen Amerika von 1812 und der gleichzeitige Bürgerkrieg in Neuspanien ab 1810 sowie die frühe nationalstaatliche Phase zwischen 1821 und 1835 besondere Aufmerksamkeit erhalten. Die Krise der spanischen Monarchie von 1808 gilt vielen HistorikerInnen heute als die zentrale Zäsur der mexikanischen Nationalstaatsbildung.24 Die Krise löste einen tiefgreifenden politischen Umbruch aus, der 1812 in der Proklamation einer Verfassung für die gesamte Monarchie mündete. Nach der Besetzung der Iberischen Halbinsel durch Napoleon Bonaparte im Jahr 1808 geriet der spanische König Ferdinand VII. in französische Gefangenschaft. Mit dem folgenden Aufstand der spanischen Bevölkerung wurde in Spanien die 22 23
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Vgl. Lynch, John: The Spanish American Revolutions, 1808-1826, London 1973, S. 7-24. Siehe den programmatischen Band Rodríguez O., Jaime E. (Hrsg.): Mexico in the Age of Democratic Revolutions, 1750-1850, Boulder [u.a.] 1994; oder auch Connaughton, Brian F. (Hrsg.): 1750-1850: La independencia de México a la luz de cien años. Problemáticas y desenlaces de una larga transición, México, D.F. 2010; wie auch diverse Monographien: Hensel, Silke: Die Entstehung des Föderalismus in Mexiko. Die politische Elite Oaxacas zwischen Stadt, Region und Staat, 1786-1835, Stuttgart 1997; Guarisco, Claudia: Los indios del valle de México y la construcción de una nueva sociabilidad política, 1770-1835, Zinacantepec 2003; Guardino, Peter F.: The Time of Liberty. Popular Political Culture in Oaxaca, 1750-1850, Durham 2005; O’Hara, Matthew D.: A Flock Divided. Race, Religion, and Politics in Mexico, 1749-1857, Durham 2010. Für einen Überblick der neueren Forschungsperspektiven zur Unabhängigkeitsphase siehe: Frasquet, Ivana: De monarquías, repúblicas y federaciones en México, 1810-1847, in: Ivana Frasquet (Hrsg.), De las independencias iberoamericanas a los estados nacionales (1810-1850). 200 años de historia, Madrid 2009, S. 243–262.
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Einleitung
Bildung einer Übergangsregierung für die Monarchie in Gang gesetzt. Zwei Jahre nach der Proklamation der Verfassung kehrte Ferdinand 1814 aus dem Exil zurück und das konstitutionelle System fand ein Ende. 1820 gelang es liberalen Kräften in Spanien, die Restituierung der Verfassung durchzusetzen, bevor Mexiko 1821 unabhängig wurde. Die Zäsur 1808 wird heute u.a. als so bedeutsam erachtet, weil die spanische Übergangsregierung in der gesamten Monarchie erstmals Wahlen zur Bildung von Regierungsorganen durchführen ließ.25 Die Verfassung von 1812 brachte die neuspanische Bevölkerung mit einem liberalen politischen System in Berührung. Die rechtliche Differenzierung nach Abstammungskategorien wurde durch die Einführung allgemeiner Staatsbürgerschaft nahezu vollständig abgeschafft: Fast alle erwachsenen Männer hatten als spanische Staatsbürger die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte und durften an den Wahlen teilnehmen. Nur Afroamerikaner waren von der Staatsbürgerschaft und somit von den politischen Rechten formal ausgeschlossen.26 Ebenso wie Frauen und Minderjährige sollten sie lediglich als Nations- und Staatsangehörige gelten. Die Unabhängigkeit brachte den Afroamerikanern 1821 die mexikanische Staatsbürgerschaft. Agustín de Iturbide hatte mit dem Plan von Iguala einen Kompromiss zwischen verschiedenen Kräften des Landes erlangt. Der Plan von Iguala versprach nicht nur Unabhängigkeit und sicherte Klerus und Militär die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien zu, sondern erklärte auch alle Bewohner des Landes zu Staatsbürgern.27 Die von Iturbide errichtete konstitutionelle Monarchie – das Erste Imperium – war nicht von langer Dauer, denn schon 1824 trat eine föderale Republik an dessen Stelle. Die Föderale Republik war von vielen Regierungswechseln, dem Entstehen politischer Parteien sowie von Auseinandersetzungen zwischen Föderalisten und Zentralisten geprägt. Sie gilt daher als politisch besonders instabil.28 Die neuere Historiographie interessiert 25
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Vgl. Ávila, Alfredo: En nombre de la nación. La formación del gobierno representativo en México, 1808-1824, México, D.F. 2002; Rodríguez O., Jaime E.: Nosotros somos ahora los verdaderos españoles. La transición de la Nueva España de un reino de la monarquía española a la República Federal Mexicana, 1808-1824, Zamora 2009. Vgl. z.B. Guedea, Virginia: Las primeras elecciones populares en la ciudad de México, 1812-1813, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 7 (1991), H. 1, S. 1–28; Warren, Richard A.: Vagrants and Citizens. Politics and the Masses in Mexico City from Colony to Republic, Wilmington 2001. Die ältere Forschung betonte häufig die Rolle von Klerus und Militär in der Allianz Iturbides und interpretierte die mexikansiche Unabhängigkeit daher als ‚konservative Revolution‘. Vgl. z.B. Lynch, The Spanish, 1973, S. 318-326; für eine Kritik an der Interpretation als ‚konservative Revolution‘: Guardino, Peter F.: Peasants, Politics, and the Formation of Mexico’s National State. Guerrero, 1800-1857, Stanford 1996, S. 75-78. Costeloe, Michael P.: La primera república federal de México, 1824-1835. Un estudio de los partidos políticos en el México independiente, Mexico 1975; Stevens, Donald Fithian: Origins of Instability in Early Republican Mexico, Durham; London 1991.
Einleitung
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sich für diese Phase u.a., da viele Bundesstaaten bis 1835 eine sehr weite Definition der Staatsbürgerschaft und des aktiven Wahlrechts aufrechterhielten.29 Die frühe Phase der mexikanischen Nationalstaatsbildung ist für das Verständnis der Unterscheidung von Indigenen und Afroamerikanern besonders aufschlussreich. Denn hier kann das Funktionieren und die Bedeutung dieser Kategorien in einem Kontext untersucht werden, in dem sich ihre rechtliche Bedeutung wandelte bzw. sie für rechtlich irrelevant erklärt wurden. Der Fokus auf diese Phase erlaubt zu verstehen, wie die kolonialzeitlichen Bedeutungsdimensionen die Verwendung dieser Kategorien prägten. Hinsichtlich der Staatsbürgerschaft im frühen 19. Jahrhundert ist u.a. die Frage diskutiert worden, in welchem Maße die Unterschichten Neuspaniens bzw. Mexikos politisch partizipierten. Studien zur Phase der weit definierten Staatsbürgerschaft in den Jahren 1812–1814 und 1820–1835 haben ein heterogenes Bild von den Konsequenzen der Staatsbürgerschaft für die indigenen Gemeinden gezeichnet. Sie haben aber die verbreitete Auffassung widerlegt, das liberale System habe per se zu einem Machtverlust der indigenen Bevölkerung zugunsten nicht-indigener Gruppen und einem Autonomieverlust indigener Gemeinden geführt.30 Einige der vorliegenden Studien deuten bereits darauf hin, dass die indigene Gemeinde als Korporation auch den Umgang ihrer Bewohner mit der Staatsbürgerschaft beeinflusste. So wurden oft etablierte Repräsentationsmechanismen bei der Errichtung der neuen lokalen Verwaltungsorgane (ayuntamientos) beibehalten.31 Indigene Gemeinden erhielten parallel zu den neuen Räten auch eigene Verwaltungsstrukturen auf untergeordneter 29 30
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Vgl. z.B. Guardino, Peasants, 1996, S. 75-78. Siehe auch Kap. 2.1. Siehe zum Valle de México: Guarisco, Los indios, 2003; zu Yucatán: Caplan, Karen D.: Indigenous Citizens. Local Liberalism in Early National Oaxaca and Yucatán, Stanford 2010; Güémez Pineda, Arturo: El establecimiento de corporaciones municipales en Yucatán y los mayas. De la Constitución de Cádiz a la guerra de castas, in: María del Carmen Salinas Sandoval/Diana Birrichaga Gardida/Antonio Escobar Ohmstede (Hrsg.), Poder y gobierno local en México, 1808-1857, Zinacantepec; México, D.F. 2011, S. 261–301; zu San Luis Potosí: Sánchez Montiel, Juan Carlos: Formación de ayuntamientos constitucionales y un nuevo sistema de representación política en los pueblos-misión de Rioverde, San Luis Potosí, 1812-1826, in: Estudios de historia moderna y contemporánea de México 37 (2009), S. 37–69; zur Huasteca: Escobar Ohmstede, Antonio: ‘Ha variado el sistema gubernativo de los pueblos’. La ciudadanía gaditana y republicana fue ¿imaginaria? para los indígenas. Una visión desde las Huastecas., in: María del Carmen Salinas Sandoval/Diana Birrichaga Gardida/Antonio Escobar Ohmstede (Hrsg.), Poder y gobierno local en México, 1808-1857, Zinacantepec; México, D.F. 2011, S. 151–191; Ducey, Michael T.: Elecciones, constituciones y ayuntamientos. Participación popular en las elecciones de la tierra caliente veracruzana, 1813-1835, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 173–212. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.3. Vgl. Guarisco, Los indios, 2003.
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Ebene aufrecht.32 Einige Historiker betonten zudem, dass die Verfassung von Cádiz die Bedeutung der pueblos – also der Gemeinden – als korporative Institutionen bestätigte oder gar verstärkte.33 Bisher ist jedoch nicht konsequent untersucht worden, inwiefern und in welchen Kontexten die korporative Verfasstheit der Gemeinden sich im Umgang der Indigenen mit dem konstitutionellen System niederschlug. Die Staatsbürgerschaft für Afroamerikaner ist vor allem im Kontext der Debatten der verfassunggebenden Versammlung, der spanischen Cortes, zwischen 1810 und 1812 betrachtet worden.34 Die konkreten Folgen der Exklusion in Neuspanien liegen weitgehend im Dunkeln. Die bisher vorliegenden Ergebnisse lassen allerdings erkennen, dass die Exklusion der Afroamerikaner seitens der spanischen Verwaltung nicht streng durchgesetzt wurde, sondern bei der Anwendung dieser Norm lokale Gegebenheiten und Interessenlagen beachtet wurden.35 Zur Bedeutung der Staatsbürgerschaft für Afroamerikaner nach der Unabhängigkeit liegen bisher keine Studien vor. Die neuere Forschung hat sich auch mit dem Verhalten der indigenen Bevölkerung im Unabhängigkeitskrieg der 1810er-Jahre beschäftigt. Parallel zu den politischen Umbrüchen in der spanischen Monarchie bekriegten sich in Neuspanien ab 1810 Rebellenheere und royalistische Truppen im sogenannten Unabhängigkeitskrieg. Die Rebellen forderten zunächst eine größere Autono32 33
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Vgl. z.B. Escobar Ohmstede, Ha variado, 2011. Vgl. Annino, Antonio: Cádiz y la revolución territorial de los pueblos mexicanos 18121821, in: Antonio Annino (Hrsg.), Historia de las elecciones en Iberoamérica, siglo XIX. De la formación del espacio político nacional, Buenos Aires 1995; Guerra, FrançoisXavier: El soberano y su reino. Reflexiones sobre la génesis del ciudadano en América Latina, in: Hilda Sabato (Hrsg.), Ciudadanía política y formación de las naciones. Perspectivas históricas de América Latina, México, D.F. 1999, S. 33–61. Vgl. Rieu-Millan, Marie Laure: Los diputados americanos en las Cortes de Cadiz. Igualdad o independencia, Madrid 1990; Chust, Manuel: La cuestión nacional americana en las Cortes de Cádiz, Valencia; México, D.F. 1999; Herzog, Defining Nations, 2003; Rodríguez O., Jaime E.: ‘Equality! The Sacred Right of Equality’. Representation Under Constitution of 1812, in: Revista de Indias 68 (2008), H. 242, S. 97–122. Arenal Fenochio, Jaime del: Un modo de ser libres. Independencia y Constitución en México (1816-1822), Zamora 2002; Campos García, Castas, 2005; Hensel, Silke: ¿Cambios políticos mediante nuevos procedimientos? El impacto de los procesos electorales en los pueblos de indios de Oaxaca bajo el sistema liberal, in: Signos Históricos 20 (2008), S. 126–163; Sánchez Silva, Carlos: ‘No todo empezó en Cádiz’. Simbiosis política en Oaxaca entre Colonia y República, in: Signos Históricos 19 (2008), S. 8–35; Bock, Ulrike: Entre ‘españoles’ y ‘ciudadanos’. Las milicias de pardos y la transformación de las fronteras culturales en Yucatán, 1790-1821, in: Secuencia 87 (2013), S. 7–27; Grewe, David: ¿Ciudadanos afrodescendientes? Disputas sobre etnicidad y ciudadanía en México, 18101820, in: Eric Javier Bejarano/Marc-André Grebe/David Grewe/Nadja Lobensteiner (Hrsg.), Mobilizing Ethnicity. Competing Identity Politics in the Americas: Past and Present, Frankfurt am Main; Madrid 2013, S. 129–152.
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mie Neuspaniens und vertraten damit eine Position, die von vielen Kreolen geteilt wurde. Erst später traten die Rebellenführer offen für die vollkommene Unabhängigkeit des Landes von Spanien ein. Gleichzeitig enthielt ihr politisches Programm radikale Veränderungen wie das Ende der Differenzierung nach calidades. 1814 galten die Rebellen bereits als weitgehend besiegt, die Kämpfe endeten aber erst nach der Unabhängigkeit von 1821. Eric Van Young arbeitete heraus, dass das Gewicht der indigenen Bevölkerung unter den Anhängern der Rebellen größer war als in der Literatur bisweilen angenommen. Es war in etwa proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil. Außerdem stellte Van Young heraus, dass indigene Rebellen mit ihrer Partizipation in erster Linie lokal orientierte Ziele verfolgten.36 Van Young bezog sich dabei vor allem auf Zentralmexiko. Nach John Tutinos Befunden zum Bajío zeigte die Bevölkerung in Regionen mit weniger autonomen indigenen Gemeinden nicht diese lokale Orientierung und unterstützte die Rebellen längerfristig.37 Es gibt also Hinweise darauf, dass die Institution der indigenen Gemeinde prägend für das Verhalten der Indigenen im Bürgerkrieg war. Über die Positionierung von Afroamerikanern im Bürgerkrieg ist weit weniger bekannt. Ted Vincent stellte ihre große Bedeutung für die Rebellenheere heraus, konnte aber, abgesehen von einigen afroamerikanischen Rebellenführern, kaum konkrete afroamerikanische Beteiligung nachweisen.38 Zudem lässt Vincents Untersuchung die Frage offen, ob afroamerikanische Milizen sich in ihrem Verhalten von anderen Afroamerikanern unterschieden. Peter Guardinos Befunde zur Costa Grande bilden bisher die aussagekräftigsten Forschungsergebnisse zur Partizipation von Afroamerikanern im Unabhängigkeitskrieg. Denn es gelingt ihm, die Positionierung afroamerikanischer Milizen vor dem Hintergrund ökonomischer Bedingungen und ihrer Loyalität zu militärischen Anführern zu erklären.39 Aber nach wie vor ist unklar, ob Afroamerikaner stärker als andere Gruppen vom politischen Programm der Rebellen angezogen wurden und welche Rolle die Milizzugehörigkeit für ihre Positionierung im Bürgerkrieg spielte.
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Vgl. VanYoung, Eric: The Other Rebellion. Popular Violence, Ideology, and the Mexican Struggle for Independence, 1810-1821, Stanford 2001, S. 138, 46. Vgl. Tutino, John: Soberanía quebrada, insurgencias populares, y la independencia de México. La guerra de independencias, 1808-1821, in: Historia Mexicana 59 (2009), H. 1, S. 11–75, S. 42-43. Vincent, Ted: The Blacks Who Freed Mexico, in: The Journal of Negro History 79 (1994), H. 3, S. 257–276. Guardino, Peasants, 1996; Guardino, Peter: Las bases sociales de la independencia en la Costa Grande de Guerrero, in: Ana Carolina Ibarra (Hrsg.), La independencia en el sur de México, México, D.F. 2004, S. 33–58.
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Die Spur der Afroamerikaner verliert sich nach der Unabhängigkeit fast vollständig.40 Das ist nicht selbstverständlich, denn beispielsweise sind für Argentinien im 19. Jahrhundert noch dezidiert afroamerikanische Institutionen, sogenannte sociedades africanas, belegt,41 und afroargentinische Intellektuelle entwickelten laut Astrid Windus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar einen „(pan-)afroamerikanischen Identitätsdiskurs“.42 Die bisherigen Befunde zu Afromexikanern im 19. Jahrhundert lassen dagegen kaum Rückschlüsse auf ihr Selbstverständnis, ihre gesellschaftliche Position oder ihr Verhältnis zum Nationalstaat zu. Einige Arbeiten basieren auf singulären Quellenfunden des späten 19. Jahrhunderts,43 andere beschäftigen sich mit der Rolle von Afromexikanern in Romanen und Texten der Populärkultur sowie mit der Bedeutung afrikanischer Abstammung in der Konstruktion regionaler Stereotypen.44 Ted Vincent beansprucht in seinem Buch über den mexikanischen Präsidenten Vicente Guerrero, Aussagen über Afromexikaner in den 1820er-Jahren machen zu können. Aber seine Belege sind an vielen Stellen recht spekulativ und lassen kaum Rückschlüsse auf die Bedeutung der Nationalstaatsbildung für Afroamerikaner zu. Vor allem arbeitet Vincent nicht heraus, ob und worin Afroamerikaner sich in der nationalstaatlichen Phase von anderen Gruppen unterschieden.45 Hinsichtlich der politischen Geschichte von Afroamerikanern in den 1820er-Jahren sind vor allem Peter Guardinos Befunde relevant. Er 40
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Für Argentinien gibt es beispielsweise durchaus Studien zu Afroamerikanern im 19. Jahrhundert: Andrews, George Reid: The Afro-Argentines of Buenos Aires, 1800-1900, Madison 1980; Windus, Astrid: Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im, Leipzig 2005. Vgl. ebenda, S. 165, 169, 255. Ebenda, S. 215. Siehe z.B. Correa, Ethel/Velásquez, María Elisa: Indios, mestizos, negros y blancos en un municipio de la Costa Chica de Oaxaca, a través de un censo de 1890, in: María Elisa Velásquez Gutiérrez/Ethel Correa (Hrsg.), Africanos y afrodescendientes en Acapulco y la Costa Chica de Guerrero y Oaxaca, México, D.F. 2007; Velázquez Gutiérrez, María Elisa: La huella negra en Guanajuato. Retratos de afrodescendientes de los siglos XIX y XX, Guanajuato 2007 Vgl. Ochoa Serrano, Alvaro: Afrodescendientes. Sobre piel canela, Zamora 1997; Ochoa Serrano, Álvaro: Los africanos en México antes de Aguirre Beltrán (1821-1924), in: Guadalupe Chávez Carbajal (Hrsg.), El rostro colectivo de la nación mexicana, Morelia, Michoacán, México 1997, S. 169–189; Hernández Cuevas, Marco Polo: African Mexicans and the Discourse on Modern Nation, Dallas 2004; Hernández Cuevas, Marco Polo: The Africanization of Mexico from the Sixteenth Century Onward. A Review of the Evidence, Lewiston, N.Y. 2010; Pérez Montfort, Ricardo: El ‘negro’ y la negritud en la formación del estereotipo del jarocho durante el siglo XIX y XX, in: Ricardo Pérez Montfort: Expresiones populares y estereotipos culturales en México, siglos XIX y XX. Diez ensayos, México, D.F. 2007, S. 175–210. Vincent, Theodore G.: The Legacy of Vicente Guerrero. Mexico’s First Black Indian President, Gainesville 2001.
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arbeitete die Bedeutung afroamerikanischer Milizionäre in nationalen politischen Auseinandersetzungen der 1820er-Jahre heraus.46 Diese sprechen dafür, dass die afroamerikanischen Milizen nach der Unabhängigkeit wichtige Akteure blieben. Das Forschungsdefizit zu Afroamerikanern ergibt sich u.a. daraus, dass Kategorien afrikanischer Abstammung mit der Unabhängigkeit weitgehend aus der Verwaltungsdokumentation verschwanden. Im frühen Nationalstaat wurde die Nennung der casta-Kategorien im Verwaltungsschriftgut untersagt, aber Kategorien zur Bezeichnung der indigenen Bevölkerung wurden weiterhin benutzt, während auftretende Akteure kaum noch als Afroamerikaner benannt wurden. Dieses Phänomen wird in der Literatur bisher kaum ernst genommen. Lediglich Peter Guardino erörterte, dass Afroamerikaner sich aufgrund der negativen symbolischen Bedeutung afrikanischer Abstammung, insbesondere der Assoziation mit Sklaverei, für gewöhnlich nicht als solche zu erkennen gaben.47 Den angeführten offenen Fragen in der bisherigen Forschung geht die vorliegende Arbeit nach, um die oben skizzierte vergleichende Perspektive auf Afroamerikaner und Indigene im Prozess der mexikanischen Nationalstaatsbildung zu verfolgen. Im Mittelpunkt stehen die mit Indigenen und Afroamerikanern verbundenen sozialen Kategorien wie indio, natural oder mulato und ihre Verwendung seitens verschiedener Akteure. Gleichzeitig werden Indigene und Afroamerikaner, also jene Akteure, denen die Zeitgenossen die genannten Kategorien zuschrieben, dahingehend untersucht, wie sie und ihre Korporationen sich in dieser politischen Umbruchphase verhielten. Einen Schwerpunkt der Untersuchung bilden die Einführung der allgemeinen Staatsbürgerschaft und die konkrete Bedeutung der Staatsbürgerschaft für Indigene und Afroamerikaner. Wie nutzten, interpretierten und verwendeten Indigene und Afroamerikaner die Staatsbürgerschaft? Wie gingen Afroamerikaner und die spanische Verwaltung mit der Exklusion der Afroamerikaner durch die Verfassung von Cádiz um? Welche Bedeutung hatten in diesem Kontext die Korporationen? Die Krise der spanischen Monarchie und der anschließende Bürgerkrieg bilden einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit, da Indigene und Afroamerikaner hier auf die kursierenden Verlautbarungen von Rebellen und Royalisten antworteten. Welche Bedeutung hatten die Konzepte der spanischen und der amerikanischen Nation für Indigene und Afroamerikaner? Welche Bedeutung hatten die Kategorien der Indigenen und der Afroamerikaner aus 46 47
Guardino, Peter F.: Identity and Nationalism in Mexico: Guerrero, 1780–1840, in: Journal of Historical Sociology 7 (1994), H. 3, S. 314–342; Guardino, Peasants, 1996. Guardino, Peter F.: La identidad nacional y los afromexicanos en el siglo XIX, in: Brian F. Connaughton (Hrsg.), Practicas populares, cultura politica y poder en Mexico: Continuidades y contrastes entre los siglos XVIII y XIX, México, D.F. 2007, S. 259–301
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der Perspektive der politischen Eliten? Inwiefern blieben die indigenen Gemeinden und die afroamerikanischen Milizen wichtige Institutionen für Indigene und Afroamerikaner? Das Konzept der calidad nimmt in dieser Arbeit eine Schlüsselposition ein. Die frühneuzeitlichen Kategorien wie español, indio oder mulato wurden von den Zeitgenossen als calidades oder auch als castas bezeichnet. Hier wird der Begriff calidad verwendet, da er zumindest im späten 18. Jahrhundert die vorherrschende Kategorie in der Verwaltungsdokumentation war.48 Die koloniale Verwaltung unterschied zwischen diversen Kategorien von Afroamerikanern, vor allem zwischen negros und mulatos. Da Personen afrikanischer Abstammung denselben Rechtsstatus hatten, werden hier alle Personen, denen in der Vorstellung der Zeitgenossen Kategorien afrikanischer Abstammung zugeschrieben wurden, als Afroamerikaner bezeichnet. Der Begriff Indigene soll die von den Zeitgenossen als indios oder indígenas klassifizierten Personen kennzeichnen. Da die Kategorien wie negro, mulato oder indio heute wie damals in den meisten Kontexten pejorative Assoziationen transportieren, werden sie nur benutzt, um die Sprache der historischen Quellen exakt widerzugeben oder die Perspektive der Akteure möglichst genau zu erfassen. Bisher wurde der Begriff der ethnischen Gruppe vermieden, da seine Verwendung für die frühneuzeitliche spanische Welt umstritten ist. Mit ihm werden häufig Vorstellungen assoziiert, die die rechtliche Differenzierung nach calidades in einem falschen Licht erscheinen lassen.49 Fredrik Barth zeigte als einer der Ersten, dass ethnische Gruppen nicht über objektive kulturelle Kriterien definierbar sind, sondern die Akteure selbst die Grenzen einer ethnischen Gruppe schaffen, und zwar durch die von ihnen vorgenommenen Fremd- und Selbstzuschreibungen. Eine „continuing dichotomization between members and outsiders“ sah er als charakteristisch an.50 Wie sich im ersten Kapitel zeigen wird, ist fragwürdig, dass Indigene oder Afroamerikaner um die Aufrechterhaltung einer solchen Grenze bemüht waren. Nach dem Konzept Wolfgang Gabberts kann von einer ethnischen Gemeinschaft und insbesondere einer ethnischen Gruppe nur gesprochen werden, wenn eine „imagined community“ (Benedict Ander-
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Dies bestätigt auch: Martínez, María Elena: Genealogical Fictions. Limpieza de sangre, Religion, and Gender in Colonial Mexico, Stanford 2008, S. 247-248. Vgl. z.B. die Kritik in: Noack, Karoline: La construcción de diferencia en la zona de contacto. Interrogantes al respecto de la etnicidad, in: Sarah Albiez/Nelly Castro/Lara Jüssen/Eva Youkhana (Hrsg.), Etnicidad, ciudadanía y pertenencia. Prácticas, teoría y dimensiones espaciales, Frankfurt am Main; Madrid 2011, S. 35–63. Barth, Fredrik: Introduction, in: Fredrik Barth (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Difference, Long Grove [u.a.] 1998, S. 9–38, S. 13f.
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son) vorliegt.51 D.h. es müsste ein Gruppenbewusstsein vorhanden sein, das über eine Face-to-face-Gemeinschaft hinausgeht. Auch diesem Kriterium werden Indigene und Afroamerikaner während des Antiguo Régimen nicht gerecht. Gibt man den Unterschied zwischen ethnischen Gruppen und Kategorien auf, wie Andreas Wimmer es tut, mag es sinnvoll erscheinen von einer ethnischen Gruppe zu sprechen.52 Gabbert weist allerdings zu Recht darauf hin, dass ethnische Kategorien und ethnische Gruppen erkenntnistheoretisch zu unterscheiden sind.53 Aus Gründen der begrifflichen Klarheit unterscheidet auch diese Arbeit zwischen ethnischen Kategorien und Gruppen. Welche Kriterien charakteristisch für ethnische Differenzierung sind, ist weniger umstritten. Ethnische Kategorien implizieren typischerweise die Zuschreibung eines Ursprungs, und kulturellen Merkmalen wird eine zentrale Rolle für die Zuschreibung ethnischer Kategorien zuerkannt.54 Einige Definitionen verstehen auch phänotypische Merkmale als typisches Element ethnischer Zuschreibungen.55 U.a. wegen unterschiedlicher Gewichtungen kultureller und phänotypischer Merkmale ist umstritten, ob Ethnizität und race56 grundsätzlich verschiedene Differenzierungsmechanismen sind oder race ein Spezialfall von Ethnizität ist.57 Der Begriff race meint allerdings in der anglophonen Literatur 51 52
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Gabbert, Wolfgang: Concepts of Ethnicity, in: Latin American and Caribbean Ethnic Studies 1 (2006), S. 85–103, S. 88f. Laut Wimmer gibt es zwischen ethnischen Gruppen und Kategorien nur einen graduellen Unterschied, der im Grad der Geschlossenheit der Gruppe liegt. Laut Wimmer können Kategorien zu Gruppen transformiert werden, weswegen es zwischen beiden nur einen graduellen Unterschied in der sozialen Geschlossenheit geben könne. Vgl. Wimmer, Andreas: The Making and Unmaking of Ethnic Boundaries. A Multilevel Process Theory, in: American Journal of Sociology 113 (2008), H. 4, S. 970–1022, S. 980. Dass aus kategorisierten Personen eine Gruppe entsteht, ändert aber nichts am Fortbestehen der Kategorie. Wimmers Kritik verkennt daher die Tatsache, dass Kategorien und Gruppen epistemologisch zwei unterschiedliche Dinge sind. Rogers Brubaker spricht sich gar dafür aus, das Phänomen Ethnizität ohne das Konzept der ethnischen Gruppe zu untersuchen. Brubaker, Rogers: Ethnicity Without Groups, in: Archives Européennes de Sociologie XLIII (2002), H. 2, S. 163–189. Vgl. Gabbert, Concepts, 2006, S. 90. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Paderborn 2006, S. 367; Gabbert, Concepts, 2006, S. 90; Wimmer, The Making, 2008, S. 973-974. Wade erkennt kulturelle Merkmale als typisch ethnisch an, aber spricht nicht von Ursprung, sondern von einer „language of place“: Wade, Race, 2010, S. 16. Gabbert, Concepts, 2006, S. 87-88; Wimmer, The Making, 2008, S. 973-974. Hier wird der englische Begriff race verwendet, da dieser sich im anglophonen Raum weiterentwickelt hat und dessen akademisches Verständnis nicht mit dem deutschen Begriff ‚Rasse‘ übersetzt werden kann, da letztere vor allem mit historischen Prozessen wie dem Nationalsozialismus assoziiert wird. Als gemeinsames Merkmal wird anerkannt, dass beide Konzepte eine Vorstellung gemeinsamer Abstammung oder Herkunft implizieren, während jedoch in race-
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häufig mehr als phänotypische Merkmale und kann kulturelle sowie sozioökonomische Merkmale einschließen.58 Hier wird die von Wolfgang Gabbert vorgeschlagene Definition von Ethnizität verwendet. Sie stimmt mit weiten Teilen der Forschung in ihrem konstruktivistischen Verständnis überein und fasst Ethnizität als Phänomen sozialer Differenzierung. Die Klassifizierung entlang kultureller wie auch phänotypischer Merkmale wird mit ihr als ethnisch aufgefasst, sofern sie auf einen gemeinsamen Ursprung der klassifizierten Personen verweist. Zudem sind ethnische Kategorien laut Gabberts Definition geschlechterübergreifend, schließen alle Altersgruppen ein und beziehen sich auf mehrere Verwandtschaftsgruppen.59 Einige ForscherInnen betonen zu Recht, dass die heutige Vorstellung von Ethnizität nicht in allen historischen Gesellschaften existierte. So entstanden jene Ordnungsvorstellungen, die heute mit Ethnizität assoziiert werden, erst im Laufe der Neuzeit. Denn hier entwickelte sich die Vorstellung von Völkern und Nationen als Gemeinschaften mit geteilten kulturellen Merkmalen und einem gemeinsamen Ursprung, die sich später in der Errichtung von Nationalstaaten manifestierte.60 Wie im ersten Teil der Arbeit deutlich werden wird, hatten die Kategorien der calidad u.a. Bedeutungen, die als ethnisch aufgefasst werden können. Allerdings soll die Rede von ethnischen Kategorien in keinem Fall suggerieren, die Zeitgenossen hätten diese Kategorien mit der Vorstellung kulturell homogener Völker oder Nationen verbunden.
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Kategorisierungen eher phänotypische Merkmale eine Rolle spielen, in ethnischen dagegen eher kulturelle. Peter Wade unterscheidet zwischen race und Ethnizität, während Wolfgang Gabbert race als eine Form von Ethnizität sieht. Beide sind der Meinung, dass phänotypische Kriterien vor allem in race-Kategorisierungen eine Rolle spielen, aber Gabbert argumentiert, dass in Prozessen, die als ethnisch gelten, auch phänotypische Merkmale eine Rolle spielen können. Wade, Race, 1997, Kap. 1, insb. S. 15, 18, 19-21; Gabbert, Concepts, 2006, S. 87f. Vgl. auch Hensel, Silke: Leben auf der Grenze. Diskursive Aus- und Abgrenzungen von Mexican Americans und Puertoricanern in den USA, Frankfurt am Main 2004, S. 69. Vgl. Seed, Patricia: Social Dimensions of Race: Mexico City, 1753, in: The Hispanic American Historical Review 62 (1982), H. 4, S. 569–606, S. 574; Cope, R. Douglas: The Limits of Racial Domination. Plebeian Society in Colonial Mexico City, 1660-1720, Madison 1994, S. 49-53. Bisweilen ist daher gar von „social race“ die Rede: Wagley, Charles: The Concept of Social Race in the Americas, in: Charles Wagley: The Latin American Tradition. Essays on the Unity and the Diversity of Latin American Culture, New York; London 1968, S. 155–174. Gabbert, Concepts, 2006, S. 90. Vgl. Nash, Manning: The Cauldron of Ethnicity in the Modern World, Chicago 1989; Brass, Paul R.: Ethnicity and Nationalism. Theory and Comparison, New Delhi, Newbury Park, Calif 1991, S. 13; Gabbert, Concepts, 2006.
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Ein weiterer Schlüsselbegriff ist Staatsbürgerschaft. Die deutschsprachige Forschung unterscheidet zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft.61 Während Staatsangehörigkeit nur die Zugehörigkeit zu einem Staat meint, wird hier mit Staatsbürgerschaft ein auf dieser Zugehörigkeit beruhender Rechtsstatus bezeichnet. Thomas Humphrey Marshall verfasste im Jahr 1950 eine der einflussreichsten Definitionen des Begriffs citizenship. Danach bezeichnet citizenship den Status, den alle vollwertigen Mitglieder einer Gemeinschaft haben und der mit bestimmten Rechten und Pflichten einhergeht. Die Rechte unterteilte er in bürgerliche, politische und soziale.62 In den citizenship-Studien wird der Begriff häufig in einem weiteren Sinne verstanden. Danach kann citizenship auch die Praxis politischer Partizipation bezeichnen.63 Marta Irurozqui geht beispielsweise in ihrer Studie zu Bolivien im 19. Jahrhundert davon aus, dass ciudadanía eine aktive Dimension habe und etwas zu Erlernendes sei.64 In der anglophonen Forschung wird citizenship auch verwendet, um die Zugehörigkeit zu lokalen Gemeinden oder auch Monarchien in der Frühen Neuzeit zu bezeichnen.65 Wie Staatsbürgerschaft gilt der Begriff ciudadanía hingegen als für die nationalstaatliche Phase reserviert.66 Staatsbürgerschaft und ciudadanía werden in der vorliegenden Untersuchung als Rechtsstatus einer Person verstanden, der bürgerliche und politische Rechte umfasst und auf
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Vgl. Gosewinkel, Dieter: Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 533–556, hier: S. 544-545. Marshall, Thomas H.: Citizenship and Social Class, in: Jeff Manza/Michael Sauder (Hrsg.), Inequality and Society, New York 2009, S. 148–156. ‚Citizenship‘ hat seit den 1990er Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften geradezu eine Konjunktur durchlebt: Für einen Überblick siehe: Isin, Engin F./Turner, Bryan S.: Citizenship Studies. An Introduction, in: Bryan S. Turner/Engin F. Isin (Hrsg.), Handbook of Citizenship Studies, London 2002, S. 1–10. Insbesondere sind Konzepte wie „cultural citizenship“, „ethnic citizenship“ und „sexual citizenship“ aufgekommen. Diese Begriffe bezeichnen einerseits den Aktivismus bestimmter Gruppierungen andererseits aber auch ihre Ziele selbst, nämlich eine Erweiterung der bestehenden Rechte. Vgl. Knight Abowitz, Kathleen/Jason Harnish: Contemporary Discourses of Citizenship, in: Review of Educational Research 76 (2006), H. 4, S. 653–690, S. 457-661, 666-679. Hier spielt auch das Spannungsfeld zwischen republikanischem und liberalem Verständnis von citizenship eine wichtige Rolle, vgl. z.B. Oldfield, Adrian: Citizenship: An Unnatural Practice?, in: The Political Quarterly 61 (1990), H. 2, S. 177–187. Irurozqui, Marta: ‘A bala, piedra y palo’. La construcción de la ciudadanía política en Bolivia, 1826-1952, Sevilla 2000, S. 18. Siehe z.B. Herzog, Defining Nations, 2003; Sahlins, Peter: Unnaturally French. Foreign Citizens in the Old Regime and after, Ithaca, N.Y. 2004. Hilda Sabato sieht in einer Verwendung des Begriffs jenseits dieses Kontextes sogar die Gefahr, der Begriff verlöre an begrifflicher Schärfe: Sabato, Hilda: On Political Citizenship in Nineteenth-Century Latin America, in: The American Historical Review 106 (2001), H. 4, S. 1290–1315, S. 11-12.
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der Zugehörigkeit zu einem Staat beruht.67 In den frühen Nationalstaaten manifestierte sich die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft an der Exklusion von Frauen und Minderjährigen: Sie waren Staatsangehörige, erhielten aber keine politischen Rechte. Wenngleich etymologische Vorläufer des Begriffs Nation in unterschiedlichen europäischen Sprachen bereits in der Antike und im Mittelalter verwendet wurden, ist die Forschung sich weitgehend darüber einig, dass sich das moderne Verständnis von Nation seit dem 18. Jahrhundert durchsetzte. Für diese Entwicklung war vor allem eine Veränderung im Verständnis politischer Legitimität im Laufe der Frühen Neuzeit verantwortlich, mit der sich die Vorstellung der Volkssouveränität herausbildete. Die Untertanen wurden nun als Quelle der an den Monarchen übertragenen Macht angesehen.68 In diesem Sinne werden Nationen hier, in Einklang mit weiten Teilen der Forschungsliteratur, als ein modernes Phänomen betrachtet. Benedict Andersons einflussreiche Definition aus dem Jahr 1983 beschreibt die Nation als „vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“69. Das Attribut „vorgestellt“ impliziert nicht nur die Tatsache, dass Nationen sozial konstruiert werden, denn schließlich würde das für alle Gemeinschaften gelten. Es bedeutet auch, dass die Nation als Gemeinschaft nicht auf Face-to-face-Kontakten beruht. Nationen sind nach Anderson begrenzt, weil eine Nation nie die gesamte Menschheit einschließt. Außerdem gehe das Konzept mit der Vorstellung einher, in dieser Gemeinschaft ruhe die politische Souveränität.70 Dem Konzept Andersons folgt diese Arbeit. Da Nationen häufig als Gemeinschaften mit einem gemeinsamen Ursprung und gemeinsamen kulturellen Merkmalen definiert wurden und werden, gelten Nationen heute vielen Wissenschaftlern auch als ein Spezialfall ethnischer Gemeinschaften.71 Für die Erfassung von Fremd- und Selbstzuschreibungen sozialer Kategorien wird hier der Begriff der Identifizierung verwendet. Identifizierung meint nicht ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit oder der Zugehörigkeit zu einer Person im Sinne von Identifikation, sondern lediglich den Vorgang der Zuschreibung einer Kategorie. In der Forschung hat sich längst ein konstruktivistisches Verständnis von Identität durchgesetzt, jedoch wird im Kontext dieser Studie auf das Konzept verzichtet, da es für die Analyse von Identifizierungen 67 68
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Soziale Rechte spielen im Kontext dieser Arbeit keine Rolle. Vgl. Greenfeld, Liah: Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge 1992, S. 86-87; Anderson, Benedict R.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1996, S. 16-17, 26; Gabbert, Concepts, 2006, S. 91. Anderson, Die Erfindung, 1996, S. 15. Ebenda, S. 15-17. So schon: Weber, Wirtschaft, 2006, S. 375; auch z.B. Brass, Ethnicity, 1991, S. 20; vgl. die Diskussion bei: Gabbert, Concepts, 2006, S. 87.
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nicht notwendig ist.72 Zugehörigkeit wird hier als Angehörigkeit einer Person zu einer Gruppe oder Gemeinschaft verstanden.73 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass die Begriffe Gruppe und Gemeinschaft hier nicht ethnische Gruppen oder Gemeinschaften meinen. Schriftgut aus dem mexikanischen Nationalarchiv und verschiedenen bundesstaatlichen Archiven, sowie Justiz- und Stadtarchiven bildet die Grundlage dieser Untersuchung.74 In erster Linie handelt es sich um Verwaltungsschriftgut, das einen Einblick in die Interaktionen zwischen lokalen Akteuren und der vizeköniglichen Verwaltung gibt. Die meisten Quellen drehen sich um Konflikte innerhalb von Gemeinden oder zwischen lokalen Akteuren und der Verwaltung. Die Verwaltungsakteure dokumentierten hier nicht nur ihre eigene Perspektive, sondern auch die Äußerungen der involvierten Akteure. Methodisch werden diese Konflikte als Kristallisationspunkte genutzt, an denen Ordnungsvorstellungen, Argumentationen, Handlungsstrategien sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen rekonstruiert und in Hinblick auf die Fragestellung interpretiert werden. Die Darstellungen der Konflikte in den Quellen enthalten unweigerlich die Perspektive der Verwaltungsakteure und können daher nicht als neutrale Beschreibungen aufgefasst werden. Das gilt ebenso für die Schreiben, die die Gemeinden an Verwaltungsakteure richteten: Die Autoren solcher Eingaben beanspruchten oft, die kollektive Stimme der Gemeinde zu vertreten, obwohl sie eher die Interessen bestimmter Gruppierung spiegelten. Zwei Sorten von Konflikten spielen eine besondere Rolle. Im ersten Teil der Arbeit werden schwerpunktmäßig Konflikte um die Zuschreibung von calidades behandelt. Anhand von Auseinandersetzungen um die Tributeinziehung werden Zuschreibungskriterien kolonialer Verwaltungsbeamter rekonstruiert. Streitigkeiten um die Zugehörigkeit zu indigenen Gemeinden und die Kategorie indio bilden einen weiteren Ansatzpunkt. Der zweite Teil basiert in erster Linie auf der Verwaltungsdokumentation zu Wahlkonflikten. Dabei handelt es sich häufig um Eingaben von Bewohnern ländlicher Gemeinden wie auch von Gemeinde72 73
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Für eine Kritik am Begriff der Identität siehe: Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick: Beyond ‘Identity’, in: Theory and Society 29 (2000), H. 1, S. 1–47. Zugehörigkeit wird hier nicht im Sinne des Konzepts ‚belonging‘ verstanden. Zu ‚belonging‘ siehe: Yuval-Davis, Nira: Belonging and the Politics of Belonging, in: Patterns of Prejudice 40 (2006), H. 3, S. 197–214. Konsultiert wurden folgende Archive: Archivo General de la Nación, México, D.F. (AGN); Archivo Histórico del Estado de México, Toluca (AHEM ); Archivo General del Estado de Oaxaca, Oaxaca (AGEO); Archivo Histórico Judicial de Oaxaca, Oaxaca (AHJO); Archivo Histórico Judicial de Puebla, Puebla (AHJP); Archivo Municipal de Mazatepec, Mazatepec (AMM); Archivo Municipal de Córdoba, Córdoba (AMC). Ebenso wurde Material verwendet aus: Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH), Colección Microfilm, México, D.F.; Biblioteca Nacional, Colección Lafragua.
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und Stadträten. Neben den Erwägungen der Verwaltungsbeamten finden sich hier Dokumente, die in den Gemeinden selbst verfasst wurden. Im zweiten und dritten Teil werden außerdem eine Reihe von Pamphleten und Reden, die zum Teil in gedruckter Form vorliegen, untersucht. Die Studie betrachtet verschiedene Regionen Mexikos, um die regional unterschiedliche Bedeutung korporativer Organisation wie auch unterschiedliche wirtschaftliche und politische Bedingungen, unter denen Indigene und Afroamerikaner lebten, berücksichtigen zu können. Die Einbeziehung verschiedener Regionen erlaubt eine differenzierte Bearbeitung der Fragestellung und schützt vor voreiligen Verallgemeinerungen. In erster Linie wurde Material zu solchen Regionen gesichtet, in denen Indigene, Afroamerikaner oder beide Gruppen in der Kolonialzeit einen großen Anteil an der Bevölkerung bildeten. Dazu gehören Veracruz, die Pazifikküste der heutigen Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero wie auch die Region um Cuautla und Cuernavaca. Zudem wurden Regionen mit großem indigenen Bevölkerungsanteil im Estado de México behandelt. Im Vergleich zur indigenen Bevölkerung war es für die Phase der Nationalstaatsbildung wesentlich schwieriger, Quellen zu Afroamerikanern zu finden. Das hängt nicht nur mit ihrem geringeren Bevölkerungsanteil zusammen, sondern auch damit, dass Afroamerikaner für gewöhnlich nicht über eigene Gemeinderäte verfügten, die Schriftgut generierten. Leider reicht die Dokumentation vieler Stadtarchive in Regionen mit großem afroamerikanischen Bevölkerungsanteil – so beispielsweise die Archive von Acapulco und Cuernavaca – nicht in den Untersuchungszeitraum zurück. Für die Zeit nach 1821 existieren in den Archiven kaum Dokumente, die Kategorien afrikanischer Abstammung als Fremd- oder Selbstzuschreibung für Individuen oder Gruppen verwenden.75 Trotzdem ermöglichte das vorhandene Material, Afroamerikaner im Vergleich zu Indigenen zu untersuchen. 75
Im Zuge der Untersuchung wurden Informationen zu verschiedenen Archiven Mexikos gesammelt, die hier kurz zusammengefasst werden sollen, um künftige Recherchen zu erleichtern. Die Pazifikküste der heutigen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca ist für den Untersuchungszeitraum im mexikanischen Nationalarchiv wie auch in den bundesstaatlichen Archiven Oaxacas und des Estado de México dokumentiert. Das JustizArchiv Oaxacas enthält hingegen für die 1820er und 1830er Jahre kaum Dokumentation zur Küste (Tehuantepec und Jamiltepec). Ein Teil der Küste (die Region um Ometepec) zählte zur Intendantur und später zum Bundesstaat Puebla, jedoch beginnt die Dokumentation des bundesstaatlichen Archivs Puebla erst mit dem späten 19. Jahrhundert. Im Justiz-Archiv Pueblas lassen sich Dokumente zu Ometepec finden, allerdings vor allem Übersichten zu Straftaten und Gefängnisinsassen. Das Stadtarchiv Acapulcos beherbergt nur Dokumente ab ca. 1880. Die Region um Cuautla und Cuernavaca ist neben dem Nationalarchiv vor allem im bundesstaatlichen Archiv des Estado de México, wie auch dem Archiv der Cámara de Diputados desselben Staats dokumentiert. Das Stadtarchiv Cuernavacas reicht nicht bis in den Untersuchungszeitraum zurück. In Morelos beherbergt nur das Stadtarchiv von Mazatepec Dokumentation zur ersten Hälfte des 19. Jahr-
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Die dreiteilige Studie beginnt mit der Analyse des Konzepts calidad im Antiguo Régimen. Auf der Grundlage der vorhandenen Forschungsbeiträge werden die Ursprünge der Unterscheidung zwischen Indigenen und Afroamerikanern erörtert und die Bedeutung der calidades für die soziale Differenzierung im spätkolonialen Neuspanien erfasst. Anhand von Konflikten um Tributeinziehung wird anschließend diskutiert, wie spanische Verwaltungsakteure des späten 18. Jahrhunderts die calidad verstanden und mit dem Konzept umgingen. Zur Verortung von Indigenen und Afroamerikanern in der korporativen Gesellschaft wird dann die Bedeutung der indigenen Gemeinde als Korporation herausgearbeitet, außerdem werden die afroamerikanischen Milizen und repúblicas behandelt. Als afroamerikanische repúblicas werden jene wenigen Gemeinden begriffen, die einen ähnlichen Status wie die indigenen repúblicas hatten. Abschließend führt der erste Teil die Bedeutungsdimensionen der calidad zusammen, um das Konzept theoretisch zu verorten. Der zweite Teil befasst sich mit der Institution der Staatsbürgerschaft im spätkolonialen Neuspanien und dem frühen mexikanischen Nationalstaat. Die rechtliche Definition der Staatsbürgerschaft in der Verfassung von Cádiz und der föderalen Republik wird erörtert. In Hinblick auf die Bedeutung der Staatsbürgerschaft für Indigene und Afroamerikaner wird zunächst die Exklusion der Afroamerikaner aus der spanischen Staatsbürgerschaft analysiert. Es wird gefragt, wie Afroamerikaner und spanische Verwaltungsakteure mit der Exklusion umgingen und welche Bedeutung afrikanische Abstammung als Exklusionskriterium hatte. Zudem wird diskutiert, weshalb Konflikte um die politische Partizipation von Afroamerikanern nach der Unabhängigkeit nicht mehr nachzuweisen sind. Im Anschluss wird die Bedeutung der indigenen repúblicas bei der Umsetzung der Staatsbürgerschaft behandelt, um danach zu analysieren, wie indigene Akteure sich liberale Konzepte und Argumentationen politischer Eliten aneigneten. Im Mittelpunkt des dritten Teils stehen die Krise der spanischen Monarchie und der Bürgerkrieg der 1810er-Jahre. Der Text fragt zunächst danach, wie Indigene und Afroamerikaner auf die Krise von 1808 reagierten. Er behandelt in einem weiteren Schritt Verlautbarungen von Rebellen und Royalisten ab 1810 und untersucht, inwiefern diese Akteure die rechtliche Differenzierung nach calidades adressierten. Der folgende Teilabschnitt untersucht die Positionierung von Indigenen und Afroamerikanern im Bürgerkrieg und die Rolle ihrer jeweiligen Korporationen. Danach geht die Arbeit auf die Fragen ein, wie Afroamerihunderts. Für die Region Veracruz sind die Historiker auf das Nationalarchiv und mehrere Stadtarchive angewiesen, da das bundesstaatliche Archiv von Veracruz keinerlei Dokumentation zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enthält. Die Stadtarchive Córdobas und Orizabas reichen bis in die Kolonialzeit zurück.
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kaner in der Unabhängigkeitsphase mit dem Stigma afrikanischer Abstammung umgingen und ob sie ein Gruppenbewusstsein entwickelten, das es rechtfertigen würde, von einer ethnischen Gruppe zu sprechen. Zum Abschluss wird die Bedeutung von Indigenen in den Programmen politischer Eliten des Nationalstaats diskutiert wie auch die Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Indigenen und Afroamerikanern untersucht.
I. Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft Die Unterscheidung zwischen indigener und afrikanischstämmiger Bevölkerung, zwischen indígenas und afrodescendientes, wird in aktuellen politischen Debatten als eine feststehende ethnische Unterscheidung betrachtet. Diese beiden Kategorien und die mit ihnen transportierten Bedeutungen und Assoziationen sind nur auf der Grundlage ihrer historischen Ursprünge in der Kolonialzeit zu verstehen. Die Abgrenzung zwischen beiden Kategorien erfolgte zur Zeit der Errichtung und Konsolidierung der spanischen Herrschaft in Amerika und stand damit im Kontext frühneuzeitlicher Vorstellungen von sozialer und rechtlicher Ordnung. Wenngleich der Entstehungszusammenhang dieser Kategorien sich fundamental vom heutigen Verwendungskontext abhebt, gibt es doch Kontinuitäten in ihren Bedeutungen. Mit anderen Worten: Frühneuzeitliche Vorstellungen von sozialer und rechtlicher Ordnung sind bis heute in der Unterscheidung zwischen Indigenen und Afroamerikanern präsent. Die spanische Krone setzte bei der Etablierung ihrer Herrschaft in den Amerikas die Existenz unterschiedlicher Gruppen voraus. Die spanische, indigene und afrikanischstämmige Bevölkerung sollte verschiedene Positionen innerhalb der rechtlichen Ordnung einnehmen.
1. Die Ursprünge der calidades Die amerikanische Bevölkerung, also jene Menschen, die zur Zeit der spanischen Eroberungen den Kontinent bewohnten, und ihre Nachfahren, wurde schon früh als Untertanen und Vasallen der Krone anerkannt – im Gegensatz zu Menschen afrikanischer Abstammung. Das hatte eine zentrale Ursache in der Notwendigkeit, die spanische Herrschaft zu legitimieren. Die Legitimität spanischer Herrschaft hing von der Frage nach dem Wesen der amerikanischen Bevölkerung und der von ihr errichteten Gesellschaften in Amerika ab.1 Bald nach der Ankunft Columbus’ in den Amerikas zeichnete sich ab, dass der amerikanischstämmigen und der afrikanischstämmigen Bevölkerung in der 1
Dieses Argument wurde von John Parry (Parry, John Horace: The Age of Reconnaissance. Discovery, Exploration and Settlement, 1450 to 1650, London 1963) skizziert und von Anthony Pagden (Pagden, Anthony: The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982; Pagden, Anthony: Spanish Imperialism and the Political Imagination. Studies in European and Spanish-American Social and Political Theory, 1513-1830, New Haven 1990) und Seed (Seed, Patricia: ‘Are These Not Also Men?’: The Indians’ Humanity and Capacity for Spanish Civilisation, in: Journal of Latin American Studies 25 (1993), H. 3, S. 629–652) ausgearbeitet.
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rechtlichen Ordnung des spanischen Amerikas vollkommen unterschiedliche Plätze zugewiesen werden sollten. Die Portugiesen betrieben seit Mitte des 15. Jahrhunderts in großem Stil den Handel mit afrikanischen Sklaven. Ende des Jahrhunderts gehörten die spanischen Städte Sevilla und Valencia bereits zu den größten Märkten für afrikanische Sklaven in Europa. Während der Handel mit afrikanischen Sklaven florierte, betrieben die spanischen Könige hinsichtlich der indigenen Bevölkerung der Amerikas eine vollkommen andere Politik. Königin Isabel wie auch Ferdinand und Karl V. waren bemüht, die Versklavung der indios durch die spanischen Kolonisten zu unterbinden, und Isabel ließ bereits 1501 verlauten, sie wünsche, dass sie wie Untertanen und Vasallen behandelt würden. Isabels Wunsch ging auf das Interesse der spanischen Krone zurück, ihre Herrschaft über die Amerikas vor dem Papst und den übrigen europäischen Mächten zu rechtfertigen. Schließlich gründete sich ihr Herrschaftsanspruch über die amerikanischen Gebiete lediglich auf zwei päpstliche Bullen aus dem Jahr 1493, die den Spaniern den Auftrag gaben, die Bevölkerung der Amerikas zu evangelisieren und zwar ohne ihr dabei Schaden zuzufügen.2 Während des 16. Jahrhunderts beschäftigten sich europäische Gelehrte mit der Frage der Legitimität spanischer Herrschaft in den Amerikas. Der Dominikaner Antonio Montesino löste eine der wichtigsten Diskussionen um dieses Problem aus, als er im Jahr 1511 auf der Insel Hispaniola das Fehlverhalten der spanischen Bevölkerung gegenüber der indigenen anprangerte.3 Mit dieser Initiative Montesinos, die laut Patricia Seed auch im Kontext der Rivalität geistlicher Orden zu verstehen ist, begann eine theologische Auseinandersetzung um das Wesen der Bevölkerung des amerikanischen Kontinents. Genauer gesagt wurde unter Theologen diskutiert, ob die indigene Bevölkerung vernunftbegabt war, wovon wiederum abhing, ob sie prinzipiell zum christlichen Glauben konvertierbar war. Denn Vernunft, Konvertierbarkeit zum christlichen Glauben und Menschsein waren im christlichen Denken des frühen 16. Jahrhunderts untrennbar miteinander verknüpft. Angesichts des päpstlichen Evangelisierungsauftrags war die Frage nach der Konvertierbarkeit der Bevölkerung Amerikas entscheidend für die Aufrechterhaltung der spanischen Macht in den Amerikas. Es lag im Interesse der spanischen Krone, die Bevölkerung Amerikas zu vernunftbegabten, konvertierbaren Wesen und damit zu Menschen zu erklären, weswegen Seed treffend schreibt: „Upon the foundation of the Indians’ ‚capacity for conversion‘ rested the entire edifice of Spain’s political control over the New World.“4
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Vgl. Pagden, The Fall, 1982, S. 29, 32-34; Seed, Are These, 1993, S. 635. Vgl. Pagden, The Fall, 1982, S. 30; Pagden, Spanish Imperialism, 1990, Kap. 1. Vgl. Seed, Are These, 1993, S. 635, 637, 640.
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Die spanische Krone beauftragte daher 1512, wie 1504 schon einmal, Gelehrte damit, die Rechtfertigungsgrundlage ihrer Herrschaft und die Legitimität der Ausbeutung der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung zu prüfen. Im selben Jahr wurden zu diesem Zweck noch zwei weitere Experten für Zivilbzw. kanonisches Recht eingeschaltet. Die Gelehrten tendierten dazu, die Theorie des „natürlichen Sklaven“ im Sinne Aristoteles’ anzuwenden.5 Diese bezog sich nicht auf den Status einer Person im rechtlichen Sinne, sondern definierte eine bestimmte Art von Menschen. Gemeint waren Menschen, deren Verstand nach Aristoteles‘ Theorie nicht genügend Kontrolle über ihre Leidenschaften hatte, was allgemein für Barbaren gelte. Die Indigenen konnten so als Barbaren und damit gleichzeitig als natürliche Sklaven identifiziert werden und die Spanier als ihre natürlichen Herren im naturrechtlichen Sinne, ohne dass sie hiermit zivilrechtlich zu Sklaven erklärt werden mussten.6 Auch die Inbesitznahme der amerikanischen Gebiete, d.h. auch die Ausbeutung der Bodenschätze und der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung, konnte vor diesem Hintergrund begründet werden. Regionen wie die Antillen konnten auf Grundlage römischen Rechts in Besitz genommen werden, da es sich scheinbar um Gesellschaften handelte, die kein Eigentumsrecht kannten und daher keine bürgerlichen Gesellschaften waren.7 Der hohe Organisationsgrad der Gesellschaften der Mexica und Inca, mit denen die Spanier erst Jahrzehnte nach der Ankunft Columbus’ konfrontiert wurden, schwächte jedoch die Überzeugungskraft der alten Argumentationen deutlich. Hier zeigte sich in den Augen der Europäer, in welchem Maße die Bevölkerung Amerikas zu Zivilisierungsleistungen, insbesondere der Errichtung von Städten, in der Lage war. Die Debatte um das Wesen der indigenen Bevölkerung gewann u.a. daher ab Mitte der 1530er-Jahre wieder an Fahrt. Hier setzte sich die 1539 von dem Dominikaner Francisco de Vitoria vorgebrachte Argumentation durch, die Indigenen seien ähnlich wie Kinder zu betrachten. Sie wurden so nicht mehr als eine besondere Spezies von Menschen im Sinne des ‚natürlichen Sklaven‘ angesehen, sondern waren Menschen im vollen Sinne. Allerdings wurde ihre Vernunft als noch nicht vollkommen ausgebildet angesehen, weswegen sie in diesem Verständnis noch nicht in der Lage waren, ihre Rechte voll auszuüben, und die Vormundschaft der Spanier benötigten.8 Das Problem der Legitimation spanischer Herrschaft wurde außerdem dadurch verstärkt, dass die indigene Bevölkerung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun-
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Vgl. Pagden, The Fall, 1982, S. 28. Vgl. ebenda, S. 42, 47-50. Vgl. Pagden, Spanish Imperialism, 1990, S. 15. Vgl. Pagden, The Fall, 1982, S. 58-59, 71-72, 104; Pagden, Spanish Imperialism, 1990, S. 1516, 19-20.
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derts demographisch extrem zurückging. Vor allem die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten hatten zu einer erhöhten Mortalität geführt.9 Diskussionen um die Legitimität von Eroberung und Unterwerfung waren keine Auseinandersetzungen um formal gesetztes Recht. Sie wurden vor allem auf philosophischer und theologischer Ebene geführt, und zwar vor dem Hintergrund von Naturrecht und Völkerrecht. Francisco de Vitoria, einer der einflussreichsten Vertreter der sogenannten Schule von Salamanca, versuchte u.a. die exakte Unterscheidung zwischen Völkerrecht – dem derecho de gentes – und dem Naturrecht zu erfassen. Für die Legitimation der Unterwerfung der Bevölkerung Amerikas argumentierte er laut Pereña Vicente sowohl natur- als auch völkerrechtlich.10 Papst Paul III. mahnte 1537 die spanischen Siedler, die Indigenen als rationale und konvertierbare Wesen zu behandeln und sie nicht ihrer Freiheit zu berauben.11 Spanien erklärte daher 1542 als erste Kolonialmacht in Amerika die gesamte indigene Bevölkerung zu Untertanen und Vasallen der Krone.12 Die portugiesische Krone folgte diesem Beispiel zwar knapp 30 Jahre später, konnte jedoch das Verbot der Versklavung der Indigenen nicht auf Dauer durchsetzen.13 Zum Schutz der indigenen Bevölkerung versuchte die spanische Krone außerdem, den Zugriff der spanischen Siedler auf die Arbeitskraft der indigenen Bevölkerung einzuschränken, indem sie bereits 1530 und wiederum 1543 die Versklavung der indigenen Bevölkerung verbot und 1549 die Institution der encomienda einschränkte.14 9 10
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Vgl. Israel, Jonathan Irvine: Race, Class and Politics in Colonial Mexico. 1610-1670, Oxford 1975, S. 13, 27-28. Laut Vitoria beruhte der derecho de gentes auf der Vorstellung eines Konsens‘ zwischen allen gentes und ließ sich nicht vom Naturrecht ableiten. Vgl. Pereña Vicente, L.: El concepto del Derecho de gentes en Francisco de Vitoria, in: Revista española de derecho internacional 5 (1952), S. 603–628, hier: S. 617, 619, 621. Vgl. Davis, David Brion: The Problem of Slavery in Western Culture, Ithaca 1966, S. 170. Vgl. Seed, Are These, 1993, S. 649. Seeds Behauptung, „Spain alone of all the European powers established that Indians were royal subjects“ (ebenda, S. 649), ist nicht zutreffend. Da der päpstliche Evangelisierungsauftrag auch für die portugiesische Krone galt und sich in deren amerikanischen Besitzungen ebenfalls der demographische Niedergang der indigenen Bevölkerung bemerkbar machte, erklärte auch die portugiesische Krone die indigene Bevölkerung 1570 zu freien Untertanen und verbot 1609 ihre Versklavung. Letzteres Gesetz scheiterte jedoch am Widerstand der europäischen Siedler, weswegen das Versklavungsverbot zwei Jahre später wieder aufgehoben wurde. Vgl. zu Untertanenstatus der indigenen Bevölkerung Brasiliens: Rinke, Stefan/Schulze, Frederik: Kleine Geschichte Brasiliens, München 2013, S. 37. Vgl. García Añoveros, Jesús María: Carlos V y la abolición de la esclavitud de los indios. Causas, evolución y circunstancias, in: Revista de Indias 60 (2000), H. 218, S. 57–84, insb. S. 71; Chance, Race, 1978, S. 4, 48, 52. Durch die Errichtung der encomiendas war einzelnen Spaniern (encomenderos) eine bestimmte Anzahl von Indigenen zugeteilt worden, über de-
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Anders als die Indigenen waren die als Sklaven in die Amerikas verschleppten Afrikaner für die Legitimierung spanischer Herrschaft nicht relevant. Sklaverei hatte im Europa der Spätantike an Bedeutung verloren, aber spielte im Mittelmeerraum seit dem 10. Jahrhundert wieder eine wichtige wirtschaftliche Rolle, als Menschen aus der Region des Schwarzen Meers und des Balkans in großer Zahl versklavt wurden.15 Die Rechtfertigung der Sklaverei vor dem Hintergrund des Naturrechts war zwar durchaus eine wichtige Frage theologischer und philosophischer Auseinandersetzung im Spätmittelalter,16 allerdings wurde die Praxis der Sklaverei im mittelalterlichen Europa kaum hinterfragt. Die Kirche trat im 15. Jahrhundert zunehmend der Versklavung von Christen entgegen und sah nur noch die Versklavung von Heiden und Ungläubigen als legitim an. So autorisierte Papst Nicolas V. den portugiesischen König 1452, Heiden, Sarazenen und Feinde des Christentums ihrer Freiheit zu berauben, womit er den beginnenden portugiesischen Sklavenhandel an der afrikanischen Westküste legitimierte.17 Wie in Spanien das Wesen der Indigenen und der Umgang mit ihnen diskutiert wurde, trat unter den Portugiesen die Frage nach der Legitimität des Handels mit afrikanischen Sklaven auf. Einige portugiesische Gelehrte sahen den Beginn des Handels mit Unbehagen. So argumentierte beispielsweise der Chronist Gomes Eanes de Zurara, dass die Sklaven auch Menschen seien. Es kam jedoch in Portugal laut A. J. R. Russel-Wood nie zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Frage, die mit der spanischen Diskussion um die indigene Bevölkerung vergleichbar wäre.18 Auch spanische Gelehrte des 15. Jahrhunderts waren sich weitgehend darin einig, dass die Haltung von afrikanischen Sklaven legitim sei, sofern diese im Verlauf eines gerechten Krieges in Gefangenschaft geraten waren.19 Im 16. und frühen 17. Jahrhundert äußerten sich allerdings auch in Spanien einzelne Stimmen kritisch zur Versklavung von Afrikanern.20
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ren Arbeitskraft der encomendero verfügen konnte und von denen er Tribut eintreiben durfte. Vgl. Davis, The Problem, 1966, S. 43; Pagden, The Fall, 1982, S. 32; Klein, Herbert S./Vinson III, Ben: African Slavery in Latin America and the Caribbean, New York 2007, S. 7. Vgl. Davis, The Problem, 1966, S. 94-98. Vgl. ebenda, S. 100; Klein/Vinson III, African Slavery, 2007, S. 11; Russell-Wood, A. J. R.: Iberian Expansion and the Issue of Black Slavery: Changing Portuguese Attitudes, 14401770, in: The American Historical Review 83 (1978), H. 1, S. 16–42, S. 27. Mit Sarazenen waren Muslime gemeint. Vgl. ebenda, S. 30, 33. Vgl. Pagden, The Fall, 1982, S. 32-33. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 156-157.
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In der Forschungsliteratur wird der biblische Mythos von Ham bisweilen als eine Ursache für die Versklavung von Afrikanern angesehen.21 Nach diesem Mythos hatte Ham gegen seinen Vater Noah gesündigt und dessen Nachfahren mussten mit ihrer dunklen Hautfarbe und ewiger Knechtschaft für die Sünde ihres Urahnen büßen. Mit einem solchen Narrativ hatten bereits Jahrhunderte zuvor muslimische Gelehrte die Versklavung von Afrikanern begründet.22 Muslimische Händler Nordafrikas hatten schon zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert in großem Umfang mit afrikanischen Sklaven gehandelt.23 In Europa gewann der Mythos Hams als Legitimierungsnarrativ jedoch erst zum Ende des Mittelalters an Bedeutung,24 und zwar zunächst unter portugiesischen Gelehrten, zum Ende des 16. Jahrhunderts auch unter Spaniern und Engländern.25 Religiöse und moralische Begründungen für die Versklavung von Afrikanern hatten eine lange Geschichte auf der Iberischen Halbinsel,26 doch kann der Ham-Mythos offenbar nicht als die Ursache für die Versklavung von Menschen schwarzer Hautfarbe gesehen werden.27 Die meisten der im 16. und 17. Jahrhundert ins spanische Amerika verschleppten Sklaven wurden in die Vizekönigreiche Neu-Spanien und Peru gebracht.28 Um 1800 galten ca. 10 % der Bevölkerung Neu-Spaniens als afrikanischstämmig, nur noch wenige Afroamerikaner waren Sklaven.29 Im spani21 22
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So z.B. Lewis, Laura A.: Hall of Mirrors. Power, Witchcraft, and Caste in Colonial Mexico, Durham 2003, S. 29. Vgl. Evans, William McKee: From the Land of Canaan to the Land of Guinea. The Strange Odyssey of the ‘Sons of Ham’, in: The American Historical Review 85 (1980), H. 1, S. 15–43, S. 33; Sweet, James H.: The Iberian Roots of American Racist Thought, in: The William and Mary Quarterly 54 (1997), H. 1, S. 143–166, S. 148. Vgl. Klein/Vinson III, African Slavery, 2007, S. 9; Sweet, The Iberian, 1997, S. 145-146. Vgl. Evans, From the Land, 1980, S. 34. Vgl. Wade, Race, 1997, S. 8-9; Martínez, María Elena: The Black Blood of New Spain. Limpieza de Sangre, Racial Violence, and Gendered Power in Early Colonial Mexico, in: The William and Mary Quarterly 61 (2004), H. 3, S. 479–520, S. 485-486. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 155. Für eine Diskussion des Ham-Mythos und seiner Bedeutung in der Entstehung ‚rassistischen‘ Denkens siehe vor allem: Braude, Benjamin: The Sons of Noah and the Construction of Ethnic and Geographical Identities in the Medieval and Early Modern Periods, in: The William and Mary Quarterly 54 (1997), H. 1, S. 103–142. Vgl. Klein/Vinson III, African Slavery, 2007, S. 31. Vgl. Bennett, Africans, 2005, S. 1; Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 1; Valdés, Dennis N.: The Decline of Slavery in Mexico, in: The Americas 44 (1987), H. 2, S. 167–194, S. 168, 193. Die Schätzung des Anteils der afroamerikanischen Bevölkerung an der neuspanischen Bevölkerung geht auf Gonzalo Aguirre Beltrán zurück, der unterschiedliche koloniale Zensus auswertete. Sowohl die Zahlen des sogenannten Zensus von Revillagigedo um 1790 wie auch die 1810 auf der Grundlage von Tributlisten durch Fernando Navarro y Noriega erstellten Berechnungen lassen einen Anteil von 10% realistisch erscheinen. Siehe Aguirre Beltrán, La población, 1972, S. 234. Andrews geht ebenfalls von dieser Zahl
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schen Amerika wurden Sklaven nicht nur in der Plantagenwirtschaft und dem Bergbau eingesetzt, sondern viele arbeiteten in Städten.30 In der Plantagenwirtschaft waren sie besonders in den Regionen Veracruz, Michoacán und dem heutigen Morelos, der Region um Cuautla und Cuernavaca, vertreten. Córdoba (Veracruz) war eine der wenigen Regionen, in denen Sklaven bis zum Ende der Kolonialzeit einen beträchtlichen Anteil der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausmachten.31 Die Region um Cuautla und Cuernavaca war aufgrund des ausgedehnten Zuckerrohranbaus im 16. Jahrhundert eine der Regionen Amerikas mit den meisten Sklaven, doch im späten 18. Jahrhundert spielten Sklaven hier kaum noch eine Rolle.32 An der Costa Chica (heute in Oaxaca und Guerrero) wurden afrikanische Sklaven seit dem 16. Jahrhundert auf den Baumwollhaciendas der Region eingesetzt.33 In den Silberminen Neuspaniens bildeten afrikanischstämmige Sklaven ebenfalls einen wichtigen Teil der Arbeitskraft.34 In den Städten Neuspaniens dienten Sklaven in Privathäusern oder arbeiteten als Handwerker im Auftrag ihrer Herren.35 Im 18. Jahrhundert wurden nur noch wenige Sklaven nach Neuspanien gebracht importiert. Der Bedeutungsverlust der Sklaverei ab Mitte des 17. Jahrhunderts wird in der Literatur u.a. auf das Bevölkerungswachstum zurückgeführt, das die Kosten für freie Lohnarbeit sinken ließ. In manchen Regionen spielte zudem der zunehmende Widerstand der Sklaven eine Rolle.36 Der unterschiedliche rechtliche Status der afrikanischstämmigen und indigenen Bevölkerung ist auch vor dem Konzept der naturaleza in der frühneuzeitlichen spanischen Welt zu erklären. Tamar Herzog arbeitet anhand der kastilischen Siete Partidas des 13. Jahrhunderts wie auch weiterer rechtlicher Setzungen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Konzept der kastilischen bzw. später
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aus: Andrews, George Reid: Afro-Latin America, 1800-2000, New York 2004, S. 41. Zum Zensus von Revillagigedo siehe: Castro Aranda, Hugo Roberto: México en 1790. El censo condenado, México, D.F. 1988. Zur Lebenssituation und den Handlungsspielräumen von Sklaven im spanischen Amerika siehe: Hensel, Silke: Africans in Spanish-America. Slavery, Freedom and Identities in the Colonial Era, in: Indiana 24 (2007), S. 15–37. Vgl. Naveda Chávez-Hita, Esclavos negros, 1987, S. 63. Vgl. Martin, Rural Society, 1985, Mentz, Pueblos, 1988, Sánchez Santiró, Ernest: Azúcar y poder. Estructura socioeconómica de las alcaldías mayores de Cuernavaca y Cuautla de Amilpas, 1730-1821, México, D.F. 2001, S. 121. Vgl. Widmer Sennhauser, Rudolf: Los comerciantes y los otros. Costa Chica y Costa de Sotavento, 1650-1820, México, D.F. 2009, S. 7, 31. Vgl. Bennett, Africans, 2005, S. 19; Lane, Kris: Africans and Natives in the Mines of Spanish America, in: Matthew Restall (Hrsg.), Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005, S. 159–184, hier: S. 174. Vgl. Bennett, Africans, 2005, S. 18. Vgl. Valdés, The Decline, 1987, S. 171; für die Region Morelos: Sánchez Santiró, Azúcar, 2001, S. 131; für Jalapa (Veracruz): Carroll, Blacks, 2001, S. 34-35.
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spanischen naturaleza heraus, die sich in etwa als Bürgerrecht oder Heimatsrecht übersetzen lässt.37 Nach diesem Verständnis musste eine Person entweder in Kastilien geboren oder dort einen gewissen Zeitraum ansässig gewesen sein, um als natural, also als Eingeborener oder Heimatberechtigter, anerkannt zu sein, wovon u.a. der Zugang zu wichtigen Ämtern abhing.38 Auch konnten nur naturales der Monarchie, also jene, die im Besitz der spanischen naturaleza waren, Handelsrechte im spanischen Amerika erlangen.39 Nach Herzog äußerte sich in den Kriterien der Zuerkennung der naturaleza die Vorstellung, dass nur Personen, die der Gemeinschaft Kastiliens bzw. später Spaniens emotional verbunden waren, als naturales anerkannt werden konnten. Die Liebe und Loyalität zur Gemeinschaft war letztlich das ausschlaggebende Prinzip und wog in der Praxis der Zuerkennung des Status natural schwerer als formale Kriterien. Menschen, die in Kastilien geboren waren, konnte man im Gegensatz zu Fremden, so die Auffassung der Zeitgenossen, per se unterstellen, dass sie die Gemeinschaft liebten. Im 17. und 18. Jahrhundert konnten Fremde in Spanien ihre Liebe zur Gemeinschaft beispielsweise durch eine Heirat mit naturales, Hausbesitz oder eine lange Zeit der Residenz unter Beweis stellen und so de facto als naturales gelten.40 Allerdings konnten grundsätzlich nur Katholiken als naturales anerkannt werden.41 Der Status der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerung der Amerikas wurde ebenfalls vor diesem Verständnis von Zugehörigkeit interpretiert. Die Indigenen (indios) wurden als naturales betrachtet.42 Sie galten nicht nur als Eingeborene Amerikas, sondern gleichzeitig als Eingeborene der spanischen Monarchie. Indigene Gemeinden verwendeten diese Kategorie, wenn sie sich als república de naturales präsentierten, üblicherweise zur Selbstbezeichnung. Anders als im Falle der indigenen und spanischen Bevölkerung der Amerikas, galten negros und mulatos – also Menschen, denen afrikanische Abstammung zugeschrieben wurde – nicht als naturales. Denn, wie Parry schreibt, wurden die nach Amerika verschleppten Afrikaner im Verständnis der Spanier nicht als Untertanen des spanischen Königs, sondern als Untertanen anderer Könige angesehen.43 Die Krone begründete die Einführung der Tributpflicht für Afroamerikaner, so Vinson, Ende des 16. Jahrhunderts ganz ähnlich als Rekompensation dafür, dass Afroamerikaner auf königlichem Boden in Freiheit und Frieden leben durften. Zudem war man der Ansicht, dass Tributzahlung 37 38 39 40 41 42 43
Vgl. Slabý, Rudolf Jan/Grossmann, Rudolf/Banzo, José Manuel/Mira, Sáenz de: Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache, Wiesbaden 1975, S. 764. Vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 68-70. Vgl. ebenda, S. 97-105. Vgl. ebenda, S. 70-73. Vgl. ebenda, S. 119-120. Vgl. Herzog, Naturales, 2011, S. 29. Vgl. Parry, The Age, 1963, S. 317.
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auch in afrikanischen Königreichen üblich gewesen sei.44 So wurden Afroamerikaner laut Herzog bereits im 16. Jahrhundert als Fremde betrachtet: „Theoretically, Africans were foreigners.“45 Dieses Argument tauchte nicht nur im frühen 19. Jahrhundert in den Debatten der Cortes wieder auf, sondern Herzog führt einen aussagekräftigen Beleg für das späte 18. Jahrhundert an. So unterstellte der Stadtrat von Caracas der afroamerikanischen Bevölkerung 1796, dass diese nicht loyal zu Spanien und den Spaniern sei. Seine Mitglieder gaben zu verstehen, dass die vermeintliche Illoyalität ihre Ursache in der afrikanischen Abstammung dieser Bevölkerungsgruppe habe. Sie seien Männer, die weit davon entfernt sind, Spanien als Mittelpunkt ihres Glückes zu sehen, die ihre Augen auf die dunklen Bewohner Afrikas richten müssen, woher sie kommen, um sie zu beschützen und gegen die Spanier aufzuwiegeln, die ihnen, so sagen sie, tausend Kümmernisse beschert haben. […] Werden diejenigen von afrikanischem Ursprung etwa ebenso auf das Wohl Spaniens hinwirken 46 wie diejenigen spanischen Ursprungs?
Die verschiedenen Abstammungskategorien gingen mit religiösen und moralischen Konnotationen einher und waren von großer rechtlicher Bedeutung, weswegen sie in den Pfarrbüchern des kolonialen spanischen Amerika dokumentiert wurden. Die Bedeutung der Kategorien veränderte sich im Laufe der Kolonialzeit so wie die Registrierungspraxis und die zugrundeliegende Zuschreibungslogik. Doch schon früh lässt sich ein Unterschied im Umgang mit indigener und afrikanischer Abstammung nachweisen. Zum Zeitpunkt der spanischen Eroberung war die Registrierung von Abstammungskategorien auf der Iberischen Halbinsel bereits eine gängige Praxis. Hier existierte seit dem 15. Jahrhundert eine Vorstellung von Blutreinheit, das Konzept der limpieza de sangre, das trotz gewisser Parallelen nicht mit den biologischen Konzepten des 19. Jahrhunderts zu verwechseln ist.47 Als Reaktion auf anti-jüdische Pogrome und Ausschreitungen waren Juden der Iberischen Halbinsel um 1400 in großer Zahl zum Christentum konvertiert. Um sich von diesen Konvertiten (conversos) abzugrenzen, etablierten Alt-Christen Abstammung als zentrales Unterscheidungskriterium. Limpieza de sangre – wörtlich übersetzt: 44 45 46
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Vgl.Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 133. Vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 159. Ebenda, S. 159, Zitat: S. 263: „unos hombres que lejos de mirar hacia España como al centro de su felicidad han de fijar su vista en los oscuros habitantes del Africa, de donde proceden para protegerlos y sublevarlos contra los españoles de quienes dicen que han recibido mil agravios. […] Por ventura procurarán el bien de España aquellos de orígen africano que de orígen español?“. Die spanische limpieza de sangre ist nur eines von verschiedenen frühneuzeitlichen Abstammungskonzepten. Siehe z.B. Davis, Natalie Zemon: Ghosts, Kin, and Progeny. Some Features of Family Life in Early Modern France, in: Daedalus 106 (1977), H. 2, S. 87– 114, S. 101-102.
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Blutreinheit – wurde ab Mitte des 15. Jahrhunderts von diversen religiösen und nicht-religiösen Korporationen als Kriterium verwendet, um Neu-Christen von der Mitgliedschaft auszuschließen. Weder die Krone noch der Papst förderten anfangs eindeutig die rechtliche Verankerung des limpieza-de-sangre-Prinzips.48 Das Konzept der limpieza de sangre zielte laut María Elena Martínez zunächst darauf ab, Konvertiten von Ämtern auszuschließen, bis sie ihre Loyalität zum christlichen Glauben bewiesen hatten. Converso zu sein war noch nicht automatisch eine Quelle von Unreinheit, sondern die tatsächlich ausgeübte jüdische Kulturpraxis führte zur Unreinheit.49 Anfang des 16. Jahrhunderts wandelte sich das Konzept der limpieza de sangre jedoch laut Martínez von einem naturalistischen zu einem essentialistischen Prinzip.50 Menschen, die von Konvertiten abstammten, wurden nun per se als unrein definiert und ebenso erging es Menschen muslimischer Abstammung. Die väterliche Abstammungslinie wurde zudem nicht mehr höher bewertet als die mütterliche. Die Reinheit der väterlichen Linie konnte beispielsweise nicht mehr die Unreinheit der mütterlichen verschwinden lassen, sondern in diesem Modell dualer Abstammung wurden beide Linien als gleich relevant behandelt. Auch verschwanden Regelungen, nach denen die Untersuchung der limpieza de sangre sich lediglich auf einige Generationen bezog.51 Im spanischen Amerika fand ein ähnlicher Wandel statt. Vor dem Hintergrund des iberischen limpieza-de-sangre-Prinzips wird bereits deutlich, dass Abstammung im 15. und 16. Jahrhundert mit religiösen und somit moralischen Bedeutungen verknüpft war. In Neuspanien wurden Neugeborene während der ersten Jahrzehnte spanischer Herrschaft vor allem in indios und españoles unter48
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Vgl. Hering Torres, Max-Sebastián: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006, Kap. 3; Martínez, María Elena: The Language, Genealogy, and Classification of ‘Race’ in Colonial Mexico, in: Ilona Katzew/Susan Deans-Smith (Hrsg.), Race and Classification. The Case of Mexican America, Stanford 2009, S. 25–42, S. 26-29, 43-45; Büschges, Christian: Limpieza de sangre, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Darmstadt 2005, Sp. 918–921. Erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts betrieb Philip II. die Verbreitung des Kriteriums, u.a. für Mitglieder der Inquisition. Vgl. Martínez, The Language, 2009, S. 50-51. Die Verweigerung des limpieza de sangreStatus galt laut Martínez nur für zwei oder drei Generationen der Nachkommen eines Konvertiten, denn man ging davon aus, dass nur noch dessen Kinder und Enkel von seiner religiösen Praxis beeinflusst wurden. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 52. Dagegen stellt Jean-Paul Zuñiga einen fundamentalen Unterschied im Verständnis der limpieza de sangre erst für das 18. Jahrhundert fest. Vgl. Zuñiga, Jean-Paul: La voix du sang. Du métis à l’idée de métissage en Amérique espagnole, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 54 (1999), H. 2, S. 425–452, insb. S. 451. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 51-52. Die Autorin spricht von einem „dual-descent model“.
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teilt. War ein Elternteil indio und eines español, wurde das Kind im 16. Jahrhundert noch gemäß der väterlichen Abstammungslinie klassifiziert und die calidad der Mutter nicht registriert, weswegen die Kategorie mestizo eine geringe Bedeutung hatte.52 Als mestizo wurden um die Mitte des 16. Jahrhundert vor allem illegitime Kinder bezeichnet, ab 1600 setzte jedoch ein Wandel ein, der Parallelen zum Wandel des Abstammungskonzepts in Spanien aufweist. Die Kategorie mestizo wurde nun umfassender für den als gemischt wahrgenommenen Nachwuchs von Indigenen und Spaniern verwendet. Die mütterliche Abstammungslinie wurde der väterlichen gleichgestellt und in vielen Städten führten die Pfarreien neben den Pfarrregistern für Indigene und Spanier ein drittes Pfarrregister für die Kategorien der Mestizen und Afroamerikaner (libros de castas) ein.53 Um die Dokumentierung afrikanischer Abstammung bemühte man sich allerdings schon früh. Bei Neugeborenen, deren Mutter als afrikanischstämmig galt, wurde die Abstammung der Mutter ab den 1560er-Jahren häufig registriert. Das war laut Martínez teilweise dem rechtlichen Grundsatz geschuldet, gemäß dem Kinder von Sklavinnen auch Sklaven waren. Darüber hinaus habe die spanische Gesellschaft Menschen afrikanischer Abstammung nicht integrieren wollen.54 Schon die Bezeichnung mulato verweist darauf, dass afrikanische Abstammung per se ein schweres Stigma bildete, denn sie leitete sich von mula – Maultier – ab, der Kreuzung zwischen Pferd und Esel.55 Afrikanische Abstammung wurde mit Sklaverei und Sünde assoziiert wie auch mit dem Islam und wurde so mit religiöser Unreinheit in Verbindung gebracht.56 Spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert wurde afrikanische Abstammung als Unreinheit verstanden und tauchte in Formeln zum Nachweis des limpieza-de-sangre-Status auf.57 Die Indigenen Amerikas wurden seitens der Krone per se als rein angesehen. Anders als die Afrikaner hatten sie als Heiden (gentiles) der Neuen Welt das Christentum lediglich nicht kennenlernen können. Entsprechend konnten castizos – also Personen mit einem mestizo- und einem spanischen Elternteil – den limpieza-de-sangre-Status im 16. Jahrhundert erhalten. Ein morisco – eine
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Vgl. ebenda, S. 144-146. Vgl. ebenda, S. 146, 164; siehe auch Love, Edgar F.: Negro Resistance to Spanish Rule in Colonial Mexico, in: The Journal of Negro History 52 (1967), H. 2, S. 89–103, hier: S. 100-102. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 144-145. Vgl. Lewis, Hall, 2003, S. 30; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 164-165; Martínez, The Language, 2009, S. 32. Vgl. Davis, The Problem, 1966, S. 170; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 157-158. Vgl. Martínez, The Language, 2009, S. 30. Allerdings wurde afrikanische Abstammung seitens der Inquisition erst 1774 in die Liste der Unreinheitskategorien aufgenommen. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 262.
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Person mit mulato- und spanischem Elternteil – hingegen nicht.58 1697 wurde sogar durch ein königliches Dekret festgelegt, dass der indigene Adel dem spanischen Adel gleichgestellt werden solle und ebenso die nicht-adelige indigene Bevölkerung der nicht-adeligen spanischen Bevölkerung. Das zentrale Argument hierfür war die Tatsache, dass auch Indigene über limpieza de sangre verfügten. Indigene, die „ohne verseuchende Vermischung“ waren, sollten wie die „Blutreinen“ in Spanien behandelt werden.59 Der indigenen Bevölkerung wurde hiermit nicht nur der Zugang zu religiösen, sondern auch zu jenen weltlichen, politischen und militärischen Posten zugestanden, die limpieza de sangre erforderten. Der Monarch erklärte, er wolle, dass die Indigenen der Amerikas mit seinen Vasallen in Europa gleichgestellt seien.60 Im 17. Jahrhundert entstand das weiter ausdifferenzierte sistema de castas61. Es handelte sich hierbei um ein Ordnungsschema, das Menschen nach ihren (vermeintlichen) Abstammungslinien kategorisierte. In den Entwürfen des sistema de castas wurden bis zu 16 verschiedene Kategorien definiert,62 und in der sogenannten pintura de castas – der casta-Malerei – wurden die unterschiedlichen Bezeichnungen anhand phänotypischer und kultureller Merkmale bildlich dargestellt.63 Das sistema de castas diente vor allem den spanischen Eliten, um sich von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen und sozialen Aufsteigern den Zugang zu ihren Kreisen zu verwehren.64 Laut Cope war die Krone an der Auf58
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Vgl. Stolcke, Verena: ‘Los mestizos no nacen sino que se hacen.’, in: Verena Stolcke/Alexandre La Coello de Rosa (Hrsg.), Identidades ambivalentes en América Latina. (siglos XVI-XXI), Barcelona 2008, S. 14–51, S. 23; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 96-97; Martínez, The Language, 2009, S. 33. Zwar wurden die Indigenen von einigen Gelehrten als Nachkommen eines der verlorenen Stämme Israels gesehen und hierdurch mit jüdischer Abstammung und Unreinheit in Verbindung gebracht, jedoch erhielt die Krone die Idee der Reinheit der Indigenen stets aufrecht. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 148-150, 152-153. Zit. nach Muro Orejón, Antonio: La igualdad entre indios y españoles. La Real Cédula de 1697, in: Estudios sobre política indigenista española en América, vol. 1: Iniciación, pugna de ocupación, demografía, lingüística, sedentarización condición jurídica del indio, Valladolid 1975, S. 365–386, hier: S. 380. Zitat: „sin mezcla de infección“; „limpios de sangre“. Vgl. ebenda, S. 381. Zu den frühesten und einflussreichsten Untersuchungen zählt Mörner, Race Mixture, 1967. Dessen Darstellung ist jedoch vielfach kritisiert worden, z.B. von Chance, John K./Taylor, William B.: Estate and Class in a Colonial City. Oaxaca in 1792, in: Comparative Studies in Society and History 19 (1977), H. 4, S. 454–487. Eine neuere Darstellung findet sich in Martínez, Genealogical Fictions, 2008, Kap. 6. Vgl. Aguirre Beltrán, La población, 1972, S. 176-177. Vgl. Carrera, Magali Marie: Imagining Identity in New Spain. Race, Lineage, and the Colonial Body in Portraiture and Casta Paintings, Austin 2003. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 146-147. Martínez führt für das Aufkommen des sistema de castas um 1600 mehrere sozioökonomische Gründe an. Sie nennt die
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rechterhaltung des Systems weit weniger interessiert als die Eliten. Cope argumentiert, dass die Gesetzgebung der Krone zu inkonsistent gewesen sei, um eine strenge Hierarchie zwischen den verschiedenen Kategorien zu schaffen.65 In Pfarrregistern und im Verwaltungsschriftgut und wohl erst recht im alltäglichen Gebrauch kamen aber nur eine Handvoll Kategorien zur Anwendung. Neben español, indio und negro waren das vor allem die Bezeichnungen mestizo und mulato sowie castizo und morisco.66 Bezeichnungen für Menschen mit indigenen und afrikanischen Abstammungslinien – zambo, zambaigo oder lobo – fanden in Neuspanien dagegen weder weite Verbreitung, noch setzte sich eine annähernd einheitliche Bezeichnung für diese Personen durch.67 Die unterschiedliche Verbreitung der Kategorien lässt sich möglicherweise damit erklären, dass das sistema de castas vor allem die Funktion hatte, den Eliten zur Machterhaltung und Abgrenzung gegenüber der übrigen Bevölkerung zu dienen. Die Eliten begriffen sich als spanischstämmig und hatten daher wahrscheinlich besonderes Interesse daran, Abweichungen von dieser Norm zu dokumentieren, weswegen spanische Abstammung detailliert festgehalten wurde. Personen ohne spanische Abstammungslinie hatten ohnehin keinen Legitimationsgrund, um eine Aufnahme in die Elite zu beanspruchen, womit es aus Sicht der Eliten weniger notwendig war, den ‚gemischten‘ Nachwuchs von Indigenen und Afroamerikanern exakter zu dokumentieren. Die Abstammungskategorien gingen nicht nur mit religiösen und moralischen Zuschreibungen einher, sondern hatten auch eine spezifische rechtliche
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Tatsache, dass die spanische Elite durch ihren demographischen Zuwachs weniger darauf angewiesen war, ‚mestizos‘ zu integrieren, nennt das Zurückgehen von ehelichen Verbindungen zwischen spanischem und indigenem Adel, wie auch die vermehrte Immigration armer Spanier und den sozioökonomischen Aufstieg von Mestizen und Afroamerikanern. Vgl. ebenda, S. 146-147. Mestizos wurden laut dieser Autorin außerdem zunehmend als politische Gefahr gesehen, und das Misstrauen gegenüber ihrer religiösen Loyalität wuchs. (Ebenda, 148). Vgl. Cope, The Limits, 1994, 24, 161. Vgl. Seed, Social Dimensions, 1982, S. 572-573; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 166. ‚Mulato‘ implizierte zunächst die ‚Mischung‘ afrikanischer mit spanischer oder auch indigener Abstammung und wurde vor allem seit Mitte des 16. Jahrhunderts verwendet. ‚Castizo‘ meinte das Kind eines mestizo und eines spanischen Elternteils und kam laut Martínez im letzten Drittel des Jahrhunderts auf. Die Bezeichnung ‚morisco‘ konnte lange Zeit noch islamische Abstammung bezeichnen, wurde aber ab dem 17. Jahrhundert vor allem verwendet um das Kind eines mulato- und eines spanischen Elternteils zu bezeichnen. Vgl. ebenda, S. 164-165. Vgl. für Antequera (Oaxaca): Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 465; für Mexiko-Stadt: Seed, Social Dimensions, 1982, S. 572-573; für Valladolid (Morelia): Germeten, Black Blood, 2006, S. 138; für Morelos: Martin, Rural Society, 1985, S. 160.
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Bedeutung im Rahmen der korporativen Gesellschaft. Als die Spanier Amerika eroberten, war das spanische Territorium in Königreiche unterteilt und die Gesellschaft war in Ständen und Korporationen organisiert. Entsprechend existierte eine große rechtliche Pluralität, denn die Untertanen unterstanden verschiedenen Gerichtsbarkeiten und verfügten über verschiedene Privilegien.68 Die rechtliche Unterscheidung der Individuen nach Ständen und korporativer Zugehörigkeit wurde auch bei der Errichtung der spanischen Herrschaft in den Amerikas fortgeführt. Die Gesellschaften des spanischen Amerikas waren in zwei rechtliche Sphären geteilt, die república de indios und die república de españoles. Lyle McAlister bezeichnete diese beiden repúblicas als Stände, da sie eigene Rechtssphären bildeten.69 Indios zahlten pro Haushalt einen festen Tribut an die Krone, während españoles zur Zahlung von Steuern, vor allem der Verkaufssteuer (alcabala), verpflichtet waren.70 Ähnlich wie Militärs und Kleriker unterlagen die indios einem Sonderrecht (fuero) mit eigener Gerichtsbarkeit. So wurde im späten 16. Jahrhundert ein eigener Gerichtshof für die indigene Bevölkerung errichtet, der Juzgado de Indios.71 In religiösen Fragen, insbesondere HäresieProzessen, wurden Indigene bis in die 1570er-Jahre ähnlich wie conversos und Muslime in Spanien behandelt; nach der Gründung der Inquisition in NeuSpanien 1571 wurden sie jedoch umgehend dem Zugriff der Inquisition entzogen.72 Die Unterscheidung nach den repúblicas hatte eine räumliche Dimension, denn seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemühte sich die Krone, voneinander getrennte indigene und spanische Gemeinwesen zu errichten.73 Der rechtliche Sonderstatus der indigenen Bevölkerung, insbesondere der Schutz vor dem Zugriff der Inquisition wie auch die räumliche Separation, gaben der indigenen Bevölkerung rechtlich einen Minderjährigenstatus. Die indigene Bevölkerung wurde nicht im vollen Sinne als vernunftgeleitet angesehen, woraus sich auch eine übliche Selbstbezeichnung der spanischen Bevölkerung als gente de razón ergab.74 Diese rechtlich definierte paternalistische Beziehung zwischen Krone und Indigenen hatte in der vagen juristischen Kategorie der miserables einen iberischen Vorgänger. Die Bezeichnung bezog sich auf 68 69 70 71 72 73
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Vgl. Mcalister, Lyle N.: Social Structure and Social Change in New Spain, in: The Hispanic American Historical Review 43 (1963), H. 3, S. 349–370, hier: S. 350-353. Ebenda, S. 358-360. Vgl. ebenda, S. 356-358. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 100. Vgl. Lewis, Hall, 2003, S. 37; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 101. Vgl. Israel, Race, 1975, S. 32; Martínez, María Elena: Space, Order, and Group Identities in a Spanish Colonial Town. Puebla de los Angeles, in: Luis Roniger/Tamar Herzog (Hrsg.), The Collective and the Public in Latin America. Cultural Identities and Political Order, Brighton; Portland 2000. Vgl. Seed, Are These, 1993, S. 648.
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Personen und Körperschaften, denen aufgrund ihrer besonderen Bedürftigkeit bestimmte Privilegien zuerkannt wurden.75 Die freien Afroamerikaner nahmen in der rechtlichen Ordnung eine eher ex negativo definierte Position ein und bildeten zusammen mit den mestizos die sogenannten castas. Rechtlich gab es zwischen mestizos und freien Afroamerikanern große Unterschiede. Obwohl alle administrativ der república der Spanier und der entsprechenden Gerichtsbarkeit zugeordnet waren, mussten Afroamerikaner seit 1572 – ähnlich wie Indigene – Tribut zahlen.76 Das Führen von Waffen zu persönlichen Zwecken war Spaniern und mestizos gestattet, nicht jedoch den Afroamerikanern und Indigenen. Die castas hatten im 16. Jahrhundert generell keinen Zugang zu den Stadträten der spanischen Gemeinden, was sich für die mestizos mit der Zeit änderte.77 Wenngleich der Rechtsstatus mulato oder negro mit sich brachte, dass man von diesen Räten ausgeschlossen war, gab es Menschen afrikanischer Abstammung, die als vecinos – also als vollwertige Mitglieder einer spanischen Gemeinde – anerkannt wurden.78 Während HistorikerInnen den Kategorien des sistema de castas lange Zeit große Bedeutung beimaßen, ist mittlerweile umstritten, ob und in welchem Maße diese Kategorien soziale Grenzen beschrieben. McAlister betrachtete diese rechtliche Differenzierung entlang der Abstammungskategorien als die Sozialstruktur der Gesellschaft. Aus diesem Grund ging er von der Existenz einer ständischen Ordnung in Neuspanien aus. Die Trennung zwischen Spaniern, Indigenen und castas sah er dabei als die fundamentale Unterscheidung an.79 Magnus Mörner wies darauf hin, dass im spanischen Amerika zentrale Elemente europäischer Ständegesellschaften fehlten, u.a. hatten die verschiedenen Korporationen keine Funktionen politischer Repräsentation.80 Er stellte zudem infra-
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Hierzu zählten Waisen und Minderjährige, aber auch Frauen, Alte, Soldaten und Pilger konnten als miserables betrachtet werden; sogar kollektive Einheiten konnten laut Castañeda als solche betrachtet werden. Vgl. Castañeda Delgado, Paulino: La condición miserable del indio y sus privilegios, in: Anuario de estudios americanos 28 (1971), S. 245–335, hier: S. 247-248, 255-258; Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 103. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 133. Mcalister sieht die castas als einen dritten Stand, wenngleich ihm bewusst ist, wie undefiniert ihre Position war: „They really were not supposed to exist.“ Mcalister, Social Structure, 1963, S. 356-357, Zitat: S. 358. Beispiele für das 16. Jahrhundert finden sich bei: Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 155. Mcalister, Social Structure, 1963, S. 362-363, 368-370. Allerdings lässt sich laut McAlister im späten 18. Jahrhundert eine Erosion der Ständegesellschaft und der langsame Wandel hin zu einer Klassengesellschaft beobachten, was McAlister vor allem an der Schwächung korporativer Privilegien durch die Krone festmachte. Mörner, Race Mixture, 1967, S. 54, 60-61.
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ge, dass die rechtliche Hierarchie der verschiedenen Abstammungskategorien mit der sozialen Hierarchie deckungsgleich gewesen sei.81 Die Abstammungskategorien des sistema de castas verloren im 18. Jahrhundert als Instrument sozialer Distinktion an Bedeutung. Einige Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen den casta-Kategorien und der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft, indem sie für einige Städte das Heiratsverhalten der Bevölkerung und den statistischen Zusammenhang zwischen calidad und Berufsgruppen beleuchteten. Diese sozialgeschichtlichen Forschungen lenkten den Blick weg von normativen Quellen, insbesondere Gesetzestexten, hin zu Zensusakten und Pfarrregistern und nahmen so eine größere Distanz zur Perspektive der kolonialen Eliten ein. John Chance und William Taylor stellten die These auf, dass die casta-Kategorien im späten 18. Jahrhundert zugunsten ökonomischer Kriterien sozialer Differenzierung an Bedeutung verloren. Überhaupt hinterfragten sie die Gültigkeit des Ständemodells für die koloniale Gesellschaft, denn es habe kein Einvernehmen über die Grenzen der unterschiedlichen Gruppen bestanden.82 Die Diskussion um die soziale Bedeutung der calidad wurde vehement geführt, aber der Befund von Chance und Taylor konnte von mehreren Autoren bestätigt werden.83 Andere Autoren haben die Bedeutung der casta-Kategorien für frühere Zeitpunkte hinterfragt. Douglas Cope stellte für Mexiko-Stadt fest, dass die calidad um 1700 im alltäglichen 81
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Vgl. ebenda, S. 60. Während McAlister ein dreigliedriges Ständemodell vorgeschlagen hatte – españoles, indios, castas –, ging Mörner von fünf rechtlich unterschiedenen Gruppen aus, da er zwischen mestizos und freier afrikanischstämmiger Bevölkerung unterschied und darüber hinaus die Sklaven aufführte. In der sozialen Hierarchie ging er von sechs Gruppen aus, da er zusätzlich zwischen Amerika- und Europaspaniern differenzierte. Während die indigene Bevölkerung in seiner rechtlichen Rangordnung auf dem zweiten Platz, direkt unter den Spaniern angesiedelt war, sah er sie in der sozialen Hierarchie an unterster Stelle stehen, und zwar nicht nur unter der freien afrikanischstämmigen Bevölkerung, sondern sogar unterhalb der Sklaven. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 482-483. Laut Chance und Taylor lässt sich lediglich die strenge Trennung zwischen indios und españoles des 16. Jahrhundert mit dem Ständemodell erfassen. Vehemente Kritik ernteten Chance und Taylor von McCaa, Robert/Schwartz, Stuart B./Grubessich, Arturo: Race and Class in Colonial Latin America: A Critique, in: Comparative Studies in Society and History 21 (1979), H. 3, S. 421–433. Eine Verteidigung von Chance und Taylor wie auch einen Überblick über die Diskussion bis 1983 bieten: Seed, Patricia/Rust, Philip F.: Across the Pages with Estate and Class, in: Comparative Studies in Society and History 25 (1983), H. 4, S. 721–724. Siehe auch: Seed, Social Dimensions, 1982. McCaa argumentiert wiederum für die große Bedeutung der calidad: McCaa, Robert: Calidad, Clase, and Marriage in Colonial Mexico: The Case of Parral, 1788-90, in: The Hispanic American Historical Review 64 (1984), H. 3, S. 477–501.Vgl. für einen Überblick auch Meißner, Jochen: Eine Elite im Umbruch. Der Stadtrat von Mexiko zwischen kolonialer Ordnung und unabhängigem Staat, Stuttgart; Hamburg 1993, S. 27-35; Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 51-56; Sánchez Santiró, Azúcar, 2001, S. 111-114.
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Leben der Unterschichten relativ unbedeutend war.84 Karoline Noack hinterfragt anhand einer Studie zu Interaktionen im Rahmen der Textilwirtschaft im Peru des 16. und frühen 17. Jahrhunderts die soziale Bedeutung der Kategorien des sistema de castas.85 Mittlerweile sind im Rahmen dieser Forschungsdiskussion einige Befunde zum Zusammenhang zwischen ethnischen Kategorien und sozialen Grenzen, insbesondere für das 18. Jahrhundert, erarbeitet worden. Bezüglich des Heiratsverhaltens der neuspanischen Bevölkerung ergaben mehrere Studien, dass Spanier und Indigene für gewöhnlich hohe Endogamieraten aufwiesen, Afroamerikaner und mestizos dagegen niedrigere.86 Wenngleich einige Studien es versäumt haben, die Endogamierate in Relation zur Gruppengröße zu setzen,87 lässt sich für die spanische Bevölkerung eindeutig belegen, dass sie besonders darum bemüht war, Personen der gleichen calidad zu heiraten.88 Wie auch Gabbert anführt,89 ist die hohe Endogamierate der indigenen Bevölkerung weniger aussagekräftig, da Letztere in den meisten Regionen den Großteil der Bevölkerung repräsentierte. Unter Berücksichtigung der Gruppengröße wies Cope nach, dass Mestizen und Afroamerikaner in Mexiko-Stadt um 1700 stärker zu Exogamie neigten als Indigene und Spanier; insbesondere zwischen ersteren beiden Gruppen waren relativ viele exogame Beziehungen nachzuweisen.90 Auch English Cheryl Martin stellt für Afroamerikaner im ländlichen Yautepec (Morelos) eine geringere Tendenz zu Endogamie fest als bei der indigenen Bevölkerung, obwohl die Indigenen nur einen wenig größeren Bevölkerungsanteil repräsentierten; dabei waren die Heiratspartner der Afroamerikaner meist mestizos.91 Patrick Carroll betont für Jalapa die hohen Exogamieraten unter Afroamerikanern und stellt die Afroamerikaner daher sogar als „vanguardia de cambio social“ dar, während die Indigenen dem sistema de castas angehan84 85 86
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Vgl. Cope, The Limits, 1994, insb. S. 58. Vgl. Noack, La construcción, 2011, S. 52. Vgl. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 478-479; für das 17. und 18. Jahrhundert für die indigene und afroamerikanische Bevölkerung der Region Morelos: Martin, Rural Society, 1985, S. 172-173; für Veracruz: Carroll, Blacks, 2001, S. 121; Carroll, Patrick J.: Los mexicanos negros, el mestizaje y los fundamentos de la ‚raza cósmica‘. Una perspectiva regional, in: Historia Mexicana 44 (1995), H. 3, S. 403–438, S. 424; für León: Brading, D. A./Wu, Celia: Population Growth and Crisis. Leon, 1720-1860, in: Journal of Latin American Studies 5 (1973), H. 1, S. 1–36, S. 8-9. Auf die Bedeutung der Gruppengröße wird z.B. von Cope und Gabbert hingewiesen: Cope, The Limits, 1994, S. 78-79; Gabbert, Wolfgang: Becoming Maya. Ethnicity and Social Inequality in Yucatan since 1500, Tucson 2004, S. 23. Vgl. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 478-479; Gabbert, Becoming Maya, 2004, S. 23; für Veracruz: Carroll, Blacks, 2001, S. 121; Carroll, Los mexicanos, 1995, S. 424. Gabbert, Becoming Maya, 2004, S. 23. Cope, The Limits, 1994, S. 58, 82. Martin, Rural Society, 1985, S. 159, 171-172;
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
gen hätten.92 Auf Grundlage einer Studie von Paul Lokken zum 17. Jahrhundert stellen Matthew Restall und Christopher Lutz hingegen heraus, dass im ländlichen Guatemala trotz starker afroamerikanischer Präsenz nur wenige Eheschließungen zwischen Indigenen und Afroamerikanern stattfanden, in der Stadt Santiago allerdings ein stärkerer Trend zu solchen Eheschließungen zu beobachten war.93 Die Befunde zum Heiratsverhalten legen nahe, dass Afroamerikaner anders als Spanier kaum Interesse an der Aufrechterhaltung einer sozialen Grenze zwischen sich und anderen Gruppen hatten. Die ökonomischen Eliten Neuspaniens setzen sich aus Europa- und Amerikaspaniern zusammen, wie Studien zum Zusammenhang von ökonomischem Status und calidad im 18. Jahrhundert zeigen.94 Ansonsten ist der Zusammenhang zwischen calidad und Berufsgruppe nicht eindeutig. Sogar Amerika-Spanier waren auch in der Gruppe der Handwerker, also in einem mittleren sozialen Rang, stark vertreten. Zwischen der sozioökonomischen Position von Mestizen und Afroamerikanern lassen sich zwar gewisse Unterschiede feststellen, jedoch waren in Städten beide stark innerhalb der Gruppe der Handwerker vertreten.95 Zur sozioökonomischen Position der indigenen Bevölkerung in Städten ist aufgrund der Quellensituation vergleichsweise wenig bekannt.96 In MexikoStadt waren sie vor allem am unteren Ende der sozioökonomischen Hierarchie angesiedelt.97 Die calidad einer Person war für deren sozioökonomischen Status im späten 18. Jahrhundert zwar von Bedeutung, aber abgesehen von einer spanischstämmigen Elite kann man nicht von einem engen Zusammenhang sprechen. Die Vagheit des Konzepts calidad bildet ein grundsätzliches Problem all dieser Untersuchungen zu calidad, sozioökonomischem Status und Heiratsverhalten. So kann beispielsweise der Befund, dass sich die Elite aus Spaniern zusam92 93
94 95 96
97
Carroll, Los mexicanos, 1995, S. 431, 435; Carroll, Blacks, 2001, S. 121-123. Vgl. Lutz, Christopher/Restall, Matthew: Wolves and Sheep? Black-Maya Relations in Colonial Guatemala and Yucatan, in: Matthew Restall (Hrsg.), Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005, S. 185–221, hier: S. 202-204, 209. Vgl. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 474; Seed, Social Dimensions, 1982, S. 583; Martin, Rural Society, 1985, S. 158. Vgl. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 473; Seed, Social Dimensions, 1982, S. 580, 582-583; Martin, Rural Society, 1985, S. 158. Viele Studien (wie z.B. Chance/Taylor, Estate, 1977; Martin, Rural Society, 1985; Reynoso Medina, Araceli: Aquí todos somos libres… La población de Igualapa, 1650-1750, in: Juan Manuel de la Serna (Hrsg.), De la libertad y la abolición. Africanos y afrodescendientes en Iberoamérica, México, D.F. 2010, S. 161–177) zum Zusammenhang von calidad und sozioökonomischer Position arbeiten mit dem sogenannten Zensus von Revillagigedo von 1792, der u.a. Namen, Alter, calidad und Beruf registrierte, jedoch die indigene Bevölkerung nicht erfasste. Vgl. Seed, Social Dimensions, 1982, S. 579, 583.
Die Ursprünge der calidades
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mensetzte, auf zwei Arten gedeutet werden. Entweder war die Abstammung einer Person von besonderer Bedeutung für deren ökonomischen Erfolg, oder aber die ökonomische Position einer Person wirkte sich auf die ihr zugedachte calidad aus.98 Letztere Interpretation wird durch die Befunde zum Verschwinden von Kategorien afrikanischer Abstammung gestützt. Die Kategorie mulato wurde in den Zensus verschiedener Städte zum Ende der Kolonialzeit immer seltener verwendet und (vermeintliche) afrikanische Abstammung wurde somit weniger dokumentiert. Die sozioökonomische Integration von Menschen afrikanischer Abstammung in den Städten Neuspaniens führte dazu, dass diese nicht mehr als Afroamerikaner, sondern als Mestizen oder Spanier angesehen wurden.99 Priester tendierten zudem dazu, bei Heiraten die calidad der Eheleute aneinander anzupassen,100 weswegen die hohen Endogamieraten nicht überbewertet werden sollten. Im Fall indigener Gemeinden sagte die calidad zudem etwas über die Zugehörigkeit einer Person zur Gemeinde aus. Personen und Familien, die in die Gemeinde einheirateten und den in der república de indios vorgesehenen Pflichten nachkamen, galten per se als indios, womit ihre Abstammung in den Hintergrund trat.101 Gerade in ländlichen Regionen konnten Afroamerikaner in indigene Gemeinden aufgenommen werden. Sie kamen so in den Genuss der damit verbundenen Privilegien, was beispielsweise Martin für Yautepec nahelegt.102 Insofern überrascht es nicht, dass Personen im Laufe ihres Lebens nachweislich mit unterschiedlichen calidades identifiziert werden konnten.103
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Vgl. ebenda, S. 583. Für Oaxaca vertreten Chance und Taylor die These, dass die Nachfahren von mulatos häufig als Folge von Eheschließungen mit Spaniern und Spanierinnen als españoles kategorisiert wurden. Vgl. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 465-466. Für Guadalajara legt der gleichzeitige Anstieg des Anteils der indigenen und spanischen Bevölkerung nahe, dass es einigen Nachfahren der mulatos gelang, als indios oder españoles anerkannt zu werden. Vgl. Anderson, Rodney D.: Race and Social Stratification. A Comparison of Working-Class Spaniards, Indians, and Castas in Guadalajara, Mexico in 1821, in: The Hispanic American Historical Review 68 (1988), H. 2, S. 209–243, S. 240. Laut Cope und Anderson weist Dennis Valdés (Valdés, Dennis Nodín: The Decline of the Sociedad de castas in Mexico City, Ann Arbor 1979) dieses Phänomen in seiner unveröffentlichten Dissertation anhand von Pfarrregistern für Mexiko-Stadt nach: Cope, The Limits, 1994, S. 83; Anderson, Race, 1988, S. 240. McCaa, Calidad, 1984, S. 493, 497-498. Vgl. z.B. Castillo Palma, Norma Angélica/Kellogg, Susan: Conflict and Cohabitation between Afro-Mexicans and Nahuas in Central Mexico, in: Matthew Restall (Hrsg.), Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005, S. 115–136, S. 125. Vgl. Martin, Rural Society, 1985, S. 65. Vgl. z.B. Chance/Taylor, Estate, 1977, S. 481; McCaa, Calidad, 1984, S. 493.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Die Befunde zur sozioökonomischen Position und zum Heiratsverhalten belegen somit nicht, dass die rechtlichen Kategorien der Indigenen, Mestizen und Afroamerikaner für ihre sozialen Interaktionen von großer Bedeutung waren. Auch auf Grundlage qualitativer Studien kann kaum eine generelle Aussage zum Verhältnis von Indigenen und Afroamerikanern gemacht werden. Die ältere Forschung ging von einer großen Antipathie zwischen Indigenen und Afroamerikanern aus, doch ist diese Annahme mittlerweile in die Kritik geraten. So sind in den Archiven Mexikos zwar viele Konflikte zwischen Indigenen und Afroamerikanern belegt, doch ist der Grund hierfür laut Carroll in der Überlieferungssituation zu suchen: Friedliche Interaktionen zwischen Indigenen und Afroamerikanern waren vermutlich viel häufiger, fanden jedoch seltener Niederschlag in der Dokumentation der kolonialen Verwaltung und wurden in der Forschung entsprechend wenig beachtet.104 Es gibt jedoch auch Hinweise auf friedliche Interaktionen zwischen beiden.105 Norma Castillo und Susan Kellogg analysieren Konflikte zwischen Afroamerikanern und Indigenen im 17. und 18. Jahrhundert und stellen fest, dass Konflikte gerade aus der Nähe zwischen Afroamerikanern und Indigenen resultierten, weniger aus einer strikten Trennung zwischen beiden.106 Nach Sarah O’Toole spielte casta eine eher untergeordnete Rolle, wenn im Peru des 17. Jahrhunderts indigene Arbeiter und afroamerikanische Sklaven interagierten und Konflikte austrugen.107 Hinzu kommt außerdem Copes Befund, nach dem die calidad für die Unterschichten MexikoStadts um 1700 relativ unwichtig war.108 Demgegenüber berichten Zeitgenossen in manchen Regionen tatsächlich von einer tiefen Feindschaft zwischen Afroamerikanern und Indigenen, so z.B. verschiedene Stimmen an der Costa Chica im Jahr 1820.109 Es kann also nicht von einer grundsätzlichen Antipathie zwischen Indigenen und Afroamerikanern ausgegangen werden, wenngleich ihr Verhältnis in einigen Regionen äußerst konfliktbehaftet war. Da sich allein im Fall der Spanier klare soziale Grenzen feststellen lassen, wäre es problematisch, das normative sistema de castas als Indiz für die Existenz ethnischer Gruppen zu interpretieren.110 Ebenso wenig können indigene Bevöl104
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Carroll, Patrick J.: Black-Native Relations and the Historical Record in Colonial Mexico, in: Matthew Restall (Hrsg.), Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005, S. 245–267. Vgl. Carroll, Patrick J.: Black Aliens and Black Natives in New Spain’s Indigenous Communities, in: Ben Vinson III/Matthew Restall (Hrsg.), Black Mexico. Race and Society from Colonial to Modern Times, Albuquerque 2009, S. 72–95. Vgl. Castillo Palma/Kellogg, Conflict, 2005, S. 116. Vgl. O’Toole, Bound Lives, 2012, S. 162. Vgl. Cope, The Limits, 1994, S. 58. Vgl. Kapitel 2.2.1. und 3.4. Zur Bedeutung sozialer Grenzen in der Konstruktion ethnischer Gruppen siehe Barth, Introduction, 1998.
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kerungsgruppen einzelner Regionen als ethnische Gruppen aufgefasst werden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Indigenen Neuspaniens sich einer „vorgestellten Gemeinschaft“111 der Indigenen im Sinne Benedict Andersons als zugehörig betrachteten und schon die Identifizierung mit regionalen Gruppen war höchstens schwach ausgeprägt. Das Fehlen größerer regionaler Aufstände im ländlichen Neu-Spanien des 18. Jahrhunderts spricht dafür, dass weder die regionalen Sprachgruppen, geschweige denn die als indios kategorisierten Personen sich einer „vorgestellten Gemeinschaft“ zugehörig fühlten.112 Nach Gabbert verfügten die Angehörigen der Sprachgruppe der Maya in Yucatán nicht über ein solches Bewusstsein.113 Kategorien wie indio oder mulato tauchen zwar in der kolonialen Dokumentation auch als Selbstzuschreibungen auf, aber vor allem, weil sie als rechtliche Kategorisierungen im Kontakt mit der spanischen Verwaltung wichtig waren.114 Wie in der Forschung häufig betont wird, war für die indigene Bevölkerung vor allem die Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinde zentral.115 Mit den Kategorien zur Bezeichnung der Indigenen und der Afroamerikaner wurden also zwei fundamental verschiedene Positionen in der rechtlichen Ordnung der spanischen Monarchie geschaffen, die anhand von religiösen Argumenten wie auch der Unterscheidung zwischen naturales und Fremden legitimiert wurden. Mit diesen Kategorien gingen jedoch meist keine deutlichen sozialen Grenzen einher. Jenseits der spanischen Eliten und außerhalb von rechtlichen Interaktionen mit der Verwaltung waren die calidades also weit unbedeutender, als Darstellungen von einer ethnisch differenzierten neuspanischen Gesellschaft nahelegen.
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Anderson, Die Erfindung, 1996, S. 15. Vgl. Taylor, Drinking, 1979, S. 145. Gabbert, Becoming Maya, 2004, Kap. 3. Siehe Kap. 1.3 und 1.4. Vgl. z.B. Chance, Conquest, 1989, S. 124
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
2. Verwaltungspraxis und die Dimensionen der calidad um 1800 Die Malereien der pintura de castas des 18. Jahrhunderts wie auch die Registrierung der calidad in Taufregistern erwecken den Eindruck, die calidad sei eindeutig durch Abstammung definiert gewesen. Bei der Taufe von Findelkindern notierten Priester im 18. Jahrhundert bisweilen, „die calidad der Kreatur ist unbekannt“116, und manche Menschen wurden daher selbst bei ihrer Hochzeit noch mit unbekannter calidad registriert, so auch „Tomás Rodriguez, Waise, weswegen man seine calidad nicht kennt“ im Jahr 1763.117 Das Findelkind Jacinto José López war einst als mestizo registriert worden und stritt 1806 dafür, als Spanier anerkannt zu werden. Ihm wurde schließlich recht gegeben und die Zuschreibung seitens des für die Taufe verantwortlichen Priesters wurde für ungültig erklärt: „man konnte seine Calidad kaum kennen, da man seine Eltern nicht kannte“.118 Die calidad war in der Praxis der Zuweisung aber wesentlich komplexer, denn sie war an weitere Kriterien gebunden, die nicht explizit rechtlich sanktioniert oder die zumindest in ihrer rechtlichen Stichhaltigkeit umstritten waren. Einige Historiker rekonstruierten diese Kriterien u.a. mittels der Untersuchung von Gerichts- und Inquisitionsakten. Da es für die Zuordnung der Gerichtsbarkeiten zentral war, ob eine Person indio war, kam es hier häufig zu Nachforschungen. Nach Copes Studie zu Mexiko-Stadt um 1700 war die Zuweisung der calidad innerhalb der Unterschichten von Phänotyp, Kleidung und Sprache sowie dem sozialen Umfeld einer Person und dem Wissen über ihre Eltern abhängig.119 Die von Cope genannten Kriterien werden von Tavárez für das 17. Jahrhundert bestätigt.120 Laut Gabbert können Phänotyp, Kleidung und Sprache in Yucatán dagegen nur als sehr schwache Kriterien gewirkt haben, da sich Indigene hierdurch kaum von der übrigen Bevölkerung unterscheiden ließen.121 David Carbajal López schreibt dem Phänotyp eine große Bedeutung für die calidad zu, denn nur die Berücksichtigung phänotypischer Kriterien könne das 116
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Abschrift des Taufbucheintrags von 1763 von Juan George Rodríguez. „Diligencias sobre lexitimidad de Juan George Rodriguez“ (1782), AGN, Indiferente Virreinal, caja 0192, exp. 011, f. 18. Zitat: „se ignora la calidad de la criatura“. AGN, Indiferente Virreinal, caja 0192, exp. 011, f. 19. Zitat: „Tomás Rodriguez huerfano por lo que se ignora su calidad“. AGN, Indiferente Virreinal, caja 4038, exp. 003, f. 13v. Zitat: „mal pudo saverse de su calidad, quando se ignoraban sus Padres“. So entschied der promotor fiscal de real hacienda. Cope, The Limits, 1994, S. 52-58. Tavárez, David: Legally Indian. Inquisitorial Readings of Indigenous Identity in New Spain, in: Andrew B. Fisher/Matthew D. O’Hara (Hrsg.), Imperial Subjects. Race and Identity in Colonial Latin America, Durham 2009, S. 81–100, insb. S. 91-93. Gabbert, Becoming Maya, 2004, S. 21-22. In Yucatán konnten auch Personen, die ausschließlich Maya sprachen, als Mestizen oder mulatos gelten (ebenda, S. 22).
Verwaltungspraxis und die Dimensionen der calidad um 1800
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Phänomen der „pluriethnischen Familien“ in der Bergbaustadt Bolaños erklären.122 So wies der Autor mittels einer Untersuchung von Pfarrregistern für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nach, dass in fast 50 % aller Familien Geschwister in Pfarrregistern mit unterschiedlichen calidades kategorisiert wurden. Die Unschärfe der calidad machten sich Menschen in der Kolonialzeit häufig zunutze. Die Klagen der Verwaltungsfunktionäre belegen, dass Menschen versuchten, auf die Wahrnehmung der spanischen Verwaltungsbeamten Einfluss zu nehmen, um so gemäß einer möglichst günstigen calidad behandelt zu werden. Der justícia mayor Antonio de Obregón y Alcozer von Guanajuato berichtete 1781 von unzähligen Beschwerden seitens der Tributeintreiber über die ständigen Betrugsversuche der Afroamerikaner: Viele, die Mulatos sind, behaupten, Indios zu sein, da die von dieser Nación weniger [Tribut] zahlen, wobei es nicht leicht ist, diese Täuschung festzustellen, aufgrund der Verworrenheit und Vermischung, die man beobachtet, da jene Individuen, entsprechend der jeweiligen Gegebenheiten, behaupten Indios zu sein, wenn es für sie günstig ist, und wenn nicht, versichern sie, von einer anderen Calidad zu sein.123
Indigene hatten auch in anderen Angelegenheiten rechtliche Vorteile, z.B. wenn es um die Anullierung von Verkaufsverträgen ging. Auch in solchen Fällen gaben sich laut Obregón viele mulatos als indios aus: „Viele der genannten Mulatos stellen sich den Gerichten als Indios vor, um sich der Privilegien und Ausnahmeregelungen zu erfreuen, die die Gesetze den Indios zugestehen“.124 Der fiscal de real hacienda125 gab daraufhin die Anweisung, dass „jene, die sich als anderen Castas oder Ständen zugehörig ausgeben, als es ihnen gemäß ihrer 122
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Carbajal López, David: Reflexiones metodológicas sobre el mestizaje en la Nueva España. Una propuesta a partir de las familias del Real de Bolaños, 1740-1822, in: Letras Históricas 1 (2009), S. 13–38; Carbajal López, David: La población en Bolaños, 1740-1848. Dinámica demográfica, familiar y mestizaje, Zamora, Michoacán 2008, S. 95. Carbajal spricht von „familias pluriétnicas“. „Testim[oni]o del Exped[ient]te formado a representac[i]on del Sr. Conde de Valenciana Just[íci]a ma[y]or de la ciudad de S[an]ta Feé R[ea]l de Minas de Guanajuato, con el fin, de que los Mulatos no se disimulen, ó se supongan Indios […]“, AGN, Tributos, vol. 44, exp. 9, hier: f. 219v. Zitat: „muchos, que siendo de calidad Mulatos afirman ser Indios, respecto, a que los de esta Nacion pagan menor cantidad, sin ser facilmente averiguable este engaño p[o]r la confusion, y mescla, que se observa, á causa de que tales Individuos, segun las ocurrencias q[u]e se ofresen, quando les combiene disen ser Indios, y quando nó aseguran ser de otra calidad.“ Ebenda, f. 220. Zitat: „muchos de d[ic]hos Mulatos, p[ar]a gozar de los Privilegios, y exempciones q[u]e las Leyes conceden a los Indios se presentan, como tales en los Juzgados“. Der fiscal de real hacienda (Kronanwalt der königlichen Kassen) war eines der wichtigsten Ämter in der Finanzverwaltung Neuspaniens. Vgl. Jáuregui, Luis: La Real Hacienda de Nueva España, su administración en la época de los intendentes, 1786-1821, México 1999, S. 95.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Geburt in der República zusteht“126, rechtlich verfolgt werden sollten. Rechtlich Ausschlaggebend war für ihn die Abstammung. Obregón hatte außerdem vorgeschlagen, Kleidung in Guanajuato als Differenzierungskriterium zu etablieren. Er wollte eine strengere Durchsetzung der bereits 1777 von dem königlichen Gesandten José Gálvez verfassten Kleidervorschriften für die unterschiedlichen castas der Stadt erreichen.127 Gálvez hatte nach einer Rebellion in der Stadt u.a. diese Vorschrift verfassen lassen, um die Indigenen von der übrigen Bevölkerung zu unterscheiden. Indios sollten ein bestimmtes Gewand (tilma) und einen bestimmten Haarschnitt (balcarrota descubierta) tragen. Mit dem für die Spanier typischen Mantel (capote de españoles) sollten sie sich nicht kleiden, da man sie sonst mit den mestizos und mulatos verwechseln könne. Die Frauen sollten ihre bestickten Gewänder (huipiles) tragen.128 Wie auch dieser Versuch der Implementierung von Kleidervorschriften zeigt, war es aus Sicht der Verwaltung im städtischen Guanajuato schwierig, die calidad einer Person zu bestimmen. Ob Personen bei ihren Versuchen, die Zuschreibung durch Tributeintreiber, Richter und andere Autoritäten zu beeinflussen, erfolgreich waren, hing in erster Linie von deren Plausibilitätskriterien und Interessen ab. In der neueren Forschung wird häufig betont, dass das kolonialzeitliche Verständnis der calidad recht unscharf und flexibel war. Es hat demgegenüber kaum Versuche gegeben, die Logik der Zuschreibung der calidad systematischer zu erfassen. Das Verständnis der calidad soll im Folgenden genauer geklärt werden, indem die Bedeutung von (vermeintlicher) Abstammung und lokaler Reputation herausgearbeitet wird. Vertreter der kolonialen Verwaltung waren zu ihrer Orientierung auf Kriterien angewiesen, wenn sie die calidad einer Person bestimmen mussten. Schriftliche Abstammungsbelege lagen häufig nicht vor, denn zur Konsultierung des Taufregisters kam es nur, wenn die Einschätzung der Verwaltungsbeamten nicht mit der Selbstidentifizierung einer Person übereinstimmte. Wenn Informationen zur Abstammung einer Person nicht unmittelbar zugänglich waren, orientierten sich Verwaltungsbeamte oft zunächst an äußeren, insbesondere an phänotypischen, Merkmalen. Dies spricht dafür, dass Abstammung für das Verständnis der calidad ein ausschlaggebendes Kriterium war. Der Phänotyp war innerhalb der Bevölkerung vor allem für die Einordnung unbekannter Personen relevant, verlor aber bei bekannten Personen, so Cope, an Relevanz.129 Während in der älteren Forschung bisweilen gar von einer
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Ebenda, f. 221. Zitat: „los que se supongan de otras castas, ó estado del que por su nacimiento les corresponda en la republica“. Ebenda, fs. 218-222. Ebenda, f. 219. Cope, The Limits, 1994, S. 52.
Verwaltungspraxis und die Dimensionen der calidad um 1800
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„Pigmentokratie“ gesprochen wurde,130 hat der Phänotyp als Kriterium der calidad in der neueren Forschungsdiskussion zum kolonialen Mexiko kaum Beachtung gefunden. Ein Grund hierfür ist, dass die Wahrnehmung des Phänotyps vor allem auf einer oberflächlichen Ebene der Zuschreibung von Bedeutung war, die kaum schriftlichen Niederschlag fand. Kam es zu Konflikten und Nachforschungen, wurde anderen Indizien, wie beispielsweise Taufurkunden, eine wesentlich größere Beweiskraft zugebilligt. Historiker haben sich zur Untersuchung der Bedeutung und Kriterien der calidad oft auf die Dokumentation zu derartigen Nachforschungen gestützt. Der zweite mögliche Grund für die geringe Thematisierung des Phänotyps ist, dass Historiker schweigend vorausgesetzt haben, der Phänotyp spiele eine Rolle, auch wenn er in den Quellen kaum auftaucht.131 Der Phänotyp war nicht per se ein entscheidendes Kriterium der calidad. Vielmehr war er in seiner rechtlichen Stichhaltigkeit äußerst umstritten und seine Beweiskraft war schwächer als die vieler anderer Kriterien. Trotzdem war es ein Kriterium, an dem die Versuche der Akteure, die calidad neu zu verhandeln, oft scheiterten, denn es diente der kolonialen Verwaltung oft als erstes Orientierungskriterium. So gab sich in Guanajuato im Jahr 1781 ein Mann als Indigener aus, um den Tribut für unverheiratete indios zu zahlen.132 Er hatte jedoch laut Tributeintreiber (recaudador de tributos) „das Aussehen eines Mulato“133 und gab schließlich zu, ebenso wie sein Vater mulato zu sein. Aufgrund des Aussehens (presencia) – also aufgrund des Phänotyps – hatte die Selbstidentifizierung als indio den Tributeintreiber nicht überzeugt.
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Lipschütz hatte 1944 den Begriff Pigmentokratie an die spanischen kolonialen Gesellschaften angelegt und damit nahegelegt, dass Phänotyp das zentrale Kriterium sozialer Differenzierung gewesen sei (Lipschütz, Alexander: El indoamericanismo y el problema racial en las Américas, Santiago, Chile 1944, S. 72). León hatte 1924 bereits versucht, das sistema de castas mit den biologistischen Perspektiven des frühen 20. Jahrhunderts zu erfassen. So definierte er die europäische, die indigene amerikanische und die afrikanische Bevölkerung als „razas o troncos primordiales“ und berechnete für jede Kategorie des sistema de castas die vermeintliche Zusammensetzung ihres Blutes in prozentualen Angaben (León, Las castas, 1924, S. 16, 21, Abbildungen nach S. 20). Gonzalo Aguirre Beltrán sah ebenfalls Phänotyp als zentrales Unterscheidungsmerkmal an: Aguirre Beltrán, La población, 1972, S. 163. Irene Diggs und Mörner griffen den von Lipschütz geprägten Begriff der Pigmentokratie auf: Diggs, Color, 1953, S. 405; Mörner, Race Mixture, 1967, S. 54, 56. In fachlichen Diskussionen auf Tagungen findet sich kaum ein/e KolonialzeithistorikerIn, der/die von der Bedeutung des Phänotyps überrascht ist. „Testim[oni]o del Exped[ient]te formado a representac[i]on del Sr. Conde de Valenciana Just[íci]a ma[y]or de la ciudad de S[an]ta Feé R[ea]l de Minas de Guanajuato, con el fin, de que los Mulatos no se disimulen, ó se supongan Indios […]“, AGN, Tributos, vol. 44, exp. 9, hier: f. 219v. Ebenda. Zitat: „presencia de Mulato“.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Der Schneider Francisco Marciano wurde in der Stadt Puebla 1796 aufgefordert, den indio-Tribut zu zahlen, gab aber an, Spanier zu sein. Marciano weigerte sich außerdem, schriftliche Belege einzuholen, da er sich das aufgrund seiner Armut nicht leisten könne.134 Der Tributverwalter zweifelte sehr an der Aussage des Mannes, denn er meinte, „sein Aussehen und seine Erscheinung sind verdächtig“, und begründete die Einforderung des Tributs folgendermaßen: „Wegen jenem Bedenken, das sich an seiner äußeren Erscheinung festmacht, musste ich von ihm den Betrag einziehen“.135 Äußere Merkmale zählten offenbar zu den ersten, die der Tributverwalter bei der Zuweisung der calidad zur Hilfe genommen hatte. Hier wurden phänotypische Merkmale („aspecto“), aber – wie die Begriffe „porte“ und „representación exterior“ belegen – auch Kleidung und die gesamte äußere Erscheinung als Indikatoren der calidad gewertet. Die Aussage des Tributverwalters wurde später wie folgt resümiert: „Er sagt, dass das Aussehen und die Erscheinung von Francisco Marciano die eines Tributpflichtigen sind“.136 Der Status des Tributpflichtigen verband sich also mit bestimmten äußeren Merkmalen. Marciano wurde schließlich aufgrund der Zeugenaussagen als Spanier kategorisiert und von der Tributpflicht befreit. Seine Taufurkunde wurde scheinbar nicht konsultiert. Da der Phänotyp von Kronbeamten als Kriterium eingesetzt wurde, versuchten Akteure dieses Kriterium auch zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen. Felipe de Jesús Roxas aus Chachapalcingo, Distrikt Amozoc, sollte 1791 zur Tributzahlung gezwungen werden, nachdem man ihn aus dem pardo-Regiment entlassen hatte.137 Denn er war nicht pardo, also Afroamerikaner, sondern, wie er selbst es begründete, „von der calidad her mestizo, wie mein Aussehen zeigt“138. Obwohl Roxas der Meinung war, man sehe ihm an, dass er mestizo sei, sah der Tributeintreiber die Einziehung des indio-Tributs als gerechtfertigt an. Letzterer meinte, seine „helle Farbe“ könne Roxas nicht von der Zahlung befreien, denn der Tributeintreiber war über die calidad von Roxas’ Eltern informiert, gemäß der er kein mestizo war.139 Phänotypische Kennzeichen wurden also von Roxas vorgebracht, aber vom Tributeintreiber nicht anerkannt. Dieser war über die Abstammung Roxas’ informiert und hielt dessen Hautfarbe daher für irrelevant. 134 135 136 137
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„Francisco Marciano para que se le releve del pago de tributos por ser de calidad español“ (1796), in AHJP, exp. 6610. Ebenda. Zitate: „su aspecto y porte son sospechosos“; „Aquella duda que manifiesta su exterior representacion me obligó á formarle el cargo“. Ebenda. Zitat: „Dice, que el aspecto y porte de Fran[cisc]co Marciano [son] de Tributario“. „Amozoc. Chachapalzingo. Jesús Roxas […] que por haber sido borrado de las listas del Regimiento de Pardos, por no serle y sí de calidad mestizo, no tiene el Subdelegado porque cobrarle tributo“, in AHJP, exp. 5634. Ebenda. Zitat: „de calidad mestiso, como mi propio aspecto demuestra“. Ebenda. Zitat: „Color Clara“.
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Für das Verhältnis zwischen Phänotyp und Abstammung ist die Zuweisung der calidad im Fall von Findelkindern besonders aufschlussreich. Wie oben erwähnt registrierten Priester Findelkinder häufig ohne calidad, was jedoch längst nicht überall gängige Praxis war. Häufig wurde Findelkindern trotz unbekannter Eltern eine calidad zugewiesen. Beispielsweise wurde Jacinto José López im Taufregister 1760 als mestizo registriert, wenngleich dort vermerkt war, dass seine Eltern nicht bekannt seien.140 Auch im Taufregister von Yautepec, Distrikt Cuernavaca, findet sich für das Jahr 1821 der Eintrag eines Kindes als mulato von unbekannten Eltern, und über die unbekannten Eltern eines weiteren Findelkindes mutmaßte der Priester „scheinbar mulatos“.141 Hier wurde offenbar von äußeren Merkmalen auf die Abstammung der Person geschlossen. Phänotypische Merkmale spielten hier höchstwahrscheinlich eine Rolle, aber es ist nicht auszuschließen, dass beispielsweise der Fundort des Findelkindes oder dessen Finder und eine etwaige Adoptionsfamilie für die Kategorisierung ebenfalls eine Rolle spielten. Erwachsene versuchten bisweilen der Tributeinziehung zu entkommen, indem sie sich als Findelkinder ausgaben. In Mexiko-Stadt sollte der Schmiedemeister Francisco Prieto, aufgewachsen bei einem pardo, einem „stellvertretenden Kapitän der pardo-Kompanie“, 1797 zum ersten Mal den pardo-Tribut zahlen. Er gab jedoch an, von unbekannten Eltern zu sein.142 Er versuchte damit offenbar einen königlichen Erlass aus dem Jahr 1794 für sich zu nutzen, der vorsah, dass erwachsene Findelkinder (expósitos) in zivilen Belangen „wie gute Menschen des unteren Standes“, d.h. wie gewöhnliche nicht-adelige Spanier, zu behandeln seien.143 Es stellte sich damit bei der Tributeinziehung die Frage, wie mit jenen expósitos umzugehen sei, „die unbestreitbar in ihrer Erscheinung, Farbe und äußeren Merkmalen zeigen, dass sie Pardos und andere
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„Formado a instancia de D. Jacinto José Lopez sobre relevación de tributo“ (Valladolid, 1806), AGN, Indiferente Virreinal, caja 4038, exp. 003, f. 7. AGN, Colección Microfilm, Yautepec Bautismos, LRO. 2092, 36783, vol. 28-32. Zitat: „al parecer mulatos“. „Ocurso de D. Francisco Prieto Maestro de Herreros, sobre execcion de Tributo“ (17971798), AGN, Tributos, vol. 55, exp. 11, fs. 299-329. Zitat: „Theniente de Capitán […] de la Compañia de Pardos“. Ebenda. Zitat: „hombres buenos del estado llano“. Durch diese königliche Verordnung (real cédula) aus dem Jahr 1794 wurde angeordnet „que todos los expósitos de ambos sexos existentes y futuros expuestos en las Inclusas o casas de caridad como las de cualquier otro paraje y no tengan padres conocidos sean tenidos por legítimos para todos los efectos civiles, deben quedar como hombres buenos del estado llano gozando de propios honores y llevando las cargas sin diferencia de los demás vasallos“. Zitiert nach Villanueva Colín, Guadalupe Margarita: Marco jurídico y social de los expósitos en el derecho novohispano, in: Anuario Mexicano de Historia del Derecho X (1998), S. 785– 796, S. 794.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Castas sind“144. Mittels seiner Taufurkunde und zahlreicher Zeugenaussagen gelang es Prieto, seinen Status als Findelkind zu belegen. Aufgrund dieser Zeugenaussagen und der Verordnung wurde er schließlich von der Tributpflicht befreit.145 Francisco Prieto war kein Einzelfall. Im Jahr 1799 entbrannte innerhalb der höchsten Ränge der vizeköniglichen Verwaltung Neuspaniens ein Streit um die Kategorisierung von erwachsenen Findelkindern. Schließlich waren Menschen, deren Abstammung unbekannt war, für die koloniale Verwaltung ein Problem. Inwiefern durften und sollten phänotypische Merkmale bei der Bestimmung der calidad berücksichtigt werden, wenn jegliche Informationen zu den Eltern fehlten? Bei der Einziehung des Tributs in San Juan, einem Stadtteil MexikoStadts, war dasselbe Problem mehrfach aufgetaucht. José Jiménez, der hier mit der Tributeinziehung betraut war, wollte die königliche Verordnung nicht einfach auf alle Personen anwenden, die sich als Findelkinder identifizierten. Er schilderte sein Problem folgendermaßen: Wenn alle diejenigen, die ich bisher gesehen habe, von einem Aussehen gewesen wären, das zwanglos dazu Anlass gäbe zu glauben, dass sie zu denen gehören, die sich der Privilegien der genannten königlichen Urkunde erfreuen sollen, hätte ich nicht gezögert, sie zu behandeln wie die guten Menschen des unteren Standes [estado llano]; aber da Einige unverwechselbare Merkmale von Pardos und Mulatos haben, habe ich gezweifelt und um eine Entscheidung oder Regelung gebeten, die ich nicht gefunden habe.146
Äußere Merkmale ließen ihn offensichtlich daran zweifeln, dass die betroffenen Personen in der genannten Verordnung mit inbegriffen seien und wirklich dem estado llano zugerechnet werden dürften. Mit estado llano waren hier nicht-adelige Spanier gemeint. Jiménez führte sogar aus, er hätte die Verordnung bei anderen äußeren Merkmalen ohne Umschweife angewendet. Menschen, die sich als Findelkinder bezeichneten, aber nach phänotypischen Merkmalen wie pardos oder mulatos aussahen, konnten in der Verordnung seiner Auffassung nach nicht gemeint sein. Der Buchhalter (contador de retazas) Ordoñez sah die Berücksichtigung phänotypischer Merkmale im Falle der „Findelkinder, die das Aussehen 144
145 146
„Ocurso de D. Francisco Prieto“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 11, hier: fs. 302v-303. Zitat: „q[ue] […] manifiestan innegablemente en su representacion color y señales exteriores q[ue] son Pardos y otras castas“. AGN, Tributos, vol. 55, exp. 11, f. 318-318v, 321. „Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, fs. 330-368, hier fs. 336-336v. „Si los que he visto hasta ahora, hubieran sido todos de un aspecto que sin violencia inclinase á creerlos comprehendidos en los que deban gozar los privilegios de la referida Real Cedula, no me habria detenido en reputarlos de la clase de hombres buenos del estado llano general; pero como algunos tienen senales inequivocas de Pardos o Mulatos, he dudado y solicitado decision o regla, que no encontré.“
Verwaltungspraxis und die Dimensionen der calidad um 1800
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eines Tributpflichtigen haben“147 im März 1800 als vollkommen legitim an. In seiner Einschätzung der Anfrage Jiménez’ schrieb er: Unter diesen Umständen bin ich der Meinung, dass die Findelkinder schwarzer Farbe, die keinen Zweifel an ihrer Calidad lassen, jene von gelbbrauner Farbe, bei denen es ebenfalls keinen gibt, dass sie Indios sind, und jene, die in ihrer Farbe, ihrem Haar und ihrer Physiognomie offensichtlich Mulatos sind, oder eine der anderen Castas, die aus der Mischung mit Negros stammen, Tribut zahlen. Alle anderen, bei denen man zweifelt, ob sie zur Kategorie der Tributzahler gehören oder nicht, sollen als ausgenommen betrachtet werden; […].148
Für Ordoñez war der Phänotyp ein legitimes Kriterium zur Rekonstruktion der Abstammung einer Person und er zeigte in einigen Fällen sogar ohne jeglichen Zweifel die calidad einer Person an.149 Der fiscal de real hacienda schloss sich im März 1801 der Position Ordoñez’ an, denn dieser Vorschlag spiegelte die Praxis der kolonialen Verwaltung wider: Dieses Vorgehen stimmt am besten mit der Methode und dem System überein, gemäß denen die Erhebung und Einziehung des Tributs in diesem Königreich organisiert ist, und mit den Regeln, die bei der Erstellung der Matriculas [Listen der Tributpflichtigen] befolgt werden. In ihnen werden für gewöhnlich jene Individuen als Tributzahler registriert, die es aufgrund der genannten Merkmale sind: Daher müssen normalerweise jene, die nicht als Spanier oder einer anderen ausgenommenen Calidad zugehörig betrachtet werden, auch wenn sie keinen Tribut zahlen oder niemals registriert waren, mit dem entsprechenden Ausdruck registriert werden […].150
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Ebenda. Zitat: „Expositos de figura tributaria“. Ebenda, f. 340v. Zitat: „En tales circunstancias soy de opinion de q[u]e tributen los Expósitos de color negro que no dexen duda de su calidad, los de color bazo en que tampoco la haya de ser Indios, y los que en su color, pelo y fisonomía sean conocidamente Mulatos, ú otra de las castas que proceden de la mezcla de Negros. Todos los demás de quienes se dude si son ó nó de clase tributaria, deben considerarse exentos; [...].“ Max Hering Torres spricht in einem solchen Fall von einer „genealogischen Somatisierung“ („somatización genealógica“): Hering Torres, Max S.: Color, pureza, raza: la calidad de los sujetos coloniales, in: Heraclio Bonilla (Hrsg.), La cuestión colonial, Bogotá 2011, S. 451–470, S. 459. „Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, f. 349v-350. Zitat: „Este medio es el mas arreglado, y conforme al metodo y sistema conque se halla establecida la cobranza y recaudacion del Tributo en este Reyno, y á las reglas que se observan p[ar]a la formacion de las Matriculas. En ellas se practica comunmente Empadronar como contribuyentes a los Individuos q[u]e por las senales insinuados manifiestan serlo: Demanera que por eso regularmente los que no son reputados por Españoles o de otra calidad exempta, aunque esten en pocecion de no pagar Tributo, ni hallan sido antes alistados, deben matricularse con la exprecion correspondiente [...].“
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Diese Aussage deckt sich mit einem Befund María Elena Martínez’ zu Verfahren der limpieza de sangre. Sie schreibt, dass phänotypische Merkmale bei Untersuchungen zur limpieza de sangre mit der Epoche der Aufklärung wichtiger wurden. In den Amerikas zirkulierten diverse Theorien zur Erklärung unterschiedlicher phänotypischer Merkmale.151 Mit dem Versuch, den Phänotyp rechtlich als Merkmal der calidad zu etablieren, hatte der Buchhalter Ordoñez versucht, den Aushandlungsspielraum der calidad zuungunsten der vermeintlichen Findelkinder einzuschränken. Bei einer zu großzügigen Auslegung der Verordnung würden sich viele Tributpflichtige, so befürchtete er, als Findelkinder ausgeben, um nicht zahlen zu müssen.152 In der Tat war der Konflikt um die Interpretation phänotypischer Merkmale bei der Registrierung von Findelkindern ausgelöst worden, weil sich viele Menschen im Stadtteil San Juan auf eben diese Verordnung berufen hatten. Der Phänotyp als Indikator der calidad war schon aus Sicht der kolonialen Verwaltung äußerst umstritten. Die mesa de memorias y alcances, ein für die Finanzverwaltung im Vizekönigreich zuständiges Gremium,153 kritisierte in einem Schreiben vom August 1800 das vom Buchhalter Ordoñez vorgeschlagene Vorgehen aufs Schärfste. Sie zweifelte die rechtliche Stichhaltigkeit des Kriteriums Hautfarbe zur Bestimmung der calidad an und betonte die Bedeutung der Geburt, denn die Gesetze „befahlen nicht, dass man nach Farben und Aussehen urteilen solle, sondern nach naturaleza“154. Zudem lag die Beweislast nach Meinung des Gremiums bei der Verwaltung und nicht bei den vermeintlichen Tributpflichtigen. Die von Ordoñez vertretene Physiognomik sei „tollkühn“ und außerdem wissenschaftlich widerlegt: „Die Anti-Physiognomiker beweisen die Falschheit des Systems anhand praktischer Tatsachen, bei denen die äußeren Merkmale der Körper nicht mit den Qualitäten der Seelen übereinstimmen.“155 Einige Akteure innerhalb der kolonialen Verwaltung verstanden die calidad offensichtlich als ein Konzept, das auch etwas über die moralischen Qualitäten einer Person aussagte. Menschen konnten nach diesem Verständnis nach einer bestimmten calidad aussehen, aber ihrer Seele nach zu urteilen von einer anderen 151 152 153
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Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 248-249. „Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, f. 340v. Zu den verschiedenen Ämtern und Gremien in der Finanzverwaltung siehe Jáuregui, Luis: La Real Hacienda de Nueva España, su administración en la época de los intendentes, 1786-1821, México 1999, hier: S. 97. „Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, f. 343. Zitat: „Estas [las leyes, D.G.] no mandaban que se jusgue por los colores y aspectos sino por las naturalezas“. Ebenda, f. 344v-145. Zitate: „temerario“; „Los Anti-Phisionomistas prueban la falcedad del sistema con hechos practicos en que no concuerdan las señales extrinsecas de los cuerpos con las qualidades de las Almas [...].“
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sein. Offenbar spielten für die Wahrnehmung der calidad auch wissenschaftliche Theorien wie die Physiognomik eine Rolle, in der körperliche Merkmale als Indizien für Charaktereigenschaften interpretiert wurden.156 Interessanterweise ging die Mesa de memorias davon aus, dass die Abstammung in der Tat über die calidad entschied, aber calidad gleichzeitig etwas über moralische Qualitäten aussagte. Während für den Buchhalter phänotypische Merkmale, Abstammung und calidad miteinander verknüpft waren, waren für die Mesa de memorias Abstammung, moralische Qualitäten und calidad miteinander verbunden. In der Tat setzte sich diese Position selbst gegen die Stellungnahme des fiscal de real hacienda durch, denn die junta superior de real hacienda entschied im April 1801, dass die Findelkinder generell von der Zahlung des Tributs auszuschließen seien: „Das Argument der Hautfarbe ist sehr fehlbar“157. Die Hautfarbe definierte im Verständnis der kolonialen Verwaltung nicht die calidad, sondern war lediglich ein Indiz für sie. Die Unzuverlässigkeit äußerer Merkmale als Indizien der calidad hatte selbst Ordoñez eingeräumt: „Die Calidad aller Findelkinder zu ermitteln, bei denen es oft eine Mischung von Spaniern, Indios und Mulatos gibt, erscheint unmöglich.“158 Auch in anderen Regionen Neuspaniens gaben Verwaltungsbeamte um 1800 an, dass der Phänotyp kein zuverlässiges Merkmal der calidad war.159 Peter Wade beobachtete, dass Afroamerikaner heute eher mit race und phänotypischen Merkmalen assoziiert werden, Indigene dagegen eher mit Ethnizität und kulturellen Merkmalen. Er betont jedoch, historisch seien auch Indigene als race-Kategorie verstanden worden.160 Es ist fragwürdig, ob der Begriff race sinnvoll für die Frühe Neuzeit verwendet werden kann, doch bestätigt der behandelte Fall im Prinzip Wades Feststellung. Zwar war der Konflikt über den Umgang mit phänotypischen Merkmalen im Umgang mit Personen aufgetaucht, die der Tribueintreiber als pardos und mulatos betrachtete, aber auch die Kategorie indio wurde mit phänotypischen Merkmalen assoziiert, wie in Ordoñez’Äußerung deutlich wurde. Auch der diskutierte Fall von Felipe de Jesús Roxas, der mit seiner Hautfarbe argumentierte, um nicht als indio, sondern als mestizo anerkannt zu werden, belegt dies. Eine besondere Relevanz phänotypischer Merkmale für Kategorien afrikanischer Abstammung kann also nicht belegt werden. Im Ganzen war der Phänotyp ein äußerst unscharfes und um156
157 158 159 160
Vgl. Kanz, Roland/Sieglerschmidt, Jörn: Physiognomik, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Darmstadt 2005, Sp. 1181–1188; zur Physiognomik im frühneuzeitlichen Spanien: Baroja, Julio Caro: La cara, espejo del alma. Historia de la fisiognómica, Barcelona 1987, Kap. VI und VII. AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, f. 353. Zitat: „el fundamento del color es mui falible“. Ebenda, f. 340v. Zitat: „Conocer la [calidad, D.G.] de todos los Expósitos donde hay mezcla freqüente de Españoles, Indios y Mulatos, parece imposible.“ Vgl. Gabbert, Becoming Maya, 2004, S. 21; Aguirre Beltrán, La población, 1972, S. 175. Wade, Race, 2010, S. 37-38.
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strittenes Kriterium der calidad. Seine Bedeutung in der Praxis zeigt aber, dass die Abstammung aus Sicht der kolonialen Verwaltung zentral für die calidad war. Im Prinzip sollte die Abstammung über den rechtlichen und sozialen Status einer Person im spanischen Königreich bestimmen. In den Nachforschungen der spanischen Verwaltung zur calidad spielten äußere Merkmale, insbesondere der Phänotyp, kaum eine Rolle. Wie schon in den Verfahren zur limpieza de sangre auf der spanischen Halbinsel161 wurden in Neuspanien im 18. Jahrhundert nicht nur schriftliche Belege konsultiert, sondern auch Personen aus dem sozialen Umfeld der betreffenden Person nach der calidad der Person befragt.162 Üblicherweise wurden Pfarrregister, zunächst Heiratsregister163 und im 18. Jahrhundert vermehrt Taufregister wie auch Tributlisten einbezogen. Die Zeugen wurden nach der Abstammung der infrage stehenden Person und ihrer Reputation befragt. Den Zeugenbefragungen ist in der Forschung allerdings bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Welche Informationen erhofften sich Kronbeamte von einer Befragung und welche Funktion erfüllte diese innerhalb der Verfahren zur Bestimmung der calidad? Kronbeamte konnten durch eine Zeugenbefragung nur sehr indirekt Informationen zu den Abstammungslinien einer Person sammeln. Sie erkundigten sich nach den Eltern, aber nur in seltenen Fällen nach der calidad der Großeltern; scheinbar nur dann, wenn die calidad eines Elternteils ungeklärt blieb.164 Kronbeamte mussten gegenüber den ihnen präsentierten Zeugen skeptisch sein, schließlich wurden diese von den infrage stehenden Personen selbst ausgewählt und konnten daher leicht beeinflusst werden.165 Die Kronbeamten fragten zwar nach den Eltern, also der Abstammung einer Person, aber wurden dadurch vor allem über die Reputation einer Familie informiert. Sie machten sich ein Bild von der sozialen Anerkennung einer Familie auf lokaler Ebene und nahmen sie als Kriterium für die Bestimmung der calidad. Dieses Vorgehen weist deutliche Parallelen zur Feststellung der limpieza de sangre auf der Iberischen Halbinsel im 16. Jahrhundert auf. Auch hier wurden neben schriftlichen Belegen häufig Zeugen zurate gezogen. Nach Martínez hatten solche Befragungen die Funktion, die Meinung der übrigen Gemeindebewohner, d.h. die Reputation der infrage stehenden Person, zu ermitteln. Häufig habe die Reputation einer Person schwerer gewogen als die 161 162 163 164 165
Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 74. Vgl. Cope, The Limits, 1994, S. 53-55; Tavárez, Legally Indian, 2009, S. 87. Cope, The Limits, 1994, S. 55. So z.B. im Fall von Juan George Rodríguez. „Diligencias sobre legitimidad de Juan George Rodriguez“ (1782), AGN, Indiferente Virreinal, caja 0192, exp. 011, f. 20-21v. So z.B. Fall von Francisco Prieto. „Ocurso de D. Francisco Prieto Maestro de Herreros, sobre execcion de Tributo“ (1797-1798), AGN, Tributos, vol. 55, exp. 11, fs. 299-329, hier: fs. 306-310.
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vorliegenden Abstammungsbelege.166 Kronbeamte wollten also durch Zeugenaussagen die Reputation einer Person und ihrer Familie einschätzen. Die gängigen Formeln, mit denen die auf lokaler Ebene zuerkannte Kategorie in den Protokollen der Zeugenaussagen abgefragt und angegeben wurde, lassen erkennen, dass es dabei um die allgemeine Wahrnehmung der Person ging. Über den Vater von Francisco Marciano sagte ein Zeuge 1796, „dass er ihn als Spanier kannte“; ein anderer äußerte bezüglich der Eltern, „dass alle in Puebla sie als Spanier kannten und erachteten“, und „dass sie nie als Tributpflichtige betrachtet wurden“.167 Verbreitete Formulierungen waren „betrachtet und erachtet als“168, „bekannt und erachtet als“169, „er kannte ihn als“170 oder „wahrgenommen und bekannt als”171. Die Thematisierung der Tributpflicht von Marcianos Eltern zeigt, dass die Reputation nicht nur den sozialen Rang einer Person berücksichtigte. Sie konnte sich auch auf deren Rechtsstatus beziehen, denn man konnte offenbar als Tributpflichtiger (tributario) gelten. In der Reputation einer Person spielten also verschiedene Dimensionen eine Rolle. Einerseits basierte das Urteil von Verwaltungsbeamten auf Informationen über die lokale Reputation einer Person und die Zuschreibungen ihres sozialen Umfelds. Andererseits waren diese lokalen Zuschreibungen davon abhängig, welchen Status eine Person aus Sicht der Verwaltungsakteure hatte. Wer keinen Tribut zahlte, wurde als nicht tributpflichtig wahrgenommen und damit auf lokaler Ebene mit einer entsprechenden calidad assoziiert. Das spanische Verb reputar meinte eine Tätigkeit derjenigen Personen, die eine Zuschreibung gegenüber einer anderen Person vornahmen. Diese Zuschreibung fand in den sozialen Interaktionen mit der betreffenden Person ihren Ausdruck. Dabei konnte es sich um Zuschreibungen innerhalb einer Gemeinde handeln, aber das Verb bezog sich nicht nur auf die soziale Reputa166 167
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Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 180. „Francisco Marciano para que se le releve del pago de tributos por ser de calidad español“ (1796), AHJP, exp. 6610. Zitate: „que lo conoció por español“; „Que [...] todos los de Puebla conocian, y reputaban por Españoles“;„que jamás fueron tenidos por Tributarios“. Siehe z.B. „Huauchinango […] informacion sobre condicion de castizo“ (1803), AHJP, exp. 7638. Zitat: „tenidos y reputados por“. Siehe z.B. „Diligencias sobre legitimidad de Juan George Rodriguez“ (1782), AGN, Indiferente Virreinal, caja 0192, exp. 011, fs. 20-21v. Es handelte sich um eine Aussage über den Vater. Zitat: „conocidos y reputados por“. Siehe z.B. [Valladolid. Compendio de informes, en los cuales existen peticiones de diversos personajes] (1790), AGN, Indiferente Virreinal, caja 4038, exp. 003, fs. 8v-11. Zitat: „lo conoció por“. „San Salvador el Seco. Formados por Macela Ramirez de Arellano, sovre exceptuarse de la contribución de tributos de San Salvador el Ceco“ (1790), AHJP, exp. 5407. Es handelte sich um eine Aussage über die Vorfahren. Zitat: „recividos y conocidos, por“.
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tion und den Ruf einer Person. Reputar konnte im Fall der spanischen Verwaltung auch so viel bedeuten wie jemandem einen bestimmten rechtlichen Status zuzuschreiben und ihn entsprechend zu behandeln. Das zeigt sich beispielsweise an dem obigen Zitat des genannten Tributeinziehers José Jiménez, der bei einigen expósitos gezögert hatte, „sie zu behandeln [reputarlos] wie die guten Menschen des unteren Standes“172. Auch durch den entsprechenden Eintrag im Diccionario de la lengua castellana von 1817 wird das bestätigt. Das Verb reputar meinte „schätzen, beurteilen oder [sich] einen Begriff vom Zustand oder der Beschaffenheit einer Sache zu machen.”173 Die Reputation einer Person in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld und die Reputation einer Person gegenüber der kolonialen Verwaltung waren also untrennbar miteinander verknüpft und bedingten sich gegenseitig. Auch die Auswahl der Zeugen wurde von Kronbeamten vermutlich berücksichtigt, wenn es um die Bestimmung der calidad ging, denn die Personen, die als Spanier anerkannt werden wollten, bemühten sich um Zeugen, die möglichst selbst Spanier waren. Marciano stellte vier Spanier und einen mulato vor, die seine calidad als Spanier bestätigen sollten.174 Juan George Rodriguez wehrte sich gegen seine Registrierung als mulato und ließ zur Bestätigung seiner calidad als Spanier drei Spanier aussagen.175 Auch José Jacinto López, der sich gegen seine Kategorisierung als mestizo wehrte und behauptete, ein Findelkind zu sein, ließ dies durch vier Spanier bestätigen.176 Die Auswahl dieser Zeugen hatte sicher einen Grund darin, dass Spanier in den Augen der Kronbeamten eine höhere Glaubwürdigkeit hatten. Die Personen, deren calidad zur Debatte stand, hatten außerdem mit der Auswahl der Zeugen die Möglichkeit, den Kronbeamten ihr soziales Umfeld zu präsentieren oder zumindest zu zeigen, dass sie Zugang zu angesehenen Personen hatten. Die große Bedeutung der lokalen Reputation für die Zuschreibung durch Verwaltungsakteure führte dazu, dass das soziale Umfeld einer Person eine hohe Definitionsmacht über die calidad gewann. Das wird an einer Beschwerde aus dem Jahr 1794 deutlich. Ein Verwaltungsbeamter berichtete von der Ge172
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„Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, fs. 330-368, hier fs. 336-336v. Zitat: „reputarlos de la clase de hombres buenos del estado llano general“. Real Academia Española: Diccionario de la lengua castellana por la Real Academia Española, Madrid 1817. Zitat: „Estimar, juzgar ó hacer concepto del estado ó calidad de alguna cosa.“ „Francisco Marciano para que se le releve del pago de tributos por ser de calidad español“ (1796), AHJP, exp. 06610. „Diligencias sobre legitimidad de Juan George Rodriguez“ (1782), AGN, Indiferente Virreinal, caja 0192, exp. 011, fs. 16-17v. „Formado a instancia de D. Jacinto José Lopez sobre relevación de tributo“ (Valladolid, 1806), AGN, Indiferente Virreinal, caja 4038, exp. 003, fs. 8v-12.
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meinde Huejotzingo, sehr viele Indigene hätten sich in der Vergangenheit erfolgreich gegen die Zahlung des Tributs gewehrt, indem sie sich als Kaziken (caciques), d.h. als indigene Adelige, ausgaben.177 Kaziken genossen einen rechtlichen Sonderstatus innerhalb der indigenen Bevölkerung, denn sie waren nicht zur Zahlung des indio-Tributs verpflichtet. Die Selbstidentifizierungen als Kaziken waren lediglich durch die Aussage anderer Personen belegt. Er berichtete von einer: großen Anzahl an Indios, die sich – ohne andere Grundlage als ihre Aussage und die Unterstützung ihrer Anhänger – der Befreiung von der Tributpflicht gegenüber dem Souverän erfreuen, und zwar auf Grundlage des Kaziken-Titels […].178
Die Reputation war in einigen Fällen höher zu bewerten als der Phänotyp, das scheint in der kolonialen Verwaltung Konsens gewesen zu sein. Denn selbst der Buchhalter Ordoñez, der 1801 in Mexiko-Stadt die Orientierung an äußeren Merkmalen vehement verteidigt hatte, vertrat diese Meinung. Die äußerlich als solche erkennbaren Tributpflichtigen sollten prinzipiell zahlen, es sei denn „aufgrund von Bekanntheit und besonderen Eigenschaften der Person, habe sie den Ruf adelig oder blutrein oder – im Fall der Indios – Kazike zu sein.“179 Hier wird wiederum deutlich, dass in Neuspanien viele Menschen lebten, die afrikanischer Abstammung waren, aber nicht in Kategorien afrikanischer Abstammung erfasst wurden. Die kolonialen Gesetze sahen im späten 18. Jahrhundert sogar ausdrücklich vor, dass Afroamerikaner den rechtlichen Status eines Spaniers bei der Krone beantragen konnten. Diese Regelung existierte zwischen 1760 und 1808 und wird in der Forschungsliteratur häufig als die Praxis des gracias al sacar bezeichnet. Um den Status eines Spaniers zu erhalten mussten Afroamerikaner eine beträchtliche Summe Geld an die Krone entrichten. Ihren Anträgen fügten sie Ausführungen über ihr Leben wie auch Referenzschreiben anderer Personen bei.180 Es handelte sich hier also um eine Einnahmequelle für die Krone. Durch 177
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„Expediente de consulta que haze D. Cristobal Blanco como comicionado, para Matricula de Tributos del Partido de Huexotzingo, sobre el excesivo numero de indios que quieren ecepcionarse a título de Casiques“ (1794), AHJP, exp. 06266. Ebenda. Zitat: „quantioso numero de Indios, que sin mas justificacion que su dicho, y el apoyo de sus parciales, han estado disfrutando de la esencion de tributar al soberano, a titulo de Caziques [...].“ AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, fs. 350v-351. Zitat: „por notoriedad, y particulares circunstancias del Individuo [este, D.G.] esté en reputación de Noble ó de limpia Sangre, ó de Casique siendo Indios.“ Zur rechtlichen Anerkennung von Afroamerikanern als Spanier durch die gracias al sacar siehe: Twinam, Ann: Purchasing Whiteness. Conversations on the Essence of Pardo-ness and Mulatto-ness at the End of Empire, in: Andrew B. Fisher/Matthew D. O’Hara (Hrsg.), Imperial Subjects. Race and Identity in Colonial Latin America, Durham 2009, S. 141–165, hier insb. S. 141. Allerdings war die rechtliche Anerkennung eines Afroameri-
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den Preis dieser königlichen Gnade und die Tatsache, dass hier Referenzschreiben vorgelegt wurden, wird deutlich, dass der soziale Status einer Person ausschlaggebend war. Für die indigene Bevölkerung existierte eine solche Regelung nicht. Das ist nicht verwunderlich, schließlich verfügten Indigene als naturales über eigene Privilegien und Kaziken waren ohnehin von Tributzahlungen befreit. Indigene waren also aus Perspektive der Krone auf einen derartigen Kauf von Privilegien nicht angewiesen, zumal sie nicht als unrein galten. In der calidad spielten also zwei unterschiedliche Normvorstellungen eine Rolle. Einerseits sollte die Zuschreibung der calidad bestimmten Abstammungsgesetzen folgen, andererseits wurde die lokale Reputation der Personen als ausschlaggebendes Kriterium der calidad gesehen. Diese komplexe Bedeutung der calidad wird bereits in den Protokollen der Zeugenaussagen zur calidad deutlich. Über die Eltern des genannten Marciano sagte ein Zeuge, „dass sie beide Spanier waren und in dieser Stadt als von dieser Calidad galten”.181 Die doppelte Formulierung zeigt die Ambiguität der calidad. Prinzipiell war vorstellbar, dass eine Person laut ihrer Abstammung von einer bestimmten calidad war, ihre Reputation jedoch davon abwich. Auch im limpieza-de-sangre-Verfahren des 18. Jahrhunderts wurde eine ähnliche doppelte Formulierung verwendet.182 Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Abstammung und lokaler Reputation beschreiben? Eine Möglichkeit besteht darin, die calidad als eine ambivalente, umkämpfte und stets neu auszuhandelnde Kategorie aufzufassen. Dieser Zugang ist sinnvoll, um die Zuschreibung seitens der kolonialen Verwaltung zu erfassen und zu verstehen, wie die calidad in der Praxis funktionierte. Eine weitere Möglichkeit ist, davon auszugehen, dass in der Tat verschiedene Konzepte der calidad existierten. Die Verwaltungsakteure suchten schließlich nach gewissen Indizien dafür, welche die calidad einer Person war. Sie setzten voraus, dass jede Person eine calidad hatte, und zwar zunächst unabhängig von ihrer rechtlichen Kategorisierung. Wie sonst wäre Ordoñez Ausspruch zu verstehen, „die calidad aller Findelkinder zu ermitteln, bei denen es oft eine Mischung von
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kaners als Spanier genau genommen lediglich eine von diversen gracias al sacar. Zu den sonstigen Formen der gracias al sacar siehe: Ots Capdequí, José María: Sobre las ‘confirmaciones reales’ y las ‘gracias al sacar’ en la historia del derecho indiano, in: Estudios de historia novohispana 2 (1968), H. 2, S. 36–47, hier insb. S. 46. „Francisco Marciano para que se le releve del pago de tributos por ser de calidad español“ (1796), AHJP, exp. 6610. Zitat: „q[u]e eran Españoles ambos a [sic] dos, y q[u]e p[o]r tal calidad corrian en aquella ciudad“. Die Formulierung lautete beispielsweise: „fueron españoles tenidos y reputados por tales“. „Informaz[ion] de la lexitimidad y limpieza de Sangre de Don Fernando Antonio Luis, de Aragon [...]“ (Guanajuato, 1753), AGN, Indiferente Virreinal, caja 4743, exp. 028, f. 5v.
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Spaniern, indios und mulatos gibt, erscheint unmöglich“?183 In der Zuschreibung durch Verwaltungsakteure spiegelte sich der Versuch, die vermeintlich wahre calidad einer Person zu ermitteln und ihr einen entsprechenden rechtlichen Status zuzuweisen. Auch wenn Verwaltungsakteure wussten, dass sie die ‚wahre‘ calidad nicht in Erfahrung bringen konnten, und deshalb pragmatisch vorgingen, glaubten sie, dass eine wahre calidad existierte. Der Begriff calidad wurde also vor dem Hintergrund unterschiedlicher Deutungsmuster interpretiert, die sich bisweilen widersprachen.
3. Indigene in der korporativen Gesellschaft Menschen, die rechtlich als indios galten, und solche, die als Afroamerikaner – also mulatos, negros etc. – galten, nahmen in der korporativen Ordnung Neuspaniens seit Beginn der Kolonialzeit unterschiedliche Plätze ein. Für die indigene Bevölkerung schuf die spanische Krone eine dezidiert indigene Korporation, die república de indios. Als Körperschaft vermittelte sie ihren Mitgliedern Privilegien und von der Krone wurde sie als Rechtssubjekt betrachtet. Selbstverwaltungsorgane für Afroamerikaner waren hingegen nicht vorgesehen. Dieses Kapitel fragt nach dem Zusammenhang zwischen korporativer Zugehörigkeit und calidad bezogen auf die indigene Bevölkerung. Die als repúblicas verfassten indigenen Gemeinden des spanischen Amerikas bildeten einen äußerst wichtigen Typ von Korporationen, insofern als die indigene Bevölkerung zumindest in den Kernsiedlungszonen Neuspaniens durch diese Selbstverwaltungsorgane regiert wurde. Der Begriff república hatte im spanischen Amerika mehrere Bedeutungen. Wie erwähnt waren mit repúblicas erstens zwei rechtlich und sozial definierte Sphären innerhalb der Untertanenschaft des Königs gemeint, nämlich die república de indios und die república de españoles.184 Zweitens konnte das Wort república die konkreten Korporationen der indigenen Bevölkerung meinen und sich hier entweder auf die zugehörigen Individuen oder auf den vorstehenden Gemeinderat beziehen. Der Begriff república soll im Folgenden verwendet werden, um die Korporationen als Ganze zu bezeichnen. Eine idealtypische indigene república bestand aus den Indigenen mehrerer Gemeinden, an deren Spitze sich ein indigener Gemeindevorsteher, der gobernador, und ein Gemeinderat, der cabildo, befanden. Eine dieser Gemeinden, die 183
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AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, f. 340v. Zitat: „Conocer la [calidad, D.G.] de todos los Expósitos donde hay mezcla freqüente de Españoles, Indios y Mulatos, parece imposible“ Vgl. Mcalister, Social Structure, 1963; Levaggi, Abelardo: República de indios y república de españoles en los Reinos de Indias, in: Revista de estudios histórico-jurídicos 23 (2001).
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cabecera, bildete das Zentrum der indigenen Verwaltung, wo der Gemeindevorsteher und der Rat ansässig waren.185 Die übrigen untergeordneten Gemeinden, die sujetos, verfügten häufig auch über eigene kleine Räte, wo die alcaldes oft jene Funktionen ausführten, die der gobernador in der cabecera innehatte.186 In einigen Regionen folgte die Zusammensetzung der cabildos einem Prinzip territorialer Repräsentation, wie Guarisco belegt. So war es üblich, dass die verschiedenen zur república gehörenden Gemeinden oder Ortsteile eigene Repräsentanten im cabildo hatten.187 Die alcaldes in den indigenen Gemeinden standen in der lokalen Ämterhierarchie unter dem gobernador, hatten als Richter rechtsprechende Funktionen, aber konnten auch viele weitere Funktionen ausfüllen. Darüber hinaus existierten weitere Ämter, die hierarchisch geordnet waren.188 Spanier durften nur in Städten, die den rechtlichen Status einer ciudad oder villa hatten,189 eigene Räte (ayuntamientos) errichten. Da die repúblicas de indios als Schutzraum für die indigene Bevölkerung konstruiert worden waren, durften nur Indigene im Territorium der indigenen Gemeinden leben. De facto war es aber in vielen Regionen üblich, dass auch Mestizen, Spanier und Afroamerikaner in den Gemeinden ansässig waren.190 Indigene Gemeinden hatten Anspruch auf Land, dessen Umfang von der Krone festgelegt wurde. Als Individuen und Familien waren Indigene durch die Zugehörigkeit zu den repúblicas privilegiert, insofern als sie Anspruch auf ein Stück Gemeindeland hatten und prinzipiell berechtigt waren, politisch zu partizipieren.191 Als Verwaltungsorgane hatten die indigenen Räte Funktionen im Bereich des Finanzwesens, des Ordnungswesens wie auch der Rechtsprechung. Außerdem verwalteten sie die Ressourcen der Gemeinde,
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190
191
Vgl. für Oaxaca: Chance, Conquest, 1989, S. 134; für den Valle de México: Guarisco, Los indios, 2003, S. 60. Vgl. ebenda, S. 59. Vgl. ebenda, S. 92. Vgl. Haskett, Indigenous Rulers, 1991, S. 104-106; Tanck de Estrada, Dorothy: Pueblos de indios y educación en el México colonial, 1750-1821, México, D.F. 1999. Eine ciudad war eine spanische Stadt mit dem höchsten Rechtsstatus und einem entsprechendem Rat. Ein als villa bezeichneter Ort hatte einen geringeren Rechtsstatus und einen kleineren Rat. Vgl. Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 457-458. Vgl. z.B. für Michoacán im 17. Und 18. Jahrhundert: Castro Gutiérrez, Felipe: Indeseables e indispensables. Los vecinos españoles, mestizos y mulatos en los pueblos de indios de Michoacán, in: Estudios de historia novohispana 25 (2001), S. 59–80; für die Region Cuautla und Cuernavaca: Mentz, Pueblos, 1988, S. 83. Vgl. Wood, Stephanie: The ‘Fundo Legal’ or Lands ‘Por Razón de Pueblo’. New Evidence from Central New Spain, in: Arij Ouweneel/Simon Miller (Hrsg.), The Indian Community of Colonial Mexico. Fifteen Essays on Land Tenure, Corporate Organizations, Ideology and Village Politics, Amsterdam 1990, S. 117–129, hier: S. 118; Guarisco, Los indios, 2003, S. 56-57.
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insbesondere das Land, und waren für die Einziehung des indio-Tributs im Namen der Krone zuständig.192 Wie Peter Guardino treffend herausstellt, waren die repúblicas de indios somit einerseits als Anhängsel der königlichen Verwaltung konzipiert, zugleich aber als Korporationen mit eigenen Rechten.193 Der elektive Charakter der Ämter in der república verstärkte die Bedeutung der repúblicas als Repräsentationsorgane gegenüber dem kolonialen Regierungsapparat. So erfolgte die Ämterbesetzung im 18. Jahrhundert durch Wahlen, an denen offiziell nur Indigene teilnehmen durften. Allerdings mussten die Wahlen von einem Priester bezeugt und dem spanischen Vorsteher des Distrikts – d.h. dem alcalde mayor und ab der Intendantenreform (1786) dem subdelegado – bestätigt werden.194 Die repúblicas de indios bildeten daher laut Guardino „a powerful locus of resisting some forms of colonial authority“.195 Sie verfügten in einigen Regionen in den letzten Jahrzehnten des Antiguo Régimen über eine beträchtliche Autonomie.196 Indigene Gemeinden waren allerdings in sich stark sozial differenziert. In manchen Regionen existierte ein indigener Geburtsadel, die sogenannten Kaziken. Diese beanspruchten die Kontrolle der república und der Ämter für sich. Zum Ende der Kolonialzeit war es in den meisten Regionen üblich, dass Männer im Laufe ihres Lebens eine hierarchisch geordnete Ämterleiter zu durchlaufen hatten, um in die lokale indigene Elite aufgenommen zu werden. Männer, die auf diese Weise in die indigene Elite gelangten, wurden als principales bezeichnet.197 Die indigenen Eliten entschieden somit darüber, welche Interessen die Gemeinde als república gegenüber anderen Akteuren, insbesondere gegenüber der spanischen Verwaltung vertrat. Das Handeln der indigenen repúblicas, das Niederschlag im kolonialzeitlichen Verwaltungsschriftgut fand, kann also nicht per se als Äußerung homogener indigener Gemeinden betrachtet werden, sondern ging häufig auf die Interessen kleiner indigener Eliten zurück. Die Privilegierung der república de indios und ihr Selbstverständnis als autonome Institution zeigte sich deutlich an der Art und Weise, wie die Bevölkerung – bzw. die Eliten – dieser Gemeinden im 18. Jahrhundert ihre Interessen 192 193
194 195 196 197
Vgl. Chance, Conquest, 1989; Haskett, Indigenous Rulers, 1991, Kap. 3; Guarisco, Los indios, 2003, S. 58-59. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 83. Ähnlich charakterisiert auch Ducey die república de indios: Ducey, Michael T.: Indian Communities and Ayuntamientos in the Mexican Huasteca. Sujeto Revolts, Pronunciamientos and Caste War, in: The Americas 57 (2001), H. 4, S. 525–550, S. 527-528. Vgl. Chance, Conquest, 1989, S. 133; Guarisco, Los indios, 2003, S. 86. Guardino, Peasants, 1996, S. 83. Vgl. z.B. Guarisco, Los indios, 2003, S. 72. Vgl. Chance, Conquest, 1989, S. 137-146; Haskett, Indigenous Rulers, 1991, 29-32; Guarisco, Los indios, 2003, S. 84, 90-91.
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gegenüber der kolonialen Verwaltung vertrat. In ihren Briefen an die koloniale Verwaltung rekurrierten sie zur Selbstbezeichnung für gewöhnlich auf ihren Status als república und somit als rechtlich anerkannte Korporation. Sie verfassten Schreiben als „Gobernador dieser Cabecera mit der gesamten República und der übrigen Gemeinde der Naturales“198, als „ehemalige Gobernadores […], ehemaliger und derzeitiger Alcalde“ und Juristen verfassten Briefe, in denen sie den común de naturales vertraten.199 Wie in diesen beiden Beispielen, war neben der Bezeichnung república, die sich hier auf den Rat bezog, auch die kollektive Selbstbezeichnung común üblich. Sie bezog sich je nach Kontext auf jene Indigene, die nicht der indigenen Elite angehörten,200 oder auf die gesamte Gemeinde.201 Mit der Verwendung des Konzepts común legitimierten die indigenen Akteure gegenüber den kolonialen Autoritäten konkrete Forderungen, indem sie sich auf ihre korporative Verfasstheit beriefen. Im Namen des común zu sprechen, war eine mächtige Legitimationsstrategie, die aber oft von gegenüberstehenden Parteien verwendet wurde. Als man beispielsweise Anfang 1820, während der Phase des wiedererrichteten Antiguo Régimen, in der Gemeinde Yautepec (im heutigen Bundesstaat Morelos) die república de indios wählte, wurde die Wahl des gobernador seitens zweier Personen vehement kritisiert.202 Sie behaupteten den común de naturales des barrio San Juan zu repräsentieren; ihre Gegner sprachen ihnen aber jegliche Legitimität ab, sich in die Wahlen des Rats einzumischen.203 Es handele sich um mestizos, die lediglich in die indigene Gemeinde als republicanos, also als Mitglieder 198
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„Quautla Amilpas. Expediente instruido p[o]r las Rep[úbli]cas de varios pueblos contra D[o]n Fran[cis]co Guevara sobre excesos“(1807), en AGN, Civil Volumenes, Vol. 2300, exp. 14, fs. 1-123, aquí fs. 40, 42, 46. Zitat: „Governador de este pueblo cabezera [...] con toda la Repub[li]ca y demas Comun de Naturales [...]“. Ein weiteres unter vielen Beispielen für die Selbstbezeichnung república für Oaxaca findet sich in: „Quexas de los Natur[ales] de Tlacamama [...]“ (1810), in AGEO, Real Intendencia, leg. 28 (Subdelegaciones, Jamiltepec / Xicayan), exp. 36. „Cuernavaca. Contradiccion á la Eleccion de la Villa de Yautepec“ (1820), en AGN, Civil Volumenes, Vol. 2132, exp. 7, fs. 1, 15. Zitat: „Governadores pasados […], Alcaldes pasado y actual“. Wenn ein Jurist ein Schreiben im Auftrag einer Gemeinde verfasste, wurde die beauftragte Person mit dem Zusatz „por el comun de naturales“ genannt. Ebenda. Vgl. Guarisco, 2003, Los indios, S. 84. Dies wird z.B. an der genannten Formulierung „la Repub[li]ca y demas Comun de Naturales“ deutlich. Vgl. für Peru: Penry, S. Elizabeth: The Rey Común. Indigenous Political Discourse in Eighteenth-Century Alto Perú, in: Luis Roniger/Tamar Herzog (Hrsg.), The Collective and the Public in Latin America. Cultural Identities and Political Order, Brighton; Portland 2000, S. 219–237, S. 225-226. „Cuernavaca. Contradiccion a la Eleccion de la Villa de Yautepec“ (1820), en AGN, Civil Volumenes, vol. 2132, exp. 7. Ebenda, f. 15-15v.
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der república, integriert worden seien. Deshalb seien die sich beklagenden Männer nicht berechtigt, im Namen des común zu sprechen.204 Wie Elizabeth Penry für Peru zeigt, konnte das Konzept des común außerdem in Konflikten innerhalb der Gemeinden eingesetzt werden, um hiermit die Interessen der Gemeindebewohner gegenüber dem indigenen Geburtsadel zu vertreten.205 Indigene verwendeten in ihren Selbstbezeichnungen im 18. Jahrhundert die Kategorie naturales, seltener indios oder gar indios tributarios.206 Die Kategorie der naturales war mit einer höheren Legitimationskraft ausgestattet als die der indios, schließlich machten sie hiermit deutlich, dass sie zu den Untertanen der spanischen Krone und zu den Eingeborenen Amerikas gehörten. Der rechtliche Status der Indigenen ermöglichte ihnen sogar, Forderungen nach Gleichbehandlung im Vergleich zu anderen Gemeinden zu stellen. In einer Eingabe von 1804 forderte der común de naturales von Tepeji, Ixmiquilpan (Hidalgo), einen eigenen gobernador für die Gemeinde.207 In ihrem Schreiben erwähnten die Indigenen andere selbstständige Gemeinden der Region, die vormals barrios gewesen waren: „Sind jene etwa von besserer Verfassung, christlicher als wir? Denn wir alle sind von gleicher Calidad, [gleichem] Privileg und [gleichen] Befugnissen.“208 Sie betonten damit ihre rechtliche Gleichheit im Vergleich zu den anderen Gemeinden und hoben ihre religiöse und moralische Gleichwertigkeit hervor, indem sie sich als christlich bezeichneten. Aufgrund ihrer korporativen Verfasstheit als indigene Gemeinde traten indigene Akteure in der Dokumentation der kolonialen Verwaltung häufig als Kollektive auf. Denn die indigene república war die Korporation, mittels derer der indigenen Bevölkerung ein eigener Platz in der Vorstellung von der korporativen Gesellschaft wie auch ein mit Privilegien verbundener rechtlicher Status gegeben wurde. Die república war ein politisches Instrument, auf das Afroamerikaner dagegen nicht zurückgreifen konnten. Sarah O’Toole stellte aus diesem Grund bereits für Peru im 17. Jahrhundert fest, dass die Kategorie indio rechtlich ein größeres Gewicht hatte als Kategorien afrikanischer Abstammung.209 Auch in Gemeinden, die sich sowohl aus indigener wie auch afroamerikanischer Bevölkerung zusammensetzten, wurde entsprechend in erster Linie der 204 205 206
207 208 209
Ebenda. Vgl. Penry, The Rey, S. 227-228. Vinson III sieht die Tributpflicht der ‚indios‘ als besonders ausschlaggebend für deren Untertanenstatus an, jedoch ist die Behauptung „Invariably, the beginning of their petitions would contain the words indios tributarios […]“ zumindest für das 18. Jahrhunderts nicht zutreffend. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 137. „El Comun de Naturales de S[an]ta M[ari]a Tepexic Jur[isdicci]on de Ixmiquilpan sobre erecion de Govierno“ (1804), AGN, Civil Volumenes, vol. 2106, exp. 3. Ebenda, f. 2. Zitat: „Por ventura ¿aquellos seran de mejor condision, mas christianos q[u]e nosotros? Pues todos somos de igual calidad, privilegio, y facultades.“ O’Toole, Bound Lives, 2012, S. 86, 160, 164.
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Status als indigene Gemeinde zur Legitimierung eingesetzt. Als die Bewohner von Yautepec 1810 versuchten, sich den Zugriff auf zwei Quellen und damit die Wasserversorgung ihrer Gemeinde zu sichern, machten die indigenen Amtsträger deutlich, dass „die anderen Castas und wir“ auf die Benutzung dieser Quellen angewiesen waren.210 De facto setzte sich Yautepec zu einem beträchtlichen Teil aus castas zusammen211 und daher wurden die castas in der Petition der indios erwähnt, obwohl das für Petitionen indigener Gemeinden keineswegs typisch war. Wie aus den Taufregistern Yautepecs ersichtlich ist, handelte es sich hier in erster Linie um mulatos.212 Dies erwähnte man jedoch nicht, da die Erwähnung der Afroamerikaner dem Anliegen nicht mehr Nachdruck oder Legitimität verliehen hätte. Verfasst wurde der Brief dagegen vom „Gobernador, den Alcaldes, Ratsherren und weiteren Amtsträgern der República und des Común de Naturales“.213 Im spanischen Amerika und konkret in Mexiko waren allerdings viele indios nicht eng an indigene Gemeinden gebunden. Die Tributlisten unterschieden zwischen indios de pueblo und indios laboríos. In von Haciendas geprägten Regionen, wie beispielsweise Cuernavaca, wurden viele Indigene als indios laboríos kategorisiert – eine Kategorie, die in der Historiographie häufig vernachlässigt wird. Indios laboríos lebten und arbeiteten auf Haciendas, oft weit entfernt von den Gemeinden, aus denen sie stammten. Sie hatten keinen Zugang zu den Gütern nahegelegener indigener repúblicas, da sie ihnen nicht angehörten.214 Viele indios laboríos gab es in den nördlichen Regionen und in Yucatán. Während in der Intendantur México lediglich 2,4 % der indigenen Bevölkerung indios 210
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214
„Para que el Justicia de Tlayacapa notifique al Teniente de Yautepec, debuelva a los Naturales las tierras que se expresan.“ (1810), AGN, Indios, vol. 71, exp. 198, fs. 293-29. Zitat: „las otras castas y nosotros“. Zwischen 1780 und 1786 wurden im Taufregister Yautepecs ca. 35% der Neugeborenen als mulatos registriert, 15% als mestizos oder castizos, 6% als Spanier und 41% als indios. Vgl. Martin, Rural Society, 1985, S. 159. Vgl. Kap. 2.2.2. „Para que el Justicia de Tlayacapa notifique al Teniente de Yautepec, debuelva a los Naturales las tierras que se expresan.“ (1810), AGN, Indios, vol. 71, exp. 198, hier: f. 293. Zitat: „El Gobernador, Alcaldes, Regidores y demas oficiales de Republica y comun de Naturales“. Vgl. Tutino, John: Making a New World. Founding Capitalism in the Bajío and Spanish North America, Durham 2011, S. 377-378; Vinson III, Ben/Restall, Matthew: Black Soldiers, Native Soldiers. Meanings of Military Service in the Spanish American Colonies, in: Matthew Restall (Hrsg.), Beyond Black and Red. African-Native Relations in Colonial Latin America, Albuquerque 2005, S. 15–52, S. 45; Cook, Sherburne Friend/Borah, Woodrow Wilson: Essays in Population History. Mexico and the Caribbean, Berkeley 19711979, Bd. 2 (1974), S. 75-76. Guarisco, Claudia: ¿Reyes o indios? Cabildos, repúblicas y autonomía en el Perú y México coloniales, 1770-1812, in: Revista Andina 39 (2004), S. 203-226, hier: S. 6.
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laboríos waren, bildete diese Gruppe beispielsweise in der Intendantur Guanajuato 70 % der indigenen Bevölkerung.215 Indios laboríos zahlten einen weitaus geringeren Tribut als die indios de pueblo, vermutlich weil sie nicht über die mit den repúblicas de indios verbundenen Privilegien verfügten. Sie wurden oft in den gleichen Tributlisten geführt wie die Afroamerikaner, denn ihr Tribut wurde von den spanischen Autoritäten und nicht von den indigenen Amtsträgern eingetrieben.216 In der Intendantur Valladolid führte die Diskrepanz zwischen der Höhe des Tributs bei indios de pueblo und indios laboríos im Jahr 1800 sogar zu Wanderungsbewegungen. Immer mehr Menschen verließen die Gemeinden, um sich außerhalb anzusiedeln und so nur noch den Tribut der indios laboríos zahlen zu müssen. Der Intendant fürchtete schon eine „absolute Entvölkerung“.217 Betrachtet man nun Konflikte um die calidad einzelner Personen im Kontext der repúblicas de indios wird deutlich, wie sehr hier Abstammung, Reputation, Rechtsstatus und korporative Zugehörigkeit miteinander verwoben waren. In den indigenen Gemeinden Neuspaniens war die Zugehörigkeit zur república an den rechtlichen Status einer Person als indio geknüpft. Die calidad nahm in indigenen Gemeinden also eine politische Dimension an. Sie entschied schließlich darüber, ob man der república angehörte, an den Wahlen zu den zugehörigen Gemeinderäten teilnehmen konnte, und ob man hier Ämter bekleiden musste bzw. durfte. Außerdem war sie wie erwähnt ausschlaggebend für den Zugang zu Ressourcen, vor allem Land. Für die Gemeindebewohner war die Kategorisierung seitens der Verwaltungsbeamten eher zweitrangig. Denn der Tribut wurde schließlich von den repúblicas selbst eingezogen und solange eine Person zahlte, kam sie meist nicht in die Situation, ihre calidad belegen zu müssen. Ausschlaggebend war in diesen Gemeinden vielmehr, ob die übrigen Gemeindemitglieder eine Person als zugehörig betrachteten. Die calidad konnte daher verwendet werden, um Personen die Partizipation in der lokalen Ämterhierarchie und der república oder auch den Zugang zu Land zu versagen oder um sie gar der Gemeinde verweisen zu lassen.218 Gleichzeitig konnte das Verhältnis einer Person zur Gemeinde, 215
216 217
218
Vgl. ebenda, Bd. 1 (1971), S. 290; Serrano Ortega, José Antonio: Ciudadanos naturales. Pueblos de indios y ayuntamientos en Guanajuato, 1820-1827, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 411–440, S. 413. Zu Yucatán: Cook/Borah, Essays, 1971-1979, Bd. 2 (1974), S. 75-76. Notificación relativa a los padrones de indios laboríos y mulatos (Cuernavaca, 1793), in: AGN, Padrones, vol. 98, exp. s/n, fs. 20-21v. „El Int[enden]te de Valladolid sobre que á los Indios Lavorios se les senale igual qüota en los tributos que a los radicados en Pueblos“ (1800), in: AGN, Tributos, vol. 51, exp. 7, fs. 146-150, hier: fs. 147-148. Zitat: „absoluto despueble“. Siehe z.B. den Versuch einen vermeintlichen „mulato lobo“ der Gemeinde verweisen zu lassen in Castro Gutiérrez, Indeseables, 2001, S. 68-69.
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insbesondere ihr Engagement und die bisherige Rolle in der Ämterhierarchie, zentral für die Zuweisung der calidad sein. In der Gemeinde Almoloya, Distrikt Apan (im heutigen Bundesstaat Hidalgo), schwelte während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ein andauernder Konflikt um lokale Macht, indigene Adelstitel und Abstammung.219 Nachweislich 1778 versuchten einige Männer rechtlich durchzusetzen, dass nur noch sie selbst zur Bekleidung der Ämter in der república de indios zugelassen werden sollten. Sie beriefen sich auf ihre Privilegien als „Adelige und Nachkommen der ersten Tlaxcalteken, die kamen, um die Gemeinde Almoloya zu gründen“.220 Die Krone hatte den Nachfahren des tlaxcaltekischen Adels einst aufgrund der Verdienste der Tlaxcalteken in der spanischen Eroberung und der Kolonisierung besondere Privilegien zugestanden.221 In Almoloya herrschte keinesfalls Konsens über den Status jener Personen, die behaupteten, von den Tlaxcalteken abstammende Kaziken zu sein. Das zeigte sich an einem Konflikt um die Wahl von José Cristóbal Sánchez zum alcalde der indigenen república im Jahr 1785. Sánchez und andere Männer hatten bereits 1779 versucht, als Nachfahren der Tlaxcalteken und somit als Kaziken anerkannt zu werden,222 um die Kontrolle über die república de indios zu erlangen. Ein Zeuge berichtete 1785, dass Sánchez in der Vergangenheit versucht habe, Ämter in der república zu erlangen, aber am Widerstand der Kaziken gescheitert sei.223 Offenbar existierten in Almoloya zwei Gruppierungen, die jeweils für sich den Status von Kaziken beanspruchten. Als Sánchez 1785 zum alcalde gewählt wurde, regte sich in der Gemeinde vehementer Widerstand. Seine Gegner erhoben nun einen schweren Vorwurf gegen ihn, indem sie behaupteten, dass er in Wahrheit nicht indio sei, sondern seine Eltern – und damit er selbst – pardos, also afrikanischer Abstammung, seien.224 Die Zeugenbefragungen, die anlässlich dieses Konflikts in Almoloya durchgeführt wurden, lassen erkennen, welche Kriterien bei der Zuschreibung der calidad in der Gemeinde eine Rolle spielten. In zwei Vernehmungen äußerten sich insgesamt zehn Zeugen vor dem alcalde mayor, dem spanischen Distriktvor219 220 221 222 223
224
Cacicazgo de Almoloya, in: Guillermo S. Fernández de Recas (Hrsg.), Cacicazgos y nobiliario indígena de la Nueva España, México 1961, S. 253–268. Ebenda, S. 257. Zitat: „nobles y derivados de los Primeros Tlaxcaltecas, que pasaron a fundar el pueblo de Almoloya“. Vgl. ebenda, S. 267; Martínez Baracs, Andrea: Colonizaciones tlaxcaltecas, in: Historia Mexicana 43 (1993), H. 2, S. 195–250, insb. S. 210. Cacicazgo de Almoloya, 1961, S. 256. „Expediente formado por los Naturales del pueblo de Almoloya sobre eleccion“ (1785), AGN, Civil Volumenes, vol. 1979, exp. 12. Eine Zeuge berichtete: „aunque [José Sánchez] á hecho esfuerzos para tener empleo en la republica [...] siempre se han opuesto los Indios Casiques“. Ebenda, f. 1v.
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steher, zur calidad von Sánchez.225 Fast alle bestätigten, dass Sánchez’ Eltern als mulatos gegolten hatten. Nur einer gab an, die Mutter für eine mulata und den Vater Agustín Sánchez für einen coyote gehalten zu haben, womit er ebenso die afrikanische Abstammungslinie bestätigte.226 Die Aussagen drehten sich in erster Linie um die Eltern Sánchez’, womit also die große Bedeutung des Abstammungskriteriums belegt wird. Insbesondere die Aussagen von zwei Zeugen zeigen die Bedeutung der Abstammung als Kriterium der calidad. Der erste Zeuge gab an, Josés Vater Agustín Sánchez und dessen Verwandte persönlich zu kennen, wusste aber laut eigener Aussage nur vom Hörensagen, dass es sich um Afroamerikaner handelte: „er ist nicht sicher, dass es Mulatos sind, aber er hat viele Personen dies behaupten gehört.“ Der zweite Zeuge kannte José schon als Kleinkind und sagte, „er hat gehört, dass er und seine Verwandten Mulatos sind“.227 Obwohl beide Zeugen José und Teile seiner Familie kannten, wussten sie nur vom Hörensagen, dass es sich um mulatos handelte. Die Zuschreibung der calidad geschah also aufgrund von Informationen über die Familiengeschichte. Andere Zeugen hatten ihre Einschätzung dagegen aus eigener Anschauung gewonnen. Ein Zeuge sagte über José und seinen Vater „dass, obwohl sie sich als Indios betitelt und so genannt haben, sie seiner Meinung nach und aufgrund dessen, wie sie sich darstellen, rechtmäßig Mulatos sind“.228 Das Verb „representar“ legt nahe, dass auch äußere Merkmale eine Rolle in der Einordnung der Person spielten.229 In anderen Aussagen wird dieser Aspekt noch deutlicher. Ein Zeuge gab an, er und andere seien der Meinung, es handele sich um mulatos und zwar u.a. „da sie es in ihrem Aussehen zeigen“. Ein weiterer sagte: „aufgrund seiner Beobachtung und wegen des Aussehens der Genannten sind es Mulatos“.230 Von einem Zeugen wurde zudem die Frage der Tributpflicht 225 226 227 228 229
230
Aufgrund eines Verfahrensfehlers wurde eine erste Vernehmung von fünf Zeugen als nicht gültig anerkannt und daher eine weitere mit wiederum fünf Zeugen durchgeführt. Ebenda, fs. 2-5. Die Formulierungen lauteten „tenidos por mulatos“ oder „tenidos y reputados por mulatos“. Coyote war eine casta-Kategorie. Ebenda. Zitate: „no le consta ser mulatos pero lo ha oido decir a muchas personas“; „a oido decir que el [José] y sus parientes son mulatos“. Ebenda. Zitat: „[...] que aunque se han titulado y llamado a Indios en su consepto y por lo que ellos representan son lexitimamente Mulatos“. Das Verb „representar“ konnte um 1800 in der spanischen Welt sehr unterschiedliche Bedeutung haben, u.a. „Informar, declarar ó referir“ und „Manifestar en lo exterior alguna cosa, que hay, ó que le parece“. Hier ergibt die zweite Bedeutung mehr Sinn. Real Academia Española: Diccionario de la lengua castellana compuesto por la Real Academia Española. Reducido a un tomo para su más fácil uso, Madrid 1803, S. 742, Sp. 2. Auch der Begriff „muestra“ verwies vermutlich auch äußere Merkmale, denn er konnte ein „Señal, indicio, demostracion, ó prueba de alguna cosa“ bezeichnen. Ebenda, S. 573, Sp. 3. Zitate: „por demostrarlo en su aspecto“; „por lo que tiene observado y [por] las muestras de los referidos son de calidad Mulatos“.
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thematisiert. So hätten die alcaldes mayores von den infrage stehenden Personen den pardo-Tribut eingefordert. Er könne aber nicht sagen, ob sie auch gezahlt hätten.231 Außerdem wurde thematisiert, ob die umstrittenen Personen Einheimische oder zugezogen waren. Dieses Kriterium war unabhängig vom Vorwurf der afrikanischen Abstammung, zeigt aber, dass für den Kaziken-Status die Frage der Abstammung und Familiengeschichte ausschlaggebend waren. Fünf Zeugen bezeichneten die Eltern von José Cristóbal Sánchez als „Angegliederte“, d.h. Zugezogene, aus der Gemeinde Santa Ursula im Distrikt Tlaxcala.232 Über die große Bedeutung dieses Kriteriums herrschte auf beiden Seiten Einigkeit. Denn der Anwalt von José Cristóbal Sánchez und den übrigen vermeintlichen Kaziken hatte im Jahr 1779 ganz ähnlich behauptet, der aktuelle alcalde Miguel Sánchez sei nicht gebürtig aus Almoloya, sondern „zugezogen und angegliedert“.233 Außerdem waren die Reputation und das Verhalten der betreffenden Personen in der Gemeinde von besonderer Bedeutung. In allen Aussagen wurde die bisherige Rolle José Sánchez’ und seines Vaters in der Gemeinde thematisiert, was annehmen lässt, dass die Zeugen danach gefragt wurden. Ein Zeuge gab an Der genannte Don José Sánchez ist kein rechtmäßiger Indio, obwohl er in unserer genannten Gemeinde aufgewachsen und verwurzelt ist, denn es ist allgemein bekannt, dass sein Vater Agustín Sánchez Pardo war und ebenso seine Mutter und Schwestern.234
Ein anderer meinte: Dass der genannte José Sánchez zwar unter dem Titel Indio aufgewachsen ist und im genannten Almoloya gelebt hat in all der Zeit, die er dort ansässig war; jedoch habe er, obwohl er bereits über das Alter für Ämter in der República verfügte, nie einen Platz, noch Mitsprache- noch Stimmrecht gehabt, geschweige denn der Gemeinde gedient, vielleicht wegen seiner so bekannten Calidad.235
231 232 233 234
235
„Expediente formado ...“, AGN, Civil Volumenes, vol. 1979, exp. 12, fs. 5v-9, f. 6v. Cacicazgo de Almoloya, 1961, S. 259. Zitate: „agregados“. Ebenda, S. 259. Zitat: „advenedizo y agregado“. „Expediente formado ...“, AGN, Civil Volumenes, vol. 1979, exp. 12, f. 1v. Zitat: „el referido D.n Jose Sanchez sin embargo de haberse criado y arraigado en dicho nuestro Pueblo no es Indio lexitimo […] pues es publico y notorio que su Padre, fue Agustin Sanchez de calidad Pardo y lo mismo su madre y hermanas.“ Ebenda. Zitat: „que aunque el d[ic]ho Jose Sanches con titulo de Indio se ha criado y mantenido en el citado [pueblo, D.G.] de Almoloya en todo el tiempo en que en el ha recidido sin embargo de ser ya de edad, para las asistencias en oficios de Republica nunca ha tenido lugar voz ni voto, ni menos cervido al Pueblo, a caso por su calidad tan notoria.“
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Das Aufwachsen in der Gemeinde führte im Regelfall dazu, dass man als indio galt, somit in der Gemeinde Aufgaben übernahm und schließlich Ämter in der república erlangte. Dass dies bei José Sánchez nicht der Fall war, wurde darauf zurückgeführt, dass dieser von mulatos abstammte. Seine fehlende Partizipation in der Gemeinde wurde als Indiz für seine Abstammung interpretiert. Fünf Zeugen bestätigten, dass weder José noch dessen Vater und die anderen Verwandten jemals der Gemeinde gedient, geschweige denn Ämter erworben hatten oder nie „Mitsprache- noch Stimmrecht in der República“ gehabt hatten.236 In Huitziltepec (Tecali, Puebla) kam es 1803 zu einem ähnlich gelagerten Konflikt um die Wahlen zur república für das folgende Jahr, in dem das Argument der afrikanischen Abstammung eingesetzt wurde, um einen der gewählten Amtsträger zu diskreditieren.237 Dem neu gewählten gobernador Manuel Agustín de los Santos wurde seitens eines ehemaligen gobernador, Tomás Vicente Vázquez, und dessen Parteigängern vorgeworfen, mulato zu sein. Laut Manuel de los Santos’ Interpretation versuchten seine Wiedersacher „mich aus dem politischen Körper auszuschließen, den die República de Naturales der Gemeinde Santa Clara bildet“.238 Der subdelegado verteidigte De los Santos jedoch gegen den Vorwurf. Er beschrieb, wie er angefangen beim einfachen Amt des topil die verschiedenen Ämter bekleidet hatte, bis er zum alcalde wurde. Nie habe man ihm vorgeworfen mulato zu sein und „er wurde stets als Indio betrachtet“.239 Der subdelegado schloss außerdem aus, dass De los Santos von mütterlicher Seite mulato sei, konnte aber nichts über den Vater sagen. Jedoch sei Manuel de los Santos stets in der Tributliste der indios geführt worden und habe den Tribut entrichtet. Laut Meinung des subdelegado war er daher „in Besitz des Rechtes auf die Calidad, die ihm zugeschrieben wird“, sollte also als indio gelten.240 De los Santos erwähnte, dass die Mutter seines Widersachers Tomas Vicente Basques die Schwester seiner eigenen Mutter sei, weswegen er von dieser Seite nicht mulato sein könne. Über die Abstammung seines Vaters äußerte er sich nicht, sondern er beschrieb auch dessen Ämterlaufbahn in der Gemeinde, die ebenfalls bis zum Amt des alcalde gereicht habe, und betonte, dass man auch seinem Vater nie ein Hindernis in den Weg gelegt habe. Deshalb schlussfolgerte er: 236 237
238 239 240
Ebenda. Zitat: „voz ni voto en la Republica“. „Expediente instruido por los In[dio]s del Pueblo de Sta. Clara Huiziltepec de la Jurisd[iccio]n de Tecale […] sobre la Eleccion de oficios del año entrante de 1804“ (1803), en AHJP, caja 273, exp 07718. Ebenda, f. 17. Zitat: „excluirme del cuerpo Politico q[u]e constituie la Republica de Naturales del Pueblo de Santa Clara“. Ebenda, f. 4v. Zitat: „siempre ha sido reputado por Indio“. Ebenda, f. 5. Zitat: „en emposicion del D[e]r[ech]o a la calidad con que esta reputado“.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Ich bin nicht nur in Besitz der Calidad eines reinen Indio aufgrund meines Rufes in der Gemeinde, der durch die Ämter, die mein Vater und ich in der República ausübten, nachgewiesen ist, sondern darüber hinaus bin ich in Besitz der Wahrnehmung oder Realität meines ehrenhaften Gebahrens, das durch eben jene Tatsachen nachgewiesen ist, dass ich verschiedene Ämter erhalten habe und nun fast alle Stimmen der Gemeinde [común] für die Regierung erhalten habe.241
Die Fälle aus Almoloya und Huitziltepec zeigen, dass die Kategorie indio einen bestimmten Status innerhalb einer indigenen Gemeinde bezeichnete. Diesem Verständnis folgten offenbar auch Verwaltungsbeamten. Es wäre jedoch problematisch, in Fällen wie den beiden diskutierten von einer Manipulation der Gesetze zu sprechen, wie Deborah E. Kanter es tut.242 De facto hatten neuspanische Verwaltungsbeamte durchaus Interesse daran, die lokale Reputation einer Person zu berücksichtigen. So lässt sich auch erklären, dass in Oaxaca im 17. Jahrhundert eine Frau, die von diversen Zeugen eher als mulata betrachtet wurde, von der Inquisition als india anerkannt wurde, da sie vor allem die regionale indigene Sprache sprach und in der Gemeinde aufgewachsen war.243 Kulturelle Kriterien wie Kleidung und Sprache konnten bei der Zuschreibung der calidad eine Rolle spielen, weil sie als Indizien für die Integration einer Person in einer lokalen Gemeinde interpretiert wurden und somit letztlich Indizien für ihre Reputation waren. Das Konzept des indio, wie es sich in den behandelten Konflikten manifestiert, ist vor dem Hintergrund des spanischen Konzepts der vecindad zu verstehen, das Tamar Herzog für Städte im frühneuzeitlichen Spanien und spanischen Amerika untersucht hat. Als vecino galt eine Person, die als Bürger einer Gemeinde mit Rechten und Pflichten anerkannt war. Dieser Status, die vecindad, war laut Herzog in Spanien vor allem durch „performance“ definiert, und nicht durch eine formale Zuerkennung.244 Diese Auffassung zeigte sich gerade in solchen Fällen, in denen es zu Konflikten um vecindad kam. Die Diskussion und Nachforschungen in der Frage, ob eine Person vecino war oder nicht, wurden 241
242
243 244
Ebenda, fs. 21-21v. Zitat: „[…] no solo estoi en posesion de la calidad de Indio puro p[o]r la publica reputacion d[e]l vecindario comprobada en los empleos q[u]e mi Padre y yo hemos exercitado en la Republica sino q[u]e a may[o]r abundam[ien]to estoi en posesion del concepto ó realidad de mi honrada conducta acreditada en las mismas circunstancias de haver obtenido distintos empleo, y haver ahora debido al Comun quasi todos sus votos p[ar]a el Gov[ier]no.“ Kanter, Deborah E.: ‘Their Hair Was Curly’. Afro-Mexicans in Indian Villages, Central Mexico, 1700-1820, in: Tiya Miles/Sharon P. Holland (Hrsg.), Crossing Waters, Crossing Worlds. The African Diaspora in Indian Country, Durham 2006, S. 172. Vgl. Tavárez, Legally Indian, 2009, S. 93. Herzog, Tamar: Early Modern Spanish Citizenship. Inclusion and Exclusion in the Old and the New World, in: John Smolenski/Thomas J. Humphrey (Hrsg.), New World Orders. Violence, Sanction, and Authority in the Colonial Americas, Philadelphia 2005, S. 205–225.
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von einem Verständnis der vecindad geleitet, das Herzog folgendermaßen beschreibt: the idea that people became citizens from the moment in which they decided to become part of the community and in which they demonstrated their wish to do so by acting as citizen, mainly complying with both privileges and duties. People who acted as citizens were thus citizens whether they did, or did not, obtain a formal declaration.245
Ebenso hing die vecindad in den Städten des spanischen Amerikas, so Herzog, seit dem 17. Jahrhundert weniger von formalen Kriterien als von der Reputation und der öffentlichen Meinung in der Gemeinde ab.246 Die lokale Anerkennung einer Person als indio implizierte zumindest theoretisch auch die Anerkennung als natural der spanischen Monarchie. Die Gemeinde vermittelte den Status indio und natural und die hiermit einhergehenden Privilegien. Hier lässt sich eine Parallele zum Verhältnis von vecindad und naturaleza im Fall spanischer Gemeinden feststellen. Vecindad, d.h. die lokale Anerkennung als vecino, war im frühneuzeitlichen Spanien laut Herzog äußerst wichtig, wenngleich nicht immer notwendig, für die Zuerkennung der naturaleza, also die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Königreichs. Fremde konnten durch die Anerkennung als vecino gleichsam zum natural werden.247 Die Zugehörigkeit zu einer korporativ verfassten indigenen Gemeinde war ein zentrales Merkmal der calidad indio, sieht man von den weniger an repúblicas gebundenen indios laboríos ab. Die Anerkennung der Zugehörigkeit zu einer indigenen república seitens der Gemeindebewohner wurde im Prinzip von derselben Logik geleitet, die Tamar Herzog für die vecindad in Städten der spanischen Welt beschrieb. Das tatsächliche Verhalten gegenüber der übrigen Gemeinde, das Erfüllen der Pflichten und die Inanspruchnahme der entsprechenden Rechte führten dazu, dass eine Person de facto als indio galt. Mit den repúblicas verfügten indigene Akteure über Institutionen, die sie als Legitimationsquelle und politische Ressource einsetzen konnten. Mit ihnen konnten sie sich in der korporativen Gesellschaft repräsentieren und in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Verwaltung und anderen Akteuren ihre Interessen vertreten.
245 246 247
Ebenda, S. 210. Zu Caracas und Buenos Aires vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 47-48, 50. Ebenda, S. 73-74.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
4. Afroamerikaner in der korporativen Gesellschaft Afroamerikaner sind in der mexikanischen Historiographie lange Zeit vor allem unter Themen wie Sklaverei oder Haciendawirtschaft behandelt worden.248 Erst in den vergangenen 15 Jahren haben dezidiert afroamerikanische Korporationen in Neu-Spanien die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, insbesondere die afroamerikanischen Laienbruderschaften und die afroamerikanischen Milizen.249 Außerdem haben sich einige Forscher mit jenen Gemeinden auseinandergesetzt, die formal als repúblicas anerkannt wurden, obwohl ihre Bewohner als Afroamerikaner galten. Diese Perspektiven haben das Bild der afroamerikanischen Bevölkerung grundlegend verändert, denn die Untersuchung dieser Institutionen zeigte, dass Afroamerikaner einen Platz im korporativen Gefüge der Gesellschaft finden konnten. In Neuspanien wurden ab dem 16. Jahrhundert vielerorts cofradías – Laienbruderschaften – errichtet. Hierbei handelte es sich um Korporationen, die unter der Aufsicht von Klerikern gegründet wurden und sich einem bestimmten Heiligen, dem Allerheiligsten oder beispielsweise dem Rosenkranz, verschrieben. Die Mitgliedschaft in einer solchen Bruderschaft konnte an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe oder Gemeinde gebunden sein, so existierten insbesondere in indigenen Gemeinden häufig cofradías.250 Auf der Iberischen Halbinsel gab es bereits vor der spanischen Eroberung Amerikas Laienbruderschaften der afrikanischstämmigen Bevölkerung. Für Neuspanien konnte Nicole von Germeten zwischen dem späten 16. Jahrhundert und dem frühen 18. Jahrhundert die Gründung von 60 Laienbruderschaften nachweisen, die sich aus Afroamerikanern zusammensetzten. Während sich in anderen Regionen des spanischen Amerikas noch zum Ende des 19. Jahrhunderts Laienbruderschaften der afroamerikanischen Bevölkerung nachweisen lassen, ist für Mexiko lediglich die Existenz einer solchen Korporation bis in die 1850erJahre belegt. Die kirchlichen Autoritäten in einigen Regionen Neuspaniens förderten die Errichtung dieser Korporationen, um die Evangelisierung der Bevölkerung voranzutreiben. Wie Germetens Studie zeigt, etablierten Afroamerikaner in Laienbruderschaften afrikanische Abstammung als Distinktionsmerkmal und schlossen beispielsweise Indigene dezidiert aus.251 Ein überraschender Befund Germetens ist, dass afroamerikanische Laienbruderschaften 248 249
250 251
Vgl. z.B. Naveda Chávez-Hita, Esclavos negros, 1987; Mentz, Pueblos, 1988. Zu den Laienbruderschaften siehe: Germeten, Black Blood, 2006; zu den Milizen: Vinson III, Bearing Arms, 2001; Vinson III/Restall, Black Soldiers, 2005; Serna, Juan Manuel de la: Integración e identidad. Pardos y morenos en las milicias y cuerpo de lanceros de Veracruz en el S. XVIII, in: Juan Ortiz Escamilla (Hrsg.), Fuerzas militares en Iberoamérica, siglos XVIII y XIX, México, D.F; Zamora; Xalapa; 2005, S. 61–91. Vgl. Germeten, Black Blood, 2006, S. 1-2; Chance, Conquest, 1989, S. 170 Vgl. Germeten, Black Blood, 2006, S. 13, 17, 121-123, 221.
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die abwertende Kategorie mulato sogar zu einer Kategorie legitimer Abstammung umdeuten konnten. Während mulato im Verständnis spanischer Eliten gerade Unreinheit und Illegitimität implizierte, wertete die afroamerikanische cofradía Sankt Benedikt in der Stadt Veracruz diese Kategorie in Absetzung von anderen Afroamerikanern, also scheinbar negros, auf. Hierbei handelte es sich um eine Laienbruderschaft afroamerikanischer Milizionäre. Im Rat der cofradía hatten im späten 18. Jahrhundert nur ‚legitime‘ mulatos eine Stimme. Im Ganzen waren derartige formale Hierarchisierungen innerhalb der cofradías entlang unterschiedlicher Kategorien afrikanischer Abstammung jedoch selten.252 Bei der Gründung afroamerikanischer cofradías führten also letztlich Evangelisierungsbestrebungen zur Errichtung afroamerikanischer Korporationen. Es wird deutlich, dass auch Afroamerikaner ihre Abstammung unter Umständen als Distinktionsmerkmal zur Abgrenzung von Anderen nutzen konnten. Das erscheint angesichts der negativen Konnotationen von Kategorien afrikanischer Abstammung und dem neuspanischen Konzept der limpieza de sangre zunächst paradox. Allerdings folgte die Aufwertung von mulatos gegenüber negros vermutlich der Logik des sistema de castas, denn die spanische Abstammungslinie der mulatos wurde zur Selbstaufwertung genutzt. Der Befund bestätigt zudem die große Bedeutung korporativer Organisation in der neuspanischen Gesellschaft. Die Kategorie im sistema de castas bestimmte die soziale Position einer Person offenbar nicht eindeutig, sondern sie konnte durch korporative Organisation in gewisser Weise umgedeutet und aufgewertet werden. Einigen afroamerikanischen Gemeinden gelang es, von der spanischen Krone rechtlich anerkannt zu werden, so dass sie analog zu den repúblicas de indios eigene Gemeinderäte wählen durften. In anderen Regionen des spanischen Amerikas wurden afroamerikanische Gemeinden bisweilen sogar als spanische Städte anerkannt.253 Landers folgert aus den Evidenzen zu afroamerikanischen Gemeinden, dass Verwaltungsbeamte in Neuspanien es mit drei und nicht nur zwei repúblicas zu tun hatten.254 Anders als diese These vermuten lässt, belegen die Prozesse und Konditionen der Anerkennung jedoch einmal mehr, dass Afroamerikaner nicht als Untertanen im vollen Sinne angesehen wurden. Während Indigene per se naturales waren und als solche über Korporationen und einen Platz in der Vorstellung der Gemeinschaft der Untertanen verfügten, mussten Afroamerikaner ihren Status aushandeln. Erst durch militärische 252 253 254
Vgl. ebenda, S. 193-194. Vgl. Hensel, Africans, 2007, S. 29. Die Autorin bezieht sich hier auf San Basilio bei Cartagena. Vgl. Landers, Jane: ‘Cimarrón’ and Citizen. African Ethnicity, Corporate Identity, and the Evolution of Free Black Towns in the Spanish Circum-Caribbean, in: Jane Landers/Barry Robinson (Hrsg.), Slaves, Subjects, and Subversives. Blacks in Colonial Latin America, Albuquerque 2006, S. 111–145, S. 130.
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Indienstnahme kamen sie dem Status des Untertanen im vollen Sinne und Vasallen des spanischen Königs ein Stück näher. Den frühesten und bekanntesten Fall von der rechtlichen Anerkennung einer afroamerikanischen Ansiedlung bildet die Gemeinde Yanga im frühen 17. Jahrhundert. Die Gemeinde wurde von entlaufenen Sklaven gegründet, war Jahrzehnte lang durch spanische Truppen bekämpft worden und hatte ihnen Widerstand geleistet. Die Bewohner formulierten 1609 Bedingungen für einen Friedensvertrag. Sie forderten neben der Anerkennung ihrer Freiheit vor allem, dass ihnen ein Gemeinderat und ein gobernador zugestanden werde. Sie boten im Gegenzug an, sich der Tributpflicht für freie Afroamerikaner zu unterwerfen, ihre militärischen Kräfte in den Dienst der Krone zu stellen und in Zukunft entlaufene Sklaven zu verfolgen.255 In der Tat wurde die Gemeinde schließlich dazu verpflichtet, entlaufene Sklaven zu jagen, wie aus der Beschwerde einiger Spanier über die mangelhafte Bewältigung dieser Aufgabe hervorgeht.256 Die Gemeinde hieß fortan San Lorenzo de los Negros oder auch San Lorenzo de Cerralvo. Für das 17. und 18. Jahrhundert ist die Existenz eines Rats in San Lorenzo belegt, denn die Gemeinde verfügte über alcaldes, regidores wie auch alguaciles257 und ihr Rat wurden von den Verwaltungsbeamten als república angesehen. So traten in einem Konflikt im Jahr 1742 als Repräsentanten der Gemeinde „die Alcaldes und übrigen Amtsträger der República und des Común der Gemeinde San Lorenzo de Cerralvo de los negros“ auf.258 Es wurden nachweislich auch 1794 noch Amtsträger gewählt, jedoch verweigerte der Intendant von Veracruz in diesem Jahr zunächst die Bestätigung der Wahlen, da die Bewohner der Gemeinde Afroamerikaner waren. Offenbar war er nicht darüber informiert, dass die „freien Pardos“ von San Lorenzo über eine Sondererlaubnis verfügten, eigene Amtsträger zu wählen.259 Nachdem der Stadtrichter (alcalde ordinario) von 255 256
257 258
259
Siehe die Transkription der von den Afroamerikanern formulierten Friedensbedingungen, in: ebenda, S. 133-135. Siehe auch Israel, Race, 1975, S. 68-69, 71. Vgl. Landers, Cimarrón, 2006, S. 128. Laut Landers wurde die Gemeinde 1618 von den spanischen Autoritäten anerkannt, während Adriana Naveda Chávez-Hita die Anerkennung auf das Jahr 1635 datiert. Vgl. ebenda, S. 128; Naveda Chávez-Hita, Esclavos negros, 1987, S. 126-127. Zur Bedeutung der Amtsbezeichnungen siehe Kap. 1.3. Für das Jahr 1642 sind je zwei alcaldes, regidores und alguaciles wie auch ein alguacil mayor und ein mayordomo belegt. Vgl. Landers, Cimarrón, 2006, S. 144. Für 1742 siehe: „P[ar]a q[ue] el alcalde ma[y]or de la villa de Cordova [...] haga q[ue] los Albazeas y erederos de J[uan] Valero [...] declaren si es cierto haver rezivido d[ic]ho Juan Valero [...] los titulos y papeles de la fundaz[i]on del Pu[ebl]o de S[a]n Lorenzo de Zerralbo de los negros [...]“, in AGN, Indios, vol. 55, exp. 97, fs. 67v-68. Zitat: „Alc[alde]s y demas ofiz[iale]s de rrepub[li]ca y comun del Pueblo de S[an] Lorenzo de Zerralbo de los negros“. Abschrift eines Briefs des Vizekönigs vom 16. April 1794, in Archivo Municipal de Córdoba, Veracruz, vol. 44, fs. 127-127v, 145-145v. Zitat: „Pardos libres“.
Afroamerikaner in der korporativen Gesellschaft
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Córdoba versichert hatte, „dass der Brauch von einer Sondererlaubnis herrührt“, wurden die pardos vom Vizekönig angewiesen, alle diesbezüglich relevanten Dokumente vorzulegen.260 Der Vizekönig sah es schließlich als ausreichend belegt an, dass der Markgraf von Cerralvo (Marqués de Cerralvo) ihnen diesen „Brauch“ zugestanden hatte und wies den Intendanten an, dieses „Privileg“ aufrechtzuerhalten.261 In San Lorenzo wählte man auch in diesem Jahr zwei alcaldes, zwei regidores und einen alguacil mayor. Obwohl die Gemeinde 1609 einen eigenen gobernador gefordert hatte, scheint sie im weiteren Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts keinen gobernador gehabt zu haben. Damit hatte ihre república zumindest symbolisch einen niedrigeren Status als repúblicas de indios, denn alcaldes als Gemeindevorsteher waren normalerweise für sujeto-Gemeinden zuständig, die einer cabecera und somit einem anderen gobernador untergeordnet waren.262 Gut belegt ist außerdem die Gründung der Gemeinde Amapa, die ebenfalls in Veracruz liegt. Wie im Fall von San Lorenzo de Cerralvo waren der Gründung der Gemeinde im Jahr 1769 viele Jahre militärischer Auseinandersetzungen vorausgegangen. Nach einer Sklavenrevolte in Veracruz im Jahr 1735 hatten sich sechs Siedlungen entlaufener Sklaven gebildet; eine davon nannte sich Palacios de Mandinga und zählte 1743 lediglich 23 Personen.263 Um 1750 nahm der alcalde mayor von Teutila bereits mit ihnen Verhandlungen über die Errichtung einer Gemeinde auf, zu der es jedoch nicht kam.264 1762 wurden sie vom Vizekönig als Gegenleistung für militärische Dienste als Freie anerkannt, aber dieser Status war nicht von Dauer, denn bald wurden sie von den Landbesitzern der Region wieder als entlaufene Sklaven gejagt.265 Erst 1769 bekamen sie die Erlaubnis, eine Gemeinde zu gründen, die Nuestra Señora de Guadalupe de Amapa genannt wurde. Damit ging die Errichtung einer Kirche und einer Pfarrei wie auch die Etablierung eines Rats aus alcaldes und regidores einher.266 Als Gegenleistung verpflichtete sich die neue Gemeinde, im Auftrag der Krone entlaufene Sklaven zu jagen.267 Wie Cerralvo durfte scheinbar auch Amapa 260 261 262 263
264
265 266 267
Ebenda. Zitat: „que la costumbre dimana de consecion particular“. Ebenda. Zitate: „costumbre“; „privilegio“. Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 59. Vgl. Carroll, Patrick J.: Mandinga. The Evolution of a Mexican Runaway Slave Community, 1735-1827, in: Comparative Studies in Society and History 19 (1977), H. 4, S. 488– 505, S. 494-495. Siehe die ins Englische übersetzte Transkription eines Berichts des Pfarrers von Amapa aus dem Jahr 1800 über die Vorgeschichte der Etablierung der Gemeinde, in Taylor, William B.: The Foundation of Nuestra Señora de Guadalupe de los Morenos de Amapa, in: The Americas 26 (1970), H. 4, S. 439–446, S. 443. Vgl. Carroll, Mandinga, 1977, S. 498. Vgl. Transkription in Taylor, The Foundation, 1970, S. 444-445. Vgl. Carroll, Mandinga, 1977, S. 499; Taylor, The Foundation, 1970.
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keinen eigenen gobernador ernennen, jedoch wurde den Bewohnern Tributfreiheit zugesichert.268 Eine weitere rechtlich anerkannte Afro-Gemeinde in derselben Region bildete laut Landers San Miguel de Soyaltepec, das 1670 die Erlaubnis bekam sich als Gemeinde zu konstituieren. 25 Jahre später bezeichneten sich die Repräsentanten der Gemeinde – unter ihnen in diesem Fall auch ein gobernador – in einem Brief an den Vizekönig als „república de negros“269. Nach einem Konflikt mit spanischen Verwaltungsbeamten, bat die Gemeinde den Vizekönig, die spanischen Verwaltungsbeamten mögen sie in Zukunft als gobernadores und alcaldes behandeln, und betonte ihm gegenüber, dass sie stets treu den Tribut gezahlt und die Küste verteidigt hätten. Der Vizekönig nahm die Klage der Gemeinde durchaus ernst und ging zumindest teilweise auf ihre Forderungen ein.270 Afroamerikaner verfügten im 17. und 18. Jahrhundert also über Strategien und Mittel, mit denen sie die rechtliche Anerkennung eigener Gemeinden durchsetzen konnten. So meint Landers, Vizekönige hätten im 17. Jahrhundert Ansiedlungen flüchtiger Sklaven aus pragmatischen Motiven anerkannt, da das mit weniger Kosten verbunden gewesen sei als eine Unterwerfung.271 Die jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Großgrundbesitzern und der spanischen Krone zeigen demgegenüber auch, dass die rechtliche Anerkennung dieser Gemeinden auf deutliche Widerstände seitens der Eliten und der neuspanischen Verwaltung stieß. Durch die Anerkennung afroamerikanischer Gemeinden änderte sich der rechtliche Status ihrer Bewohner, denn mit den Gründungsabkommen wurden die ehemaligen Sklaven zu Freien. Die Gemeinden ermöglichten den Bewohnern zudem, sich über diese Korporationen im institutionellen Gefüge der kolonialen Gesellschaft zu repräsentieren, ihre Interessen zu vertreten und ihr eigenes Land zu verwalten. Der Gemeinde San Lorenzo wurde beispielsweise ebenso viel Land zugesprochen wie sonst indigenen Gemeinden.272 In San Lorenzo, Amapa und Soyaltepec ging die Etablierung außerdem damit einher, dass die Bevölkerung der anerkannten afroamerikanischen Gemeinden sich in den militärischen Dienst der Krone stellte. Schließlich spielten militärische Aufgaben wie die Verteidigung der Küsten oder die Verfolgung von entlaufenen Sklaven eine entscheidende Rolle in den Abkommen zur Gründung der Gemeinden und somit auch in der Legitimierung ihres Sonderstatus, wie aus dem Fall Soyaltepec deutlich hervorgeht.
268 269 270 271 272
Vgl. Transkription in: ebenda, S. 446. Landers, Cimarrón, 2006, S. 130. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 129-130. Vgl. ebenda, S. 128. Das Land sollte 600 varas in alle vier Himmelsrichtungen umfassen.
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Diese Gemeinden wurden eher als militärische Stützpunkte der Krone denn als korporativ verfasste pueblos angesehen. Das verdeutlicht ein Konflikt im Zusammenhang mit der Gemeindegründung Amapas. Die Zuckermühlenbetreiber (trapicheros) der Region wollten, dass die Gemeinde an einem anderen Ort angesiedelt werde als dem, der von den ehemaligen Sklaven präferiert wurde. Sie brachten den Konflikt vor die Audiencia, den für die Region zuständigen höchsten Gerichtshof, der sich jedoch für nicht zuständig erklärte: Da die Afroamerikaner in diesem Fall Soldaten waren, unterstünden sie dem Generalkapitanat.273 Die Anerkennung von afroamerikanischen Gemeinden war also das Ergebnis von Verhandlungen und oft an die Erfüllung militärischer Aufgaben gebunden. Afroamerikaner bekamen dieses Privileg nicht als naturales der spanischen Monarchie – wie Spanier und Indigene –, sondern als Soldaten, die vom König in den Dienst genommen wurden. Wie Vinson III überzeugend argumentiert, war eine solche Indienstnahme von ehemaligen entlaufenen Sklaven als Milizionäre ein „attempt of co-opting these former runaways into becoming obliging citizens“ seitens der Krone.274 Er spricht weiter von einem „instrument of social engineering“, und schreibt: „the militia structure served as a key component in helping reorient these settlements into the pattern of village organization“.275 Die Zuerkennung von Gemeinden bei gleichzeitiger militärischer Indienstnahme sollte Afroamerikaner zudem als Vasallen an die Krone binden. In Neu-Spanien existierten im späten 18. Jahrhundert einige Siedlungen, insbesondere Haciendas, die sich zu großen Teilen oder nahezu ausschließlich aus Afroamerikanern zusammensetzten.276 Patrick Carroll nimmt an, dass auch die Gemeinde Cuajinicuilapa an der Costa Chica (ein Küstenstreifen in den heutigen Bundesstaaten Guerrero und Oaxaca) durch eine königliche Lizenz rechtlich anerkannt worden sei. So hatte sich hier im 16. Jahrhundert eine Gruppe entlaufener Sklaven angesiedelt, aber im späten 18. Jahrhundert galten die Afroamerikaner der Gemeinde als frei.277 Andere Siedlungen freier Afro273 274 275 276
277
Vgl. Transkription in Taylor, The Foundation, 1970, S. 446. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 22. Ebenda. Auch Ixhuatlan (heute wohl Ixhuatlan de Madero, Veracruz) bei Chicontepec (heute wohl Chicontepec de Tejeda) war eine Afro-Gemeinde, die jedoch wahrscheinlich nicht als ‚república‘ anerkannt war, denn sie wird 1775 lediglich als „vecindario de mulatos libres“ bezeichnet. Siehe „Para que el Justiticia mas cercano de la Jurisdiccion de Chicontepeque [...]“ (1775), in AGN, General de parte, vol. 53, exp. 316, fs. 105-106. Ein ‚palenque‘ namens Canadá de los Negros ist belegt für das Jahr 1576 bei León (im heutigen Bundesstaat Guanajuato). Vgl. Vinson III, Bearing Arms, S. 15; Palmer, Colin A.: Slaves of the White God. Blacks in Mexico, 1570-1650, Cambridge [u.a.] 1976, S. 124. Es ist belegt, dass der Vizekönig 1579 militärisch gegen die Siedlung vorging. Im Militärzensus von 1792 wurden die Personen als ‚Freie‘ registriert. Carroll verwendet die Kurz-
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amerikaner der Region wie z.B. Cortijos verdankten ihre Existenz aller Wahrscheinlichkeit nach der Errichtung einer Hacienda und gingen nicht aus einem palenque, d.h. einer Siedlung entlaufener Sklaven, hervor. Die Freiheit der Bewohner Cuajinicuilapas im späten 18. Jahrhundert impliziert nicht, dass die Gemeinde jemals offiziell als república anerkannt wurde. Möglicherweise wurde die Siedlung toleriert, da sich die ansässige Bevölkerung als freie Lohnarbeiter auf den Haciendas der Region verdingte. Cuajinicuilapa wurde 1792 als estancia, also eine Art Hacienda, bezeichnet und nahezu alle männlichen Afroamerikaner waren Landarbeiter (labradores).278 Während Sondergenehmigungen für afroamerikanische Gemeinden eher die Ausnahme als die Regel waren, konnten Afroamerikaner in einigen Regionen gewisse Verwaltungs- und Repräsentationsstrukturen etablieren, die von den Verwaltungsbeamten zumindest toleriert wurden. An der Costa Chica gab es im späten 18. Jahrhundert neben Cuajinicuilapa eine Reihe von Gemeinden, die sich nahezu vollständig oder zu großen Teilen aus freien Afroamerikanern zusammensetzten. Hier ist in einer Gemeinde ein eigener Rat der afroamerikanischen Bevölkerung belegt, der parallel zu einem indigenen Rat existierte, und zwar am Isthmus von Tehuantepec. So schrieb ein Verwaltungsbeamter im Jahr 1820 über die Gemeinde Juchitán: „Es gibt zwei Gemeindeteile, einen der Indios, einen der Mulatos, jener mit 1748 Seelen und dieser mit 1434, die von Repúblicas der entsprechenden Gruppe regiert werden.“279 Ob derartige Arrangements auch in anderen Gemeinden üblich waren, lässt sich nicht abschätzen.280 Für keine Gemeinde dieser Region ist eine königliche Erlaubnis zur Etablierung einer eigenen Gemeinde oder república belegt. Für die Region Cuautla (heute im Bundesstaat Morelos) gibt es ebenfalls Hinweise darauf, dass Afroamerikaner Institutionen zu ihrer Verwaltung und lokalen Repräsentation bildeten. Im barrio Ahuehuepa der Gemeinde Cuautla lebte um 1790 ein pardo, der als alcalde fungierte. Ob er der república de indios von
278
279
280
form ‚Cuijla‘. Vgl. Carroll, Mandinga, 1977, S. 493; Aguirre Beltrán, Gonzalo: Cuijla. Esbozo etnográfico de un pueblo negro, México, D.F. 1958. „Igualapan“ (1791), in AGN, Padrones, vol. 18, exp. 3, f. 248v. Von den 244 erfassten Männern wurden 230 mit einer Angabe zum Beruf registriert. Neben den 225 labradores gab es eine Person „sin oficio“ und je zwei vaqueros und sirvientes. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Zitat: „[…] hay dos parcialidades, una de Indios, y otra de Mulatos, compuesta aquella de 1748 almas, y esta de 1434, regidas por Republicas de sus respectivas clases […]“. Der Intendant von Oaxaca behauptet zwar gegenüber dem Vizekönig, dass ‚gemischte‘ Gemeinden üblicherweise über zwei Räte verfügten, jedoch bezieht sich seine Schilderung auf die Anfrage der subdelegados von Jamiltepec und Tehuantepec, die nur im einem Fall dezidiert davon sprechen, dass Indigene und die Afroamerikaner jeweils einen eigenen Rat gehabt hätten. Siehe hierzu die Diskussion in Kapitel 2.2.1.
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Cuautla unterstellt war, muss allerdings offenbleiben. Daneben ist ein afroamerikanischer alguacil belegt.281 Die militärische Indienstnahme von Afroamerikanern folgte einem Prinzip, das generell den Umgang der Krone mit den Afroamerikanern in den Amerikas leitete. Bereits wenige Jahrzehnte nach der spanischen Eroberung wurden Afroamerikaner als Milizionäre eingesetzt,282 und ab Beginn des 17. Jahrhunderts ließ die Krone vielerorts autonome Afro-Milizen bilden, die sich (nahezu) ausschließlich aus Afroamerikanern zusammensetzten und nicht mehr anderen Militäreinheiten untergeordnet waren. Diese compañías de pardos y morenos libres wurden zunächst vor allem in größeren Städten eingerichtet und selbst ihre höchsten Offiziere waren für gewöhnlich Afroamerikaner,283 wenngleich die Trennung zwischen Afro-Milizen und den übrigen Milizen um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Stück weit verwischt war.284 Indigene – sowohl indios laboríos als auch indios de pueblo – wurden zwar in einigen Regionen wie Tabasco und Sonora auch zum Militärdienst herangezogen, jedoch bei weitem nicht so systematisch wie im Fall der afroamerikanischen Bevölkerung.285 Afroamerikanische Milizen wurden zu militärischen Zwecken, insbesondere zur Verteidigung der Küsten, eingesetzt. In den Städten des Inlands hatten die Milizen häufig die Funktion zu patrouillieren.286 Die Offiziere waren normalerweise die einzigen Mitglieder, die monatlich entlohnt wurden. Für viele Milizionäre war der Milizdienst hingegen unattraktiv. Schließlich erforderte er, die Erwerbsarbeit zeitweise ruhen zu lassen, was eine schwere ökonomische Bürde war. Die Rekrutierung geschah daher häufig durch Zwang.287 Mit den Bourbonischen Reformen versperrte die Krone im späten 18. Jahrhundert Afroamerikanern zunehmend den Zugang zu den Offiziersposten der afroamerikanischen Milizen.288
„Padrón. Quautla de Amilpas“ ([~1791]), AGN, Padrones, vol. 8, f. 109v, 135v. Vinson III behauptet, es seien einige Fälle belegt, in denen Afroamerikaner sich in indigenen Gemeinden Machtpositionen erkämpft hätten. Er beruft sich auf ein Manuskript von William B. Taylor zur Region Jalisco. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 136. Der alguacil hatte vermutlich Wächterfunktionen inne. Zu den Ämtern siehe: Haskett, Indigenous Rulers, 1991, S. 107-108, 112. 282 Vgl. ebenda, S. 14. 283 Vgl. ebenda, S. 17. 284 Vgl. ebenda, S. 18-19. 285 Zu Tabasco vgl. ebenda, S. 161; zu Sonora vgl. Vinson III/Restall, Black Soldiers, 2005, S. 45, 33ff. 286 Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 8-9, 33-34. 287 Vgl. ebenda, S. 89-92. 288 Vgl. Vinson III, Ben: Los milicianos pardos y la relación estatal durante el siglo XVIII en México, in: Juan Ortiz Escamilla (Hrsg.), Fuerzas militares en Iberoamérica, siglos XVIII y XIX, México, D.F; Zamora; Xalapa; 2005, S. 47–60, hier: S. 54. 281
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Als Milizionäre im Dienst der Krone hatten Afroamerikaner die Möglichkeit gewisse Privilegien auszuhandeln, womit sie auf ihren rechtlichen Status erheblichen Einfluss nehmen konnten. Im späten 17. Jahrhundert gelang es den Milizionären einiger Gemeinden, vor allem in den Küstenregionen, als Gegenwert für den Militärdienst eine Befreiung von der Tributpflicht durchzusetzen. Sie argumentierten in diesen Fällen u.a. mit ihren bisherigen Verdiensten und der großen Bedeutung ihrer militärischen Aufgaben. Die Tributbefreiung machte den Militärdienst in Küstenregionen attraktiv und bisweilen erstreckte sie sich sogar auf die gesamte Familie des jeweiligen Milizionärs. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Tributbefreiung stark ausgeweitet, was zu einer deutlichen Zunahme afroamerikanischer Milizionäre führte.289 Afroamerikanischen Milizionären gelang es ab den 1760er-Jahren außerdem in einigen Regionen, sich die Zuerkennung des militärischen Sonderrechts (fuero militar) zu erstreiten. Sie wurden dadurch, ebenso wie die übrigen Milizionäre Neuspaniens, in zivil- und strafrechtlichen Belangen der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Die Praxis der Zuerkennung des fuero war im Ganzen aber uneinheitlich.290 Für die afroamerikanische Gemeinde Tamiahua waren die Milizen ein so zentrales Charakteristikum, dass sowohl die kolonialen Beamten als auch die Repräsentanten der Gemeinden selbst, die Gemeinde als vecindad de pardos libres militares bezeichneten. Der rechtliche Status der Milizionäre hatte sich damit auf die Gemeinde als korporative Einheit übertragen, denn schließlich war der Milizdienst – ungeachtet der Tatsache, dass nicht alle Bewohner Milizionäre waren – die Funktion, welche die Gemeinde in der Monarchie erfüllte.291 Afroamerikaner, die in Spanier-Milizen dienten, wurden mitunter anders behandelt als Afroamerikaner in Afro-Milizen. Die Privilegien der Tributbefreiung und des fuero wurden den Milizen als korporative Organe und nicht den Individuen zugesprochen. So versuchte der spanische Oberfeldwebel Felipe de Irusquiza (sargento mayor) der 15 Kompanien der Südküste 1779 die Tributfreiheit der Afro-Milizionäre zu erhalten. Nur sechs waren Spanier-Kompanien, die übrigen neun afroamerikanische Kompanien.292 Irusquiza argumentierte u.a. damit, dass auch die anderen Milizen im „Königreich“293 das Privileg der 289 290
291 292
293
Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 144-147, 151-152, 157, 174-175; Vinson III, Los milicianos, 2005, S. 56. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 174-175, 197. Von der uneinheitlichen Zuerkennung berichtete auch ein Verwaltungsbeamter 1790 in Tehuantepec: AGN, Tributos, vol. 34, exp. 7, fs. 118-178. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 195-196. „Exp[edien]te formado a instancia de Don Phelipe Irusquiza, Gefe de las comp[aní]as de caballeria de Xicayan sobre q[u]e no matriculen en los tributarios los que son soldados.“ (1779/1780), en AGN, Californias, vol. 58, exp. [2], fs. 81ff, hier: fs. 95-96. Vgl. auch Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 167-168. AGN, Californias, vol. 58, exp. [2], f. 99. Zitat: „Reyno“.
Afroamerikaner in der korporativen Gesellschaft
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Tributbefreiung genossen. Der für rechtliche Fragen zuständige auditor general de guerra vertrat jedoch die Auffassung, lediglich den Mitgliedern von afroamerikanischen Milizen solle die Befreiung des Tributs zugestanden werden, nicht aber den Afroamerikanern in den „Spanier-Kompanien“.294 Die Mitgliedschaft in den Milizen wirkte sich in ländlichen Regionen kaum auf den individuellen sozialen Status der Mitglieder aus, wie Vinson anhand von Heiratsverhalten und Berufsdaten feststellt. In Städten seien Handwerker eines mittleren Status eher für die Milizen rekrutiert worden als die niedrigsten Berufsgruppen. Milizionäre zeigten zudem eine etwas höhere Neigung zu Exogamie mit der spanischstämmigen Bevölkerung.295 Offiziere afroamerikanischer Milizen führten allerdings häufig den Ehrentitel Don.296 Im Kontext der Milizen wurde afrikanische Abstammung so aufgewertet, dass sie zu einem Distinktionsmerkmal wurde, das Afroamerikaner selbst verwendeten. Afroamerikanische Milizen wurden im frühen 18. Jahrhundert meist als Einheiten von pardos und morenos beschrieben wurden, und zwar sowohl seitens der Verwaltungsbeamten wie auch der Milizionäre selbst. Diese Bezeichnungen hatten, so Vinson, einen wesentlich positiveren Beiklang als mulato und negro.297 Durch den Eintritt in die Milizen veränderte sich nicht nur der rechtliche Status eines Afroamerikaners, sondern auch seine Position in der korporativen Gesellschaft. Durch die korporative Zugehörigkeit kam er dem Status eines Untertanen im vollen Sinne näher, schließlich wurde der Milizdienst der Afroamerikaner von den Zeitgenossen als Vasallentum betrachtet, also eine besondere Form der Zugehörigkeit zum spanischen König. In dem oben behandelten Konflikt um den Umgang mit phänotypischen Merkmalen in Mexiko-Stadt bezeichnete die mesa de memorias den Milizdienst der Afroamerikaner ausdrücklich als „Vasallentum“.298 Laut Vinson wurde race innerhalb der Afro-Milizen im 17. und 18. Jahrhundert zur sozialen Distinktion verwendet.299 So unterschied man in Veracruz bereits im 17. Jahrhundert nach pardo- und moreno-Einheiten und nach einer Ordnung der 1760er-Jahre galten für beide Einheiten verschiedene Kleidervorschriften.300 In einem Konflikt um die Vergabe von Posten innerhalb der afroamerikanischen Milizen von Mexiko-Stadt setzte sich Anfang des 18. Jahrhunderts außerdem ein Kommandant erfolglos dafür ein, die Trennung 294 295 296 297 298
299 300
Ebenda. Zitat: „compañias tituladas de españoles“. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 130. Vgl. ebenda, S. 86. Vgl. ebenda, S. 200. „Expediente sobre si son reserbados los Expositos de tributar, por esta calidad“, AGN, Tributos, vol. 55, exp. 12, fs. 330-368, hier f. 344v. Zitat: „basallaje“. Zum Verständnis des Vasallentums vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 132-136. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 204-205. Vgl. Serna, Integración, 2005, S. 71-72.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
nach pardos und morenos auch dort zu etablieren.301 Eine bisher rechtlich irrelevante kategoriale Unterscheidung sollte mit einer rechtlichen Bedeutung aufgeladen werden, indem man zwei verschiedene Typen von Korporationen errichtete. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts protestierten in Veracruz zudem pardos und mulatos gegen die Ernennung eines moreno zum Kommandanten. Sie befürchteten, die morenos würden die Oberhand in den Kompanien gewinnen.302 Afroamerikaner bedienten sich also der Zuschreibungslogik des sistema de castas, um Hierarchien innerhalb der afroamerikanischen Milizen oder zwischen den Milizen durchzusetzen. Die Afro-Milizen wurden seitens der afroamerikanischen Bevölkerung in einigen Regionen als dezidiert afroamerikanische Korporationen begriffen und von den Milizionären bisweilen als solche verteidigt. Das zeigte sich Ende des 18. Jahrhunderts, als Afroamerikaner in den oberen Rängen der afroamerikanischen Milizen per Gesetz durch Spanier ersetzt wurden. An der Küste Oaxacas löste dieser Vorgang heftige Proteste aus, an die man sich in der Region noch Jahrzehnte später erinnern sollte. Die Milizionäre forderten ausdrücklich, keine Spanier als Offiziere der Milizen zuzulassen. Vinson interpretiert diesen Fall als Beleg für die „racial identity“ afroamerikanischer Milizionäre.303 Afrikanische Abstammung bildete hier also ein Distinktionsmerkmal, das von den Milizionären hochgehalten wurde, um Spaniern die Offiziersposten zu verwehren. Bisweilen bezeichneten afroamerikanische Milizionäre sich selbst als morenos, pardos oder mulatos. Im Kontext der Milizen hatten Kategorien afrikanischer Abstammung gemäß Vinsons Interpretation eine andere, weniger abwertende Bedeutung, als ihnen gemäß dem sistema de castas innewohnte. Sie konnten mit Privilegien assoziiert werden und wurden gegenüber der kolonialen Verwaltung entsprechend verwendet, um diese Privilegien einzufordern.304 So repräsentierten sich afroamerikanische Milizionäre, ähnlich wie die indigenen Gemeinden, kollektiv gegenüber den Repräsentanten der kolonialen Verwaltung. Die AfroMilizen von Jicayán an der Costa Chica Oaxacas beschwerten sich 1790 darüber, dass der subdelegado Francisco Paris von ihnen die Zahlung des Tributs verlangte. Sie unterschrieben als „die Mulato- und Negro-Lanzenträger“.305 Afroamerikanische Milizionäre konnten sich, aufgrund der durch Militärdienste demonstrierten Treue, als Untertanen gegenüber der Krone präsentieren. So 301 302 303
304 305
Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 204-205. Vgl. ebenda, S. 204-205. Vgl. ebenda, S. 208-210, Zitat: S. 210. Siehe auch: [Brief des Bischofs Antonio von Antequera (4. November 1811)], AGN, Indiferente Virreinal, caja 3239, exp. 025, Infidencias, fs. 1-4. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 130, 215. „Quejas de los Mulatos y Negros Lanzeros de la costa del Sur, contra el Subdelegado de Igualapan D[o] Francisco Paris“ (1790), in AGN, Indiferente Virreinal, caja 2316, exp. 14, hier: f. 1. Zitat: „los mulatos y negros lanzeros“.
Afroamerikaner in der korporativen Gesellschaft
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taten es 1784 einige Männer aus Tamiahua, als sie versuchten, ihre Tributbefreiung zu verteidigen: Die freien Pardos, Negros und Morenos der Gemeinde Tamiahua, Distrikt Huauchinango, in diesem Amerika haben die Ehre, ihre Bitte zur Milde Eurer Majestät zu erheben, wobei sie sich zu den Füßen Eures königlichen Throns legen, mit all der Treue, die sie unter Beweis gestellt haben. Mehr als ein Jahrhundert waren unsere Vorfahren und später wir in Besitz der Tributfreiheit, nicht aufgrund von Widerstand gegen dieses gerechte Recht, sondern weil die Dienste gegenüber Eurer Majestät diese Freistellung in höchstem Maße aufwiegen.306
Afroamerikanische Milizionäre in gemischten Milizen hatten hingegen kein Interesse daran, sich als Afroamerikaner zu identifizieren. So forderten drei Veteranen 1790 in Valladolid, als „Veteranen“ von der Tributpflicht weiterhin freigestellt zu werden.307 Sie baten dies „als katholische Christen, die wir unserem heiligen Glauben folgen“.308 Die Männer legitimierten ihre Position als Christen, womit sie ihre moralischen Qualitäten betonten. Der subdelegado von Guaniqueo, einem benachbarten Distrikt, war offenbar mit einer Untersuchung des Falls beauftragt worden und berichtete: „Es ist offensichtlich, dass die drei zu einer tributpflichtigen Casta gehören“.309 Es handelte sich wahrscheinlich um Afroamerikaner, denn außer ihnen waren nur die Indigenen tributpflichtig, die aber für gewöhnlich nicht zu Milizdiensten herangezogen wurden. Gerade in ländlichen Regionen füllten die Afro-Milizen des 18. Jahrhunderts, und insbesondere deren Offiziere, in der Verwaltungspraxis Funktionen aus, die mit denen der indigenen Gemeinden vergleichbar waren. So schreibt Vinson über die Milizen im Vergleich zu indigenen Kaziken: Both were deemed natural leaders of their respective ‚communities‘. They were called upon to serve as interlocutors for the government by shaping opinions, ex-
306
307
308 309
„Testimonio del exp[edien]te [...] sobre releva de tributos para los Milicianos de Cosamaluapa y otras partes.“ (1784), en AGN, Californias, vol. 58, exp. [1], hier: fs. 5555v. Zitat: „Los Pardos, Negros y Morenos libres de el Pueblo de Tamihagua Jurisdiccion de Guauchinango en esta America logran el honor de elevar sus ruegos a la clemencia de V[uestra] M[agestad] postrandose a los Pies de su Real Trono con toda lealtad que tienen acreditada. Mas de un siglo se han mantenido nuestros Predecesores continuando nosotros en la posesion de no pagar Tributo, no por resistir este justo derecho, sino por que los servicios hechos a V[uestra] M[agestad] le compensan con exceso esta ecepcion.“ „Vall[a]d[olid]. Instancia de varios Individuos Milicianos s[ob]re que les compelen a pagar el Tributo“ (1790), AGN, Tributos, vol. 40, exp. 12, fs. 233-239, hier: f. 234v. Zitat: „soldados veteranos“. Ebenda. Zitat: „como christianos catolicos siguiendo n[ues]tra Santa fée“. Ebenda, f. 235. Zitat: „Es constante q[u]e los tres son de casta Tributaria“.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
tracting taxes, harnessing labor, imposing the law, and influencing their racial peers through a variety of informal means.310
Die Tributbefreiung afroamerikanischer Milizionäre bedeutete, dass ein zentrales soziales Distinktionsmerkmal aufgehoben wurde. Afroamerikaner kamen so dem Status der Spanier und Mestizen ein wenig näher, denn schließlich war nur die indigene und die afroamerikanische Bevölkerung als tributpflichtig gekennzeichnet. Aufgrund der Veränderung des rechtlichen und sozialen Status, der mit dem Milizdienst einherging, war die calidad von Milizionären schwer zu bestimmen. Dies führte in einigen Gemeinden von Veracruz zu großen Problemen bei der Tributeinziehung. Vermutlich nach einer Reformierung des Milizwesens sollten die Afroamerikaner der Gemeinde Tamiahua im Distrikt (jurisdicción) Huauchinango 1791 zur Zahlung des Tributs gezwungen werden.311 Der für die Tributeinziehung in Veracruz verantwortliche Antonio de Argumedo beklagte sich über die Probleme bei der Anfertigung der Tributlisten: Andere sagen, sie seien keine Mulatos, von denen ich durch glaubwürdige Zeugen, bei denen ich mich außerhalb des Verfahrens informiere, die Information habe, dass sie es sind. Ich befrage erneut diejenigen, die behaupten, Spanier zu sein, und sie stellen mir Zeugen vor, die dies bestätigen. Ich konsultiere die Pfarrbücher und nach langer Arbeit erreiche ich nichts; sei es, weil die Archive lückenhaft sind […]; sei es, weil ich feststelle, dass ich ein und dieselbe Familie und sogar ein und dieselbe Person an einer Stelle als Spanier finde, woanders als Mulato und an anderer Stelle ohne Calidad.312
Offenbar waren die Einträge in den Taufregistern äußerst widersprüchlich, und die Zeugenaussagen zur calidad und Reputation einzelner Personen erschienen dem Tributeintreiber nicht glaubhaft. Als sich Sebastián Ortíz, der subdelegado von Huauchinango, in den 1790er-Jahren um die Eintreibung des Tributs kümmerte, sah er sich weiterhin mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Ortíz berichtete im November 1794 von seinen Schwierigkeiten, den königlichen Tribut von den Afroamerikanern seines Distrikts einzuziehen.313 Einige Ge310 311
312
313
Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 31. „El Procurador Jose Maria Estrada p[o]r los milicianos Pardos de Tamiagua q[u]e se les quiere comprender en la matricula de Tributarios“ (1791), AGN, Tributos, vol. 40, exp. 14, fs. 249-257. Ebenda, hier: f. 272v-273. Zitat: „Otros dicen no son Mulatos: de los que tengo noticia por algunos testigos fidedignos que extrajudicialmente de ellos me informo, que lo son: reclamo de nuebo a los que suelen decir son españoles, y me presentan testigos de que efectivamente lo son: ocurro a los libros de Parroquia, y después de un largo trabajo nada consigo, yá por que estan los Archivos diminutos [...], y yá por q[u]e adbierto que en una misma familia, y aun en un mismo sujeto, en una parte lo encuentro de español, en otra de mulato, y en otra sin calidad.“ „Expediente formado a consultas del Subdelegado de Huauchinango D[o]n Sebastian Ortiz, sobre si deba exigirles el Tributo a los Pardos que expresa, no habiendolo
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meinden, die hauptsächlich aus Afroamerikanern bestanden, waren generell von der Zahlung des Tributs ausgenommen, da die ansässigen Afroamerikaner die Milizen stellten.314 In den übrigen Gemeinden seines Distrikts lebten jedoch Personen, die er für pardos, also Afroamerikaner, hielt, und daher auch für tributpflichtig. Sie bestritten aber offenbar pardos zu sein: „die Bewohner, die nicht als Spanier betrachtet und behandelt werden, betrachten sich als und möchten sich betrachten als Castizos oder Mestizos“315. Auf eine Anfrage Ortiz’ hin, hatten ihn die Priester des Distrikts auf Grundlage der Pfarrregister über die calidad jener Personen informiert. Mit Ausnahme von zweien (Xalpantepeque und Pantepeque) hatten sie angegeben, dass in ihren Pfarrregistern keine Personen pardos erwähnt würden. Trotzdem waren Ortiz’ Zweifel hiermit noch nicht ausgeräumt, denn er wollte wissen, ob auch mestizos und castizos Tribut zahlen mussten.316 Außerdem war er sich nicht über die Beweiskraft der Taufregister im Klaren, denn er fragte hinsichtlich der dort erfassten Personen, „ob schon die Taufurkunde als Dokument genügt, um sie gemäß der Calidad zu betrachten, die in ihr genannt wird“.317 Wie Ortiz schließlich entschied, wer zahlen musste und wer nicht, geht aus der Quelle nicht hervor. Im Januar 1795 begann Ortiz zumindest die Einziehung des pardoTributs von jenen Personen „die ich als von dieser Calidad betrachte“.318 Auffällig ist, dass in diesem Fall eine große Diskrepanz zwischen Ortiz’ Wahrnehmung einerseits und der lokalen Reputation der Personen sowie den Pfarrregistereinträgen andererseits bestand. Insbesondere die Tatsache, dass in den Pfarrbüchern praktisch keine pardos auftauchen, verdient Beachtung. Das lässt sich mit der großen Definitionsmacht der lokalen Ebene erklären. Die Bewohner definierten sich selbst als Spanier, Mestizen oder castizos. Die Behauptung, sie seien Spanier, Mestizen und castizos war u.a. durch die Tributfreiheit ermöglicht worden, denn die Milizionäre wurden nicht in den Tributlisten geführt. So hatten viele Personen gegenüber den Pfarrern plausibel machen können, dass sie keine pardos waren.
314 315 316 317
318
verificado, respecto a que se tienen p[o]r Castizos o Mestizos“ (1794), in AHJP, exp. 6270. Dies galt laut ihm für die Gemeinden Tamiahua, Tamapache, Tuxpan und Tihuatlan. Ebenda. Zitat: „los moradores […], que no son Españoles tenidos y reputados por tales, se tienen y quieren tener por castizos ó mestizos“. Das war im späten 18. Jahrhundert in einigen Regionen Neu-Spaniens durchaus üblich. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 136. „Expediente formado a consultas del Subdelegado de Huauchinango D[o]n Sebastian Ortiz, sobre si deba exigirles el Tributo a los Pardos que expresa, no habiendolo verificado, respecto a que se tienen p[o]r Castizos o Mestizos“ (1794), in AHJP, exp. 6270. Zitat: „si solo la fe de Bautismo es suficiente documento para tenerlos por la calidad que en ella se dice“. Ebenda. Zitat: „que he conceptuado de esta calidad“.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Ein ähnlicher Konflikt trat ein Jahr später in Xicotepec auf. Einige Bewohner dieser Gemeinde, die auch Ortiz unterstellt war, zahlten den pardo-Tribut für das Jahr 1794. Im Februar 1796 wehrten sich jedoch dreizehn Männer dagegen, weiterhin als pardos registriert zu werden. Nach eigenen Angaben hatten sie den Tribut nur gezahlt, um den spanischen König im Krieg gegen Frankreich zu unterstützen, und aus demselben Grund hatten sie eine freiwillige Spende an den König entrichtet. Dies geht aus einem Brief an den subdelegado und den Intendanten hervor, in dem sie versuchten, die anstehende Zahlung des pardo-Tributs abzuwehren.319 Die Männer bezeichneten sich in dem von einem Juristen aufgesetzten Brief selbst als „Spanier, Castizos und Mestizos“ und gaben an, nicht von „tributpflichtigen Castas“320 abzustammen, was sie jedoch bedauerlicherweise nicht beweisen könnten, da das Pfarrarchiv abgebrannt sei. Daher baten sie darum, dass durch Zeugenaussagen älterer und angesehener Gemeindebewohner die Bestätigung ihrer „Reinheit“ und der ihrer Vorfahren eingeholt werde.321 Die Männer versuchten hier kollektiv ihre calidad und damit ihren rechtlichen Status zu verhandeln. In ihrer Eingabe führten sie aus Xicotepec die Mitgliedschaft ihrer Vorfahren in den königlichen Milizen als Hauptargument an, um zu belegen, dass sie nicht von „tributpflichtigen Castas“ abstammten. Nach ihrer Darstellung waren erst neuerdings pardos zu den Milizen der Region zugelassen worden, ihre Vorfahren hätten aber bereits zuvor in den königlichen Milizen gedient.322 Der subdelegado nahm diese Argumente ernst, denn er bestätigte gegenüber dem Intendanten sowohl die Mitgliedschaft der Gemeindebewohner und ihrer Vorfahren in den Milizen wie auch den Verlust der Pfarrregister durch den Brand. Er äußerte sich aber nicht zu ihrer Abstammung oder anderen möglichen Indikatoren ihrer calidad: Es gibt keinen Zweifel, dass die Stände [estados] von Xicotepec seit alter Zeit, als alle Bewohner [vecinos] dieses Distriktes als Miliz-Soldaten für die Bewachung der Küste von Barlovento galten und als solche behandelt wurden, Soldaten, Gefreite und Feldwebel waren. Ebenso gibt es keinen [Zweifel], dass, als in den letzten Jahren das Pfarrhaus des genannten Xicotepec brannte, alle Pfarrbücher vernichtet wurden, weshalb sie weder von sich selbst noch von ihren Vorfahren Taufurkunden präsentieren können wer-
319 320 321 322
[Huauchinango. Algunos vecinos del pueblo de Xicotepec para no pagar el tributo por ser de calidad castizos], in AHJP, exp. 5077, s/f. Ebenda. Zitate: „Españoles, Castizos, y Mestizos“ ; „castas tributarias“. Ebenda. Zitat: „limpieza“. Ebenda.
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den, aber sie werden die Information geben können, die die Bewohner dieser Cabecera bieten.323
Die Eingabe war im Ganzen nicht von Erfolg gekrönt oder zumindest nicht von bleibendem Erfolg, denn im Jahr 1802 wehrten sich dieselben 13 Männer mit den gleichen Argumenten weiterhin gegen die Einziehung des Tributs.324 Fraglich ist allerdings, wie die Aussage der Bewohner einzuordnen ist, dass erst seit der Reformierung der Milizen auch Afroamerikaner zu den Milizen zugelassen worden seien. Der subdelegado, der bereits seit 1783 in Huauchinango tätig war,325 äußerte sich zu dieser angeblichen Reformierung nicht. An den Küsten von Veracruz spielten Afroamerikaner nachweislich bereits ab dem 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle als Milizionäre, sei es als Mitglieder von afroamerikanischen oder auch der gemischten Milizen.326 Zu den Milizen Xicotepecs während des 18. Jahrhunderts liegen keine Informationen vor. Die Reformierung des Milizwesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte aber laut Vinson zu einer drastischen Abnahme der Zahl afroamerikanischer Milizionäre, was der Behauptung der Männer aus Xicotepec widerspricht.327 Im Distrikt Huauchinango wurden die Milizen 1781 und 1793 verkleinert. Im Zuge dieses Prozesses verloren viele Milizionäre ihre Privilegien, wenngleich 323
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[Huauchinango. Algunos vecinos del pueblo de Xicotepec para no pagar el tributo por ser de calidad castizos], in AHJP, exp. 5077, s/f. Zitat: „No hay duda, de que los estados de Xicotepeque, desde la antiguedad, y quando todos los vecinos de esta Jurisdiccion se tenian y reputaban por soldados Milicianos para la guarda de esta Costa de Bartolobento, fueron soldados, cabos, y sarjentos. Tampoco la hay, en que en años pasados haviendose incendiado las casas curales del relacionado Xicotepeque, perecieron todos los libros Parroquiales, por cuia razon no podrán presentar las Fees de Bautismo de ellos, ni de sus antepasados, pero si podran dar la informacion que ofrecen con vecinos de esta cavezera.“ Für die Jahre 1802 und 1803 sind zahlreiche Zeugenaussagen erhalten wie auch eine Bestätigung des indigenen Gemeinderats, mit denen die calidad der Personen, die sich 1796 an den Intendanten wandten, und weiterer belegt werden sollte. AHJP, caja 268, exp. 7456. Siehe auch zum Jahr 1802 AHJP, caja 268, exp. 7470 und zum Jahr 1803 AHJP, caja 272, exps. 7629, 7635-7653. Die Bestätigung des indigenen Gemeinderats befindet sich in AHJP, caja 0272, exp. 07638. Der Brand des Pfarrhauses wurde weiterhin angeführt, vor allem aber war die Mitgliedschaft in den Milizen nach wie vor das zentrale Argument. Die Zeugenaussagen aus den Jahren 1802-1803 befinden sich in: AHJP, exps. 7635-7653, 7684-7686. Sebastián Ortiz war im Distrikt Huauchinango 1783 zunächst als alcalde mayor eingesetzt worden und fungierte später als subdelegado. Vgl. Meade, Joaquín: La Huasteca veracruzana, México, D. F. 1962, Bd. 1, S. 268. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 19-20, 24. Villaseñor y Sánchez, José Antonio de: Theatro Americano. Descripción general de los reynos, y provincias de la Nueva-España, y sus jurisdicciones, México 1742. S. 313. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 41.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
in diesem Distrikt, besonders in der Gemeinde Tamiahua, viele Milizen fortbestanden und somit viele Männer im Besitz der entsprechenden Privilegien blieben.328 1793 kam es also zu einer Reduktion der Milizionäre in der Region und Ortiz berichtete 1794 von den Problemen mit der Einziehung des pardoTributs. Der Konflikt in Xicotepec ist also im Kontext der Milizreformen zu verorten. Schließlich rechtfertigten die 1796 klagenden Männer lediglich den im Jahr 1794 entrichteten pardo-Tribut als Unterstützung für den König, erwähnten aber keine vorausgegangenen Tributzahlungen.329 Auch der subdelegado scheint lediglich die Tributzahlung dieses Jahres als Argument gegen sie verwendet zu haben. Offensichtlich hatten die 13 Männer aus Xicotepec zuvor keinen Tribut gezahlt. Die Reformierung des Milizwesens und der damit verbundene Privilegienverlust brachte die Milizionäre Xicotepecs in die Situation, ihre calidad von Neuem aushandeln zu müssen, wollten sie nicht als tributpflichtige pardos registriert werden. Der rechtliche Status des Milizionärs und die Tributbefreiung hatten die Frage der calidad der Männer über viele Jahre in den Hintergrund treten lassen, zumindest in der Interaktion mit der spanischen Verwaltung. Da sie keinen Tribut zahlten, waren sie der Meinung, keiner tributpflichtigen casta anzugehören. Der subdelegado verwendete nicht zufällig die Formulierung, mit der zu jener Zeit in Neu-Spanien üblicherweise die calidad einer Person beschrieben wurde, als er sagte, dass alle vecinos „als Miliz-Soldaten […] galten und als solche behandelt wurden“330. Durch ihren Status als Milizionäre hatten die Männer eine calidad, die der von Spaniern und Mestizen ähnelte. Der Milizionärsstatus hatte die Frage nach ihrer Abstammung in den Hintergrund treten lassen. Afroamerikaner konnten sich durch die Zugehörigkeit in repúblicas de negros, Laienbruderschaften und in den weit verbreiteten afroamerikanischen Milizen in das korporative Gefüge der kolonialen Gesellschaft eingliedern. Die Mitgliedschaft in Korporationen ermöglichte ihnen, die negativ konnotierten Kategorien afrikanischer Abstammung umzudeuten, und die im sogenannten sistema de castas definierte Hierarchie der calidades konnte durch korporative Zugehörigkeit umgangen werden. Als Milizionäre hatten Afroamerikaner gegenüber der 328 329
330
Vgl. ebenda, S. 191. Schon 1781, also im Jahr der ersten Reduktion der Milizen, mussten einige Bewohner Xicotepecs ihre calidad belegen, möglicherweise ebenfalls im Kontext der Einziehung des pardo-Tributs. Dies geht aus dem Katalog des AHJP hervor, jedoch waren die entsprechenden Dokumente (AHJP, exp. 4744-4747) zum Zeitpunkt der Recherche nicht einsehbar. [Huauchinango. Algunos vecinos del pueblo de Xicotepec para no pagar el tributo por ser de calidad castizos], in AHJP, exp. 5077, s/f. Zitat: „se tenian y reputaban por soldados Milicianos“.
Zum Konzept der calidad
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spanischen Verwaltung zudem eine günstigere Verhandlungsposition, wenn es um die Tributpflicht ging. Mit der Tributbefreiung und der Unterstellung unter die militärische Sondergerichtsbarkeit bekamen afroamerikanische Milizionäre Privilegien, die im Widerspruch zur allgemeinen Geringschätzung afrikanischer Abstammung standen wie auch zum rechtlichen Status anderer Afroamerikaner. Die koloniale Verwaltung nahm die afroamerikanischen Milizen als Korporationen ernst, denn sie bezeichnete sie mit weniger abwertenden Kategorien. Außerdem wurden sie in der Praxis als Korporationen der afroamerikanischen Bevölkerung in Analogie zu den indigenen Gemeinden behandelt. Die afroamerikanischen Milizen bildeten so eine Form des Vasallentums, die afrikanische Abstammung aufwertete, und den Milizionären eine besondere Bindung an die Krone und die Monarchie verlieh.
5. Zum Konzept der calidad Hinter Bezeichnungen wie indio, mulato oder español verbarg sich ein Konzept von calidad, das aus heutiger Sicht unscharf erscheint. Denn bei der Zuschreibung einer calidad spielten unterschiedliche Kriterien eine Rolle, über deren Hierarchie keine Einigkeit bestand. Betrachtet man das Konzept vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Vorstellungen von rechtlicher und sozialer Ordnung der spanischen Welt, wird deutlich, dass es Züge trägt, die auch für andere frühneuzeitliche Konzepte sozialer Differenzierung typisch waren. Die calidad wurde seit dem 16. Jahrhundert durch Abstammung und eine Vorstellung von Reinheit und Unreinheit definiert, die mit religiösen Normvorstellungen einherging. Das Konzept der naturaleza im Sinne von Abstammung spielte eine wichtige Rolle für die Zuschreibung der calidad. Aufgrund dieses Zusammenhangs wurden Taufregister, Informationen über die Familiengeschichte einer Person und phänotypische Merkmale als Kriterien zur Bestimmung der calidad herangezogen. Die Abstammung und die hiervon abzuleitende calidad bildeten in der Vorstellung der Krone und der spanischen Verwaltung die Grundlage für die Zuerkennung von Privilegien. Abstammungslinien wurden auch in Hinblick auf die Zugehörigkeit einer Person zur spanischen Monarchie interpretiert. Indigene, Spanier und ihre Nachkommen stammten aus der spanischen Monarchie, waren katholisch bzw. Neubekehrte im christlichen Glauben und galten deshalb als naturales – also Eingeborene der spanischen Monarchie. Entsprechend waren Indigene und Spanier mit Privilegien bedacht worden und wurden von der Krone im Prinzip als zwei gleichwertige Klassen von Untertanen betrachtet, was sich deutlich an dem erwähnten Erlass von 1697 zeigte. Afrikaner und Afroamerikaner galten hingegen nicht als naturales und verfügten daher über keine Privilegien.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
In der Praxis war in Neuspanien häufig die Reputation einer Person ausschlaggebend für die Zuschreibung der calidad. Das unmittelbare soziale Umfeld einer Person konnte nicht nur bei Zeugenbefragungen über die calidad einer Person mitbestimmen, sondern bereits die Verortung einer Person in einem bestimmten sozialen Umfeld hatte Auswirkung auf die Zuschreibung der calidad einer Person. Dies zeigt beispielsweise das erwähnte Verschwinden afrikanischer Abstammungskategorien in neuspanischen Städten. Auch die Integration in eine lokale Gemeinde, also die Frage der vecindad, konnte über die calidad einer Person entscheiden. Kulturelle Merkmale wie Sprache und Kleidung konnten ebenso als Indizien der calidad gewertet werden, denn sie gaben Auskunft über die Zugehörigkeit zu und das Aufwachsen in einer bestimmten Gemeinde. Da die calidad mit einem bestimmten Rechtsstatus verbunden war, der über Tributpflicht und Gerichtsbarkeit entschied, wurden auch diese beiden Kriterien zur Bestimmung der calidad verwendet. In der Praxis der Zuerkennung der calidad bestand somit kein notwendiger Zusammenhang zwischen Abstammung und Rechtsstatus. Vielmehr verschmolzen verschiedene Kriterien wie Abstammung, Rechtsstatus, Reputation und korporative Zugehörigkeit untrennbar miteinander und bedingten sich gegenseitig. Je nach Kontext waren die verschiedenen Kriterien ausschlaggebend dafür, welche calidad einer Person auf lokaler Ebene oder seitens der Verwaltung zuerkannt wurde. Die Einschätzungen von Gemeindebewohnern und Kronbeamten bedingten sich dabei gegenseitig. In Streitfällen fragten Kronbeamte die Bewohner einer Gemeinde nach der Reputation der betreffenden Person. Die Verwaltung respektierte dabei häufig die Definitionsmacht der lokalen Akteure über die calidad und spiegelte diese in ihren eigenen Kategorisierungen wider. Gerade indigene Gemeinden bildeten aus Sicht der Verwaltung eigene politische Körper, die selbst über die Zugehörigkeit in ihnen entscheiden sollten und daher definieren durften, wer indio war. Mussten Zeugen sich zur calidad einer Person äußern, machten die Befragten ihrerseits wiederum Aussagen über Tributpflicht und Rechtsstatus, äußerten sich also zu der bisherigen rechtlichen Behandlung der Person seitens der Verwaltung. Die calidad bedingte aber keineswegs vollständig den Rechtsstatus eines Individuums. So ermöglichte die korporative Ordnung den Afroamerikanern, ihren rechtlichen Status aufzuwerten und in ein besonderes Verhältnis zur Krone einzutreten. Dies geschah durch den Militärdienst. Als Milizionäre wurden Afroamerikaner als Vasallen des Königs anerkannt, was die Zuerkennung von Privilegien rechtfertigte. Das Vasallentum war, neben dem Status des natural, eine weitere Form der Zugehörigkeit zur spanischen Monarchie, da der Militärdienst die Treue zur Monarchie implizierte.
Zum Konzept der calidad
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Wirft man einen Blick auf das frühneuzeitliche Konzept Adel, so wird deutlich, dass Adel und calidad ähnliche Charakteristika hatten.331 Christian Büschges wies bereits anhand des Adels von Quito auf die Parallele zwischen Adel und calidad während der Kolonialzeit hin: „Der Adel war, ähnlich wie der ethnische Status, von weitgehend informeller Natur und ergab sich aus der Vermittlung von individuellem Anspruch und allgemeiner Akzeptanz.“332 In der Tat scheinen die oben diskutierten Streitfälle um vermeintliche Afroamerikaner, die beanspruchten indios zu sein, diese These zu bestätigen. Solange der Anspruch des Einzelnen, indio zu sein, auf die Zustimmung der übrigen Gemeinde traf, galt er auch als indio. Hiermit lässt sich auch erklären, weswegen indigene Adelige bisweilen beanspruchten als español zu gelten.333 Ähnlich schreibt Büschges über das Konzept der Ehre in Quito im 18. Jahrhundert: „In der sozialen Praxis im 18. Jahrhundert bedeutete Ehre vor allem Reputation oder Ruf, als vererbbare Eigenschaft in seinem Wesen an eine Familie gebunden, also eine Abstammungslinie.”334 Die Ehre bestand also in der Reputation einer Person, konnte aber durch Abstammung vererbt werden. Reputation und die Zuschreibung von bestimmten Abstammungslinien waren also sowohl im Fall von Ehre und Adel wie auch im Fall der calidad untrennbar miteinander verwoben. Hierbei handelt es sich nicht um eine Besonderheit der spanischen Welt. Das Verständnis von Adel war im frühneuzeitlichen Frankreich ähnlich diffus und vieldeutig und wies nicht zufällig deutliche Parallelen zum Konzept der calidad auf. Beispielsweise beanspruchte der Monarch in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert zunehmend die Funktion, Personen Adelstitel zuzusprechen und damit den zweiten Stand zu definieren. Hiermit widersprach er aber dem Selbstverständnis Adeliger, die sich auf ihre Abstammung beriefen. Letztere verstanden Adel als eine immanente Eigenschaft und nicht nur als rechtliche Kategorie. Es existierten auch Konzepte, die Adel vor allem als eine soziale Zuerkennung – also die Reputation einer Person – auffassten. So schreibt Elie Haddad über das Konzept Adel einen Satz, der ebenso für die kolonialzeitliche calidad gelten könnte:
331 332
333 334
Ich danke Barbara Stollberg-Rilinger, die mich auf die Parallelen zwischen ‚calidad‘ und ‚Adel‘ aufmerksam gemacht hat. Vgl. Büschges, Christian: Familie, Ehre und Macht. Konzept und soziale Wirklichkeit des Adels in der Stadt Quito (Ecuador) während der späten Kolonialzeit, 1765-1822, Stuttgart 1996, S. 238. Vgl. Herzog, Naturales, 2011, S. 29. Büschges, Christian: ‘Las leyes del honor’. Honor y estratificación social en el distrito de la audiacia de Quito (siglo XVIII), in: Revista de Indias 57 (1997), H. 209, S. 55–84, S. 78. Zitat: „En la práctica social, durante el siglo XVIII, el honor significó sobre todo reputación o fama, vinculada en su esencia, como una calidad transmisible por herencia, a una familia, o sea, a un linaje.“
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
Thus, nobility never was an ‚essence‘ with a fixed definition recognized by all. On the contrary, it always was the result of social interactions and conflicts, which tested the social representations, social practices, and the juridical ele335 ments on which these representations and practices were founded.
Die verschiedenen Dimensionen der calidad lassen sich darüber hinaus im Eintrag zum Begriff calidad des spanischen Diccionario de Autoridades von 1729 nachvollziehen. So wird calidad hier einerseits als „Adelswürde und Glanz des Blutes“ definiert, aber ebenso u.a. als „Umstand, der einem Individuum oder einer Sache eigen ist und sie schätzenswert und achtbar macht, was ihr Inneres wie auch ihr Äußeres betrifft“.336 Die Mehrdeutigkeit von calidad lässt sich analytisch nicht vollkommen auflösen. Vielmehr ist sie mit dem von Thomas Bauer geprägten Begriff der „kulturellen Ambiguität“ zu verstehen.337 Nach Bauers Konzeption verweist der Begriff u.a. auf die Mehrdeutigkeit von Begriffen, Handlungsweisen und Objekten. Von kultureller Ambiguität spricht er u.a., „wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann“. „Ambiguitätstoleranz“ liege vor, wenn „sich Phänomene kultureller Ambiguität über einen längeren Zeitraum beobachten lassen“.338 In dieser Terminologie und auf den behandelten Problemzusammenhang transferiert, erlaubte also die hohe Ambiguitätstoleranz der neuspanischen Gesellschaft die Verwendung eines derart mehrdeutigen Begriffs wie calidad. Inwiefern kann es vor dem Hintergrund dieser frühneuzeitlichen Prägung des Konzepts calidad sinnvoll sein, das Konzept als ein ethnisches Konzept aufzufassen? Schon im Mittelalter existierten in Europa lateinische Begriffe wie gens und natio, die Gruppen mit eigenen Sprachen und Sitten bezeichneten.339 Der moderne ab dem 18. Jahrhundert aufkommende Umgang mit den ethnischen Konzepten Nation und Volk ist insofern neu, als diese Begriffe mit einer 335
336
337 338 339
Vgl. Haddad, Elie: The Question of the Imprescriptibility of Nobility in Early Modern France, in: Matthew P. Romaniello/Charles Lipp (Hrsg.), Contested Spaces of Nobility in Early Modern Europe, Burlington 2011, S. 147–166, S. 148, 151, Zitat: S. 148. Real Academia Española: Diccionario de autoridades. Ed. facs. [d. Ausg. Madrid, 17261729], Madrid 1963, Bd. II. Zitat: „la nobleza y lustre de la sangre“; „circunstáncia que concurre en algún individuo o cosa, que la hace digna de aprécio y estimación, assí por lo que mira a lo interior, como a lo exterior de ella.“ Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 26. Ebenda, 26-29. Vgl. Bartlett, Robert: Medieval and Modern Concepts of Race and Ethnicity, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), H. 1, S. 39–56; Hahn, Thomas: The Difference the Middle Ages Makes. Color and Race before the Modern World, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), H. 1, S. 1–38.
Zum Konzept der calidad
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bestimmten Vorstellung von politischer Organisation einhergingen. In der Frühen Neuzeit kam es in der westlichen Welt, vor allem ab dem 18. Jahrhundert, zu einem tiefgreifenden Einschnitt im Verständnis der Legitimation politischer Herrschaft. Nach Gabbert führte erst die Notwendigkeit, politische Herrschaft „von unten“340 zu legitimieren, dazu, dass die Vorstellung kulturell homogener Völker und Nationen aufkam. Die Folge war: „The idea that ethnic communities were the ‚natural‘ form of organization of all people who do not live in nations subsequently began to spread throughout the world.“341 Sicher wurden Indigene, Afroamerikaner und Spanier nicht als unterschiedliche Völker gesehen, die Kategorien transportierten aber zweifelsohne die Zuschreibung eines Ursprungs, denn sie nahmen Bezug auf die Abstammung von den verschiedenen Kontinenten. Wie in der vorliegenden Untersuchung gezeigt, gingen die Kategorien auch mit der Zuschreibung phänotypischer Merkmale einher. Zudem konnten Sprache oder Kleidung bei der Identifizierung von indios eine Rolle spielen. Diese kulturellen Merkmale funktionierten jedoch nur als Kriterien der calidad, da sie ein Indiz für das soziale Umfeld einer Person waren. Wenn jemand eine indigene Sprache sprach, konnte das oft – wenn auch nicht in allen Regionen342 – als Indiz für die Zugehörigkeit zu einer indigenen Gemeinde interpretiert werden. Diese Merkmale wurden also nicht in dem Sinne mit einem bestimmten Ursprung in Verbindung gebracht, wie es in den modernen Konzepten Volk und Nation geschieht, als Merkmal einer kulturell homogenen Gemeinschaft. Die calidad lässt sich also als ethnische Kategorie behandeln, sofern diese Besonderheiten des Konzepts beachtet werden. Während sich die Kategorien der calidad als ethnische Kategorien auffassen lassen, erscheint es nicht angemessen, die unter einer calidad zusammengefassten Personen als ethnische Gemeinschaften oder Gruppen aufzufassen. Lediglich zwischen einer spanischstämmigen Elite und der übrigen Bevölkerung lassen sich relativ deutliche soziale Grenzen feststellen, die sich im sozioökonomischen Status und Heiratsverhalten manifestierten. Wird die Aufrechterhaltung einer sozialen Grenze nach Fredrik Barth als Kriterium für die Existenz ethnischer Gemeinschaften verstanden,343 ist es für Neuspanien daher nicht sinnvoll, abgesehen von der spanischen Elite, von der Existenz ethnischer Gemeinschaften zu sprechen. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass beispielsweise indios
340 341 342 343
Gabbert, Concepts, 2006, S. 92. Ebenda. Laut Gabbert sprachen in Yucatán auch viele Mestizen und Afroamerikaner vor allem Maya: Gabbert, Becoming Maya, 2004, S. 21. Barth, Introduction, 1998.
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Abstammung und Rechtsstatus in der korporativen Gesellschaft
oder mulatos sich als einer vorgestellten Gemeinschaft zugehörig sahen, was Gabbert als notwendiges Kriterium für ethnische Gruppen erachtet.344 Die Betrachtung des Konzepts calidad im Zusammenhang mit naturaleza lässt die rechtliche Differenzierung Neuspaniens in einem anderen Licht erscheinen als in gängigen Darstellungen des sistema de castas. Die rechtliche Differenzierung der Gesellschaften des spanischen Amerikas kann nicht als eine Art Pyramide betrachtet werden, in der verschiedene ethnisch definierte Gruppierungen rechtlich unterschiedlich stark diskriminiert wurden. Die rechtliche Differenzierung entsprach vielmehr der Vorstellung, dass einige Bewohner der Monarchie einen höheren Grad an Zugehörigkeit zur spanischen Monarchie beanspruchen konnten als andere. Afroamerikaner waren keine naturales, aber sie konnten Vasallen des Königs werden. Indigene Gemeinden und afroamerikanische Milizen waren daher zwei Formen neuspanischer Korporationen, durch die auf verschiedene Weise ein Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Krone und Untertanen etabliert wurde.
344
Gabbert, Concepts, 2006.
II. Ethnizität und Staatsbürgerschaft Die Einführung der allgemeinen Staatsbürgerschaft zählt zu den wichtigsten Zäsuren im Übergang der spanischen Welt vom Antiguo Régimen zur Phase der Nationalstaaten, da mit ihr die rechtliche Differenzierung nach calidades aufgehoben wurde. Viele Neuspanier wurden bereits im letzten Jahrzehnt der Kolonialzeit zu spanischen Staatsbürgern, denn 1812 wurde mit der Verfassung von Cádiz eine konstitutionelle Monarchie errichtet. Sie war zwar von kurzer Dauer, da 1814 die absolute Monarchie wieder hergestellt wurde, aber 1820 trat die Verfassung erneut in Kraft. Im Folgejahr löste sich Neuspanien bereits aus der spanischen Monarchie und der mexikanische Nationalstaat wurde gegründet. Während des Ersten Imperiums, der Phase der konstitutionellen Monarchie in Mexiko zwischen 1821 und 1823, blieb die Verfassung abgesehen von einigen Modifikationen in Kraft. Erst mit der Gründung der Föderalen Republik wurde eine neue Verfassung für Mexiko ausgearbeitet und die einzelnen Bundesstaaten bestimmten in ihren jeweiligen Verfassungen über Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Die Verfassung von Cádiz erkannte fast der gesamten männlichen Bevölkerung der spanischen Monarchie die Staatsbürgerschaft zu. Eine derart weit definierte allgemeine Staatsbürgerschaft sollte nach der Unabhängigkeit auch für das Erste Imperium und für die Föderale Republik charakteristisch sein. Für die 1836 folgende zentralistische Republik galt dies nicht mehr. In den letzten 20 Jahren hat die historische Forschung vermehrt die Entwicklung der Staatsbürgerschaft und insbesondere der politischen Rechte im 19. Jahrhundert untersucht. Die Einführung der allgemeinen Staatsbürgerschaft wird inzwischen als Teil eines fundamentalen Wandels in Neuspanien bzw. Mexiko gesehen. Heute beschäftigen sich viele Untersuchungen mit der Frage, auf welche Weise und in welchem Maße die Bevölkerung Neupaniens bzw. Mexikos in der konstitutionellen Phase in Prozesse politischer Partizipation eingebunden war, und wie die Bevölkerung mit den neuen liberalen Konzepten umging. Studien zu verschiedenen Städten und Regionen haben seitdem den Hergang der lokalen Wahlakte untersucht und nach dem Ausmaß politischer Partizipation in diesen Prozessen gefragt. Es konnte gezeigt werden, dass weite Teile der Bevölkerung hier als Wähler involviert waren.1 Darüber hinaus hat sich die Forschung unter dem Fokus auf die politische Kultur für Formen politischer Partizipation und politische Aushandlungsprozesse interessiert.2 Unter dem Ansatz der symbolischen Kommunikation wur1 2
Vgl. z.B. Guedea, Las primeras, 1991; Guarisco, Los indios, 2003; Ducey, Elecciones, 2007; Hensel, Cambios políticos, 2008. Vgl. z.B. Ducey, Michael T.: A Nation of Villages. Riot and Rebellion in the Mexican Huasteca, 1750-1850, Tucson 2004; Guardino, The Time, 2005.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
den auch Strategien der Legitimitätsstiftung bei der Errichtung der neuen Ordnung untersucht, denn bei Wahlen, Verfassungsproklamationen und Festlichkeiten wurden viele Menschen in die Konstruktion der neuen politischen Gemeinschaft eingebunden.3 Auch Militärdienst, Steuereinziehung und die hieraus resultierenden lokalen Konflikte um Abgaben und Rekrutierung haben in der Forschung zur Staatsbürgerschaft Beachtung gefunden,4 wie andere Autoren die Herausbildung der lokalen Milizen und deren Konstituierung als politische Akteure behandelt haben.5 Das vorliegende Kapitel behandelt Staatsbürgerschaft nicht nur auf legislativer Ebene, sondern fragt auch danach, wie die lokalen Akteure und die spanische Verwaltung mit dieser Neuerung umgingen. Zunächst wird die Definition von Staatsbürgerschaft in der spanischen Verfassung von 1812 und den späteren mexikanischen Verfassungen diskutiert. Daran anschließend wird die Bedeutung der Staatsbürgerschaft für Afroamerikaner analysiert, wobei die Phase der Verfassung von Cádiz im Mittelpunkt des Interesses steht. Indigene Akteure bilden den dritten Schwerpunkt des Kapitels.
1. Die legislative Ebene Im frühen 19. Jahrhundert verlor die Differenzierung nach calidades in Neuspanien bzw. Mexiko nach und nach ihre rechtliche Bedeutung. Ab der Unabhängigkeit waren spanische, indigene und afrikanische Abstammungslinien nicht mehr für den rechtlichen Status einer Person ausschlaggebend. Die ersten Schritte in diese Richtung wurden seit der Krise der spanischen Monarchie von 1808 und durch die Verfassung von Cádiz im Jahr 1812 vollzogen. Mit der mexikanischen Unabhängigkeit wurden 1821 schließlich alle Bewohner des Territoriums zu Bürgern des mexikanischen Imperiums erklärt. 3
4 5
Vgl. z.B. Garrido Asperó, María José: Fiestas cívicas históricas en la ciudad de México, 1765-1823, México, D.F. 2006; Hensel, Silke (Hrsg.): Constitución, poder y representación. Dimensiones simbólicas del cambio político en la época de la independencia mexicana, Madrid 2011; Dircksen, Katrin: Representations of Competing Political Orders. Constitutional Festivities in Mexiko-City, 1824-1846, in: Silke Hensel/Ulrike Bock/Katrin Dircksen/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012, S. 129–162. Vgl. z.B. Caplan, Indigenous Citizens, 2010. Vgl. z.B. Serrano Ortega, José Antonio: Liberalismo gaditano y milicias cívicas en Guanajuato, 1820-1836, in: Brian F. Connaughton/Carlos Illades/Sonia Pérez Toledo (Hrsg.), Construcción de la legitimidad política en Mexico en el siglo XIX, Zamora 1999; Tecuanhuey Sandoval, Alicia: Milicia cívica en Puebla, 1823-1834, in: Ulúa 4 (2006), H. 7, S. 99–124.
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a) Die Krise der Monarchie und die Verfassung von Cádiz
Kurz nachdem im März 1808 der spanische König Karl IV. zugunsten seines Sohnes Ferdinand VII. zur Abdankung gezwungen worden war, besetzte Napoleon Bonaparte Spanien. Er nahm Ferdinand in Gefangenschaft und übergab die Krone seinem Bruder Josef Bonaparte. Da der neue König in Spanien seitens der Bevölkerung nicht als legitimer Inhaber des Throns akzeptiert wurde, kam es auf der Iberischen Halbinsel zur Bildung von Provinzversammlungen, die für sich beanspruchten, die verschiedenen Provinzen zu repräsentieren. Im September 1808 bildete sich neben dem nicht anerkannten König eine neue Parallelregierung, die als Junta Central Suprema y Gubernativa de España e Indias die spanische Monarchie regieren sollte und auch von den verschiedenen Provinzversammlungen auf der Halbinsel nach und nach anerkannt wurde.6 In Neuspanien stritt man nach der französischen Invasion und der Einsetzung von Josef Bonaparte vor allem um die Legitimität des Vizekönigs Iturrigaray. Eine Gruppierung von Kreolen, die zum großen Teil dem Stadtrat von Mexiko-Stadt angehörte, vertrat die Position, der neuspanische Vizekönig sei aufgrund der Abwesenheit des spanischen Königs nicht mehr legitimiert zu regieren. Einige Europa-Spanier (d.h. in Europa geborene Spanier) verteidigten hingegen die Legitimität Iturrigarays als regierender Vizekönig. Die Kreolen begründeten ihre Position mit dem Argument, das auch die spanischen Provinzversammlungen bei ihrer Gründung herangezogen hatten: Bei Abwesenheit des Königs ging die Souveränität auf das Volk (pueblo) über. Da die Neuspanier das Vizekönigreich Neuspanien nicht als Kolonie, sondern als ein Königreich innerhalb der spanischen Monarchie betrachteten, konnte mit diesem Argument auch die vizekönigliche Regierung delegitimiert werden. Das Argument der Kreolen hob also die Autonomie Neuspaniens hervor, zielte aber nicht auf eine vollkommene Unabhängigkeit ab.7 Laut Rodríguez standen die Argumentationsmuster, die in Spanien und Neuspanien in diesem Kontext verwendet wurden, in der Tradition hispanischer politischer Theorie. In der Tat war das Prinzip, dass politische Legitimität vom Konsens der Regierten abhängt, gemäß Mónica Quijada bereits ab dem ausgehenden Mittelalter in der spanischen Welt wirkmächtig.8 6 7 8
Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 92-94, 108, 148. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 111-113. Vgl. Quijada, Mónica: Las ‘dos tradiciones’. Soberanía popular e imaginarios compartidos en el mundo hispánico en la época de las grandas revoluciones atlánticas, in: Jaime E. Rodríguez O. (Hrsg.), Revolución, independencia y las nuevas naciones de América, Madrid 2005, S. 61–86, S. 71-78; Quijada, Mónica: From Spain to New Spain. Revisiting the Potestas Populi in Hispanic Political Thought, in: Mexican Studies/Estudios Mexica-
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In Neuspanien forderte der Stadtrat 1808 die Einberufung einer Versammlung, an der Vertreter der ciudades, des Adels, des Klerus wie auch der hohen Gerichte teilnehmen sollten. Nach Einberufung durch Iturrigaray versammelten sich Anfang August die Repräsentanten diverser Korporationen in MexikoStadt.9 Einflussreiche Europa-Spanier sahen Iturrigaray jedoch dem auf Autonomie ausgerichteten Stadtrat folgen. Eine Gruppe von Europa-Spaniern nahm deshalb ihn wie auch die prominentesten Verfechter des Städte-Kongresses im September 1808 in Gefangenschaft und setzte als Interimsvizekönig Pedro Garibay ein.10 Bei den vorangegangenen Bemühungen, in Neuspanien ein durch das Volk legitimiertes Gremium zu bilden, wurde die indigene Bevölkerung zumindest symbolisch beteiligt: So nahmen an der junta im August 1808 die gobernadores der indigenen Stadtteile Mexiko-Stadts teil.11 Ihre Teilnahme ist damit zu erklären, dass die Repräsentation des pueblo in diesem Fall in der Hand der Korporationen lag. Die repúblicas der Hauptstadt waren schließlich wichtige Korporationen in der neuspanischen Gesellschaft und sie repräsentierten hier symbolisch die indigene Bevölkerung als wichtigen Bestandteil der Untertanenschaft. Demgegenüber gibt es keine Hinweise auf die Teilnahme afroamerikanischer Korporationen an diesem Prozess. Auch die Verfahren zur Bildung von Versammlungen in Spanien und Neuspanien waren nach Autoren wie Rodríguez und Antonio Annino an traditionellen Repräsentationsprinzipien der spanischen Welt orientiert.12 Diese Repräsentationsprinzipien wurden mit der Vorstellung von einer wie auch immer gearteten Nation verbunden. Als die Anwesenden bei der Versammlung im August über die aktuelle Situation des Mutterlandes in Kenntnis gesetzt wurden, war auch von den „heldenhaften Anstrengungen der Nation“13 die Rede, was sich auf die Vorgänge auf der Iberischen Halbinsel bezog. Die Argumentation, dass die politische Souveränität in Abwesenheit des Königs an
9 10 11 12
13
nos 24 (2008), H. 2, S. 185–219. Quijada ist der Meinung, dass sich dieses Prinzip bereits im spanischen Comuneros-Aufstand im frühen 16. Jahrhundert manifestierte, den sie als erste moderne Revolution ansieht. Im Comuneros-Aufstand richteten sich spanische Städte gegen Karl I. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 115, 123. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 140-141. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 123. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 115; Annino, Cádiz, 1995, S. 184; Annino, Antonio: Soberanías en lucha, in: Antonio Annino (Hrsg.), Inventando la nación. Iberoamérica siglo XIX, México, D.F. 2003, S. 152–184, S. 240-241. „Junta general celebrada en México el 9 de Agosto de 1808, presidida por el virey D. José Iturrigaray“, in: Hernández y Dávalos, Juan E. (Hrsg.): Colección de documentos para la historia de la guerra de independencia de México de 1808 a 1821, Liechtenstein 1968, Bd. 1, doc. 214, S. 513-516. Zitat: „heroycos esfuerzos de la Nacion“.
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das Volk überging, war zwar traditioneller politischer Theorie entlehnt, aber das Konzept der Volkssouveränität hatte im frühen 19. Jahrhundert eine neue Bedeutungsebene gewonnen, die sich in den folgenden Prozessen zeigen sollte. 1809 wurden die spanischen Vizekönigreiche und Generalkapitanate aufgefordert, je einen Repräsentanten in die Junta Central zu entsenden. Nach ihren Vorgaben lag es in der Hand der ayuntamientos der Städte, die geeigneten Kandidaten durch Wahl zu bestimmen.14 Schon 1810 berief die Junta Central schließlich Wahlen zur Bildung einer Versammlung europäischer und amerikanischer Abgeordneter, der Cortes, ein, die eine Verfassung für die spanische Monarchie ausarbeiten sollten. Auch diese Wahl wurde durch die ayuntamientos der Städte durchgeführt.15 Während die repúblicas de indios bei der Wahl der Abgeordneten für die Junta Central keine Stimme hatten, wurden bei der Wahl der ersten Cortes nachträglich zumindest festgelegt, dass die Stadträte auch Indigene und Mestizen in die Cortes wählen durften. Außerdem schlug der spanische Regentschaftsrat vor, dass Repräsentanten der Indigenen in die ersten Cortes gewählt werden sollten, bis festgelegt sei, wie die Indigenen selbst ihre Repräsentanten wählen würden.16 Offenbar wurde zu diesem Zeitpunkt in Spanien noch die Idee aufrechterhalten, Spanier und Indigene sollten zwei zu unterscheidende Klassen von Untertanen mit ihren jeweils eigenen Regierungen bilden. Auf beiden Seiten des Atlantiks existierte also die Vorstellung, dass Indigene an der Repräsentation der Nation beteiligt werden mussten. Die Abgeordneten der Cortes traten im Herbst 1810 erstmals zusammen, um in Abwesenheit des Königs eine Verfassung für die gesamte spanische Monarchie auszuarbeiten. Die Cortes wurden am 24. September 1810 für eröffnet erklärt und definierten sich selbst als die Repräsentanten der „spanischen Nation“.17 Wenige Tage nachdem der Pfarrer Miguel Hidalgo in Neuspanien eine Rebellion initiiert hatte, die den Beginn des folgenden Bürgerkriegs bildete, begannen die europäischen und amerikanischen Abgeordneten in der Stadt Cádiz, die Fundamente für eine grundlegende Umgestaltung der politischen Ordnung hin zu einer konstitutionellen Monarchie zu diskutieren.
14 15 16
17
Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 148-149, 153-154, 157. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 201, 220. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 221. Das Wahldekret hatte laut Rodríguez zunächst bestimmt, dass die Delegierten „naturales“ aus der jeweiligen Provinz sein müssten. Nachdem dies auf den Widerstand einiger Europa-Spanier in den Amerikas gestoßen war, erließ der Regentschaftsrat ein neues Dekret, das nur noch die Ansässigkeit zur Bedingung machte und zugleich auch die Indigenen und Mestizen explizit miteinschloss. Decreto I, de 24 de setiembre de 1810, in: Colección de decretos y ordenes de las Cortes de Cádiz, Madrid 1987, Bd. 1. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 295. Zitat: „Nacion española“.
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Die Abgeordneten, die sich zu ungefähr einem Drittel aus Gesandten der amerikanischen Gebiete zusammensetzten,18 bemühten sich von Anfang an, die rechtliche Differenzierung des Antiguo Régimen zumindest teilweise aufzuheben. Seit der Gründung der Cortes im September 1810 zeichnete sich bereits ab, dass die Indigenen als Untertanen der spanischen Monarchie mit größerer Selbstverständlichkeit der spanischen Bevölkerung gleichgestellt werden würden als die Afroamerikaner. In den Debatten der Cortes von Cádiz spielte von Beginn an die Unterscheidung zwischen Eingeborenen (naturales) und Bewohnern (habitantes) eine zentrale Rolle. Die Afroamerikaner zu den naturales der spanischen Monarchie zu rechnen, galt weder aus Sicht der amerikanischen noch der europäischen Abgeordneten als selbstverständlich. Im Oktober 1810 erklärten die Cortes, „dass die Eingeborenen, die ursprünglich aus den genannten europäischen und überseeischen Herrschaftsgebieten sind, rechtlich denen der Halbinsel gleichgestellt sein sollen“.19 Zuvor war von den amerikanischen und philippinischen Abgeordneten ein Vorschlag eingebracht worden, der die Erklärung der Gleichheit der Rechte auf die „Eingeborenen und die freien Bewohner“20 bezog und so die Afroamerikaner miteinbezogen hätte. Das schließlich verabschiedete Dekret nahm aber nur Personen indigener und spanischer Abstammung auf.21 Nach Marie Rieu-Millan wankten die Abgeordneten der frühen Cortes zwischen einer zivilrechtlichen Integration der indigenen Bevölkerung und der Aufrechterhaltung der rechtlichen Protektion.22 So erließen sie im Januar 1811 ein Dekret, das dazu mahnte, sowohl die „persönliche Freiheit“ der Indigenen zu verteidigen als auch vorläufig ihre „Privilegien“ aufrechtzuerhalten.23 In diesem Dekret zum Schutz der Indigenen Amerikas und Asiens wird zudem deutlich, dass das paternalistische Verhältnis zwischen spanischer Krone und indigener Bevölkerung auch das Selbstverständnis der frühen Cortes prägte. An die Stelle der Krone trat nun die spanische Nation, die durch die Cortes repräsentiert wurde. So sollte das genannte Dekret in den indigenen Gemeinderäten aufbewahrt werden, um damit gegenüber den Indigenen „die Fürsorge und den 18
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22 23
Von den 220 Abgeordneten der Cortes waren 67 aus den amerikanischen Teilen der spanischen Monarchie. Von diesen waren 21 Neuspanier. Laut Rodríguez wurden 15 Personen, darunter fünf Amerikaner, mit der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs betraut. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 296, 301, 302. Decreto V, de 15 de octubre de 1810, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 36. Zitat: „que […] los naturales que sean originarios de dichos dominios europeos ó ultramarinos son iguales en derechos á los de esta península“. Zit. nach Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 151. Zitat: „naturales y habitantes libres“. An späteren Debatten wird erneut deutlich, dass die Abgeordneten der Cortes die indigene Bevölkerung in der Tat als hier mitinbegriffen und die Afroamerikaner als ausgeschlossen betrachteten. Vgl. ebenda, S. 115, 149. Vgl. ebenda, S. 110. Ebenda. Zitate: „libertad personal“; „privilegios“.
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väterlichen Eifer, mit denen die gesamte Nation, die in den […] Cortes repräsentiert ist, sich um ihr Glück und das jedes einzelnen von ihnen kümmert“, auszudrücken.24 Anfang Februar wurde bereits ein Dekret erlassen, das einen Schritt in der rechtlichen Gleichstellung indigener und spanischer Bevölkerung markierte. Hier zeigte sich erneut die Exklusion der afroamerikanischen Bevölkerung aus der Kategorie der naturales. Das Dekret über die Rechte der Bevölkerung in den Amerikas bezog sich auf die „Amerikaner, sowohl Spanier als auch die Eingeborenen, die ursprünglich aus jenen weiten Herrschaftsgebieten der Monarchie stammen“.25 Im Artikel III gewährte man den „Amerikanern, sowohl Spaniern als auch Indios und den Kindern beider“ – und damit auch den Mestizen – den gleichen Zugang zu Ämtern im kirchlichen, politischen und militärischen Bereich wie den Europäern. Lediglich im Artikel II waren die Afroamerikaner durch die Kategorie Bewohner miteingeschlossen, denn den „Eingeborenen und Bewohnern“ Amerikas gestand man die gleiche Freiheit in der Ausübung landwirtschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten zu.26 Im März 1811 beseitigten die Cortes eine zentrale rechtliche Unterscheidung zwischen den Untertanen des Antiguo Régimen, indem sie „die Indios und Castas“ in Amerika von der Tributpflicht befreien ließen.27 Mit der endgültigen Abschaffung taten sie formal einen äußerst wichtigen Schritt in der rechtlichen Gleichstellung indigener, spanischer und in diesem Fall auch afroamerikanischer Bevölkerung.28 Für Neuspanien war die Tributpflicht der Indigenen schon drei Wochen nach dem Ausbruch der Hidalgo-Rebellion seitens des spanischen Regentschaftsrates abgeschafft worden. In seinem auf Spanisch und Nahuatl publizierten Erlass hatte der neuspanische Vizekönig diese Befreiung zwar auf die castas, also die Afroamerikaner, ausgeweitet, jedoch galt dies nur für die der 24
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Decreto XX, de 5 de enero de 1811, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 71-72. Zitat: „el desvelo y solicitud paternal, con que la Nacion entera representada por las Córtes [...] se ocupa en la felicidad de todos y cada uno de ellos.“ Decreto XXXI, de 9 de febrero de 1811, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 98-99. Zitate: „Americanos, así españoles como naturales originarios de aquellos vastos dominios de la monarquía española“. Das Dekret geht auf einen Vorschlag der Amerikaner zurück, hinsichtlich dessen Rieu-Millan bereits diese Beobachtungen machte. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 150. Decreto XXXI, de 9 de febrero de 1811, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 98-99. Zitate: „Americanos, así españoles como indios, y los hijos de ambas clases“; „naturales y habitantes“. Decreto XLII, de 13 de marzo de 1811, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 115-116. Zitat: „los indios y castas“. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 117-118. Rieu-Millans Behauptung, die Abschaffung des Indio-Tributs sei „la primera medida para integrar a los indígenas en e cuerpo de la Nación“ gewesen (Ebenda, S. 117), erscheint jedoch angesichts des im Februar verabschiedeten Dekrets XX nicht zutreffend.
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royalistischen Seite treuen castas.29 Afroamerikanern sollte nur im Falle eines Loyalitätsbeweises die Tributbefreiung zugestanden werden. 1810 hatten damit sowohl der Regentschaftsrat als auch der neuspanische Vizekönig erneut klar zwischen Indigenen und Afroamerikanern unterschieden. Einige europäische Abgeordnete hatten sich noch im Januar 1811 dagegen ausgesprochen, der indigenen Bevölkerung die Bürgerrechte zuzugestehen, jedoch konnte diese Position sich nicht durchsetzen. Die amerikanischen Abgeordneten verteidigten die Gleichstellung der indigenen und spanischen Bevölkerung mit Argumenten, die an die Diskussionen des 16. Jahrhunderts erinnern. Sie führten die prähispanischen Zivilisationen an und argumentierten, dass die Indigenen gemäß dem Naturrecht die Besitzer der amerikanischen Gebiete seien. Die Position der Amerikaner setzte sich weitgehend durch, denn laut Rieu-Millan wurden die Gesetze bezüglich der indigenen Bevölkerung von einer breiten Mehrheit oder einstimmig angenommen.30 Auch Herzog bestätigt, dass die Abgeordneten der Cortes sich weitgehend einig darin waren, die indigene Bevölkerung ebenso wie die spanische in die Gruppe der Staatsbürger aufnehmen zu wollen.31 Die Frage nach dem rechtlichen Status der Afroamerikaner wurde vor allem im September 1811 relevant, als die Cortes über die künftige Repräsentationsbasis der Abgeordneten diskutierten. Da die aktuellen Cortes sich nur zu ungefähr einem Drittel aus amerikanischen Abgeordneten zusammensetzten, führten die Abgeordneten lange Debatten um die künftige Repräsentationsbasis und damit über das Kräfteverhältnis zwischen amerikanischen und europäischen Abgeordneten.32 Die Amerikaner forderten, dass die gesamte Bevölkerung der Amerikas, einschließlich der indigene Bevölkerung wie auch der castas, die Repräsentationsbasis bilden sollten. Schließlich ging es um ihren zukünftigen Anteil an den Sitzen in den Cortes. Die Europäer und von amerikanischer Seite zumindest ein Abgeordneter aus Peru wiedersetzen sich jedoch der Forderung, die castas miteinzubeziehen.33 Jene Abgeordnete, die den Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft befürworteten, konnten sich, wie Herzog überzeugend darstellt, der alten hispanischen Unterscheidung zwischen naturales und Ausländern bedienen. Die Abgeordneten waren gewillt, Ausländer als naturales zu behandeln, sobald sie eine gewisse Zeit der Residenz im Territorium der spanischen 29 30 31 32 33
Bando del Virrey Francisco Xavier Venegas de 5 de octubre de 1810, in: Hernández y Dávalos (Hrsg.), Colección, 1968, Bd. 2, S. 137-141. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 111-114. Vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 158. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 153; Rodríguez O., Equality, 2008, S. 112. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 151-152, 155, 156; Rodríguez O., Equality, 2008, S. 113-114.
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Monarchie vorweisen konnten. Dies galt aber nicht für die afroamerikanische Bevölkerung. Als Nachfahren von Sklaven, so Herzogs Rekonstruktion der Argumente, waren Afroamerikaner unter Zwang in die spanische Monarchie verschleppt worden. Man konnte daher nicht davon ausgehen, dass sie positive Intentionen hinsichtlich ihrer Integration in und ihres Engagements für die spanische Monarchie hatten. Obwohl beispielsweise auch den gitanos – also den Roma34 – ausländische Herkunft zugeschrieben wurde, konnten diese, da sie freiwillig nach Spanien gekommen waren, als naturales angesehen werden. Einige Abgeordnete waren gar der Meinung, man benötige keine gesonderten Regelungen für Afroamerikaner, da es sich bei ihnen ohnehin um Ausländer handele und die Regelungen für Ausländer auch für sie zutrafen. Befürworter der Inklusion von Afroamerikanern argumentierten hingegen, dass jene Afroamerikaner, die in einer lokalen Gemeinde als vecinos anerkannt waren, auch als naturales anerkannt werden sollten.35 Die Forderung der amerikanischen Seite nach Einbeziehung der Afroamerikaner in die Repräsentationsbasis implizierte nicht notwendigerweise die Zuerkennung der vollen Bürgerrechte. Laut Rieu-Millan waren es gerade einige der amerikanischen Abgeordneten aus Regionen mit einem großen Anteil an afroamerikanischer Bevölkerung, die lediglich für eine partielle rechtliche Inklusion dieser Bevölkerungsgruppe eintraten. So forderte u.a. der Abgeordnete von Veracruz Joaquín Maniau, dass die Afroamerikaner zwar in die Berechnung der Repräsentationsbasis für die Abgeordneten der Cortes einbezogen werden und das aktive Wahlrecht bekommen sollten, nicht jedoch das passive.36 Europäische Abgeordnete warfen den Amerikanern daher vor, sie forderten das aktive Wahlrecht für Afroamerikaner lediglich um ihren Anteil an Sitzen in den Cortes zu vergrößern.37 Befürworter der Inklusion der Afroamerikaner führten u.a. pragmatische Argumente an. Der spanischen Regierung sollte die Loyalität der afroamerikanischen Bevölkerung in den aktuellen Bürgerkriegen, insbesondere in Neuspanien, gesichert werden. Die Exklusion der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft konnte zu einer Schwächung der royalistischen Kräfte beitragen. Im Ganzen barg die Benachteiligung der Afroamerikaner also eine Gefahr für die politische Stabilität in manchen Regionen.38
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Auf der Iberischen Halbinsel sind gitanos seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesen. Der Begriff wird hier als Roma übersetzt, wobei eine weite Definition von Roma als alle romanessprachigen Gruppen vorausgesetzt wird. (In einem engeren in Deutschland verbreiteten Verständnis würden lediglich romanessprachige Gruppen in oder aus Osteuropa unter den Begriff fallen.) Vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 159-162. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 154. Vgl. Chust, La cuestión, 1999, S. 160. Vgl. Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 151, 163.
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Einige der amerikanischen Abgeordneten äußerten heftige Kritik an dem möglichen Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft. Neuspanische Abgeordnete wie Miguel Ramos Arispe (Coahuila) und José Miguel Guridi Alcocer (Tlaxcala) meinten, dass derartige Unterscheidungen in der Zeit der Aufklärung nicht mehr angemessen seien. Laut Rieu-Millan führten zahlreiche amerikanische Abgeordnete an, dass es aufgrund des mestizaje häufig schwierig sei, die Abstammung einer Person zu bestimmen. José Ignacio Beye de Cisneros, ein Kleriker aus Mexiko-Stadt, versicherte, das Problem der Illegitimität würde durch eine rechtliche Gleichstellung reduziert. Aus amerikanischer Perspektive war vor allem ein Problem zentral: Auch Personen hohen sozialen Ansehens würden durch das Kriterium der afrikanischen Abstammung von der spanischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden. Durch dieses Exklusionskriterium würden einige Personen von hohem sozialen Status in Verruf geraten, sobald man ihre Abstammung erforschen würde. Neuspanische Abgeordnete führten an, dass sie äußerst ehrbare Personen afrikanischer Abstammung kannten, denen mit dieser Exklusion Unrecht getan würde.39 In den Cortes war damit ein Problem aufgetreten, das der Bevölkerung Amerikas und der spanischen Verwaltung allzu bekannt war: Das Wissen um die Abstammung einer Person und die Interpretation ihrer phänotypischen Merkmale standen im Verständnis der Zeitgenossen häufig im Widerspruch zu ihrer Reputation und ihrem rechtlichen Status. Manche Personen, die rechtlich als Spanier galten, konnten unter Umständen von den politischen Rechten ausgeschlossen werden, wenn man ihre Abstammung erforschen und afrikanische Abstammungslinien feststellen würde. Die Verfassung von Cádiz definierte die spanische Nation schließlich so, dass auch Afroamerikaner ihr angehörten, aber sie gestand nur der indigenen und spanischstämmigen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte zu, nicht jedoch den Afroamerikanern. Für das Problem der afroamerikanischen Loyalität gegenüber Spanien wie auch das der Diskrepanz zwischen Abstammung und sozialem Status verankerte man in der Verfassung eine Lösung. Laut Verfassungstext sollte die „Tür der Tugend und des Verdienstes“ im Artikel 22 den Afroamerikanern die Möglichkeit geben, durch einen Antrag bei den Cortes die Staatsbürgerschaft zu erlangen.40 Genauer gesagt sollte die Staatsbürgerschaft jenen zuerkannt werden, „die dem Vaterland besondere Dienste erwiesen oder sich durch Talent, Beflissenheit und Verhalten hervortäten“.41 Loyalität zu
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Vgl. ebenda, 157-160. Art. 22 der Verfassung von Cádiz: Constitución política de la Monarquía Española, in: Colección, 1987, S. 392–459. Zitat: „puerta de la virtud y del merecimiento“. Ebenda. Zitat: „á los que hicieren servicios calificados a la Patria, ó á los que se distingan por su talento, aplicacion y conducta“.
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Spanien, ein hoher sozialer Status oder auch der Bildungsgrad einer Person sollten also die Tür zur Staatsbürgerschaft öffnen. Auch mit dieser Ausnahmeregelung folgte die Verfassung letztlich rechtlichen Prinzipien des Antiguo Régimen, denn Afroamerikaner hatten durch den Dienst in Milizen Privilegien erlangen können. Afroamerikaner sollten weiterhin durch Militärdienst ihre Liebe zur Nation und ihren Willen dieser anzugehören unter Beweis stellen können und so die Staatsbürgerschaft erlangen. Das Problem, dass Personen eines hohen sozialen Status aufgrund afrikanischer Abstammung politisch ausgeschlossen werden konnten, schlug sich in einer weiteren Formulierung nieder. In einem ursprünglich von der europäischen Fraktion erarbeiteten Vorschlag war der Ausschluss von Afroamerikanern eindeutig durch afrikanische Abstammung definiert worden: „Spanier, die in irgendeiner Linie ihren Ursprung in Afrika haben“, sollten aus der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden.42 Im schließlich verabschiedeten Artikel 22 galt der Ausschluss jedoch für „diejenigen, die als afrikanischstämmig betrachtet und behandelt werden“.43 In dieser Formulierung wurde somit die Reputation einer Person zum zentralen Kriterium, was laut James King und Rieu-Millan eine Reaktion auf die Kritik der amerikanischen Abgeordneten an diesem Ausschlusskriterium war.44 Diese Formulierung ist nicht als Vorschlag seitens der amerikanischen Abgeordneten belegt. Vielmehr waren jene mit der neuen Fassung alles andere als zufrieden, denn die Vagheit des Kriteriums ermöglichte, so befürchteten sie, eine allzu leichte Diskreditierung einzelner Personen.45 Es ist trotzdem plausibel, dass die europäischen Abgeordneten mit dieser Formulierung auf die Kritik der Amerikaner reagierten. Das Problem war zwar in Amerika besonders verbreitet, doch kannte man auf der Iberischen Halbinsel aufgrund der dortigen limpieza-de-sangre-Verfahren ähnliche Probleme. Für die limpieza de sangre war die Reputation schließlich ebenfalls ein entscheidendes Kriterium. So schreibt Herzog treffend zum Artikel 22: „The ghost of limpieza de sangre debates reappeared.“46 Während es im Antiguo Régimen allerdings üblich war, schriftliche Abstammungsbelege zur Bestimmung der calidad zurate zu ziehen, wurde in der Verfassung keinerlei Angabe dazu gemacht, wie die Abstammung einer Person zu bestimmen sei.
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Zit. nach Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 159. Zitat: „españoles que por cualquier línea traen su origen de Africa“. Art. 22 der Verfassung von Cádiz: Constitución política de la Monarquía Española, in: Colección, 1987, S. 392–459. Zitat: „habidos y reputados por originarios del Africa“. Vgl. King, James F.: The Colored Castes and American Representation in the Cortes of Cadiz, in: The Hispanic American Historical Review 33 (1953), H. 1, S. 33–64, S. 58; Rieu-Millan, Los diputados, 1990, S. 159. Vgl. ebenda, S. 159 Vgl. Herzog, Defining Nations, 2003, S. 162.
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Die neue Formulierung des Ausschlusskriteriums sollte ähnliche Spielräume ermöglichen, wie es in den alten Verfahren um die calidad einer Person üblich gewesen war. Auf lokaler Ebene konnten Menschen afrikanischer Abstammung, die ein hohes soziales Ansehen hatten, als Bürger behandelt werden. Einige Menschen afrikanischer Abstammung konnten im Antiguo Régimen aufgrund ihres sozialen Status als mestizo oder español betrachtet werden oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur república de indios als indio. Andere waren durch die Praxis der gracias al sacar seitens der Krone rechtlich als Spanier anerkannt worden. Der Artikel 22 enthielt damit eine doppelte Tür zur Staatsbürgerschaft: Neben der formalen Beantragung der Staatsbürgerschaft bei den Cortes aufgrund von Verdienst und Tugend konnten Menschen afrikanischer Abstammung auf lokaler Ebene als Staatsbürger anerkannt werden. Die in Cádiz definierte Unterscheidung zwischen Nationszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft stand in der Tradition rechtlicher Differenzierung in der spanischen Monarchie. Die Nationszugehörigkeit, also die Kategorie españoles, implizierte den Besitz der vollen bürgerlichen Rechte. Aber nur ein Teil der Nation, nämlich die ciudadanos, verfügte darüber hinaus über politische Rechte.47 Spanier waren „die freien Menschen, die geboren und ansässig“ in den spanischen Gebieten waren.48 Bereits die Umdeutung der Kategorie españoles durch die Abgeordneten in Cádiz und die damit einhergehende Einführung einheitlicher bürgerlicher Rechte sind als Bruch mit der alten Ordnung zu verstehen, da hiermit die Differenzierung nach unterschiedlichen Rechtssphären zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen calidades aufgelöst wurde. Lediglich Militär und Klerus verfügten nach wie vor über eigene Gerichtsbarkeiten.49 Allerdings gehörte zur Nation nur die freie Bevölkerung, nicht aber die Sklaven. Abgesehen davon, dass Frauen und Minderjährige nicht über politische Rechte verfügten, war die afrikanische Abstammung das Ausschlusskriterium, von dem die meisten Menschen betroffen waren. Die Exklusion der Afroamerikaner war neben dem Ausschluss von Ausländern aus der Staatsbürgerschaft die einzige Regelung, in der die Abstammung über die Zuerkennung von Rechten entschied. Die in Cádiz definierte spanische Nation machte damit die Abstammung von den verschiedenen Kontinenten zu einem ausschlaggebenden Kriterium für die Inklusion in die Staatsbürgerschaft. Die Unterscheidung zwischen habitantes und naturales, die schon in den frühesten Diskussionen der Cortes zentral gewesen war, schlug sich nun in der Unterscheidung zwischen españoles
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Vgl. Chust, La cuestión, 1999, S. 158, 163. Bürger waren „Todos los hombres libres nacidos y avecindados en los dominios de las Españas, y los hijos de estos.“ Art. 5 der Verfassung: Constitución política, 1987. Siehe Art. 248, 249 und 250 der Verfassung: ebenda.
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und ciudadanos nieder. Die neue Gruppe der spanischen ciudadanos war de facto deckungsgleich mit der alten hispanischen Kategorie der naturales. Staatsbürger konnten unter bestimmten Umständen von der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte suspendiert werden. Die Verfassung verwendete hier das Verb „suspender“. Neben diversen im Artikel 25 erwähnten Gründen wurden zwei genannt, die sich auf den sozialen Status einer Person bezogen: Als Hausangestellter oder auch „wegen des Fehlens einer bekannten Anstellung, eines [bekannten] Gewerbes oder einer [bekannten] Lebensweise“, konnte man von der Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte vorübergehend ausgenommen werden.50 Ein Beruf oder eine „bekannte Lebensweise“51 sollten also Voraussetzung sein. Lese- und Schreibfähigkeit wurde nur bei jenen Personen für die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte vorausgesetzt, die den Status des Staatsbürgers ab 1830 erlangten.52 Indigene, die in Missionen lebten, wurden nicht ausdrücklich aus der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, aber die Verfassung wies darauf hin, dass sie erst noch in die Nation integriert werden mussten. Die Provinzdeputationen sollten in diesen Regionen über die Fortschritte der Missionen bei der Bekehrung der Indigenen wachen.53 Die Staatsbürgerschaft sollte also an eine bestimmte Vorstellung von Zivilisation gebunden sein. Laut Mónica Quijada wurden diese Indigenen ausgeschlossen, da sie nicht vecinos einer Gemeinde waren.54 Im neuen Regierungssystem sollte die Legislative in der Hand der Cortes, des Einkammerparlaments liegen, und die Exekutive beim König, wobei die Cortes sich aus Abgeordneten der einzelnen Provinzen zusammensetzten. Den unterschiedlichen Provinzen innerhalb der Monarchie sollte ein vom König bestimmter jefe superior vorstehen sowie ein gewähltes neunköpfiges Gremium, die Provinzdeputation (diputación provincial). Die lokale Verwaltung lag in der Hand von gewählten Gemeinderäten. Diese ayuntamientos waren den Provinzdeputationen unterstellt und wurden von diesen beaufsichtigt.55 Die Mitglieder der 50 51
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Ebenda. Zitate: „siriviente doméstico“; „por no tener empleo, oficio ó modo de vivir conocido“. Übersetzt in Analogie zu: Dorsch, Sebastian: Die Verfassungskultur in Michoacán (Mexiko). Ringen um Ordnung und Souveränität im Zeitalter der Atlantischen Revolutionen, Köln [u.a.] 2010, S. 333. Art. 25 der Verfassung: Constitución política, 1987. Art. 335, Absatz 10 der Verfassung: ebenda; vgl. auch Escobar Ohmstede, Ha variado, 2011, S. 155. Die Rede war von den „indios infieles“. Vgl. Quijada, Mónica: La lenta configuración de una ‘Ciudadanía cívica’ de frontera. Los ‘indios amigos’ de Buenos Aires, 1820-1879 (con un estudio comparativo Estados Unidos-Argentina), in: Mónica Quijada (Hrsg.), De los cacicazgos a la ciudadanía. Sistemas políticos en la frontera, Río de la Plata, siglos XVIII-XX, Berlin 2011, S. 149– 305, S. 173-174. Die Anzahl der Abgeordneten jeder Provinz war von der Anzahl der Personen mit staatsbürgerlichen Rechten in der jeweiligen Provinz abhängig.
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Cortes und der Provinzdeputationen wurden in einem indirekten mehrstufigen Verfahren gewählt, wobei die Pfarreien die erste Stufe bildeten.56 Für die Wahl der Gemeinderäte wählten die Bürger im Dezember zunächst Wahlmänner (electores) auf Ebene der Pfarreien. Die Wahlmänner versammelten sich an einem späteren Tag im Dezember wiederum, um den konstitutionellen Gemeinderat zu wählen.57 Die Räte setzten sich aus mindestens einem vorstehenden alcalde, zwei Ratsherren (regidores) und einem procurador síndico zusammen. Sie konnten abhängig von der Größe der Gemeinde bis zu 20 Personen umfassen.58 Die alcaldes hatten u.a. rechtsprechende Funktion in zivilrechtlichen Angelegenheiten.59 In der Verfassung nahmen die Gemeinden und ihre munizipale Verwaltung eine wichtige Rolle ein. Die Regelung zur Bildung von Gemeinderäten, den ayuntamientos, ist hinsichtlich der Bedeutung des Konzepts pueblo aufschlussreich. Der Verfassungstext lautete: Es wird ein Gemeinderat in jenen Gemeinden errichtet, die keinen haben, wo es günstig wäre, einen zu haben, wobei Gemeinden, die für sich allein genommen oder zusammen mit ihrem Gebiet mindestens tausend Seelen haben, einen haben müssen […].60
Gemeinden ab 1000 Einwohnern mussten auf alle Fälle über Gemeinderäte verfügen und unter bestimmten Umständen sollten auch kleinere Gemeinden in diesen Genuss kommen. Das hierfür äußerst vage definierte Kriterium „wo es 56
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Die Wähler einer Pfarrei wählten Wahlmänner (compromisarios), die, je nach Größe der Pfarrei, einen oder mehrere Wahlmänner der Pfarreiebene (electores parroquiales) bestimmten. Diese versammelten sich auf Ebene des Distrikts (partido) und wählten die Wahlmänner der Distriktebene (electores de partido). Letztere wählten die Parlamentsabgeordneten in die Cortes und die Mitglieder der jeweiligen Provinzdeputation. Zum politischen System und den Regelungen der Wahlen siehe z.B. Guarisco, Los indios, 2003, S. 129-135; Rodríguez O., Jaime E.: Las instituciones gaditanas en Nueva España, 1812-1824, in: Jaime E. Rodríguez O. (Hrsg.), Las nuevas naciones. España y México, 1800-1850, Madrid 2008, S. 53–74, insb. S. 101-102. Dekret CLXIII vom 23. Mai 1812, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 519-521. Laut Guariscos Darstellung konnten die Räte höchstens 16 Mitglieder haben (Guarisco, Los indios, 2003, S. 134), jedoch geht aus dem Absatz V. des Dekrets zu den Gemeinderäten hervor, dass die Räte in Provinzhauptstädten über bis zu 16 Ratsherren zusätzlich zu den alcaldes und procuradores síndicos verfügen sollten. Dekret CLXIII vom 23. Mai 1812, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 519-521. Der procurador síndico oder síndico procurador sollte besonders die Interessen der Gemeinde vertreten und wird deshalb von Hensel (bezogen auf die Räte des Antiguo Régimen) als Volksanwalt bezeichnet. Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 458. Art. 282 der Verfassung: Constitución política, 1987. Art. 310 der Verfassung: Constitución política, 1987. Zitat: „Se pondrá ayuntamiento en los pueblos que no le tengan, y en que convenga le haya, no pudiendo dejar de haberle en los que por sí ó con su comarca lleguen a mil almas […].“
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günstig wäre“ wurde zwei Monate nach der Publikation der Verfassung in einem Dekret präzisiert. Laut dem Dekret sollte „Jede Gemeinde […], die wegen ihrer besonderen Umstände der Landwirtschaft, des Handwerks oder der Bevölkerung meint, dass sie einen Gemeinderat haben müsse“, sich an die Provinzdeputation wenden.61 Die pueblos wurden hier offenbar als Akteure mit einem gemeinsamen Willen und einer gemeinsamen Stimme gesehen. Außerdem wurde den pueblos ein Status zugeschrieben, der von den wirtschaftlichen Aktivitäten in einer Gemeinde und den Eigenschaften der Bevölkerung abhing. Die Formulierung legt nahe, dass man die Möglichkeit haben wollte, beispielsweise Gemeinden, die sich zu einem großen Teil aus wohlhabenden Kaufleuten zusammensetzten, Gemeinderäte zuzugestehen. Das Konzept des pueblo als agierende Korporation, welches einen höheren oder niedrigeren Status gegenüber anderen pueblos innerhalb der Monarchie haben konnte, war also zentral für die Interpretation der Verfassung von Cádiz. François-Xavier Guerra stellte bereits heraus, dass die amerikanischen Abgeordneten in Cádiz von Anfang an ein plurales Nationskonzept vertraten. Die Nation setzte sich in ihrem Verständnis aus pueblos zusammen, womit nicht nur lokale Gemeinden, sondern auch die Provinzen gemeint sein konnten. Nicht aus einem Vertrag zwischen Individuen ging die Nation hervor, sondern aus einem „pacto entre pueblos“.62 Während nicht nur bei lokalen, sondern auch bei Provinz- und CortesWahlen alle Staatsbürger über das aktive Wahlrecht verfügten, mussten für das passive Wahlrecht zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein. Auf allen Ebenen wurde für das passive Wahlrecht ein Mindestalter von 25 Jahren gefordert. Die Mitglieder der Gemeinderäte mussten seit mindestens fünf Jahren sesshaft in der entsprechenden Gemeinde sein.63 Dieses ebenfalls recht niedrigschwellige passive Wahlrecht ermöglichte vermutlich die Aufrechterhaltung lokaler Eliten und damit eine gewisse Kontinuität, die politische Stabilität gewährleisten sollte. An Abgeordnete der Provinzdeputationen und Cortes wurden gewisse ökonomische Anforderungen gestellt, allerdings waren diese recht vage formuliert.64 61
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Dekret CLXIII vom 23. Mai 1812, in: Colección, 1987, Bd.1, S. 519-521. Zitat: „Qualquiera pueblo […] que por sus particulares circunstancias de agricultura, industria ó población considere que debe tener Ayuntamiento“. Vgl. Guerra, El soberano, 1999, S. 37-39. Art. 317 der Verfassung: Constitución política, 1987 . Abgeordnete der Provinzdeputation mussten seit fünf Jahren sesshaft in der entsprechenden Provinz sein, aber darüber hinaus zumindest über „lo suficiente para mantenerse con decencia“ verfügen. Die Abgeordneten der Cortes mussten gebürtig aus der Provinz stammen, die sie vertraten, oder zumindest sieben Jahre in ihr ansässig gewesen sein, und sollten über eine „renta anual proporcionada, procedente de bienes propios“ verfügen. Das Inkrafttreten dieser letzten Forderung wurde jedoch in der Verfassung vorläufig ausgesetzt. Art. 91, 92, 93, 330 der Verfassung: ebenda.
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Die große Bedeutung, die den lokalen Verwaltungsorganen beigemessen wurde, hatte im Fall von solchen Gemeinden, deren Bevölkerung als afroamerikanisch galt, unmittelbare Auswirkung auf die politischen Rechte ihrer Einwohner. So etablierte das Dekret zur Durchführung der Wahl der ayuntamientos in der spanischen Monarchie eine Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden in den Amerikas. Denn es galt folgendes Problem zu lösen: Einige Gemeinden, in denen die Autoritäten aufgrund der Größe der Gemeinde oder anderer Umstände Gemeinderäte errichten wollten, setzten sich zu einem Großteil aus Afroamerikanern zusammen. Hier fehlte es somit an Staatsbürgern, um einen ausreichend legitimierten Stadtrat zu bilden. Daher wurde die Bevölkerung von afroamerikanischen Gemeinden bei den Wahlen zum Stadtrat zum aktiven und passiven Wahlrecht zugelassen: Da es vorkommen kann, dass es in den Übersee-Provinzen einige Gemeinden gibt, die wegen ihrer besonderen Umstände einen Gemeinderat für ihre Regierung haben müssen, aber deren Bewohner [vecinos] keine staatsbürgerlichen Rechte ausüben können, werden diese trotzdem in diesem Fall unter sich die Ämter des Gemeinderats wählen können, gemäß der Regeln, die in diesem Gesetz für die übrigen Gemeinden vorgeschrieben sind.65
Derartige Gemeinden konnten so Räte errichten und ihre Bewohner erhielten Zugang zu einem Teil der politischen Rechte, während sie von den Wahlen für die Provinzdeputation und die Cortes ausgeschlossen blieben. Die lokalen Gemeinden waren für die politische Stabilität und die Verwaltung einer Region so bedeutend, dass der formale Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft dahinter zurücktreten sollte. Wie sich zeigen wird, nutzten die neuspanischen Autoritäten die durch diese Regelung geschaffenen Spielräume, um Afroamerikanern auf lokaler Ebene das passive und aktive Wahlrecht zuzugestehen. Nach Claudia Guarisco waren die Vorschriften für Kommunalwahlen vor allem auf die Minimierung von Dissens und weniger auf die freie Ausübung politischer Rechte ausgelegt.66 Hierfür spricht die Tatsache, dass der Rat indirekt gewählt wurde und die Entscheidung über die Ratsmitgliedschaft in der Hand weniger Wahlmänner lag. Je nach Größe der Gemeinde sollten zwischen neun und 25 Wahlmänner gewählt werden. Guarisco wie auch Guerra merken darüber hinaus an, dass die Bürger ihre Stimmen gegenüber zwei zuvor gewähl65
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Dekret CLXIII vom 23. Mai 1812, in: Colección, 1987, Bd. 1, S. 519-521. Zitat: „Como puede suceder que haya en las provincias de ultramar algunos pueblos que por sus particulares circunstancias deban tener ayuntamiento para su gobierno, pero cuyos vecinos no estén en el ejercicio de los derechos de ciudadano, podrán sin embargo en este caso elegir entre sí los oficios de ayuntamiento bajo las reglas prescritas en esta ley para los demás pueblos.“ Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 135.
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ten Stimmenzählern und einem Sekretär abgeben mussten, womit sie also die Stimmabgabe in gewissem Maße kontrollieren konnten. Die Verfassung spezifizierte nicht, ob dies schriftlich oder mündlich geschehen musste.67 Guerra ist sogar der Auffassung, das Wahlsystem habe die Macht über die Kommunalwahlen letztlich in die lokalen Gemeinden und in deren „rechtliche oder de-factoAutoritäten“68 gelegt. Schließlich lag auch der den Wahlen vorangehende Zensus, in dem die Staatsbürger erfasst wurden, in der Hand der lokalen Autoritäten. Zudem sah die Verfassung vor, dass den Wahlen der jefe político, ein alcalde oder regidor sowie der Pfarrer der Gemeinde vorsaßen.69 Die auf lokaler Ebene getroffenen Entscheidungen über die Zulassung zum aktiven Wahlrecht galten laut Verfassung als verbindlich. Die Gemeindebewohner sollten entscheiden, wer an den Wahlen teilnehmen konnte. Nachträgliche Beschwerden, die die Gültigkeit der Wahlen infrage stellen konnten, sollten vermieden werden. So lautet eine Regelung der Verfassung zu den Wahlen auf Pfarreiebene: Falls Zweifel auftreten sollten, ob bei einem der Anwesenden die vorgesehenen Voraussetzungen, um wählen zu können, gegeben sind, trifft die Versammlung selbst in dieser Situation die Entscheidung, die ihr richtig erscheint; und was sie entscheidet, wird ohne irgendwelche Anfechtungen in diesem einen Fall und für diesen einen Zweck ausgeführt werden.70
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Vgl. Guerra, El soberano, 1999, S. 50; Guarisco, Los indios, 2003, S. 135. Siehe Art. 51 der Verfassung: Constitución política, 1987. Vgl. auch Reynoso Jaime, Irving: Sistema electoral y elites regionales. Elecciones municipales y de diputados en Cuernavaca y Cuautla de Amilpas, 1812–1835, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 25 (2009), H. 2, S. 189– 226, S. 202; Hensel, Silke: The Symbolic Meaning of Electoral Processes in Mexico in the Early 19th Century, in: Silke Hensel/Ulrike Bock/Katrin Dircksen/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012, S. 375–402, S. 383-384. Guerra ist der Meinung, in der Verfassung sei durch den Artikel 51 festgelegt, dass die Wahl mündlich zu geschehen habe. Im Artikel 51 wird jedoch lediglich das Verb designar verwendet. Nachweislich wurde bei einigen Wahlkonflikten die Wahl mittels vorgefertigter Listen als vollkommen verfassungskonform erachtet. Dies zeigt, dass auch die Zeitgenossen der Meinung waren, dass die Wahl nicht spezifizierte, ob sie schriftlich oder mündlich zu geschehen habe. So entschied ein Berater des jefe político in einem Konflikte um Wahlmanipulation durch vorgefertige Wahlzettel: „Dicho art. 51 exije la presencia del q[u]e ha de votar, mas no la circunstancia de q[u]e lo haga de palabra. Votar, pues, por escrito no esta prohivido […].“ „Renovac[i]on de Ayuntam[ien]tos Yautepec“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n. Guerra, El soberano, 1999, S. 50. Zitat: „autoridades, ya fuesen legales o de facto“. Vgl. ebenda. Artikel 50 der Verfassung: Constitución política, 1987. Zitat: „Si se suscitasen dudas sobre si en alguno de los presentes concurren las calidades requeridas para poder votar, la
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Auch der Ablauf der Wahlen und ihr ritueller Charakter zeigen, dass in der Vorstellung der Abgeordneten keine unabhängigen Individuen wählten, sondern ein pueblo als Korporation. So unterstreicht Guerra, dass die Wahlen als kollektiver Akt ausgetragen werden sollten, verbunden mit dem gemeinsamen Abhalten einer Dankesmesse.71 Guerra sieht auch daher deutliche Kontinuitäten zwischen dem vecino des Antiguo Régimen und dem in Cádiz entworfenen Staatsbürger.72 Den konstitutionellen Gemeinderäten wurden Funktionen zugesprochen, die verglichen mit dem Antiguo Régimen einen Zugewinn an Kompetenzen für indigene Gemeinden versprachen. Sie übernahmen Funktionen, die vorher von den subdelegados, also den spanischen Vorstehern der Distrikte, oder auch von übergeordneten Stadträten ausgeübt worden waren.73 So waren die neuen Gemeinderäte beispielsweise für die Reinhaltung der Gemeinden, die Bildungsinstitutionen und öffentliche Einrichtungen zuständig. Den Räten wurde außerdem die Rechtsprechung in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten übertragen. Ebenso lag die Steuereinziehung in ihrer Hand.74 Antonio Annino vertritt daher die Auffassung, die Verfassung habe die lokale Gemeinde in eine Quelle der neuen politischen Rechte transformiert.75 Nach Serrano Ortega stärkte die Verfassung von Cádiz die pueblos auch, indem sie die bisher bestehende Hierarchie zwischen den Städten und den übrigen Gemeinden einer Provinz abschaffte. Mit ihr verloren die Städte ihre Funktion als Repräsentanten der einzelnen Provinzen und wurden mit den übrigen Gemeinderäten gleichgestellt, was in manchen Städten den Protest der politischen Eliten auslöste.76
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misma junta decidirá en el acto lo que le parezca; y lo que decidiere se ejecutará sin recurso alguno por esta vez y para este solo efecto.“ Vgl. Guerra, El soberano, 1999, S. 50-52. Siehe auch Dekret CLXIII vom 23. Mai 1812, in: Colección, 1987, S. 519-522; und Artikel 46 der Verfassung: Constitución política, 1987. Vgl. Guerra, El soberano, 1999, S. 58-61. Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 145-148; Annino, Soberanías, 2003, insb. S. 247-248; Annino, Antonio: México: ¿soberanía de los pueblos o de la nación?, in: Manuel Suárez Cortina/Tomás Pérez Vejo (Hrsg.), Los caminos de la ciudadanía. México y España en perspectiva comparada, Madrid 2010, S. 37–54, insb. S. 41; Serrano Ortega, Ciudadanos naturales, 2007, S. 428. Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 145-148. Annino, Antonio: Ciudadanía ‘versus’ gobernabilidad republicana en México. Los orígenes de un dilema, in: Hilda Sabato (Hrsg.), Ciudadanía política y formación de las naciones. Perspectivas históricas de América Latina, México, D.F. 1999, S. 62–93, S. 69; siehe auch: Annino, Cádiz, 1995. Vgl. Serrano Ortega, José Antonio: Jerarquía territorial y ayuntamientos constitucionales. notas sobre el municipalismo de las primeras décadas del siglo XIX mexicano, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 39 (2002), S. 237–251, hier: S. 243-245, 250-251.
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Die Diskussion der Verfassung von Cádiz und des vorangehenden Prozesses politischer Umstrukturierung lässt erkennen, dass die neue konstitutionelle Monarchie in manchen Aspekten revolutionär war und gleichzeitig frühneuzeitlichen Konzepten von naturaleza und vecindad treu blieb. Indigene sollten als naturales und originarios der spanischen Monarchie Bürger werden, Afroamerikanern wurde dieser Status verwehrt. Diese auf naturaleza gründende Distinktion sollte durch Mechanismen, die schon im Antiguo Régimen bekannt gewesen waren, verhandelt werden können. Die Reputation entschied über die Zuschreibung der Abstammung, besonderer Verdienst oder hoher sozialer Status konnte die Tür zur Staatsbürgerschaft öffnen. Afroamerikanische Gemeinden durften unter gewissen Umständen Räte bilden. Die Abstammung sollte keineswegs rigoros den rechtlichen Status der Individuen determinieren, vielmehr waren der soziale Status des Individuums auf lokaler Ebene wie auch sein Verhältnis zur Krone laut Verfassung wichtige Kriterien für die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft in der konstitutionellen Phase. Die Staatsbürgerschaft manifestierte sich in politischen Rechten. Bei der Zuerkennung dieser Rechte wurde den Gemeinden eine zentrale Rolle zugeteilt. In strittigen Fällen sollten die am Wahlprozess beteiligten Staatsbürger unter Einbeziehung der Reputation darüber entscheiden können, wer Bürger war und wer nicht. Die Verfassung von Cádiz stärkte die pueblos als Korporationen auch, indem sie einen recht großen Spielraum für die Zuerkennung von Gemeinderäten ließ und den Räten recht umfassende Kompetenzen übertrug. Das Prinzip der Stärkung der pueblos wog im Ganzen schwerer als die an der naturaleza orientierte Definition der Gruppe der Staatsbürger, was sich an der Zuerkennung von Gemeinderäten und politischen Rechten für afroamerikanische Gemeinden zeigt. Ähnlich wie im Antiguo Régimen sollten die Gemeinden weiterhin die Zugehörigkeit zur Monarchie und auch die zur nationalen Gemeinschaft vermitteln.
b) Das Erste Imperium und die Republik
Die Verfassung von Cádiz wurde im März 1812 in Spanien proklamiert, in Neuspanien erst zwischen August und Oktober.77 In einigen Regionen Neuspaniens wurde sie aus verschiedenen Gründen in dieser frühen Phase nicht umgesetzt. Überhaupt galt sie nur wenige Jahre, denn nachdem die französischen Truppen aus Spanien vertrieben worden waren, kehrte Ferdinand VII. zurück. Er ließ am 4. Mai 1814 die Cortes abschaffen und erklärte hiermit auch die
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Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 322-326.
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Verfassung für ungültig.78 Im Jahr 1820 erhoben sich in Spanien liberale Militärs unter der Führung von Rafael Riego und zwangen Ferdinand VII., die Verfassung von 1812 wieder in Kraft zu setzen. Die nun wieder zusammengetretenen Cortes machten sich umgehend daran, die Privilegien des Klerus und des Militärs abzuschaffen. Die Koalition um den kreolischen Offizier Agustín de Iturbide in Neuspanien, unter dessen Führung schließlich die Unabhängigkeit erreicht wurde, erhielt daher große Unterstützung von Klerus und Militär. Im Plan von Iguala wurden drei Garantien formuliert, die die Grundpfeiler jener Koalition sein sollten, an deren Spitze Iturbide sich stellte. Es waren die Unabhängigkeit Mexikos, die Einheit zwischen Europäern und Amerikanern, was den Schutz der Europa-Spanier implizierte, und die Aufrechterhaltung der katholischen Religion, wozu auch die Privilegien des Klerus zählen sollten. Die Krone der neuen konstitutionellen Monarchie sollte Ferdinand VII. angeboten werden. Nach der Interpretation von Historikern wie Romeo Flores Caballero war die Unabhängigkeit für die Rebellen somit unbefriedigend, da sie unter den von ihren Feinden diktierten Bedingungen vollzogen worden sei.79 Iturbide vereinte in seiner Koalition jedoch nicht nur Klerus und Militärs, sondern verhandelte auch mit dem Rebellenführer Vicente Guerrero, der mit seinen Truppen den Kampf weiterführte. Im Plan von Iguala wurden die Ziele der Koalition festgehalten. Während Guerrero sich dem Plan von Iguala schon zwei Wochen nach seiner Veröffentlichung anschloss, waren Rebellengruppen bei Cuautla und in Veracruz noch 1822 nicht bereit dazu.80 Iturbide erhielt Guerreros Unterstützung vermutlich vor allem, weil ersterer bereit war, den Rebellen entgegenzukommen. Wenn auch der genaue Entstehungsprozess und die Autorschaft des Plans von Iguala noch diskutiert werden, war die Staatsbürgerschaft für Afroamerikaner höchstwahrscheinlich infolge der Verhandlungen zwischen Guerrero und Iturbide in den Plan aufgenommen worden.81 78 79 80 81
Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 379. Flores Caballero, Romeo R.: Revolución y contrarrevolución en la independencia de México, 1767-1867, México, D.F. 2009, S. 114-115, 120-121. Vgl. Anna, Timothy E.: The Mexican Empire of Iturbide, Lincoln 1990, S. 4, 59-60. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 75-77; Vincent, The Legacy, 2001, S. 125-127; Vincent, Theodore G.: The Contributions of Mexico’s First Black Indian President, Vicente Guerrero, in: The Journal of Negro History 86 (2001), H. 2, S. 148–159, hier: S. 151-152. Timothy Anna meint hingegen, dass Guerrero keinen Einfluss auf die Formulierung des Plans von Iguala genommen hatte. Vgl. Anna, The Mexican, 1990, S. 4. Jaime Rodríguez geht davon aus, dass der Plan von Iguala sich über mehrere Etappen entwickelte und verschiedene Autoren beteiligt waren: Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 2, S. 497. Bereits für 1820 sind Verhandlungen zwischen Guerrero und dem royalistischen Kommandanten Carlos Moya belegt, in denen Guerrero den Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft kritisierte: siehe Kap. 3.4.
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Der Plan von Iguala vom Februar 1821 sah eine von Spanien unabhängige konstitutionelle Monarchie vor, wobei die Krone zunächst Ferdinand VII. angeboten werden sollte. Im Vertrag von Córdoba erkannte der von den spanischen Cortes entsandte jefe político superior Juan O’Donojú im August 1821 Mexiko als souverän und unabhängig an. Im September 1821 wurde schließlich die Unabhängigkeit verkündet. Nachdem Ferdinand die mexikanische Krone abgelehnt hatte, wurde Iturbide vom verfassunggebenden Kongress zum Kaiser Agustín I. erklärt, doch musste er aufgrund starker Widerstände der Provinzen gegen seine Regierung bereits im März 1823 wieder abdanken.82 Der Plan von Iguala und die Gründung des mexikanischen Imperiums bildeten einen neuen Schritt in der Definition einer nationalen Gemeinschaft. In Cádiz hatte man die kolonialzeitliche formale Privilegierung von Spaniern und Indigenen als naturales in Abgrenzung von den Afroamerikanern aufrechterhalten, indem man zwischen Nationalität und Staatsangehörigkeit einerseits und Staatsbürgerschaft andererseits unterschied. Ab 1821 sollte die Unterscheidung zwischen Spaniern, Indigenen und Afroamerikanern keinerlei Rolle mehr spielen und der Plan von Iguala nahm die nationale Kategorie der americanos auf. Anders als die Rebellenführer der 1810er-Jahre interpretierte der Plan von Iguala diese Kategorie nicht als die in Amerika Geborenen, sondern er begann mit der Anrede „Amerikaner, zu denen ich nicht nur die in Amerika Geborenen zähle, sondern die Europäer, Afrikaner und Asiaten, die dort leben“83. Die Geburt auf dem amerikanischen Kontinent war nicht das zentrale Kriterium für die Zugehörigkeit zur Nation, sondern es genügte, Bewohner Amerikas zu sein.84 In der Präambel des Plans von Iguala wurde die Einheit zwischen Europäern, Amerikanern und Indigenen als Grundlage des Wohlergehens der Gesellschaft beschrieben. Der Plan erinnerte die Europa-Spanier daran, dass ihr Vaterland (patria) Amerika war, da sie dort lebten, ihre Familien und ihren Besitz hatten. Er argumentierte damit, dass ihre unmittelbare Umgebung und ihre sozialen Beziehungen sich in Amerika befanden und Amerika daher ihre
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Vgl. ebenda, S. 4-5, 11, 197-198; Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 146, 148, 151-153. Art. 1 der „Tratados de Córdoba“, in: Tena Ramírez, Felipe (Hrsg.): Leyes fundamentales de México, 1808-2005, México, D.F. 2005, S. 116-119. Art. 14 des „Decreto constitucional para la libertad de la América mexicana, sancionado en Apatzingán a 22 de Octubre de 1814“, in: Ramírez, Leyes fundamentales, 2005, S. 3258. Zitat: „Americanos, bajo cuyo nombre comprendo no sólo a los nacidos en América, sino a los europeos, africanos y asiáticos que en ella residen“. Zwar hatte die Verfassung von Apatzingán auch Europäern unter bestimmten Voraussetzungen die Tür zur amerikanischen Nationalität und Staatsbürgerschaft eröffnet, jedoch war hier die Geburt auf dem amerikanischen Kontinent das zentrale Kriterium der Einheit gewesen.
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Heimat sei. Die Amerikaner, womit er hier offenbar die Kreolen meinte, sollten sich gleichzeitig in Erinnerung rufen, dass sie von Spaniern abstammten.85 Die gemeinsame spanische Abstammung blieb unter Iturbide also in gewisser Weise ein Element der Nationskonstruktion. Iturbides Nationskonzept war ein Spagat zwischen verschiedenen Prinzipien der Nationskonstruktion. Es sollte nicht nur auf territorialer Zugehörigkeit beruhen, sondern gleichzeitig auf gemeinsamer Abstammung. Die Erweiterung der Kategorie americanos erfüllte hier den Zweck, zugleich Europäer und Afroamerikaner miteinzuschließen und so verschiedenen Interessengruppen entgegenzukommen. Der Artikel 12 des Plans von Iguala bestimmte daher ausdrücklich, dass alle Bewohner „ohne irgendeine Unterscheidung nach Europäern, Afrikanern oder Indigenen“ Bürger der Monarchie sein sollten.86Zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung kam es während des Ersten Imperiums nicht, sondern formal bestand die Verfassung von Cádiz mit den im Plan von Iguala festgelegten Modifikationen fort. Der Abdankung Iturbides folgten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Provinzdeputationen und die Einberufung einer neuen verfassunggebenden Versammlung. Diese gründete im Januar 1824 eine föderale Republik.87 Die politischen Eliten Mexikos erhielten die weite Definition von Staatsbürgerschaft, wie sie in Cádiz festgeschrieben worden war, auch während der föderalen Republik weitgehend aufrecht. Die politische Ordnung Mexikos während dieser Phase gilt in der Forschung daher, verglichen mit der 1836 errichteten zentralistischen Republik, als relativ liberal.88 Von der weit gefassten Staatsbürgerschaft versprachen sich die politischen Eliten langfristig einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Liberale Eliten glaubten, dass die von 85
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„Proclama en la cual va inserto el plan de independencia de que se ha hecho mencion“, in: Ramírez, Leyes fundamentales, 2005, S. 113-116. Vgl. auch Flores Caballero, Revolución, 2009, S. 120. Plan de la independencia de Mexico proclamada y jurada en el pueblo de Iguala en los días 1 y 2 de marzo de 1821 por el Serenísimo Sr. D. Agustín de Iturbide, Generalísimo Almirante, y Presidente de la Regencia Gobernadora interina del Imperio, México: 1822. Imprenta de D. Alejandro Valdés. Zitat: „sin distinción alguna de europeos, africanos ni indios“. In der ersten handschriftlichen Fassung des Plan de Iguala wurde dieser Einschluss noch nicht ausdrücklich formuliert. Hier lautete die Formulierung: „Todos los habitantes de el [del Imperio Mexicano], sin otra distincion que su merito y virtudes, son ciudadanos para obtar cualquiera empleo.” Diese Fassung befindet sich im Centro de Estudios de Historia de México und ist online einsehbar auf der Seite der Biblioteca Digital Mexicana (www.bdmx.mx). Vgl. Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 154-155, 169; Rodríguez O., Jaime E.: Hispanic Constitutions, 1812 and 1824, in: Silke Hensel/Ulrike Bock/Katrin Dircksen/HansUlrich Thamer (Hrsg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012, S. 67–101, S. 79-82. Vgl. z.B. Guardino, Peasants, 1996, S. 90.
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den Spaniern geschaffenen Institutionen dazu geführt hatten, dass weite Teile der Bevölkerung rückständig waren. Die repúblicas de indios waren ihnen samt ihrer Privilegien ein Dorn im Auge, denn gerade die Trennung zwischen Indigenen und Spaniern wurde als Grund für die Rückständigkeit der Indigenen betrachtet. Die rechtliche Gleichheit der Staatsbürger sollte letztlich auch eine kulturelle Homogenisierung der Gesellschaft bewirken.89 Während der föderalen Republik von 1824 bestand in Mexiko ein zweistufiges Konzept von Staatsbürgerschaft. Die mexikanische Nation wurde in der Verfassung der Republik territorial definiert und der Präsident der Republik sollte „mexikanischer Bürger“ sein.90 Mexikanische Staatsbürgerschaft wurde nicht definiert, sondern die Verfassung ging davon aus, dass alle Bürger der Bundesstaaten die Bürger der Föderation bildeten. So sollte das Parlament von den „Bürgern der Staaten“ 91 gewählt werden. Die Kategorie des Staatsbürgers wurde in den Verfassungen der Bundesstaaten ähnlich weit begriffen wie im Ersten Imperium. So waren im Estado de México alle im Territorium Geborenen Staatsbürger.92 Dasselbe galt für Oaxaca und Veracruz.93 Frauen und Minderjährige waren zwar Staatsangehörige, blieben jedoch auch in der Föderalen Republik von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Die Ausübung politischer Rechte konnte suspendiert oder aufgrund bestimmter Umstände teilweise eingeschränkt sein. Als 1823 und 1824 die verfassunggebende Versammlung die rechtlichen Grundlagen der ersten föderalen Republik Mexikos ausarbeitete, wurde die Frage diskutiert, ob die Ausübung politischer Rechte an Besitz oder Einkommen geknüpft werden sollte. Obwohl viele Abgeordnete im nationalen verfassunggebenden Kongress eine derartige Beschränkung der politischen Gemeinschaft befürworteten,94 wurde eine solche 89 90
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Vgl. Hale, Charles A.: Mexican Liberalism in the Age of Mora, 1821-1853, New Haven; London 1968, insb. Kap. 7. Art. 76 der Verfassung: Constitución Federal de los Estados Unidos Mexicanos, sancionada por el Congreso General Constituyente, el 4 de octubre de 1824, Imprenta del Supremo Gobierno de los Estados Unidos Mexicanos en Palacio, México [o.J.]. Zitat: „ciudadano mexicano“. Art. 8 der Verfassung. Ebenda. Zitat: „ ciudadanos de los Estados“. Art. 18 der Verfassung: Constitución política del Estado de México sancionada por su congreso constituyente en 14 de febrero de 1827, México 1827. In Oaxaca galten alle dort geborenen Personen als Oaxaqueñer wie auch Personen aus dem übrigen Territorium der Föderation, die in Oaxaca ansässig waren; alle Oaxaqueñer wurden außerdem zu Staatsbürgern erklärt: Constitución política del Estado libre de Oajaca, México 1825. Auch in Veracruz wurden alle dort geborenen Personen zu Veracruzanern erklärt und galten als Staatsbürger. Siehe Art. 6 und 11 der Verfassunf: Constitución política del Estado libre de Veracruz sancionada por su congreso constituyente en 3 de Junio de 1825, Jalapa 1825. Vgl. Aguilar Rivera, José Antonio: El veredicto del pueblo. El gobierno representativo y las elecciones en México, 1809-1846, in: José Antonio Aguilar Rivera (Hrsg.), Las
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laut Erika Pani in keinem Bundesstaat verabschiedet. Lediglich in Nuevo León beschloss man, zu gegebener Zeit die politischen Rechte an eine Mindeststeuerleistung zu binden. 95 Alle Bundesstaaten verwehrten Straftätern und bankrotten Schuldnern (deudores quebrados) die politischen Rechte. Außerdem wurden durch die Verfassungen häufig Menschen ausgeschlossen, die aufgrund bestimmter Verhaltensweisen oder Lebensumstände scheinbar nicht dem Ideal des Bürgers entsprachen. So konnte als lasterhaft betrachtetes Verhalten zum Ausschluss führen. Trinker, Berufsspieler und Männer, die ihre Ehefrau verließen, konnten in manchen Staaten von den politischen Rechten ausgeschlossen werden. Im Bundesstaat México wurden „Herumtreibern und Nichtstuern“ die politischen Rechte verwehrt.96 In den Verfassungen wurden häufig Personen ausgeschlossen, die in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen standen. Viele Staaten, unter ihnen der Estado de México, Oaxaca und Veracruz, verweigerten Hausangestellten, die unmittelbar einer Person dienten, das aktive und passive Wahlrecht. Die meisten Staaten machten auch Lese- und Schreibfähigkeit zur Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht, aber diese Bedingung wurde zunächst ausgesetzt und sollte in keinem Bundesstaat vor 1835 in Kraft treten.97 Die Bundesstaaten Oaxaca und Veracruz forderten von ihren Bürgern, in lokale Milizen einzutreten und sich in Staatsbürgerregister einzuschreiben.98 In Veracruz wurde das aktive Wahlrecht schon 1825 und erneut 1830 eingeschränkt.99 Das passive Wahlrecht für die Gemeinderäte war bereits während der föderalen Republik in einigen Bundesstaaten stärker eingeschränkt als unter der Verfassung von Cádiz. So wurde im Estado de México in der Verfassung von 1827 festgelegt, dass Mitglieder der Gemeinderäte eine „ein Grundstück, Kapital oder ein Gewerbe, das zum Unterhalt genügt“100 besitzen und außerdem schreiben können sollten. Neben Staatsbeamten und Angehörigen der Milizen
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elecciones y el gobierno representativo en México (1810-1910), Mexico, D.F. 2010, S. 123–164, S. 136. Vgl. Pani, Erika: Ciudadanos, cuerpos, intereses. Las incertidumbres de la representación. Estados Unidos, 1776-1787 – México, 1808-1828, in: Historia Mexicana LIII (2003), H. 1, S. 65–115, S. 90. Vgl. ebenda, S. 90. Zitat: „vagos y malentretenidos“. Vgl. ebenda, S. 89-90. Im Estado de México war dies jedoch kein Kriterium für das aktive Wahlrecht. Vgl. ebenda, S. 90. Vgl. Ducey, Elecciones, 2007, S. 190-191. Ab 1825 wurde in Veracruz ein Grundeigentum (propiedad raíz) im Wert von 100 Pesos oder andernfalls die Ausübung eines nützlichen Berufs gefordert wurde. Ab 1830 war ein Mindestkapital von 800 bzw. 250 Pesos Voraussetzung, je nachdem ob man in einer Distrikthauptstadt (cabecera de cantón) lebte, oder stattdessen ein jährliches Einkommen von 150 bzw. 250 Pesos. Siehe Art. 162-164 der Verfassung: Constitución política, 1827. Zitat: „finca, capital ó ramo de industria bastante á mantenerle“.
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wurden außerdem Tagelöhner vom passiven Wahlrecht für die Gemeinderäte ausgeschlossen.101 In Oaxaca war für die Bekleidung von Ämtern in den Gemeinderäten – ayuntamientos wie auch repúblicas – eine „bekannte Geeignetheit“ Bedingung, jedoch keine ökonomischen Voraussetzungen.102 In der Verfassung Yucatáns von 1825 forderte man ebenfalls eine gewisse ökonomische Absicherung wie auch Lese- und Schreibfähigkeit, um als Wahlmann oder Mitglied des ayuntamiento zu fungieren.103 Ausgeschlossen von jeglicher politischer Partizipation waren Sklaven. Die meisten Bundesstaaten erklärten in ihren Verfassungen, dass Nachkommen von Sklaven automatisch als Freie gelten. Viele Staaten verboten die Einführung von und den Handel mit Sklaven. Jalisco und Durango erklärten die Sklaverei bereits für abgeschafft, während sie auf Bundesebene erst 1829 abgeschafft wurde.104 Während das aktive Wahlrecht sehr weit gefasst blieb und das passive leicht eingeschränkt wurde, bemühten sich die Gesetzgeber vieler Bundesstaaten schon früh, die Anzahl der Gemeinderäte zu reduzieren. Die meisten Bundesstaaten etablierten für Gemeinden mit Räten eine Mindestgröße, die zwischen 2000 und 4000 Einwohnern lag. Dadurch wurde die Anzahl der Räte in vielen Regionen stark reduziert.105 Die Errichtung der föderalen Republik ging also 101
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Art. 162-164 der Verfassung: Constitución política, 1827. Vgl. Salinas Sandoval, María del Carmen: Ayuntamientos en el Estado de México, 1812-1827. Proceso de adaptación entre el liberalismo y el Antiguo Régimen, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 369–410, S. 390-391. Art. 169 der Constitución política, 1825. Zitat: „notoria probidad“. Artikel 197 und 202 der Verfassung: Constitución del estado de Yucatán (1825), in: Sebastian Dorsch (Hrsg.), Documentos constitucionales de México, 1814-1849, Berlin, New York 2013, S. 317–340. Zitat: Die ökonomische Absicherung sollte durch „oficio, industria o propiedad conocida“ gewährleistet sein. Vgl. Olveda Legaspi, Jaime: La abolición de la esclavitud en México, 1810-1917, in: Signos Históricos (2013), H. 29, S. 8–34, hier: S. 22-23. Im Estado de México sollten ab 1825 Gemeinden ab 4000 Einwohnern wie auch die Verwaltungszentren der verschiedenen Distrikte Gemeinderäte errichten. Vgl. Salinas Sandoval, Ayuntamientos, 2007, S. 390-391; Camacho Pichardo, Gloria: Los ayuntamientos en el Estado de México. Intentos autonomistas de los pueblos durante la primera república federal (1824-1835), in: María del Carmen Salinas Sandoval/Diana Birrichaga Gardida/Antonio Escobar Ohmstede (Hrsg.), Poder y gobierno local en México, 18081857, Zinacantepec; México, D.F. 2011, S. 329–349, S. 334-337. Siehe Art. 159-160, Constitución política, 1827. Auch Michoacán erkannte nur noch Gemeinden ab 4000 Einwohnern ayuntamientos zu, womit viele Gemeinden ihre Räte verloren. Von 97 Räten im Jahr 1824 waren 1827 noch 67 geblieben. Vgl. Cortés Máximo, Juan Carlos: Ayuntamientos michoacanos. Separación y sujeción de pueblos indios, 1820-1827, in: Tzintzun – Revista de Estudios Históricos 45 (2007), S. 33–64, S. 56, 61. In Veracruz forderte man nur 2000 Einwohner. Vgl. Ducey, Elecciones, 2007, S. 190. Laut der Verfassung Guanajuatos von 1826 sollten nur Gemeinden ab 3000 Seelen Gemeinderäte be-
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mit dem Versuch einher, vielen Gemeinden die eigenen Verwaltungsorgane zu entziehen und so auch deren politische Handlungsmöglichkeiten zu reduzieren. Im Estado de México kam es 1825 zu Konflikten um den Sitz der Gemeinderäte, nachdem der Kongress beschlossen hatte, ihre Anzahl zu reduzieren.106 Dahinter standen häufig ökonomische Motive, denn im Estado de México wurde die Kontrolle der Ländereien und sonstiger Ressourcen den ayuntamientos übertragen.107 In Guanajuato mussten Gemeinden über eine gewisse Anzahl an „geeigneten Bewohnern“108 verfügen, um einen Rat bilden zu können. So konnte man selbst genügend großen Gemeinden die Errichtung eines Rates verwehren bzw. bestehende Räte auflösen. Der Kongress Guanajuatos machte davon zwischen 1826 und 1827 Gebrauch und löste Räte in acht indigenen Gemeinden auf.109 Neben Puebla, wo keine Mindesteinwohnerzahl für die Bildung von Gemeinderäten festgelegt wurde,110 bildeten Oaxaca und Yucatán wichtige Sonderfälle in der Strukturierung der lokalen Verwaltung. So betrieb Oaxaca keine Reduzierung der Gemeinderäte. Die Verfassung von 1825 sprach zwar nur Gemeinden ab 3000 Seelen ayuntamientos zu, jedoch auch kleinere Gemeinden sollten Räte besitzen, die repúblicas genannt würden.111 Bereits unter der Verfassung von Cádiz wurde die Kategorie der repúblicas in Oaxaca aufrechterhalten. So hatte der Intendant offenbar 1820 parallel zu den neuen ayuntamientos die Schaffung von „provisorischen Repúblicas“112 in Gemeinden unter 1000 Einwohnern dekretiert.
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kommen. Vgl. Serrano Ortega, Ciudadanos naturales, 2007, S. 435-438. Zu den Auswirkungen vgl. zu Guanajuato: ebenda, S. 423; zu Michoacán: Hernández Díaz, Jaime: Los ayuntamientos de Michoacán en los inicios de la vida independiente. Realidad y crisis, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 237–268, hier: S. 257; zu Veracruz: Ortiz Escamilla, Juan: Ayuntamientos gaditanos en el Veracruz central, 18201825, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 307–334, hier: S. 325-327. Vgl. Salinas Sandoval, Ayuntamientos, 2007, S. 393; Camacho Pichardo, Los ayuntamientos, 2011, S. 338-344; für den Valle de México: Guarisco, Los indios, 2003, S. 204-206; für Cuautla und Cuernavaca: Reynoso Jaime, Sistema electoral, 2009, S. 194. Vgl. Camacho Pichardo, Los ayuntamientos, 2011, S. 341. Art. 146 zitiert nach Serrano Ortega, Ciudadanos naturales, 2007, S. 435. Wortlaut im Original: „vecinos aptos“. Vgl. Serrano Ortega, Ciudadanos naturales, 2007, S. 435-438. Vgl. Ducey, Indian Communities, 2001, S. 528. Zur den Bevölkerungsvoraussetzungen Art. 159 und 161; zu den Aufgaben der Räte Art. 162 und 163 der Constitución política, 1825. Dies behaupteten zumindest 1820 einige Bewohner von Pinotepa del Rey: „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Zitat: „repúblicas provisionales“. Vgl. auch Kap. 2.2.1.
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Im Bundesstaat Oaxaca war die Frage, ob ein Rat den Status einer república oder den eines ayuntamiento hatte, in erster Linie von der Größe der Gemeinde abhängig. Dazu meint Caplan, mit dieser Unterscheidung sollte die Trennung zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung aufrechterhalten werden. Indigene sollten sich weiter selbst regieren können und dabei relativ autonom sein.113 Wie Caplan anführt, spricht hierfür, dass die Verfassung es ermöglichte, auch Gemeinden unter 3000 Einwohnern aufgrund des Bildungsgrads der Bevölkerung, ihrer Berufsstruktur oder anderer „besonderer Umstände“114 ayuntamientos zuzugestehen. Diese Sonderregelung beweist, dass die Bezeichnung ayuntamiento sich mit einem höheren Prestige verband. Wie eine Formulierung in der Verfassung nahelegt, wollten die Autoren der Verfassung mit den repúblicas an die kolonialen indigenen Räte anknüpfen: „es wird einen Gemeinderat geben, der den bekannten Namen República trägt“115. Ayuntamientos und repúblicas unterschieden sich jedoch abgesehen von der Anzahl ihrer Mitglieder kaum. Die repúblicas waren den ayuntamientos nicht untergeordnet und in ihren Kompetenzen und Aufgaben bestand kein wesentlicher Unterschied.116 Die Verfassung Yucatáns von 1825 gestand ciudades, villas und cabeceras de partido wie auch Gemeinden ab 3000 Einwohnern ayuntamientos zu. Darüber sollten die Gemeindebewohner auch die „Fähigkeit“ für die Bekleidung von Ämtern haben. Kleinere Gemeinden sollten sogenannte juntas municipales bekommen.117 Zudem wurden wieder indigene repúblicas anerkannt, um die Steuereinziehung von der indigenen Bevölkerung zu erleichtern.118 Karen Caplan 113
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Caplan, Karen D.: Indigenous Citizenship. Liberalism, Political Participation, and Ethnic Identity in Post-Independence Oaxaca and Yucatán, in: Andrew B. Fisher/Matthew D. O’Hara (Hrsg.), Imperial Subjects. Race and Identity in Colonial Latin America, Durham 2009, S. 225–247, S. 230-232; Caplan, Indigenous Citizens, 2010, S. 67-68. Art. 160 der Verfassung: Constitución política, 1825. Art. 161 der Verfassung. Ebenda. Zitat: „habrá una municipalidad que se llamará con el nombre conocido de república“. Vgl. Guardino, The Time, 2005, S. 230; Caplan, Indigenous Citizens, 2010, S. 67; Mendoza García, J. Edgar: Municipios, cofradías y tierras comunales. Los pueblos chocholtecos de Oaxaca en el siglo XIX, Oaxaca; México, D.F. 2011, S, 74; Mendoza García, J. Edgar: Del cabildo colonial a la municipalidad republicana. Territorio y gobierno local en Oaxaca, in: María del Carmen Salinas Sandoval/Diana Birrichaga Gardida/Antonio Escobar Ohmstede (Hrsg.), Poder y gobierno local en México, 1808-1857, Zinacantepec; México, D.F. 2011, S. 375–409, S. 379. Über die Zuständigkeiten der repúblicas hinaus wurde den ayuntamientos lediglich die Aufgabe zugeschrieben, über Krankenhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen zu wachen und Ordnungen für ihre Kommunen zu entwerfen. Siehe Art. 162-163 der Verfassung, in: Constitución política, 1825. Artikel Art. 191, 192, 194 der Verfassung: Constitución del estado, 2013. Zitat: „capacidad“. Caplan, Indigenous Citizens, 2010, S. 104-115. Siehe Art. 192, 192, 194 der Verfassung: Constitución del estado, 2013.
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konstatiert daher, dass in Oaxaca und Yucatán während der föderalen Republik neben der allgemeinen Staatsbürgerschaft eine „indigenous citizenship“119 bestanden habe. Letztere sieht sie als „a set of ideas and institutions“120, welches in erster Linie auf legislativer Ebene geschaffen wurde und u.a. den wirtschaftlichen Interessen der Eliten diente. Die Legislativen räumten von Anfang an Spielräume ein, um auch kleinen Gemeinden, die bestimmten Normen entsprachen, Gemeinderäte zugestehen zu können. Im Estado de México sollte der Kongress dies im Fall von „gerechten Gründen“ tun können.121 In Oaxaca sollte der Kongress jenen Gemeinden die Errichtung von Gemeinderäten zugestehen können, „die es aufgrund von Bildung, Gewerbe und weiterer besonderer Eigenschaften verdienen, Gemeinderäte zu haben“.122 In Yucatán waren die ausschlaggebenden Kriterien ähnlich wie in Oaxaca.123 Wie Caplan auch für Oaxaca annimmt, liegt bei diesen Regelungen die Vermutung nahe, dass es darum ging, zwischen indigenen und nichtindigenen Gemeinden unterscheiden zu können. Mittels der Anforderung der Bevölkerungsgröße konnte man den meisten indigenen Gemeinden Räte verwehren. Die zusätzlichen qualitativen Kriterien wie die wirtschaftliche Entwicklung und der Bildungsstand der Bewohner ermöglichten es, gleichzeitig kleinen Gemeinden mit spanischstämmiger Bevölkerung trotzdem eigene Räte zuzugestehen. Bis Mitte der 1830er-Jahre blieben Staatsbürgerschaft und aktives Wahlrecht in den Bundesstaaten Mexikos somit sehr weit gefasst, während das passive Wahlrecht in einigen Regionen bereits eingeschränkt war. Die 1836 verabschiedeten Leyes Constitucionales führten wieder die Trennung zwischen Nationszugehörigkeit und Staatsbürgerschaft ein und reduzierten weiter die Anzahl der lokalen Räte. Als Mexikaner galten alle im Land geborenen Personen wie auch die Kinder mexikanischer Männer. Mexikaner verfügten allerdings nur über bürgerliche Rechte, denn als Staatsbürger galten ausschließlich jene mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100 Pesos.124 Auffällig ist, dass solche Umstände, die in den bundesstaatlichen Verfassungen der föderalen Republik formal nur zu einer vorübergehenden Aufhebung der staatsbürgerlichen Rechte geführt hatten, nun den vollständigen Verlust des Staatsbürgerstatus mit sich brachten. Der Artikel 11 lautete: „Die Bürgerrechte verliert vollständig […], wer 119 120 121 122 123 124
Caplan, Indigenous Citizenship, 2009, S. 231. Ebenda. Artikel 160 der Verfassung: Constitución política, 1827. Zitat: „justas causas“. Artikel 160 der Verfassung: Constitución política, 1825. Zitat: „que por ilustracion, industria y demás particulares circunstancias merezcan tener ayuntamientos“. Artikel 193 der Verfassung: Constitución del estado, 2013. Die Rede war von „ilustracion, agricultura, industria y comercio“. Artikel 1 und 7 der Leyes Constitucionales (30.12.1836), in: Tena Ramírez (Hrsg.), Leyes fundamentales, 2005, S. 204-248.
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Herumtreiber oder Nichtstuer ist, oder kein Gewerbe oder keine ehrliche Lebensweise hat.“125 Diese Begrenzung der Gruppe der Staatsbürger wurde von einer massiven Reduzierung der Gemeinderäte begleitet. Räte sollte es jetzt vor allem in den Hauptorten der Distrikte (departamentos) geben und in Gemeinden ab 8000 Einwohnern. Um hier ein Amt bekleiden zu können, genügte es nicht, Staatsbürger zu sein, sondern man musste ein jährliches Mindesteinkommen von 500 Pesos haben.126 Ab 1843 konnten nur noch Personen mit einem Mindesteinkommen von 200 Pesos wählen.127 Im Gegensatz zur Verfassung von Cádiz, die die Bedeutung der pueblos gestärkt hatte, versuchten die Bundesstaaten der föderalen Republik, die Einflussmöglichkeiten der pueblos zu reduzieren, und die Gesetzgeber vieler Bundesstaaten waren bemüht, indigenen Gemeinden eigene Räte zu verwehren. Lediglich Oaxaca bildete hier eine Ausnahme. Parallel zu diesen Einschränkungen wurde das weite Wahlrecht aufrechterhalten, womit die Gesetzgeber darauf abzielten, möglichst viele Menschen in die Wahlprozesse einzubinden, um so den lokalen Verwaltungsorganen wie auch der politischen Ordnung Legitimität zu verleihen.
2. Afroamerikaner und Staatsbürgerschaft Die Verfassung von Cádiz stellte einen revolutionären Schritt hin zur Etablierung eines liberalen politischen Systems dar. Weiten Teilen der Bevölkerung der spanischen Monarchie erkannte sie die gleichen politischen Rechte zu. Der Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft bedeutete, dass sie in Neuspanien formal von jeglichen politischen Rechten ausgeschlossen waren. Schätzungsweise waren in Neuspanien um 1800 ca. 10 % der Bevölkerung in Kategorien afrikanischer Abstammung erfasst worden.128 In der Forschungsliteratur gibt es bereits Hinweise, dass man in einigen Städten gar nicht erst versuchte zu ermitteln, ob Wähler von afrikanischer Abstammung waren oder nicht. Auch ist belegt, dass Personen, die z.B. als mulato galten, in einigen Fällen
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Artikel 11 der Leyes Constitucionales: Ebenda. Zitat: „Los derechos de ciudadano se pierden totalmente: […] V. Por ser vago, mal entretenido, o no tener industria o modo honesto de vivir.“ Artikel 22, 24 der Leyes Constitucionales: Ebenda. Vgl. Sordo Cedeño, Reynaldo: Liberalismo, representatividad, derecho al voto y elecciones en la primera mitad del siglo XIX en México, in: Margarita Moreno Bonnet/María del Refugio González (Hrsg.), La génesis de los derechos humanos en México, México, D.F. 2006, S. 547–559, S. 545, 550, 554. Die war laut Schätzungen von Aguirre Beltrán der Anteil der Afroamerikaner im ausgehenden 18. Jahrhundert. Vgl. Aguirre Beltrán, La población, 1972, S. 234.
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Ämter in Gemeinderäten bekleideten.129 Da Menschen afrikanischer Abstammung in der späten Kolonialzeit in Oaxaca-Stadt häufig nicht mehr als mulatos klassifiziert wurden, sondern als mestizos, nimmt Peter Guardino zudem an, dass diese dort auch zu Wahlen zugelassen wurden.130 Bei den ersten Wahlen in Guayaquil (Vizekönigreich Peru) im Jahr 1812 nahmen Afroamerikaner teil.131 Einige wenige Studien haben sich bereits anhand einzelner Konflikte mit der Exklusion der Afroamerikaner in Neuspanien auseinandergesetzt, so liegen Untersuchungen zu Konflikten an der Costa Chica von Oaxaca, in Yucatán und der Region des heutigen Bundesstaats Morelos vor, die unten diskutiert werden sollen.132 Bisher gibt es keinen Forschungsbeitrag, der über Einzelfalldiskussionen hinaus den Umgang mit der Exklusion der Afroamerikaner in Neuspanien zu erfassen versucht. In diesem Teilkapitel soll der Umgang mit der Exklusion seitens der spanischen Verwaltung wie auch die Konflikte auf lokaler Ebene, in denen afrikanische Abstammung als Argument eingesetzt und in denen um die Anwendung des Kriteriums gestritten wurde, untersucht werden. Auch wird nach der Bedeutung politischer Rechte für die afroamerikanische Bevölkerung nach der Unabhängigkeit gefragt.
a) Afroamerikaner, spanische Verwaltung und politische Rechte
In der Historiographie wird angenommen, dass die amerikanischen Abgeordneten die Staatsbürgerschaft der Afroamerikaner vor allem befürworteten, um ihr Gewicht im spanischen Parlament zu erhöhen. Hieraus zu schließen, dass die spanische Verwaltung in Neuspanien kein Interesse daran hatte, Afroamerika129
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Laut Virginia Guedea wurde in den ersten Kommunalwahlen in Mexiko-Stadt im Dezember 1812 in einigen Pfarreien die Ausübung des aktiven Wahlrechts nicht von der Hautfarbe der Personen abhängig gemacht. Vgl. Guedea, Las primeras, 1991, S. 8-9. Laut Escobar Ohmstede wurde 1813 ein Afroamerikaner in den Rat von Huejutla gewählt. Vgl. Escobar Ohmstede, Antonio: Del gobierno indígena al Ayuntamiento constitucional en las Huastecas hidalguense y veracruzana, 1780-1853, in: Mexican Studies/Estudios Mexicanos 12 (1996), H. 1, S. 1–26, S. 15. Für Oaxaca-Stadt: Guardino, La identidad, 2007, S. 285.. Vgl. Rodríguez O., Jaime E.: La antigua provincia de Guayaquil durante la época de la independencia, 1809-1820, in: Jaime E. Rodríguez O. (Hrsg.), Revolución, independencia y las nuevas naciones de América, Madrid 2005, S. 511–556, hier: S. 539. Zu Oaxaca: Arenal Fenochio, Un modo, 2002, Kap. IV; Hensel, Cambios políticos, 2008; Sánchez Silva, Carlos: Viejas y nuevas prácticas políticas en Oaxaca. Del constitucionalismo gaditano al México republicano, in: Silke Hensel (Hrsg.), Constitución, poder y representación. Dimensiones simbólicas del cambio político en la época de la independencia mexicana, Madrid 2011, S. 311–335; zu Yucatán: Campos García, Castas, 2005; Bock, Entre españoles, 2013; zu Morelos: Reynoso Jaime, Sistema electoral, 2009.
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nern die Staatsbürgerschaft zuzuerkennen, wäre jedoch verfehlt. Spanische Verwaltungsakteure hatten gute Gründe, wie die folgende Untersuchung zeigt, Afroamerikaner als Staatsbürger zu behandeln. Afroamerikaner hatten in den einzelnen Regionen Neuspaniens einen unterschiedlichen sozialen und rechtlichen Status. Diese Unterschiede wie auch ihr Verhältnis zu anderen lokalen, aber auch staatlichen Akteuren waren ausschlaggebend dafür, wie die spanische Verwaltung mit der Exklusion der Afroamerikaner umging. Wie beschrieben hatten die Abgeordneten der Cortes bewusst Spielräume geschaffen, die der spanischen Verwaltung einen recht flexiblen Umgang mit dem Kriterium der afrikanischen Abstammung ermöglichten. Verdienstvolle und angesehene Personen sollten bei den Cortes die Staatsbürgerschaft beantragen können; für die Abstammung einer Person war ihre Reputation ausschlaggebend. Bildeten Afroamerikaner einen großen Anteil der Gemeindebewohner, konnten sie zu Kommunalwahlen zugelassen werden. Welche Bedeutung diese Spielräume für die Entscheidungen der spanischen Verwaltungsakteure hatten, wird im Folgenden sichtbar. Die Bevölkerung der Region um Cuautla und Cuernavaca (im heutigen Bundesstaat Morelos) wird heute kaum mit afrikanischer Abstammung in Verbindung gebracht, setzte sich jedoch um 1800 zu einem großen Anteil aus Afroamerikanern zusammen. Noch bevor die Verfassung von Cádiz verabschiedet wurde, hatte der subdelegado von Cuautla, Roque Amado, die Bevölkerung Cuautlas einschließlich der castas schon in einer Rede vom Juli 1811 zu freien Bürgern der spanischen Nation erklärt.133 Daher war er offenbar überrascht, als die afroamerikanische Bevölkerung durch die Verfassung aus der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen wurde. So wollte er sich 1813 vor der Umsetzung der Regelung vergewissern, ob er das Gesetz richtig interpretierte.134 Im Juni 1813, in Vorbereitung auf die Ende des Jahres anstehenden Wahlen, schrieb er an seinen Vorgesetzten, den Intendanten der Provinz México: Ich verstehe, dass – obwohl wir alle Spanier sind – jene, die als afrikanischstämmig betrachtet werden, also Nachfahren von Negros, Mulatos etc. (wie ich es verstehe), nicht die Privilegien der Staatsbürger haben können, solange sie nicht durch die Tür der Tugend und des Verdienstes treten. Daraus folgt, so scheint es, dass Mulatos, Lobos, Negros etc. weder wählen können noch gewählt werden können – eine Unsicherheit, die ich gerne klären möchte, da es
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Vgl. hierzu Kap. 3.2. „Sobre varios puntos que consulta el Subd[elegad]o de Quautla acerca de las elecciones de Regidores y Alcaldes constitucionales de aquel Pueblo“ (1813), AGN, Ayuntamientos, vol. 187, exp. s/n, fs. s/n.
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viele davon in meinem Distrikt gibt, und [sie] tatsächlich die Mehrheit [bilden] […].135
Roque Amado erschien es offenbar nicht selbstverständlich, dass Afroamerikaner von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden sollten. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, wie er selbst andeutet, das große demographische Gewicht der afroamerikanischen Bevölkerung in der Region. Amado zufolge waren schließlich die meisten Menschen Afroamerikaner. Für die Verwaltung des Distriktes war es strategisch ungünstig, die Afroamerikaner bei den Wahlen zum Gemeindrat Cuautlas nicht zu berücksichtigen. Einige Afroamerikaner nahmen auf den Haciendas wichtige Funktionen ein, denn Roque Amado erkundigte sich ausführlich nach dem Umgang mit den Hacienda-Verwaltern afrikanischer Abstammung. Er wollte wissen, ob sie als potentielle Ratsmitglieder diese Funktion überhaupt ausfüllen könnten. Denn dafür müssten sie ihre Arbeit auf der Hacienda aufgeben. In diesem Fall würde ihnen jedoch laut Artikel 25 der Verfassung wiederum eine Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft fehlen: ein Beruf oder eine „bekannte Lebensweise“.136 Amado hielt es also nicht für ausgeschlossen, dass afroamerikanische Haciendaverwalter die spanische Staatsbürgerschaft erhalten und sogar in ein Amt gewählt werden könnten. Nicht nur auf den umliegenden Haciendas, sondern sogar in der Gemeinde Cuautla selbst waren Afroamerikaner von großer ökonomischer Bedeutung. Von den erwachsenen Männern der Gemeinde Cuautla waren laut einem Pfarrregister der kommulgierenden Personen ca. 39 % Afroamerikaner und ca. 17 % Indigene; Mestizen und castizos waren mit ca. 29 % und Spanier mit ca. 12 % vertreten.137 Über die Berufsstruktur der nicht-indigenen Bevölkerung der Gemeinde Cuautla gibt ein Zensus von 1792 Auskunft. Von den 21 Kaufleuten, also der ökonomischen Elite, waren 19 Spanier, ein Afroamerikaner und ein Mestize oder castizo. Afroamerikaner bildeten jedoch 44 % aller nicht-indigenen Handwerker und 54 % der Arbeiter, die vermutlich größtenteils auf den Haci-
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Ebenda. Zitat: „ Comprendo q[u]e aunq[u]e todos somos Españoles, p[ar]a aquellos q[u]e son reputados p[o]r originarios de Africa, q[u]e es decir descendientes de Negros, Mulatos &.a [etcétera, D.G.] (segun mi cortedad entiende) no pueden, interin no entren p[o]r la Puerta de la virtud, y merecimiento, tener privilegios de ciudadanos. Siguese de esto segun parece, q[u]e Mulatos, Lobos, Negros &.a [etcétera, D.G.] ni pueden elegir, ni ser electos, cuia duda deseo aclarar, p[o]r haber muchos de estas clases en mi Jurisdiccion, y con ebidencia los mas [...].“ Vgl. hierzu ausführlich Grewe, ¿Ciudadanos afrodescendientes, 2013. Vgl. Martin, Rural Society, 1985, S. 158. In der Gemeinde Cuautla waren von insgesamt 419 nicht-indigenen erwachsenen Männern 185 Afroamerikaner, 145 Spanier und 89 Mestizen oder castizos.
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endas arbeiteten.138 Zur Berufsstruktur der indigenen Bevölkerung liegen keine Daten vor. Zu Cuautla zählten laut dem Zensus von 1792 neben der Gemeinde selbst noch 25 Ortschaften, die als haciendas, ranchos und rancherías erfasst wurden, und zwölf weitere Gemeinden. Von den insgesamt knapp 3000 mit einem Beruf registrierten nicht-indigenen Männern im ganzen Distrikt, waren ca. 62 % Afroamerikaner.139 Drei Viertel aller Afroamerikaner des Distrikts verdingten sich als Arbeiter auf den Haciendas und befanden sich hiermit am unteren Ende der sozioökonomischen Hierarchie. Allerdings hatten die Mestizen eine ähnliche sozioökonomische Position, denn von ihnen waren zwei Drittel ebenfalls Hacienda-Arbeiter. Selbst ein Drittel der Spanier gehörte zu dieser Berufsgruppe.140 Afroamerikaner hatten z.T. Berufe, die mindestens auf einen mittleren sozialen Status schließen lassen. Von neun registrierten Haciendaverwaltern der Region waren fünf Afroamerikaner, zwei Mestizen und einer Spanier. Drei Afroamerikaner waren zudem Primarschullehrer, einer von ihnen sogar in Cuautla selbst.141 Darüber hinaus waren Afroamerikaner in die lokalen Verwaltungsstrukturen eingebunden. Hierfür sprechen einige Daten des Zensus von 1792. So fungierte ein pardo als alcalde im Stadtteil Ahuehuepa; ein weiterer hatte das Amt des alguacil inne. Damit hatte er u.a. Wächterfunktionen und führte vermutlich Aufgaben im Auftrag des Rats aus. Ähnlich konnten auch mestizos Aufgaben im Rahmen der Gemeindeverwaltung innehaben, z.B. als Gefängniswächter (alcaide).142 Afroamerikaner übten auch in dieser Region militärische Funktionen aus. Zwar existierten in Cuautla keine afroamerikanischen Milizen, aber die Kompanie Cuautlas bestand im Jahr 1810 zu einem großen Teil aus Afroamerikanern.143
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Vgl. ebenda. Von 2894 mit einem Beruf registrierten nicht-indigenen Männern waren 1755 pardos, 482 mestizos (17 %), 123 castizos (4 %) und 487 españoles (17 %). Padrón de Cuautla (ohne Jahr), AGN, Padrones, vol. 8. Von den mit einem Beruf registrierten Afroamerikaner waren 1336 (76 %) Haciendaarbeiter, von den Mestizen waren es 325 Personen (67 %), von den castizos 70 Personen (57 %), von den Spaniern 171 Personen (35 %). Padrón de Cuautla (ohne Jahr), AGN, Padrones, vol. 8. Ein weiterer Afroamerikaner war cirujano. Ebenda, fs. 24v, 37v, 51v, 53, 109v, 136v, 142, 152v, 160, 182, 211v. Ebenda, fs. 12v, 109v, 135v. Zu den Ämtern alguacil und alcaide vgl. Haskett, Indigenous Rulers, 1991, S. 107-108, 112. [Cuautla. Don Domingo Rodríguez se queja de que el Capitán de Milicias de la Nueva España Don José Fernández para completar la dicha compañía ha incorporado a muchos mas tributarios mulatos […]] (1810), AGN, Indiferente Virreinal, caja 5220, exp. 083. Tributos.
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Aufgrund der demographischen, ökonomischen und militärischen Bedeutung der Afroamerikaner musste Amado Interesse daran haben, vielen von ihnen die spanische Staatsbürgerschaft zuzugestehen. Angesichts des Erfolgs der Rebellenheere in der Region, die im Frühjahr 1812 fast zwei Monate lang Cuautla besetzt hatten, war die politische Exklusion weiter Teile der Bevölkerung problematisch. Die oben behandelte gesetzliche Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden scheint Amado zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt zu haben, da er sich nicht auf sie bezieht. Ansonsten hätte er das Dekret vom 23. Mai möglicherweise angewendet, denn schließlich war er der Meinung, dass in Cuautla die meisten Leute afrikanischer Abstammung seien. Roque Amado begrüßte die Exklusion der Afroamerikaner keineswegs, doch trat er kaum für das Wahlrecht der Afroamerikaner ein. Entschiedener als Roque Amado setzte sich 1813 der royalistische Kommandant von Tuxpan, Manuel González de la Vega, an der Küste von Veracruz für die politischen Rechte der Afroamerikaner zweier Gemeinden ein. Er tat dies Anfang August 1813 in einem Brief an den Gouverneur von Veracruz.144 In der Region existierten zwar viele indigene Gemeinden, aber die nichtindigene Bevölkerung bildete in der Küstenregion die Mehrheit. Auch in den beiden genannten Küstenorten waren bis auf wenige Spanier und Indigene die meisten Bewohner Afroamerikaner.145 Die Bewohner von Tamiahua hatten bereits im Mai 1813 ihre Treue zur spanischen Regierung betont und hiermit einem Bericht in der Regierungszeitung, der Gaceta del Gobierno de México, widersprochen.146 Die Region befand sich zu diesem Zeitpunkt mitten im Bürgerkrieg und weite Teile der Bevölkerung, darunter auch viele afroamerikanische Milizen, hatten sich den Rebellen ange-
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„Sobre establecim[ien]to de Ayuntamientos en los pueblos de Tuxpan y Tamiagua“ (1813), INAH, Colección Microfilm, Serie ‘Archivo Judicial de Puebla’, rollo 55. Auch einsehbar (allerdings unvollständig) in AHJP, caja 312, exp. 9363. Um 1740 gab es in Tamiahua 40 „familias de españoles“, zu denen wohl auch Mestizos und Castizos gerechnet wurden und 400 „de Mulatos, y Negros“. Zu Tamiahua gehörten um 1740 auch 460 „familias de Indios“. Die Cabecera der República de Indios befand sich jedoch nicht in Tamiahua, sondern weiter im Landeinneren im Ort Amatlán. Um 1790 gab es 24 „familias de españoles, mestizos y castizos“ und 412 „familias de mulatos“. In Tuxpan gab es 1790 48 „familias de españoles, mestizos y castizos“ und 120 „familias de mulatos“. Für Tuxpan liegen keine Daten zur indigenen Bevölkerung vor. Villaseñor y Sánchez, Theatro Americano, 1742, S. 313-314. Vgl. auch Escobar Ohmstede, Antonio: Los pueblos indios de las Huastecas a través de cien años de historia, in: Manuel Ferrer Muñoz (Hrsg.), Los pueblos indios y el parteaguas de la independencia de México, México, D.F. 1999, S. 105–165, S. 116. Siehe auch: AGN, Padrones, vol. 18, fs. 123, 157, 164; und: Gerhard, Peter: A Guide to the Historical Geography of New Spain, Norman 1993, S. 120. Vgl. Kap. 3.3.
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schlossen.147 González beklagte nun, dass Tuxpan und Tamiahua trotz ihrer Treue und ihres heldenhaften Verhaltens nicht von der neuen Verfassung profitierten: Ebenso muss ich Euch darüber informieren, dass ich keinen Grund dafür sehe, dass diese würdige und treue Gemeinde [vecindario] [von Tuxpan] und die von Tamiahua aus dem wohltuenden Genuss der Verfassung der Monarchie ausgeschlossen sein sollen, während die Gemeinde Alvarado an der Süd-Küste sich in ihm befindet. Die Umstände der Gemeinde Tamiahua und ihr heldenhaftes Verhalten in diesen Zeiten sprechen für ihre Bewohner [vecinos] […]. In diesem Fall meine ich nicht, dass sie als afrikanischstämmig behandelt werden dürfen, wie man es tun wollte, zumal die von Alvarado in der gleichen Situation sind und sich des Bürger-Titels erfreuen.148
González de la Vega wollte für die beiden Gemeinden eigene konstitutionelle Gemeinderäte durchsetzen. Er berief sich hier auf die weiter südlich gelegene Gemeinde Alvarado, denn auch sie verfügte über einen ayuntamiento, obwohl Alvarado ebenfalls zu großen Teilen aus Afroamerikanern bestand, denn González schrieb, sie seien „in der gleichen Situation“.149 Der zuständige Berater (asesor ordinario) Sandero der Intendantur betrachtete die afrikanische Abstammung der Bewohner dieser Gemeinden als ein nicht zu beseitigendes rechtliches Hindernis für die Errichtung des Gemeinderats: „Es scheint, dass Tuxpan und Tamiahua nicht unter die Verfassung fallen, wenn alle oder die meisten, mit Ausnahme weniger und nicht genügender Bewohner, afrikanische Abstammung haben.“150 Er betonte, dass er sich aufgrund der 147
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Vgl. Tecuanhuey Sandoval, Alicia: Puebla, 1812-1825. Organización y contención de ayuntamientos constitucionales, in: Juan Ortiz Escamilla/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Ayuntamientos y liberalismo gaditano en México, Zamora; Veracruz 2007, S. 337-268, hier: S. 348; Ducey, Michael T.: Village, Nation, and Constitution. Insurgent Politics in Papantla, Veracruz, 1810-1821, in: The Hispanic American Historical Review 79 (1999), H. 3, S. 463–493, hier: S. 470-471. „Sobre establecim[ien]to de Ayuntamientos en los pueblos de Tuxpan y Tamiagua“ (1813), INAH, Colección Microfilm, Serie ‘Archivo Judicial de Puebla’, rollo 55. Auch einsehbar (allerdings unvollständig) in AHJP, caja 312, exp. 9363, fs. 2-2v. Zitat: „Tambien debo de hazer á V[uestro] S[eñor] presente, no hallo razon alguna p[ar]a q[u]e este digno, y fiel vecindario [de Tuxpan, D.G.], y el de Tamiagua esten escluidos del benefico goze de la constitucion de la Monarquia, quando en la Costa del Sur de esa plaza, se halla el pueblo de Albarado poseciendolo. Las circunstancias del Pueblo de Tamiagua y su heroica conducta en estos tiempos, hablan en fabor de sus vezinos [...]; en este caso no creo deben reputarse como oriundos de Africa como han querido decirlo, ademas q[ue] los de Albarado están en el mismo caso y gozan del titulo de Ciudadano.“ Vgl. Gerhard, A Guide, 1993, S. 362. Ebenda. Zitat: „parece: q[u]e [Tuxpan y Tamiahua] no estan en el caso de la constitucion, si es que todos, ó los mas, exceptuados pocos, y no bastantes de sus habitantes, tienen origen africano.“
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
Gesetze gezwungen sehe, den beiden Gemeinden die Errichtung von konstitutionellen Räten zu verwehren. Sonst hätte er sie diesen „äußerst treuen und heldenhaften Gemeinden“151 zugestanden, schrieb der asesor in der Stadt Veracruz. Er war jedoch scheinbar nicht vollständig über die rechtlichen Normen im Umgang mit afroamerikanischen Gemeinden aufgeklärt. Er argumentierte, wie Roque Amado es in Cuautla getan hatte, ausschließlich auf Grundlage der Verfassung. Auf das Dekret vom Mai 1812 und die dort etablierte Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden bezog er sich nicht. Der procurador síndico der Stadt Veracruz Felix de Aguirre, der mit einer Einschätzung des Problems betraut wurde, widersprach dagegen dem asesor, indem er sich auf den Artikel 12 des genannten Dekrets berief. Seiner Auffassung nach mussten alle Gemeinden ab 1000 Einwohnern über einen konstitutionellen Gemeinderat verfügen; daneben konnte es Gemeinden geben, die aufgrund anderer Umstände Sitz eines Gemeinderats sein mussten. In letzterem Fall, so seine Auslegung, führte das Dekret dazu, dass die afrikanische Abstammung der Bevölkerungsmehrheit nicht länger als Hindernis für die Errichtung eines Gemeinderats galt. Der Intendant von Puebla entschied schließlich im Dezember zugunsten der beiden Gemeinden, so dass sie für das Jahr 1814 einen konstitutionellen Gemeinderat wählen konnten. Auch 1820 wurden zumindest in Tamiahua und Alvarado konstitutionelle Gemeinderäte gewählt.152 Alvarado gelang es darüber hinaus, 1816 unter dem Antiguo Régimen als villa anerkannt zu werden und errichtete somit 1818 ein ayuntamiento nach der alten Ordnung.153 Angesichts der Anerkennung als villa ist es wahrscheinlich, dass es hier eine spanischstämmige Minderheit gab, die während der kurzen Phase des wiedererrichteten Antiguo Régimen den ayuntamiento für sich beanspruchte. Ob der ayuntamiento von Alvarado bereits während des Antiguo Régimen teilweise mit Afroamerikanern besetzt war, muss offen bleiben. Mit der Erlaubnis zur Errichtung von konstitutionellen Gemeinderäten in Tamiahua und Tuxpan folgten die Autoritäten der Verfassung, denn sie sah vor, dass verdienstvollen Afroamerikanern die Staatsbürgerschaft zugestanden werden konnte, wenngleich dies laut Verfassung nur durch die Cortes geschehen konnte. Zwar tauchte das Argument des Verdienstes in der Begründung des procurador síndico nicht explizit auf, jedoch legt der Kontext nahe, dass die Zuerkennung des konstitutionellen Gemeinderats auch als Gegenleistung für die Treue und militärische Unterstützung der Royalisten zu sehen ist. 151 152
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Ebenda. Zitat: „fidelisimos, y heroicos pueblos“. „Renova[ci]on de Ayuntam[ien]tos. Tamiagua“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n; [Autos seguidos por el ayuntamiento de Alvarado, sobre la elección que hicieron de alcalde Ordinario] (1820), AGN, Indiferente Virreinal, caja 3642, exp. 001. Vgl. González Martínez, Joaquín Roberto/Ramos Hernández, Marcelino O. (Hrsg.): Historia social de Alvarado y su región. Documentos inéditos, Xalapa 1998, S. 39.
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Ausschlaggebend war vermutlich jedoch nicht nur ihr Verhalten im Unabhängigkeitskrieg gewesen. Ihre Anerkennung als treue Soldaten der spanischen Monarchie ist auch vor dem Hintergrund der langen Tradition afroamerikanischer Milizen in der Region zu verstehen. Als solche hatten sie schon lange eine privilegiertere Position als beispielsweise die meisten Afroamerikaner der Region um Cuautla gehabt. Die Bewohner Tamiahuas hatten das Bewusstsein, im Dienst der Krone zu stehen, und glaubten, darum Anspruch auf gewisse Privilegien zu haben. Dieses Selbstverständnis bezog sich auf ihre Gemeinde als Korporation in der spanischen Monarchie. Zwar ist nicht belegt, dass diese als república anerkannt war, aber die militärische Bedeutung der Bewohner gab der Gemeinde einen korporativen Charakter. Schließlich galt Tamiahua als vecindad de pardos libres militares. Zudem hatten die afroamerikanischen Milizionäre trotz der Reformierung des Milizwesens im späten 18. Jahrhundert ihre Privilegien aufrechterhalten können.154 Ähnlich wie in Tamiahua und Tuxpan stellte sich die Situation der afroamerikanischen Milizionäre in den Städten Campeche und Mérida auf der Halbinsel Yucatán dar. Ein angesehener Kaufmann namens Miguel Duque de Estrada war Ende 1812 in Camepeche aufgrund seiner vermeintlichen afrikanischen Abstammung von den Wahlen zu den Cortes ausgeschlossen worden. Gemäß der Darstellung von Ulrike Bock entbrannte daraufhin im Jahr 1813 eine Auseinandersetzung um den Status der afroamerikanischen Bevölkerung, insbesondere um die Milizionäre. Der Kaufmann José Matías Quintana forderte nicht nur die Staatsbürgerschaft für afroamerikanische Milizionäre aufgrund ihrer militärischen Verdienste, sondern stellte grundsätzlich die Legitimität des Ausschlusses von Afroamerikanern infrage.155 Die Provinzdeputation wie auch der Bischof von Mérida sprachen sich dafür aus, den afroamerikanischen Milizionären die Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer militärischen Verdienste zuzuerkennen. Die Provinzdeputation argumentierte ebenfalls mit den Verdiensten und der Opferbereitschaft der Milizionäre für das Vaterland (patria) und bezog sich ausdrücklich auf den Artikel 22. Auch der Bischof war der Meinung, dass die afroamerikanischen Milizionäre wie Bürger zu behandeln seien.156 Bock sieht in diesen Äußerungen eine deutliche
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Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 191, 195-196. Vgl. Campos García, Castas, 2005, S. 100-101; Bock, Entre españoles, 2013, S. 19. Vgl. ebenda, S. 19; Campos García, Castas, 2005, S. 102-103. Der Bischof bezog sich außerdem auf den Artikel 20 der Verfassung, der den Status von Ausländern regelte. Bock sieht hierin ein weiteres Anzeichen dafür, dass er Afroamerikanern eine besondere Alterität zuschrieb. Es ist jedoch ebenso möglich, dass es sich lediglich um einen Fehler des Bischofs handelte. So argumentierte der Bischof vor allem mit den Verdiensten der afroamerikanischen Milizionäre, was vor allem vor dem Hintergrund des Artikels 22 Sinn ergeben würde. Für Bocks These spricht allerdings, dass laut Artikel 20 auch Ausländer
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Bereitschaft, die afroamerikanische Bevölkerung zu integrieren. Gleichzeitig hebt sie hervor, dass lediglich Quintana den rechtlichen Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft grundsätzlich kritisierte.157 Wie die Gemeinden Tamiahua und Tuxpan in Veracruz, so hatten also auch afroamerikanische Milizen in Yucatán engagierte Fürsprecher. Afroamerikaner in Cuautla hatten im Gegensatz keine eigenen Korporationen gebildet und verfügten nicht über die militärische Bedeutung, die Afroamerikaner in anderen Regionen hatten. Aufgrund des Bürgerkriegs war die Verfassung von Cádiz an der Costa Chica wie auch der Costa Grande in ihrer ersten Phase nicht umgesetzt worden. Als die Verfassung 1820 in der Region in Kraft trat, stellte der Ausschluss der Afroamerikaner ein ernsthaftes Problem dar. Die royalistischen Autoritäten waren daher frühzeitig bemüht, den Afroamerikanern durch die Zuerkennung von Gemeinderäten entgegenzukommen.158 Im Spätsommer 1820 war in Jamiltepec, an der Küste Oaxacas, ein Pamphlet mit dem Namen Afroamerikanische Klage (Clamor Afri americano) aufgetaucht. Der anonyme Autor forderte darin staatsbürgerliche Rechte für die Afroamerikaner. Der Vizekönig wurde in einem Schreiben des Kommandanten der Küste Oaxacas, Carlos Moya, und des Generalkommandanten der Provinz Oaxaca, Manuel de Obeso, darüber in Kenntnis gesetzt.159 Er reagierte innerhalb von wenigen Tagen. An die beiden Kommandanten Oaxacas schrieb er, die afroamerikanischen Soldaten der royalistischen Truppen seien durch ihren Militärdienst bereits auf dem Weg zur Erlangung der Staatsbürgerschaft. Indirekt gab er ihnen so die Anweisung, ihren Truppen die Staatsbürgerschaft zu versprechen. Als konkrete Maßnahme ordnete er an, die Afroamerikaner der Küste in Absprache mit den subdelegados ihre eigenen konstitutionellen Gemeinderäte wählen zu lassen.160 Apodaca berief sich bei seiner Anweisung explizit auf die bereits behandelte Ausnahmeregelung für Gemeinden der afroamerikanischen Bevölkerung. Der Historiker Jaime del Arenal Fenochio nimmt an, Apodaca habe mit seiner Anordnung gegen die Verfassung
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durch den Dienst an der Nation zu Staatsbürgern werden. Siehe „Memorial del obispo de Mérida de Yucatán“, in Archivo General de Indias, Estado, 41, n. 45. Vgl. Bock, Entre españoles, 2013, S. 19. [Oficio y carta sobre petición de negros para un mejor trato social] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7; „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Vgl. Arenal Fenochio, Un modo, 2002, S. 82-89. Arenal Fenochio erwähnt einen Brief der beiden Kommandanten an Apodaca vom 23. September. Vgl. ebenda, S. 85-86. Der Vizekönig teilte Moya und Obeso am 29. September seine Entscheidung mit.
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verstoßen,161 jedoch handelte es sich mehr um eine großzügige Auslegung der erwähnten Ausnahmeregelung. Die Entscheidung Apodacas wurde umgehend auf die gesamte Küstenregion von Acapulco in der Provinz México bis Tehuantepec in Oaxaca angewendet. José Gabriel de Armijo, der Kommandant Acapulcos, berichtete Apodaca bereits am 4. Oktober, dass er die Errichtung der Gemeinderäte betreibe. Zudem hatte er eine Verlautbarung für die Bevölkerung der Küste verfasst, in der er im Gegensatz zur Verfassung die Abstammung offenbar als irrelevant für die politischen Rechte erklärte: „Diese göttliche Charta [die Verfassung], egal welchen Ursprungs Ihr seid, schließt Euch mit in die großartige Menge der Bürger ein.“162 Die Sorge um die Reaktionen der Afroamerikaner auf ihre Exklusion aus der Staatsbürgerschaft hatte sich auch in Coyuca nahe Acapulco verbreitet.163 Francisco Rendón, der Intendant Oaxacas, wurde von Apodaca ebenfalls zur Bildung von Gemeinderäten der afroamerikanischen Bevölkerung angewiesen. Er hatte scheinbar schon zuvor durch die Kommandanten seiner Provinz von dem Pamphlet und der Entscheidung Apodacas erfahren. So forderte er am 9. Oktober die subdelegados seiner Provinz auf, die Bildung von Gemeinderäten für Afroamerikaner zu betreiben: Ich lege Ihnen besonders nahe, den Artikel 12 des genannten Erlasses zu beachten, und dass sie ihn in den entsprechenden Gemeinden gemäß seinem wörtlichen Tenor umsetzen, damit die Unterordnung der Negros und Mulatos unter die Indios verhindert werde, um Folgen zu vermeiden, die Konflikte vorbereiten oder hervorrufen könnten, die gegen die öffentliche Ruhe wären.164 161 162 163 164
Vgl. ebenda, S. 86. Zitiert nach ebenda, S. 88: „Esta divina Carta [la Constitución, D.G.], cualquiera que sea vuestro origen os incluye en el grandioso número de ciudadanos.“ Vgl. ebenda, S. 88-89. Die Anweisung des Intendanten ist nur als Zitat im Brief von José Joaquín Pérez aus Huazolotitlán an Eyzaguirre, den subdelegado von Jamiltepec, vom 23. Oktober überliefert. Aus Pérez Brief geht hervor, dass das Schreiben des Intendanten an den subdelegado vom 9. Oktober ist. („El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183.) Zitat: „Recomiendo a U[sted] muy particularmente para que lo tenga precente el art[ículo] 12 del propio Bando y lo ponga en execucion segun su literal tenor en los Pueblos [que] corresponda, de modo que se om[ita] la sujecion de los Negros, y Mulatos a los de Indios para evitar de este modo, consecuencias que puedan preparar o producir desavenencias contra la quietud y tranquilidad Publica.“ Der Intendant scheint erst am 10. Oktober durch den Vizekönig angewiesen worden zu sein, Gemeinderäte für die afroamerikanische Bevölkerung errichten zu lassen. Es ist aber äußerst plausibel anzunehmen, dass der Intendant zuvor bereits durch den Kommandanten Obeso über die Anweisung Apodacas in Kenntnis gesetzt worden war und daher schon vor der expliziten Anweisung seitens Apodaca reagierte. [Oficio y carta
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Anders als in der Literatur bisher angenommen, geht Rendóns Anweisung in erster Linie auf das Pamphlet Clamor Afri americano und die darauffolgende vizekönigliche Entscheidung zurück.165 Rendón ging es primär darum, Konflikten zwischen Afroamerikanern und Indigenen innerhalb eines Distrikts vorzubeugen. Er griff hier die Sorgen Obesos auf, denn der hatte eine Woche nach dem ersten Schreiben einen weiteren Brief an Apodaca gesendet, in dem er schwerwiegende Bedenken bezüglich der Unterordnung der Afroamerikaner unter die Indigenen geäußert hatte.166 Der von Obeso beobachtete Antagonismus zwischen Indigenen und Afroamerikanern wurde auch in Ometepec, einer weiteren Gemeinde der Costa Chica wahrgenommen. Hier war bereits im Sommer 1820 der neue konstitutionelle Gemeinderat gewählt worden. Der Kaufmann Vicente Montero Ramos beklagte sich danach über einen angeblichen Komplott, den der subdelegado gemeinsam mit den Indigenen betrieben habe. Er berichtete außerdem: „in dieser Cabecera gibt es sehr viele Mulatos, die sich auf keinerlei Weise mit den Naturales zusammentun, und deshalb haben sie keinen Zugang zu den Ämtern“.167 Die Antipathie zwischen Indigenen und Afroamerikanern war laut Montero Ramos der Grund für deren Exklusion aus dem Stadtrat. Möglicherweise wusste er nicht von dem formalen Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft. Die Wahl hatte am 13. August stattgefunden, noch bevor die Autoritäten an der Küste das Pamphlet Clamor Afri americano gefunden hatten und den Afroamerikanern eigene Räte zugestanden wurden. Montero Ramos stimmte außerdem mit der oben beschriebenen Einschätzungen überein, nach der Afroamerikaner nicht einem indigenen Rat untergeordnet werden konnten. Er beschrieb, was passieren würde, wenn ein mulato ein Verbrechen begehen würde, für das der alcalde zuständig wäre: Wenn so etwas passieren würde und der Alcalde eine Person der genannten Calidad herbeirufen würde, dann würde sich diese ohne Zweifel über dessen Autorität lustig
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sobre petición de negros para un mejor trato social] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Carlos Sánchez Silva scheint irrtümlicherweise davon auszugehen, dass Rendón sich erst um die Frage nach dem Umgang mit der afroamerikanischen Bevölkerung kümmerte, nachdem bereits Konflikte um die Bildung der Räte aufgetaucht waren: Sánchez Silva, No todo, 2008, S. 22-23; Sánchez Silva, Viejas, 2011, S. 321-322. Das Schreiben Obesos war vom 30. September. [Oficio y carta sobre petición de negros para un mejor trato social] (1820)AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. [Ometepec. Averiguación sobre la conducta del subdelegado de Ometepec, acusado de no permitir a los electores votar en las elecciones de elector y alcalde de partido] (1820), AHJP, caja 332, exp. 10021; auch einsehbar in INAH, Colección Microfilm, Serie Archivo Histórico Judicial de Puebla (AHJP), Rollo 50. Zitat: „[...] en aquella Cavezera abunda la calidad de mulatos, que no hacen liga ninguna con los Naturales y [..] por esto, estan aquellos inhividos de empleo“.
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machen und vielleicht sogar seine Person entwürdigen, angesichts der Tatsache, dass dies mit den spanischstämmigen Amtsträgern schon gemacht wurde […].168
An Oaxacas Küste gab es neben Ometepec weitere Gemeinden, die zu großen Teilen sowohl aus Afroamerikanern als auch aus Indigenen bestanden. Für diese Gemeinden gab die behandelte Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden, die im Artikel 12 des Dekrets vom 23. Mai 1812 formuliert war, keine eindeutige Anweisung. Daher wendete sich José Joaquín Pérez, der in Huazolotitlán mit der Durchführung der Wahlen beauftragt war, am 23. Oktober 1820 an den subdelegado von Jamiltepec, Juan Ignacio de Eyzaguirre.169 Über den Artikel 12 schrieb er: „er klingt so, als würde er sich auf Gemeinden beziehen, die sich ausschließlich aus Afrikanischstämmigen zusammensetzen“. Für seine Gemeinde sah Pérez vor allem die Empfehlung des Intendanten als relevant an, dass die Afroamerikaner in der Bildung der Gemeinderäte nicht Indigenen unterstellt werden sollten: „das bringt mich zu der Überzeugung, dass der Herr Intendant Gemeinden wie diese meinen könnte“.170 Pérez fürchtete auch, dass es bei einer Unterordnung der Afroamerikaner unter einen von Indigenen besetzten Rat zu Konflikten kommen würde, denn auf keinen Fall könnten die Indigenen die Afroamerikaner regieren und letztere würden sich den Indigenen nicht unterordnen. Er argumentierte daher für die Errichtung von zwei getrennten konstitutionellen Gemeinderäten. Dass die Gemeinde Huazolotitlán gemäß der Verfassung einen Rat bekommen musste, lag für Pérez auf der Hand, da sie die entsprechende Größe hatte und außerdem eine bedeutsame Gemeinde war: Die Gemeinde [vecindad] und alles Übrige erfordern es von Natur aus, denn es sind fleißige Leute, wie allgemein bekannt ist, und in der Lage, weit voranzuschreiten, wenn sie die Regierung erhalten, die ihnen fehlte.
So schlug er die Errichtung zweier getrennter Organe vor: „Der Gemeinderat der Indios, gemeinsam mit dem, der [den Mulatos und Negros] gehört, wird mit
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Ebenda, hier: fs. 5v-6. Zitat: „no es de dudarse que ocurriendo algo de esto, y llamando el Alcalde á algun individuo de la calidad asentada [de los mulatos, D.G.] se vurle de su autoridad, y tal vez estupre su persona, puesto que no ha faltado ocasión en que con los empleados de razon, se haga [...].“ Laut Aussage des Intendanten setzte sich Huazolotitlán aus „1689 [?, zweite Ziffer unleserlich, D.G.] ciudadanos, y 1489 africanos“ zusammen. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Ebenda. Zitate: „suena como q[ue] se dirije a pueblos de puros desendientes de Africa“; „me hace concebir q[ue] el sitado Sor. Intendente puede referirse a pueblos como éste […]“.
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Energie und Eifer die Aufgaben erfüllen, die ihm durch die Verfassung zufallen.“171 Weiterhin hatte er gehört, dass es zu starken Protesten gekommen war, als im späten 18. Jahrhundert die Milizen reformiert und Afroamerikaner von den höheren Posten entfernt worden waren. Die afroamerikanischen Offiziere habe man damals sogar ins Gefängnis nach Oaxaca-Stadt schicken müssen, wo sie gestorben seien. Pérez gab damit zu verstehen, dass man schwere Unruhen zu befürchten habe, würde man den Afroamerikanern nicht die Möglichkeit geben, über die Partizipation in einem Gemeinderat an der lokalen Verwaltung teilzuhaben. Als weiteres Argument führte Pérez an, dass die Cortes treuen und verdienstvollen castas die Staatsbürgerschaft zuerkannten. Er schloss den Brief mit einem eindeutigen Plädoyer für die Errichtung eines Gemeinderats der Afroamerikaner. Seine Argumente hätten ihn zu der Überzeugung gebracht, „dass hier der Gemeinderat, den der genannte Artikel vorsieht, errichtet werden kann und sogar muss“.172 Der Vorschlag der getrennten Gemeinderäte für gemischte Gemeinden kam somit von der lokalen Ebene und basierte auf der Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden. Es ist allerdings nicht wahrscheinlich, dass Pérez selbst als Afroamerikaner galt, denn er war offenbar vom subdelegado mit der Durchführung der Wahlen betraut worden. Aus Perspektive des subdelegado wäre es angesichts des unklaren Status der afroamerikanischen Bevölkerung sicher nicht klug gewesen, einem Afroamerikaner diese Aufgabe zuzuteilen. Pérez’ Einschätzung der Situation in Huazolotitlán galt auch für weitere Gemeinden der Region, denn Eyzaguirre sah Probleme wie in Huazolotitlán auch in Pinotepa del Rey und Tututepec auf sich zukommen. Auch hier gab es laut Eyzaguirre so viele Afroamerikaner, dass sie allein genügten, um einen Gemeinderat neben dem der Indigenen zu bilden. Der Vorschlag Pérez’ zur Errichtung von zwei Räten hatte koloniale Arrangements zum Vorbild, denn am Isthmus von Tehuantepec existierte bereits in der späten Kolonialzeit in der ‚gemischten‘ Gemeinde Juchitán eine eigene república der afroamerikanischen Bevölkerung. So bat der subdelegado von Tehuantepec, Domingo Rico y Bermúdez, Ende Oktober um eine Anweisung für die Gemeinderatswahlen und schilderte die bisherige Praxis der zwei repúblicas:
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Ebenda. Zitat: „la vecindad de este, y todo lo demas, lo exije por naturaleza porq[ue] es gente laboriosa, como es publico, y notorio, y capas de adelantar mucho si tiene el gobierno q[ue] le ha faltado.“ „El mismo Ayuntamiento de Indios, asociado con el que corresponda a estos [los mulatos y negros], podra cumplir, con energia y acierto las atribuciones que le combienen por la constitución.“ Ebenda. Zitat: „q[ue] puede, y aun deve instalarse aqui el Ayuntamiento q[ue] determina el artículo referido“.
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Ob in der Gemeinde Juchitán, wo es zwei Gemeindeteile gibt, einen der Indios, einen der Mulatos, jener [der Indios] mit 1748 Seelen und dieser mit 1434, die von Repúblicas der entsprechenden Gruppe regiert werden, nur ein Gemeinderat der Indios gebildet werden soll, so dass die Mulatos diesem untergeordnet werden, oder zwei, einer für jede Gruppe?173
Auch für die ‚gemischte‘ Gemeinde Ixtaltepec fragte Rico y Bermúdez nach der richtigen Vorgehensweise. Lediglich für Juchitán lässt sich anhand der Anfragen aus Jamiltepec und Tehuantepec zweifelsfrei belegen, dass hier in der späten Kolonialzeit zwei repúblicas existierten. Der Intendant stellte das in seinem Schreiben an den Vizekönig jedoch als gängige Praxis dar und setzte sich dafür ein, in derartigen ‚gemischten‘ Gemeinden diese Praxis fortzusetzen.174 Gut drei Wochen später, am 30. Dezember, bat der Intendant erneut um eine Anweisung in dieser Sache. Nun betrachtete er die Etablierung von zwei Gemeinderäten als problematisch, denn „der ausschließlich aus Bürgern bestehende [Rat] würde immer Vorrang beanspruchen; und der der Afrikaner würde sich mit der Unterordnung nicht abfinden.“175 Der Intendant ging also nicht davon aus, dass der Konflikt gelöst wäre, sobald Indigene und Afroamerikaner eigene Räte hätten. Dieses lokale Arrangement würde gemäß seiner Befürchtung weiterhin entlang der von der Verfassung vorgeschriebenen Unterscheidung zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern interpretiert werden – selbst dann, wenn beide Gruppen über einen Rat verfügen würden. Die Provinzdeputation
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Ebenda. Zitat: „Si en el Pueblo de Juchitan, que hay dos parcialidades, una de Indios, y otra de Mulatos, compuesta aquella de 1748 almas, y esta de 1434, regidas por Republicas de sus respectivas clases, deben formarse un solo Ayuntam[ien]to de Indios, quedandole sujetos los Mulatos, o se establecen dos, uno de cada clase?“ Der Intendant schrieb am 4. November an den Vizekönig über derartige ‚gemischte‘ Gemeinden: „En estos [pueblos, D.G.], las antiguas politicas instituciones sabiamente establecieron en ellos dos Republicas, la una de Indios, y la otra de Pardos, y asi es que, aunque unidos en vecindad se gobernaban economicamente por los Alcaldes y Regidores de su particular naturaleza [...].“ Es ist allerdings wahrscheinlich, dass der Intendant hier den Bericht aus Tehuantepec verallgemeinert hatte, de facto jedoch in den meisten ‚gemischten‘ Gemeinden nur eine república de indios existierte. Denn als Pérez beispielsweise für Huazolotitlán die Etablierung zweier Gemeinderäte forderte, verwies er nicht auf eine bisherige Praxis doppelter repúblicas, obwohl dies ein sehr gutes Argument gewesen wäre. Darüber hinaus sprach weder Eyzaguirre von einer bisherigen Praxis der doppelten república in den Gemeinden seines Distrikts, noch erwähnte Rico y Bermúdez dies für die Gemeinde Ixtaltepec. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Siehe auch: Sánchez Silva, Viejas, 2011. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Zitat: „el de puros ciudadanos siempre pretendería la preferencia; y aun el de Africanos no se acomodaria con la subordinacion.“
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gab auf die Anfrage des Intendanten die Anweisung, Indigene und Afroamerikaner eigene Räte errichten zu lassen.176 Der Vorschlag, zwei getrennte repúblicas zu errichten, spricht dafür, dass Indigene und Afroamerikaner an der Costa Chica als zwei deutlich voneinander getrennte Gruppen wahrgenommen wurden. Die spanischen Autoritäten wie auch Pérez in Huazolotitlán und Montero Ramos in Ometepec gingen davon aus, dass Afroamerikaner und Indigene auf der lokalen Ebene per se unterschiedliche Interessen hatten. Vor diesem Hintergrund stellte die Etablierung der konstitutionellen Gemeinderäte die spanische Verwaltung vor eine Herausforderung. Die indigenen repúblicas des Antiguo Régimen waren formal nicht befugt gewesen, die afroamerikanische Bevölkerung zu regieren. Nun sollten die neuen Gemeinderäte für die gesamte Bevölkerung zuständig sein, was laut Einschätzung der Zeitgenossen zu Konflikten führen musste. In Orten wie Huazolotitlán und ähnlich in Pinotepa und Tututepec war die Errichtung getrennter Gemeinderäte für Indigene und Afroamerikaner in den Augen der spanischen Verwaltung vorstellbar. Ein neues Problem tauchte jedoch im Fall der Hacienda Cortijos auf. Trotz der vorausgegangenen Anweisung des Intendanten der Provinz Oaxaca fragte der subdelegado von Jamiltepec Ende Oktober in seinem Brief an den Intendanten, ob auf der Hacienda Cortijos ein Gemeinderat gewählt werden solle. Die Hacienda lag auf der Grenze zwischen den Intendanturen Puebla und Oaxaca; 2206 Bewohner der Hacienda lebten allein im Distrikt Jamiltepec und bis auf einige wenige Europäer handelte es sich ausschließlich um Afroamerikaner.177 Eyzaguirre war nicht sicher, ob Cortijos einen Gemeinderat bekommen sollte, denn „Sie werden sehen, dass es keine Gemeinde [pueblo] ist“.178 Cortijos verfügte laut Eyzaguirre über einen Kleriker, der sich aber nicht Priester (cura) nenne, sondern ministro ecónomo. Höchstwahrscheinlich zweifelte Eyzaguirre auch, weil die Siedlungsstruktur der Ortschaft von der Hacienda geprägt war und hier die Selbstverwaltungsinstitutionen einer república fehlten. Aus Perspektive neuspanischer Verwaltungsbeamter war Cortijos also keine Gemeinde im eigentlichen Sinne. Die Größe der Gemeinde sprach gleichzeitig dafür, dass in Cortijos ein Gemeinderat errichtet werden musste, zumal der Intendant ausdrücklich zur Errichtung derartiger Räte für die afroamerikanische Bevölkerung aufgefordert hatte. Daher rechnete Eyzaguirre mit Anfragen aus Cortijos bezüglich der Wahl der Gemeinderäte und meinte: „ich weiß nicht, was ich
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Vgl. Hensel, Cambios políticos, 2008, S. 145; Herrejón Peredo, Carlos: La Diputación Provincial de Nueva España. Actas de sesiones, 1820-1821, México, D.F. 2007, S. 207. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Vgl. auch Hensel, Cambios políticos, 2008. Ebenda. Zitat: „verá V[uestro] S[eñor] que no es Pueblo“.
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machen werde, wenn sie mich irgendetwas fragen“.179 Die Anfrage legt nahe, dass das Konzept pueblo sich mit einer bestimmten Siedlungsstruktur und gewissen Selbstverwaltungs- wie auch kirchlichen Institutionen verband. Haciendas waren jedoch selbst bei beträchtlicher Größe nicht ohne weiteres als pueblos zu verstehen. Der subdelegado von Jamiltepec, Eyzaguirre, hatte noch Ende Dezember 1820 keine Antwort vom Intendanten erhalten,180 und daher übergangsweise in ‚gemischten‘ Gemeinden, zumindest aber in Pinotepa del Rey, Gemeinderäte nach dem Modell der alten repúblicas errichten lassen.181 Diese verzögerte Umsetzung der Verfassungsnormen stieß in Pinotepa del Rey auf vehementen Widerstand. Einige Männer aus Pinotepa reagierten mit einem Protestbrief gegen eine Aufschiebung der verfassungsgemäßen Wahlen. Aus einem Schreiben der „Vecinos principales von Pinotepa del Rey, gemeinsam mit ihrem Pfarrer und im Namen der Gemeinde“ geht hervor, dass in Pinotepa für den 17. Dezember die „Wahl der República gemäß den Regeln der alten Regierung“182 angesetzt worden war. Sie waren damit nicht einverstanden gewesen und hatten in ihrer Gemeinde durchgesetzt, dass die Wahlen ausgesetzt wurden. Deshalb forderten sie in ihrem Schreiben vom gleichen Tag, man erkläre ihnen, „aus welchen Gründen diese Gemeinde aus dem allgemeinen Gesetz unserer neuen monarchischen Verfassung ausgeschlossen ist“183. Die Verfassung sehe für Gemeinden ab 1000 Seelen die Errichtung eines Gemeinderats vor und ihre Gemeinde zähle fast „dreitausend Seelen, die seit der Veröffentlichung der Verfassung sehnlichst wünschen, ihren Gemeinderat errichtet zu sehen“.184 Sie glaubten, genau zu wissen, aus welchem Grund, man ihnen die Errichtung eines konstitutionellen Rats verwehrt hatte: „wir sind davon überzeugt, dass es vielleicht aufgrund dessen ist, was in Huazolotitlán passierte, als dort der
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Ebenda. Zitat: „no sé que haré si me hacen alguna consulta“. Eyzaguirre erinnerte den Intendanten in zwei Schreiben vom 6. November und 19. Dezember erneut an die Problematik der Errichtung der Gemeinderäte in den genannten Gemeinden. Ob auch in Tututepec die Wahl des Gemeinderats ausgesetzt wurde, ist unklar. Zwar berichtete Eyzaguirre, dass Tututepec sich in einer ähnlichen Situation wie Pinotepa und Huazolotitlán befanden, aber aus seinem Schreiben vom 19. Dezember geht lediglich hervor, dass in Pinotepa und Huazolotitlán die Wahlen ausgesetzt wurden. Ebenda. Zitate: „vesinos princip[ale]s de Pino[te]pa del Rey de acuerdo con su Parrocho, y a nombre de el Pueblo“; „Eleccion de Republica en los terminos de el antiguo Gov[ier]no“. Ebenda. Zitat: „por que motibos esta excluido este Pueblo de la Ley gen[era]l de n[ues]tra nueba Constituc[ió]n Monarchicha“. Ebenda. Zitat: „tres mil almas que ansiosam[en]te desean desde su publicac[ió]n beer instalado su Ayuntm[ien]to“.
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Gemeinderat errichtet wurde“.185 Dass die Autoritäten von den Erfahrungen in Huazolotitlán auf Pinotepa schlössen, kritisierten sie vehement. In Huazolotitlán war es also zu einem Konflikt zwischen Indigenen und Afroamerikanern gekommen, der in der Region bereits die Runde gemacht hatte. Die Männer aus Pinotepa argumentierten, es habe in ihrer Gemeinde noch gar keine Gemeinderatswahl stattgefunden, aufgrund derer man sich eine Meinung hätte bilden können, und sie fügten ironisch an „es sei denn, man habe den übernatürlichen Instinkt, die Gefühle jedes Menschen zu kennen ohne ihn zu fragen“. Sie beklagten, bereits seit vier Monaten kein lokales Regierungsorgan mehr zu haben und auf die Errichtung des Gemeinderats gehofft zu haben, aber „nun sehen wir, wie unsere Hoffnungen enttäuscht werden, wenn wir sehen, wie Repúblicas errichtet werden“.186 Der Intendant hatte ihrer Darstellung nach die Anweisung gegeben, in Gemeinden ab 1000 Seelen ayuntamientos bilden zu lassen und nur in kleinen Gemeinden „provisorische Repúblicas“187 zu errichten. Aus dem Brief der Männer von Pinotepa geht nicht eindeutig hervor, ob in Pinotepa nun zwei repúblicas oder lediglich die der Indigenen gewählt werden sollten. Es erscheint zunächst plausibel, dass der subdelegado hier die Errichtung zweier getrennter Räte angeordnet hatte, solange eine eindeutige Anweisung des Intendanten ausstand. Schließlich hatte es in Huazolotitlán bei der Wahl des konstitutionellen Gemeinderats Unruhen gegeben. Die Bevölkerungszusammensetzung Pinotepas war mit 1450 „ciudadanos“ und 1249 „africanos“188 – so die Angaben des Intendanten – ähnlich wie in Huazolotitlán, weswegen vermutlich auch hier Unruhen erwartet wurden. Allerdings wäre die Errichtung zweier repúblicas eine Neuheit gewesen, denn es gibt keine Hinweise darauf, dass in Pinotepa bereits eine doppelte república bestanden hatte. Es ist daher eher wahrscheinlich, dass Eyzaguirre vorläufig lediglich eine indigene república errichten ließ. Der Widerstand der Männer gegen die república-Wahlen spricht dafür, dass diese in der indigenen república keinen Platz hatten. Von welcher Gruppierung ging hier der Widerstand gegen die Aussetzung der konstitutionellen Wahlen aus? Welche Akteure konnten sich in Pinotepa von der Wahl des konstitutionellen Gemeinderates einen Einflussgewinn erwarten? Das Schreiben aus Pinotepa wurde von acht Männern unterschrie-
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Ebenda. Zitat: „estamos persuadidos q[ue] quisa habra sido por lo que ocurrio en Huazolotit[la]n al t[iem]po de hacer su Ayuntam[ien]to“. Ebenda. Zitate: „a no ser q[ue] el q[ue] lo haya hecho tenga el instinto sobrenatural de conocer sin consultar los sentim[ien]tos de cada uno de los hombres“; „bemos ahora hirse frustrando n[ues]tras esperanz[a]s q[uan]do bemos Elegir Republicas“. Ebenda. Zitat: „republicas provisionales“. Ebenda.
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ben, unter ihnen der für die Gemeinde zuständige Ordenkleriker.189 Nach einem Zensus von 1777 lebten in Pinotepa wenige Mestizen und nur sehr wenige Spanier. Die Indigenen bildeten die größte Gruppe, gefolgt von den Afroamerikanern.190 Wahrscheinlich handelte es sich bei den Autoren des Briefs um einflussreiche Personen einer mittleren sozioökonomischen Position. Gemeinsam mit dem Pfarrer unterzeichneten sieben Männer eigenhändig und mit geübter Hand den Brief. Vermutlich waren die Autoren beispielsweise durch wirtschaftliche Aktivitäten Schriftverkehr gewohnt. Dies, wie auch die Tatsache, dass sie den Pfarrer für ihr Anliegen gewinnen konnten und dieser scheinbar damit einverstanden war, dass die übrigen sieben sich als vecinos principales und Repräsentanten der Gemeinde darstellten, deutet darauf hin, dass die Männer einen zumindest mittleren sozialen Status hatten.191 Es ist aber unwahrscheinlich, dass es sich ausschließlich um die Spanier der Gemeinde handelte. Schließlich nahmen die Autoren Bezug auf die Konflikte in Huazolotitlán und beklagten wie erwähnt die implizite Unterstellung, auch in ihrer Gemeinde würde es zu Unruhen kommen. Da sich der Konflikt in Huazolotitlán zwischen Indigenen und Afroamerikanern zugetragen hatte, hätten die Autoren sich als Spanier wahrscheinlich von den Afroamerikanern distanziert. Sie bezogen sich im gesamten Brief weder auf ihre eigene calidad, noch erwähnten sie mit einem Wort die Zusammensetzung der Gemeinde. Auch nannten sie nicht ihre eigenen Berufsbezeichnungen, womit sie ihrem Anliegen mehr Nachdruck hätten verleihen können. Darüber hinaus hätten Spanier zumindest allein nur eine geringe Chance gehabt, den Gemeinderat unter ihre Kontrolle zu bringen. Falls für den Dezember 1820 lediglich die Wahl einer neuen república de indios angeordnet worden war, gab es für Afroamerikaner ein Motiv, hiergegen zu protestieren. Denn schließlich hätte die Durchführung konstitutioneller Wahlen eine Öffnung zu ihren Gunsten bewirkt. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass auch Teile der indigenen Bevölkerung die Bildung eines konstitutionellen Gemeinderats der alten república vorzogen. Wenngleich Pérez im Fall von Huazolotitlán erklärte, die indios würden keine mulatos in den Rat wählen, kann 189
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„José M[arí]a Herrera“ unterschrieb als „Ministro vecino“. Einen weiteren Beleg dafür, dass es sich um den für die Gemeinde zuständigen Ordenskleriker handelte, bildet der Brief von José Antonio Reguera an „Fr. José Herrera“ (1815), in AGEO, Real Intendencia, leg. 29 (Subdelegaciones, Jamiltepec / Xicayan), exp. 4. Man zählte 1777 in Pinotepa del Rey 75 españoles, 1054 indios, 122 mestizos und 810 mulatos, Erwachsene und Kinder eingeschlossen. „Numero de personas de que se compone esta Jurisd[icci]on de Xicayan […]“ (1777), AGN, Historia, vol. 72, exp. 15. Ihre Namen lassen außerdem auf Verwandtschaftsbeziehungen untereinander schließen: Neben einem Estevez und einem Orosco, ist der Nachname „Baños“ zwei Mal und „Aguirre“ drei Mal vertreten.
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es in Pinotepa verschiedene Interessengruppen innerhalb der indigenen Bevölkerung gegeben haben. Die Frage nach der calidad der Autoren lässt sich nicht abschließend beantworten. Plausibel ist jedoch, dass Afroamerikaner, Spanier und Mestizen Interesse an der Errichtung eines konstitutionellen Gemeinderats und der damit einhergehenden Öffnung des lokalen Verwaltungsorgans hatten, möglicherweise auch einige Indigene. Nichts deutet darauf hin, dass die Autoren lediglich einer calidad angehörten, vielmehr ist es wahrscheinlich, dass mehrere Personen aus unterschiedlichen Motiven ein gemeinsames Ziel verfolgten, nämlich die Macht einer kleinen indigenen Elite zu brechen. Afroamerikaner spielten vermutlich schon aufgrund ihres demographischen Gewichts hierbei eine wichtige Rolle. Der Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft stellte in mehrfacher Hinsicht ein Problem für die lokalen Gemeinden und die spanischen Autoritäten dar. In Cuautla sowie an den Küsten von Veracruz und Oaxaca gab es gute Gründe, den Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft kritisch zu sehen. An der Küste von Veracruz war es strategisch äußerst ungünstig, Afroamerikaner, die einen wichtigen Bestandteil der royalistischen Streitkräfte bildeten, aus der Staatsbürgerschaft auszuschließen. Ähnlich versuchten die Autoritäten auch an der Küste Oaxacas die Loyalität der Afroamerikaner zu sichern, indem sie ihnen die Errichtung eigener Gemeinden zugestanden. Die Milizzugehörigkeit hatte außerdem vermutlich dazu geführt, dass Afroamerikaner sich als Milizionäre im Dienst des Königs besonders gerechtfertigt sahen, staatsbürgerliche Rechte zu beanspruchen und entsprechenden Druck ausübten. In Cuautla zeigte sich, dass Afroamerikaner einen so wichtigen und großen Bestandteil der Bevölkerung bildete, dass ihr Ausschluss aus der Staatsbürgerschaft nicht begrüßt wurde und der subdelegado die erwähnte Tür der Tugend (Artikel 22 der Verfassung von Cádiz) als eine Möglichkeit ansah, um dieses Problem teilweise zu umgehen. An der Küste Oaxacas bestand die Notwendigkeit, Konflikten zwischen indigener und afroamerikanischer Bevölkerung vorzubeugen. Die beiden Gruppen hatten zu diesem Zeitpunkt offenbar ein recht konfliktbehaftetes Verhältnis, das durch die Differenz an politischen Rechten – so befürchteten die spanischen Autoritäten – noch verstärkt werden würde. Aus Perspektive der royalistischen Akteure spielten pragmatische Motive wie die Bedrohung durch die Rebellen, die Belohnung für militärische Dienste und die Vorbeugung von Konflikten zwischen Indigenen und Afroamerikanern eine zentrale Rolle. Nicht zufällig waren es die afroamerikanischen Milizen, die die politische Exklusion der Afroamerikaner infrage stellten. Sie hatten als Vasallen des Königs das Selbstverständnis gewonnen, dass sie für ihre Dienste Privilegien erhielten und wollten daher auch nicht auf die spanische Staatsbürgerschaft verzichten. Aus demselben Grund hatten afroamerikanische Milizen auch
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bisweilen engagierte Fürsprecher, denen es keineswegs plausibel erschien, dass die Mitglieder dieser Korporationen politisch ausgeschlossen werden sollten.
b) Der lokale Umgang mit der Exklusion
Ähnlich wie die calidad im Antiguo Régimen über die Zugehörigkeit zu lokalen Räten bestimmen konnte, wurde die Abstammung in der Verfassung von Cádiz als Exklusionskriterium aufrechterhalten. Wie sah der Umgang mit diesem Ausschlusskriterium auf lokaler Ebene aus? Welche Rolle spielte hier das überkommene Konzept der calidad? Die Abstammung einer Person war, wie bereits die spätkolonialen Konflikte um die calidad nahelegen, kaum eindeutig zu bestimmen. Schon aus diesem Grunde war es äußerst schwierig, den Ausschluss der Afroamerikaner in die Praxis umzusetzen. Zudem machte die Verfassung die Reputation einer Person zum ausschlaggebenden Kriterium und sah nicht mehr die Konsultierung von Pfarrregistern vor, womit sie die Definitionsmacht der lokalen Akteure stärkte. In Acapulco gelangten Ende 1820 zwei Personen in den Gemeinderat, die der spanischstämmigen Elite der Stadt nahestanden, aber als Afroamerikaner galten. Ein Konflikt um ihre Wahl ist nicht dokumentiert. Der scheidende konstitutionelle Rat hatte sich aus Mitgliedern der spanischstämmigen Elite zusammengesetzt, vor allem aus Kaufleuten.192 Aufgrund der Größe der Ge192
Die Zusammensetzung des bisherigen konstitutionellen Gemeinderats geht aus der Mitteilung des Wahlergebnisses vom Juli 1820 hervor. Es waren Juan Molina, Blas Pablo de Vidal, Manuel de Oronoz, José María de Ajeo, Juan Antonio de Rivas und Francisco García. [Der ayuntamiento Acapulcos an den Intendanten der Provinz México am 14. Juli] (1820) AGN, Indiferente Virreinal, caja 4057, exp. 005, Ayuntamientos. Die sechs Mitglieder des scheidenden Rats lassen sich mit Ausnahme von zweien als Spanier identifizieren. Mindestens eines war Europa-Spanier, mindestens drei der Ratsmitglieder waren Kaufleute, eines dieser drei außerdem Arzt. Drei Mitglieder (Juan Molina, Blas Pablo de Vidal, Manuel de Oronoz) wurden 1809 vom Gouverneur Acapulcos despektierlich als „tenderos que se nombran comerciantes“ genannt. Molina war außerdem „cirujano de éste Hospital Real“. (AGN, Historia, vol. 432, exp. 5, f. 6) Diese drei hatten sich gemeinsam mit weiteren Spaniern über das Verhalten des Gouverneurs im Jahr 1808 beschwert, welcher lediglich die Treue der Afroamerikaner gegenüber Ferdinand VII. gelobt hatte, sich jedoch gegenüber der übrigen Bevölkerung abwertend geäußert hatte. (Ebenda, exp. 5, f. 3). Vidal war Europa-Spanier. (Ebenda, exp. 4, fs. 3737v, 53, 54). Außerdem gehörte Juan Antonio de Rivas 1820 dem konstitutionellen Rat an. Eine Person dieses Namens ist für 1792 als subdelegado von Tixtla belegt, welches nur gut 100 km von Acapulco entfernt liegt, was zeigt, dass auch er Spanier war. Vgl. García Acosta, Virginia/Pérez Zevallos, Juan Manuel/Molina del Villar, América: Desastres agrícolas en México. Catálogo histórico, México, D.F. 2003, S. 394; Amith, Jonathan David: The Möbius Strip. A Spatial History of a Colonial Society, Stanford 2001, S. 282. José María
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meinde war die Anzahl der Ratsherren im neuen Rat von vier auf sechs aufgestockt worden.193 Obwohl die Verfassung die unmittelbare Wiederwahl verbot, findet sich der ehemalige Ratsherr Ajeo im neuen Stadtrat wieder, und zwar als alcalde. Von den vier neuen Ratsherren lässt sich José Bracho als AmerikaSpanier identifizieren.194 Der Ratsherr José Bonifacio Piza galt höchstwahrscheinlich als mulato,195 ebenso der procurador síndico. Letzterer hieß Francisco Eustaquio Tavares und war der Vater eines 1809 wegen Verschwörungsplänen gesuchten Afroamerikaners namens Mariano Tavares.196 Im scheidenden Stadtrat saß u.a. der Europa-Spanier Blas Pablo de Vidal. Dieser hatte 1809 als Zeuge den Afroamerikaner Mariano Tavares und den Gouverneur (gobernador castellano) Acapulcos schwer beschuldigt, eine antispanische Verschwörung geplant zu haben.197 Im neuen Rat saßen mit Bracho und Piza nun zwei Personen, die mit Mariano Tavares wahrscheinlich sympathisiert hatten.198 Francisco Tavares – der Vater des Verschwörers – hatte bereits vor seinem Sohn das Amt des Postverwalters (administrador de correos) in Acapulco innegehabt und außerdem als Händler gearbeitet.199 Piza und Tavares gehörten somit einem mindestens mittleren sozioökonomischen Rang an und waren vermutlich eng mit den Eliten verbunden. Die beiden anderen Ratsherren lassen
193 194 195 196
197 198
199
de Ajeo war möglicherweise erst 1816 nach Acapulco gekommen und taucht daher im Konflikt von 1808 nicht auf. Zumindest war er 1816 Passagier eines aus Guayaquil kommenden Schiffes gewesen, das in Acapulco anlegte. Gaceta del Gobierno de México, 1. Februar 1816, vol. VII, Nr. 856. Über Francisco García ist nichts bekannt. „Acapulco renovó su Ayuntam[ien]to“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n, fs. s/n. José Mariano Bracho war 1809 als Zeuge über Mariano Tavares‘ Äußerungen befragt worden. AGN, Historia, vol. 432, exp. [4], f. 70v-71. Im Jahr 1809 wurde ein mulato namens José Piza, „sargento 1.o“, als Zeuge im Fall Mariano Tavares‘ geladen. Ebenda, fs. 66-66v. AGN, Historia, vol. 432, exp. [4], f. 28-28v. Francisco Eustaquio Tavares ist laut Hernández Jaimes im Zensus von Acapulco von 1791 als mulato belegt: Hernández Jaimes, Jesús: Cuando los mulatos quisieron mandar. Insurgencia y guerra de castas en el puerto Acapulco, 1809-1811, in: Tomás Bustamante Álvarez/José Garza Grimaldo (Hrsg.), Los sentimientos de la nación. Entre la espada espiritual y militar, la formación del estado de Guerrero, Chilpancingo 2001, S. 141–173, S. 151. AGN, Historia, vol. 432, exp. [4], f. 53-54. Der mulato José Piza war damals beschuldigt worden, einen Europaspanier schwer bedroht zu haben. AGN, Historia, vol. 432, exp. [4], f. 52, 59v, 62, 66-66v. Auch der Amerika-Spanier José Bracho war beschuldigt worden, an verdächtigen Unterredungen mit Mariano Tavares und dessen Bruder Lorenzo Tavares beteiligt gewesen zu sein. Er bestätigte, Tavares mehrfach gesehen und mit ihm gesprochen zu haben, aber bestritt, dass diese Gespräche im Geheimen oder im Kontext der Verschwörung stattgefunden hätten. Ebenda, fs. 70v-71. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 151.
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sich nicht einordnen.200 Dass die beiden Afroamerikaner im Rat jedoch als Vertreter der afrikanischstämmigen Bevölkerung Acapulcos gesehen wurden oder sich selbst als solche verstanden, kann angesichts ihrer Nähe zu den spanischen Eliten als fragwürdig gelten. Der Schriftverkehr im Kontext der Wahl lässt zudem Rückschlüsse auf die Partizipation von Afroamerikanern in Acapulco zu. Die Wiederwahl Ajeos rechtfertigte der scheidende Rat mit der großen Anzahl an Afroamerikanern in der Gemeinde: „In dieser kleinen Ortschaft, die fast nur aus farbigen Leuten besteht, gibt es einen großen Mangel an Individuen, die alle notwendigen Voraussetzungen für ein so arbeitsintensives Amt vereinen.“201 Offenbar war vor allem die Armut der Afroamerikaner ausschlaggebend für den Mangel an Kandidaten. Denn der Rat begründete die Knappheit der Kandidaten damit, dass die Bekleidung eines Amtes sehr arbeitsintensiv sei. Man gab zu verstehen, dass diese Personen nicht über die ökonomischen Ressourcen verfügten, um ein Amt zu bekleiden. Ein Amt anzunehmen bedeutete, die Erwerbsarbeit zumindest zeitweise ruhen zu lassen. Auch wenn dies wie ein vorgeschobenes Argument klingt, mag es in der Tat schwierig gewesen zu sein, Kandidaten für die Ämter des Rats zu finden. Für die Region um Cuautla und Cuernavaca ist beispielsweise belegt, dass Kandidaten die zeitraubenden Ämter der Gemeinderäte, insbesondere das des alcalde, bisweilen nicht ausfüllen wollten, weil sie damit an der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit gehindert wurden.202 Der formale Ausschluss der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft wurde in Acapulco dagegen nicht als Grund für den Mangel an geeigneten Kandidaten erwähnt. Letzteres überrascht nicht, möglicherweise weil zwei Mitglieder des neuen Rats als Afroamerikaner galten. Ohne den afroamerikanischen Teil der Bevölkerung ließ sich die Errichtung des konstitutionellen Rats in Acapulco nur schwer rechtfertigen. Der im Vorfeld der Wahl erstellte Zensus zählte 1820 mehr als 500 vecinos, womit der scheidende Rat die Vergrößerung des Gremiums begründete. Geht man hiermit 200
201
202
Ihre Namen waren Manuel Concha und Joaquin Doria. Concha ist für 1830 als einer der „vecinos principales“ Acapulcos belegt. Proceso instructivo formado por la seccion del Gran Jurado de la Camara de Diputados del Congreso General en averiguacion de los delitos de que fueron acusados los ex-ministros D. Lucas alaman, D. Rafael Mangino, D. Jose Antonio Facio y D. Jose Ignacio Espinosa, México 1833, S. 105. Über Joaquín Doria liegen keine weiteren Informationen vor. Lediglich ein Antonino Doria – möglicherweise ein Verwandter Joaquíns – ist für 1809 als Amerika-Spanier belegt: AGN, Historia, vol. 432, exp. 3, fs. 73-73v. „Acapulco renovó su Ayuntam[ien]to“ (1820), en AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n, fs. s/n. Zitat: „en esta pequeña Poblacion, compuesta casi toda de gente de Color, hay suma escasez de individuos q[u]e reunan todas las necesarias circunctancias p[ar]a desempeño de tan lavorioso empleo.“ Vgl. Reynoso Jaime, Sistema electoral, 2009, S. 203-205.
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davon aus, dass im Ganzen ungefähr 500 Familien berücksichtigt wurden, so müssen ein beträchtlicher Teil der gezählten vecinos – wahrscheinlich mehr als die Hälfte – Afroamerikaner gewesen sein. Denn 1777 wurden in der Pfarrei Acapulco nur 24 Spanier-, 21 Mestizen- und 43 asiatische Familien gezählt, jedoch 154 indigene und 363 afroamerikanische.203 In welchem Maße Afroamerikaner an den Wahlen teilnahmen lässt sich kaum abschätzen. Es ist plausibel anzunehmen, dass sie zumindest zum aktiven Wahlrecht zugelassen wurden, worauf die unten diskutierten Fälle aus Yautepec und Guanajuato hindeuten. Solange die Eliten die Wahl zu ihren Gunsten beeinflussen konnten, war ihnen durchaus daran gelegen, dem Rat durch Wahlen Legitimität zu verleihen. In einigen anderen Fällen wurde die Zuschreibung afrikanischer Abstammung genutzt, um die Gültigkeit von Wahlen oder die Kandidatur einzelner Personen infrage zu stellen. In Yautepec, einer nahe Cuautla gelegenen Gemeinde, die zu Cuernavaca gehörte, stritt man 1814 um die Partizipation von vermeintlich afrikanischstämmigen Personen. Bei den Wahlen zum Stadtrat wurde die Wahl des alcalde ausgesetzt, weil drei Wahlmännern der Vorwurf gemacht worden war, afrikanischer Abstammung zu sein. Die junta electoral, d.h. die Versammlung der Wahlmänner, berichtete: In ihr [der Wahlversammlung] ging es in erster Linie um die Ausschlussgründe, die dreien der Wahlmänner vorgehalten wurden, dass sie ursprünglich und abstammend 203
Die Pfarrei Acapulco umfasste laut dem Zensus der Erzdiözese México von 1777 im Ganzen 2617 Personen, inkl. Kindern: 31 españoles (1 %), 102 mestizos (4 %), 611 indios (23%), 121 chinos (5 %), 129 negros (5%), 1292 mulatos (49 %), 331 lobos (13 %). Hiermit wurden 67 % der Bevölkerung als mulatos, lobos oder negros kategorisiert. Im Ganzen wurden 607 Familien gezählt: 24 español-, 21 mestizo-, 154 indio-, 43 chino-, 47 negro-, 280 mulato-, 36 lobo-Familien. Vgl. Sánchez Santiró, Ernest: Padrón del Arzobispado de México, 1777, México, D.F. 2003, S. 123. Laut Pavía Guzman und Pavía Miller zählte der Zensus von 1791 in Acapulco im Ganzen 5452 Personen und 1209 Familien afrikanischer Abstammung. Vgl. Pavía Guzmán, Edgar/Pavía Miller, María Teresa: Pardos en Acapulco: siglo XVIII, in: María Elisa Velásquez Gutiérrez/Ethel Correa (Hrsg.), Africanos y afrodescendientes en Acapulco y la Costa Chica de Guerrero y Oaxaca, México, D.F. 2007, S. 40–45, hier: S. 41. Hernández Jaimes zählte im Zensus von 1791 im Ganzen 5416 pardos und 116 Spanier, mestizos y castizos. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001 S. 154. 1791 wurde allerdings ein größeres Gebiet zugrunde gelegt als im Zensus von 1777. Welcher Zuständigkeitsbereich der des konstitutionellen Gemeinderats von Acapulco war, lässt sich nicht genau klären. Es ist wahrscheinlich, dass Orte, die 1791 zu Acapulco gezählt wurden, im Wahlzensus von 1820 nicht berücksichtigt wurden. Denn beispielsweise erreichten die Gemeinde Coyuca (die auch eine eigene Pfarrei bildete) und die Hacienda San Marcos gemäß dem Zensus von 1791 mit allein 260 bzw. 279 pardo-Familien höchstwahrscheinlich die Mindestanforderung der Verfassung für die Bildung eines Gemeinderats. Aufgrund der afrikanischen Abstammung vieler der Bewohner ist es gleichwohl möglich, dass ihnen die Erlaubnis zur Errichtung des Rats abgesprochen wurde. Die Zahlen stammen aus: Pavía Guzmán/Pavía Miller, Pardos, 2007, S. 41.
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aus Afrika seien. Man untersuchte den Punkt mit jener Unparteilichkeit und Reife, die der Ernsthaftigkeit der Angelegenheit entspricht, und obwohl der Wahrheit der Behauptung nicht auf den Grund gegangen wurde, berücksichtigte man aber den Artikel 12 des zitierten Erlasses, in dem vorgesehen ist, dass in jenen Gemeinden, in denen sich aufgrund ihrer besonderen Umstände keine anderen Leute als die Afrikanischstämmigen befinden, diese für die lokalen Ämter wählen und gewählt werden dürfen. Da dies die Umstände sind, in denen sich diese Gemeinde befindet, in der es kaum jemanden oder fast niemanden gibt, der nicht afrikanischen Ursprungs ist, ist klar, dass die Ausschlussgründe, die vorgebracht wurden, keinerlei Kraft hatten, jene drei Wahlmänner zurückzuweisen, denen sie vorgehalten wurden.204
Aus der Schilderung der Wahlmänner geht hervor, dass die Kritik an den drei Wahlmännern in der Versammlung erörtert wurde. Taufregister oder andere schriftliche Belege wurden nicht zurate gezogen, sondern die Wahlmänner verständigten sich darauf, den oben genannten Artikel 12 des Erlasses zur Wahl der konstitutionellen Gemeinderäte anzuwenden. Ihrer Meinung nach ging aus dem Artikel klar hervor, dass Afroamerikaner in ihrer Gemeinde über das aktive wie auch das passive Wahlrecht verfügten. Die Anwendung dieser Ausnahmeregelung legitimierte die junta electoral mit der Behauptung, dass kaum jemand nicht afrikanischen Ursprungs sei. Die letzte Behauptung erscheint zunächst übertrieben, denn nach Cheryl English Martins Untersuchung der Pfarrregister von Yautepec wurden nur 3540 % der Bevölkerung mit Kategorien afrikanischer Abstammung bezeichnet.205 Die junta electoral hatte ein Interesse daran, die umstrittenen Wahlmänner zu verteidigen und stellte Yautepec aus diesem Grund als Gemeinde dar, in der fast alle Bewohner afrikanischer Abstammung waren. Trotzdem entbehrte diese Behauptung nicht einer gewissen Grundlage. Brígida von Mentz stellte die These auf, dass in Yautepec viele Menschen afrikanischer Abstammung lebten, die als indios anerkannt waren.206 Sie stützt sich dabei auf Martins quantitative 204
205 206
„La Junta de Electores de la Villa de Yautepec sobre haberse suspendido el nombram[ien]to de Alcalde“ (1814), AGN, Ayuntamientos, vol. 215, exp. s/n, fs. s/n. Zitat: „tratose en ella [en la junta electoral, D.G.] primeramente de las tachas q[u]e ponian á tres de los Electores, de ser originarios y decendientes de la Africa; examinose el punto con aquella imparcialidad y madurés, q[u]e corresponde á la gravedad del asunto, y aunque no se inquinio [inquirió, D.G.] la verdad del acerto, pero sí se tubo presente el Articulo 12 del precitado Bando de Elecciones en q[u]e se previene q[u]e en aquellos Pueblos en que p[o]r sus particulares circunstancias no se halle otra gente q[u]e los decendientes de Africa puedan estos elegir y ser elegidos p[ar]a los Empleos municipales: siendo estas mismas [las] circunstancias en las q[u]e se halla este vecindario en donde es muy raro ó casi ninguno el q[u]e no traiga su origen de la Africa, claro está, q[u]e las tachas, q[u]e se oponian no heran de fuerza alguna p[ar]a repeler á los tres Electores q[u]e con ellas se tildaban.“ Vgl. Martin, Rural Society, 1985, S. 124. Vgl. Mentz, Pueblos, 1988, S. 96.
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Analyse von Pfarrregistern. Martin geht davon aus, dass es aufgrund von Epidemien zu Migrationsbewegungen zwischen Yautepec und den umliegenden Haciendas kam.207 Dies erklärt, aus welchen Gründen die Wahlmänner eine derartige Behauptung aufstellten und vor den Autoritäten der spanischen Verwaltung vertraten. Die Kritik an den drei Wahlmännern machte sich möglicherweise an phänotypischen Merkmalen oder an Informationen über die Eltern der infrage stehenden Personen fest. Dass die afrikanische Abstammung in dieser Region als Instrument der Exklusion verwendet wurde, überrascht kaum. Schließlich hatte man in den indigenen Gemeinden Neuspaniens Erfahrung im Spiel mit der calidad und ihrer Verwendung in Konflikten um politische In- und Exklusion auf lokaler Ebene. In Yautepec erschien es vermutlich vielen plausibel, dass Menschen der Gemeinde afrikanische Abstammungslinien hatten. Die mit dem Fall betrauten Berater des Vizekönigs folgten zwar nicht der Argumentation der Wahlmänner, gaben ihnen jedoch teilweise Recht. So sollten Afroamerikaner das passive Wahlrecht zwar nur bekommen, wenn sie durch die Cortes als Staatsbürger anerkannt waren. Anders als die junta electoral waren sie der Meinung, dass der Artikel 12 des Dekrets den Afroamerikanern lediglich das aktive Wahlrecht zugestand. Das aktive Wahlrecht genüge jedoch bereits, so die Berater, um als Wahlmann zu fungieren. Sie machten außerdem deutlich, dass derartige Fragen entschieden werden sollten „ohne die ungeliebte Untersuchung und die Begründungen des Ursprungs der Bewohner durchzuführen, es genügt die Wahrnehmung, die ihnen in der öffentlichen Meinung zukommt“.208 Die Berater des Vizekönigs gaben den Wahlmännern also erstens Recht, da sie ihre Funktion als Teil des aktiven Wahlrechts sahen. Zweitens maßen sie der Frage nach der Abstammung offenbar nur geringe Bedeutung bei und hoben stattdessen gemäß dem Artikel 22 die Bedeutung der Reputation hervor. Die Abgeordneten in Cádiz dachten vermutlich eher an Menschen afrikanischer Abstammung eines hohen sozialen Status in Städten, als sie das Kriterium der afrikanischen Abstammung an die Reputation knüpften. In einer ländlichen Gemeinde, der villa Yautepec, trat nun ein von den Abgeordneten bereits erwarteter Konflikt auf. Die Reputation einiger Personen stand im Widerspruch zu der Behauptung, es handele sich um Männer afrikanischer Abstammung. Der Fall ist charakteristisch für die Region, insofern die Kriterien für die Zuweisung der calidades hier noch unschärfer waren als beispielsweise an der Costa Chica. Im Gegensatz zu den behandelten Küstenregionen war die Region um 207 208
Vgl. Martin, Rural Society, 1985, S. 64-70, 155-159. „La Junta de Electores de la Villa de Yautepec sobre haberse suspendido el nombram[ien]to de Alcalde“ (1814), AGN, Ayuntamientos, vol. 215, exp. s/n, fs. s/n. Zitat: „sin entrar en el odioso examen y justificaciones del origen de los vecinos, bastando el concepto en q[u]e estén recibidos por opinion publica“.
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Cuautla in geringerem Maße durch korporative Institutionen geprägt, und somit gab es keine institutionellen Kriterien, anhand derer Afroamerikaner sich eindeutig von Indigenen, Mestizen und Spaniern abgrenzten. Hinzu kommt die sozioökonomische Struktur der Region. Als Arbeiter auf den Haciendas lebten viele indios unter ähnlichen Bedingungen wie der Großteil der Mestizen und der Afroamerikaner.209 Ein weiterer Fall umstrittener afrikanischer Abstammung im Kontext kommunaler Wahlen ist in Arbeiten von Melchor Campos García und Ulrike Bock zu Yucatán diskutiert worden. So wurde, wie oben erwähnt, Miguel Duque de Estrada bei den Wahlen zum ersten konstitutionellen Gemeinderat der Stadt Campeche Ende des Jahres 1812 der Zugang zur Wahlurne verwehrt. Der wohlhabende Kaufmann stammte aus einer angesehenen Familie der Stadt Campeche und hatte bereits Ämter in der spanischen Verwaltung Yucatáns bekleidet. Nun wurde ihm vorgeworfen, er sei afrikanischer Abstammung, weswegen er nicht an den Wahlen teilnehmen könne. Im Wahlakt selbst wurde aufgrund dieses Konflikts eine Abstimmung unter den Anwesenden durchgeführt, die nicht zugunsten Duque de Estradas ausging. Später legte er hiergegen bei mehreren Autoritäten Beschwerde ein.210 Besonders die Einschätzung des Kaufmanns und síndico procurador von Mérida, José Matías Quintana, die er gegenüber dem jefe político der Provinz äußerte, ist aufschlussreich. Er bezog sich auf den Artikel 22 der Verfassung. Für die Abstammung der Personen war laut Quintana „die Wahrnehmung, die ihnen momentan zukommt“ zentral und Duque de Estrada galt als Spanier.211 Miguel Duque de Estrada trat auch 1814 als Kandidat bei den Wahlen zu den spanischen Cortes an. Seine Widersacher aus Campeche argumentierten hier wiederum, dass er „in der öffentlichen Wahrnehmung von Campeche“ afrikanischer Abstammung sei. Trotzdem gewann er die Wahl.212 Reputation wurde also von einigen Akteuren in den Amerikas als ausschlaggebendes Kriterium anerkannt, wenn es um die Frage ging, ob eine Person von der Staatsbürgerschaft auszuschließen war. Campos García geht davon aus, dass Duque de Estrada in der Tat afrikanischer Abstammung war und auch Bock schreibt, es habe sich um einen mulato gehandelt, der als blanco gegolten habe.213 Selbst Duque de Estradas Fürsprecher Quintana scheint nicht versucht zu haben, den Einwand der afrikanischen Abstammung zu widerlegen, sondern 209 210 211
212 213
Vgl. ebenda, Kap. 6. Vgl. Campos García, Castas, 2005, S. 62, 73-75; Bock, Entre españoles, 2013, S. 16. Zit. nach Campos García, Castas, 2005, S. 77. Zitate: „el concepto que actualmente tienen“. Die Formulierung lautete, Duque de Estrada sei „habido y reputado por español“. Vgl. auch Bock, Entre españoles, 2013, S. 18. Zit. nach Campos García, Castas, 2005, S. 82. Zitat: „concepto público de Campeche“. Vgl. ebenda, S. 59; Bock, Entre españoles, 2013, S. 17.
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forderte, man müsse sich an der Reputation orientieren. Duque de Estrada wurde also aufgrund phänotypischer Merkmale oder, da man seine Familiengeschichte kannte, von vielen Personen als afrikanischstämmig wahrgenommen, hatte jedoch einen so hohen sozialen Status, dass viele der Meinung waren, er sei gemäß seiner Reputation als Spanier zu betrachten. Woran sich die afrikanische Abstammung einer Person konkret festmachte, konnte also in so unterschiedlichen Gemeinden wie dem ländlichen Yautepec und dem städtischen Mérida ähnlich umstritten sein. Für 1820 sind zwei Fälle belegt, in denen Afroamerikaner laut den Aussagen einiger Zeitgenossen in großer Zahl für die Wahlen zum konstitutionellen Gemeinderat mobilisiert wurden. So ereignete sich im schon erwähnten Yautepec (Cuernavaca) 1820 ein schwerer Konflikt um die Ratswahlen. Zwei militärischen Funktionären, dem Kapitän José Abascal und dem Oberstleutnant Juan Felix Goyeneche, wurde vorgeworfen, zusammen mit anderen Männern die Wahlen manipuliert zu haben. Der scheidende alcalde Vicente Guzmán und andere behaupteten, dass die oben genannten vorgefertigte Stimmzettel verteilt hätten. Außerdem hätten sie den Sekretär und die Stimmenzähler vor dem Eintreffen der übrigen Bürger unter sich bestimmt. Zu den Vorwürfen zählte auch, sie hätten während der Wahl der Wahlmänner die Kompanie von Yautepec und mit ihr viele Afroamerikaner mobilisiert. Erwähnt wurden die Soldaten dieser Kompanie, die auf Grundlage derselben Liste und sogar aus dem Gedächtnis ein und dieselben Personen wählten; ebenso wählten viele Mulatos, Lobos und andere afrikanischstämmige Castas.214
Der síndico Manuél María de la Bandera berichtete ebenfalls von „Mulatos, unbekannten Lobos und weiteren Castas afrikanischer Abstammung“, denen fertige Listen ausgehändigt worden seien.215 De la Bandera kritisierte daher, dass auch „jene, die nicht zur Bürgerschaft gehören“, zur Wahl zugelassen worden waren. Der alcalde Guzmán schrieb außerdem: Ich bestätige, dass es zutreffend ist, dass mehrere Arbeiter der Haciendas von Oacalco und San Carlos und anderer [Haciendas] zu mir kamen, um mir zu berichten; die Arbeiter sagten, um ihrer Pflicht nachzukommen, aus, dass ihre Herren mittels ihrer Angestellten oder sogar persönlich von ihnen verlangten, zur Wahl zu gehen, wobei sie jedem einzelnen eine Liste aushändigten und sie unter Druck setzten,
214
215
„Renovac[i]on de Ayuntam[ien]tos Yautepec“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n. Zitate: „los soldados de esta compañia, quienes votaron con arreglo á una misma lista, y aun de memoria, unos mismos sugetos: q[u]e igualmente votaron én los propios terminos muchos mulatos, lobos, y otras castas descendientes de Africa [...].“ Ebenda. Zitat: „Mulatos, Lobos desconocidos y demas castas de origen Africano“.
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diese abzugeben, da sie, wenn sie es nicht täten, nicht weiter auf dem Gut leben dürften, und dass sie nicht verraten sollten, wer ihnen die Listen gegeben hat.216
Irving Reynoso Jaime wies anhand einer Untersuchung von Notariatsakten nach, dass die auf den verteilten Stimmzetteln aufgeführten Personen in erster Linie Vertreter der lokalen landbesitzenden Eliten, also der Hacendados, waren. Unter anderen befand sich Goyeneche auf den Listen, der auch zu den Hacendados der Region zählte.217 Reynosos These, die lokale Elite habe die Afroamerikaner der Haciendas mobilisiert, um die Gemeinderäte unter ihre Kontrolle zu bringen, ist daher recht plausibel. Mit dem Wandel zum konstitutionellen System sollte die Macht jener kleinen Elite gebrochen werden, die bisher die república de indios kontrolliert hatte.218 Die Schilderung des Vorgangs durch den alcalde legt in der Tat nahe, dass im Vorfeld und während der Wahl die Afroamerikaner der Region aktiv von Großgrundbesitzern und Militärfunktionären zur Stimmabgabe mobilisiert worden waren. Doch geschah die Mobilisierung nicht ausschließlich durch Zwang, wie der Bericht von De la Bandera nahelegt, sondern auch „das Ansehen, das sie unter der niederen Schicht aufgrund der Funktion, mit der sie geschmückt sind, genießen“, spielte eine Rolle.219 Gemeint war hier vermutlich das mit den militärischen Titeln einhergehende Ansehen. Den Afroamerikanern wurden also möglicherweise bestimmte Vorteile versprochen oder sie schätzten sogar die Möglichkeit, an den Wahlen teilnehmen zu können. Der Berater des jefe político Neuspaniens gab den Klagenden insofern Recht, als er bestätigte, dass Afroamerikaner nicht hätten zur Wahl zugelassen werden dürfen. Jedoch war dieser Einwand bereits während der Wahl geäußert und von der junta entkräftet worden. Wie Artikel 50 der Verfassung vorsah, sollten laut dem Berater selbst im Falle einer Fehlentscheidung auf lokaler Ebene keine nachträglichen Untersuchungen mehr angestellt werden. Die Entscheidung über die politische Partizipation sollte den lokalen Akteuren überlassen werden, weswegen der Berater nicht nachträglich einschreiten wollte.
216
217 218
219
Ebenda. Zitate: „aquellos, q[u]e ni aun lugar tienen en la Ciudadania“; „Certifico ser positivo q[u]e se me han presentado varios operarios de las Haciendas de Oacalco y San Carlos, y otros á exponerme q[u]e para cubrir su responsabilidad declaran q[u]e sus amos, por conducto de sus dependientes, aún por si mismos, les exigieron concurriesen á esta votacion, entregandoles una lista á cada uno y apremiandolos, á q[u]e de no darlas no volvieron á subsistir en aquellas Fincas, y q[u]e no revelasen quién les dió dichas listas.“ Reynoso Jaime, Sistema electoral, 2009, S. 207-209. Vicente Guzmán tritt 1819 als gobernador von Yautepec auf. „Cuernavaca. Los naturales de la villa de San Juan Yautepec, contra los del barrio de Santiago, sobre posesión de tierras“ (1819), AGN, Tierras, vol. 1582, exp. 4. Ebenda. Zitat: „[...] el ascendiente q[u]e logran entre los dela infima clace p[o]r el caracter con q[u]e se miran adornados [...].“
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Als im Juli 1820 in Guanajuato der neue Stadtrat gewählt wurde, stieß die Beteiligung der Unterschichten bei einigen Spaniern auf wenig Akzeptanz.220 Einige Militär- und Verwaltungsfunktionäre berichteten, an der Wahl der Wahlmänner habe „eine große Menge niedersten Volkes“ teilgenommen.221 Diese Personen seien mit vorgefertigten Listen zur Wahl der Wahlmänner erschienen. Die große Beteiligung der Unterschichten sahen diese Männer als einen Komplott, an dem u.a. der Stadtrichter (alcalde ordinario) Francisco Robles beteiligt war. Dieser leitete die Wahl und sein Vater Mariano Robles war einer der beiden Stimmenzähler. Die vorgefertigten Stimmzettel seien im Vorfeld der Wahl nicht nur im Laden von Mariano Robles unter die Leute gebracht worden, sondern auch an die Arbeiter in einem metallverarbeitenden Betrieb, in einem weiteren Laden, auf der plaza und sogar im Rathaus verteilt worden. Die Wahl der Wahlmänner sei schon im Gange gewesen, als eine Menge von Leuten zum Rathaus gekommen sei und an der Wahl teilgenommen habe. Sie berichteten: „Wir beobachteten, dass jeglicher Mann gelbbrauner Farbe, viele kleine Jungen und sogar eine Vielzahl von Leuten, deren Haut nur durch eine Fresada oder einen Ayate bedeckt war, zugelassen wurden.“222 Danach war es „das niedere Volk und hiervon das schlimmste“, das mit den Listen wählte.223 Sie beklagten „die Vielzahl von farbigen Menschen, deren Aussehen fast keinen Zweifel daran lässt, dass sie aus Afrika stammen“224, unter den Wählern. Die Teilnahme der städtischen Unterschichten an der Wahl kritisierten sie vehement und sie brachten diese Gruppierungen aufgrund ihrer „presencia“ – also vermutlich aufgrund phänotypischer Merkmale225 – mit afrikanischer Abstammung in Verbindung. Sie vertraten sogar die Auffassung, dass der Ablauf der Wahlen nicht der Verfassung entsprach, da nicht geprüft wurde, ob die Wähler überhaupt die Bedingungen der Verfassung erfüllten. Nicht nur Afroamerikaner waren nach ihren Worten formal von der Wahl ausgeschlossen, sondern auch Hausangestellte, Tagelöhner und „niedere Berufsgruppen“ wie beispielsweise Straßenverkäufer. Auch Minen- und Hacienda-Arbeiter sollten nicht teilnehmen dürfen. Lediglich die „reinen Indios“ sollten zugelassen werden, nicht aber „die Negros, 220 221 222
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„Guanajuato. Varios vecinos de aquella Ciudad suponiendo complot en la renovaz[i]on del Ayuntam[ien]to“ (1819/1820), in AGN, Ayuntamientos, vol. 183, exp. 7. Ebenda, f. 2-2v. Zitat: „una multitud de pleve de la mas baxa“. Ebenda, f. 3. Zitat: „notamos todos que se admitian […] á todo hombre de color baxo y aun a muchachos pequeños y aun multitud de gente que no les cubrian sus carnes mas q[ue] una fresada ó un ayate.“ Ebenda, f. 3v. Zitat: „la pleve y de esta la mas mala“. Ebenda, f. 20. Zitat: „la multitud de hombres de Color bajo cuya presencia casi no deja duda de que trahe su horigen de Africa“. Der in Kap. 1.2 diskutierte Konflikt aus Guanajuato um einen mulato, der sich als indio ausgab, spricht dafür, dass presencia oft phänotypische Merkmale meinte.
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Mulatos, Gemisaros und andere Castas, also solche, die als afrikanischstämmig betrachtet werden, von denen der Artikel 22 der Verfassung spricht“.226 Die Autoren der Beschwerde wollten das Kriterium der afrikanischen Abstammung nutzen, um weite Teile der Unterschichten von den Wahlen auszuschließen. Sie behaupteten gar, die Bevölkerung Guanajuatos setze sich zu acht Zehnteln, aus Personen afrikanischer Abstammung zusammen. Bei den Wählern, die mit Listen zur Wahl erschienen waren, handelte es sich ihrer Auffassung nach größtenteils um Personen afrikanischer Abstammung. Die Wahlen konnten nur zu einem schlechten Ergebnis führen, wenn man jegliche Personen zuließ.227 Die Behauptung, 80 % der Bevölkerung seien afrikanischer Abstammung, erscheint übertrieben, wenn sie vor dem Hintergrund der Zensusdaten von 1792 gesehen wird. Für die indigene Bevölkerung liegen zwar keine Daten vor, aber der Fall ist eindeutig: Von der knapp 40.000 Personen umfassenden nichtindigenen Bevölkerung der Stadt wurden lediglich 27 % als pardos und 28 % als mestizos registriert sowie 39 % als españoles.228 In einer Stadt wie Guanajuato war es möglicherweise besonders leicht, Personen afrikanische Abstammung zu unterstellen, denn die Größe der als ‚gemischt‘ wahrgenommenen Bevölkerung war beträchtlich. Möglicherweise erschien es daher in der Tat vielen Menschen plausibel, dass nahezu die gesamte Bevölkerung afrikanische Abstammungslinien hatte. Schließlich waren in den Städten Neuspaniens wie erwähnt im späten 18. Jahrhundert immer weniger Menschen mit Kategorien afrikanischer Abstammung registriert worden. In der Wahrnehmung einiger Zeitgenossen waren viele Menschen, die rechtlich als mestizos, indios oder Spanier galten, afrikanischer Abstammung. Mit der Unabhängigkeit und Ausweitung der Staatsbürgerschaft auf die afroamerikanische Bevölkerung verschwinden Konflikte um afrikanische Abstammung aus der Dokumentation. Hieraus kann nicht geschlossen werden, dass afrikanische Abstammung nicht mehr als Argument in politischen Konflikten verwendet wurde. Angesichts der Tatsache, dass Kategorien afrikanischer Abstammung jahrhundertelang mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert wurden, und angesichts der Exklusion der Afroamerikaner unter der Verfassung von Cádiz erscheint ein plötzliches Verschwinden dieser Kategorien aus der Alltagssprache unwahrscheinlich. Da sie formal keine rechtliche Bedeutung mehr hatten, fanden sie jedoch kaum Niederschlag in der Verwaltungsdokumentation des mexikanischen Nationalstaats. 226
227 228
Ebenda, f. 19. Zitate: „ocupaciones viles“; „puramente Indios“; „los negros, mulatos, gemisaros y otras castas, que son de los que habla el artículo 22 de la Constitucion, como reputados por originarios de la Africa“. Ebenda, f. 19-19v. Weitere 6% wurden als castizos registriert. Vgl. Castro Aranda, México, 1988, S. 54.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
Es gelang Menschen, die als Afroamerikaner galten, nach der Unabhängigkeit in einigen Orten, Ratsmitglieder zu werden. Patrick Carroll wies für Jalapa in den 1820er-Jahren nach, dass in fast jedem Jahr zumindest einige Afroamerikaner Stimmen bei der Wahl der junta electoral erhielten. Außerdem gelang es in den 1820er-Jahren mindestens vier Afroamerikanern, einen Sitz im Gemeinderat zu erhalten. Zwei dieser vier Afroamerikaner verfügten über ein beträchtliches soziales Ansehen.229 Auch in Acapulco hatten Afroamerikaner wie schon 1821 vermutlich weiterhin Ratssitze inne. Hier hatte der Rat nach der Unabhängigkeit an Prestige verloren, denn der Präfekt von Acapulco, José María Bermúdez, äußerte sich 1830 abfällig über die Zusammensetzung des Gemeinderats der Stadt. Anders als 1821 saßen dort nicht mehr Ärzte und Kaufleute, sondern er schrieb: „Der Gemeinderat setzt sich ausschließlich aus unglücklichen Asiaten und mittellosen Handwerkern zusammen.“230 Angesichts der Tatsache, dass Acapulco vor allem von Afroamerikanern bewohnt war, ist zu vermuten, dass es sich bei den genannten Handwerkern auch um Personen handelte, die als Afroamerikaner galten.231 Auch die nahe gelegene Hacienda San Marcos hatte zu diesem Zeitpunkt einen Gemeinderat, dem die umliegenden Gemeinden unterstanden. Über ihn äußerte Bermúdez sich ebenfalls abfällig: „Der ganze Rat setzt sich aus Dummköpfen zusammen, aber Dummköpfen in höchstem Grade“.232 Nach seinem Kommentar zu urteilen, saßen im Rat Personen eines niedrigen sozioökonomischen Ranges, also vermutlich Hacienda-Arbeiter. Da Afroamerikaner hier einen großen Bevölkerungsanteil bildeten, ist es wahrscheinlich, dass auch im Rat Afroamerikaner saßen.233 Bermúdez bezog sich aber mit keinem Wort auf die Abstammung der Handwerker Acapulcos und der Ratsmitglieder von San Marcos. Die bei San Marcos gelegene Gemeinde Cacahuatepec war nicht damit einverstanden, dass San Marcos die cabecera bilden sollte. Der Präfekt berichtete 1833, Cacahuatepec habe sich bereits mehrfach beklagt, nicht Sitz der cabecera zu sein. Sie gaben an, stets die cabecera gebildet zu haben, und bestanden darauf, dass die cabecera im pueblo und nicht auf der Hacienda
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231 232
233
Vgl. Carroll, Blacks, 2001, S. 136-137, 140-141. „Acapulco. El Prefecto propone la reduccion de los Cuerpos Municipales“, AHEM, Gobernacion, Gobernacion, Gobernacion, vol. 21, exp. 03, f. m-2. Zitate: „el Ayuntamiento se compone de puros Asiáticos infelizes, y Artesanos indijentes“. Für 1833 ist zudem ein Miguel de la Cruz „su pátria felipense en la nacion China“ als Ratsherr Acapulcos belegt: Proceso instructivo, 1833, S. 105. „Acapulco. El Prefecto propone la reduccion de los Cuerpos Municipales“, AHEM, Gobernacion, Gobernacion, Gobernacion, vol. 21, exp. 03, f. m-3. Zitat: „Toda la Municipalidad ésta se compone de ignorantes: pero ignorantes en superlativo grado“. Vgl. Ochoa Serrano, Los africanos, 1997, S. 179; Pavía Guzmán/Pavía Miller, Pardos, 2007, S. 41.
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angesiedelt sein müsse.234 Auch die an der Costa Chica von Oaxaca gelegene Hacienda Cortijos verfügte im Jahr 1828 über einen Gemeinderat, der als república bezeichnet wurde.235 Für die afroamerikanischen Bewohner der Haciendas Cortijos und San Marcos hatte sich die Errichtung des konstitutionellen Systems also in der Form niedergeschlagen, dass sie nun formal als Gemeinden anerkannt worden waren. Gewissermaßen waren nun auch sie pueblos. Der Versuch der politischen Eliten Oaxacas, durch die Trennung der Verwaltungsorgane nach repúblicas und ayuntamientos die Unterscheidung zwischen Indigenen und der übrigen Bevölkerung aufrechtzuerhalten, hatte im Fall Cortijos sogar dazu geführt, dass eine afroamerikanische Siedlung als república betrachtet wurde. Konflikte um politische Partizipation, in denen die afrikanische Abstammung weiterhin als Argument angeführt wurde, um Personen von den Wahlen auszuschließen, sind für die Zeit nach der Unabhängigkeit nicht mehr belegt. In Yautepec, wo es sowohl 1813/14 als auch 1820/21 zu einem Konflikt über afrikanische Abstammung gekommen war, entbrannte auch 1831 ein Konflikt um Wahlen. Hier spielte die afrikanische Abstammung jedoch gemäß der Verwaltungsdokumentation keinerlei Rolle.236 Genauso 1820 in Tamiahua: Als man um die Wahl des neuen alcalde stritt, war afrikanische Abstammung kein Thema.237 Die in Cádiz festgeschriebene Exklusion der Afroamerikaner bereitete Probleme, die schon im Antiguo Régimen die Zuweisung der calidad zu einem umkämpften Prozess gemacht hatten. Die Widersprüche zwischen Abstammungsbelegen, Wissen um Familiengeschichten, Deutungen phänotypischer Merkmale, korporativer Zugehörigkeit, Reputation und rechtlichem Status machten die Bestimmung der afrikanischen Abstammung schwierig. Daher konnte sie leicht genutzt werden, um politische Gegner oder ihre Wählerschaft zu diskreditieren. Wie hätte beispielsweise in einer Stadt wie Guanajuato die Exklusion von Menschen afrikanischer Abstammung bewerkstelligt werden sollen? Zwar waren viele Menschen afrikanischer Abstammung, doch war die Abgrenzung zur übrigen Bevölkerung vollkommen unklar. Die Akteure der neuspanischen Verwaltung pflegten oft einen pragmatischen Umgang mit dem Ausschluss der afroamerikanischen Bevölkerung. Sie beriefen sich auf die Bedeutung der Reputation und 234 235 236 237
„El Prefecto de Acapulco consultando si podrá variar la cabecera de la Municipalidad de Cacahuatepec“ (1833), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 31, exp. 53. „Expediente sobre demanda de pesos […]“ (1829), AHJO, Jamiltepec, Civil, exp. s/n. „Yautepec. El Pref[ec]to manifestando las dudas que tiene en virtud de la representacion que há suscrito el Ayuntam[ien]to“ (1831), AHEM, Gob, Prefecturas, vol. 3, exp. 16. „Renova[ci]on de Ayuntam[ien]tos. Tamiagua“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
überließen oft den lokalen Akteuren die konkreten Entscheidungen über politische In- und Exklusion. Wie stark die politische Partizipation der Afroamerikaner in der Phase der Verfassung von Cádiz war, lässt sich kaum abschätzen. Klar ist, dass viele Menschen afrikanischer Abstammung wählen konnten, weil sie nicht als mulato oder negro, sondern beispielsweise als mestizo, indio oder Spanier galten. Aber auch bei Personen, die in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mulatos oder negros waren, wurde der Ausschluss nicht streng durchgesetzt. Erstens gab es in manchen Regionen gute Gründe, Afroamerikanern politische Rechte zuzugestehen. Zweitens war die afrikanische Abstammung schwer bestimmbar. Die Fälle von Yautepec und Guanajuato aus dem Jahr 1820 sprechen dafür, dass an Wahlen auf lokaler Ebene viele Personen teilnahmen, die zumindest von einigen lokalen Akteuren als Afroamerikaner betrachtet wurden. Angesichts der Tatsache, dass es den Eliten in diesen beiden Fällen gerade aufgrund der Mobilisierung dieser Gruppen gelang, den Stadtrat zu besetzen, ist es durchaus denkbar, dass auch in der Gemeinde Acapulco weite Teile der afroamerikanischen Bevölkerung partizipierten. In Guanajuato wie auch in Yautepec war die Beteiligung von Afroamerikanern nur ein Gegenstand unter mehreren Vorwürfen. Vermutlich gab es viele andere Fälle, in denen Afroamerikaner an den Wahlen teilnahmen. Dies schlug sich jedoch nicht in der Dokumentation nieder, da an den Wahlen nichts beanstandet wurde. Beispielsweise ist für Acapulco, wo 1820 zwei Afroamerikaner zum Ratsherrn bzw. zum síndico gewählt wurden, kein Widerstand gegen ihre Wahl belegt. Diese der Elite nahestehenden Personen erhielten Rückhalt von Teilen der Elite und ihre afrikanische Abstammung wurde ihnen nicht zum Hindernis. In der nationalstaatlichen Phase benannten Verwaltungsakteure afrikanische Abstammung häufig nicht, denn sie war in ihrer Wahrnehmung weniger relevant als die Kategorie der Indigenen. Indigene und ihre Gemeinden bildeten schließlich ein wichtiges Element in der korporativen Gesellschaft. Aus diesem Grund blieben die Kategorien indio und indígena auch für Akteure der Verwaltung in der nationalstaatlichen Phase relevant. Indigene selbst hoben in der nationalstaatlichen Phase, wie unten gezeigt wird, häufig ohne Scheu ihren Status als naturales hervor.
Indigene und Staatsbürgerschaft
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3. Indigene und Staatsbürgerschaft Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage, wie die indigene Bevölkerung die Institution der Staatsbürgerschaft bewertete, nutzte und interpretierte. Einige Historiker gehen davon aus, die Einführung der konstitutionellen Gemeinderäte habe im Allgemeinen dazu geführt, dass die Indigenen ihre Macht auf lokaler Ebene weitgehend zugunsten nicht-indigener Akteure einbüßten. Diese Position ist beispielsweise von Rodolfo Pastor vertreten worden,238 findet sich aber auch in der neueren Forschung wieder. So vertritt Manuel Ferrer Muñoz die These, das liberale System habe den indigenen Gemeinden in erster Linie wirtschaftliche Nachteile, insbesondere den Verlust von Ländereien, beschert; die rechtliche Gleichheit sei zudem de facto nicht umgesetzt worden.239 Dieser historiographische Blick auf die Staatsbürgerschaft hat seine Ursachen letztlich in historischen Tatsachen: So war die rechtliche Gleichheit der Staatsbürger in der Tat Teil eines liberalen politischen Projektes, das darauf abzielte, die von den Spaniern etablierte korporativ strukturierte Gesellschaft zu überwinden. In diesem Verständnis stand die korporative Verfasstheit indigener Gemeinden der Entwicklung der indigenen Bevölkerung und ihrer Integration in die Nation im Weg. In den vergangenen 20 Jahren haben sich HistorikerInnen in Regionalstudien mit den Auswirkungen der Einführung von Staatsbürgerschaft für die indigene Bevölkerung auseinandergesetzt. Daher kann die Historiographie mittlerweile ein wesentlich differenzierteres Bild von der Bedeutung der Staatsbürgerschaft für die Indigenen zeichnen. In einigen Regionen nutzten spanischstämmige Eliten die Einführung der konstitutionellen Gemeinderäte, um ihre politischen Einflussmöglichkeiten zu stärken, womit sie u.a. ökonomische Interessen verfolgten. So untersuchte Irving Reynoso für die von Haciendawirtschaft geprägte Region um Cuautla und Cuernavaca (heute: Morelos) Konflikte um Wahlen und die Zusammensetzung der Gemeinderäte zwischen 1812 und 1835.240 Er konnte nachweisen, dass Vertreter der landbesitzenden Eliten massiven Einfluss auf die Wahlen nahmen und häufig einen großen Anteil der Ratssitze einnahmen. Laut Reynoso bedrohte die Unabhängigkeit der indigenen Gemeinden in dieser Region die ökonomischen Interessen der Großgrundbesitzer, die daher stärker als in 238 239
240
Pastor, Rodolfo: Campesinos y reformas. La mixteca, 1700-1856, México, D.F. 1987, S. 420. Vgl. Ferrer Muñoz, Manuel: Pueblos indígenas en México en el siglo XIX. La igualdad jurídica, ¿Eficaz sustituto del tutelaje tradicional?, in: Manuel Ferrer Muñoz (Hrsg.), Los pueblos indios y el parteaguas de la independencia de México, México, D.F. 1999, S. 96– 100, S. 97-98, 101, 103. Reynoso Jaime, Sistema electoral, 2009. Anhand von Notariatsakten gelang es Reynoso, die sozioökonomische Position der Wahlmänner und Ratsmitglieder in einigen Gemeinden zu bestimmen.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
anderen Regionen bemüht waren, die Macht in den Gemeinden zu übernehmen. In anderen Gemeinden der Region erhielten indigene Eliten dagegen unter der Verfassung von Cádiz ihre Macht aufrecht.241 In Yucatán, so die Forschung, wurden die neuen konstitutionellen Räte im spätkolonialen Neuspanien vor allem von nicht-indigener Bevölkerung besetzt. Ab 1825 wurden wie erwähnt erneut sogenannte repúblicas in indigenen Gemeinden eingeführt. Sie sollten in erster Linie dazu dienen, die Steuereinziehung durch die Vermittlung indigener Autoritäten effektiver zu gestalten. Indigene hatten während der föderalen Republik für gewöhnlich kaum Zugang zu den ayuntamientos und juntas municipales.242 Für die Huasteca sind die Befunde hingegen weniger eindeutig. Vor allem in den Gemeinden, die bisher die Zentren der indigenen repúblicas gebildet hatten, also den cabeceras, besetzte nach Antonio Escobar Ohmstede nicht-indigene Bevölkerung Sitze in den Gemeinderäten und kontrollierte die Räte. Er stellt gleichzeitig fest, dass in der Huasteca zumindest viele der frühen mit Cádiz gebildeten konstitutionellen Gemeinderäte sich vornehmlich oder ausschließlich aus Indigenen zusammensetzten.243 Michael Ducey konnte anhand der Gemeinde Misantla zeigen, dass Indigene durchaus an Wahlen teilnahmen, aber kaum als Wahlmänner oder Ratsmitglieder fungierten. Dies führt er darauf zurück, dass die indigene Bevölkerung parallel zu den ayuntamientos eigene Verwaltungsstrukturen aufrechterhielt.244 Die Historikerin Claudia Guarisco untersuchte für die Region des Valle de México die indigene Partizipation in den Gemeinderäten zwischen 1812 und 1835.245 Für ‚gemischte‘ Gemeinden zeigt sie, dass Indigene und die übrige Bevölkerung Zugang zu den Ämtern des Rats hatten. In einigen Gemeinden war die paritätische Besetzung der beiden alcalde-Posten nachweislich Teil eines Abkommens zwischen den Bevölkerungsgruppen. Die untergeordneten Ortsteile und Gemeinden wurden meist durch indigene Ratsherren repräsentiert.246 Für die Jahre 1820–1821 zeigt Guarisco auf, dass in gemischten Gemeinden häufig nicht-indigene Gemeindemitglieder die alcalde-Posten besetzten, während die Indigenen die Posten der Ratsherren innehatten. Selbst wenn die nicht-indigene
241 242 243 244 245 246
Vgl. Hernández Chávez, Alicia: Anenecuilco. Memoria y vida de un pueblo, México, D.F. 1993, S. 52. Die Autorin verweist auf die Gemeinde Huaxintlán. Vgl. Vgl. Caplan, Indigenous Citizens, 2010, S. 54-55, 107-109; Güémez Pineda, El establecimiento, 2011, S. 269, 281. Vgl. Escobar Ohmstede, Del gobierno, 1996, S. 12, 15; Escobar Ohmstede, Los pueblos, 1999, S. 129; Escobar Ohmstede, Ha variado, 2011, S. 163. Vgl. Ducey, Elecciones, 2007, S. 191-194, 197-198. Guarisco, Los indios, 2003. Vgl. ebenda, S. 136-137, 144-145.
Indigene und Staatsbürgerschaft
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Bevölkerung eine Minderheit bildete, stellte sie oft zumindest einen alcalde.247 In der Föderalen Republik setzte sich diese Entwicklung fort. In Distrikten mit einem relevanten Anteil nicht-indigener Bevölkerung konnte diese nun häufig den Rat vollständig unter ihre Gewalt bringen.248 Für Oaxaca gehen HistorikerInnen davon aus, dass Indigene während der föderalen Republik die Mehrheit in den Gemeinderäten bildeten, schließlich war die nicht-indigene Bevölkerung in den meisten Teilen Oaxacas kaum vertreten.249 Die Aufrechterhaltung indigener Selbstverwaltung wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den politischen Eliten sogar gefördert, weil sie ihren ökonomischen Interessen diente. Insbesondere die oben beschriebene Unterscheidung zwischen ayuntamientos für größere Gemeinden und repúblicas für kleinere während der föderalen Republik ist auf dieses Interesse zurückzuführen.250 Für Oaxaca ist die von Antonio Annino formulierte These diskutiert worden, mit Cádiz seien mehr konstitutionelle Gemeinderäte errichtet worden als es vormals repúblicas de indios gegeben hatte.251 Silke Hensel hat jedoch für Oaxaca nachgewiesen, dass Anninos Behauptung von einer Zunahme der lokalen Verwaltungsorgane mit der Umsetzung der Verfassung von Cádiz nicht haltbar ist.252 Die Anzahl er Gemeinderäte nahm laut Edgar Mendoza erst mit der bundesstaatlichen Verfassung von 1825 deutlich zu.253
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249
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Dies ergibt sich aus einem Vergleich der Bevölkerungszusammensetzung mit der Zusammensetzung der Gemeinderäte. Vgl. ebenda, S. 181-182, 184-185. Guarisco ordnete Wahlmännern und Ratsmitgliedern zweier ausgewählter Pfarreien (Santa Cruz Tecamac und San Ángel) anhand von Zensusakten ihre jeweiligen Berufe zu. Sie setzte zudem voraus, dass Tagelöhner per se zur indigenen Bevölkerung zu rechnen seien, und rekonstruierte hiermit die Zusammensetzung der Räte. Zwar ist nicht auszuschließen, dass es auch nicht-indigene Tagelöhner gab, doch ist diese Vorgehensweise plausibel. Denn in Santa Cruz Tecamac wurden zum Ende der Kolonialzeit ca. 95% der Bevölkerung als Indigene registriert, in San Ángel ca. 80%. Hiermit waren vermutlich auch die Tagelöhner, die am unteren Ende der sozioökonomischen Hierarchie standen, zumeist Indigene. Vgl. ebenda, S. 217, 222-223. Vgl. z.B. Guardino, The Time, 2005, S. 229; Mendoza García, Del cabildo, 2011, insb. S. 378-379; Caplan, Indigenous Citizens, 2010, S. 52. Hiermit wird die ältere Auffassung Pastors über den Machtverlust indigener Akteure in Oaxaca weitgehend widerlegt: Pastor, Campesinos, 1987, S. 420. Vgl. Sánchez Silva, Carlos: Patrimonialismo y poder político en Oaxaca, 1786-1860, in: Cuadernos del Sur 3 (1995), H. 10, S. 57–89, S. 78; Guardino, The Time, 2005, S. 273; Caplan, Indigenous Citizens, 2010, insb. S. 230-231. Vgl. Annino, Soberanías, 2003, S. 247-248; Annino, México, 2010, S. 41. Zur Kritik an Anninos These siehe: Hensel, Cambios políticos, 2008, S. 134-139. Vgl. Mendoza García, Del cabildo, 2011, S. 377-379; Mendoza García, Municipios, 2011, S. 75.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
a) Die Bedeutung korporativer Verfasstheit
Neben der Erforschung politischer Partizipation haben einige Arbeiten diskutiert, wie indigene Akteure die liberale Staatsbürgerschaft und ihr Verhältnis zum Staat wahrnahmen. Silke Hensel zeigte für den Bundesstaat Oaxaca auf, dass die indigene Bevölkerung vor allem Interesse an der Kontrolle der Gemeinderäte hatte, demgegenüber jedoch geringes Interesse an politischer Repräsentation auf bundesstaatlicher oder nationaler Ebene zeigte.254 Auch das Fortbestehen indigener Selbstverwaltungsstrukturen unterhalb der Ebene der ayuntamientos lässt auf ein besonderes Interesse an politischer Einflussnahme auf lokaler Ebene schließen.255 Welche Kategorien und Argumente wurden in lokalen Konflikten um politische Partizipation eingesetzt? Diese Frage soll im Folgenden untersucht werden, um zu verstehen, wie indigene Akteure die neue Staatsbürgerschaft interpretierten. Die Bedeutung der kolonialzeitlichen Kategorie indio wie auch der Institution der república wird im Kontext politischer Konflikte zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren betrachtet. Die Analyse der Argumente gibt Einblick in die Art und Weise, wie das Verständnis der Staatsbürgerschaft und der Umgang mit der neuen Kategorie ciudadanos durch überkommene Konzepte von vecindad und der Zugehörigkeit zu repúblicas geprägt wurde. In Xicotepec (Puebla) kam es 1820 zu einem Konflikt, der augenscheinlich zwischen einer indigenen Elite und einem nicht-indigenen alcalde ausgetragen wurde.256 Im Laufe des Konflikts wird deutlich, dass indigene Eliten Interesse daran hatten, die alten Selbstverwaltungsstrukturen aufrechtzuerhalten. Allerdings zeigt sich auch, dass Äußerungen indigener Gemeindevertreter nicht immer den Rückhalt der gesamten lokalen indigenen Bevölkerung hatten. Im Sommer 1820 war die Verfassung von Cádiz erneut in Kraft getreten und Xicotepec verfügte über einen konstitutionellen Gemeinderat. Mindestens einer der Ratsherren war ein Indigener, aber die indigene Elite Xicotepecs sah sich hier nicht genügend repräsentiert. Insbesondere das wichtige Amt des alcalde
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255 256
Hierfür sprechen ihre Befunde zu den Wahlen der Provinzdeputation bzw. des bundesstaatlichen Kongresses in den Jahren 1822 bis 1834. Hensel argumentiert plausibel, dass diese Ausrichtung der indigenen Bevölkerung ein Erbe des Antiguo Régimen war. Priester und lokale Verwaltungsbeamte seien weiterhin als Vermittler zwischen der lokalen Ebene und den übergeordneten politischen Ebenen betrachtet und daher auch gewählt worden. Vgl. Hensel, The Symbolic, 2012, S. 386-387, 390; Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 239302. Vgl. z.B. Ducey, Indian Communities, 2001; Escobar Ohmstede, Del gobierno, 1996. „Xicotepec. Contra el Regidor D[o]n José Antonio por anticonsitucional“ (1820), AGN, Historia, vol. 405, exp. 19.
Indigene und Staatsbürgerschaft
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war nicht von ihnen besetzt worden. Daher mobilisierten sie im Jahre 1820 ihre Gefolgsleute.257 Sie richteten ihre Beschwerde über den regierenden alcalde an den Vizekönig, der genau genommen nicht mehr Vizekönig, sondern jefe político superior. Initiator war der ehemalige gobernador José Antonio, also der indigene Gemeindevorsteher. Im November rief er laut Zeugenaussagen „alle Teutles, Alcaldes und weitere Mitglieder seiner Regieurng zusammen“ zusammen.258 Auf dem Treffen erklärte er ihnen, er sei ihr Gobernador gewesen und müsse sie verteidigen. Er habe sie als „oberste Köpfe der Gemeinde“ zusammengerufen, um ihnen mitzuteilen, „dass es nur in dieser Gemeinde um die Verfassung geht, in den anderen Gemeinden gibt es weder eine Verfassung, noch zahlt man Abgaben“.259 Scheinbar wurde die Verfassung hier vor allem mit der in ihr festgelegten Abgabenpflicht assoziiert. Der Vizekönig reagierte mit einem Brief an den regierenden alcalde Ignacio Telles, jedoch wurde der Brief von José Antonio abgefangen. Denn Letzterer rief an einem Sonntagmorgen, dem 3. Dezember 1820, ein weiteres Mal die ehemaligen indigenen Amtsträger zu sich und las ihnen die Antwort des jefe político superior vor. Nun forderte er sie auf, mit ihm nach der Sonntagsmesse den alcalde vor der Kirche abzufangen und ihn zu zwingen, den Brief öffentlich vorzulesen. Er fragte die Anwesenden laut Zeugenaussagen, ob sie der Meinung seien, dass man einen „indigenen Alcalde“ einsetzen solle, und erntete Zustimmung.260 Zum Ende der Versammlung soll er zudem ausgerufen haben, ihn vom Amt des alcalde entfernen zu wollen. An der Versammlung nahm auch ein amtierender indigener Ratsherr teil. José Antonio hatte seine Auffassung, dass die Verfassung nur in dieser Gemeinde eine Rolle spielte, durch das Schreiben des jefe político superior bestätigt gesehen. Zudem versprach er, die contribución abzuschaffen wie auch die Abgaben für Feuerholz, Weidegras und Post, die bisher offenbar vom amtierenden Rat eingezogen worden waren.261
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Ebenda. Ebenda. Zitat: „todos los Teutles, Alcaldes y demás indibiduos de su gobierno“. Teutli (Nahuatl) war eine Amtsbezeichnung in den indigenen Gemeinden. Vgl. Jiménez, Víctor/González Medina, Rogelio/Galarza, Joaquín: La antigua Oaxaca-Cuilapan. Desaparición histórica de una ciudad, México, D.F. 1996, S. 68. „Xicotepec. Contra el Regidor D[o]n José Antonio por anticonsitucional“ (1820), AGN, Historia, vol. 405, exp. 19, fs. 312v-313. Dies geht aus den Aussagen einiger ehemaliger indigener Amtsträger hervor. Zitate: „principales cabesas del Pueblo“; „que solo en este Pueblo se trata de Constitucion[,] en los demas pueblos ni hai constitucion, ni se paga contribucion“. Ebenda, f. 313. Zitat: „Alcalde natural“. Ebenda, fs. 313v-314, 315v, 316. So die Aussagen einiger anwesender Personen, die später vernommen wurden.
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Nach der Sonntagsmesse zwang die Menschenmenge Ignacio Telles dazu, das Schreiben öffentlich zu verlesen, und er bat die Leute anschließend in sein Gerichtsgebäude (juzgado). José Antonio forderte seine Gefährten laut einer Zeugenaussage auf, sich nicht zurückzuziehen, sondern „ihn zu unterstützen und einen Körper zu bilden, bis sie sähen, wie die Angelegenheit ende“.262 Der Ausdruck „einen Körper zu bilden“ meinte hier offenbar, dass die Indigenen durch ihre Präsenz als Gruppe José Antonio unterstützen sollten. Der indigene Gemeindeteil sollte dem alcalde also kollektiv gegenübertreten. So kam es in dieser Situation zu einer Auseinandersetzung zwischen über 60 Vertretern des indigenen Gemeindeteils und dem alcalde und vermutlich weiteren Ratsmitgliedern. Laut seiner eigenen Darstellung ging Ignacio Telles in seinem Gerichtsgebäude den Vorwürfen gegen ihn auf den Grund. Aus dem Antwortschreiben des jefe político superior geht hervor, dass die Indigenen den alcalde beschuldigt hatten, persönliche Dienste sowie Abgaben für seinen persönlichen Gebrauch einzufordern und Personen grundlos ins Gefängnis zu sperren. Er ließ die Antwort des Vizekönigs nach eigener Aussage in seinem Gerichtsgebäude erneut vor der Menge vorlesen sowie auf Nahuatl erläutern. Anschließend vernahm er zusammen mit dem Schreiber des konstitutionellen Gemeinderats jene wenigen Personen, die ihm etwas vorzuwerfen hatten.263 In dieser Situation kam es zu einem Vorfall, der zeigt, dass einige Indigene nicht nur Widerstand gegen den alcalde leisteten. Vielmehr stellten sie sich überhaupt gegen das konstitutionelle System. Ignacio Telles las bei diesem Anlass nach seinen eigenen Angaben die seit Wiederherstellung der Verfassung verabschiedeten Anordnungen und Erlässe vor und erörterte einige Punkte der Verfassung. In diesem Augenblick rief ein Mann namens Andrés Francisco auf Nahuatl: „Wir haben die Verfassung nicht eingefordert, und aus demselben Grund wollen wir sie nicht; sollen doch die, die die Verfassung gefordert haben, ihr folgen“.264 Am folgenden Tag wurde er von Ignacio Telles selbst vernommen und gab zu, etwas ausgerufen zu haben, jedoch seien seine Worte folgende gewesen: „wir haben die Verfassung nicht gefordert, um Spanier zu sein“.265 Dem Vernehmungsprotokoll zufolge gab er als Grund für die Aussage an, „dass es ihm weder gefalle noch passe Spanier zu sein, dass es ihm als Indio gut
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264 265
Ebenda. Zitat: „que le acompañaran é hisieran cuerpo hasta ben en que quedaba el negocio“. Ebenda, fs. 311v-312, 314. Nur eine der von Ignacio Telles aufgelisteten Personen hatte einen Nachnamen („D[on] Jose Hernandes“), was dafür spricht, dass sie als Indigene galten. Neben José Antonio wurden nur vier Männer mit dem Titel ‚Don‘ aufgelistet. Ebenda, fs. 306-306v. Zitat: „nosotros no hemos pedido la Constitucion, y por lo mismo no la queremos [,] alla los q[ue] la pidieron q[ue] la sigan [...]“. Ebenda. Zitat: „nosotros no hemos pedido la Constit[uci]on para que seamos españoles“.
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gehe“.266 Auf Nachfragen des alcalde, ob jemand ihn zu dieser Meinung gebracht oder er sie irgendwo gehört habe, gab er zu verstehen, dass es seine eigene Überzeugung sei. Der alcalde fragte außerdem, was er täte, wenn die konstitutionelle Regierung ihn dazu zwingen würde, spanischer Bürger zu sein. Andrés Francisco blieb hartnäckig und sagte, „dass er weder Spanier sein wolle, noch es sein müsse, selbst wenn man ihn dazu zwinge“.267 Der Ausruf Andrés Franciscos zeigt, dass sich unter einigen Indigenen Xicotepecs ein vehementer Widerstand gegen die Verfassung gebildet hatte. Der amtierende alcalde begründete den gesamten Konflikt mit dem vermeintlichen Konservatismus der indigenen Bevölkerung. Laut Ignacio Telles lag das Problem bei den Indigenen, die „an alte Bräuche gewöhnt“ waren.268 Dies war, wie sich noch zeigen wird, ein geläufiges Argument zur Diskreditierung indigener Akteure. Im Sommer hatte die Gemeinde, so berichtete er Ende Dezember, zunächst die Wiederherstellung der Verfassung begrüßt. Zusammen mit anderen hatte der gobernador der letzten indigenen república, José Antonio, jedoch die Indigenen gegen den Gemeinderat aufgewiegelt. Damit sei deren Eifer sehr zurückgegangen, und zwar „so weit, dass sie diesem Gemeinderat nicht mehr gehorchten“.269 Aus der Darstellung Ignacio Telles’ wie auch der des alcaldes des Jahres 1821 Mariano Telles geht hervor, dass José Antonio sich weiter als gobernador der Indigenen betrachtete und versuchte seine Macht zu erhalten. José Antonio hatte sich gegen die von den Cortes dekretierte Abschaffung der Abgaben und persönlichen Dienstleistungen für Priester ausgesprochen und daher waren sie selbst im Januar 1821 noch nicht umgesetzt worden. José Antonio profitierte von seiner Macht über die Indigenen, da ihm laut Ignacio und Mariano Telles täglich 30 dienstbeflissene indios zur Verfügung standen. Laut einem Brief von Mariano Telles vom Januar 1821 versuchte José Antonio seine Regierung über
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Ebenda. Zitat: „que no le parecia ni le quadraba ser Español, q[ue] esta bien asi como ynd[io]“. Ebenda. Zitat: „q[ue] no queria ni ha de ser Español aunque por fuerza se lo manden“. Unterschreiben konnte Francisco Andrés nicht, womit keine Rückschlüsse auf seinen Status in der Gemeinde gezogen werden können. Später bereute er seine Aussage offenbar, denn ein Bekannter, der vermutlich nicht zu den Indigenen der Gemeinde gehörte, setzte sich Anfang Januar gegenüber dem ehemaligen alcalde Ignacio Telles in einem Brief für Andrés Francisco ein: „me a confesado q[ue] no supo lo q[ue] dijo, y, yo lo creo por q[ue] muchos de nosotros no Entendemos lo q[ue] quiere decir la costitucion“. Der Verfasser des Briefs trug den Namen Francisco León y Cortés und ist nicht auf der Liste der am 3. Dezember im juzgado versammelten Menschen genannt. Ebenda, f. 308. Ebenda, 302-302v. Zitat: „conaturalisados en antiguas costumbres“. Ebenda. Zitat: „hasta los terminos de no reconocer ni obedecer este Ayuntamiento“.
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die indios aufrechtzuerhalten und die „führenden Indios“, die Angehörigen der indigenen Elite, würden tatsächlich nur ihm gehorchen.270 José Antonio vertrat allerdings nicht die Interessen des gesamten indigenen Gemeindeteils, wie im Folgenden deutlich wird. In den Wahlen zum neuen Gemeinderat für das Jahr 1821 wurde José Antonio zum Ratsherrn gewählt. Laut Mariano Telles führte José Antonio im Januar wieder einen Brauch ein, der von dem konstitutionellen Gemeinderat des Vorjahres bereits abgeschafft worden war. Gemäß diesem Brauch wurden die indigenen Witwen der Gemeinde in die umliegenden Dörfer geschickt, um dort Seife zu verkaufen und damit Geld für einen religiösen Zweck zu sammeln.271 Diese indigenen Frauen beschwerten sich nun gegen die Wiederaufnahme des Brauchs beim aktuellen alcalde Mariano Telles. Mariano Telles rief daraufhin José Antonio zu sich. Letzterer sei bei dem Gespräch betrunken gewesen und habe den alcalde wie auch den Gemeinderat beschimpft, berichtete er. Mariano Telles versuchte daraufhin, José Antonio durch den jefe político superior aus dem Amt des Ratsherrn entfernen zu lassen, allerdings gab der Berater des jefe político superior, José Antonio Pavón, dem nicht statt. José Antonio sollte deshalb lediglich zurechtgewiesen werden.272 Die indigenen Eliten Xicotepecs lehnten also die Verfassung und insbesondere die Aufhebung des Sonderstatus der indigenen Gemeinden ab. Inwieweit den Protesten tatsächlich gesetzeswidriges Verhalten seitens des regierenden alcalde Ignacio Telles vorausgegangen war, lässt sich nicht klären. Dass die von Telles selbst vernommenen Zeugen ihn wenig belasteten, ist schließlich kaum verwunderlich. Die Verfassung hatte aus Perspektive einiger Indigener offensichtlich negative Konsequenzen. Der ehemalige indigene gobernador José Antonio stellte die Verfassung als Grund für die gesetzeswidrige Einforderung von Arbeitsdiensten und Abgaben dar und verfolgte damit die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung seiner Autorität. Die erfolgreiche Mobilisierung von über 60 Personen richtete sich zwar primär gegen den alcalde, aber gleichzeitig gegen die Verfassung. Der Unmut aufgrund des konstitutionellen Systems wurde besonders am Widerstand von Andrés Francisco deutlich. Er weigerte sich, die neue Kategorie der spanischen Staatsbürger und die damit einhergehende Eliminierung der rechtlichen Kategorie indio anzuerkennen. Der zentrale Bezugspunkt im Selbstverständnis José Antonios und seiner Mitstreiter war die república de indios. José Antonio hatte die ehemaligen indigenen Amtsträger in seiner Rolle als gobernador zusammengerufen. Mit ihnen und weiteren Indigenen war er vor dem alcalde aufgetreten und hatte somit die indigene república physisch vor ihm versammelt. Sein Widerstand gegen die 270 271 272
Ebenda, f. 318-318v. Zitat: „principales Yndios“. Ebenda. Die Rede war von „sierta obra devota“. Ebenda, fs. 302v, 318v, 320-322.
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Abschaffung der Abgaben und Dienstleistungen für Priester und vor allem die Wiederherstellung des oben beschriebenen Brauchs sprechen dafür, dass er in der Tat versuchte, die indigene república als Institution zu verteidigen, und hiermit seine Macht wie auch den Zugriff auf materielle Ressourcen und Arbeitskräfte. Auf alle Fälle hatte José Antonio beachtlichen Rückhalt unter Teilen der indigenen Bevölkerung, denn für das Jahr 1821 wurde er – zum Missfallen des scheidenden wie auch des neuen alcaldes – als Ratsherr in den Gemeinderat gewählt. Inwieweit José Antonio mit seinem Kampf gegen die Verfassung und den alcalde Interessen vertrat, die über den engeren Kreis der indigenen Elite hinausgingen, ist unklar. Die indigenen Witwen Xicotepecs unterstützten José Antonios Machtanspruch wohl kaum, was zeigt, dass José Antonios Position nicht als repräsentativ für die indigene Bevölkerung der Gemeinde betrachtet werden kann. Es sind zahlreiche Konflikte zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren um die Bildung der frühen Gemeinderäte dokumentiert. Wie der behandelte Konflikt in Xicotepec zeigt, ist es problematisch, beide Seiten als klar voneinander abgegrenzte Einheiten mit jeweils gemeinsamen Interessen zu sehen. Im Folgenden soll zudem gezeigt werden, dass die lokalen Konfliktlinien keinesfalls immer entlang der Unterscheidung zwischen Indigenen und der übrigen Bevölkerung verliefen. Vielmehr schlossen Indigene sich bisweilen mit anderen Bevölkerungsgruppen zusammen, um bestimmte Ziele zu verfolgen. Dies geschah Ende des Jahres 1820 in der Gemeinde Aculco (Estado de México). Hier kämpften die indigenen Eliten während der Wahlen um ihre Repräsentation im neuen konstitutionellen Gemeinderat für 1821.273 Wie in Xicotepec traten Indigene auch hier als Vertreter ihres indigenen Gemeindeteils auf, also des indigenen común. Sie versuchten, für ihren Gemeindeteil die Repräsentation im Gemeinderat durchzusetzen. Anfang Dezember wählte die Gemeinde die Wahlmänner, die am 21. Dezember zusammenkamen, um die Mitglieder des Gemeinderats zu wählen. Teile der indigenen Bevölkerung, die hier zwei Drittel der Gemeinde bildete,274 befürchteten bereits zu diesem Zeitpunkt, dass in keinen der beiden alcaldePosten ein Indigener gewählt werden würde. Dem bisherigen alcalde José Ramón Romero Cortes wurde daher ein Brief im Namen der „Capitanes“ und des „Común de Naturales“ von Aculco vorgelegt, der von neun Personen
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„Renovaz[ió]n de Ayuntam[ien]tos. Tasquillo y Aculco“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, s/e, s/f. Gemäß dem Zensus der Erzdiözese México von 1777, lebten in Aculco 1141 Familien, wovon 301 Spanier-, 63 Mestizen-, 11 afroamerikanische und 766 indigene Familien waren. Vgl. Sánchez Santiró, Padrón, 2003, S. 111.
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unterzeichnet wurde.275 Bei den capitanes handelte es sich um die Vertreter der verschiedenen barrios der ehemaligen república de indios, also Vertreter der indigenen Elite Aculcos. Die Autoren gaben an, sich nicht an der Wahl der Wahlmänner Anfang des Monats beteiligt zu haben, da sie einen eigenen „Richter der Naturales“ wollten, also einen eigenen alcalde.276 Sie verwiesen auf andere Gemeinden, u.a. Acambay, in denen Personen, die als gobernador der indigenen Gemeinde fungiert hatten, im konstitutionellen Rat zum „Alcalde der Ciudadanos Naturales“ geworden seien.277 In Acambay waren in diesem Jahr zwei alcaldes gewählt worden.278 Die Behauptung der Indigenen Aculcos legt nahe, dass in Acambay indigene und nicht-indigene Bevölkerung je einen alcalde gestellt hatten. Die Indigenen Aculcos wünschten sich offenbar ein derartiges Arrangement auch für ihre Gemeinde. Den aktuellen alcalde baten sie daher, er möge ihnen gemeinsam mit den übrigen Ratsmitgliedern „einen Alcalde in Otomí“ zugestehen.279 Denn sie könnten kein Spanisch sprechen und die Spanier könnten weder Otomí sprechen, die indigene Sprache der Gemeinde, noch es verstehen.280 Sie richteten sich mit ihrem Anliegen an den alcalde Aculcos und schrieben gleichzeitig, „wir richten die Bitte an die Verfassung und die spanische Monarchie, dass sie uns diese Gunst und Gnade zugestehen möge“.281 Offenbar wurde die Verfassung von den Indigenen als eine personifizierte Autorität gesehen, in Analogie zum spanischen König und den Repräsentanten der kolonialen Regierung. In dem Ausdruck „Gunst und Gnade“ spiegelte sich das paternalistische Verhältnis zwischen Krone und Untertanen. Obwohl den Wahlmännern das Anliegen laut Romero Cortes während der Wahl präsentiert wurde, wählten sie in keinen der beiden alcalde-Posten einen Indigenen. Laut dem Bericht des Sekretärs des ayuntamiento kam am folgenden Tag José Prudencio Flores de la Cruz, einer der Autoren des genannten Briefs, wiederum gemeinsam mit capitanes zum amtierenden alcalde, um die Wahlakte des Vortags zu konsultieren. Dort erfuhren sie, dass der Europa-Spanier Victorino de Bulnes zum alcalde gewählt worden war. Nach Aussage des Sekretärs des 275 276 277 278 279 280 281
„Renovaz[ió]n de Ayuntam[ien]tos. Tasquillo y Aculco“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, s/e, s/f. Zitat: „Capitanes y Comun de Naturales“. Ebenda. Zitat: „Jues de Naturales“. Ebenda. Zitat: „Alcalde de los Ciudadanos Naturales“. „S[an] Mig[ue]l Acambay renovó su Ayuntm[ien]to“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, exp. s/n. „Renovaz[ió]n de Ayuntam[ien]tos. Tasquillo y Aculco“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, s/e, s/f. Zitat: „un Alcalde en Otomite“. Ebenda. Ebenda. Zitat: „suplicamos a la Costitusion y Monarquiya Española nos conseda esta gracia y Merced“.
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Gemeinderats äußerte Flores daraufhin, Bulnes könne nicht alcalde sein, da er gachupín sei. Gachupín war eine despektierliche Bezeichnung für Europa-Spanier, die im Bürgerkrieg der 1810er-Jahre von den Rebellen verwendet worden war. Flores war vermutlich einer der ehemaligen gobernadores der indigenen república. Das legt die Darstellung des Sekretärs nahe, in der Flores als Anführer der Gruppe erscheint. Möglicherweise versprach er sich von dem Vorstoß einen Posten als alcalde. Flores bediente sich hier eines neuen Arguments. Während er zuvor noch zusammen mit den anderen Indigenen einen eigenen alcalde gefordert und hier vor allem mit den unterschiedlichen Sprachen der beiden Gemeindeteile argumentiert hatte, verwies er nun auf ein lang etabliertes Feindbild. Das gemeinsame Feindbild der gachupínes sollte den Indigenen ermöglichen, mit anderen nicht-indigenen Akteuren der Gemeinde eine politische Allianz zu bilden, wie sich im Folgenden zeigen wird. Am Folgetag wurde das Ergebnis der Wahl bekannt gegeben, worauf sich vehementer Widerstand regte. Der Protest war, wie einer der Wahlmänner dem subdelegado berichtete, durch das Vorgehen des Priesters bei der Wahl ausgelöst worden. Er hatte die erste durch die Wahlmänner vollzogene Wahl für ungültig erklärt, da einer der neuen alcaldes mit dem scheidenden alcalde verwandt war. Beim erneuten Wahlgang wurden beide alcalde-Posten neu besetzt. Der genannte Wahlmann wie auch ein Ratsherr des neuen ayuntamiento berichteten, dass der „Publico“ bzw. „alle Bürger dieses Ortes“ vor dem Gemeinderat gegen die Wahl Bulnes’ protestiert und gesagt hatten, „dass sie Herrn Bulnes nicht als Alcalde zuließen mit dem Zusatz des Común de Naturales, die darauf drängen, dass man einen indigenen Alcalde einsetze“.282 Im Namen von „Público und Común de Naturales“ wurde nun eine Beschwerde an den subdelegado verfasst, die von 20 Personen unterzeichnet wurde.283 Die Autoren forderten die Absetzung Bulnes’, weil dieser noch nicht über die gesetzlich vorgeschriebenen fünf Jahre Ansässigkeit in der Gemeinde verfüge. Gleichzeitig baten sie um die Einsetzung eines alcalde, der Otomí verstehe. Der in der Selbstbezeichnung auftauchende Begriff público bezog sich hier auf die nicht-indigene Bevölkerung der Gemeinde, denn ein Ratsherr berichtete, „weder die Naturales noch der Público“ wollten Bulnes als alcalde.284
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Ebenda. Zitate: „todos los ciudadanos de este lugar“; „q[u]e al caballero Bulnes no lo admitian p[ar]a Alcalde […] con el agregado del común de Naturales q[u]e instan a q[u]e se les ponga un Alcalde Natural“. Ebenda. Zitat: „el publico y todo el Comun de Naturales“. Dies schrieb der Ratsherr José María Beltrán de la Cueva dem subdelegado Manuel de la Hoz (3. Januar 1820), ebenda.
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Ein wiedergewählter Ratsherr behauptete, dass indigene und nicht-indigene Personen gegen Bulnes waren.285 Obwohl die Autoren des Briefs sich als „wir die Naturales“ bezeichneten, hatte dieser Brief also eine Unterstützerbasis, die über den indigenen Gemeindeteil Aculcos hinausging.286 Bulnes berichtete selbst, dass gegen ihn „einige Unterschriften von unnützen Personen“287 gesammelt worden waren und der Pfarrer bestätigte, dass nur „niedere Personen“288 unterschrieben hatten. Allerdings zählten zu den Unterzeichnenden auch zwei der Wahlmänner; der Pfarrer selbst hatte zuvor noch gesagt, es habe sich bei den Wahlmännern nur um die „Principales der Gemeinde“289 gehandelt. Der Begriff principales meinte hier nicht den indigenen Adel, denn dann wäre die Wahl vermutlich anders verlaufen. Vielmehr scheinen auch Personen, die nicht dem indigenen Gemeindeteil angehörten und hohes soziales Ansehen hatten, den Brief unterzeichnet zu haben. Von den Autoren des ersten Briefs unterschrieb kein Einziger, jedoch ist davon auszugehen, dass diese den Vorstoß unterstützten, schließlich wurde ihr Anliegen hier vertreten. Nach der Einschätzung des subdelegado, die er in einem Brief an Bulnes äußerte, leistete man in der Gemeinde diesen Widerstand gegen ihn, weil Bulnes Europäer war. Bulnes teilte diese Einschätzung und sah zudem seine Funktion als royalistischer Offizier während des Bürgerkriegs als Grund für die Aversion gegen ihn, wie er dem jefe político superior mitteilte.290 Als Europa-Spanier und ehemaliger Royalist hatte Bulnes Feinde in der Gemeinde, und zwar nicht nur unter den Indigenen. In Aculco versuchten Indigene offenbar nach dem Vorbild anderer Gemeinden, einen eigenen alcalde und damit die Repräsentation im Gemeinderat durchzusetzen. Das Festhalten an alten Zugehörigkeitskonzepten, insbesondere der Vorstellung von den zwei comunes, dem indigenen und dem nicht-indigenen Gemeindeteil, war hier eine Reaktion auf die Exklusion der Indigenen aus dem konstitutionellen Gemeinderat. In dieser Hinsicht bildete der Fall eine Parallele zum oben diskutierten Konflikt in Xicotepec. Auch dort war das kollektive Auftreten des indigenen Gemeindeteils und insbesondere der Versuch der indigenen Elite, die república aufrechtzuerhalten, eine Reaktion auf den Verlust 285
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Dies schrieb der wiedergewählte Ratsherr José Estanislao Cruz an den subdelegado Manuel de la Hoz (28. Dezember 1820), ebenda. Zitat: „Ni los [..] Naturales, ni el Publico“. Er sprach von „individuos indios y de razon“. Ebenda. Zitat: „nosotros los Naturales“. Ebenda. Zitat: „barias firmas de sujetos de brosa“. Ebenda. Zitat: „personas inferiores“. Ebenda. Zitat: „principales del pueblo“. Der subdelegado suspendierte den Rat, jedoch trat dieser Anfang Januar trotzdem zusammen. Die Entscheidung des subdelegado sah der Vizekönig als ungültig an, da dieser hier nicht befugt war einzuschreiten, jedoch wird nicht deutlich, welches Urteil letztlich gefällt wurde.
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politischer Einflussmöglichkeiten gewesen. In Aculco schlossen sich Indigene mit anderen Gemeindemitgliedern zusammen, die den neu gewählten alcalde nicht akzeptieren wollten, denn der indigene Gemeindeteil war nicht zuletzt aufgrund seiner Größe ein willkommener Bündnispartner. Wenige Jahre später kam es in der nahe Aculco gelegenen Gemeinde Jilotepec zu einem ähnlichen Konflikt. 1823 richteten sich einige Bewohner der mehrheitlich indigenen Gemeinde Jilotepec an den jefe político der Provinz México.291 Sie erklärten, gemäß der aktuellen Gesetze sei die Bezeichnung indios abgeschafft, aber machten deutlich, dass sie nicht in den Genuss der „Freiheit, die jeder Bürger erlangt“, kamen.292 Sie berichteten von verschiedenen Vergehen des amtierenden Rates. So seien sie zum Militärdienst eingezogen worden, obwohl sie als Tagelöhner davon ausgenommen seien. Außerdem hätte man von ihnen eine Abgabe für den Bau eines Wasserbeckens eingezogen, obwohl es nicht für die Allgemeinheit bestimmt sei, also nicht der ganzen Gemeinde zur Verfügung stünde.293 In erster Linie beklagten sie, von der Wahl des Gemeinderats ausgeschlossen worden zu sein. Nur über ihre Repräsentation im Rat konnten laut ihrer Darstellung die referierten Probleme behoben werden: Nach unserer Ansicht ist die einzige Maßnahme, um uns von den vielen Übeln zu erlösen, die auf ein paar unglücklichen Menschen lasten, keine andere als sie nicht davon auszuschließen, Ämter im Gemeinderat zu erhalten. Es gibt viele Geeignete, die, da sie von unseren Übeln wissen, sie teilweise beheben können.
Der alcalde von Jilotepec sollte daher angewiesen werden, dass in den nächsten Wahlen „der Común, für den wir sprechen, Beachtung finde“.294 In seinem Brief an den jefe político bestritt der Rat alle Vorwürfe, versuchte die sich beklagenden Indigenen zu diskreditieren und behauptete, dass es unter den indios immer irgendeinen Aufrührer gebe.295 Über die Wahl sagten sie, einige der sich nun beklagenden Personen hätten bei der Wahl der Wahlmänner Anfang Dezember vorgefertigte Stimmzettel unter den Wählern verteilt. Sie hatten mit den Zetteln erreichen wollen, so der Rat, dass alle Wahlmänner Indigene seien und ebenso die Mitglieder des Rats. Wegen dieses „Komplotts“ 291
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82% der 2548 Familien der Pfarrei Jilotepec wurden in einem Kirchenzensus von 1777 als Indigene kategorisiert. Vgl. Sánchez Santiró, Padrón, 2003, S. 110. Heute: Jilotepec de Molina Enríquez. „Xilotepec. Varios vecinos quejandose del Ayuntamiento“ (1823/1824), en AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 1, exp. 7. Zitat: „libertad, q[u]e logra todo ciudadano“. Ebenda, fs. 3-4. Ebenda. Zitate: „En nuestro concepto el arbitrio unico p[ar]a redimirnos de tantos males, q[ue] gravitan sobre una posicion de hombres infelices, no es otro, sino, q[ue] a estos no se excluian (sic.) de obtener empleos en el Ayuntam[ient]o [.] hai muchos utiles, y q[ue] como instruidos de nuestros males, podran en parte remediarlos.“ „se tenga considera[ció]n del comun p[o]r quien hablamos“. Ebenda, fs. 5-7v.
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habe man diese Personen vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen.296 Zwei Wochen später, am 22. Dezember, seien dieselben Personen in betrunkenem Zustand zusammen mit einer Gefolgschaft von über 50 Personen im Rathaus aufgetreten und hätten gefragt, „ob bereits die Dokumente eingetroffen seien, damit sie ihren eigenen Alcalde und ihre República wählen könnten.“297 Als die Post eintraf, versammelten sich noch mehr Personen, jedoch brachte sie ihnen offenbar keine Erlaubnis zur Wahl eigener Repräsentanten. Vermutlich erwarteten die Indigenen eine Antwort auf ihren Brief an den jefe político.298 Der Rat stellte in seinem Brief auch die Treue der Indigenen zu den liberalen Gesetzen infrage. So waren es in seiner Auffassung die Indigenen, die dem Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger zuwiderhandelten: „Während die Gesetze die verhassten Bezeichnungen, mit denen die Indios klassifiziert wurden, abgeschafft haben, bemühen sich diese Aufrührer darum, ihre Bezeichnung aufrechterhalten zu wollen.“299 Beide Seiten bezogen sich auf die 1822 dekretierte Abschaffung von Abstammungskategorien in offiziellen Dokumenten. Wahrscheinlich hatten die Indigenen es darum vermieden, sich in ihrem Brief als naturales oder indios zu bezeichnen und vorgezogen lediglich vom „Común, für den wir sprechen“300 zu reden. Beide Seiten thematisierten auch die Frage der geeigneten Kandidaten für die Bekleidung der Ratsämter. Während die Indigenen in ihrem Brief geschrieben hatten, es gebe viele geeignete Kandidaten, die ihre Interessen im Rat vertreten könnten, meinten die Ratsmitglieder, die Indigenen würden stets ungeignete, dumme und lasterhafte Männer wählen. Gleichzeitig betonten die Ratsmitglieder, die Indigenen seien in den Wahlen immer berücksichtigt worden, und sie nannten mehrere Personen, offenbar Indigene, die seit 1820 Ratsmitglieder gewesen waren. Der Rat thematisiert auch die legitime Verwendung des Begriffs común. Die Indigenen hatten als Verfasser ihrer Eingabe zwölf Namen angegeben und beansprucht, „im Namen der übrigen Vecinos von Xilotepec“ zu sprechen.301 Sie bezogen sich auch auf ihre común, den indigenen Gemeindeteil. Der Rat behauptete dagegen nicht nur, es handele sich um Aufrührer, sondern kritisierte 296 297 298 299
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Ebenda, f. 3. Zitat: „complot“. Ebenda, f. 3. Zitat: „si ya habían llegado sus oficios para que ellos eligiesen aparte su Alcalde, y republica.“ Der Brief der Indigenen war in Mexiko-Stadt spätestens am 20. Dezember eingetroffen, wie aus dem Dokument hervorgeht. Ebenda. Zitat: „Quando las leyes han abolido los odiosos nombres q[u]e clasificaban a los habitantes de esta America, estos discolos se empeñan en querer mantener su denominacion“. Ebenda. Zitat: „comun p[o]r quien hablamos“. Ebenda. Zitat: „a nombre de los demás vecinos del Pueblo de Xilotepec“.
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„den Missbrauch, sich des Namens de Común zu bedienen“.302 Hier bezog sich der Begriff común auf die gesamte Gemeinde. Daher forderte der Rat: dass keine Anträge im Namen des Común zugelassen werden, denn dieses wird nur durch den Gemeinderat oder dessen Síndicos vertreten, und wenn diese im Namen mehrerer Individuen verfasst werden, möge der Verfasser belegen, dass er ausreichende Befugnis von den Personen hat, für die er spricht.303
Im Namen des común zu sprechen war also aufgrund der Legitimationskraft des Konzepts eine gefürchtete Waffe. In ihrer Verteidigung schrieben die Indigenen, dass sie nicht lediglich vier Aufrührer, sondern ein gesunder und wesentlicher Teil von Xilotepec seien.304 Joaquín Juárez, alcalde der nahe gelegenen Gemeinde Chapa de Mota, wurde durch den jefe político der Provinz mit der Untersuchung des Falls beauftragt und befragte acht Zeugen über die Beschwerden der Indigenen. Er fragte insbesondere nach dem Rückhalt der klagenden Indigenen in der Gemeinde. Die vernommenen Personen gaben an, dass die Klagenden „der gesamte indigene Común“ oder eine große Anzahl an Personen waren.305 Sie bestätigten auch die Ehrbarkeit jener Personen, denn sie sagten, dass sie nicht lasterhaft waren und keine schlechten Gewohnheiten hatten. Sie gaben an, dass die beteiligten Personen ehrbare Männer seien,306 womit sie die Legitimität der Beschwerden der Indigenen stützten. Allerdings wurden keine Informationen hinsichtlich des umstrittenen Wahlvorgangs aufgenommen. Der alcalde von Chapa de Mota hielt die Beschwerden der Indigenen für legitim, aber äußerte sich nicht zu den Wahlen. Die Indigenen, oder genauer gesagt: Vertreter der indigenen Elite, versuchten also zunächst auf lokaler Ebene im Zuge der Wahlen, ihre Repräsentation im Rat zu erreichen. Einige Indigene wurden unter dem Vorwurf der Wahlmanipulation von der Wahl ausgeschlossen und offenbar bekam kein Indigener einen Sitz im Rat. Andernfalls hätte der amtierende Rat dies zu seiner Verteidigung erwähnt, wie er es für die vorangegangenen Jahre tat. Der Versuch, einen eigenen Rat zu errichten, war eine Reaktion auf die Exklusion der indigenen Eliten seitens nicht-indigener Akteure. Über den eigenen Rat sollte die eigene politische Repräsentation abgesichert werden, wie auch vermieden werden 302 303
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Ebenda. Zitat: „el abuso de tomar el nombre del común“. Ebenda. Zitat: „que no se admitan solicitudes a nombre de[l] común por q[u]e á este solo el Ayuntamiento ó sus sindicos lo representa y si ellas se encabesan á nombre de diversos individuos manifieste el representante poder bastante de los individuos por quienes habla.“ Da die síndicos procuradores (Volksanwälte) besonders die Interessen der Gemeinden vertreten sollten, wurden sie hier ausdrücklich erwähnt. Zur Übersetzung des Begriffs: Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 458. Ebenda, fs. 10-11. Ebenda,f. 20. Zitat: „todo el común de naturales“. Ebenda, fs. 20-25v.
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sollte, dass der indigene Gemeindeteil von nicht-indigenen Akteuren regiert würde. Die Indigenen sahen dieses Vorgehen nicht als verfassungswidrig an, denn sie erwarteten eine positive Antwort seitens des jefe político. Vor dem Hintergrund ihrer Klage über die ungenügende Umsetzung der staatsbürgerlichen Freiheit in ihrer Gemeinde stellte die Etablierung eines zweiten Rates den Versuch dar, die vermisste Gleichheit durchzusetzen, und zwar im Sinne einer gleichberechtigten Repräsentation der beiden Gemeindeteile. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, gegen die Verfassungsnormen zu handeln, um so jeweils ihrer eigenen Position vor den Repräsentanten der staatlichen Verwaltung Legitimität zu verleihen. Gleichzeitig spielten korporative Konzepte eine wichtige Rolle. Die Indigenen forderten, dass ihr común berücksichtigt werde, und stellten sich als Repräsentanten der gesamten Gemeinde dar. Die Repräsentation der Gemeinde beanspruchte aber ebenfalls der amtierende Rat für sich. In anderen Fällen verwehrte eine indigene Mehrheit der spanischstämmigen Bevölkerung einer Gemeinde die Mitgliedschaft im Gemeinderat, so z.B. in Ometepec an der Costa Chica im Jahr 1820.307 Der Ort bildete die cabecera des Distrikts Igualapan und setzte sich zu einem großen Teil aus Afroamerikanern zusammen. Auch der indigene Bevölkerungsanteil der Gemeinde war groß.308 Nachdem am 13. August 1820 erstmals der konstitutionelle Gemeinderat gewählt worden war, beschwerte sich ein spanischer Kaufmann beim Intendanten von Puebla. Die spanischstämmige Bevölkerung309 wurde seiner Darstellung nach aus der Wahl ausgeschlossen. Die Indigenen hätten zusammen mit dem subdelegado einen Komplott durchgeführt. Erstens sollte hierdurch der konstitutionelle Gemeinderat nur mit Indigenen besetzt werden. Zweitens sollte der Pfarrer der Gemeinde im Rahmen der Provinz- und Corteswahlen zum Wahlmann des Distrikts (elector de partido) gewählt werden. Der subdelegado Vicente Embides hatte laut Montero Ramos bereits Tage vor der Wahl verlauten lassen, dass nur Indigene zu Wahlmännern gewählt werden sollten. Am 10. August sei bereits allgemein bekannt gewesen, dass der Priester zum Wahlmann des Distrikts gewählt werden würde. Am Tag der Wahl habe sich die indigene república und weitere Personen eine Stunde vor der ursprünglich festgesetzten Uhrzeit versammelt und so unter sich bereits den Sekretär 307
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[Ometepec. Averiguación sobre la conducta del subdelegado de Ometepec, acusado de no permitir a los electores votar en las elecciones de elector y alcalde de partido] (1820), AHJP, caja 332, exp. 10021; auch einsehbar in INAH, Colección Microfilm, Serie Archivo Histórico Judicial de Puebla (AHJP), Rollo 50. Um 1800 gehörten zum Distrikt Igualapa 31 indigene Gemeinden und über 11 000 Indigene. Vgl. Tanck de Estrada, Dorothy: Atlas ilustrado de los pueblos de indios. Nueva España, 1800, México, D.F. [u.a.] 2005, S. 158. [Ometepec. Averiguación sobre la conducta del subdelegado de Ometepec [...]] (1820), AHJP, caja 332, exp. 10021. Er sprach vom „vecindario de razon“.
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und die beiden Stimmenzähler bestimmt. Außerdem habe der subdelegado am Vorabend einzelne Personen zu sich gerufen und hier u.a. festgelegt, wer der Sekretär sein solle. Als die spanischen Einwohner zur Wahl kamen, war der Priester scheinbar schon zum elector de partido gewählt worden.310 Nach der Schilderung Montero Ramos’ waren die repúblicas der fünf zur Pfarrei gehörenden Gemeinden – also die Mitglieder der lokalen indigenen Räte – in die cabecera gekommen und hatten dort allesamt die gleichen Listen für die Wahl der 31 benötigten Wahlmänner abgegeben. Diese Listen seien zudem vom Schreiber der república der cabecera unterzeichnet gewesen. 311 So sei der Pfarrer zum Wahlmann des Distrikts gewählt worden und der elfköpfige Gemeinderat ausschließlich mit Indigenen besetzt worden.312 Montero Ramos beklagte, dass der spanischstämmige Bevölkerungsteil durch den Komplott seiner „staatsbürgerlichen Privilegien und Freiheit“ beraubt worden sei.313 Er forderte daher, „wenn die Indigenen sich der Bürgerrechte erfreuen, haben auch die Gente de Razón Anspruch auf dasselbe“.314 Der Intendant rügte daraufhin den subdelegado, doch dieser wehrte sich gegen die Vorwürfe und gab an, Montero Ramos könne gar nicht beanspruchen, für die anderen Spanier in der Gemeinde zu sprechen.315 Daraufhin wurden durch den Gemeinderat zehn Männer, unter ihnen einige Militärfunktionäre, zusammengerufen, die scheinbar als repräsentativ für den spanischstämmigen Gemeindeteil galten. Sie erklärten, dass sie Montero Ramos nicht autorisiert hätten, in ihrem Namen zu sprechen.316 Der Gemeinderat lud Vertreter der verschiedenen Gemeinden vor, befragte sie zum vermeintlichen Fehlverhalten des subdelegado bei der Wahl und entlastete ihn schließlich.317 Aus dem Schreiben von Montero Ramos geht nicht hervor, ob Ramos der Meinung war, die spanischstämmige Bevölkerung müsste auch im Gemeinderat vertreten sein. Sein Anliegen war vor allem die Partizipation der spanischstämmigen Bevölkerung durch die Ausübung des aktiven Wahlrechts in den kommunalen Wahlen und in den Wahlen zum elector de partido. Trotzdem zeigt der Konflikt, dass nicht nur Indigene von der Vorstellung geleitet wurden, dass auf lokaler Ebene zwei verschiedene Gemeindeteile existierten, nämlich der indigene und der spanischstämmige. Denn offensichtlich hielt auch der Spanier Montero Ramos hieran fest. Beide Gemeindeteile sollten nach seiner Vorstel310 311 312 313 314 315 316 317
Ebenda, f. 1-3v. Ebenda, f. 1v-2. Ebenda, f. 2, 4-4v. Ebenda, f. 4. Zitat: „privilegios y livertad de ciudadanos“. Ebenda, f. 6-6v. Zitat: „que si los Naturales disfrutan los derechos de ciudadanos, tambien los de razon tienen accion a lo mismo“. Ebenda, f. 14-14v. Ebenda, f. 15-15v. Ebenda, f. 35-36v.
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lung an den Wahlen teilhaben können. So wie Indigene in anderen Fällen beanspruchten, für den indigenen Gemeindeteil zu sprechen, tat Montero Ramos es für den spanischen, doch verfügte er nicht über den Rückhalt des gesamten Gemeindeteils. Konflikte zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren um politische Repräsentation sind zwar vor allem für die frühen Jahre der konstitutionellen Phase überliefert, doch blieb die Wahrnehmung der beiden Gemeindeteile vielerorts wichtig für das Gemeindeleben und prägte die Machtverhältnisse innerhalb der Gemeinden. Dies äußerte sich beispielsweise in der Organisation von Aufgaben innerhalb der Gemeinden. Mehrere Fälle aus dem Estado de México belegen, dass bestimmte Aufgaben innerhalb der Gemeinden häufig von Indigenen ausgeführt werden mussten. Sie arbeiteten beispielsweise als Nachtwächter, Briefkurriere oder auch Lastenträger wie 1838 in Ixtlahuaca (Estado de México).318 Als in Tetecala, einer Gemeinde im heutigen Bundesstaat Morelos, 1828 der Kirchturm erneuert wurde, sollten hierfür laut Gemeinderat die wohlhabenden Bürger finanzielle Unterstützung leisten, während die Indigenen ein bis zwei Tage wöchentlich Arbeit leisten sollten.319 In ähnlicher Weise wurde die Erneuerung der Kirche von Aculco 1842 organisiert. Hier sollte der „comun de naturales“ seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen, während die nicht-indigene Bevölkerung („los de razon“) die übrigen Ausgaben übernehmen sollten.320 Das Inkrafttreten der Verfassung von Cádiz bedeutete nicht nur eine Veränderung des rechtlichen Status von Individuen als Staatsbürger, sondern hatte im Fall indigener Gemeinden unmittelbar Auswirkungen auf deren Status. Die neue rechtliche Gleichheit wurde von den Gemeindemitgliedern sogar in erster Linie als Veränderung ihres Status als Korporation und Gemeinde verstanden werden. Die Verfassung von Cádiz wie auch die Verfassungen der föderalen Republik entschieden schließlich darüber, welche Gemeinden eigene Räte haben sollten und durften. Laut der Verfassung von Cádiz sollten wie erwähnt in jenen Gemeinden Räte gebildet werden, wo es angemessen erschien, zumindest aber in Gemeinden ab 1000 Einwohnern. In einigen Fällen führte dies dazu, dass die república de indios durch einen Rat ersetzt wurde, der umfassendere Kompetenzen als die vormalige república hatte, weswegen indigene Eliten mitunter großes Interesse an der Errichtung der neuen Räte hatten. Dies wird an einem sehr frühen Konflikt 318 319 320
Siehe z.B. „Toluca. El Pref[ec]to se queja de avusos q[ue] comete el Juez de letras de Ixtlahuaca“ (1838), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 10, exp. 35. [Abschrift eines Briefs des ayuntamiento von Tetecala vom 22. Mai] (1828), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 10, exp. 35. „Los indigenas insolventes […] [al gobernador del departamento]“ (1842), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 43, exp. 7 hier: f. 3v.
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um die Bildung eines Gemeinderats in einer indigenen Gemeinde bei Atlixco (Puebla) deutlich. Nach der Proklamation der Verfassung von Cádiz wurden im Dezember 1812 die Wahlen für die konstitutionellen Gemeinderäte durchgeführt. In der Provinz México wurden die Wahlen nachträglich für ungültig erklärt. In Puebla fanden die Wahlen aber zumindest in acht Gemeinden statt, darunter auch Atlixco.321 In diesem Kontext ereignete sich ein schwerer Konflikt zwischen dem subdelegado von Atlixco und der indigenen Gemeinde Tianguismanalco. Die Bewohner Tianguismanalcos hatten Ende des Jahres 1812 in Anwesenheit des Pfarrers einen eigenen Rat gewählt.322 Die Gemeinde zählte über 4000 Einwohner und setzte sich nahezu ausschließlich aus Indigenen zusammen.323 Der Rat von Atlixco hatte gemeinsam mit dem ihm vorsitzenden subdelegado am 8. Dezember die Pfarrer der zugehörigen Pfarreien angewiesen, Wahlen für konstitutionelle Gemeinderäte durchführen zu lassen. Die Ratsmitglieder bezeichneten ihr Gremium als ayuntamiento,324 denn Atlixco war bereits seit dem 16. Jahrhundert als villa anerkannt.325 Die spanischstämmige Bevölkerung verfügte also bereits unter dem Antiguo Régimen über einen als ayuntamiento bezeichneten Rat. Der Aufforderung folgend wählte man in der indigenen Gemeinde Tianguismanalco im Dezember einen Rat. Jedoch erfuhren die Gemeindebewohner später vom Hörensagen, dass der subdelegado die konstitutionellen Räte der Region nicht anerkennen wollte.326 Mitte Januar forderte der subdelegado die im Dezember gewählten Amtsträger von Tianguismanalco, auf, vor ihm den entsprechenden Eid abzulegen. Die Indigenen von Tianguismanalco interpretierten diese Aufforderung so, dass der subdelegado sie nach wie vor wie eine república de indios behandele, was sie später in einem Schreiben an den jefe político superior deutlich machten. Sie glaubten aber, mit dem konstitutionellen Rat nun einen Status erlangt zu haben, der dem der Gemeinde Atlixco ebenbürtig war.
321
322
323 324 325 326
Vgl. Rodríguez O., Jaime E.: Las instituciones gaditanas en Nueva España, 1812-1814, in: Anuario de Historia Regional y de las Fronteras 12 (2007), S. 363–384, S. 106; Tecuanhuey Sandoval, Puebla, 2007, S. 345. „El [Ayuntamiento] de Tiuanguismanalco quexandose de los procedi[mient]tos de la Intendencia de Puebla, y del Subdelegado de Atlixco“ (1813), AGN, Ayuntamientos, vol. 129, exp. s/n, fs. s/n. Laut einem hier enthaltenen Zensus galten von 4316 Einwohnern 4281 als Indigene, also 99 %. Ebenda. „El [Ayuntamiento] de Tiuanguismanalco quexandose [...] “ (1813), AGN, Ayuntamientos, vol. 129, exp. s/n, fs. s/n. Vgl. Gerhard, A Guide, 1993, S. 56-57. „El [Ayuntamiento] de Tiuanguismanalco quexandose [...]“ (1813), AGN, Ayuntamientos, vol. 129, exp. s/n, fs. s/n.
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Angesichts der in ihren Augen widersprüchlichen Anweisungen wandten sie sich, nach Absprache mit dem Pfarrer, zunächst an den Intendanten, um zu erfahren, vor wem sie den Schwur ablegen müssten, erhielten jedoch keine Antwort. Von der Frage, vor wem der Schwur zu leisten war, hing in ihrem Verständnis ab, ob sie ayuntamiento oder república de indios waren. Laut eigenen Angaben hatten die Amtsträger den Schwur zunächst gegenüber dem Pfarrer abgelegt. Letzteres spricht dafür, dass in diesem Konflikt auch eine Rivalität zwischen dem Pfarrer und dem subdelegado eine Rolle spielte. Denn die Verfassung sah laut Artikel 337 keinesfalls vor, dass die Amtsträger der konstitutionellen Gemeinderäte ihren Eid vor den Pfarrern abzulegen hätten, sondern vor dem jefe político, also in diesem Fall vermutlich doch vor dem subdelegado, oder vor dem erstgewählten alcalde. Im Februar 1813 traten Konflikte zwischen dem subdelegado und der indigenen Elite von Tianguismanalco auf. Als der subdelegado erfuhr, dass die in seinen Augen nicht autorisierten alcaldes der Gemeinde kraft ihres Amtes einen Straftäter vernommen hatten, ließ er zwei Ratsherren des umstrittenen Rats festnehmen; der alcaldes hatte er nicht habhaft werden können. Die alcaldes beschwerten sich daraufhin persönlich beim Intendanten von Puebla, der alle Mitglieder des umstrittenen Gemeinderats einbestellte. In ihrem Brief an den Intendanten argumentierten die alcaldes, dass sie durch die verfassungsgemäße Wahl „eine wirkliche vom Subdelegado unabhängige rechtsprechende Gewalt“ erhalten hatten.327 Sie hatten sich aus ihrer Sicht nicht anders als die Mitglieder des Rats von Atlixco verhalten, der offenbar als konstitutioneller Gemeinderat anerkannt war. Ihre eigene Ernennung war „in Allem gleich wie der [Rat] der anderen“.328 Die Wahl in Tianguismanalco sei schließlich überflüssig gewesen, argumentierten sie, „wenn wir so unwirkliche Ämter weiterführen oder erhalten sollten“.329 Auch die Tatsache, dass ihr Rat ein „Ayuntam[ien]to de Yndios“ sei, könne kein Grund sein, ihren Gemeinderat anders zu behandeln, „denn nicht einmal die Verfassung unterscheidet zwischen ihnen [den Indios] und den anderen, und sie gibt allen die gleiche Calidad“.330 Die rechtliche Gleichheit der Individuen übertrug sich in ihrem Verständnis also auf den Status ihrer Gemeinde. Da es keinen rechtlichen Unterschied mehr zwischen Indigenen und Spaniern gab, durfte ihr Rat auch nicht anders als der von Atlixco behandelt werden. Nach Auffassung des Beraters des Intendanten konnten noch keine konstitutionellen Gemeinderäte gewählt werden, solange der Vizekönig, der jetzt jefe político superior oder jefe superior war, keine entsprechende Anweisung gab. Bisher 327 328 329 330
Ebenda. Zitat: „una verdadera jurisdiccion ordinaria, independiente del subdelegado“. Ebenda. Zitat: „en todo igual al de estos“. Ebenda. Zitat: „si haviamos de continuar, o obtener unos carg[o]s fantasticos“. Ebenda. Zitat: „pues ni la misma constitucion los distingue de los otros y ella misma iguala a todos en calidad“.
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seien die neuen ayuntamientos im ganzen Königreich noch nicht errichtet worden, lediglich die alten ayuntamientos der ciudades und capitales seien nun gemäß der Verfassung organisiert. Der Rat der villa Atlixco war nach den Wahlen im Dezember also als konstitutioneller Gemeinderat anerkannt worden. Die Amtsinhaber in Tianguismanalco sollten jedoch nach wie vor nur ihre alten Befugnisse haben. Der Berater sprach sich gegen eine Bestrafung der Indigenen aus. Lediglich den Eid vor dem subdelegado sollten sie leisten. Der Pfarrer sollte die Indigenen von „abwegigen Ideen“ abbringen.331 Der Intendant wies die Indigenen an, sich nicht von „Männern mit schlechten Ansichten“ verführen zu lassen, womit er sich auf das Verhalten des Priesters bezog.332 Die Indigenen von Tianguismanalco gaben nicht auf. Anfang April wandten sie sich mit einer Beschwerde über das Verhalten des subdelegado wie auch des Intendanten an den jefe político superior, den sie noch als Vizekönig bezeichneten. Der Intendant habe ihnen gesagt, „dass sie weder ein [Ayuntamiento] waren, noch jemals ein Ayuntamiento gewesen sind; sondern ein paar schlecht beratene Republicanos Indios“. Sie wiesen auch den Vorwurf zurück, dass der Priester ihrer Gemeinde als ihr Verführer und Aufwiegler zu betrachten sei, wie es der Intendant behauptet hatte. Der Priester war ihnen zufolge in der Tat befugt gewesen, „unter uns einen wirklichen Ayuntamiento zu errichten“ und sie fügten an: „und wenn das so ist, dann sind wir ein wirklicher Ayuntamiento und unsere Alcaldes sind zur Rechtsprechung [jurisdicción ordinaria] berechtigt“.333 Der Intendant habe ihre Wahl im Dezember irrtümlicherweise als die jährlich stattfindende traditionelle Übergabe der Amtsstäbe in repúblicas de indios dargestellt. Daher zeigten die Indigenen dem jefe superior im Detail die Besonderheiten einer verfassungsgemäßen Wahl auf, die sie – so legten sie nahe – im Wahlhergang befolgt hatten. Denn für die jährliche Erneuerung der repúblicas de indios galt: Eine Gemeinderatskomission ist nicht notwendig; die Bevölkerung wird nicht gezählt; es wird keine erste Versammlung der Wahlmänner abgehalten; man unterscheidet nicht zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern; es werden keine Alcaldes ordinarios gewählt, sondern Gobernadores.334
331 332 333
334
Ebenda. Zitate: „extraviadas ideas“. Ebenda. Zitate: „hombres mal intencionados“. Ebenda. Zitate: „que ni eramos, ni habiamos sido jamás Ayuntamiento; sino [...] unos miserables mal aconsejados Republicanos Yndios“; „para crear entre nosotros un verdadero Ayuntamiento constitucional“; „y si esto es asi nosotros estamos erigidos en verdadero Ayuntam[ien]to y nuestros Alcaldes se hallan facultados con una Jurisdiccion ordinaria“. Ebenda. Zitat: „no es menester comision de Ayuntamiento: no se calcula el vecindario: no se hace primera junta de Electores: no se hace distincion entre ciudadanos, y no ciudadanos: ni se eligen Alcaldes ordinarios, sino Governadores.“
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Die verfassungsgemäße Durchführung der Wahlen hatte im Verständnis der Bewohner Tianguismanalcos den Status des Gemeinderats neu definiert. In ihren Augen hatte sich die república de indios in einen konstitutionellen Gemeinderat verwandelt. Sie waren zudem der Überzeugung, der subdelegado wolle nicht, dass sie von den „Wohltaten, die uns die Verfassung zuteil werde lässt“ profitierten. Sie schrieben: Wir sehen uns auf beschämende Art hinabgestürzt von der hohen Ehre spanischer Bürger, die uns die Nation zuteil werden ließ, auf den hündischen Status von ein paar elenden Indios: und vom Ruhm eines konstitutionellen Gemeinderats zu der Schande ein paar schlecht beratener Republicanos.335
Sie forderten ihn auf zu entscheiden, dass sie ein wirklicher ayuntamiento seien, und auch der subdelegado solle angehalten werden, sie in Zukunft wie einen wirklichen ayuntamiento zu behandeln und nicht mehr wie eine república. Die Berater des jefe político superior gaben den Indigenen von Tianguismanalco im Juli Recht, ihr Rat sollte als konstitutioneller Gemeinderat anerkannt werden. Daher seien die alcaldes im Konflikt um den Umgang mit einer Straftat in ihrer Gemeinde durchaus im Besitz der erforderlichen Befugnisse gewesen. Die spanische Staatsbürgerschaft wurde seitens der Indigenen Tianguismanalcos in erster Linie vor dem Hintergrund der korporativen Ordnung interpretiert. Die Gemeinde galt den Indigenen als Korporation, deren Status sich durch die neue Verfassung gewandelt hatte. Die Verwandlung der indigenen repúblicas in ayuntamientos wurde in Analogie zur Gleichstellung von Indigenen und Spaniern gesehen. Dies war besonders plausibel, da die neuen konstitutionellen Gemeinderäte genau so bezeichnet wurden wie zuvor stets die Räte der spanischen villas genannt worden waren, nämlich als ayuntamientos. Die Indigenen sahen in der Errichtung eines ayuntamiento somit eindeutig einen Gewinn an Rechten. Hier ist allerdings anzumerken, dass spanischstämmige Eliten in Städten einen ähnlichen Bezug zu ihren Städten als Korporationen hatten. Beispielsweise meinte der Stadtrat von Pátzcuaro (Michoacán) Ende des Jahres 1824, die Stadt sei „zu einem Pueblo herabgewürdigt“ und beklagte die „ungerechte Gleichheit“. Er forderte für Pátzcuaro einen besonderen Rang innerhalb der Provinz.336 Während einige Gemeinden also die Gleichstellung aller Gemeinderäte begrüßten, beklagten andere sie, jedoch interpretierte man die neue rechtliche 335
336
Ebenda. Zitate: „beneficios, que nos dispensa la Constitucion“; „nos vemos precipitados vergonzosamente desde el alto honor de Ciudadanos Españoles, que tan generosamente nos dispenso la nacion, [...] hasta el vil estado de unos miserables Indios: y desde la gloria de Ayuntamiento Constitucional, hasta la infamia de unos mal aconsejados Republicanos.“ Zit. nach Serrano Ortega, Jerarquía territorial, 2002, S. 251. Zitate: „reducido a la clase de pueblo“; „injusta igualdad“.
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Gleichheit in Tianguismanalco 1812 wie auch in Pátzcuaro 1824 vor dem Hintergrund der Zugehörigkeit zu einer korporativ verfassten Gemeinde. Den Bewohnern Tianguismanalcos ging es allerdings nicht nur um die symbolische Ebene dieser Gleichstellung, sondern sie sahen in der Errichtung ihres eigenen ayuntamiento die Möglichkeit, sich gegenüber Atlixco und dessen ayuntamiento zu emanzipieren und sich dem Zugriff des subdelegado zu entziehen. In dem neuen Rat sahen die Indigenen Tianguismanalcos, und gerade die indigene Elite, einen Gewinn an Autonomie. Ihr Interesse an der Umsetzung der konstitutionellen Normen lässt sich damit begründen, dass hier fast ausschließlich indigene Bevölkerung lebte. Die indigenen Eliten hatten also keinen Machtverlust zugunsten nicht-indigener Akteure zu befürchten. Die Vorstellung, die allgemeine Staatsbürgerschaft impliziere auch eine rechtliche Gleichstellung zwischen Gemeinden, zeigt, dass die Staatsbürgerschaft vor dem Hintergrund der korporativen Ordnung interpretiert wurde. Claudia Guarisco wies für das Valle de México bereits nach, dass indigene Gemeinden in der konstitutionellen Phase bemüht waren, in den ihnen übergeordneten Räten repräsentiert zu sein. So durften in indigenen Gemeinden in den Jahren 1813–1814 die verschiedenen dem Rat untergeordneten Ortsteile, die barrios und pueblos, bei den Wahlen je einen Wahlmann bestimmen. Die Ämter wurden aber unabhängig von der Gemeindezugehörigkeit vergeben.337 In den Jahren 1820–1821 fungierten indigene Ratsherren oft als Repräsentanten bestimmter Gemeinden oder Ortsteile.338 Hinter den Bemühungen, eigene Verwaltungsstrukturen aufrechtzuerhalten und sich die Repräsentation in den übergeordneten Räten zu sichern, standen nicht nur die lange Tradition der Selbstverwaltung in vielen indigenen Gemeinden, sondern auch ökonomische Interessen. Laut Escobar Ohmstede erhielt die indigene Bevölkerung der Huasteca bis in die 1840er-Jahre, unterhalb der Ebene der ayuntamientos eigene Verwaltungs- und Repräsentationsstrukturen aufrecht.339 Auch Michel Ducey beobachtet in der Huasteca das Fortbestehen indigener Verwaltungsstrukturen unterhalb der ayuntamientos.340 Laut diesen Autoren gelang es den Gemeinden so, die Kontrolle über Ressourcen, insbesondere Land, zu verteidigen. Die Repräsentation in den ayuntamientos war 337 338 339
340
Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 139-140. Vgl. ebenda, S. 178. Vgl. Escobar Ohmstede, Del gobierno, 1996, S. 24. Der Autor stellt zudem heraus, dass es indigenen Gemeinden gelang, ihre Ländereien gegen die Einflussnahme der neuen Räte zu verteidigen: Escobar Ohmstede, Antonio: Los pueblos indios huastecos frente a las tendencias modernizadoras decimonónicas, in: Antonio Escobar Ohmstede/Raymond Buve/Romana Falcón (Hrsg.), Pueblos, comunidades y municipios frente a los proyectos modernizadores en América Latina, siglo XIX, San Luis Potosí 2002, S. 169–205, insb. S. 177-179. Vgl. Ducey, Indian Communities, 2001, insb. S. 531-532; Ducey, A Nation, 2004, S. 97-106.
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zudem wichtig, da hier auch über die Verwendung von Geldern und beispielsweise den Bau von Schulen und weitere wichtige Fragen entschieden wurde. Bewohner der indigenen Gemeinde Atzacualoya richteten daher 1828 einen Brief an den Gouverneur des Estado de México und beklagten sich über den Ausgang der Gemeinderatswahlen in Chilapa (im heutigen Bundesstaat Guerrero).341 Nach ihren Worten hatte die Gemeinde über 3000 Einwohner, und obwohl sie an den Wahlen teilgenommen hatten, sahen sie sich im neuen Rat Chilapas nicht repräsentiert. Den Bewohnern Chilapas sei es aufgrund der Größe der Gemeinde gelungen, so viele Stimmen zu sammeln, dass sie die Wahlmänner und damit auch „den Alcalde und die Regierenden für unsere Gemeinde“ bestimmen konnten.342 Die Formulierung spricht dafür, dass Ratsmitglieder bisher als Repräsentanten einzelner Gemeinden betrachtet worden waren. Der neue alcalde Agustín Guillermo kümmerte sich gemäß ihrer Darstellung nur um die cabecera: „er empfindet keine Zuneigung für eine Gemeinde, für die er sich nicht zuständig fühlt“.343 Ihre Gemeinde sei drei Meilen von Chilapa entfernt. Deshalb fragten sie: „Auf Grundlage welchen Wissens sollen sie wählen, und welche Liebe werden die Gewählten für eine Gemeinde empfinden, in der sie nicht leben, und von der sie zwar Naturales, aber keine Vecinos sind?“344 Sie waren überzeugt, dass die Bewohner Chilapas aufgrund der Entfernung nicht in der Lage waren, geeignete Personen auszuwählen, die für ihre Gemeinde zuständig sein könnten; außerdem würden sich die neuen Amtsträger nicht angemessen um die Gemeinde kümmern, wenn sie nicht dort lebten. Agustín Guillermo komme nie nach Atzacualoya, weder zur Messe noch sonst. Wer die dortigen Bräuche und Laster nicht kenne, könne dort auch nicht für Ordnung sorgen. Aus diesem Grund schlugen sie eine Veränderung der Wahlpraxis vor. Ihre Gemeinde solle ihre eigenen Wahlmänner wählen dürfen, die dann die für die Gemeinde zuständigen Amtsinhaber wählen sollten.345 Sie sollten anschließend dem Rat von Chilapa hinzugefügt werden. Sie begründeten dieses Modell der Gemeinderepräsentation wiederum damit, dass man die lokalen Gegebenheiten kennen müsse. Darüber hinaus bestanden sie darauf, dass die für die Gemeinde zuständigen Amtsinhaber aus den ansässigen vecinos ausgewählt werden sollten. Es sollten auf keinen Fall Personen sein, die in anderen Gemeinden lebten, und 341 342 343 344 345
„Asacualoya. Los vecinos quejandose de infracciones en las Elecciones verificadas en Chilapa […]“ (1828), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 12, exp. 22. Ebenda. Zitat: „Alc[ald]e y gobernantes para nuestro Pueblo“. Ebenda, f. 3-3v. Zitate: „no tiene amor a vecindad q[ue] no le toca“. Ebenda, f. 3-3v. Zitate: „¿Que conocim[ien]to tendran p[ar]a elegir, ni los elegidos q[ué] amor a un Pueblo q[ue] no habitan y q[ue] aunq[ue] son naturales no son vecinos de él?“ Ebenda. Die Rede war von „nuestro Alc[ald]e conciliador, Regidores y Sindicos q[ue] nos toque“.
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zwar selbst dann nicht, wenn sie aus der Gemeinde stammten.346 Personen, die vecinos einer anderen Gemeinde waren, unterstellten sie, dass sie die Gemeinde nicht liebten und daher nicht in ihrem Sinne handeln würden. Eine angemessene Regierung der Gemeinde setzte außerdem Kenntnisse der lokalen Bedingungen und seiner Bevölkerung voraus. Die Aufrechterhaltung der indigenen Selbstverwaltungsstrukturen war auch im Interesse der Gemeinderäte, die diverse Ortschaften zu verwalten hatten. So überlegte man 1820 in Ixtlahuaca (heute Estado de México), in indigenen Gemeinden indigene Vertreter dieser Gemeinden wählen zu lassen, und zwar zusätzlich zum ayuntamiento. Sie würden schließlich die ansässigen Familien kennen und könnten die Verwaltung durch den Rat erleichtern.347 Wie der Präfekt von Toluca im Februar 1831 berichtete, war es hier Praxis, dass Gemeinden ohne eigenen Rat selbst eine Art Aufseher wählten.348 Es handelte sich hierbei um Ämter, die zusätzlich zum Rat jährlich gewählt wurden und die, wie aus der aufschlussreichen Darstellung des Präfekten hervorgeht, Funktionen des Rats in den indigenen Gemeinden übernahmen: Seitdem im Jahr 1820 die Gemeinderäte errichtet wurden, war es Brauch, dass die Vecinos der indigenen Gemeinden sich versammelten und vor dem konstitutionellen Alcalde ihres Gemeinderats im Januar eines jeden Jahres, durch Abstimmung eine Person aus jeder Gemeinde ernannten, die als Auxiliar oder Celador fungieren sollte; deren Befugnisse umfassten nur, über die Ordnung in der Gemeinde zu wachen, Verbrecher und Deserteure festzunehmen und sie zu dem entsprechenden alcalde zu schicken, […] zu berichten, was sich ereignete, wovon sie hörten oder erfuhren, was in den Gemeinden passierte; sie haben außerdem die Aufgabe, Eintreiber der Contribución directa zu sein, [der Abgabe für] die Bürger-Milizen, und wenn die Regierung es so will, auch die Einziehung von Spenden oder Anleihen durchzuführen, wobei die Gemeinschaft der Vecinos verantwortlich dafür ist, all jene Beträge bereitzustellen, die der Gewählte veruntreue und die für die genannten Zwecke sind.349 346 347 348
349
Ebenda, f. 3v-4. Ricardo Flores an Ramon Gutiérrez de Mazo (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 170, exp. s/n. „Toluca. El S. Prefecto sobre si podrá permitir se haga por los Indigenas [...] el nombramiento de sugetos [...] que ejerzan las funciones de auxiliares y recaudadores de las contribuciones segun ha sido costumbre“ (1831), AHEM, Gobernación, Prefecturas, vol. 3, exp. 4. Ebenda. Zitat: „Desde q[ue] se instalaron los Ayuntamientos en el año de 1820 se há tenido p[or] costumbre q[ue] los vecinos de los Pueblos de Indigenas se han reunido y ante el Alcalde Constitucional de su Municipalidad en Enero de cada año, p[o]r votacion han nombrado sujeto de cada uno de los Pueblos q[ue] en él ejersa las funciones de auxiliar ó celador, cuyas facultades se estrechan á solo cuidar del orden del Pueblo, aprender criminales y desertores y remitirlos al respectivo Alcalde, [...] dando parte de cuanto ocurra, vean ó sepan q[ue] sucede en sus Pueblos; á mas tienen el encargo de
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Nun hatten einige Räte gegen den zehn Jahre alten Brauch gehandelt und selbst die entsprechenden Amtsträger bestimmt, was Beschwerden der untergeordneten indigenen Gemeinden gegenüber dem Präfekten hervorgerufen hatte. Auch der Präfekt konnte den Bruch der zehn Jahre alten Tradition nicht gutheißen, denn er lobte die bisherige Praxis in höchsten Tönen. Die Indigenen würden sich gern den auxiliares unterordnen, es gebe nur wenig Unordnung, Anweisungen von oben würden schneller ausgeführt und die Steuern (contribución) würden pünktlich eingetrieben und weitergegeben. Vor allem den letzten Punkt betonte er: In den Rechnungsbüchern der Räte sei zweifelsfrei zu erkennen, dass kaum eine indigene Gemeinde den Räten noch Geld schuldete, und zwar aufgrund des Umgangs der Gemeinden mit der contribución: Der von ihnen gewählte Eintreiber werde nicht aus dem Amt entlassen, bis er das Geld nicht vollständig entrichtet habe. Im Fall eines Bankrotts des Eintreibers stünde der común dafür gerade. Die Indigenen hatten dem Präfekten zu verstehen gegeben, dass sie in Zukunft nicht mehr für ausfallende Abgabenzahlungen geradestehen würden. Der Gouverneur des Bundesstaats hielt die Wahl der Gehilfen durch die indigenen Gemeinden für äußerst nützlich, musste aber einsehen, dass es kein Gesetz gab, das diese Praxis rechtfertigte. Damit waren die Gemeinderäte prinzipiell befugt, ihre Gehilfen selbst zu bestimmen. Allerdings brachte er einen Gesetzesvorschlag in den Kongress ein, der die Wahl eines derartigen Gehilfen durch die pueblos vorsah. Die Provinzdeputation México hatte ganz ähnlich bereits im November 1821 gegenüber dem jefe político erklärt, dass sie die Installierung derartiger Ämter unterhalb der ayuntamientos als sinnvoll erachte.350 Diese Belege sprechen dafür, dass in manchen Regionen der Provinz bzw. des Bundesstaats México ein beträchtlicher Anteil der Verwaltungsaufgaben der ayuntamientos von Amtsträgern ausgeführt wurde, die in der Verfassung gar nicht vorgesehen waren. Vermutlich hatten derartige Arrangements gerade während der föderalen Phase besondere Bedeutung, da die bundesstaatlichen Verfassungen, im Vergleich zur Verfassung von Cádiz, nur noch wenigen Gemeinden eigene Räte zugestanden. Durch die informelle Aufrechterhaltung von lokalen Verwaltungsstrukturen wurden so Probleme gelöst, die man in Oaxaca und Yucatán durch die Erhaltung oder Schaffung der repúblicas zu lösen versucht hatte. Yucatán griff wie erwähnt während der föderalen Phase zumindest zu Zwecken der Steuereinziehung wieder auf indigene repúblicas zurück und Oaxaca gab kleinen Gemeinden die Möglichkeit, eigene Räte zu errichten. Regierung
350
recaudadores de contribucion directa, de milicia civica, y cuando lo tiene á vien el Gobierno verifiquen la recaudacion de donativo ó prestamos, siendo el comun de vecinos responsables á satisfacer p[o]r el electo todas aquellas cantidades q[ue] defraude pertenecientes á los objetos indicados.“ Vgl. Noriega Elío, Cecilia: La Diputación Provincial de México. Actas de sesiones, 18211823, México, D.F. 2007, S. 80.
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und Verwaltung des Estado de México waren also ähnlich wie andere Bundesstaaten auf die Kooperation der indigenen Bevölkerung und das Funktionieren der sozialen Hierarchien innerhalb ihrer Gemeinden angewiesen. Dieser Rückgriff auf indigene Verwaltungsstrukturen unterhalb der ayuntamientos war auch im Sinne indigener Gemeinden, da sie sich hierdurch gegenüber den ayuntamientos repräsentieren konnten und in gewissem Maße Einfluss auf diese nehmen konnten. Hierfür spricht die Tatsache, dass Gemeinden bisweilen darauf bestanden, selbst die für sie Zuständigen celadores oder auxiliares zu wählen. Die detaillierte Schilderung der Konfliktfälle zwischen indigenen und nichtindigenen Akteuren zeigt, dass es zu kurz gegriffen wäre, diese Konflikte als Konfrontation zwischen zwei weitgehend homogenen Gruppen zu sehen. Indigenität war vielmehr ein politisches Argument. Akteure verwendeten es, um Forderungen nach politischer Repräsentation auf lokaler Ebene zu legitimieren. Die Selbstbezeichnung der Indigenen lautete hier naturales, zumindest dann, wenn es sich um eine kollektive Selbstbezeichnung handelte. Sie bezogen sich also auf den Status der Indigenen als naturales Amerikas, der während des Antiguo Régimen implizierte, zu den Untertanen der Krone zu gehören. Außerdem schwang in dieser Kategorie die Bedeutung mit, naturales der konkreten Gemeinde zu sein, d.h. aus der Gemeinde selbst zu stammen. Auf die Kategorie indio nahmen hingegen nur die Indigenen in Aculco Bezug, als sie die gesetzliche Abschaffung der Kategorie hervorhoben, wie auch Andrés Francisco, der in Xicotepec deutlich seine Aversion gegen die neue Gleichheit der spanischen Staatsbürger zum Ausdruck brachte. Indigene interpretierten die im konstitutionellen System verankerte rechtliche Gleichheit nicht nur als Veränderung ihres Status als Individuen, sondern auch als Statusveränderung ihrer Gemeinden. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur für indigene Gemeinden beobachten, aber ohne Zweifel war es ein Resultat der kolonialzeitlichen Verfasstheit in repúblicas. Indigene wollten ihre Gemeinden aus demselben Grund in übergeordneten konstitutionellen Räten repräsentiert wissen. Dieses Anliegen lag nicht nur in ihrem Interesse, sondern erleichterte auch die Verwaltung durch die Räte. Ayuntamientos bauten daher häufig auf die informell fortbestehenden Selbstverwaltungsstrukturen indigener Gemeinden.
b) Die Aneignung liberaler Argumente
An einigen der behandelten Konfliktfälle um politische Repräsentation zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren wird bereits deutlich, dass Indigene von ihrem Status als Staatsbürger wussten und sich in politischen Konflikten auch auf diesen bezogen. An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, wie sich indigene Akteure ihren Status als Bürger und die Argu-
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mente politischer Eliten zunutze machten, um Interessen durchzusetzen und Rechte geltend zu machen. Einige liberale Autoren des frühen 19. Jahrhunderts bemühten sich, die rechtlichen Neuerungen des liberalen Systems unter der Bevölkerung zu verbreiten. Gerade die indigene Bevölkerung sollte scheinbar über ihren neuen rechtlichen Status als Staatsbürger in Kenntnis gesetzt werden. So wurde die indigene Bevölkerung in zwei gedruckten Pamphleten des Jahres 1820 als eine unterdrückte Gruppe innerhalb Neuspaniens bzw. Mexikos dargestellt, die durch die Verfassung von Cádiz befreit wurde. El indio constitucional erschien offenbar bald nach dem erneuten Inkrafttreten der Verfassung von Cádiz und wurde in der Druckerpresse von Alejandro Valdés in Mexiko-Stadt gedruckt.351 Der anonyme Autor richtete sich an die „Indios des nördlichen Amerikas“ und hob hervor, dass die Verfassung vor allem für die indios eine große Errungenschaft sei.352 Die Rede war von „Eurem Vaterland“, womit offenbar Neuspanien gemeint war.353 Nach Auffassung des Autors waren die Indigenen durch die spanische Herrschaft der „Rechte, die Euch die Natur gab“ beraubt worden und diese Rechte wurden ihnen durch die Verfassung von Cádiz zurückgegeben.354 Dieselbe Druckerpresse brachte im gleichen Jahr ein Pamphlet mit dem Titel Consuelos a los indios y aliento a los ciudadanos heraus.355 An die „Indios, meine Brüder“ gerichtet, schrieb hier ein anonymer Autor über die neue Verfassung, nach der die Indigenen nun als „rationale Wesen“ eingestuft würde.356 Nun würde nicht mehr diskutiert, „ob Ihr Menschen seid, ob Ihr eine neue Spezies seid, ob Ihr … [sic.] eine Fehlgeburt der menschlichen Natur seid. Nun seid Ihr Bürger.“357 Amerika wurde als „Euer geliebtes Vaterland“ bezeichnet.358 Der Autor zählte diverse Errungenschaften auf, für die in seinen Augen die Verfassung stand. Neben dem Verbot der Peitschenstrafe erwähnte er, dass nun alle Arbeiten, die seitens der Priester eingefordert würden, bezahlt werden müssten. Zu Abgaben an die Pfarreien seien die Indigenen zwar weiter verpflichtet, jedoch nicht als indios, sondern als Bürger. Der Autor erklärte darüber hinaus ausführlich viele weitere Neuerungen des konstitutionellen Systems wie bei-
351 352 353 354 355 356 357 358
El indio constitucional, Impreso en la oficina de D. Alejandro Valdes: Méjico 1820. Ebenda, S. 1. Zitate: „Indios de la América Septentrional“. Ebenda, S. 1. Zitate: „vuestra pátria“. Ebenda, S. 3. Zitate: „derechos que os concedio la naturaleza“. Consuelos a los indios y aliento a los ciudadanos, En la imprenta de D. Alejandro Valdes: Mejico 1820. Ebenda, S. 1. Zitate: „Indios hermanos mios“; „séres racionales“. Ebenda, S. 1. Zitat: „si sois hombres, si sois una nueva especie, si sois …, un aborto de la humana naturaleza. Ya sois ciudadanos.“ Ebenda, S. 1. Zitat: „vuestra amada pátria“.
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spielsweise die Aufhebung des Verbots für die indigene Bevölkerung Waffen zu tragen.359 Das 1822 nach der Unabhängigkeit erschienene Pamphlet Sentimientos de un indio independiente a los ciudadanos de su clase stammte ebenfalls aus der genannten Druckerpresse.360 Es sprach als Adressaten die indios des nördlichen Amerikas an, die so lange durch die alte despotische Regierung unterdrückt worden seien. Schließlich hätten sie die Freiheit wieder erlangt, nach der sie sich „wie alle Nationen der Erde“ gesehnt hätten.361 Der Autor hob vor allem hervor, dass die Bildung und „Aufklärung“ der indigenen Bevölkerung in der spanischen Kolonialherrschaft nicht gefördert worden seien, sondern nur die der Spanier.362 Der regierende Agustín de Iturbide sollte sich des Problems annehmen. Er verdammte in diesem Kontext die Diskussionen des 16. Jahrhunderts um die Vernunft der indigenen Bevölkerung und stellte dagegen die Errungenschaften der prähispanischen Zivilisationen heraus. Gebildet würden die Indigenen zum Ruhm des mexikanischen Imperiums beitragen.363 Zwar ging der Autor nicht auf die Rechte der Indigenen ein, aber er machte deutlich, dass die Unabhängigkeit vor allem für die Indigenen ein Befreiungsschlag war. Die Bildung der Indigenen musste in seinen Augen durch die Regierung gefördert werden und sollte letztlich der ganzen Gesellschaft zugutekommen. Die im konstitutionellen System festgeschriebenen Rechte wie auch die Darstellung der Unabhängigkeit als Befreiungsschlag für die Indigenen Amerikas blieben nicht ohne Folgen in den indigenen Gemeinden Mexikos. Menschen in indigenen Gemeinden wussten sich schon früh auf Basis der neuen Gesetzgebung gegen Gewaltanwendung und die Einforderung von Dienstleistungen seitens lokaler Amtsträger zu wehren, wofür es im Archivo Histórico Judicial de Oaxaca zahlreiche Belege gibt. Für Indigene in Oaxaca war das Verbot von Peitschenhieben eine einschneidende Errungenschaft, die eng mit der Staatsbürgerschaft assoziiert wurde. Die Peitschenstrafe galt als typisch für indigene Gemeinden.364 Beispielsweise ging 1822 ein Mann aus Miltepec namens Ignacio Herrera gegen den alcalde der nahegelegenen Gemeinde Suchitepec vor. Der alcalde hatte Herreras Cousin Mariano auspeitschen lassen.365 Man habe ihm „die Ausübung der Bürger[rechte]“366 genommen. Der alcalde habe die Gesetze der 359 360 361 362 363 364 365 366
Ebenda, S. 3-4. Sentimientos de un indio independiente a los ciudadanos de su clase, Imprenta imperial de D. Alexandro Valdés: México 1822, S. 5, 11-12. Ebenda, S. 1. Zitat: „como todas las naciones de la tierra“. Ebenda, S. 5. Zitat: „ilustracion“. Vgl. ebenda, S. 11-12. Vgl. Guarisco, Los indios, 2003, S. 141. „Criminal contra Don Gregorio de Santiago Alc[al]de constitucional de Suchitepec […]“ (1822), AHJO, Huajuapan, Criminal, leg. 2, exp. 5. Ebenda. Zitat: „los Exercicios de ciudadano“.
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Verfassung gebrochen, denn kein Bürger dürfe mit Peitschenhieben bestraft werden. Während des Vollzugs der Peitschenstrafe sei außerdem der Primarschullehrer der Gemeinde eingeschritten und habe gegenüber dem alcalde und seinen Anhängern gesagt, dass sie ihn nicht auspeitschen dürften, „denn er war in Besitz des Bürgerrechts“.367 Auf diesen Einwand hatte der síndico der Gemeinde laut Darstellung Ignacio Herreras reagiert, indem er einen Erlass zur Hand nahm und vorgab, dass dieser die Peitschenstrafe wieder legalisierte. Mariano Herrera hatte angesichts der vorgeblichen Legalisierung der Peitschenstrafe eingewilligt, die Strafe über sich ergehen zu lassen. Ignacio Herrera forderte nun aufgrund dieses Vorgangs die Bestrafung des alcalde, damit diese all den anderen Gemeinden als Beispiel diene, wo immer noch der Brauch der Peitschenhiebe herrsche.368 Die Kategorie des ciudadano wurde offenbar eng mit den bürgerlichen Rechten des Individuums verknüpft. Ein Hacienda-Arbeiter, der 1826 den Verwalter der Hacienda de la Compañía (Ocotlán) anzeigte, nachdem er von diesem ausgepeitscht worden war, berief sich in dem von ihm selbst verfassten Brief auf die republikanische Regierung und schrieb: ich habe verstanden, dass unsere klugen Gesetze und die [kluge] republikanische Regierung glücklicherweise die von den Tyrannen erfundenen Strafen abgeschafft haben, aber ich stöhne heute und komme auf Eure Exzellenz zu, der ich grausam mit fünfzig oder mehr Peitschenschlägen bestraft wurde […].369
Mit dem Wort Tyrannen bezog sich der Mann offenbar auf die Spanier und verstand das Verbot der Freiheitsstrafe so vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit von Spanien. In der Vernehmung gab er an, der Verwalter habe, bevor er ihn auspeitschte, außerdem ausgerufen: „heute werde ich dich mit Peitschenhieben aufspalten, mal sehen, ob die Verfassung sie Dir nimmt“.370 Der Ausruf des Verwalters macht deutlich, dass in den republikanischen Gesetzen, für die 367 368
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Ebenda. Zitat: „pues gozaba el fuero de ciudadano“. Ebenda, fs. 1-2. Allerdings wurde der 60-jährige alcalde, der des Spanischen kaum mächtig war, mit äußerster Milde behandelt. Aufgrund der vermeintlichen „natural estupidez“ dieser Leute und der fehlenden Spanischkenntnisse war der den Fall beurteilende asesor in Huajuapan der Meinung, dass der alcalde lediglich ermahnt werden sollte. Ebenda, fs. 3v, 8v. „Contra el administrador de la Hacienda de la Compania Angel Zabaleta por los azotes que infirió a George Palacios […]“ (1826), AHJO, Ocotlán, Criminal, leg. 1, exp. 2; hier: fs. 1. Zitat: „[…] q[u]e teniendo entendido q[u]e n[ues]tras savias leyes y gov[ier]no republicano han desaparecido felizm[en]te los castigos inventados p[o]r los tiranos mas yo gimo hoy y me presento á V[uestra] E[xcelencia] cruelmente castigado con cinquenta ó mas azotes […].“ Ebenda, f. 8. Palacios wurde vorgeworfen eine bei dem Hacienda-Verwalter und seiner Frau aufgewachsene junge Frau vergewaltigt zu haben, was er jedoch bestritt: fs. 7-8, 10v-11. Zitat: „hoy te he de rajar á azotes haver si la Constitucion te los quita“.
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hier stellvertretend die Verfassung stand, eine Schutzfunktion für das Individuum gesehen wurde. Im selben Jahr (1826) wehrte sich der Bürger Lorenzo Rafael der Gemeinde Magdalena (Huajuapan) gegen die Festnahme und Peitschenhiebe seitens eines Ratsherrn.371 Dieser habe „ohne Furcht vor dem Gesetz noch vor meinem Recht gehandelt“.372 Er bezog sich auf „das Buch des königlichen Befehls der föderalen Verfassung“, um seiner Auffassung, dass Peitschenschläge verboten seien, Nachdruck zu verleihen.373 Die Bezeichnung der Verfassung als einen „königlichen Befehl“ zeigt wiederum, dass die Funktion der Verfassung in gewisser Weise ähnlich war wie die des Königs. Wie der König die gerechte Handlung der Untertanen garantieren sollte, erfüllte die Verfassung diese Funktion für die Staatsbürger. In der Gemeinde Santa María Coatlán (Lachixila, Yautepec, Oaxaca) beschwerten sich zwei Männer, die sich als naturales und vecinos der Gemeinde bezeichneten, 1831 über das Verhalten des alcalde.374 Nach ihrer Darstellung hatte der alcalde sie beauftragt, in Oaxaca-Stadt etwas für sie abzuholen. Ihre Weigerung beantwortete er mit physischer Gewalt, u.a. Peitschenhieben, und versuchte, sie ins Gefängnis zu sperren. In dem von einem Schreiber oder Juristen verfassten Brief schrieben sie: „wir zahlen Contribución und müssen niemandem ohne Entlohnung dienen“.375 Indem sie die contribución erwähnten, wiesen sie auf die Erfüllung ihrer Bürgerpflichten hin. Daher konnte der alcalde sie nicht zwingen, für ihn zu arbeiten. Indem sie ihrer Abgabenpflicht an den Staat nachkamen, erfüllten sie ihre Bürgerpflichten und sahen sich daher auch legitimiert an, auf ihren Rechten zu bestehen. Die Zahlung der contribución wurde offenbar – ähnlich wie der kolonialzeitliche indio-Tribut – als Gegenleistung für staatsbürgerliche Rechte gesehen. Allerdings war diese Interpretation nur allzu verständlich, denn in Vernehmungen mussten befragte Personen in Oaxaca während der föderalen Phase stets angeben, ob sie die Pflichten eines Bürgers erfüllten, wozu Steuerzahlung, Teilnahme an den Wahlen auf Pfarreiebene und Dienst in den Milizen gehörten.376 Steuerzahlung war also nicht nur aus Sicht der Indigenen ein zentrales Element der Staatsbürgerschaft. 371 372 373 374 375 376
„Lorenzo Rafael casado con Antonio Maria […]“ (1826), AHJO, Huajuapan, Criminal, leg. 03, exp. 21. Ebenda. Zitat: „sin temor a la Ley ni de mi derecho“. Ebenda. Zitat: „el Livro del rrial Mandato de la Constitucion Federada“. „Los CC. Juan José Guzmán y Domingo Guzmán …“ (1831), AHJO, Yautepec, Criminal, leg. 11, exp. 18. Ebenda. Zitat: „[…] nosotros pagamos contribucion y no devemos servir a ninguno de valde“. So wurde im Protokoll der Zeugenbefragungen z.B. festgehalten ,“paga contribucion, asiste a las Elecciones parroquiales, y no esta alistado en la milicia cívica por no haberla
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„Die República, der Común und die Naturales“ von Lachixonace (Yautepec, Oaxaca) warfen dem für die Kirchenabgaben zuständigen Kollektor 1833 vor, er übergehe „die kostbaren Rechte, derer wir uns als wirkliche Bürger erfreuen“.377 Unter anderem behaupteten sie in ihrem Schreiben gegenüber dem zuständigen Richter, dass der Kollektor zu viele Abgaben von ihnen fordere und im Fall von Widerstand sogar einige Bewohner ins Gefängnis gesperrt habe. Er attackiere ihre Rechte und es liege auf der Hand, dass dieser nicht befugt sei, Bürger ins Gefängnis zu sperren. An diesen Fällen wird deutlich, dass die Kategorie ciudadano und die Errichtung des konstitutionellen Systems im Verständnis der Bevölkerung eng mit der Garantie bürgerlicher Rechte verbunden waren. Bürger zu sein bedeutete viel mehr als die Zuerkennung der neuen politischen Rechte. So wurde das Verbot der Peitschenstrafe auch eindeutig als Neuerung des konstitutionellen Systems betrachtet. Der genannte Hacienda-Arbeiter assoziierte das Verbot der Peitschenstrafe außerdem mit der Unabhängigkeit von Spanien, obwohl das Verbot bereits von den spanischen Cortes 1813 beschlossen worden war.378 Gleichzeitig wurde zwischen dem konstitutionellen System und den Autoritäten des Antiguo Régimen eine gewisse Kontinuität gesehen, denn sie standen für den Schutz der bürgerlichen Rechte. Der Verweis auf die föderale Verfassung als „königlichen Befehl“ legt nahe, dass diese als Autorität an die Stelle des Königs getreten waren. Dafür spricht auch die oben bereits genannte Formulierung der Indigenen aus Aculco, die den amtierenden alcalde 1820 um die Zuerkennung eines eigenen alcalde baten: „wir richten die Bitte an die Verfassung und die spanische Monarchie, dass sie uns diese Gunst und Gnade zugestehen möge“.379 Wenn Indigene sich auf bürgerliche Rechte beriefen, identifizierten sie sich nicht explizit als Indigene, sondern vor allem als ciudadanos. Denn die Abschaffung der Peitschenstrafe und der Einforderung unbezahlter Dienstleistungen gehörten in der Tat zu den Neuerungen des konstitutionellen Systems und widersprachen der bisherigen Praxis in indigenen Gemeinden. Die Kategorie ciudadano wurde hier verwendet, um sich gegen Praktiken zu wenden, die in indigenen Gemeinden verbreitet waren. In kollektiven Repräsentationen bezeichneten Indigene sich häufig explizit als solche, indem sie für gewöhnlich die
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en su pueblo“, oder „cumple con los D[e]r[e]chos de ciud[adan]o menos con ser cibico p[o]r no haberlos en su Pueblo“. „Lorenzo Rafael casado con Antonio Maria […]“ (1826), AHJO, Huajuapan, Criminal, leg. 03, exp. 21, hier: fs. 2v-3v. „Representacion del pueblo de Lachixunaxi contra receptor Don Joaquin Noriega“ (1833), AHJO, Yautepec, Criminal, leg. 12, exp. 17. Zitat: „republica[,] comun y naturales“; „los preciosos derechos que gosamos como unos berdaderos ciudadanos“; Decreto CCXCIX de 8 de setiembre de 1813, in: Colección, 1987, Bd. 1. „Renovaz[ió]n de Ayuntam[ien]tos. Tasquillo y Aculco“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, s/e, s/f. Zitat: „suplicamos a la Costitusion y Monarquiya Española nos conseda esta gracia y Merced“.
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Selbstidentifizierung naturales verwendeten, wenn sie sich gegenüber der Regierung präsentierten. Häufig verband die Selbstbezeichnung sich jedoch mit den neuen liberalen Konzepten, insbesondere der Kategorie des ciudadano. So dokumentierte Peter Guardino für Oaxaca in den 1830er- und 40er-Jahren viele Fälle, in denen Vertreter indigener Gemeinden sich selbst als Bürger bezeichneten und zugleich Kategorien zur Selbstbezeichnung verwendeten, die das Selbstverständnis als república de indios deutlich machten.380 Matthew O’Hara stellte für Zentralmexiko dar, wie indigene Akteure in politischen Aushandlungen nach der Unabhängigkeit sich einerseits kolonialzeitliche Kategorien zuschrieben und gleichzeitig die Normen der Verfassung verwendeten. O’Hara versteht diese Kombination aus alten und neuen Konzepten als eine politische Strategie indigener Akteure.381 Auch Michael Ducey stellte die Vermischung traditioneller und liberaler politischer Konzepte in Argumentationen indigener Akteure des 19. Jahrhunderts heraus.382 Eine ähnliche parallele Verwendung von alten und neuen politischen Argumentationsmustern und Konzepten lässt sich in einer Eingabe der Gemeinde Coahuayutla von 1829 beobachten.383 Die Gemeinde war offenbar 1825 dem Gemeinderat von Zacatula untergeordnet worden. In einem Schreiben, das sie dem alcalde von Zacatula gaben, beschwerten sie sich über die Nachteile, die ihnen diese Unterordnung beschert hatte, wobei der Adressat des Schreibens unklar ist, möglicherweise war es der Gouverneur des Bundesstaats. Sich selbst bezeichneten die Indigenen als „die Naturales, die die República der Gemeinde Coahuayutla bilden“.384 Sie sagten, der alcalde habe ihnen 1825 „den Amtsstab, der der Gemeinde gehört und den der Gobernador unserer República nutzt,“ genommen, womit sie auch die Verwaltung der Gemeindegüter und der cofradía verloren hätten.385 Der Amtsstab war in den indigenen Gemeinden zur Koloni-
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Vgl. Guardino, The Time, 2005, S. 271-272. O’Hara, A Flock, 2010, Kap. 5, insb. S. 178, 183. Vgl. z.B. Ducey, Michael T.: Hijos del pueblo y ciudadanos. Identidades políticas entre los indios rebeldes del siglo XIX, in: Brian F. Connaughton/Carlos Illades/Sonia Pérez Toledo (Hrsg.), Construcción de la legitimidad política en Mexico en el siglo XIX, Zamora 1999, S. 127–151; Guardino, The Time, 2005. „Prefectura de Acapulco. Sobre que se establezca una República de Naturales en Cuahuayutla […]“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 14, exp. 24. Um 1800 existierten lediglich 90 Indigene in Coahuayutla. Tanck de Estrada, Atlas ilustrado, 2005, S. 229. Prefectura de Acapulco. Sobre que se establezca una República de Naturales en Cuahuayutla […]“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 14, exp. 24. Zitat: „Los Naturales q[ue] componen la Rep[úbli]ca del Pueblo de Coagullutla“. Ebenda. Zitat: „el b[as]ton que [es] propio del Pueblo y usa n[uestro] Governador de n[ues]tra Republica“.
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alzeit das Symbol, mit dem der gobernador und mitunter auch weitere Amtsträger in indigenen Gemeinden gekennzeichnet wurden.386 De facto scheint in Coahuayutla also ein Rat, der sich als república verstand, fortbestanden zu haben, obwohl die Gemeinde sehr klein war. Daher war die Eingabe auch vom „Schreiber der República“ und „im Namen der República“ unterschrieben.387 Der alcalde Zacatulas hatte ihnen offenbar im Jahr 1825 gesagt, dass ihre Gemeinde aufgrund einer Anordnung von höherer Ebene nun zu Zacatula gehörte und, dass in Zukunft der ayuntamiento die Gemeindegüter und -ländereien verwalten werde. Er habe ihnen diese Anordnung weder gezeigt, noch hätten sie ihrerseits Anlass für eine derartige „Enteignung“ gegeben. Sie schrieben die aktuelle Eingabe „in Verteidigung unserer Rechte“ und baten gleichzeitig um die „Gnade“, dass man ihnen die entsprechende Anordnung zeige.388 Sie bezogen sich auf ihre Rechte als Bürger und gleichzeitig auf ihre república, an deren Legitimität sie offenbar festhielten: jeder Bürger ist befugt, seine Rechte, wie sie ihm gerechterweise zustehen, einzufordern, wir befinden uns in der Situation, gemäß der allgemeinen Meinung der República unsere legitimen Rechte einzufordern.389
Vermutlich hatte die Gemeinde Coahuayutla, auch als die Verfassung von Cádiz in Kraft war, einen Rat aufrechterhalten können. Die Selbstbezeichnung als república wie auch die Erwähnung des Amtsstabs machen deutlich, dass die Indigenen diese Selbstbezeichnung weiterverwendeten; sie stand für sie nicht im Widerspruch zum konstitutionellen System und ihrem Status als Staatsbürger. Der amtierende erste alcalde von Zacatula sah es in der Tat als gesetzeswidrig an, dass man der Gemeinde Coahuayutla die Kontrolle über die cofradía entzogen hatte, wie er in seinem Brief an den Subpräfekten von Acapulco zu verstehen gab. Letzterer hielt das Schreiben aus Coahuayutla dagegen für verbrecherisch, denn die Gemeinde verletze „das heilige Recht der Gleichheit, indem sie 386
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Vgl. Hensel, Silke: Mediadores del poder. La actuación de los subdelegados y su significado para el dominio español en Nueva España, 1787-1821, in: Marta Terán/Víctor Gayol (Hrsg.), La Corona rota. Identidades y representaciones en las independencias iberoamericanas, Castelló de la Plana 2010, S. 41–62, S. 48. Aufgrund einer Beschädigung des Dokuments ist das Wort ‚bastón‘ nicht zweifelsfrei zu lesen, wie durch die Klammern angedeutet wird; ebenso ‚nuestro‘. Prefectura de Acapulco. Sobre que se establezca una República de Naturales en Cuahuayutla […]“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 14, exp. 24. Zitate: „E[scriba]no de R[epúbli]ca“; „A nombre de la Republica“. Prefectura de Acapulco. Sobre que se establezca una República de Naturales en Cuahuayutla […]“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 14, exp. 24. Zitate: „despojo“; „en defensa de n[ues]tros d[e]r[ech]os“; „gracia“. Ebenda. Zitat: „todo Ciudadano esta facultado para representar sus d[e]r[ech]os según le conbengan en justicia, nos allamos en el caso de representar n[ues]tros lejitimos derechos segun la opinion General de la Republica.“
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durch ihr knechtisches Ansuchen lieber Sklaven als freie Bürger sein wollen“.390 Denn es gebe kein Gesetz, dass die Existenz von repúblicas erlaube. Er wies daher den alcalde Zacatulas an, den Schreiber der vermeintlichen república von Coahuayutla drei Tage ins Gefängnis zu sperren. Dieser wolle, „dass der niederträchtige Wahn der Spanier weiter in seiner Gemeinde regiere“.391 Selbstbehauptungen, wie im Fall der Gemeinde Coahuayutla, wurden häufig mit dem Vorwurf beantwortet, die Indigenen würden der von den Spaniern etablierten Ordnung anhängen. Ähnlich wie in Coahuayutla stellte es sich 1820 in Xicotepec dar, wo der alcalde über seine indigenen Gegner gesagt hatte, diese würden alten Bräuchen anhängen. Auch der Rat von Jilotepec behauptete 1823 wie erwähnt, dass die Indigenen entgegen dem Gesetz die Bezeichnung als indios aufrechterhalten wollten.392 Die Vorstellung, dass Indigene zivilisiert werden müssten, war unter spanischstämmiger Bevölkerung in ländlichen Gemeinden weit verbreitet. In Malacatepec forderte der neu gewählte konstitutionelle Gemeinderat 1820 gar die Vergrößerung des Rats, um Indigene integrieren zu können.393 Der Rat war bei der Wahl im August seitens des subdelegado zunächst auf sechs Mitglieder begrenzt worden, und zwar mit der Begründung, dass es in der Gemeinde zu wenige „Weiße“ gebe.394 Die Vergrößerung des Rats begründeten die Ratsmitglieder damit, dass die Indigenen bei der Besetzung des Rats mit einbezogen werden könnten, da sie auch Bürger seien. Hier ging es nicht darum, den Indigenen politische Repräsentation zu ermöglichen. Der Rat argumentierte, es gebe unter ihnen durchaus geeignete Personen und außerdem sei der Kontakt mit den Weißen im Rat für die Indigenen ein großer Anreiz, ihre Kinder zur Primarschule zu schicken, Spanisch zu lernen wie auch sich zu bilden und zu zivilisieren. Ob die Motive der Ratsmitglieder in der Tat derart selbstlos waren, sei dahingestellt. Möglicherweise sollte ihnen die Einbeziehung der Indigenen auch die Verwaltung der untergeordneten Gemeinden erleichtern. 390 391 392 393
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Ebenda. Zitat: „el sagrado derecho de igualdad y apeteciendo mas el ser esclavo por medio de su solicitud servil que libres ciudadanos“. Ebenda. Zitat: „q[ue] la infame mania de los Españoles, aun rija en su Pueblo“. Vgl. Kap. 2.3.1. „Metepec. El Ayuntamiento del Curato de la Asumpcion Malacatepec sobre que se le aumente el num[er]o de individuos del Ayuntamiento [...]“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 242, exp. s/n. Laut dem Rat sollte die Vergrößerung den Vorgaben der Verfassung entsprechen, denn die Gemeinde umfasste 1150 Familien. Ebenda. Zitat: „blancos“. Die Gemeinde setzte sich zu über 90% aus indigener Bevölkerung zusammen und trotzdem waren die Ratsmitglieder offenbar keine Indigenen. Laut dem Zensus der Erzdiözese México aus dem Jahr 1777 waren von 1265 Familien, die mit calidad registriert wurden, nur ca. 3 % Spanier-, 2 % Mestizen- und 2 % AfroamerikanerFamilien. Vgl. Sánchez Santiró, Padrón, 2003, S. 112.
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Indigene wussten die von den Eliten konstruierten Argumente über die Befreiung der mexikanischen Nation aus der Tyrannei und die Zivilisierung der Bevölkerung für sich zu nutzen. Das zeigt sich beispielsweise in dem bereits behandelten Konflikt in Jilotepec aus dem Jahr 1823. Indigene beschwerten sich beim jefe político der Provinz México über den aktuellen Gemeinderat und kritisierten, dass die Gleichheit und Freiheit der Staatsbürgerschaft in ihrem Fall nicht umgesetzt werde: es ist wahr, dass es in den heute gültigen Gesetzen um nichts anderes geht als uns in den Rang und die Würde freier Menschen zu versetzen, indem man unter uns die Bezeichnung Indios, unter der man uns während der spanischen Regierung kannte, abschafft, damit wir uns auf diese Weise der Freiheit erfreuen, die jeder Bürger erlangt, aber in Xilotepec haben wir dieselbe Unterdrückung, unter der wir vorher lebten, oder vielleicht eine noch größere.395
In der Subpräfektur Sultepec forderten Repräsentanten von sieben Gemeinden 1828, dass der Sitz des Gemeinderats in die Gemeinde Tlatlaya verlegt werde, da sie sich durch den derzeitigen Ort des Rats benachteiligt sahen. Deswegen schrieben sie: „uns scheint, dass wir in vieler Hinsicht nicht die Wohltaten erlangen, die die Gesetze für uns vorsehen, in anderen Fällen handelt man gegen sie und wir werden nicht wie freie Bürger behandelt.“396 Sie forderten also ein, so behandelt zu werden, wie es ihnen versprochen worden war. In Tixtla behaupteten Vertreter der indigenen Bevölkerung 1830, sie würden jetzt schlechter behandelt als zur Zeit der spanischen Herrschaft.397 Die Indigenen widersetzten sich der Forderung des Gemeinderats, eine Gebühr für die Nutzung von Ländereien im Gemeindebesitz zu zahlen. Der Rat berichtete, dass einer der Ratsherren in einer Sitzung im Namen der Indigenen gesprochen habe. Laut Aussage des Ratsherrn vertraten die Indigenen die Auffassung, dass
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„Xilotepec. Varios vecinos quejandose del Ayuntamiento“ (1823/1824), en AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 1, exp. 7, fs. 3-4. Zitat: „es una verdad, q[u]e las LL [leyes] vigentes de hoi, no han tratado de otra cosa, que de ponernos en el rango, y dignidad de hombres libres, haciendo desaparecer de entre nosotros los nombres de Indios con los q[u]e eramos conocidos, en el Govierno Español para que de este modo, disfrutemos de la libertad, q[u]e logra todo ciudadano, pero en Xilotepec estamos con la misma oprecion, ó acaso mayor de la en que estabamos antes.“ „Los vecinos […] solicitando se ponga el Ayuntamiento en Tlatlaya […]“ (1828), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 11, exp. 4. Zitat: „[...] nos parese [...] q[u]e en mucho no logramos el beneficio q[u]e nos conseden las leyes, en otras cosas se obra contra ellas, y no se nos trata como ciudadanos libres.“ „Tixtla de Guerrero. El Pref[ec]to acompaña un of[ici]o del Subpref[ec]to de Tixtla en que manif[ies]ta la disposicion en que se hallan los Indigenas para no cumplir con el artículo 103 de la ley de 9 de febrero de 1825“ (1830), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 20, exp. 30.
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die Gebühr den Grundprinzipien der republikanischen Regierung widerspreche. Sie sei die despotischste und tyrannischste Maßnahme seit der spanischen Regierung, denn diese [Regierung] erhob keine Abgaben für die Nutzung der Ländereien, die sie mit aller Freiheit wie eigenen Besitz hatten, wobei sie lediglich verpflichtet waren, sie nicht zu verkaufen; und [...] nun unter einer republikanischen liberalen Regierung sehen sie es als Widerspruch zu diesen Prinzipien an, dass man für die Nutzung dessen, was sie als ihr Eigen betrachten, Abgaben fordert.398
Ein ähnliches Argument verwendeten die Bewohner von Tepecoacuilco 1831. Mehr als 50 Indigene unterzeichneten einen Brief an den Gouverneur des Bundesstaates, in dem sie sich über eine vom ayuntamiento der Gemeinde eingeforderte Gebühr auf ihre Ländereien beklagten.399 Sie seien die einzige Gemeinde der Gegend „und vielleicht sogar der Republik“, die eine derartige Abgabe zahle.400 Diese Gebühr sei vor langer Zeit von den Spaniern etabliert worden, jedoch diente sie heute, so sagten sie, nur noch der Finanzierung von Feuerwerkskörpern beim Patronatsfest. Sie fühlten sich unterdrückt durch eine „ebenso hinfällige und dumme Verwaltung wie die spanische“.401 Die Beschwerde einiger Bewohner Chilapas vom April 1833, die sie an den Gouverneur des Bundesstaates México richteten, zeigt die Aneignung von Argumentationsmustern der Eliten besonders eindrucksvoll.402 Sie bezeichneten sich selbst als „die Bürger, die unterschreiben und den Común de Naturales der Stadt Chilapa bilden“.403 Der Coronel Luis Domínguez habe sie seit 1829 des Rechtes beraubt, „die Bürger, die den Gemeinderat bilden sollen“, zu wählen. Ihn beschuldigten sie, insbesondere bei den letzten Wahlen das Gesetz gebrochen zu haben, da er die Wähler beim Wahlakt vertrieben und einige Bürger sogar verletzt habe, um seinen eigenen Wahlsieg zu erreichen. Die Autoren der Beschwerde verwendeten nicht nur mehrfach die Kategorie ciudadanos, sondern bezogen sich auch immer wieder auf den pueblo. Damit übernahmen sie politi398
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Ebenda. Zitat: „el arbitrio más déspota y tirano que cuando el Gobierno Español, pues este no los gravó por el uso de las tierras que tubieron con toda libertad como propiedad suya, sujetos unicamente á no enagenarlas; y [..] ahora en un Gobierno Republicano liberal concideran opuesto á estos principios el que se les grave ó pencione el uso de lo que estiman como propio.“ „Tepecoacuilco. Varios vecinos sobre que se extinga la pension q[ue] ahora satisfacen por la ocupacion de sitios“ (1831), Gobernación, Gobernación, vol. 27, exp. 23. Die Mitglieder des Gemeinderats bezeichneten die Autoren des Beschwerdebriefs als Indigene. Ebenda, f. 3. Zitat: „y quiza de la Republica“. Ebenda, f. 4v. Zitat: „Administracion caduca é ignorante como fué la Española“. „Chilapa. Los vecinos de esta Villa sobre que se declare nulo su Ayuntamiento [...]“ (1832), AHEM, Gobernación, Elecciones, vol. 1, exp. 17. Ebenda. Zitat: „Los ciudadanos q[ue] subscriben y los q[ue] forman el comun de Naturales de la villa de Chilapa“.
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sche Argumentationen über die Freiheit und Souveränität des pueblo – also des Volkes – und übertrugen diese auf ihr pueblo – ihre Gemeinde. Über die vergangenen Wahlen schrieben sie, „Die Gemeinde [pueblo] war bei diesen Akten nicht frei“, und während der diesjährigen Wahl „herrschte der Absolutismus“.404 Die Indigenen gaben im Ganzen deutlich zu verstehen, dass sie die Normen der Verfassung verinnerlicht hatten. Da Domínguez ab 1830 der lokalen Miliz (batallón cívico) vorstand, konnte er nach ihren Worten die Unterdrückung aufrechterhalten. Als empörend empfanden sie „den geringen Respekt, mit dem die souveränen Akte einer Gemeinde [pueblo] angesehen wurden“. Sie kritisierten auch die scheidenden alcaldes: Unter ihrer Führung „kann die Gemeinde [pueblo] nicht frei sein, geschweige denn aus der Knechtschaft heraustreten“. Sie würden einfach zwei alcaldes für das neue Jahr auswählen und die Sitze der Ratsherren mit „unfähigen Männern, die sich ihnen nicht widersetzen können und nicht einmal ihre Rechte kennen“ besetzen. Gegen den Willen des pueblo sei die Regierung in die Hand dieser Männer gelegt worden.405 Jene sollten die „Kraft der heiligen Verfassung“ verstehen und „der Absolutismus soll beendet werden“. Wenn dieser Zustand anhalte, „wird man nie aus der Sklaverei austreten“.406 Die doppelte Bedeutung des Begriffs pueblo führte dazu, dass Argumentationsmuster, mit denen die politischen Eliten die neue politische Ordnung auf nationaler Ebene beschrieben und legitimierten, auf der lokalen Ebene adaptiert wurden, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Die Indigenen bezogen sich auf das konstitutionelle System, bezeichneten sich aber gleichzeitig als común de naturales und versuchten hierdurch, ihrer Forderung besondere Legitimität zu verleihen. Die Selbstbezeichnung común de naturales lässt sich auch damit erklären, dass die Autoren diese Kategorie weiterhin als politische Ressource verstanden und glaubten, ihre Forderungen so legitimieren zu können. Außerdem argumentierten Indigene und andere Bewohner ländlicher Gemeinden mit einem der zentralen Ideale der liberalen Eliten: der Bildung. Die politische Elite betrachtete Bildung schließlich als den Königsweg zum Fortschritt und zur Zivilisierung der Gesellschaft. Auch die lokalen spanischstämmigen Eliten waren der Meinung, die Indigenen seien durch politische Partizipation und Bildung zu zivilisieren. In Teotihuacán forderten Einwohner der Gemeinde Santa Clara 1827 die Wiedererrichtung ihres Gemeinderats, den sie
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Ebenda, fs. 3-4. Zitate: „los ciudadanos q[ue] deben formar el ayuntamiento“; „El pueblo no ha sido libre en tales actos“;„reynaba el absolutismo“. Ebenda, fs. 4v-5. Zitate: „el poco respeto con q[ue] se han visto actos soberanos de un pueblo“; „el Pueblo no podrá ser félis ni salir der serbilismo“; „hombres incapazes, no solo de óponerse á sus atentados, sino que ni aun conocen sus d[e]r[ech]os“. Ebenda, fs. 5v. Zitate: „fuerza del sagrado codigo constitucional“; „que sea cortado el absolutismo“; „nunca saldremos de la esclavitud“.
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„in allen konstitutionellen Zeiten“ gehabt hatten.407 Das Fehlen des Rats hatte nach ihrer Darstellung dazu geführt, dass die Gemeinde sich finanziell keinen Lehrer mehr leisten konnte. Letzterer war für sie jedoch von größter Bedeutung: Da unsere Gemeinderäte sich eifrig und sehnsüchtig um die Erziehung und Bildung der Kinder dieser Gemeinde mühten, stellten sie einen Lehrer […] zur Verfügung, damit er sie in ihren Pflichten als Menschen, als Bürger und als Katholiken unterweise.408
Ähnlich argumentierte ein Bewohner von Santa Monica Atotonilco 1825.409 Schwere Konsequenzen befürchtete er, falls die Knappheit an Land in der Gemeinde nicht behoben würde. Denn andernfalls würden die Bewohner: zumindest ihre Häuser verlassen, die Erziehung ihrer Kinder mit großer Gleichgültigkeit betrachten, (was für die Republik eine sehr wichtige Sache ist) und vielleicht würden sie sich entehren, um Unterhalt zu suchen, wobei sie sich verwerflicher und eines jeden ehrbaren Bürgers unwürdiger Mittel bedienen würden.410
Die Erfüllung seiner Forderung sollte offenbar letztlich der Republik und dem Ideal des ehrbaren Staatsbürgers dienen. Als der Gemeinderat von Santo Domingo Xuchitepec 1828 um Gelder für den Bau einer Zisterne bat, argumentierte er ganz ähnlich.411 Wie das folgende Zitat zeigt, waren seine Mitglieder überzeugt, die Bewohner der Gemeinde würden das konstitutionelle System so schätzen lernen. Insbesondere die indigene Bevölkerung benötigte diese Zisterne zur Verbesserung ihrer Situation: Wenn man möchte, dass die Gemeinden [pueblos] sich für die Freiheit begeistern, gibt es kein angemesseneres Mittel als sie ihren zarten Einfluss spüren zu lassen, während sich gleichzeitig die Institutionen verbessern, die die Kümmernisse abmil-
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„Teotihuacan. Los vecinos del pueblo de Santa Clara solicitando se establezca Ayuntamiento“ (1827), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 7, exp. 3. Zitat: „en todas epocas constitucionales“. Ebenda. Zitat: „Solicitos y anelosos nuestros Ayuntamientos por la educacion y enseñanza de los hijos de este Pueblo, proporcionaron un Preceptor [...] para que los aleccionase en sus deberes como hombres como ciudadanos y como católicos […].“ El ciudadano Cecilio Ramos por el común del Pueblo Santa Monica Atotonilco (1827), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 5, exp. 4. Ebenda. Zitat: „abandonen quando menos sus hogares, vean con mas que indiferencia la educacion de sus hijos, (cosa interesantisima a la Republica) y tal vez se prostituyan á buscar el sustento, valiendose de medios deprovados, é indignos de qualquier ciudadano honrado.“ „El Ayuntamiento del Pueblo de Santo Domingo Xuchitepec [...]“ (1828) , AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 11, exp. 3, hier: fs. 1v-2.
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Ethnizität und Staatsbürgerschaft
dern, mit denen sie bisher gerade mal die Existenz durchlitten, in erster Linie die Nachkommen der ersten Bewohner dieses Landes.412
Fragend fügten sie hinzu: „werden geschwächte Mütter Bürger gebären können, die für die Arbeit geeignet sind?“413. Die Versprechen der politischen Eliten wurden von der Bevölkerung aufgegriffen, um eigene Forderungen zu legitimieren. Die Berufung auf die Verfassung und die Staatsbürgerschaft bei der Einforderung bürgerlicher Rechte wie auch die Strategie, sich die Argumente der politischen Eliten anzueignen, zeigen, dass die indigene Bevölkerung ihren Status als Staatsbürger des neuen Nationalstaats zu nutzen wusste. Wollten Indigene bürgerliche Rechte geltend machen, spielten die Kategorien indio oder natural in den Äußerungen Indigener keine Rolle. Vielmehr wurde die Kategorie ciudadano mit der Garantie bürgerlicher Rechte assoziiert und deshalb in diesem Kontext verwendet. Das Verbot der Peitschenstrafe, einhergehend mit der Einführung des konstitutionellen Systems, bildete einen Einschnitt für indigene Gemeinden, denn es wurde als Stärkung der individuellen Rechte gegenüber lokalen Amtsträgern wahrgenommen. Die Verfassung und mit ihr das konstitutionelle System wurde als neue Autorität anerkannt. Sie trat an die Stelle des Königs und erschien daher bisweilen sogar personifiziert. Um ihre Interessen gegenüber staatlichen Akteuren zu vertreten, bedienten sich Akteure ländlicher Gemeinden geläufiger Argumentationsmuster der politischen Eliten. Einige hiervon waren spezifisch für die indigene Bevölkerung. Die Vorstellung, die Unterschichten würden durch Bildung zivilisiert und langfristig kulturell assimiliert werden, bezog sich besonders auf die indigene Bevölkerung. Gerade sie galt aufgrund ihres Status als Minderjährige im spanischen Kolonialreich als rückständig. Die Argumente der Indigenen gegenüber Repräsentanten des Nationalstaats spiegelten also oft das Bild wider, das liberale Politiker von der indigenen Bevölkerung zeichneten. Der Vergleich zwischen der spanischen Kolonialherrschaft und dem aktuellen Regierungssystem und die auf Sklaverei und Knechtschaft verweisende Rhetorik waren ebenfalls eine Reaktion auf die Argumente der Eliten. Die indigene Bevölkerung konnte in einigen Regionen außerdem den Verlust ihrer kolonialzeitlichen Privilegien beklagen wie das Recht auf Nutzung von Gemeindeland. Das Narrativ von der Unabhängigkeit als Befreiungsschlag widerlegten sie daher, indem sie auf diesen Verlust verwiesen. 412
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Ebenda. Zitat: „Si se quiere que los pueblos se aficionen á la libertad no hay medio mas á proposito que hacerles sentir su suave influjo, al mismo tiempo que se mejoran las instituciones, aliviandoles las aflicciones con que hasta aquí apenas han podido sufrir la existencia, principalmente los hijos de los primeros pobladores de este pais.“ Ebenda. Zitat: „[...] podran nacer ciudadanos utiles para el trabajo de unas madres debilitadas?“.
III. Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit Als 1808 der mexikanische Unabhängigkeitsprozess begann, kursierten und koexistierten in der spanischen Welt bereits verschiedene Nationskonzepte. Nación war während der Frühen Neuzeit noch nicht an die Vorstellung von politischen Gemeinwesen oder Volkssouveränität geknüpft, sondern konnte beispielsweise die indigenen Bevölkerungsgruppen bezeichnen, die sich außerhalb der Reichweite der kolonialen Verwaltung befanden. Nación hatte daneben eine territoriale Bedeutung und war eng mit patria – Vaterland – verwandt. Erst mit der Invasion Napoleons auf der Iberischen Halbinsel im Jahr 1808 verbreitete sich laut Quijada ein Verständnis von Nation, das eine institutionelle Ebene implizierte und sich auf ein Königreich oder einen Staat beziehen konnte.1 Bereits seit dem 16. Jahrhundert hatte in Europa eine Umdeutung von Begriffen wie Volk und Nation stattgefunden. So verlor das Wort people laut Liah Greenfeld im England des 16. Jahrhunderts seinen abwertenden Beiklang, da es nicht mehr die Unterschichten in Abgrenzung von den Eliten bezeichnete, sondern das Volk als Träger der politischen Souveränität. People wurde außerdem mit dem Begriff nation gleichgesetzt, der bis dahin die Elite bezeichnet hatte. Eine Aufwertung des Begriffs peuple vollzog sich im späten 18. Jahrhundert auch in Frankreich und das Konzept einer französischen Nation entwickelte sich, wobei hier auch der Begriff patrie an Bedeutung gewann.2 Der Bedeutungswandel des spanischen Konzepts nación ist also in diesem Kontext anzusiedeln. In den amerikanischen Besitzungen Spaniens ist im 18. Jahrhundert ein kreolischer Patriotismus zu beobachten, ein Phänomen, das auch für andere Regionen charakteristisch ist.3 Neuspanische Kreolen bekannten sich zu Amerika als ihrer patria und begriffen sich als Amerikaner. In diesem Patriotismus spielte die Verehrung der prähispanischen Hochkulturen eine entscheidende Rolle. Manche Kreolen betrachteten sich gar als Nachkommen prähispanischer Dynastien. Dieser Patriotismus war auch eine Reaktion auf Darstellungen europäischer Autoren des 18. Jahrhunderts, die ein abwertendes Bild von der Neuen Welt zeichneten,4 verband sich allerdings noch nicht mit dem Wunsch, einen eigenen Staat zu gründen.5 1
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Vgl. Quijada, Mónica: ¿Qué nación? Dinámicas y dicotomías de la nación en el imaginario hispanoamericano del siglo XIX, in: Antonio Annino (Hrsg.), Inventando la nación. Iberoamérica siglo XIX, México, D.F. 2003, S. 287–315, S. 292. Vgl. Greenfeld, Nationalism, 1992, S. 6-7, 14, 160-162. Vgl. Stauber, Reinhard: Nation, Nationalismus, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Darmstadt 2005, Sp. 1056–1082, Sp. 1073. Vgl. Brading, David A.: Los orígenes del nacionalismo mexicano, México, D.F. 1973; Brading, D. A.: First America. Spanish Monarchy, Creole Patriots and the Liberal State, 1492-1866, Cambridge [u.a.] 1993; Florescano, Enrique: Memory, Myth, and Time in Mexi-
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Seit der Krise der spanischen Monarchie im Jahr 1808 und dem späteren Bürgerkrieg wurden die Vorstellung einer spanischen sowie die einer amerikanischen Nation von verschiedenen Akteuren deutlich geäußert. Nation und Volk gewannen nun als politische Konzepte an Bedeutung. Dieses Kapitel geht der Frage nach, ob und in welchen Kontexten diese Nationskonzepte und die mit ihnen einhergehenden Gleichheitsversprechen für Indigene, Afroamerikaner und ihre Korporationen von Bedeutung waren. Außerdem fragt es danach, welche Rolle Indigene und Afroamerikaner in den Nationskonstruktionen und Ordnungsvorstellungen politischer Eliten hatten. Das Kapitel analysiert zuerst die Reaktionen von Indigenen und Afroamerikanern auf die Krise von 1808. Anschließend fragt es, wie Rebellen und Royalisten im Bürgerkrieg mit der bisherigen Unterscheidung nach calidades umgingen, um dann die Positionierung von Indigenen und Afroamerikanern unter besonderer Berücksichtigung ihrer Korporationen zu erörtern. Ein weiteres Teilkapitel zeigt, wie Afroamerikaner begannen, die Legitimität ihrer rechtlichen Benachteiligung zu hinterfragen, und untersucht, ob sich das Aufkommen eines Gruppenbewusstseins nachweisen lässt. Abschließend wird die Bedeutung von Indigenen in den politischen Programmen liberaler Eliten des Nationalstaats analysiert und die Frage ihrer Sichtbarkeit im Vergleich zu Afroamerikanern thematisiert.
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co. From the Aztecs to Independence, Austin 1994; Ruedas de la Serna, Jorge: El paraíso y el infierno. Remotos orígenes del discurso nacional, in: Nicole Girón (Hrsg.), La construcción del discurso nacional en México, un anhelo persistente (siglos XIX y XX), México, D.F. 2007, S. 21–33, Mücke, Ulrich: Gegen Aufklärung und Revolution. Die Entstehung konservativen Denkens in der iberischen Welt, 1770-1840, Köln 2008, S. 106107. Siehe hierzu auch die Kritik von François-Xavier Guerra an Benedict Andersons Behauptung, den hispano-amerikanischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts seien bereits Nationsvorstellungen vorausgegangen, die sich schließlich in der Ausbildung von Nationalstaaten manifestierten. Vgl. Guerra, François-Xavier: Forms of Communication, Political Spaces and Cultural Identities in the Creation of Spanish American Nations, in: Sara Castro-Klarén/John Charles Chasteen (Hrsg.), Beyond Imagined Communities. Reading and Writing the Nation in Nineteenth-Century Latin America, Washington, D.C. [u.a.] 2003, S. 3–32, S. 4. Guerra bezieht sich offenbar auf Anderson, Die Erfindung, 1996, S. 56-59.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808
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1. Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808 In der Krise von 1808 zeigte sich ein grundlegender Wandel im Verständnis politischer Legitimität in Spanien und Amerika.6 Laut Jaime Rodríguez trat mit der Krise el pueblo, das Volk, als neuer Akteur die politische Bühne der hispanischen Welt.7 Ab 1808 kam es mit der schrittweisen Errichtung einer konstitutionellen Monarchie zur institutionellen Verankerung des Prinzips der Volkssouveränität. Als 1808 das Mutterland von den Truppen Napoleons besetzt wurde und der spanische König in französische Gefangenschaft geriet, wurde diese Legitimationskrise der Monarchie nicht nur zwischen den spanischstämmigen Eliten Mexiko-Stadts verhandelt. Der amerikanische Patriotismus, die Idee einer amerikanischen Nation und die Vorstellung, dass Neuspanien ein eigenes Königreich innerhalb der Monarchie bildete, hatten nicht nur in den Köpfen der kreolischen Eliten einen Platz. Sie traten während der Krise auch in den Äußerungen indigener und afroamerikanischer Akteure auf. Mit der französischen Invasion entstand ein Machtvakuum, das im ganzen Vizekönigreich zu der Frage führte, wer das Volk bildete und wer es repräsentieren sollte. Die z.T. widersprüchlichen Informationen, die im Sommer 1808 aus Spanien in die Amerikas gelangten, verbreiteten sich schnell in ganz Neuspanien, u.a. durch die Regierungszeitungen, den Diario de México und die Gaceta de México. Sie wurden von der Bevölkerung intensiv diskutiert und provozierten vielerorts Pamphlete und Schmähschriften.8 Die Städte wie auch die indigenen Gemeinden reagierten auf die französische Invasion mit Treuebekundungen gegenüber Ferdinand VII.9 Vielerorts spendeten nicht nur die Wohlhabenden, sondern selbst die Unterschichten für den Kampf gegen Napoleon. Besonders indigene Gemeinden leisteten finanzielle Unterstützung für den Kampf,10 aber auch beispielsweise die afroamerikani6
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Einen Überblick über die neueren Interpretationen der Krise gibt Ávila, Alfredo: Nueva España, 1808-1809, in: Roberto Breña (Hrsg.), En el umbral de las revoluciones hispánicas. El bienio 1808-1810, México, D.F; Madrid 2010, S. 129–148. Siehe auch: Guerra, François-Xavier: Modernidad e independencias. Ensayos sobre las revoluciones hispánicas, Madrid 1992; Guerra, El soberano, 1999; Annino, Soberanías, 2003; Annino, México, 2010; Rodríguez O., Equality, 2008; Rodríguez O., Nosotros somos, 2009. Vgl. Rodríguez O., Equality, 2008, S. 102; Zitat: Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 93. Vgl. Gortari Rabiela, Hira de: Julio-agosto de 1808: ‘La lealtad mexicana’, in: Historia Mexicana 39 (1989), H. 1, S. 181–203, S. 185-186, 192; Guardino, La identidad, 2007, S. 278. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, S. 108. Vgl. Landavazo, Marco Antonio: La fidelidad al rey. Donativos y préstamos novohispanos para la guerra contra Napoleón, in: Historia Mexicana 48 (1999), H. 3, S. 493–521, hier, S. 507-509; Guardino, Peter: No se nos debe desigualar. Movilización realista, ideario insurgente, y liberalismo español en Oaxaca, México, in: Germán Cardozo Galué/Arlene
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
schen Milizen Méridas in Yucatán spendeten 1808, so wie sie es bereits 1799 getan hatten.11 Die neuspanische Gesellschaft kannte derartige Aufrufe, denn schon in den 1790er-Jahren hatte der spanische König seine Untertanen um Unterstützung für die Finanzierung seiner Kriege gebeten.12 Für die indigenen Gemeinden Neuspaniens war die französische Invasion ein Schreckensbild, das die Menschen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenssituation interpretierten. Aus Xalapa (Veracruz) schrieben mehrere Gemeinden einen gemeinsamen Brief, aus dem hervorging, dass die Verfasser um ihre Frauen, ihre Felder, ihr Vieh, ihre Häuser und Kirchen fürchteten. Man hatte ihnen gesagt, die Franzosen und der „Jude“ Napoleon würden sie zu „Tributpflichtigen ihrer verdammten Häresien“ machen.13 Seit der Französischen Revolution hatte sich in Neuspanien die Vorstellung verbreitet, die Franzosen seien Häretiker und antiklerikal. Das Wort Jude wurde in diesem Kontext als Schimpfwort verstanden. Dieses Feindbild gewann angesichts der Invasion von 1808 erneut an Bedeutung. Als indigene Gemeinden sich zu den aktuellen Ereignissen auf der spanischen Halbinsel und in Mexiko-Stadt positionierten, beschrieben sie ihr Verhältnis zum Monarchen, aber auch zu Spanien und Amerika als Territorien. Die indigene Gemeinde Tlaxcalilla (San Luis Potosí) sowie Santiago del Río14 erklärten im August 1808 jeweils ihre Treue gegenüber dem spanischen König, bezeichneten sich als Vasallen und betonten ihre Dankbarkeit für den christlichen Glauben. Sie nahmen Bezug zur Conquista und evozierten das paternalistische Verhältnis zwischen Krone und indigener Bevölkerung.15 Die Form ihrer Loyalitätserklärung folgte also ihrem Selbstverständnis als república de indios. Die indigenen Vertreter der Gemeinde San Miguel de Buenavista (Lagos de Moreno, Jalisco) berichteten, der Pfarrer habe sie über die Geschehnisse in Spanien informiert und darüber, dass die Reinheit der Religion durch die Franzosen bedroht sei. Sie nahmen damit Bezug auf das von Unterschichten und Eliten geteilte Feindbild der Franzosen. Gleichzeitig sprachen Vertreter der Gemeinde von der „edlen Treue und dem allgemeinen christlichen Enthusias-
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Urdaneta Quintero (Hrsg.), Colectivos sociales y participación popular en la independencia hispanoamericana, Maracaibo, México, D.F, Zamora, Mich 2005, S. 11– 21, S. 126. Vgl. Marichal, Carlos: Bankruptcy of Empire. Mexican Silver and the Wars between Spain, Britain, and France, 1760-1810, New York 2007, S. 115; Bock, Entre españoles, 2013, S. 15. Guardino, No se nos debe desigualar, 2005, S. 125-126. AGN, Historia, vol. 46 (2), fs. 452-470, hier: f. 463. Zitat: „Judio“; „tributarios de sus malditas eregias“. Die Gemeinde namens Santiago del Río hier gemeint ist, lässt sich nicht rekonstruieren. „Ofertas y demostraciones de lealtad de varias Republicas de Naturales“, in: AGN, Historia, vol. 46 (2), fs. 452-470, hier: f. 452, 453.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808
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mus der Bewohner Amerikas“. So würden die amerikanischen Gebiete für deren legitime Besitzer bewahrt und die Vorbereitungen zur Verteidigung getroffen, damit die Invasoren „zum Ruhm der Nation“ bekämpft werden könnten.16 Hier wurde Bezug auf eine nicht genauer definierte Nation genommen, womit die Indigenen auf die aktuellen Verlautbarungen der Eliten reagierten und sich selbst symbolisch in den Kampf der Nation integrierten. Die república der Gemeinde Moya (Lagos de Moreno, Jalisco) bedauerte, dass das „Vaterland“ (patria) durch die Franzosen bedroht sei, verwendete jedoch nicht mehr ein unbestimmtes Konzept der Nation, sondern wollte die „edle amerikanische Nation“ in ihren Bemühungen gegen die Bedrohung unterstützen.17 In der Loyalitätserklärung der Gemeinde Zongolica (Orizaba, Veracruz) und der ihr untergeordneten Gemeinden erklärten die Verfasser ihre Bereitschaft zur Verteidigung von König und Religion. Aufgrund ihrer Nähe zum Golf von Veracruz sahen sie sich am Tor des „weiten mexikanischen Imperiums“ angesiedelt.18 Zwar war hier nicht ausdrücklich von einer Nation die Rede, doch zeigt sich ein deutlicher Bezug auf das Territorium Neuspaniens. Durch ihre Loyalitätserklärungen bekannten sich die verschiedenen Gemeinden und Korporationen nicht nur zu dem sie einigenden Symbol, dem Monarchen Ferdinand VII., sondern auch zu einer, wenn auch diffusen, vorgestellten Gemeinschaft. Die Erklärungen der Gemeinden zeigen einerseits, dass Amerika und Neuspanien wichtige Bezüge für diese vorgestellte Gemeinschaft bildeten, lassen aber nicht den Schluss zu, dass sich dahinter ein Nationskonzept verbarg, das dezidiert nur die amerikanischen Gebiete oder ausschließlich die in Amerika geborene Bevölkerung einschloss. Deutlich wird jedoch, dass zwischen der Zugehörigkeit zu einer amerikanischen Nation und der Loyalität gegenüber Ferdinand VII. kein Widerspruch wahrgenommen wurde. Zwischen dem kreolischen Patriotismus und dem Nationskonzept, das indigene Gemeinden hier äußerten, lässt sich eine deutliche Parallele aufzeigen: Beide konnten trotz Loyalität zur spanischen Monarchie das Territorium Amerikas als Referenzpunkt verwenden. Die Loyalitätsbekundungen der Korporationen und Gemeinden richteten sich nicht nur an die neuspanische Regierung, sie waren ebenso ein an die übrigen Untertanen und Gemeinden gerichtetes Bekenntnis. Es diente dazu, sich selbst symbolisch in eine Gemeinschaft der Untertanen einzugliedern. Dieser Zusammenhang wird an einem Konflikt in Acapulco deutlich, der sich anlässlich des anstehenden öffentlichen Treuebekenntnisses gegenüber Ferdi-
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AGN, Historia, vol. 46 (2), fs. 452-470, hier: f. 458. Zitat: „noble lealtad y el general christiano entusiasmo de los havitantes de esta America“; „con gloria de la Nacion“. Ebenda, fs. 459, 468. Zitat: „patria“; „Noble Nacion Americana“. Ebenda, fs. 459, 468. Zitat: „vasto Imperio Mexicano“.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
nand im Jahr 1808 ereignete.19 In dieser Stadt mit vorwiegend afroamerikanischer Bevölkerung wurden zur Vorbereitung der Festlichkeiten durch einen von Haus zu Haus ziehenden Kollektor Spenden von der Bevölkerung eingetrieben.20 Der Gouverneur (gobernador castellano) der Stadt José Barreyro y Quijano hob Mitte Dezember 1808 in seiner Ankündigung der für Weihnachten angesetzten Feierlichkeiten hervor, dass die „criollos“, womit in Acapulco die Afroamerikaner gemeint waren, und die übrigen armen Leute sich besonders für diese Feierlichkeiten engagierten.21 Er gab gleichzeitig in leicht despektierlichen Worten zu verstehen, dass einige wohlhabendere Einwohner dies nicht getan hatten.22 Hiermit bezog er sich, wie noch deutlich wird, auf die Amerikaund Europa-Spanier der Gemeinde. Das Verhältnis zwischen dem Gouverneur und den spanischen Bewohnern Acapulcos war ohnehin belastet, denn es herrschte Uneinigkeit über die Besetzung des Postens des königlichen Bannerträgers (alférez real). Die spanischen Bewohner beanspruchten, den Posten mit einer Person aus ihrer Mitte zu besetzen. Im Juli hatten sie für Acapulco den Titel einer ciudad beantragt und im Oktober waren sie als solche anerkannt worden. Daher glaubten sie, das Recht zu haben, einen Rat, einen ayuntamiento, zu bilden. Der Gouverneur nahm die Spanier Acapulcos jedoch wenig ernst und behauptete, die sich beklagenden Spanier seien arm und verschuldet.23 Auf die Äußerung des Gouverneurs hinsichtlich des Treueschwurs für Ferdinand, reagierte eine Gruppe von Männern mit einer Beschwerde beim Vizekönig Pedro Garibay über das Vorgehen des Gouverneurs, denn sie sahen sich als öffentlich angeprangert: „er hebt nur die Redlichkeit, Liebe und Treue der Mulatos und Negros hervor, aus denen sich die Criollos dieser Gemeinde zusammensetzen, wobei wir öffentlich geschmäht werden“. Es sei das Ziel des Gouverneurs gewesen „diese Negros und Mulatos davon zu überzeugen, dass wir wenig Liebe für unseren Souverän empfinden“.24 Damit sei ihre Ehre stark 19
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„Toca al Expediente de esta marca promovido p[o]r varios vecinos del Puerto de Acapulco contra aquel Sor. Governador y el Adm[inistrad]or de Correos D[o]n Mariano Tabares“ (1808), in: AGN, Historia, vol. 432, exp. 3. Ebenda, f. 4-4v. Ebenda, f.1. Ebenda. „Acapulco. Los vecinos de Acapulco sobre que se le nombre a uno de ellos Alferez Real [...]“ (1808), in AGN, Historia, vol. 432, exp. [5], fs. 1-2. Er nannte sie sogar despektierlich „aquellos que han venido de Polisones, ó llovidos, ó llenos de miseria á buscar un Pan q[u]e comer á este Puerto, ya sirviendo de criados ó de Pulperos“. Zitat: f. 6v. „Toca al Expediente de esta marca promovido p[o]r varios vecinos del Puerto de Acapulco contra aquel Sor. Governador y el Adm[inistrad]or de Correos D[o]n Mariano Tabares“ (1808), in: AGN, Historia, vol. 432, exp. 3, f. 5. Zitate: „elogia unicam[en]te la fidelidad, amor, y lealtad de los mulatos, y negros de que se componen los criollos de este
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verletzt worden. Wie Jesús Hernández Jaimes annimmt, handelte es sich bei den sich beklagenden Personen tatsächlich zum größten Teil um Europa-Spanier, denn die Autoren der Beschwerde kritisierten, der Gouverneur kümmere sich nicht um die Harmonie „zwischen Europäern – oder besser gesagt: der Mehrheit der wenigen Weißen, die es hier gibt – und den Criollos“, d.h. den Afroamerikanern.25 Obwohl die Loyalitätsbekundungen an die spanischen Autoritäten gerichtet waren, zeigt der Konflikt in Acapulco deutlich, dass die Loyalität gegenüber Ferdinand für die politische Stabilität innerhalb einer Gemeinde relevant sein konnte. Die Spanier fürchteten, die Afroamerikaner könnten sie als nicht zum König und damit nicht zur Gemeinschaft der spanischen Monarchie gehörend wahrnehmen. Daher konnten sich die Afroamerikaner, so vermutlich die Sorge der Spanier, angesichts der politischen Situation gerechtfertigt sehen, Gewalt gegen die Spanier anzuwenden. Um ihre Ehre wieder herzustellen, forderten die Autoren des Beschwerdebriefs, durch öffentliche Bekanntmachungen in Acapulco solle verkündet werden, dass die Europa- und Amerika-Spanier Acapulcos in ihrer Liebe, Treue und Loyalität gegenüber Ferdinand VII. den Afroamerikanern in nichts nachstünden.26 Die vizekönigliche Verwaltung gab den Spaniern Mitte Januar Recht und kritisierte den Gouverneur, da er seine persönliche Abneigung gegenüber bestimmten Personen zum Bestandteil einer öffentlichen Bekanntmachung gemacht habe. Zur Wiedergutmachung des entstandenen Schadens sollte dem Vizekönig von den Treuedemonstrationen der betroffenen Personen berichtet werden und diese sollten in der Gaceta, der Regierungszeitung, publik gemacht werden.27 Die in Neuspanien seit Monaten anhaltenden Rivalitäten zwischen EuropaSpaniern und Amerika-Spaniern bereiteten den Spaniern Acapulcos Sorgen um ihren Status und ihre Sicherheit. So beschuldigten einige Bewohner Acapulcos im Herbst einen etwa 20 Jahre alten mulato, nach der Absetzung Iturrigarays eine Verschwörung der Afroamerikaner Acapulcos gegen die Europa-Spanier betrieben zu haben.28 Mariano Tavares hatte zu diesem Zeitpunkt den Posten des
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vecindario, con público agravio nuestro“; „persuadir a estos Negros, y Mulatos [d]el poco amor q[ue] tenemos á n[ues]tro Sober[a]no“. Ebenda, f. 3v. Zitat: „entre Europeos (ó por mejor decir) entre los mas de los pocos blancos que hay aquí, y criollos“.Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 153. „Toca al Expediente de esta marca [...]”, in: AGN, Historia, vol. 432, exp. 3, f. 6. Ebenda, f. 8-9. Der Gouverneur handelte laut dem real acuerdo „usando de personalidades mui impropias en un papel publico“. ‘Personalidad’ meinte hier vermutlich „Inclinación ó aversión que se tiene á una persona con preferencia ó exclusión de las demás.“ Definition ausReal Academia Española: Diccionario de la lengua castellana, Madrid 1884. Der Fall ist bisher von Guardino (Peasants, 1996, S. 49, 60, 64) erwähnt und ausführlicher von Hernández Jaimes (Cuando los mulatos, 2001) rekonstruiert worden.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Postverwalters (administrador de correos) von Acapulco inne. Schon sein Vater hatte laut Jesús Hernández Jaimes dieses Amt bekleidet, wobei er gleichzeitig mit Kakao, Baumwolle und Waren aus Asien handelte.29 Wenn auch nicht vergleichbar mit Veracruz, war Acapulco ein wichtiger Handelshafen, da hier die Schiffe aus Asien anlegten.30 Verglichen mit der Mehrheit der afroamerikanischen Bevölkerung hatte die Familie Tavares somit einen sehr hohen sozialen Status.31 Einige Spanier Acapulcos beschuldigten Mariano Tavares bereits am 29. September 1808 in einem Brief an den Vizekönig, eine Verschwörung gegen die Europa-Spanier anzuzetteln.32 Wie ernsthaft diese Verschwörung geplant wurde, lässt sich aus heutiger Perspektive kaum beurteilen. Unzweifelhaft ist,
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Hernández‘ Darstellung ist allerdings stellenweise unpräzise und lückenhaft belegt. Hernández behauptet außerdem irrtümlicherweise auf Basis der genannten Quelle, eine in Acapulco bestehende Rivalität zwischen Europa-Spaniern und „nativos“ habe sich seit dem späten 18. Jahrhundert in einem Konflikt um den ayuntamiento ausgedrückt. Er schreibt: „Esta lucha se manifestó, por ejemplo, en el control del ayuntamiento, tradicionalmente en manos de mulatos, pero para fines del siglo XVIII los españoles recién llegados se creían con más derecho y calidad para ocuparlo.“ (Ebenda, S. 149-150) Zunächst ist vollkommen unklar, ob Acapulco im 18. Jahrhundert über ein ayuntamiento verfügte. Die Zuerkennung eines solchen war an den Titel ciudad oder villa gebunden. Acapulco wurde der Titel ciudad schon unter Philipp II. (1527-1598) zugestanden und 1799 wurde er durch Karl IV. bekräftigt (Rivera Cambas, Manuel: Mexico pintoresco, artistico y monumental. Vistas, descripción anécdotas y episodios de los lugares más notables de la Capital y de los Estados, aun de las poblaciones cortas, pero de importancia geográfica o histórica […], México 1882-1883, S. 344). Aus einer weiteren Quelle geht jedoch klar hervor, dass Acapulco im Juli 1808 erneut den Titel ciudad beantragt hatte und dieser der Stadt im Oktober zugestanden worden war. („Acapulco. Los vecinos de Acapulco sobre que se le nombre a uno de ellos Alferez Real [...]“ (1808), in AGN, Historia, vol. 432, exp. [5], fs. 1-2) Dies spricht dafür, dass der Status ciudad sich möglicherweise nie oder nur phasenweise in der Errichtung eines ayuntamiento niederschlug. Die Regierung der Gemeinde lag darüber hinaus während des Antiguo Régimen in der Hand eines ernannten gobernador castellano. Ein von Afroamerikanern besetzter ayuntamiento während des Antiguo Régimen wäre außerdem ein äußerst überraschender Befund, schließlich waren diese Räte als Repräsentations- und Verwaltungsorgane in spanischen Städten konzipiert. Gemeinderäte der afrikanischstämmigen Bevölkerung in Neuspanien galten – sofern sie von der kolonialen Verwaltung anerkannt wurde – als repúblicas. (Siehe Kap. 1.4) Dass es hier eine república der afrikanischstämmigen Bevölkerung gegeben hat, ist aber ebenso wenig belegt. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 151. Vgl. Velázquez, María del Carmen: La Real Fuerza de San Diego de Acapulco, in: Julio LeRiverend (Hrsg.), Estudios históricos americanos. Homenaje a Silvio Zavala, México, D.F. 1953, S. 79–108, S. 81-82. Eine grobe Beschreibung der Berufsstruktur der afroamerikanischen Bevölkerung Acapulcos im Jahr 1791 gibt: Pavía Guzmán/Pavía Miller, Pardos, 2007, S. 44. „Toca al Expediente de esta marca [...]“ (1808), in: AGN, Historia, vol. 432, exp. 3, f. 7.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808
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dass sich viele Bewohner Acapulcos fragten, was die Absetzungen Ferdinands und Iturrigarays für das Verhältnis zwischen den Afroamerikanern, AmerikaSpaniern und Europa-Spaniern Acapulcos bedeutete. Im Mai 1809 wurde eine Vielzahl von Zeugen unterschiedlicher calidades zu den subversiven Bemerkungen und Verschwörungsplänen Tavares’ vernommen, der im März bereits aus Acapulco geflohen war.33 Kurz nachdem in Acapulco die Nachrichten vom Sturz Iturrigarays am 16. September 1808 eingetroffen waren, hatte Tavares mit Luis María Calatayud, einem zugezogenem Amerika-Spanier aus Veracruz, gesprochen. Calatayud sagte aus: [Mariano Tavares] eröffnete das Gespräch über die Festnahme des Herrn Vizekönigs Iturrigaray, er äußerte gegenüber dem Aussagenden, dass man in Amerika versuche einen König zu krönen, nun, da es in Spanien keinen gebe, und die Europäer zu töten, weil sie Tyrannen seien, und sich ihres Eigentums zu bemächtigen, wobei Tavares sagte, es sei gut, ihnen ein Ende zu machen [...].34
Tavares wusste nach Aussage dieses Zeugen auch von der Vorbereitung militärischer Mobilisierung gegen die Europäer. Die Zahlen, die Tavares genannt haben sollte, sprechen dafür, dass diese Aussage als nicht auf Acapulco, sondern auf Neuspanien und insbesondere Mexiko-Stadt bezogen verstanden wurde.35 Falls Calatayuds Aussage zutrifft, müsste Tavares’ Offenheit ihm gegenüber als Versuch interpretiert werden, für seine Verschwörung nicht nur die Afroamerikaner, sondern auch die Amerika-Spanier zu gewinnen. So sahen es auch jene Europa-Spanier, die Tavares denunzierten.36 Laut Calatayud war Tavares am Folgetag in die benachbarte Gemeinde Coyuca aufgebrochen. Ein EuropaSpanier hatte gehört, Tavares habe in Coyuca mit den dortigen negros gesprochen und ihnen von dem Vorhaben berichtet, alle gachupines – d.h. alle EuropaSpanier – umzubringen.37 Ein weiterer Europa-Spanier ging von einer Verschwörung der Afroamerikaner gegen die „españoles“ aus. Er habe gehört, dass Tavares, dessen Bruder und andere mulatos viele scheinbar vertrauliche Gespräche führten.38 Auch die dem Gouverneur Acapulcos nachgesagte Komplizenschaft mit Tavares spricht dafür, dass man Tavares’ Pläne vor allem als gegen die Europa33
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Ebenda, f. 81. Sogar nach Guayaquil, wohin vor einiger Zeit ein Schiff aus Acapulco ausgelaufen war, sendeten die Autoritäten Nachricht, dass der flüchtige Tavares gesucht werde. Ebenda, f. 41. Zitat: „abrió este [Mariano Tavares] conversacion sobre la prision del S[eñ]or Virrey Iturrigaray diciendole al declarante de que se trataba coronar Rey en la america una vez que no lo habia en España, y darle muerte a los Europeos por tyranos y apoderarse de sus haberes expresando Tavares estaria bien hecho acabar con ellos […].“ Die Rede war von 4000 „hombres de buena calidad“ und 6000 Indigenen. Ebenda, f. 7. Ebenda, f. 54v. Ebenda, f. 47.
214
Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Spanier gerichtet sah. Schließlich kann der Gouverneur nicht Afroamerikaner gewesen sein. So berichteten Zeugen von einer vertraulichen Zusammenkunft Tavares‘ mit dem Gouverneur, die sie in einen Zusammenhang mit der Verschwörung brachten.39 Bereits die Spanier, die Tavares denunziert hatten, sahen den Gouverneur Acapulcos von Anfang an als einen Verbündeten von Tavares an, und einer der Zeugen berichtete, der Gouverneur habe die Anschuldigungen gegen Tavares nicht ernstgenommen.40 Immer wieder wurde in den Aussagen ein deutlicher Zusammenhang zwischen der politischen Großwetterlage und Tavares’ Verschwörungsplänen hergestellt, wie es der genannte Zeuge Calatayud tat. Nach einer anderen Zeugenaussage hatte Tavares sogar gesagt, „er würde sich freuen, wenn dieses Königreich unabhängig oder ein König gekrönt würde“.41 Tavares habe außerdem Neuigkeiten aus Mexiko-Stadt gehabt und berichtet, dass „das Volk“42 sich am Haus des des Herausgebers der Regierungszeitung (Gacetero) versammelt und diesem mit dem Tod gedroht habe, weil er die Neuigkeiten aus Spanien nicht wahrheitsgemäß weitergebe. Tavares habe außerdem behauptet, in MexikoStadt sage man, „das Volk fordere den Kopf des Vizekönigs“.43 Die mulata Maria Emiliana berichtete, Tavares habe ihr gegenüber gesagt, „dass sich in México das Volk gegen die Spanier erheben wolle, und dass, wenn es dazu komme, er das hier stark befürworten würde.“44 Der Begriff Volk (plebe) konnte in dieser Zeit die Unterschichten bezeichnen. Seine Verwendung in diesem Kontext zeigt jedoch seine Doppeldeutigkeit, denn hier war offenbar auch das Volk im Sinne des Trägers politischer Souveränität gemeint. Ein EuropaSpanier behauptete, von einem Brief zu wissen, den Tavares an dieselbe Maria Emiliana geschrieben haben sollte, und in dem er von einem Aufenthalt in Mexiko-Stadt schreibe. Der Brief handele von dem „guten Empfang, den die obersten Herren von Mexiko-Stadt Tavares bereitet hätten, indem sie ihn zu einem Essen mit dem Vizekönig einluden“.45 Ein weiterer Amerika-Spanier berichtete von einem engen Zusammenhang zwischen den Vorgängen in Mexiko-Stadt, die er als Revolution bezeichnete, und Verschwörungsplänen in Acapulco:
39 40 41 42 43 44 45
Ebenda, fs. 56-56v. Ebenda, fs. 6v, 50. Ebenda, f. 32v. Zitat: „se alegraria quedase este Reyno independ[ien]te ó se coronase Rey“. Ebenda. Zitat: „la Plebe“. Ebenda, fs. 33-33v. Zitat: „la Plebe pedia la cabeza del S[eñor] Virrey“. Ebenda, f. 68v. Zitat: „que en Mexico se queria lebantar la plebe contra los Españoles, y que si esto llegara a suceder acá el lo sentiria por quatro.“ Ebenda, f. 55. Zitat: „buen recibimiento que a d[ic]ho Tavares dice le hicieron los S[eño]res principales de Mexico convidandolo a comer el Exmo. S[eñ]or Virrey“.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808
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Dass der Aussagende regelmäßig nach neun Uhr abends beobachtete, dass sich mehrmals Mariano Tavares, sein Bruder Lorenzo Tavares, Don José Bracho und andere versammelten und ihre Fandangos an einem Ort, der La Quebrada genannt wird, machten; er hatte gehört, ohne sich zu erinnern, von wem, dass sie an diesem genannten Ort in ihren Abendgesellschaften über die Revolution, die es in México gab, sprachen, und darüber dass die Kreolen sich gegen die Gachupines erheben wollten, und dass, wenn dies geschehen sei, es hier dasselbe wäre und sie dann versuchen würden den Teil zu verteidigen, für den sie zuständig waren.46
Konkret stellte man sich vor, dass der Gouverneur Acapulcos in Zukunft ein Afroamerikaner sein könnte. So erzählte ein mulato, dass er eines Tages, als er auf dem Markt Wassermelonen kaufte, eine Menschenmenge sah. Er sagte, dass er, als er am Gang von Don Andrés Laduena, wo viele Leute waren, angekommen war, jemanden über die Zeitungen dieser Tage sprechen hörte […]; dass er unter anderem hörte, dass mit der Zeit hier die Negros das Sagen haben sollten und einer von ihnen Gouverneur sein sollte.47
Eine mestiza wusste von einem Gespräch, an dem neben Tavares zwei weitere Frauen und ein Mann, allesamt mulatos, beteiligt waren. Allerdings bestritten die anderen genannten Personen ihre Anwesenheit bei dem Gespräch.48 Tavares hatte in der Runde von seinen Plänen gesprochen die gachupines umzubringen. Auf ihren Einwand, die Soldaten würden sich in dem Fall gegen die Verschwörer erheben, habe Tavares erwidert, dass die Soldaten auch criollos seien. Als Afroamerikaner würden sie sich, so glaubte Tavares, den Verschwörern nicht widersetzen. Die mestiza insistierte und wies ihn auf die „Offiziere, die dem König dienten“ hin, womit sie die besondere Bindung zwischen Soldaten und König hervorhob. Tavares rechnete damit, dass auch die Offiziere sich seiner Seite anschließen würden, denn er antwortete, „dass die Negros dann das Sagen hätten, so wie vorher, so dass es hier besser würde“.49
46
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48 49
Ebenda, f. 59. Zitat: „Que continuamente despues de las nueve de la noche observo el Declarante que varias ocasiones se juntaban Mariano Tavares, su hermano Lorenzo Tavares, D. José Bracho, y otros, é iban a hacer sus fandangos en un parage que llaman la quebrada haviendo oido decir sin acordarse a quien, que en expresado parage trataban estos en las tertulias que tenia[n] a la revolucion que habia en Mexico de que se querian levantar los Criollos contra los Gachupines y que verificado q[u]e fuera aquí seria lo mismo, y que entonces tratarian de defender la parte que les tocaba.“ Ebenda, f. 62v. Zitat: „que llegando al corredor de D[o]n Andres Laduena donde habia mucha concurrencia oyó hablar sin haver observado a quien en asunto a las gazetas de aquellos dias. Que entre otras cosas oyo decir que con el tiempo habian de mandar aqui los Negros siendo Governador uno de ellos.“ Ebenda, f. 63v, 67-70. Ebenda, f. 63v. Zitate: „oficiales que servian al Rey“; „que quedarian los negros mandando como antes poniendose esto mejor“.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Zwei weiteren Personen wurden ähnliche Aussagen zur Last gelegt wie Tavares. Ein Europa-Spanier sprach davon, dass ihm der mulato José Piza, Feldwebel (sargento) der Wachmannschaft (cuerpo de guardia) gedroht habe, bald würden er und alle gachupines geköpft.50 Auch dem mulato Carlos Montejo wurden verschwörerische Bemerkungen vorgeworfen. Auf die Nachricht hin, dass zwei Soldaten von ihrem Vorgesetzten verprügelt worden seien, soll Montejo gesagt haben, „jetzt ist es Zeit, dass die Weißen uns ernst nehmen, und so können sie mal sehen, wie sie uns behandeln“.51 In vielen Aussagen über Tavares’ subversive Äußerungen bezogen sich die Zeugen auf Informationen vom Hörensagen. Nur wenige waren unmittelbar Zeugen seiner Aussagen geworden. Die Nachricht von einer Verschwörung und der Planung eines Aufstands der Afroamerikaner hatte in Acapulco die Runde gemacht und wurde von der Bevölkerung im Kontext der aktuellen Krise der Monarchie verstanden. Wie ein Europa-Spanier in seiner Aussage hervorhob, hatte sowohl die spanische Interimsregierung auf der Halbinsel als auch die Regierung Neuspaniens die Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit angesichts möglicher Verschwörungen gemahnt.52 Der geplante Aufstand wurde als Auflehnung gegen die Europa-Spanier gesehen, nicht gegen die gesamte spanische Bevölkerung. Für diese Interpretation sprechen folgende Punkte: Die Tatsache, dass Tavares offenbar einem Amerika-Spanier recht freimütig von seinen Plänen berichtet hatte, die Komplizenschaft des Gouverneurs und die Zusammenkünfte Tavares’ mit einflussreichen Personen in Mexiko-Stadt, einschließlich dem Vizekönig. Tavares selbst, zumindest aber die Zeugen, sahen die Verschwörung nicht ausschließlich als einen geplanten Aufstand der Afroamerikaner,53 sondern brachten sie mit der Legitimitätskrise der spanischen und der vizeköniglichen Regierung in Verbindung und einem Aufstand des Volks in Mexiko-Stadt. Im Zuge der Zeugenbefragungen wurden außerdem auch zwei Amerika-Spanier erwähnt, die an Gesprächen mit Tavares im Kontext der Verschwörung beteiligt gewesen seien.54 Obwohl Afroamerikaner als Protago50 51
52 53
54
Ebenda, f. 52, 59v, 62, 66-66v. Ebenda, fs. 47, 71-72, Zitat: f. 53v: „estamos aora en tiempo de que los blancos nos contemplen y asi bien pueden ver como nos tratan“. Diese Bemerkung ist allerdings auch noch in einer anderen Formulierung überliefert: „que se anduviesen con esos modos porque el tiempo estaba para que los contemplaran, y no para q[u]e anduviesen a palos“. Ebenda, f. 47. Ebenda, f. 47v. Auch Hernández Jaimes ist der Meinung, dass der Aufstand nicht zwangsläufig einen „carácter racista“ gehabt habe und führt die vermeintliche Verbindung der Verschwörer mit den Kreolen Mexiko-Stadts an. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 160. Es handelte sich um José Bracho und Antonino Doria. „Toca al Expediente de esta marca [...]“ (1808), AGN, Historia, vol. 432, exp. 3, f. 59, 70-70v, 73-73v. Vgl. auch Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 155.
Indigene und Afroamerikaner in der Krise von 1808
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nisten dieser Verschwörung betrachtet wurden, spricht Vieles dafür, dass Tavares wie auch viele Zeugen den geplanten Aufstand als Teil eines Aufbegehrens aller in Amerika Geborenen sahen. Die aussagenden Zeugen und Tavares interpretierten die Geschehnisse in Neuspanien in manchen Aspekten anders als die spanischen Eliten in MexikoStadt. Die Europa-Spanier in Mexiko-Stadt hatten Iturrigaray gestürzt und Garibay eingesetzt, um die neuspanische Loyalität zum spanischen Mutterland zu sichern. Mariano Tavares stellte sich nach dem Sturz Iturrigarays hingegen vor, dass in den Amerikas nun ein eigener König gekrönt und Neuspanien sogar unabhängig werden könnte. Der Zeitgenosse Carlos María de Bustamante berichtete allerdings, dass Tavares vor allem die Absetzung Iturrigarays verurteilt habe.55 Tavares’ Behauptungen über seinen Besuch in Mexiko-Stadt und die Erhebung des Volks können zeitlich nicht genau eingeordnet werden. Es ist unklar, ob er diese vor oder nach dem Sturz Iturrigarays äußerte. Die von Tavares berichtete Erhebung des Volks fügt sich auf alle Fälle in das Bild einer breiten Verschwörung der Amerikaner gegen die Europa-Spanier und in die Vorstellung eines unabhängigen Neuspaniens ein. Die Verschwörung um Tavares und ihre Darstellung durch die Zeugen zeigt deutlich, wie die politischen Umbrüche in der spanischen Monarchie sich auf die Vorstellung von der sozialen Ordnung auswirkten. Offenbar wurde der Konflikt zwischen Amerikanern und Europäern in Neuspanien nicht nur innerhalb einer spanischen Elite ausgetragen, sondern ergriff auch andere Bevölkerungsgruppen, wie im behandelten Fall einige Afroamerikaner Acapulcos, die sich auf der Seite der Amerikaner verorteten. Vermutlich machten Verschwörungsgerüchte in vielen Orten Neuspaniens ab Sommer 1808 die Runde. So wurde auch aus Xalapa (Veracruz) Mitte Juli berichtet, die Leute würden mit der Ankunft neuer Nachrichten immer intensiver über die Angelegenheiten sprechen und es erschienen Schmähschriften: „man sieht die Leute überall in Gruppen, in Verschwörungen, man hört das Gemurmel, die Schmähschriften tauchen immer wieder in den Häusern und an öffentlichen Orten auf“.56 Die Krise der spanischen Monarchie gibt einen Einblick in zentrale Identifikationskategorien der neuspanischen Bevölkerung. Viele indigene Gemeinden 55
56
Vgl. Castillo, Andrés del: Acapulco, presidio de indifentes, 1810-1821, in: Ana Carolina Ibarra (Hrsg.), La independencia en el sur de México, México, D.F. 2004, S. 165–204, S. 187. Gaceta de México XV, nr. 94, S. 633 (10. September 1808), zitiert nach Gortari Rabiela, Julio-agosto, 1989, S. 192. Zitat: „se ve la gente dividida en grupos por todas partes en confabulaciones, se oye el murmullo, y se repiten los pasquines en las casas y en los parajes públicos“.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
stellten sich als treue dankbare Vasallen des Königs dar und evozierten hiermit das paternalistische Verhältnis zwischen Indigenen und Krone. Gleichzeitig traten in ihren Äußerungen Vorstellungen von Nationszugehörigkeiten zutage, die scheinbar mit der Vorstellung der Volkssouveränität verknüpft wurden. Denn die Nation verteidigte sich in diesen Darstellungen gegen den Feind Napoleon. Der Konflikt um die Loyalitätsbekundungen in Acapulco zeigt deutlich, dass die Loyalität zu Ferdinand VII. auf lokaler Ebene relevant für das Verhältnis unterschiedlicher Gruppen zueinander war. Spanier und Afroamerikaner konkurrierten geradezu darum, als loyale Untertanen anerkannt zu werden. Die Verschwörung um Tavares lässt das Streben einiger Afroamerikaner nach einem Wandel der sozialen Hierarchien auf lokaler Ebene erkennen, denn sie sahen sich von einer spanischen Elite unterjocht. Die Krise bot Afroamerikanern eine Gelegenheit, die soziale Hierarchie zu verändern, indem sie sich in Abgrenzung von den Europa-Spaniern als Amerikaner darstellten. Die Identifizierung mit einem Aufstand gegen die Europäer barg einen besonderen Legitimationsgewinn für die Afroamerikaner gegenüber den Europa-Spaniern. Der Afroamerikaner Tavares versuchte die Krise zu nutzen, um als americano – und nicht als mulato – die soziale Hierarchie in Acapulco zu seinen Gunsten zu verändern.
2. Amerikanische Nation und spanische Nation Im Rahmen des Bürgerkriegs ab 1810 kam es zu einer Polarisierung der Konzepte der spanischen und der amerikanischen Nation. Die von Miguel Hidalgo ausgelöste Revolte ging mit einer, bis zu diesem Zeitpunkt, einmaligen Massenmobilisierung einher und bildete den Beginn des Kriegs, der weite Teile Neuspaniens für viele Jahre in Atem halten sollte.57 In ihren Verlautbarungen propagierten Hidalgo und weitere Rebellenführer die Einheit einer amerikanischen Nation in Abgrenzung zu den Europa-Spaniern und forderten für Neuspanien einen autonomen Status bei gleichzeitiger Anerkennung von Ferdinand VII. als König. Die Royalisten hielten dagegen der vizeköniglichen Regierung und den in Spanien errichteten Cortes die Treue. Sie traten für die Einheit Spaniens und Amerikas und die Vorstellung von einer spanischen Nation ein, deren genaue Konturen 1812 mit der Verfassung von Cádiz festgelegt wurden. 57
Vgl. Escobar Ohmstede, Antonio: Del dualismo étnico colonial a los intentos de homogeneidad en los primeros años del siglo XIX latinoamericano, in: Antonio Escobar Ohmstede/Romana Falcón/Raymond Buve (Hrsg.), La arquitectura histórica del poder. Naciones, nacionalismo y estados en América Latina; siglos XVIII, XIX y XX, México, D.F. 2010, S. 41–57, S. 47.
Amerikanische Nation und spanische Nation
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Rebellenführer wie auch Repräsentanten der spanischen Regierung propagierten zu dieser Zeit Zugehörigkeitskategorien, die bekannt waren, aber mit neuen Bedeutungen aufgeladen wurden. Mit ihren politischen Programmen und ihren Gemeinschaftskonzepten einer spanischen und amerikanischen Nation wollten beide Seiten die Bevölkerung zu politischen Positionierungen und militärischen Entscheidungen zugunsten der jeweiligen Seite bewegen. Dieses Kapitel nimmt die Verlautbarungen jener Akteure in den Blick und fragt nach ihren Strategien, der Bevölkerung die von ihnen propagierten Zugehörigkeitskategorien näherzubringen. Dabei wird insbesondere untersucht, wie beide Seiten mit der bisherigen Differenzierung nach calidades umgingen. Zunächst sollen der Bürgerkrieg sowie die Äußerungen der Rebellen behandelt werden, um im Anschluss die der Royalisten zu untersuchen. Hidalgo gelang es binnen kurzer Zeit, durch massenhafte Mobilisierung ein Heer zu errichten.58 Er wurde bereits 1811 gefangen genommen und im Juli exekutiert, aber andere Anführer setzten die Rebellion fort. Insbesondere der Priester José María Morelos führte einige der erfolgreichsten Kampagnen der Rebellen an. Der Pfarrer aus Michoacán hatte sich bereits im Oktober 1810 der Eroberung der südlichen Gebiete angenommen. Anders als Hidalgo verfolgte Morelos seine Eroberungszüge mit kleinen und besser ausgebildeten Militäreinheiten.59 Ihm gelang es, weite Teile des südlichen Neuspaniens, darunter die Provinz Oaxaca, unter seine Kontrolle zu bringen und bis Beginn des Jahres 1814 zu halten. Die Rebellenführer verfolgten seit 1811 die Errichtung eines eigenen politischen Repräsentationsorgans. Im August 1811 wurde in Zitácuaro (Michoacán) ein Organ zur Koordination der Rebellenaktivitäten in Neuspanien errichtet, das von den Rebellen als amerikanische Nationalversammlung verstanden wurde, die Suprema Junta Nacional Americana. Angesichts einer Krise dieses Organs ließ Morelos im Herbst 1813 in Chilpancingo ein Repräsentationsorgan, den Kongress von Anáhuac, errichten. Dazu ließen die Rebellen Wahlen in den von ihnen besetzten Gebieten durchführen.60 Ab 1814 galten die Rebellen als weitgehend besiegt. Morelos wurde Ende des Jahres 1815 gefangen genommen und exekutiert. Einige Regionen Neuspaniens beruhigten sich auch in dieser Zeit nicht, sondern blieben Schauplätze von Kämpfen zwischen Royalisten und Guerilla-Einheiten der Rebellen.61 Die Rebellen knüpften in ihren Äußerungen und ihrer Selbstdarstellung an den amerikanischen Patriotismus an, denn sie beanspruchten, Repräsentanten 58 59 60 61
Die Größe seines Heeres lässt sich jedoch kaum abschätzen. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd.1, S. 253. Vgl. Hamnett, Brian R.: Roots of Insurgency. Mexican Regions, 1750-1824, Cambridge 2002, S. 143. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, S. 388, 426-427. Vgl. Hamnett, Roots, 2002.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
der in Amerika Geborenen zu sein. Gleichzeitig traten sie für ein egalitaristisches politisches Programm ein, das sich an die neuspanischen Unterschichten richtete. Zwei Monate nach dem Ausbruch der Rebellion hatten sie im November 1810 die Abschaffung der rechtlichen Unterscheidung nach Abstammungskategorien und das Ende der Sklaverei dekretiert. Sie riefen die Einheit der Amerikaner (americanos) aus, die lediglich die Europäer ausschließen sollte.62 Bereits in ihren frühen Verlautbarungen benutzten die Rebellen das Konzept Nation63 und meinten damit eine Nation von Amerikanern.64 Die Abschaffung der Sklaverei konnte zwar nur für eine sehr kleine Minderheit rechtlich relevant sein, doch argumentiert Guardino, dass diese Abschaffung für viele Menschen von überaus großer symbolischer Bedeutung war. Auf der gesamten als ‚gemischt‘ wahrgenommenen Bevölkerung lastete prinzipiell das Stigma, von Afrikanern und damit von Sklaven abzustammen.65 Diese Maßnahme machte deutlich, dass es den Rebellen nicht nur um die Aufhebung rechtlicher Unterscheidung nach Abstammung ging. Sie wollten auch die sozialen Implikationen der Unterscheidung nach calidades eliminieren. Die Rebellen stellten sich gleichzeitig als Verteidiger des katholischen Glaubens vor den häretischen Franzosen dar, und in den ersten Jahren auch als treue Anhänger Ferdinands VII.66 In der Rebellenzeitung El Despertador Americano schrieb im Dezember 1810 ein anonymer Autor sogar „an alle Bewohner Amerikas“ gerichtet: „Nun sind wir die wirklichen Spanier“.67 Eine ähnliche Haltung zeigt sich auch noch in einem Manifest der Junta Suprema vom März 1812. Hier sprach die Junta sich zwar für die Unabhängigkeit (independencia) Amerikas aus und dafür, dass alle Bewohner Amerikas, einschließlich der Europa-Spanier, „eine Nation amerikanischer Bürger“ bilden sollten, bekannten
62 63 64 65
66 67
Vgl. Dok. 5, in: Lemoine Villicaña, Ernesto (Hrsg.): Morelos. Su vida revolucionaria a través de sus escritos y de otros testimonios de la época, México, D.F. 1965, S. 162. Vgl. Dok. 2 und 3, in: Lemoine Villicaña, Morelos, 1965, S. 157-160. Vgl. Dok. 5, in: Lemoine Villicaña, Morelos, 1965, S. 162-163. Vgl. Guardino, La identidad, 2007, S. 265, 269-270. John Tutino hatte die Meinung vertreten, dass Hidalgo sich vor allem gegen die unmittelbar mit dem kolonialen Regime assoziierten Missstände wie Tributpflicht und Sklaverei richtete, da er kein Interesse an einem radikalen Umsturz der sozialen Ordnung hatte, zumal er zu Beginn der Revolte noch mit der Unterstützung seitens neuspanischer Eliten rechnete. Vgl. Tutino, John: From Insurrection to Revolution in Mexico. Social Bases of Agrarian Violence, 17501940, Princeton 1988, S. 134-135. Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 247. Numero 1. El Despertador Americano. Correo Político economico de Guadalaxara del Jueves 20 de Diciembre de 1810, in: Hernández y Dávalos (Hrsg.), Colección, 1968, Bd. II, S. 309-312. Zitat: „a todos los habitantes de América“; „Nosotros somos ahora los verdaderos Españoles“.Vgl. auch Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. 1, S. 244.
Amerikanische Nation und spanische Nation
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sich aber nach wie vor loyal zu Ferdinand VII.68 Die Rebellen entwarfen ihr Konzept einer amerikanischen Nation in dieser Weise als legitime Forderung innerhalb der spanischen Monarchie. In den ersten Jahren des Bürgerkriegs ging sogar das Gerücht durch Neuspanien, dass Ferdinand VII. sich de facto nicht mehr in französischer Gefangenschaft befinde, sondern sich in Neuspanien aufhalte. Er habe sich im Geheimen den Rebellen angeschlossen, um nach deren Sieg die Regierung zu übernehmen.69 Auch die im Frühjahr 1812 verfassten Elementos constitucionales des Rebellenführers Ignacio López Rayón bestätigten diese Tendenz. In dem Staat, den die Rebellen anvisierten, sollte laut Rayón die Souveränität vom Volk ausgehen, in Ferdinand VII. liegen und durch den amerikanischen Nationalkongress (Supremo Congreso Nacional Americano) ausgeübt werden. Die Hoheit lag in den „freien Pueblos“.70 Er verfolgte also ein ähnlich plurales Konzept, wie es Guerra für die amerikanischen Abgeordneten in Cádiz beschrieben hat – die Nation als „Pakt zwischen Pueblos“.71 Erst in den Sentimientos de la Nación vom September 1813 formulierte José María Morelos ein Programm, in dem die vollkommene Unabhängigkeit Amerikas zum Ziel der Rebellen erklärt und Ferdinand VII. nicht mehr als Herrscher anerkannt wurde. Nun war kein König mehr vorgesehen, sondern es sollte lediglich einen Kongress aus Abgeordneten der verschiedenen Provinzen geben. Darüber hinaus wurde die Abschaffung der Unterscheidung nach castas wie auch der Sklaverei bekräftigt.72 Das Programm der Rebellen sah vor, nicht nur die Interessen der nach Autonomie strebenden Kreolen zu vereinen, sondern zielte mit der Abschaffung der calidades auch auf die rechtliche Gleichheit der Amerikaner. Dieses Versprechen richtete sich vor allem an die städtischen und ländlichen Unterschichten. Die Rebellen gaben der amerikanischen Nation auch eine historische Dimension und stellten eine Kontinuität zwischen den prähispanischen Zivilisationen, insbesondere den Mexica, und sich selbst her. Sie bezeichneten ihren Kongress in der sogenannten Verfassung von Apatzingán im Oktober 1814 als „mexikanischen Kongress“ und das zugehörige Territorium als „mexikanisches Amerika“.73 Anders als die Abgeordneten in Cádiz unterschieden die Rebellen 68 69 70 71 72 73
Vgl. Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, S. 397-398. Zitat: „una nación de ciudadanos americanos“. Vgl. Guardino, Las bases, 2004, S. 47. „Elementos constitucionales circulados por el Sr. Rayón“, in: Tena Ramírez (Hrsg.), Leyes fundamentales, 2005, S. 23-27. Zitat: „pueblos libres“. Vgl. Guerra, El soberano, 1999, S. 37-39. Zitat: „pacto entre pueblos“. „Sentimientos de la Nación o 23 puntos dados por Morelos para Constitución“, in: Tena Ramírez (Hrsg.), Leyes fundamentales, 2005, S. 29-31. „Decreto constitucional para la libertad de la América mexicana, sancionado en Apatzingán a 22 de Octubre de 1814“, in: Ramírez, Leyes fundamentales, 2005, S. 32-58. Zitate: „Congreso mexicano“; „América mexicana“.
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nicht zwischen Nationsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft, sondern schrieben: „Alle in Amerika Geborenen werden als Bürger bezeichnet.“74 Ihr Ziel war es die „unverjährbaren Rechte“ der Nation wiederherzustellen.75 Als sie im November des Jahres 1814 die Unabhängigkeit des „nördlichen Amerikas“ erklärten und sich selbst als „Kongress von Anáhuac“ bezeichneten, stellten sie sich deutlich als Erben der prähispanischen Mexica dar.76 Die Rebellen verfolgten ein modernes Konzept von Nation. Sie sahen die Nation als Gemeinschaft der in Amerika Geborenen, also als begrenzte vorgestellte Gemeinschaft. Die Rede von unverjährbaren Rechten und der Verweis auf die prähispanische Vergangenheit lassen erkennen, dass die amerikanische Nation in ihren Augen seit Langem bestand und nun ihr Recht auf Volkssouveränität einforderte. Der Aufstand, der zunächst als Bruch mit der bestehenden Ordnung erscheinen musste, konnte so als Wiederherstellung einer gerechten Ordnung umgedeutet und legitimiert werden. In dieser Vorstellung brachte die Revolution keine vollkommen neue Ordnung, sondern stellte die eigentliche, gerechte Ordnung wieder her.77 Angesichts der Krise von 1808 bemühten sich die Vertreter der spanischen Monarchie in den Amerikas früh darum, die Loyalität zur spanischen Krone zu befördern. Bereits vor dem Ausbruch der Rebellion galt es angesichts der Zerwürfnisse, die Einheit der Neuspanier zu propagieren. So richtete sich Vizekönig Francisco Javier de Lizana y Beaumont schon Ende Januar 1810 an die Einwohner Neuspaniens und beschrieb Europa- und Amerika-Spanier als Mitglieder der gleichen Familie: „der Gachupín ist der Vater des Kreolen; der Kreole ist das Kind des Gachupín“. Er verstand also Europa- und AmerikaSpanier als Mitglieder derselben Abstammungsgemeinschaft. Seine Worte machten deutlich, dass er die Trennung zwischen Europa- und AmerikaSpaniern zu diesem Zeitpunkt als die folgenschwerste und gefährlichste ansah.78
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Ebenda, Kapitel III. Zitat: „Se reputan ciudadanos de esta América todos los nacidos en ella.“ Außerdem sollten auch alle Ausländer durch einen entsprechenden Ausweis als Bürger Amerikas anerkannt werden, sofern sie katholisch waren und der Freiheit der Nation nicht feindlich gegenüberstanden. Ebenda. Zitat: „imprescriptibles derechos“. „Acta solemne de la declaración de la independencia de América septentrional“, in: Ramírez, Leyes fundamentales, 2005, S. 31-32. Zitat: „América septentrional“; „Congreso de Anáhuac“. Siehe zu dieser Legitimierungsstrategie: Vorländer, Hans: Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution, in: Gert Melville (Hrsg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 243–263. „Proclama del Arzobispo Virey de Nueva España a los fieles vasallos de Fernando VII“ (23. Januar 1810), in BN (México), Colección Microfilm, RLAF 183 LAF, M-I-2-29, doc. 5. Zitat: „gachupin es el padre del criollo; criollo es el hijo del gachupin“.
Amerikanische Nation und spanische Nation
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Lizana y Beaumont zeichnete darüber hinaus das Bild einer heterogenen Gesellschaft, die über jegliche sozialen und rechtlichen Unterschiede hinweg in der Loyalität gegenüber Ferdinand VII. und der Feindschaft gegen Napoleon geeint war: Ich sah auch den Spanier mit dem Indio, den Soldaten mit dem Zivilisten, den Kleriker mit dem Tagelöhner, den Ordensmann mit dem Handwerker miteinander verbunden in diesen Straßen Ferdinand bejubeln und Napoleon verfluchen: Man sah und hörte einen Geist, eine Seele, eine Stimme, einen Ausruf.79
Hier wurde die Einheit betont, jedoch gleichzeitig die Heterogenität der Gesellschaft hervorgehoben, womit er am Konzept der korporativen Gesellschaft festhielt. Im Ganzen war der Text stark der korporativen Ordnung verhaftet. Die Erwähnung der verschiedenen Gruppen innerhalb der Gesellschaft und die implizite Thematisierung der sozialen Ungleichheit bei gleichzeitiger Betonung der Einheit legen nahe, dass er diese Schrift an weite Teile der Gesellschaft richtete. Er erwartete, dass sie zirkulieren und beispielsweise über die Priester auch die Unterschichten erreichen werde. Nach dem Ausbruch der Rebellion reagierten die Autoritäten schnell auf die Versprechen der Rebellenführer. Es stand zu befürchten, dass die Rebellen angesichts ihres egalitären Programms viele Menschen für sich gewinnen würden. Die spanischen Autoritäten versuchten entsprechend die geltende Rechts- und Gesellschaftsordnung der Monarchie zu verteidigen. Der Intendant der Intendantur80 México Pedro María de Monterde richtete sich Mitte Oktober 1810 an die Bewohner Neuspaniens. Er behauptete, dass die Rebellentruppen das Land mit einem Krieg überziehen würden, in dem der Bürger das Blut seines „Landsmann und Freundes“ vergieße, denn diese predigten einen „tödlichen Hass gegenüber unseren Mitbürgern und Landsmännern aus Europa“.81 Der zu diesem Zeitpunkt noch unscharfe Begriff Bürger (ciudadano) wie auch der Begriff Landsmann (compatriota) sollten dazu dienen, die Kluft zwischen Europa- und Amerika-Spaniern zu überwinden. So wies Monterde bereits 79
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Ebenda. Zitat: „Yo vi tambien antes enlazados por esas calles victoreando á Fernando y execrando á Napoleon, al español con el indio, al soldado con el paisano, al clerigo con el jornalero, al religioso con el artesano: un espíritu, una (sic.) alma, una voz, una aclamacion se veian y escuchaban.“ Neuspanien war seit dem späten 18. Jahrhundert in mehrere territoriale Einheiten – sogenannte Intendanturen (intendencias) – unterteilt, den jeweils ein Intendant (intendente) vorstand. Vgl. hierzu Pietschmann, Horst: Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart 1980. „Proclama que el intendente interino de la Provincia de México dirige a todos los habitantes de esta Nueva España Y particularmente a los de su distrito“ (12. Oktober 1812), [Impreso] México: D. Manuel Antonio Valdes 1810, in BN (México), RLAF 181 LAF, M-I-2-27, doc. 27. Zitate: „compatriota y amigo“; „odio mortal a nuestros conciudadanos y a nuestros compatriotas de Europa“.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
implizit darauf hin, dass Amerika- und Europa-Spanier derselben Gemeinschaft der spanischen Monarchie angehörten. Monterde verdammte die Unterscheidung zwischen gachupín und criollo, und behauptete: „Wir alle sind Spanier. Wir sind vom selben Blut. Wir sind von derselben Religion“. Die spanische Monarchie sei „das wirkliche Vaterland eines Spaniers“.82 Der Verweis auf das gemeinsame Blut sollte vermutlich auch gemäß dem dargestellten Konzept der limpieza de sangre die Vorstellung moralischer Überlegenheit gegenüber der übrigen Bevölkerung evozieren. Ähnlich wie Lizana y Beaumont thematisierte Monterde also vor allem den Konflikt zwischen Europa- und AmerikaSpaniern. Monterde ging jedoch darüber hinaus, indem er nun auf die gesamte Gesellschaft bezogen behauptete, in der geltenden Rechtsordnung hätten alle die gleichen Möglichkeiten und seien gleichermaßen frei. Damit reagierte er auf die egalitaristische Propaganda der Rebellen: Niemand von uns erhält Höherstellung oder Privileg, das einem anderen seine Lebensgrundlage nähme. Der europäische und der amerikanische Spanier, der Castizo und der Mestizo, der Indio und der Mulato, alle haben Anteil an der gerechten Freiheit, die ihnen eine kluge und schützende Regierung zuteil werden lässt.83
Er begründete diese Behauptung damit, dass alle Leute die gleiche Freiheit hätten, Handel und Landwirtschaft zu betreiben und sich der Erträge ihrer Arbeit zu erfreuen. Die rechtliche Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Gruppen erwähnte er nicht. Gleichzeitig gab Monterde zu erkennen, dass die spanische Regierung offen für Veränderungen der bestehenden Ordnung war. Als Beweis für das Wohlwollen der Regierung führte er zunächst die Aufhebung der Tributpflicht an, wenngleich er nicht erwähnte, dass sie für die Afroamerikaner nur eingeschränkt gültig war.84 Besondere Beachtung schenkte er den Cortes, die wenige Wochen zuvor erstmals zusammengetreten waren. Er stellte sie als das Werk einer wohlwollenden Regierung dar, und hob die Funktion der Abgeordneten als Vertreter der neuspanischen Bevölkerung hervor. Er betonte, dass sie von der Bevölkerung gewählt wurden. Sie seien von der Regierung in die Cortes gerufen worden, um das politische System zu reformieren. Das sei ein Zeichen der „väterlichen Fürsorge“ der Regierung, d.h. der spanischen Übergangsregie-
82 83
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Ebenda. Zitate: „Todos somos españoles: una es nuestra sangre: una nuestra religion […]“; „la verdadera patria de un español“. Ebenda. Zitat: „Ninguno entre nosotros obtiene sobreposision ó privilegio que prive á otro de su subsistencia. El español europeo y americano: el castizo y el mestizo: el indio y el mulato, todos participan en la justa libertad que les dispensa un gobierno sabio y protector.“ Vgl. Kap. 2.1.1.
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rung.85 Er forderte die Bevölkerung sogar auf, sich mit Reformvorschlägen an die Cortes zu wenden, und charakterisierte damit das neue, im Entstehen begriffene politische System als äußerst flexibel. Obwohl Monterde auf die schrittweise Etablierung einer konstitutionellen Monarchie Bezug nahm und von der Reformierung des politischen Systems sprach, vermittelte er seinen Adressaten nicht den Eindruck einer tiefgreifenden Zäsur. Es schien sich vielmehr um die Fortführung des etablierten Verhältnisses zwischen einer wohlwollenden Regierung und ihren Untertanen zu handeln, die er jetzt als Bürger bezeichnete. Monterde versuchte mit seiner Rede, viele Menschen zu erreichen. Der Zwist zwischen Europa- und Amerika-Spaniern nahm zwar einen wichtigen Platz in seiner Rede ein, jedoch war seine Schrift nicht nur an sie gerichtet. Die Abschaffung der Tributpflicht wie auch die vermeintliche Gleichheit der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erwähnte er gerade, um jene Bevölkerungsgruppen anzusprechen, die rechtlich einen anderen Status als die Spanier hatten oder deren calidad sich mit einem geringen gesellschaftlichen Ansehen verband. Nicht zufällig erwähnte er explizit die verschiedenen calidades, einschließlich indio und mulato. Das war eine Reaktion auf den Ausbruch des Bürgerkriegs und den Erfolg der Rebellen. Den Eindruck einer tiefgreifenden Zäsur, die die bestehende rechtliche und soziale Ordnung grundlegend verändern könnte, wollte er aber nicht vermitteln. In einer ländlichen Region der Intendantur México wurde im darauffolgenden Sommer eine Rede verfasst, die ähnlichen Intentionen entsprang wie Monterdes Schrift, sich aber an afroamerikanische und indigene Unterschichten richtete. Obwohl der Text ebenfalls zur Treue gegenüber der spanischen Regierung mahnte, antwortete er anders als Monterdes Rede auf den egalitaristischen Tenor der Rebellen, indem er sich diesem annäherte. Diese Rede wurde vom subdelegado von Cuautla de Amilpas, Roque Amado, verfasst und stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg. Im ungefähr vierzig Kilometer entfernten Cuernavaca hatte die Rebellion 1810 schon sechs Wochen nach ihrem Ausbruch zu Unruhen und der Verfolgung von Europa-Spaniern geführt, an denen sowohl die Amerika-Spanier als auch die Indigenen der Gemeinde beteiligt gewesen waren.86 Im Mai 1811 stand die Rebellion nahezu vor den Toren Cuautlas: In der nur sieben Kilometer entfernt gelegenen Hacienda Mapastlan (heute Ciudad Ayala) war es bereits zu Auseinandersetzungen zwi-
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„Proclama que el intendente [...]“ (12. Oktober 1812), 1810, in BN (México), RLAF 181 LAF, M-I-2-27, doc. 27. Zitat: „paternal desvelo“. [Briefe von Antonio de Fuica an den Vizekönig] (1810) AGN, Operaciones de Guerra, vol. 954, exp. 1, hier fs. 2-3v, und exp. 3, fs. 10-11. Vgl. auch VanYoung, The Other, 2001, S. 155-156.
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schen Rebellen und Royalisten gekommen,87 auf die Amado im Manuskript der Rede verwies. Mit seiner Rede im Juli 1811 verfolgte Roque Amado das Ziel, den Rebellen und ihrem politischen Programm entgegenzutreten, indem er nicht die alte Ordnung verteidigte, sondern eine neue, egalitäre Gesellschaft versprach.88 Amado sprach in Cuautla anlässlich seines Amtsantritts und ließ den Text der Rede anschließend drucken. Es handelte sich nach einer Unterbrechung von fünf Jahren bereits um Amados zweite Amtszeit als subdelegado von Cuautla, wie er betonte. Er stellte sein gutes Verhältnis zur Bevölkerung heraus, bezeichnete sich selbst als ihren Bruder, caudillo und Vater und evozierte hiermit das paternalistische Verhältnis zwischen Krone und Untertanen. Amado behauptete, die Kirchen Frankreichs und Italiens seien in der Hand von Verbrechern und erwähnte direkt im Anschluss die Rebellenheere in Neuspanien, die „gegen Gott, gegen den König, gegen das Vaterland“ kämpften.89 Indem Amado die Rebellen in die Nähe der als häretisch geltenden Franzosen rückte, bediente er sich eines bewährten Feindbilds. Wie es auch der Vizekönig und Monterde getan hatten, verwendete Amado also bekannte Konzepte der Einheitsstiftung. Den Konflikt zwischen Europaund Amerika-Spaniern erwähnte er, ganz anders als Lizana und Monterde, mit keinem Wort. Amado ging wahrscheinlich davon aus, dass die Europa-Spanier in der Region keinen guten Stand hatten. Die Solidarität mit ihnen wäre für die Bevölkerung kaum ein Argument gewesen, sich dem Kampf gegen die Rebellen anzuschließen. Da viele Bewohner der Region Hacienda-Arbeiter waren und in großer ökonomischer Abhängigkeit von Amerika- und Europa-Spaniern standen, konnte das Programm der Rebellen für sie attraktiv sein. Zudem konkurrierten die indigenen Gemeinden der Region seit dem 18. Jahrhundert mit den Großgrundbesitzern um Land und Wasserversorgung.90 Amado verfolgte vielmehr die Strategie, die Vorzüge des neuen politischen Systems für seine Zuhörerschaft hervorzuheben, und gab zu verstehen, dass man sich in einer politischen Umbruchssituation befinde, die für seine gesamte Zuhörerschaft von großer Bedeutung sei. Er sprach die Adressaten als „Geliebte Kinder, Republicanos Indios und übrige Castas“ an und beschrieb den Krieg 87
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Vgl. Bustamante, Carlos María de: Cuadro histórico de la revolución mejicana, comenzada en 15 de setiembre de 1810 por el ciudadano Miguel Hidalgo y Costilla, cura del pueblo de Dolores, en el obispado de Michoacán, Méjico 1854, Bd. I, S. 30. „Proclama que el subdelegado de Quautla Amilpas Don Roque Amado promulgó en su distrito el dia 21 de Julio de 1811 en los dias de su ingreso.“ Impreso. AGN, Operaciones de Guerra, vol. 350, exp. 20, 226-234. Das Manuskript der Rede befindet sich in AGN, Indiferente Virreinal, caja 4096, exp. 1. „Proclama que el subdelegado de Quautla Amilpas […]“ (1811), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 350, exp. 20, hier: f. 1. Zitat: „contra Dios, contra el Rey, contra la Patria“. Vgl. Martin, Rural Society, 1985; Sánchez Santiró, Azúcar, 2001, S. 188.
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der Royalisten gegen die Rebellenheere als einen Kampf „für die erstarkte spanische Nation, die Euch soeben zu freien Bürgern machte, die den Übrigen, aus denen sie sich zusammensetzt, ebenbürtig sind.“91 Mit republicanos indios waren hier die Angehörigen der indigenen Gemeinden gemeint. Die castas setzten sich in diesem Distrikt und auch in der cabecera zum größten Teil aus afroamerikanischer Bevölkerung zusammen. Amados Rede richtete sich daher auch an sie. Die indigene Bevölkerung bildete in der cabecera einen eher geringen Bevölkerungsanteil, verfügte aber über einen indigenen Gemeinderat.92 Die Spanier sprach er dagegen nicht direkt an. Die Erwähnung der rechtlichen Gleichheit der Bürger überrascht, denn schließlich verging noch über ein Jahr, bis in Neuspanien im Herbst 1812 die Verfassung proklamiert wurde und die rechtliche Gleichstellung der spanischstämmigen und indigenen Bevölkerung als Staatsbürger umgesetzt wurde. Amados Rede war nicht nur hinsichtlich der Unterscheidung nach calidades egalitär. Er wendete sich explizit auch an die außerhalb der Gemeinde Cuautla angesiedelte Bevölkerung, insbesondere an die der Haciendas. Auch „Arme, Mittlere und Reiche, Männer, Frauen, junge Leute und alte Leute“ schloss er ein, als er die Bevölkerung aufforderte, vereint gegen die Rebellen zu kämpfen.93 Wie aus einer späteren Rede Amados hervorgeht, ließ er die gedruckte Rede durch die Pfarrer von Cuautla, Zacualpan und Jumiltepec und damit wahrscheinlich auch auf den Haciendas vorlesen und sogar verteilen.94 Er hatte die Rede also ohne Zweifel für die ländlichen Unterschichten seines Distrikts verfasst. Monterde und Amado verwendeten Begriffe wie Mitbürger (conciudadano) und Bürger (ciudadano) schon vor der Verfassungsproklamation von 1812, da der Begriff ciudadano in der spanischen Welt vor dieser rechtlichen Definition bereits eine Bedeutung besaß, die sich auf politische Gemeinwesen bezog. So wurde er schon während der frühen politischen Umwälzungen im Zuge der Krise von 1808 verwendet. Das Dekret zur Wahl der Junta Central wies die Stadträte 91
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94
„Proclama que el subdelegado de Quautla Amilpas […]“ (1811), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 350, exp. 20, f. 1, 2, 7. Zitat: „Amados hijos, Republicanos Indios, y demas castas“; „por la esforzada nacion Española que acaba de haceros Ciudadanos libres iguales á los demas que la componen.“ Vgl. Kap. 2.2.1. „Proclama que el subdelegado de Quautla Amilpas [...]“ (1811), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 350, exp. 20, 226-234. Zitat: „pobres, medianos, y ricos, hombres, mujeres, jóvenes y ancianos“. „Exhortación del subdelegado de Quautla a los pueblos de su partido“ (1812), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 110, fs. 271-273. Amado forderte die Bevölkerung im Jahr 1812 auf nachzusehen, ob sie noch ein Exemplar seiner Rede aus dem Vorjahr hatten, um sich seine Warnungen vor den Rebellenheeren anzusehen. Zacualpan wird hier als „Zaculpa“ bezeichnet.
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beispielsweise an, „die Eigenschaften, die einen guten Bürger ausmachen“, zu berücksichtigen.95 Die Bezeichnung ciudadano hatte zu diesem Zeitpunkt noch eine unscharfe Bedeutung, die sich nicht mit formal definierten Rechten verband. Insbesondere war noch keine Unterscheidung zwischen Nationszugehörigkeit, Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft etabliert. Anders als Monterde assoziierte Roque Amado den Begriff ciudadano jedoch unmittelbar mit der gegenwärtigen Zäsur und brachte ihn unmissverständlich mit Freiheit und Gleichheit in Verbindung. Amado hatte offenbar die Diskussionen um die spanische Nation in Spanien und Neuspanien und die legislativen Neuerungen der Cortes äußerst ernstgenommen. Insbesondere die Abschaffung der Tributpflicht für die indigene und seit März 1811 auch für die gesamte afroamerikanische Bevölkerung dürfte für seinen Distrikt von großer Bedeutung gewesen sein. Wahrscheinlich sah Amado den Unterschied zwischen tributpflichtiger und spanischer Bevölkerung mit diesen Veränderungen so weit schwinden, dass er sie für rechtlich gleichgestellt erklärte. Die frühen Dekrete der Cortes zur Gleichheit von Europäern und Amerikanern und die damit einhergehende Vorstellung einer spanischen Nation brachten Amado zu der Überzeugung, dass nun alle Untertanen ciudadanos seien. Für ihn implizierte Nationszugehörigkeit per se die Gleichheit von Rechten, obwohl die Cortes diese frühen Dekrete, wie aufgezeigt, so formuliert hatten, dass sie freie Afroamerikaner ausschlossen.96 Da die Begriffe Nation und Volkssouveränität seit 1808 eng miteinander verbunden waren, war Amados Interpretation, dass Nationszugehörigkeit auch den Status des ciudadano und die hiermit einhergehenden Rechte implizierte, nicht unplausibel. Amados Rede war nicht repräsentativ für den Umgang royalistischer Akteure mit den gegenwärtigen politischen Umbrüchen, sondern sie ist nur in ihrem konkreten Entstehungskontext zu verstehen. Insbesondere durch die Betonung der Gleichheit aller Bürger und die Hervorhebung dieser Gleichheit als politische Zäsur unterscheidet sich Amados Rede von anderen Verlautbarungen royalistischer Akteure. Wie die Befunde von Silke Hensel zeigen, wurde die Verfassung durch die spanischstämmigen Eliten von Oaxaca-Stadt 1814 und 1820 völlig anders dargestellt.97 Die Eliten nutzten die Verfassung hier vielmehr, um die Einheit von Europa- und Amerika-Spaniern zu stärken, und erwähnten besonders die Religion und den Monarchen. Die Souveränität der Nation und 95
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„Real Orden de la Junta Central expedida el 22 de enero de 1809“, zitiert nach Rodríguez O., Nosotros somos, 2009, Bd. I, S. 154. Zitat: „las calidades que constituyen un buen ciudadano“. Zur Abschaffung des Tributs und den Erklärung zur Gleichheit der Rechte zwischen Europäern und Amerikanern siehe Kap. 2.1.1. Vgl. Hensel, Silke: Zur Bedeutung von Ritualen für die politische Ordnung. Die Proklamation der Verfassung von Cádiz in Oaxaca, Mexiko, 1814-1820, in: Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009), H. 4, S. 597–627.
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die Gleichheit der Bürger nahmen hingegen keinen zentralen Platz ein. Die lokalen Kronbeamten in den indigenen Gemeinden Oaxacas verfolgten bei den Inszenierungen und Reden anlässlich der Verfassungsproklamationen ähnliche Ziele. Wenngleich in einem Fall die neue Gleichheit der Staatsbürger recht ausführlich thematisiert wurde, stand, so Hensel, die Kontinuität mit der bestehenden Ordnung im Vordergrund und dem Inkrafttreten der Verfassung wurde häufig geringe Bedeutung beigemessen.98 Vermutlich glaubte Amado, große Überzeugungsarbeit leisten zu müssen, damit die Bevölkerung der royalistischen Seite treu bleibe, und hob deshalb lange vor der Verabschiedung der Verfassung die neue Gleichheit hervor. Amados Mühen waren vergeblich, denn die fast zweimonatige Besetzung Cuautlas durch José María Morelos’ Truppen im Frühjahr 1812 war eine der erfolgreichsten militärischen Kampagnen der Rebellenheere. Auch Morelos verfasste am 8. Februar in Cuautla eine Rede für seine Anhänger, vor allem für seine Soldaten, die er als „geliebte Amerikaner“ ansprach.99 Hier stellte er der spanischen Nation die amerikanische Nation gegenüber und trat für die Schaffung einer amerikanischen Versammlung ein, die während der Abwesenheit Ferdinands die Regierung stellen und die „Rechte der freien Menschen“ bewahren sollte. Er sprach seine Zuhörer auch als „Mitbürger“ und „meine Landsleute“ an.100 Die gachupines sollten sich der amerikanischen Nationalversammlung der Rebellen anschließen oder mit dem Leben bezahlen. Er kritisierte zudem die Strategie der Royalisten, ihren Kampf als Verteidigung der Religion darzustellen.101 Die Bevölkerung Cuautlas wurde also in dieser Zeit von Amado und Morelos mit verschiedenen Vorstellungen von Nationszugehörigkeit konfrontiert. Beide verwendeten die Kategorie des ciudadano und verbanden sie mit ihren jeweiligen Nationskonstruktionen. Die Besetzung der Gemeinde durch die Rebellen und ihre gleichzeitige Belagerung durch die Royalisten hatten verheerende Auswirkungen. Wie aus einem Bericht Amados an den Intendanten vom 28. Juli hervorgeht, war Cuautla zu diesem Zeitpunkt vollkommen zerstört und niedergebrannt worden und keine einzige Person mehr lebte in der Gemeinde. Die wenigen Leute, die sich noch in der Region aufhielten, waren seinen Aufforderungen, in die Gemeinde zurückzukommen, nicht gefolgt.102 Am selben Tag verfasste Amado daher eine neue Rede, die er selbst als „Ermahnung“ betitelte. Sie sollte der Bevölkerung 98 99
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Vgl. ebenda, S. 610, 612, 614, 617-618. Dok. 22, in: Herrejón Peredo, Carlos (Hrsg.): Morelos. Documentos inéditos de vida revolucionaria, Zamora 1987, S. 190-193. Zitate: „Amados americanos“. Er sprach zu den Soldaten seines Süd-Heeres („Ejército del Sur“). Ebenda. Zitate: „derechos de hombres libres“;„conciudadanos“; „paisanos míos“. Vgl. ebenda. [Informe de Roque Amado sobre el reconocimiento hecho a Cuautla.] (1812), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 98, fs. 247-249.
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seines Distrikts wie auch den Bewohnern Yautepecs vorgelesen werden.103 Er forderte die Bevölkerung ein weiteres Mal auf, zurück nach Cuautla und auf die Haciendas zu kommen, um Cuautla wieder aufzubauen und die Arbeit auf den Haciendas wieder aufzunehmen. Die Indigenen sollten sich an ihn wenden, damit er ihnen Orte für die Wiedererrichtung ihrer Hütten zuweise.104 Die Rebellen waren zwar vorerst besiegt, aber Amado fürchtete um sein Leben. Er bewegte sich zu diesem Zeitpunkt mit einer Eskorte durch die Region105 und bat den Vizekönig, seine Rede nicht drucken zu lassen, denn er glaubte, mit dieser Ermahnung sein Leben zu riskieren.106 In seiner Schrift wandte er sich an die „nicht-indigenen Personen des Distrikts, die Spanier und die übrigen Castas“,107 wobei nicht deutlich wird, in welchem Sinne die Bezeichnung Spanier hier zu verstehen ist. Dass Amado die indigene Bevölkerung nicht mehr ausdrücklich nannte, hing wahrscheinlich damit zusammen, dass er sie schon in den Spaniern inbegriffen sah. Über den rechtlichen Status der Afroamerikaner war er sich möglicherweise nicht mehr im Klaren und nannte daher zusätzlich die castas. Er rügte die Bevölkerung dafür, die Rebellen unterstützt zu haben und erinnerte sie an seine warnende Rede aus dem Vorjahr. Auch um den Leuten die Rückkehr zu erleichtern, betonte Amado, dass er nicht sie, sondern die Rebellen für die Verursacher der Übel halte. Wie im Vorjahr versuchte er Einheit zu stiften, indem er sich auf die spanische Nation bezog, allerdings wies seine Wortwahl einen entscheidenden Unterschied auf: „sagt mir, ohne Vorspiegelungen, sind wir nicht alle Spanier? Sind wir nicht alle Geschwister? Sind wir nicht alle von derselben Art? Sind wir nicht alle nach Gottes Ebenbild geschaffen?“108 Abgesehen von der Ähnlichkeit seiner Worte mit der Schrift Monteredes von 1810 fällt eine weitere Besonderheit auf: Weder hier noch an anderer Stelle seiner Rede taucht der Begriff ciudadano auf, denn diese Kategorie hatte mittlerweile eine neue – präzisere und engere – Bedeutung gewonnen. Amados Annahme, die Nationszugehörigkeit impliziere auch den Besitz der vollen staatsbürgerlichen Rechte, konnte nun nicht mehr aufrechterhalten werden. Nicht 103 104 105 106
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„Exhortación del subdelegado de Quautla a los pueblos de su partido“ (1812), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 110, fs. 271-273. Zitat: „Exhortación“. Ebenda, f. 273. [Informe de Roque Amado sobre el reconocimiento hecho a Cuautla.] (1812), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 98, fs. 247-249. Der „Exhortación“ liegt ein an den Vizekönig gerichtetes Schreiben bei. „Exhortación del subdelegado de Quautla“ (1812), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 110, fs. 271-271v. Ebenda. Zitat: „individuos de Razon del Partido, Españoles, y demas castas“. Ebenda. Zitat: „decidme: sin ficciones. No somos todos Españoles? No somos todos hermanos? No somos todos de una misma especie? No somos todos echos á imagen y semejanza de Dios?“
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alle Mitglieder der spanischen Nation waren ciudadanos. Die Verfassung wurde erst im September in Neuspanien proklamiert, war jedoch schon im März in Spanien in Kraft getreten. Amado wusste also bereits, dass weite Teile der Bevölkerung seines Distrikts aufgrund ihrer afrikanischen Abstammung von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden würden. Er konnte seinen Adressaten angesichts dessen nur noch die spanische Nation als attraktive Zugehörigkeitskategorie anbieten. Die Überwindung der Differenzierung nach calidades und die Abschaffung der Sklaverei bildeten zentrale Elemente des politischen Programms der Rebellen. Letzteres verband sich mit dem Entwurf eines modernen Nationskonzepts, welches Amerika zum zentralen, einigenden Referenzpunkt der Rebellenanhänger machen sollte. Die amerikanische Nation bildete einen Gegenentwurf zur spanischen Nation, der die Autonomie Neuspaniens und eine egalitäre Gesellschaft versprach. Die Verteidiger der spanischen Regierung in Neuspanien versuchten demgegenüber, die Loyalität der Bevölkerung zum Mutterland zu stärken und setzten dafür je nach Kontext und Adressaten unterschiedliche Strategien ein. Royalistische Akteure zögerten in der Krise der Monarchie und selbst nach Beginn des Bürgerkriegs, die gegenwärtigen politischen Umbrüche als tiefgreifende Zäsur darzustellen. Am Beispiel des Distrikts Cuautla wird allerdings deutlich, dass die Repräsentanten der spanischen Regierung das egalitäre Rebellenprogramm als äußerst attraktiv für Indigene und Afroamerikaner einschätzten. Zumindest in dieser Region, wo sich weite Teile der Bevölkerung in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Zuckerhaciendas befanden, mussten die royalistischen Autoritäten besonders auf die Versprechen der Rebellen reagieren. Deshalb konkurrierten Royalisten und Rebellen darum, wer den Indigenen und Afroamerikanern der Region das bessere Angebot machen konnte. Beide Seiten argumentierten mit der Schaffung einer egalitären Gesellschaft und versuchten mit ihren jeweiligen Nationskonzepten, die Bevölkerung von ihrer Zugehörigkeit zu einer „vorgestellten Gemeinschaft“109 zu überzeugen.
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Anderson, Die Erfindung, 1996, S. 15.
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3. Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg Wie in der Einleitung erwähnt, wird diskutiert, ob bestimmte Gruppierungen sich im Bürgerkrieg der 1810er-Jahre eher den Rebellen anschlossen als andere. In diesem Kapitel wird die Partizipation der indigenen Bevölkerung wie auch die der afroamerikanischen Bevölkerung im Bürgerkrieg beleuchtet. Über die langfristigen Gründe für die Rebellion und die konkreten Motive der Anhänger der Rebellen gibt es in der Forschung eine breite Auseinandersetzung. Während einige Historiker die Rebellion in erster Linie auf wirtschaftliche Ursachen zurückführen,110 oder diesen zumindest große Bedeutung beimessen,111 hat Eric Van Young eine kulturwissenschaftlich orientierte Erklärung vorgeschlagen.112 Auch diese kommt jedoch, wie seine Kritiker zu Recht anmerken, letztlich nicht ohne den Rückbezug auf wirtschaftliche Ursachen der Rebellion aus.113 Hinsichtlich der Partizipation der indigenen Bevölkerung liegen bereits einige Studien vor. Eric Van Young untersuchte eine Vielzahl von Daten zu festgenommenen Rebellenkämpfern und konnte nachweisen, dass indigene Bevölkerung während des Bürgerkriegs mehr als die Hälfte der Anhängerschaft der Rebellen bildete. Ihr Anteil an den Rebellen war hiermit ungefähr proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil. Er konstatiert gleichwohl, dass die Anführer der Rebellen vor allem Kreolen und Mestizen waren.114 Die indigenen Eliten hielten, so der Autor, eher den Royalisten die Treue als andere Indigene.115 Nach Van Young verfolgten indigene Rebellen vor allem lokal orientierte Interessen und verteidigten die Autonomie ihrer Gemeinden. Ein protonationalistisches Projekt sieht er lediglich unter den Anführern der Rebellenheere gegeben, während Indigene hierzu weitgehend indifferent gewesen seien.116 110 111 112 113
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Siehe vor allem: Tutino, From Insurrection, 1988. So z.B. Hamnett, Roots, 2002. Siehe insb.: VanYoung, The Other, 2001, S. 9, 14-22, 497. Vgl. Hamnett, Brian R.: Review: The Other Rebellion: Popular Violence, Ideology, and the Mexican Struggle for Independence, 1810-1821 by Eric Van Young, in: Journal of Latin American Studies 34 (2002), H. 4, S. 962–965; Tutino, Soberanía quebrada, 2009, S. 47-48. Vgl. VanYoung, The Other, 2001, S. 41, 45. Van Youngs Feststellung beruht auf der quantitativen Auswertung von Informationen zu über 1000 gefangengenommenen Rebellen. Vgl. ebenda, S. 143-144, 163. Den Grund hierfür sieht der Autor darin, dass indigene Eliten ihre Privilegien häufig durch Kollaboration mit lokalen nicht-indigenen Autoritäten erlangt hatten und daher stärker der kolonialen Ordnung verpflichtet waren. Die Aufrechterhaltung der Verwaltungsstrukturen in den indigenen Gemeinden war zudem häufig in ihrem eigenen Interesse. Vgl. ebenda, S. 138, 177, 496-497; VanYoung, Eric: A Nationalist Movement without Nationalism. The Limits of Imagined Community in Mexico, 1810-1821, in: David Cahill/Blanca Tovías (Hrsg.), New World, First Nations. Native Peoples of Mesoamerica
Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg
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Van Youngs Befunde können allerdings nicht einfach verallgemeinert werden. So belegt John Tutino, dass die Region des Bajío, wo die Revolte ausbrach, sich in vieler Hinsicht von Zentralmexiko unterschied, wo der Fokus von Van Youngs Studie liegt. Der Bajío war stark von Hacienda-Wirtschaft geprägt und ein großer Teil der Bevölkerung lebte auf diesen. Die Wirtschaft lag im Wesentlichen in der Hand von Großgrundbesitzern und die Gemeinden setzten sich aus indigener, aber zu großen Teilen auch aus nicht-indigener Bevölkerung zusammen. Zentralmexiko, die um Mexiko-Stadt gelegenen Regionen wie das Valle de México und das Valle de Toluca, war hingegen viel stärker von repúblicas de indios geprägt. Über diese repúblicas hatte die Bevölkerung auch Zugang zu Land, weshalb die Zugehörigkeit zu den Gemeinden hier von besonderer Bedeutung war. Damit erklärt Tutino, dass die Bevölkerung des Bajío sich schnell den Rebellenheeren anschloss und ihnen langfristig treu blieb, während die Aktivität indigener Rebellen in Zentralmexiko stärker lokal orientiert blieb.117 Die starke lokale Orientierung der indigenen Bevölkerung war somit vor allem ein Merkmal von Regionen mit relativ autonomen indigenen Gemeinden wie Zentralmexiko. Auch andere Historiker betonen, dass indigene Akteure im Rahmen des Bürgerkriegs häufig lokale Interessen verfolgten.118 Ducey zeigt für Papantla (Veracruz), dass in den von Rebellen besetzten Regionen die indigenen Selbstverwaltungsstrukturen nicht nur aufrechterhalten wurden, sondern sich neue repúblicas aufgrund der Kriegsfronten bildeten. Nachdem die Royalisten die Region zurückerobert hatten, wurden in den größeren Gemeinden royalistische Militärs stationiert. Deshalb entstanden zu jeder dieser Gemeinden außerhalb der Gemeinde neue Siedlungen der Rebellenanhänger. Diese Siedlungen bildeten eigene Gemeindestrukturen aus, so dass sich gemäß der alten Unterteilung in indigenen Gemeinden nun royalistische cabeceras und aufständische sujetos – untergeordnete Gemeinden – bildeten.119 Eine generelle Aussage über die Positionierung indigener Bevölkerung im Unabhängigkeitskrieg ist de facto nicht möglich. Indigene waren weder per se Rebellen noch Royalisten. Der Umgang mit dem Bürgerkrieg seitens der indigenen Bevölkerung war allerdings vielerorts durch ihre Verfasstheit in Gemeinden geprägt, besonders in den Regionen, in denen die Gemeinden über einen gewissen Grad an Autonomie verfügten.
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and the Andes Under Colonial Rule, Brighton; Portland 2006, S. 218–252, S. 220-221, 225-226. Vgl. Tutino, Soberanía quebrada, 2009, S. 34-43 Vgl. z.B. auch Ducey, Village, 1999, S. 466; Escalona Lüttig, Huemac: Manipulación política y conflicto interno. La presencia insurgente en la zona Mixe Baja de Oaxaca, México, 1812-1818, in: Anuario de estudios americanos 70 (2013), H. 1, S. 157–194, hier: S. 188. Ducey, Village, 1999, S. 473-474.
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Diese Bedeutung der repúblicas für die Indigenen und die damit einhergehende lokale Orientierung standen nicht im Widerspruch dazu, dass Indigene zentrale Elemente der Rebellen- wie auch der Royalistenpropaganda übernahmen. Michael Ducey weist eine deutliche Konvergenz zwischen Rebellenführern und ihren Anhängern nach und schreibt: „[…] villagers participated in the ideological creation of the nation along with the creole elite.“120 Zwar ist auch Ducey der Meinung, dass lokale Konflikte ausschlaggebend für Gewalt im Bürgerkrieg waren, aber er belegt eine „protonational language“ unter den Rebellen.121 Die lokale Orientierung vieler indigener Rebellen widerspricht also nicht der Hypothese, dass auch der proto-nationalistische Charakter der Propaganda und insbesondere die Konstruktion eines gemeinsamen Feindbildes ausschlaggebend für den Mobilisierungserfolg der Rebellen waren. Lokale Interessen konnten gerade verteidigt werden, indem man sich einer der Bürgerkriegsparteien anschloss und ihre Argumente und Redeweise übernahm. Ein Beispiel für das Ineinandergreifen des Feindbilds der Europa-Spanier und der lokalen Orientierung der Indigenen bildet folgende Äußerung einer indigenen Gemeinde. Die república de indios von Tataltepec (Oaxaca) schrieb am 3. November 1811 einen Brief an den gobernador von Tututepec über den Kampf zur Verteidigung der Kreolen gegen die gachupines, denn „wegen ihnen geht es uns so schlecht“. Die Verfasser erwähnten, dass sie die Ankunft eines Priesters – offenbar Morelos – erwarteten, denn, „wenn er kommt, wird es Gerechtigkeit geben und er wird einen Anwalt in jeder Gemeinde einsetzen, damit der Reiche ebenso bestraft wird wie der Arme“.122 Die Rebellen wurden in indigenen Gemeinden also u.a. mit Gerechtigkeit und Gleichheit in Verbindung gebracht und sollten eine Verbesserung für das Leben in der Gemeinde bringen. Indigene interpretierten die Forderungen der Rebellen hier zwar im Licht ihrer eigenen lokalen Interessen und übernahmen gleichzeitig das Feindbild der gachupines. Dass sie dieses Feindbild übernahmen ist kaum überraschend, wenn man bedenkt, dass Indigene schon in der Krise von 1808 Konzepte wie die amerikanische Nation und das Feindbild der Franzosen verwendeten. Auch aus anderen Regionen gibt es deutliche Hinweise dafür, dass die Bevölkerung das Feindbild der Europa-Spanier durchaus als zentrales Element in ihr politisches Repertoire integriert hatte. Ein Europa-Spanier führte im Jahr 1823 in der vornehmlich indigenen Gemeinde Aculco (heute: Estado de Méxi120 121 122
Vgl. ebenda, S. 491. Vgl. ebenda, S. 482-483. [Bernardino Bonavía notifica al virrey sobre las operaciones que han hecho los rebeldes en Pinotepa, Jamiltepec y Juquila] (1811), AGN, Indiferente Virreinal, caja 4408, exp. 006, Operaciones de Guerra, hier: fs. 5, 8. Zitate: „por eyos estamos tan abatidos“; „asta que [e]l benga abra Justisia entonses pondra un abogado en cada pueblo para que tanto se castige el pobre com[o] el rrico“. Sie erwarteten einen „padre“.
Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg
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co) die Opposition gegen ihn darauf zurück, dass er Europa-Spanier war und im Krieg bei den Royalisten gedient hatte. Der subdelegado, offenbar ebenfalls Europäer, bestätigte ihm: [...] meiner Meinung nach ist der größte Fehler, den sie an Ihnen finden, der schreckliche Makel, Europäer zu sein, denn fast in ganz Amerika hasst und verabscheut man uns mit Herz und Seele, ohne dass sie das noch beheben könnten, denn es ist in ihrem Blut verankert.123
Die beiden Seiten im Bürgerkrieg wurden vor allem als Feinde und Verteidiger der Europa-Spanier wahrgenommen, was sich 1812 nach der Besetzung Cuautlas durch Morelos zeigte. Morelos hatte während seiner Besetzung im Frühjahr in den indigenen Gemeinden neue Amtsträger einsetzen lassen. Nach der Besetzung ließ der subdelegado Roque Amado die indigenen gobernadores wieder absetzen. Zunächst sträubten sich laut Amado viele Personen aus Angst vor einer Rückkehr der Rebellen, die nun frei gewordenen Ämter zu bekleiden. Nachdem sie die Amtsstäbe aber empfangen hatten, setzten die gobernadores umgehend jene alcaldes ab, die von den Rebellen eingesetzt worden waren. Zudem hätten sie ausgerufen: „keine Gauner mehr“. Die Indigenen würden nun untereinander sagen, „dass die Gachupines nicht so übel sind, dass es ihnen ohne sie schlechter ging. Andere sagen, dass der Priester [d.h. Morelos] ein Jude ist, dass er sie getäuscht hat, dass es schlecht wäre, wenn er zurückkäme.“124 Wie Peter Guardino zu Recht anmerkt, sind die wirklichen Gedanken hinter den Aussagen der Akteure für den Historiker ohnehin nicht zu erschließen.125 Inwiefern die Akteure also nationalistisches oder proto-nationalistisches Denken verinnerlicht hatten, lässt sich kaum klären. Klar ist jedoch, dass sie oft mit denselben Kategorien hantierten wie Royalisten- und Rebellenführer. Die rechtliche Stellung von Afroamerikanern während der Kolonialzeit wie auch die mit afrikanischer Abstammung einhergehende Stigmatisierung legt die Vermutung nahe, dass Afroamerikaner besonders geneigt waren, sich den Rebellen anzuschließen. Ausgehend von dieser Annahme versuchte Ted Vincent, die Bedeutung der Afroamerikaner für den mexikanischen Unabhängigkeitskampf nachzuweisen. Nach Vincent spielten Afroamerikaner ebenso wie 123
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„Renovaz[ió]n de Ayuntam[ien]tos. Tasquillo y Aculco“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 128, s/e, s/f. Siehe auch Kap. 2.3.1. Zitat: „[...] en mi concepto el mayor defecto q[ue] encuentran en U[sted] és la terrible mancha de ser europeo por q[ue] casi en lo general de las americas nos detestan y aborrecen con alma vida y corazon, sin que lo puedan ya remediar porque lo tienen reconsentrado en la maza de la sangre.“ [Informe de Roque Amado sobre el reconocimiento hecho a Cuautla.] (1812), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 98, fs. 247-249. Zitate: „ya no mas picaros“; „que los Gachupines no son tan malos q[ue] peor estarian sin ellos. Otros dicen q[ue] el Padre [Morelos, D.G.] es Judio, q[ue] los engañó, q[ue] lo malo sera si buelve.“ Vgl. Guardino, The Time, 2005, S. 10.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Mestizen in den Rebellenheeren eine äußerst wichtige Rolle. Er zeigt auf, dass zahlreiche Rebellenführer mutmaßlich afrikanischer Abstammung waren und argumentiert, dass die Rebellen in Regionen mit großem afroamerikanischem Bevölkerungsanteil besonders erfolgreich gewesen seien.126 Die Zahl der afroamerikanischen Rebellenführer ist jedoch wenig aussagekräftig, solange sie nicht mit der Zahl der Rebellenführer anderer calidades verglichen wird. Vincents Argumentation mit dem großen Bevölkerungsanteil der Afroamerikaner ist zudem recht spekulativ. Abgesehen von den Rebellenführern gelingt es dem Autor kaum, konkrete Fälle afroamerikanischer Partizipation nachzuweisen. Um die Rolle von Afroamerikanern im Bürgerkrieg zu verstehen, dürfen sie nicht als homogene Gruppe betrachtet werden. Afroamerikanische Sklaven, Freie und Milizionäre hatten unterschiedliche rechtliche Status wie auch ein unterschiedliches Verhältnis zur Krone und zu anderen gesellschaftlichen Gruppen. Solche Unterschiede müssen auch bei der Betrachtung der Positionierung von Afroamerikanern im Bürgerkrieg berücksichtigt werden. Für die wenigen Sklaven Neuspaniens war die Rebellion sehr attraktiv, was angesichts des dargestellten Programms wenig verwunderlich ist. Die Sklaven der Hacienda Puquaro im Osten Michoacáns standen beispielsweise bereits seit Beginn der Rebellion auf Seite der Rebellen.127 Auf diversen Haciendas in Córdoba (Veracruz) kam es außerdem zwischen 1812 und 1818 zu Sklavenaufständen.128 Von den Haciendas bei Xalapa (Veracruz) berichtete man 1818, dass dort praktisch nur Sklaven lebten und diese mit Rebellen gemeinsame Sache machten, und dass sie „auf den Ruin der Haciendas hoffen, um nicht zu arbeiten und um den Anführer [Guadalupe] Victoria zu erfreuen.“129 Unabhängig von ihrer politischen Positionierung bot der Bürgerkrieg den Sklaven außerdem die Möglichkeit, von den Haciendas zu fliehen, sich den Rebellenheeren anzuschließen oder sich im Hinterland der Städte und Haciendas zu verstecken.130 Eine allgemeine Aussage über die politische Positionierung von freien Afroamerikanern während des Bürgerkriegs zu machen, ist wesentlich schwieriger, denn ihre sozialen und rechtlichen Positionen in der Gesellschaft waren vielfältiger. Das Verhalten der afroamerikanischen Milizen ist in der Forschung bereits für einige Regionen am Rande betrachtet worden. Ausführlich befasst sich lediglich Peter Guardino in seiner Studie zur Region des späteren Bundesstaats 126 127 128 129
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Vgl. Vincent, The Blacks, 1994, S. 259, 261-264, 268. [Zu Begnadigung für die Sklaven der Hacienda Puquaro] (1818), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 805, exp. 22. Vgl. Naveda Chávez-Hita, Esclavos negros, 1987, S. 153-156; Ortiz Escamilla, Juan: El teatro de la guerra. Veracruz, 1750-1825, Castelló de la Plana 2008, S. 132. [Über die Sklaven auf den Haciendas, scheinbar bei Xalapa] (1818), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 320, exp. 33, fs. 210-212, hier: f. 211. Zitat: „suspiran por la ruina de d[ic]has Haciendas p[ara] no trabajar y complacer al cabecilla [Guadalupe] Victoria.“ Vgl. Carroll, Blacks, 2001, S 99-101; Andrews, Afro-Latin America, 2004, S. 58.
Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg
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Guerrero mit diesen Akteuren. Er zeigt, dass der bisherige Status der afroamerikanischen Milizen und ihr Verhältnis zu ihren Anführern ausschlaggebend für ihr Verhalten gegenüber den Rebellen waren. Als der Rebellenführer José María Morelos im Herbst 1813 in der nordwestlich von Acapulco gelegenen Costa Grande einmarschierte, schlugen sich die afroamerikanischen Milizen bald auf seine Seite und unterstützten die Rebellen während des gesamten Jahrzehnts. Überhaupt war die vornehmlich von Afroamerikanern besiedelte Costa Grande während des Bürgerkriegs für die Rebellen eine zuverlässige Basis. Noch in den 1820er-Jahren hegten die Küstenbewohner einen tief verwurzelten Hass gegen Europa-Spanier, der seine Ursachen u.a. in der Abhängigkeit der Farmpächter von spanischen Kaufleuten hatte.131 Lediglich die Kaufmannschaft und die Garnison Acapulcos waren laut Guardino die letzten den Royalisten treuen Gruppen an der Costa Grande. An der südöstlich von Acapulco gelegenen Costa Chica blieben die Milizen von Ometepec dagegen den Royalisten treu. Das Verhalten dieser Milizen erklärt Guardino u.a. damit, dass die Milizen der Costa Chica bereits seit dem 17. Jahrhundert bestanden und erfolgreich für ihre Befreiung von der Tributpflicht gekämpft hatten. Außerdem habe der royalistische Kommandant Francisco Paris sich in seiner vorherigen Funktion als subdelegado der Region durch eine kluge Politik die Loyalität der Afroamerikaner gesichert.132 Während sich an der Costa Grande sogar wichtige Mitglieder der landbesitzenden Elite und zudem die Priester der Region den Rebellen anschlossen, gilt die Costa Chica in der Historiographie als royalistisch.133 Das Bild ist jedoch nicht eindeutig. Einige Afroamerikaner im Distrikt Jamiltepec schlossen sich schon früh den Rebellen an. Im September 1811 berichtete der Pfarrer von Huazolotitlán dem Bischof, die Afroamerikaner der Region Jamiltepec hätten sich zu Rebellen erklärt und erwarteten bereits die Ankunft Morelos’. Anführer war Josef de Vielma, ein im Ruhestand befindlicher Feldwebel (sargento) aus Pinotepa del Rey (heute Pinotepa Nacional) gewesen, also mutmaßlich ein Afroamerikaner. Dieser sei festgenommen worden und schließlich von den mulatos aus Pinotepa und Huazolotitlán befreit worden.134 Laut einem zeitgenössischen Bericht sollen die negros aus Chicometepec unter Führung eines Antonio
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Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 50-51; Guardino, Las bases, 2004, insb. S. 44, 48, 50, 53. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 51, 53-54. Vgl. Hernández Jaimes, Jesús: La insurgencia en el sur de la Nueva España, 1810-1814. ¿insurrección del clero?, in: Ana Carolina Ibarra (Hrsg.), La independencia en el sur de México, México, D.F. 2004, S. 59–102, hier: S. 82, 84; Gay, José Antonio: Historia de Oaxaca, México 1986, S. 447. „Carta al obispo Bergosa sobre la gente parda declarada insurgente y la proximidad de Morelos. 1811, septiembre 19, Huaxolotitlán“, in: Herrejón Peredo (Hrsg.), Morelos, 1987, S. 126-127.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Valdés am 26. Oktober die cabecera von Jamiltepec überfallen haben.135 José Garrote, der Kommandant der Division von Jamiltepec, wurde wegen subversiver Bemerkungen allerdings von seinen eigenen afroamerikanischen Soldaten festgenommen. Nach ihrer Aussage hatte er die Indigenen dazu bewegen wollen, die Einsetzung eines indigenen Königs zu fordern, der nicht von den Spaniern bestimmt werden sollte. Er habe auch zum Mord an den Spaniern aufgerufen und ihre Ausweisung gefordert.136 Ende Oktober schätzte ein Zeuge, dass die Rebellen in der Region bei Jamiltepec sich aus 600 negros und 20 indios zusammensetzten.137 Wenngleich ein direkter Vergleich mit der indigenen Bevölkerung hier nicht möglich ist, sprechen einige Hinweise also dafür, dass die Afroamerikaner sich besonders schnell den Rebellen anschlossen. Die afroamerikanischen Milizen blieben den Royalisten jedoch eher treu. Neben der 5. Division von Ometepec blieben einige Offiziere der 6. Division Jamiltepecs und scheinbar auch Teile der Soldaten zunächst den Royalisten treu.138 Morelos berichtete 1813 demgegenüber, die Afroamerikaner hätten ihm anfangs vehementen Widerstand geleistet. Dann habe man ihnen militärische Posten bei den Rebellenheeren angeboten und sie so erfolgreich gelockt.139 Ende des Jahres 1813 hatte die Rebellen-Regierung in Oaxaca mit Aufständen der afroamerikanischen Bevölkerung zu kämpfen, wie Israel Ugalde feststellt.140 Die Rückeroberung der Küste geschah schließlich unter Anführung von Antonio Reguera, dessen Truppen vor allem aus den afroamerikanischen Milizio-
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[Teposcolula, Oaxaca. Oficios y varios papeles que se refieren a una carta que se recibió de un cura de Huazolotitlan [...]. ] (1811), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 104, exp. 8, hier: f. 107. Vgl. auch Gay, Historia, 1986, S. 447-448. Ebenda, f. 108. Garrote wurde von „soldados costeños“ festgenommen. Ebenda, f. 109. Für die Treue der Offiziere sprechen: [Bernardino Bonavía notifica ... ] (1811), in AGN, Indiferente Virreinal, caja-exp.: 4408-006, Operaciones de Guerra, hier: f. 3. [Informes sobre las tropas empleadas contra los sublevados de Xamiltepec …], AGN, Indiferente Virreinal, caja 1562, exp. 037, Operaciones de Guerra, hier: f. 7-8v. Außerdem hob der Kommandant Manuel Obeso 1820 die bisherige Treue der beiden Divisionen von Ometepec und Jamiltepec hervor: [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. „1813, 17 de octubre, Morelos a Bustamante, persuadiéndolo de la necesidad de ser estrictos en materia de disciplina“, in: Lemoine Villicaña (Hrsg.), Morelos, 1965, S. 403404. Ugalde Quintana, Israel: La insurgencia de Morelos en la Costa Chica de Oaxaca, 18101815, México, D.F. 2011, S. 71, 73. Ugalde Quintana beruft sich auf: „1813, 17 de octubre, Morelos a Bustamante, persuadiéndolo de la necesidad de ser estrictos en materia de disciplina“, in: Lemoine Villicaña (Hrsg.), Morelos, 1965, S. 403-404; und eine Äußerung Morelos in der Rebellenzeitung: Correo Americano del Sur, 11. November 1813.
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nären der Küste bestanden.141 Wie Guardino für die Region Ometepec feststellt,142 waren 1821 auch in Jamiltepec nicht alle Afroamerikaner bereit, die Vereinigung der Royalisten- mit den Rebellenheeren zu akzeptieren. So versuchte der royalistische Kommandant José Alemán im Distrikt Jamiltepec noch über ein Jahr nach der Unabhängigkeit, mit einer Gruppe von ca. 100 Afroamerikanern einen Coup gegen die neu errichtete Regierung durchzuführen.143 Die Befunde zur Costa Chica lassen also nur vorsichtige Rückschlüsse hinsichtlich der Beteiligung von Afroamerikanern zu. Es lässt sich nicht eindeutig belegen, dass Afroamerikaner sich per se besonders rasch den Rebellen angeschlossen hätten. Ohne Frage spielte die Milizzugehörigkeit eine entscheidende Rolle für die militärische Positionierung von Afroamerikanern an der Costa Chica. Dort war das Verhältnis der Milizen zur Krone zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit nachhaltig gestört. Denn im späten 18. Jahrhundert waren Afroamerikaner weitgehend aus den höheren Rängen der afroamerikanischen Milizen entfernt und durch Spanier ersetzt worden.144 Dieser Sachverhalt wurde von einem Bewohner von Huazolotitlán noch 1820 angeführt, als er dafür argumentierte, den Afroamerikanern der Gemeinde einen eigenen Gemeinderat zuzugestehen.145 Im November 1811 schrieb der Bischof von Oaxaca an den Vizekönig, man habe ihn informiert, dass die afroamerikanischen Milizionäre seit dieser Reform besonders anfällig für Unruhen seien.146 Er schlug daher als Mittel zur Besänftigung der Bevölkerung vor, die höheren Ränge der Milizen zumindest teilweise wieder mit Afroamerikanern zu besetzen. Der Bischof berichtete außerdem, er selbst habe in den Gemeinden der Region beobachtet, dass die militärischen Titel für die Afroamerikaner wichtige Mittel sozialer Distinktion seien, denn sie würden sogar von den bereits im Ruhestand befindlichen Personen weiter verwendet: „es gab in all diesen Gemeinden viele im Ruhestand 141 142 143
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Vgl. Ugalde Quintana, La insurgencia, 2011, S. 75. Ugalde stützt seine Behauptung auf einem Bericht Regueras: Gaceta de México, 15. Januar 1814. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 53. [Oaxaca. Notificación de Celso de Iruela, comandante general de Oaxaca a José Domínguez […]. Informa haber dado cuenta al Emperador sobre el proceso formado a los traidores José Alemán.] (1822), in AGN, Gobernación [sin sección], caja 40/9, exp. 54, fs. 3-10, hier: f. 7. [Solicitud del comandante general de Oaxaca Celso de Iruela al ministro de Justicia sobre la cancelación de la caución juratoria a favor de los reos y facciosos José Alemán y cómplices en virtud de no tener inmunidad.] (1823), in AGN, Justicia, vol. 18, exp. 28, fs. 272-310. Ich danke Israel Ugalde Quintana dafür, mich auf den Widerstand seitens José Alemán aufmerksam gemacht zu haben. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 209-210. „El Intendente de Oaxaca haciendo varias consultas sobre elecciones“ (1820), AGN, Ayuntamientos, vol. 183. Siehe auch Kap. 2.2.1. Brief des Bischofs Antonio von Antequera (4. November 1811), AGN, Indiferente Virreinal, caja 3239, exp. 025, Infidencias, fs. 1-4.
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befindliche Feldwebel und Gefreite, die sich damit ehrten, ihre Rangabzeichen zu verwenden.“147 Auch die Rebellen nahmen die afroamerikanischen Milizen und die militärischen Grade der Milizionäre ernst. An der Costa Chica war es eine ihrer Strategien, den militärischen Grad von überlaufenden Afroamerikanern aus den Royalistenheeren in den eigenen Reihen aufrechtzuerhalten. Dies ist nicht nur für den Milizkapitän Mariano Tavares belegt, der 1810 in Acapulco von den royalistischen afroamerikanischen Milizen auf die Seite Morelos’ wechselte.148 José María Morelos selbst berichtete im Oktober 1813, dass es dem Rebellenführer Nicolás Bravo gelungen war, die Afroamerikaner von Jamiltepec für die Rebellen zu gewinnen: Diejenigen, die es vorher auch waren, blieben Offizier, mehr als tausend desertierten und schlossen sich unseren Reihen an, und das Eigentum aller und jedes einzelnen wurde respektiert und die Morde, die viele von ihnen an unseren Soldaten begangen hatten, wurden vergeben.149
Die Milizangehörigkeit und das damit einhergehende Prestige sind also durchaus ausschlaggebend für die Positionierung von Afroamerikanern im Bürgerkrieg gewesen. Dies zeigt sich nochmals deutlich an den Erwägungen des Kommandanten Manuel de Obeso im Jahr 1820. Obwohl er ursprünglich vorgesehen hatte, ein aus Guadalajara kommendes Bataillon in Ometepec einzusetzen, entschied er sich anders. Nachdem er von einem Pamphlet mit dem Titel Afroamerikanische Klage (Clamor Afri americano) erfahren hatte, fürchtete er Unruhen, denn der Text forderte staatsbürgerliche Rechte für die Afroamerikaner ein und zirkulierte an der Küste. Obeso hob in einem Brief an den jefe político superior Apodaca die bisherige Treue der afroamerikanischen Divisionen von Ometepec und Jamiltepec hervor. Um diese Loyalität zu erhalten, wollte er unter allen Umständen vermeiden, die afroamerikanischen Soldaten der Region zu vergrämen. Da die Afroamerikaner von Ometepec die Einsetzung des Bataillons aus Guadalajara als fehlendes Vertrauen in sie interpretieren könnten, entschied Obeso sich dagegen, die Truppen aus Guadalajara in Ometepec einzusetzen:
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Ebenda, fs. 3-3v. Zitat: „habia en todos aquellos Pueblos bastantes Sargentos, y Cabos retirados q[u]e se honrraban con usar de su distintibo.“ Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 164. „1813, 17 de octubre, Morelos a Bustamante, persuadiéndolo de la necesidad de ser estrictos en materia de disciplina“, in: Lemoine Villicaña (Hrsg.), Morelos, 1965, S. 403404. Zitat: „quedaron de oficiales los mismos que lo eran antes, se le desertaron más de mil, que voluntariamente se alistaron en nuestras banderas, y fueron respetadas las propiedades de todos y cada uno, y perdonados los asesinatos que muchos de ellos hicieron en nuestros soldados.“
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Diese Geschehnisse veranlassten mich dazu, meine Meinung zu ändern, denn da sie [die Süd-Divisionen] eifrige Verteidiger ihres Landes sind, könnten sie glauben, man misstraue ihrer Treue, und durch diesen Unmut [könnte] es zu einem Tumult kommen.150
Veracruz war wie die Costa Grande eine der Regionen, in denen die Rebellen großen Zuspruch seitens der Bevölkerung erhielten. Ab Mai 1811 schlossen sich die meisten Gemeinden in Veracruz den Rebellen an.151 Die Regionalhistoriker sind sich weitgehend darüber einig, dass dies auch für Afroamerikaner und Afro-Milizen galt. Michael Ducey zeigt anhand der Gemeinde Papantla, dass die Rebellen auf indigene Gemeindebewohner und auf afroamerikanische Milizen besondere Anziehungskraft hatten. Die Rebellen boten afroamerikanischen Milizionären sogar an, zum Offizier aufzusteigen, wenn sie gewillt waren, sich ihren Truppen anzuschließen. Nach Ducey hatten sich im Sommer 1812 bereits alle Milizen der Küste den Rebellen angeschlossen, allerdings mit Ausnahme der Offiziere.152 Auch Antonio Escobar Ohmstede berichtet, dass die Royalistenheere in Tampico 1816 darunter litten, dass immer mehr Soldaten desertierten und sich zum Teil den Rebellen anschlossen. Er zieht den Schluss, dass die afroamerikanischen Milizionäre den Royalisten im Allgemeinen nicht treu blieben.153 Die Präsenz der Afroamerikaner in den Reihen der Rebellen wurde von einigen Beobachtern hervorgehoben, so die Darstellung von Juan Ortiz Escamilla. Der Pfarrer des Küstenorts Nautla behauptete Ende des Jahres 1812, dass die Afroamerikaner den Rebellen besonders stark anhingen und einen Hass gegen alle Weißen, auch Kreolen, pflegten. In der Region gab es in der Tat mehrere afroamerikanische Rebellenführer.154 Ortiz Escamilla schreibt zudem, dass sich aufständische indigene Gemeinden offen für Verhandlungen gezeigt hätten, wogegen Afroamerikaner extreme Gewalt und Zerstörung an den Tag gelegt hätten.155 Letztere Aussage ist allerdings fragwürdig. Ortiz Escamilla 150
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[Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Zitat: „estas ocurrencias me hicieron variar de ideas, en atencion a q[ue] siendo [las Divisiones del Sur, D.G.] como son zelosos Defensor[e]s de su Pais, podrian crer se desconfiaba de su fidelidad, y al disgusto succeder alguna conmocion.“ Vgl. Ortiz Escamilla, El teatro, 2008, S. 117. Vgl. Ducey, Village, 1999, S. 470-471. Vgl. Escobar Ohmstede, Antonio: Las dirigencias y sus seguidores, 1811-1816. La insurgencia en las Huastecas, in: Marta Terán/José Antonio Serrano Ortega (Hrsg.), Las guerras de independencia en la América española, Zamora; Morelia; México, D.F. 2002, S. 217–235, S. 232. Vgl. Ortiz Escamilla, Juan: Las compañías milicianas de Veracruz. Del ‘negro’ al ‘jarocho’: la construcción histórica de una identidad 4 (2006), H. 8, S. 9–29, S. 19-20; Ortiz Escamilla, El teatro, 2008, S. 122, 123, 128. Ortiz Escamilla, Las compañías, 2006, S. 19.
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liefert hierfür erstens eine recht dünne empirische Basis – nur ein Beispiel – und zweitens erinnert die These an kolonialzeitliche Stereotypen von Afroamerikanern. Ein bereits gezeigter Sachverhalt spricht zudem eindeutig gegen diese Hypothese: In Veracruz wie auch an der Pazifikküste boten die Rebellen afroamerikanischen Milizionären militärische Posten an, was für die Verhandlungsbereitschaft der Afroamerikaner spricht. Ab 1818 gelang es den Royalisten, Veracruz wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, jedoch kam es nach dem erneuten Inkrafttreten der Verfassung von Cádiz bald wieder zum Ausbruch des Kriegs. Die aus Mestizen und Afroamerikanern bestehende Bevölkerungsgruppe der jarochos der Tierra Caliente schloss sich, so Ortiz Escamilla, bald jenen Kräften an, die für eine Unabhängigkeit Mexikos eintraten. Antonio López de Santa Anna war hier einer der Anführer, die die jarochos um sich versammelten. Im Ganzen sieht Ortiz Escamilla daher das Projekt der spanischen Krone, die Afroamerikaner zu nützlichen Verteidigern der Monarchie zu machen, als vollkommen gescheitert an. Die von den Bourbonen bewaffneten Kräfte hätten sich letztlich gegen diese selbst gerichtet.156 Afroamerikanische Milizen positionierten sich ebenso wie der größte Teil der Gemeinden auf Seite der Rebellen, doch gab es Orte mit afroamerikanischen Milizen, die geradezu Bollwerke gegen die Rebellenheere bildeten. Im November 1812 veröffentlichte die Regierungszeitung Gaceta del Gobierno de México den Bericht des Befehlshabers Juan Maria Soto. Die ganze Region nördlich der Stadt Veracruz hatte sich nach Soto den Rebellen angeschlossen, mit Ausnahme von nur zwei Gemeinden: Tuxpan und Tampico.157 Tampico, wo Afroamerikaner die überwiegende Mehrheit der Milizionäre im späten 18. Jahrhundert bildeten,158 war den Royalisten offenbar besonders lang treu geblieben, ebenso die viel kleinere afroamerikanische Gemeinde Tuxpan.159 Dasselbe galt für die größtenteils afroamerikanische Gemeinde Tamiahua, die Soto allerdings nicht erwähnt hatte. Tamiahua wendete sich daher im Mai 1813 an den Vizekönig, um den Bericht Sotos richtigzustellen. Sich selbst bezeichneten die Verfasser des Briefs als „die Bewohner der Gemeinde Tamiahua, die sich aus Weißen – Europäern wie auch Kreolen – aus freien Pardos und Morenos und einigen Indios zusammensetzt“. Sie behaupteten, ihre beiden Kompanien hätten auf Seite der Royalisten gekämpft, hoben ihre Treue hervor 156 157 158
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Vgl. ebenda, S. 21-23, 28. Gaceta de México, Nr. 316, 12. November 1812. Laut Vinson III wurden 1766 über 800 „pardos“ als brauchbar für den Milizdienst klassifiziert, aber nur 21 „whites“; noch 1780 wurden 861 Afro-Milizionäre in Tampico gezählt. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, S. 38, 121. Um 1780 waren laut Vinson III 73 der 98 Milizionäre in Tuxpan Afroamerikaner. Vgl. ebenda, S. 43.
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und betonten ihre Opfer und Mühen bei der Rückeroberung einiger Gemeinden für die „gerechte Sache, die jeder gute Spanier verteidigt“. Ihr Beschwerdebrief wurde ebenso wie Sotos Bericht in der Gaceta veröffentlicht.160 Die Gemeinde Tamiahua konnte wie erwähnt auf eine lange Tradition afroamerikanischer Milizen zurückblicken. Im September 1811 hatten sich bereits einige Frauen aus Tamiahua an den Vizekönig gerichtet. Sie bezeichneten sich als „Witwen, Verheiratete und Waisen“ und als „Mütter, Frauen, Töchter und Schwestern“ der im Hafen von Veracruz stationierten Soldaten. Sie beschwerten sich darüber, dass die Soldaten Tamiahuas sich bereits seit April 1810 in der Stadt Veracruz aufhielten und schilderten die aus der Abwesenheit der Männer erwachsenen Nöte. Ein Jahr der Abwesenheit hatten sie in Kauf genommen, damit ihre Männer mit „Ehrbarkeit, Ruhe und ohne Desertionen“ Ferdinand VII. dienten.161 Für die Afroamerikaner Tamiahuas war die Treue zu Ferdinand und zu Spanien offenbar ein äußerst hohes Gut. Laut Carlos María Bustamante unterstützten auch die Afroamerikaner der Gemeinden Tlacotlapan und Alvarado ab Ende April 1813 entschieden die Royalisten.162 Die Befunde aus Veracruz zeigen keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen afrikanischer Abstammung und Positionierung im Bürgerkrieg, schließlich hatte sich praktisch die gesamte Bevölkerung den Rebellen angeschlossen. Nur die Aussage des Priesters von Nautla über den Hass der Afroamerikaner gegenüber den Weißen spricht für ihre besondere Nähe zu den Rebellen. Die Milizzugehörigkeit konnte für Afroamerikaner ein Grund sein, den Royalisten treu zu bleiben, aber die Loyalität afroamerikanischer Milizionäre war nur in Einzelfällen so stark, dass die Milizen zu Bollwerken gegen die Rebellen wurden. In der Region um Cuautla und Cuernavaca existierten anders als an den Küsten keine dezidiert afroamerikanischen Korporationen. Es gab keine wichtigen militärischen Institutionen und insbesondere keine afroamerikanischen
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Los moradores de Tamiahua sobre su fidelidad (1813), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 32, fs. 151-152. Zitate: „Los Moradores del Pueblo de Tamiagua, compuesta de gente blanca Europea, y criolla, de Pardos y Morenos libres, y algunos Indios“; „justa causa que todo buen Español defiende“. Sie bezogen sich auf die Gaceta de México, Nr. 316 (12. November 1812). Ihr Anliegen wurde schließlich in der Gaceta de México, Nr. 424 (8. Juli 1813) publik gemacht. Petición de las viudas, casadas y huerfanas del pueblo de Tamiahua (1811), in AGN, Indiferente Virreinal, caja 3409, exp. 002, Indiferente de Guerra, fs. 24-25. Zitat: „Viudas, Casadas y Huerfanas“; „Madres, Mugeres, hijas, y Hermanas“; „honradez, quietud, y sin deserciones“. Das Dokument ist von drei Frauen unterzeichnet, die schreiben „firmamos por todas“. Vgl. Bustamante, Cuadro histórico, 1854, Bd. I, S. 288-289.
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Milizen,163 geschweige denn als pueblos anerkannte Gemeinden der afroamerikanischen Bevölkerung. Afro-Milizionäre waren lediglich in der Kompanie Cuautlas vertreten.164 Die hartnäckige und lange Besetzung Cuautlas unter José María Morelos im Frühjahr 1812 spricht für eine große Unterstützung der Rebellen in der Region. Ted Vincent folgerte hieraus zusammen mit der großen demographischen Bedeutung der Afroamerikaner in Cuautla, dass Letztere die Unterstützerbasis der Rebellentruppen in der Region bildeten.165 Ohne Frage hatten die Rebellen in der Bevölkerung Cuautlas beträchtlichen Rückhalt. Wie erwähnt, fühlte der subdelegado Roque Amado sich 1812 noch in Gefahr, und er rügte die Bevölkerung für ihre Unterstützung der Rebellen. In seiner „Ermahnung“ vom Juli 1812 sagte er: Ihr dachtet, dass dieses Heer von Banditen zu Schutzengeln Eures Glücks geworden sei, und zu Bewahrern neuer zahlreicher Errungenschaften. Ihr könnt es nicht bestreiten, denn ich habe viele Papiere gesehen (und nicht ohne Schmerz) von vielen, von denen ich es nicht erwartete.166
Amado erwähnte auch, dass Leute aus der Region nach Zacatula entsendet wurden, sich also den Rebellen angeschlossen hatten. Die indigene Bevölkerung der Region war allerdings auch von beträchtlicher Größe, so dass eine Differenzierung zwischen Indigenen und Afroamerikanern kaum möglich ist. In der Wahrnehmung einiger Zeitgenossen hatten Afroamerikaner und Indigene in der Tat ein unterschiedliches Verhältnis zum Rebellenführer Morelos. Feldmarschall Felix Maria Calleja berichtete Venegas, dem jefe político superior Neuspaniens, von der Belagerung Cuautlas, Morelos verliere die Gefolgschaft vieler indios und castas, doch kein negro habe ihn verlassen.167 Inwiefern diese Aussage sich 163 164
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Ben Vinson III erwähnt mit keinem Wort Afro-Milizionäre in der Region um Cuautla und Cuernavaca. Vgl. Vinson III, Bearing Arms, 2001, insb. S. 231-235. Der subdelegado von Cuautla beklagte im März 1810, dass in der letzten Zeit darüber hinaus verstärkt Afroamerikaner rekrutiert worden waren, die sich nun als Milizionäre weigerten weiter den königlichen Tribut zu entrichten und hierbei sogar von ihren Offizieren unterstützt wurden. [Cuautla. Don Domingo Rodríguez se queja de que el Capitán de Milicias de la Nueva España Don José Fernández para completar la dicha compañía ha incorporado a muchos mas tributarios mulatos […]] (1810), AGN, Indiferente Virreinal, caja 5220, exp. 083. Tributos. Vgl. Vincent, The Blacks, 1994, S. 263. „Exhortación del subdelegado de Quautla a los pueblos de su partido“ (1812), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 110, fs. 271-273. Zitate: „Vosotros pensabais q[u]e todo ese Exercito de bandidos se habían constituido angeles tutelares de buestra felicid[ad], y conserbadores, de nuevos haberes cuantisiosos. No podeis negarlo, porq[u]e he bisto varios Papeles, (i no sin dolor) de muchos q[u]e no pensaba […].“ Mit „Papieren“ („papeles“) waren Dokumente im Kontext von Begnadigungen gemeint. Laut dem Katalog des Archivo de Lucas Alamán der Universität Texas findet sich dort die Abschrift eines Dokuments aus dem dies hervorgeht. Es handelt sich um die Empfangsbestätigung des Vizekönigs Venegas vom 27. März 1812 an den sich bei Cuautla
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auf die Bevölkerung der Region bezog, ist unklar, denn Calleja meinte auch jene Afroamerikaner in Morelos’ Truppen, die ihm von der Pazifikküste nach Cuautla gefolgt waren.168 Die Truppen, mit denen Morelos Cuautla eroberte, zwei Monate lang besetzt hielt und verteidigte, bestanden vor allem aus Afroamerikanern.169 Es gibt weitere Belege dafür, dass Morelos Afroamerikaner gegenüber den Indigenen bevorzugt behandelte, u.a. wenn es um die Versorgung mit Lebensmitteln ging. Allerdings ist hier ebenso unklar, ob von Morelos’ Soldaten der Küste oder den ansässigen Afroamerikanern die Rede ist.170 Im Juli 1812 berichtete Roque Amado, die indigenen Gemeinden hingen nicht mehr Morelos an und hätten den Hass auf die Europa-Spanier abgelegt.171 Im folgenden Monat erfuhr er dagegen, dass die Bevölkerung in dem Landstrich zwischen Cuautla und Cuernavaca, die laut Amado ohnehin Anhänger des Rebellen Ayala gewesen waren, nach wie vor ihre Sympathie für die Rebellen und ihre Feindseligkeit gegenüber den gachupines äußerte.172 Diese Region war stark von Haciendas und afroamerikanischer Bevölkerung geprägt. In diesem Landstrich lag u.a. die genannte Gemeinde Yautepec, die über einen
168
169 170
171 172
befindenden Calleja. In dieser wird der Inhalt des vorangegangenen Briefs Callejas resümiert. Moguel, Josefina: Guía e índices del archivo Lucas Alamán, 1706-1951, México, D.F. 2001, S. 28. Das Original befindet sich im AGN, wurde dem Autor jedoch nicht zur Konsultierung zur Verfügung gestellt: [Carta del virrey de estar enterado de los indios que abandonan a Morelos pero ningun negro lo ha dejado […] ] (1812), in AGN, Operaciones de Guerra, vol. 200, exp. 120, fs. 239-240. So lautet die Beschreibung des Briefes: „Acusa recibo de carta en la que informa el pase de indios y castas pero no negros de la costa, los más adictos a (José María) Morelos (y Pavón).“ Moguel, Guía, 2001, S. 28. Vgl. Vincent, The Blacks, 1994, S. 263. Vincent beruft sich auf Lucas Alamán. Im Archivo de Lucas Alamán finden sich zwei Briefe Callejas an Venegas, die dies deutlich zeigen. Leider konnte der Autor dieser Studie lediglich die im Katalog befindlichen Zusammenfassungen der entsprechenden Quellen konsultieren. Laut dem Katalog geht aus einem Brief Callejas aus Cuautla an Venegas vom 2. April 1812 hervor, dass Morelos die Indigenen wesentlich schlechter behandelte als die afrikanischstämmige Bevölkerung. Die Zusammenfassung des Dokuments enthält ein aufschlussreiches Zitat aus dem Brief. Calleja „considera que el pueblo y la mayoría de los indios están oprimidos por la fuerza, mal trato, despotismo y la violencia, y tambien carecen de agua y víveres. Al contrario, los auxilios son para los negros ‘a quien unicamente trata de tener contentos’, y los demas son los que padecen necesidades extremas.“ Über einen weiteren Brief Callejas an Venegas vom 6. April heißt es im Katalog: „Llama la atención de que Morelos tiene preferencia en dar víveres a los negros y a tal extremo que los indios pueden rebelarse.“ Moguel, Guía, 2001, S. 30-31. [Informe de Roque Amado sobre el reconocimiento hecho a Cuautla.] (1812), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 98, fs. 247-249. Brief des subdelegado Roque Amado an den Vizekönig (1812), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 717, exp. 128, fs. 310-312, hier: f. 310v. Gemeint ist hier Francisco Ayala und nicht Ignacio Ayala. Vgl. Bustamante, Cuadro histórico, 1854, Bd. 1, S. 30-33.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
beträchtlichen afroamerikanischen Bevölkerungsanteil verfügte.173 Die Rebellen scheinen in der Region um Cuautla also große Unterstützung gehabt zu haben, aber es lässt sich nicht klar belegen, dass hierfür der große afroamerikanische Bevölkerungsanteil ausschlaggebend war. Die Stimmen der Zeitgenossen deuten vage darauf hin, dass Afroamerikaner die Rebellen in besonderem Maße unterstützten und Morelos sie bevorzugt behandelte. Der Rückhalt der Rebellen ist allerdings auch durch die ökonomischen Bedingungen der Region zu begründen, denn große Teile der Bevölkerung waren als Hacienda-Arbeiter von spanischen Großgrundbesitzern abhängig. In den 1820er-Jahren kam es zu einer Reihe von Ausschreitungen und militärischen Mobilisierungen, an denen Afroamerikaner maßgeblich beteiligt waren. In dieser Zeit ereigneten sich immer wieder anti-spanische Kampagnen, wozu Ausschreitungen gegen die europäischen Spanier und Rufe nach ihrer Ausweisung gehörten. Dies gilt nicht nur für die Jahre 1823-1825, in denen der Kriegszustand zwischen Spanien und Mexiko andauerte und der Hafen von Veracruz immer wieder durch die Spanier bombardiert wurde.174 Als Reaktion auf die pro-spanische Verschwörung des spanischen Priesters Joaquín Arenas erließen 1827 zahlreiche Bundesstaaten Ausweisungsgesetze, u.a. Estado de México, Oaxaca und Veracruz. Ende Dezember wurde auf Bundesebene ein Ausweisungsgesetz erlassen.175 Zum Höhepunkt anti-spanischer Ausschreitungen und Propaganda in Mexiko-Stadt und anderen Teilen des Landes kam es Ende des Jahres 1828 nach den Präsidentschaftswahlen. Die Bundesstaaten hatten im September den gemäßigt liberalen Manuel Gómez Pedraza zum Präsidenten Mexikos gewählt. Die Niederlage des als radikal liberal geltenden ehemaligen Rebellenführers Vicente Guerrero provozierte jedoch Widerstand in weiten Teilen der Republik. Guerrero konnte durch die militärische Unterstützung seiner Verbündeten schließlich die Präsidentschaft übernehmen.176 Auch dieser Konflikt stand im Kontext der Auseinandersetzungen um den Umgang mit den Spaniern im Land. Schon Ende Oktober 1828 hatte der amtierende Präsident Guadalupe Victoria bekannt gegeben, dass die Spanier einen erneuten 173 174
175
176
Siehe Kapitel 2.2.2. Vgl. Sims, Harold D.: La expulsión de los españoles de México (1821-1828), México, D.F. 1974, S. 19; Sims, Harold D.: The Expulsion of Mexico’s Spaniards, 1821-1836, Pittsburgh 1990, S. 11-13; Ruiz de Gordejuela Urquijo, Jesús: La expulsión de los españoles de México y su destino incierto, 1821-1936, Madrid 2006, S. 64-67; zu Oaxaca: Hensel, Die Entstehung, 1997, S. 169-170. Vgl. Sims, The Expulsion, 1990, S. 14-15, 19, 26, 41; Costeloe, La primera, 1975, Kap. III; Di Tella, Torcuato S.: National Popular Politics in Early Independent Mexico, 1820-1847, Albuquerque 1996, S. 196; Ruiz de Gordejuela Urquijo, La expulsión, 2006, S. 68-69. Laut Sims‘ Schätzungen wurden lediglich 27% der Spanier ausgewiesen. Vgl. Sims, The Expulsion, 1990, Kap. 3; Vincent, The Legacy, 2001, S. 165-176.
Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg
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Angriff auf Mexiko planten. Im März 1829 wurde ein strengeres Ausweisungsgesetz gegen die Spanier erlassen, wenngleich auch dieses Gesetz im Laufe des Jahres durch mehrere Ausnahmen ergänzt wurde.177 Die Kandidatur Guerreros war für die mexikanischen Unterschichten von großer symbolischer Bedeutung. Er war ein prominenter Rebellenführer gewesen, wurde mit der Ausweisung der Spanier assoziiert und stand für eine protektionistische Wirtschaftspolitik zugunsten von Handwerkern und Kleinbauern. Er war somit ein Symbol des Aufbegehrens gegen das spanische Erbe, das sich für die Bevölkerung Mexikos vor allem in der Wirtschaftsmacht der Spanier äußerte.178 Guerrero wurde außerdem afrikanische Abstammung zugeschrieben und er wurde eng mit der Pazifikküste und seiner afroamerikanischen Bevölkerung assoziiert.179 Nach der Niederlage Guerreros bei den Präsidentschaftswahlen von 1828 kam es in einigen Städten Mexikos zu schweren Ausschreitungen. So wurde in Mexiko-Stadt der Parián gestürmt und geplündert; als Markt mit vielen Geschäften spanischer Eigentümer handelte es sich um ein Symbol spanischer Wirtschaftsmacht und Kolonialherrschaft. Silvia Arrom sieht die Parián-Revolte daher als Indiz dafür, dass städtische Unterschichten schon früh einem mexikanischen Nationalismus anhingen.180 Vincent spricht hier von einer „workingclass and dark-skinned people’s revolt“.181 Vicente Guerrero galt als ehemaliger Rebellenführer gerade den verarmten Unterschichten, die vor allem unter der Stigmatisierung aufgrund ethnischer Distinktion litten, als Symbol für die Überwindung der spanischen Macht. Obwohl Guerrero als Afroamerikaner gesehen wurde, gibt es keine Anzeichen dafür, dass Afroamerikaner an diesen urbanen Aufständen stärker teilnahmen oder Guerreros Anhänger sich vor allem als Afroamerikaner begriffen. Bei den Initiativen zur Ausweisung der Spanier in den 1820er-Jahren spielten Afroamerikaner eine wichtige Rolle. Afroamerikaner waren maßgeblich an den Ausschreitungen gegen die Spanier beteiligt sowie an den militärischen 177 178 179 180
181
Vgl. Sims, The Expulsion, 1990, S. 47, 76; Costeloe, La primera, 1975, S. 172;Ruiz de Gordejuela Urquijo, La expulsión, 2006, S. 75-76. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 125-127. Vgl. Vincent, The Legacy, 2001, S. 159-160. Vgl. Arrom, Silvia M.: Popular Politics in Mexico City. The Parian Riot, 1828, in: The Hispanic American Historical Review 68 (1988), H. 2, S. 245–268, S. 261-262; Sims, The Expulsion, 1990, S. 51. Vincent, The Legacy, 2001, S. 173. Rosalina Ríos Zúñiga verortet den im Januar 1829 in Sombrerete (Zacatecas) auftretenden Aufstand ebenfalls im Kontext der Konstruktion des mexikanischen Nationalstaats, da er sich um nationale Referenzpunkte gedreht habe, nämlich Vicente Guerrero und die anti-spanische Propaganda. Vgl. Ríos Zúñiga, Rosalina: Popular Uprising and Political Culture in Zacatecas. The Sombrerete Uprisings (1829), in: The Hispanic American Historical Review 87 (2007), H. 3, S. 499–536, S. 535-536.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
Mobilisierungen während der Ausweisungskampagnen und insbesondere dem Kampf um die Präsidentschaft im Jahr 1828. Laut Peter Guardino nahmen die Afroamerikaner der Costa Grande aktiv an den militärischen Erhebungen zwischen 1827 und 1829 teil. Die ersten anti-spanischen Ausschreitungen des Jahres 1827 fanden im August an der Costa Grande bei Acapulco statt, und zwar unter José María Gallardo. Der ehemalige Rebellenführer stand an der Spitze der afroamerikanischen Milizionäre.182 Im Januar 1828 begannen die ehemaligen Rebellenführer Juan Álvarez und Isidoro Montes de Oca zusammen mit ihren Milizen die Ausweisung der Spanier zu fordern. Montes de Oca und Juan Álvarez unterstützten mit ihren Milizionären auch Antonio López de Santa Anna in seinem Bemühen, Guerrero ins Amt des Präsidenten zu bringen. Nachdem Guerrero wieder gestürzt worden war, beteiligten dieselben Kräfte sich am Krieg gegen die neue Regierung Anastasio Bustamantes. Laut Guardino war die Bevölkerung der Costa Grande den Spaniern extrem feindlich gesinnt.183 Auch in Gemeinden der afroamerikanisch geprägten Costa Chica fanden anti-spanische Aufstände statt, so in Jamiltepec und Ometepec. 184 Bemerkenswert ist ebenfalls, dass nicht nur Vicente Guerrero, sondern auch zentrale Anführer anti-spanischer Rebellionen als Afroamerikaner galten, wie José María Lobato, Juan Álvarez und Isidoro Montes de Oca.185 Peter Guardino stellt die Hypothese auf, dass Regionen mit großem Anteil an afroamerikanischer Bevölkerung, in denen zudem Spanier die Wirtschaft dominierten, besonders empfänglich für antispanische Propaganda waren. Er verweist hier auf die Costa Grande in den 1820er-Jahren, auf die Region Morelos nach der Revolution von Ayutla in den 1850er-Jahren und auf die Costa Grande im Jahr 1926.186 Guardino formuliert die These zu Recht vorsichtig, denn es wäre voreilig, von der anti-spanischen Mobilisierung der Afroamerikaner auf eine generelle Abneigung von Afroamerikanern gegenüber Spaniern zu schließen. Anti-spanische Ausschreitungen fanden schließlich auch an Orten statt, die sich keineswegs durch einen großen Anteil afroamerikanischer Bevöl182 183 184 185
186
Vgl. Sims, La expulsión, 1974, S. 86; Sims, The Expulsion, 1990, S. 22; Guardino, Peasants, 1996, S. 116-117; Guardino, Las bases, 2004, S. 52-53. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 116-119, 125-126, 130, 132. Auch Sims charakterisiert die Truppen von Montes de Oca als Afroamerikaner: Vgl. Sims, La expulsión, 1974, S. 87. Vgl. ebenda, S. 83-85. Der ehemalige Rebellenführer Brigadier José María Lobato führte im Januar 1824 eine anti-spanische Revolte in Mexiko-Stadt an. Vgl. ebenda, S. 19; Sims, The Expulsion, 1990, S. 11-13; Vincent, The Blacks, 1994, S. 271. Vincent beruft sich auf Lucas Alamán. Zu Montes de Oca: Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 118. Als Álvarez 1855 Präsident wurde, betrachten einige Zeitgenossen auch ihn als Afroamerikaner, allerdings scheint er von anderen als Mestize wahrgenommen worden zu sein: Vgl. ebenda, S. 118; Vincent, The Legacy, 2001, S. 225-226. Vgl. Guardino, La identidad, 2007, S. 291-292.
Indigene und Afroamerikaner im Bürgerkrieg
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kerung auszeichneten. Darüber war die afroamerikanisch geprägte Costa Chica zugleich eine Bühne pro-spanischer Aufstände in den Jahren 1826–1827, und wie erwähnt kam es hier kurz nach der Unabhängigkeit noch zu pro-spanischen Aufständen seitens der Afroamerikaner.187 Es besteht also kein eindeutiger Zusammenhang zwischen afroamerikanischer Bevölkerung und anti-spanischer Mobilisierung. Klar ist aber, dass die spätkolonialen afroamerikanischen Milizen im frühen Nationalstaat wichtige Akteure blieben. Zusammenfassend lässt sich weder für Indigene noch für Afroamerikaner grundsätzlich eine bestimmte Haltung gegenüber den Bürgerkriegsparteien nachweisen. Für Indigene waren weder Rebellen noch Royalisten per se besonders attraktiv. Die Verfasstheit der Bevölkerung in indigenen Gemeinden war aber ausschlaggebend dafür, wie Indigene sich zum Bürgerkrieg verhielten, und erklärt, aus welchen Motiven sie sich der Rebellion anschlossen oder den Royalisten treu blieben. So verfolgten Indigene in Regionen mit relativ starken indigenen Gemeinden eher lokale Interessen. Die Spaltung zwischen Anhängern der Royalisten und der Rebellen schlug sich nicht zufällig in Regionen wie Veracruz in der Gründung neuer repúblicas nieder. Das Verhalten der Indigenen im Bürgerkrieg ist also in großen Teilen aus ihrer korporativen Verfasstheit in indigenen Gemeinden zu verstehen. Was Afroamerikaner betrifft, so gibt es für Veracruz, Cuautla und die Pazifikküste einzelne Hinweise, dass sie sich im Bürgerkrieg der 1810er-Jahre besonders bereitwillig den Rebellen anschlossen. Aufgrund ihres niedrigen rechtlichen Status und des Stigmas, von Sklaven abzustammen, wurden Afroamerikaner in einigen Regionen besonders von dem egalitären Programm der Rebellen angesprochen. Vermutlich war auch ihr sozioökonomischer Status als Arbeiter der Haciendas, wie in der Region um Cuautla und Teilen von Veracruz, ausschlaggebend für ihre politische Positionierung. Allerdings genügen die Belege nicht, um diese These für Neuspanien zu verallgemeinern. Afroamerikanische Milizionäre blieben weder per se den Royalisten treu, noch schlossen sie sich besonders bereitwillig den Rebellen an. Sie wurden in ihrer politischen Positionierung nichtsdestotrotz von ihrer Milizzugehörigkeit beeinflusst. Im Ganzen blieben Mitglieder von afroamerikanischen Milizen den Royalisten häufiger treu als andere Afroamerikaner. Ihr besonderer rechtlicher Status, der auf der Loyalität zur spanischen Regierung beruhte, schuf eine größere Distanz zu den Rebellen. Vermutlich führten darüber hinaus Loyalitätsbeziehungen zwischen Soldaten und militärischen Anführern zu dieser Entwicklung. Schließlich hatten die Anführer der Truppen in manchen Fällen 187
Vgl. Sims, La expulsión, 1974, S. 83-85. Guardino identifiziert beispielsweise auch die Handwerker und Kaufleute Taxcos und die indigene Bevölkerung der Tierra Caliente als Unterstützer der anti-spanischen Kampagnen. Vgl. Guardino, Peasants, 1996, S. 116-119.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
zuvor bereits den Milizen vorgestanden. Der Versuch der spanischen Krone, sich durch Miliz-Zugehörigkeit die Treue von Afroamerikanern als Vasallen des Königs zu sichern, hatte also im Bürgerkrieg ambivalente Folgen. Zwar hatten afroamerikanische Milizionäre einen größeren Anreiz, auf royalistischer Seite zu bleiben als andere Afroamerikaner, trotzdem schlossen sich viele den Rebellen an und stellten ihre militärischen Fähigkeiten in deren Dienst. Die Mobilisierung der Afroamerikaner im Kontext anti-spanischer und prospanischer Kampagnen wie auch der Präsidentschaftswahlen von 1828 ist nur teilweise durch den kolonialzeitlichen Status der Afroamerikaner zu erklären. Vielmehr ist die Verfasstheit in afroamerikanischen Milizen zu beachten, um die militärische Bedeutung der Afroamerikaner in diesen Prozessen zu verstehen. Das lange Bestehen dieser Korporationen und die Loyalitätsbeziehungen zwischen Milizionären und ihren Anführern erleichterten die militärische Mobilisierung von Afroamerikanern.
4. Afroamerikaner und Gruppenbewusstsein Die diskutierten Konflikte um die Bildung von Gemeinderäten zeigten bereits, dass Indigene die Selbstbezeichnung naturales nach der Unabhängigkeit weiter verwendeten. Afroamerikaner bezeichneten sich hingegen schon während des Antiguo Régimen nur selten als solche. Allenfalls im Kontext der Milizen gaben Afroamerikaner sich bisweilen ausdrücklich als pardos oder morenos zu erkennen. Ebenso blieben derartige Selbstbezeichnungen im Bürgerkrieg rar. Schon Peter Guardino stellte für das frühe 19. Jahrhundert heraus, dass Afroamerikaner für gewöhnlich vermieden, sich als solche zu identifizieren.188 Im nationalstaatlichen Mexiko wurde afrikanische Abstammung lediglich zur Diffamierung politischer Widersacher verwendet.189 An der Pazifikküste wandelte sich jedoch ab 1808 der Umgang der Afroamerikaner mit dem Stigma afrikanischer Abstammung. Der oben diskutierte Konflikt in Acapulco von 1808 zeigte bereits, dass dort eine Kluft zwischen Afroamerikanern und Teilen der spanischen Elite bestand. Einige Spanier hielten eine Erhebung der Afroamerikaner gegen sie für wahrscheinlich. Afroamerikaner aus Acapulco hatten scheinbar sogar versucht, die Afroamerikaner Acapulcos und der nahegelegenen Gemeinde Coyuca zu mobilisieren, um so
188
189
Vgl. Guardino, La identidad, 2007, S. 293; Chowning, Margaret: Elite Families and Popular Politics in Early Nineteenth-Century Michoacan. The Strange Case of Juan José Codallos and the Censored Genealogy, in: The Americas 55 (1998), H. 1, S. 35–61, S. 39. So z.B. im Falle Vicente Guerreros und Juan Álvarez. Siehe Kap. 3.3. Vgl. auch: ebenda.
Afroamerikaner und Gruppenbewusstsein
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den Moment der Krise der spanischen Monarchie für ihre lokalen Ziele zu nutzen und sich gegen die Europa-Spanier auflehnen zu können.190 Eine Verschwörung innerhalb der Rebellenheere Morelos’ des Jahres 1811 gibt einen weiteren Hinweis auf einen gewandelten Umgang mit afrikanischer Abstammung. Im Sommer 1811 führten zwei Offiziere aus José María Morelos’ Truppen einen Aufstand gegen ihn selbst an. Einer von ihnen war der erwähnte Afroamerikaner Mariano Tavares, der 1809 in Acapulco einer anti-spanischen Verschwörung beschuldigt worden war.191 Tavares stammte aus einer recht angesehenen Familie Acapulcos und war wie sein Vater Postverwalter gewesen. Sein Vater fungierte 1821 als síndico procurador im Stadtrat.192 Als Acapulco 1810 von Morelos belagert wurde, schloss sich Tavares, der zu diesem Zeitpunkt Milizkapitän war, Morelos an.193 Ziel des geplanten Aufstands gegen Morelos im Jahr 1811 war es, alle „Weißen, anständigen Personen und Grundbesitzer, angefangen bei Morelos selbst“ zu töten, so der Zeitgenosse Carlos María de Bustamante.194 Guardino versteht den Aufstand als Versuch, die Kategorie gachupín derart umzudeuten, dass sie sich nicht mehr nur auf Europa-Spanier bezog, sondern alle Weißen einschloss.195 Auslöser für den Aufstand war, so Hernández Jaimes, ein Konflikt zwischen den beiden Offizieren und Morelos über die Zuerkennung militärischer Titel, und in der Tat scheinen die beiden unter Morelos’ Truppen einige Anhänger gehabt zu haben.196 Morelos reagierte auf die Verschwörung mit der Hinrichtung der Rädelsführer und einer Verlautbarung, die er in Tecpan an der Costa Grande verfasste. Er rief zum Zusammenhalt auf und legitimierte implizit seine Anführerschaft und die anderer als weiß geltender Anführer.197 Laut Morelos war das Ziel der Rebellenheere allein, die Europäer aus der Regierung zu entfernen. Letztere sollte in die Hände der Kreolen fallen, da sie die Rechte von Ferdinand VII.
190 191 192 193 194 195 196 197
Vgl. Kap. 3.1. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 164-167; Castillo, Acapulco, 2004, S. 186-187, 191. Der Name des zweiten Offiziers war David Faro. Vgl. Kap. 3.1. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 164. Carlos María de Bustamante, zitiert nach ebenda, S. 166. Zitat: „blancos, personas decentes y propietarios, comenzando por el mismo Morelos“. Vgl. Guardino, Identity, 1994, S. 323; Guardino, Peasants, 1996, S. 64. Vgl. Hernández Jaimes, Cuando los mulatos, 2001, S. 166-167. „1811, 13 de octubre de 1811. Morelos frena cualquier tipo de guerra de castas y fija las reglas que habrán de normar las confiscaciones de bienes del enemigo“, in: Lemoine Villicaña (Hrsg.), Morelos, 1965, S. 181-183. Vgl. auch Hamnett, Roots, 2002, S. 147-148. An der Costa Grande hatte sich beispielsweise auch die Großgrundbesitzerfamilie der Galeana den Rebellen angeschlossen. Vgl. ebenda, S. 144.
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Ethnizität, Nation und Zugehörigkeit
besser verteidigen würden. Er ging ausdrücklich auf die Verdienste der Weißen (blancos) für die Rebellenheere und ihre Ziele ein: Da die Weißen die ersten Repräsentanten des Königreichs sind und die ersten, die die Waffen zur Verteidigung der Naturales der Pueblos und der übrigen Castas ergriffen haben, mit denen sie sich vereinten, müssen die Weißen aufgrund dieses Verdienstes das Objekt unserer Dankbarkeit sein und nicht des Hasses, der sich gegen sie bilden will.198
Gleichzeitig wiederholte er, es solle keine Unterscheidung nach calidades mehr geben und alle sollen sich als Amerikaner bezeichnen. Die von den Rebellen propagierte Abschaffung des sistema de castas und das damit einhergehende Feindbild der Europa-Spanier hatte sich offensichtlich gegen die Rebellenführer selbst gerichtet. Der Aufstand Tavares’ hatte sich scheinbar der egalitaristischen Propaganda der Rebellen selbst bedient, denn Morelos wies die Offiziere seiner Truppen und andere Amtsträger an, ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten, und mahnte: „Dass niemand, egal wer, für diese Dinge oder andere Tumulte die Stimme der Nation ergreife“.199 Zudem erklärte Morelos, „es gibt keinen Grund dafür, dass die vormals als Castas Bezeichneten und die anderen sich gegenseitig bekämpften, die Weißen gegen die Negros, oder letztere gegen die Naturales.“200 Morelos ging davon aus, dass Indigene, Afroamerikaner und Weiße Gruppen mit jeweils gemeinsamen Interessen bildeten. Für Morelos war es vorstellbar, dass Weiße, Indigene und Afroamerikaner sich gegenseitig bekriegen könnten. Tavares und sein Mitverschwörer hatten ebenfalls geglaubt, die nicht-weißen Rebellen gegen die weißen mobilisieren zu können. Die Legitimität der Differenzierung nach calidades wurde an der Pazifikküste mittlerweile scheinbar stark hinterfragt. Das lassen die Aussprüche des royalistischen Kommandanten Antonio Reguera erkennen, der 1816 wegen subversiver Bemerkungen angeklagt wurde. Reguera war Amerika-Spanier, gebürtig aus Ometepec und hatte zuvor als Kommandant der hier angesiedelten Division fungiert.201 Nun wurde er u.a. von Mitgliedern derselben Truppe schwer belas-
198
199 200 201
Ebenda. Zitat: „Que siendo los blancos los primeros representantes del Reino, y los primeros que tomaron las armas en defensa de los naturales de los pueblos y demás castas, uniformándose con ellos, deben ser los blancos por este mérito el objeto de nuestra gratitud y no del odio que se quiere formar contra ellos.“ Ebenda. Zitat: „Que ningún individuo sea quien fuere, tome la voz de la Nación para estos procedimientos u otros alborotos […]“. Ebenda. Zitat: „que no hay motivo para que las que se llamaban castas quieran destruirse unos con otros, los blancos contra los negros, o éstos contra los naturales […]“. „Relacion de meritos celosos y voluntarios […] por […] Don José Antonio Reguera“ (1815), AGEO, Real Intendencia, leg. 29 (Subdelegaciones, Jamiltepec / Xicayan), exp. 4.
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tet. Im April 1816 sollte er in der afroamerikanischen Gemeinde Juchitán202 (Costa Chica) Aussagen gemacht haben, die die Rebellenpropaganda widerspiegelten, und zwar gegenüber afroamerikanischen royalistischen Soldaten.203 Der aktuelle Befehlshaber der Division, José María Añorve, gab an, dass Reguera stets seinen Hass auf die Europäer äußere und das Schicksal der „Naturales Amerikas“ beklage. Reguera erfreute sich zumindest unter Teilen seiner Truppen einer gewissen Beliebtheit, denn Añorve meinte gegenüber dem Vizekönig, Reguera habe eine „volksnahe Aura“ gehabt.204 Deshalb seien dem Vizekönig diese Aussprüche Regueras nie zu Ohren gekommen. Er machte seine Aussprüche in Juchitán laut den Zeugenaussagen gegenüber negros. Außerdem brüstete er sich, die gesamte Küste für die Royalisten zurückerobert zu haben. Er schimpfte auf die gachupines, insbesondere die Händler in Ometepec, und beklagte, dass nun vor allem sie von seinen militärischen Erfolgen profitierten. Reguera gab auch zu verstehen, dass er bereit war, Europa-Spanier umzubringen. Zudem machte er eine Aussage, die offenbar an seine afroamerikanischen Gefährten gerichtet war, als er sagte: „Wir alle sind gleich und ich bin wie Ihr und ich unterscheide mich nur dadurch, dass ich ein bisschen weißer bin.“205 Reguera thematisierte hier explizit die Distinktionsfunktion phänotypischer Merkmale in der kolonialen Gesellschaft und erklärte sie für illegitim. Reguera selbst war kein Afroamerikaner, aber er war aufgrund seiner militärischen Karriere an der Küste, und vor allem als Anführer der 5. Division, im ständigen Kontakt mit Afroamerikanern gewesen. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass sich in seinen Aussprüchen Auffassungen widerspiegelten, die seine afroamerikanischen Milizionäre teilten. Añorve gab, wie gesagt, sogar an, dass Reguera beliebt war und seine subversiven Aussagen deshalb gedeckt worden seien. Im Jahr 1820 begannen einige Afroamerikaner an der Küste, sich gegen ihre politische Exklusion zur Wehr zu setzen. Das erwähnte Pamphlet Afroamerikani202
203
204 205
Es handelt sich hier um eine nahe Ometepec gelegene Gemeinde im heutigen Bundesstaats Guerrero (und nicht um Juchitán de Zaragoza in Oaxaca). Diese Gemeinde gilt auch heute als Afro-mexikanische Gemeinde: Vgl. Lara, Una corriente, 2010, S. 320-321. „Diligencias practicadas contra el Cap[itá]n D[o]n José Ant[oni]o Reguera por las expresiones subvertibas é infidentes q[u]e profirió en el Campo de Juchitan [...]“ (1816), in AGEO, Real Intendencia, leg. 29 (Subdelegaciones, Jamiltepec / Xicayan), exp. 9. Ebenda, f. 7, 23. Zitate: „naturales de america“; „aura popular“. Ebenda, f. 29v. Zitat: „todos somos iguales, y soy como ustedes, y solo me diferencio en q[u]e soy un poco mas blanco.“ Alle vier befragten Zeugen belasteten Reguera. Sie wurden jeweils als „vecino y natural“ und „labrador“ der „Est[anci]a“ Juchitán gekennzeichnet. Ebenda, fs. 7-10v. Der darauf folgenden Vorladung Riondas widersetzte sich Reguera jedoch und übernahm außerdem nur wenige Tage später entgegen dem Befehl Riondas eigenmächtig den Oberbefehl über die 5. Division, mit der er Ometepec verließ. Ebenda, fs. 40-42, 52-52v, 70-72v, 73-76v.
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sche Klage (Clamor Afri americano), das politische Rechte für Afroamerikaner forderte, zirkulierte an der Küste. Da die Costa Chica und die Costa Grande sich bis 1814 in der Hand der Rebellen befanden, wurde die Exklusion der Afroamerikaner aus der spanischen Staatsbürgerschaft hier wie geschildert erst 1820 mit der Wiederherstellung der Verfassung relevant. Wenige Wochen nach dem erneuten Inkrafttreten der Verfassung bereitete sie den royalistischen Autoritäten an der Küste größte Sorgen um die politische Stabilität der Region. So tauchte im Spätsommer 1820 in Jamiltepec das auf den 20. Juli datierte anonyme Pamphlet auf.206 Es war mit dem Pseudonym „El Negro Roverto“ unterzeichnet und forderte die Zuerkennung der spanischen Staatsbürgerschaft für die Afroamerikaner. Ein Bewohner Jamiltepecs hatte Francisco Rionda von dem Pamphlet berichtet. Rionda war der Kommandant der aus Afroamerikanern bestehenden 6. Division von Jamiltepec. In der Gemeinde hatte die Nachricht von dem Pamphlet die Runde gemacht, mehrere Bewohner wussten bereits davon.207 Der Autor drohte damit, dass die afroamerikanischen Milizionäre den Royalisten die Loyalität kündigen würden, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Die Kommandanten Carlos Moya und Manuel de Obeso waren alarmiert und setzten den Vizekönig Ende September vom Auftauchen des Schriftstücks in Kenntnis.208 Wenige Tage später schilderte Obeso dem Vizekönig in einem weiteren Brief seine Sorgen um mögliche Unruhen der afroamerikanischen Bevölkerung aufgrund des subversiven Pamphlets.209 In höchsten Tönen lobte er die bisherige Treue der Divisionen Jamiltepecs und Ometepecs, befürchtete aber, dass die Afroamerikaner dieser Region sich mit den Afroamerikanern von Tecpan, also der Costa Grande im Nord-Westen Acapulcos, zusammenschließen würden. Trotz der starken Antipathie zwischen beiden Gruppierungen würden sie, so
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Laut dem durch Arenal Fenochio transkribierten Wortlaut des Pamphlets, lautete sein Titel „Clamor Africano“. Allerdings arbeitete Arenal Fenochio mit einem Dokument aus dem Archivo General de Indias (Sevilla), welches scheinbar nur eine Abschrift des Pamphlets enthält. Zumindest legt dies die Form der Transkription Arenal Fenochios nahe. Arenal Fenochio, Un modo, 2002, S. 83-84. Den folgenden Ausführungen liegt jedoch das Obeso zugesandte Original zugrunde, welches den genannten Titel trägt und sich im AGN befindet: [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (30. September 1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Auf dem Original findet sich eine Anmerkung, vermutlich von Rionda: „lo hizo el P[adr]e Cura p[er]o no me lo dijo el, un bezino me lo dijo en reserva y desp[ue]s me lo dijo otro, y otro“. Ebenda. Vgl. Arenal Fenochio, Un modo, 2002, S. 83-84. Carlos Moya und Manuel de Obeso gaben dem Vizekönig am 23. September Meldung von dem Pamphlet. [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Dieses Schreiben wurde am 30. September verfasst; Obeso hatte vermutlich noch keine Antwort vom Vizekönig erhalten.
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vermutete Obeso, in diesem Fall gemeinsame Sache machen, „da es das Anliegen von allen ist“.210 Den Afroamerikanern war laut Obeso außerdem eine Geringschätzung gegenüber dem indio „als einer schwachen Casta“ gemein. Die Unterordnung der Afroamerikaner unter die von Indigenen besetzten Gemeinderäte und „die Bevorzugung, mit der diese [die Indios] behandelt werden“, womit er sich auf die Ungleichbehandlung durch die Verfassung bezog, würde unter den „Küstenbewohnern“ Neid hervorrufen.211 Sie ließe „ein schwer zu löschendes revolutionäres Feuer“, befürchten. Im Ganzen charakterisierte Obeso das Pamphlet als „brandstifterisches Papier“ mit schlimmen Folgen, das die Soldaten dazu bringen könnte „irgendeinen Anschlag“ zu verüben.212 Aus Sicht der Kommandanten war es ein realistisches Szenario, dass die afroamerikanischen Milizionäre verschiedener Divisionen sich für die gemeinsame Sache, die Erlangung der Staatsbürgerschaft, zusammenschließen würden. Die Mobilisierung dieser Bevölkerungsgruppe stellte eine ernsthafte Bedrohung für die Region dar. Genauso schätzte offenbar der jefe político Apodaca die Lage ein. Auf den Bericht Moyas und Obesos antwortete er innerhalb von wenigen Tagen; er riet indirekt dazu, afroamerikanischen Milizionären die Staatsbürgerschaft zu versprechen, und setzte wie erwähnt die Bildung afroamerikanischer Gemeinderäte an der Küste in Gang.213 Was lässt sich über die Entstehungshintergründe des anonymen Pamphlets sagen? Inwiefern spiegelte es die Interessen der Afroamerikaner in den royalistischen Truppen der Küste? Es war von einem gut informierten Autor verfasst worden, der die afroamerikanische Bevölkerung Neuspaniens auf 214.606 Personen bezifferte. Diese Zahl stammte ursprünglich aus einem spätkolonialen Zensus und war 1812 bei der Bestimmung der Repräsentationsbasis der neuspanischen Provinzen verwendet worden.214 Der Autor zog u.a. geschichtliche und wissenschaftliche Argumente heran. Er schrieb aus der Wir-Perspektive als Stimme der Afroamerikaner und fragte, welche Schuld die Afroamerikaner daran hätten, dass ihre Eltern durch Spanier, Engländer und Holländer vom „Heimatboden“, also Afrika, gewaltsam entfernt und nach Amerika gebracht worden seien. Durch „den katholischen Glauben, zu dem wir uns bekennen“, 210 211 212 213 214
Ebenda. Zitat: „por ser la causa de todos“. Ebenda. Zitate: „como una casta devil“; „la preferencia con q[ue] se les trata“; „costeños“. Ebenda. Zitate: „un fuego revolucionario de dificil extincion“; „papel incendiario“; „qualqu[ier]a atentado“. Vgl. Kap. 2.2.1. Vgl. Ferrer Muñoz, Manuel: La Constitución de Cádiz y su aplicación en la Nueva España. (pugna entre antiguo y nuevo régimen en el virreinato, 1810-1821), México, D.F. 1993, S. 241. Der sogenannte Zensus von Revillagigedo wurde zwischen 1790 und 1794 erstellt. Vgl. Castro Aranda, México, 1988, S. 39-54.
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wisse man: „wir alle stammen von einem einzigen Mann und einer einzigen Frau ab“.215 Die gemeinsame Abstammung aller Menschen von Adam und Eva sah er als sicher an, denn den „Philosophen und Naturforschern“ sei es bisher nicht gelungen, die Unterschiede zwischen den Hautfarben und zwischen den Sprachen zu erklären.216 Hiermit bekräftigte der Autor sein Argument der gemeinsamen Abstammung aller Menschen. Seit dem 18. Jahrhundert gab es in der Tat in der spanischen Welt wie auch im britischen Empire ein verstärktes Interesse an Hautfarben und man versuchte die Unterschiede zwischen diesen zu erklären.217 Hierauf bezog sich der anonyme Autor offenbar. Für Yucatán ist eine ganz ähnliche Argumentation belegt. Der Rat der Gemeinde von Opichén setzte sich 1820 für die Auflösung der separierten afroamerikanischen Milizen der Gemeinde ein und argumentierte, dass diese aus demselben Lehm gemacht seien wie sie selbst und auch Menschen seien.218 Der anonyme Autor des Clamor Afri americano erwähnte auch eine jahrhundertelange Herrschaft der „Afrikaner“ auf der Iberischen Halbinsel und meinte hiermit vermutlich die maurische Phase.219 Die Verfasser des Artikels 22 der Verfassung hätten diese Phase der spanischen Geschichte wohl vergessen, schrieb er. Sein Schreiben war offensichtlich durch die Exklusion der Afroamerikaner aus der Staatsbürgerschaft ausgelöst worden. Er nannte den Artikel 22 der Verfassung von Cádiz, gemäß dem Afroamerikaner im Falle besonderer Verdienste als Staatsbürger anerkannt werden sollten, und fragte: was nützt es uns, dass die Tür der Tugend und des Verdienstes für das Künftige geöffnet ist? Wenn wir in den aktuellen Wahlen im August dieses Jahres zum Gespött der übrigen Bürger werden.220
Der Kommandant Obeso beschrieb das Pamphlet als „Eingabe, die scheinbar im Namen der Negros und der von ihnen abstammenden Castas verfasst wurde, die die einzigen Bewohner dieser Küsten sind“.221 Diese Beschreibung 215
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„Clamor Afri americano“, in [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (30. September 1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Zitate: „suelo Patrio“; „la fé catolica que profesamos“; „todos descendemos de un solo Homvbre y una sola muger“. Ebenda. Zitat: „Filosofos y naturalistas“. Vgl. Martínez, Genealogical Fictions, 2008, S. 248, 356-357. Vgl. Bock, Entre españoles, 2013, S. 22. „Clamor Afri americano“, in [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (30. September 1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Zitat: „africanos“. Ebenda. Zitat: „de que nos sirbe [que] quede abierta la puerta de la birtud y del merecimiento para lo futuro ¿ (sic.) si en las Elecciones presentes del mes de Agosto de este año quedamos unos meros ceros y echos la moja y befa de los demas ciudadanos.“ [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Zitat: „representacion […] hecho (sic.) al parecer en nombre de los negros y castas procedentes de estos, q[ue] son los unicos pobladores de estas costas“.
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ist nicht zwangsläufig als Aussage über die Urheberschaft zu verstehen, denn sie gibt nur wieder, in wessen Namen der anonyme Autor zu sprechen beanspruchte. Die Bezeichnung des Pamphlets als Eingabe (representación) verdient allerdings Beachtung. Obwohl Obeso das Schreiben für äußerst gefährlich hielt, sprach er nicht von einer Schmähschrift (pasquín), wie aufrührerische Schreiben üblicherweise genannt wurden.222 Anders als Apodaca, der die Urheberschaft des Pamphlets laut Arenal Fenochio den Rebellen zugeschrieb,223 nahm Obeso keine eindeutige Zuordnung des Schriftstücks vor. Bei genauer Betrachtung erscheint Apodacas Einordnung des Texts als Rebellenpamphlet unwahrscheinlich, denn das Schreiben wich von anderen Verlautbarungen der Rebellen in zentralen Punkten ab. So war es „an den König, unseren Herrn“, also an Ferdinand VII., gerichtet und nahm eindeutig die Perspektive der afroamerikanischen Milizionäre ein. 224 So erwähnte der Autor, dass „unsere Väter und Verwandten“ Blut zur Verteidigung der Krone vergossen hatten und dies immer noch taten. Angesichts des Ausschlusses der Afroamerikaner drohte das Pamphlet mit einer „grausamen und blutigen Rache“ und appellierte an den König: „Nur Eure Majestät kann uns von einer so fatalen Vorhersage abhalten, indem Ihr uns mit den übrigen Bürgern gleichstellt“.225 Es enthielt also eine konkrete Forderung an die Krone und verfolgte in erster Linie das Ziel, die Afroamerikaner und insbesondere die royalistischen Soldaten zu veranlassen, Druck auf die Autoritäten auszuüben, um so die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft durchzusetzen. Darüber hinaus fehlt jegliche Propaganda für eine amerikanische Nation oder Agitation gegen die Europa-Spanier. Lediglich der Titel Clamor Afri americano könnte auf eine amerikanische Nation verweisen; da allerdings Amerika und die Amerikaner auch im spanischen Nationskonzept einen Platz hatten, ist das kein starker Hinweis auf die Autorschaft eines Rebellenführers. Weiter wurde die Forderung nach der Zuerkennung der Staatsbürgerschaft aus Sicht loyaler Soldaten formuliert, während das Pamphlet keine Forderung hinsichtlich der afroamerikanischen Mitglieder von Rebellentruppen enthielt. Selbst wenn Afroamerikaner die Staatsbürgerschaft erhielten, würden Mitglieder der Rebellenheere ausgeschlossen bleiben, denn sie mussten zunächst auf ihre Begnadigung hoffen. 222
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Siehe z.B. „Huichapan. El Pref[ec]to de Tula acompañando algunos pasquines que aparecieron en Huichapan contra los Españoles“ (1827), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 7, exp. 9. Vgl. Arenal Fenochio, Un modo, 2002, S. 83. „Clamor Afri americano“ in [Manuel de Obeso an den Vizekönig Conde del Venadito] (1820), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 784, exp. 7. Zitat: „Al Rey N[uestro] S[eño]r“. Ebenda. Zitate: „nuestros Padres hermanos y parientes“; „venganza cruel y sangrienta“; „Solo V[uestra] M[agestad] Señor nos puede librar de tan fatal pronostico, asiendonos iguales a los demas ciudadanos […]“.
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Die Haltung des Rebellenführers Vicente Guerrero gegenüber dem Problem spricht ebenso dafür, dass das Pamphlet aus den royalistischen Truppen stammte. Der Kommandant Moya verhandelte mit Guerrero bereits im September 1820 über eine mögliche Versöhnung zwischen Guerreros Truppen und den Royalisten. Guerrero sah sich laut Moya aufgrund seiner afrikanischen Abstammung aus der spanischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Auch in der sogenannten Tür des Verdienstes, die im Artikel 22 der Verfassung von Cádiz definiert wurde, sah er als Rebellenführer keine Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft zu erlangen.226 Wahrscheinlich verfasste also ein Mitglied der royalistischen Truppen dieses Pamphlet. Angesichts des Bildungshintergrunds, der sich in dem Pamphlet offenbart, war es vermutlich ein afroamerikanischer Militär höheren Ranges. Dieser Versuch, Afroamerikaner zu mobilisieren, geschah im Kontext der Milizen. Die Rechte der Afroamerikaner wurden vor allem aufgrund ihrer militärischen Dienste eingefordert. Der anonyme Autor stellte die politische Exklusion aufgrund von Abstammung oder Hautfarbe zwar auch prinzipiell infrage, doch bildeten der Militärdienst, die Loyalität und implizit auch der Vasallenstatus der afroamerikanischen Milizionäre die Legitimationsquellen der geäußerten Forderung. Dies ist angesichts anderer Evidenzen zu Neu-Granada nicht verwunderlich. Aline Helg stellte fest, dass afroamerikanische Milizen sich im Unabhängigkeitskrieg für gewöhnlich nicht mit anderen Afroamerikanern verbündeten. Unter Afroamerikanern habe sich keine „racial consciousness“ herausgebildet.227 Ähnlich wie an der Pazifikküste, waren es 1820 in Yucatán auch die afroamerikanischen Milizen, die aufgrund ihrer politischen Exklusion eine ablehnende Haltung gegenüber der Verfassung von Cádiz einnahmen, wie aus den Arbeiten von Melchor Campos García und Ulrike Bock hervorgeht.228 Hier hatte man bereits im April, noch vor der Ankunft einer offiziellen Benachrichtigung, von der Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie in Spanien erfahren. Innerhalb der politischen Elite entbrannte daher eine Auseinandersetzung um die Frage, ob bereits der Schwur auf die Verfassung abzulegen oder auf eine offizielle Benachrichtigung zu warten sei. Nach Bock wurden die afroamerikanischen Milizen Méridas von den Gegnern eines sofortigen Verfassungsschwurs mobil gemacht und galten nun als Gegner der Verfassung. Sie 226
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Vgl. ebenda, S. 84-85. Laut dem Zeitgenossen Servando Teresa de Mier soll Guerrero sich gegenüber dem Vizekönig ähnlich geäußert haben, nachdem dieser ihm 1820 ein Exemplar der Verfassung zukommen lassen hatte: Vgl. Vincent, The Legacy, 2001, S. 119120. Helg, Aline: Silencing African Descent. Caribbean Colombia and Early Nation Building, in: Nils Jacobsen/Cristóbal Aljovín de Losada (Hrsg.), Political Cultures in the Andes, 1750-1950, Durham; London 2005, S. 184–206. Vgl. Campos García, Castas, 2005, Kap. III; Bock, Entre españoles, 2013, S. 20-23.
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sollten sich sogar explizit gegen die Verfassung ausgesprochen haben. Der Generalkapitän (capitán general) Yucatáns, Mariano Carrillo, berichtete von der „Abscheu der Pardos gegenüber der Verfassung“.229 Wenige Wochen nach dem Schwur auf die Verfassung ließ Carrillo die afroamerikanischen Milizen Méridas daher entwaffnen.230 Gleichzeitig gab es laut Bock Bemühungen, die afroamerikanischen Milizen zu integrieren. Carrillo setzte sich später beim spanischen Kriegsministerium für eine Abschaffung der Unterscheidung nach afroamerikanischen und weißen Milizen ein. Sein Nachfolger machte im Folgejahr einen erneuten Versuch.231 Wie an der Pazifikküste gab es auch in Yucatán Stimmen, die die Exklusion der Afroamerikaner generell infrage stellten. So 1813 hatte der Kaufmann José Matías Quintana bereits die Exklusion der Afroamerikaner kritisiert.232 Für die Pazifikküste gibt es einen weiteren Hinweis, dass afrikanische Abstammung im Unabhängigkeitsprozess ein Stück weit ihren negativen Beiklang verloren hatte. Wenige Monate nach der Unabhängigkeit erwähnte der Rebellenführer Isidoro Montes de Oca in einer Rede an der Costa Grande öffentlich seine afrikanische Abstammung. Anlässlich seines Rückzugs aus dem Militärdienst sprach er am 31. Januar 1822 vor den Truppen der Costa Grande und ließ die Rede in Mexiko-Stadt drucken.233 Der erste Teil der Schrift war an die Mitglieder der 3. und 4. Süd-Division gerichtet, d.h. an die größtenteils afroamerikanischen Kompanien von Zacatula und Acapulco. Montes de Oca hob deren Verdienste im Kampf für die Unabhängigkeit hervor und bedankte sich für ihre Treue ihm gegenüber. Danach, an ein weiteres Publikum gerichtet, blickte Montes de Oca im zweiten Teil der Rede auf den Verlauf seines Lebens zurück und schilderte insbesondere seine militärischen Erfolge im Kampf für die Unabhängigkeit. Als erstes sprach er hier von seiner Herkunft: Und Ihr, Bewohner der Süd-Küste und dieses gesamten Imperiums, wisset, dass, bei all den Ehrungen, mit denen meine Vorgesetzten mich in letzter Zeit großzügig ausgezeichnet haben, ich von afrikanischem Ursprung bin; ich war ein einfacher Tage229 230 231 232 233
Zit nach. Campos García, Castas, 2005, S. 108. Zitate: „horror de los pardos a la Constitución“. Vgl. Bock, Entre españoles, 2013, S. 20. Vgl. ebenda, S. 21-22. Vgl. ebenda, S. 19. Proclama del Sr. Brigadier Don Isidoro Montesdeoca, comandante general del rumbo de Acapulco, México: 1822. Imprenta de Doña Herculana de Villar y Socios. Ted Vincent zitiert und übersetzt eine ähnliche Passage der Rede ins Englische. Seine Übersetzung des Ausspruchs „soy de origen africano“ mit „I am African“ ist allerdings problematisch, denn sie verschleiert, dass Montes de Oca hier eine Aussage über seine Abstammung machte und damit möglicherweise sogar Bezug zum Ausschluss in der Verfassung von Cádiz herstellen wollte, sich aber nicht einfach als afrikanisch oder als Afrikaner bezeichnete. Vincent, The Legacy, 2001, S. 54f.
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löhner, nur an die Brüderlichkeit und Liebe der Meinen gewöhnt, ohne die geringsten Kenntnisse, nicht einmal im Lesen. Ich mache dieses demütige und von meiner Seite offenherzige Geständnis, um allen meinen Mitbürgern zu zeigen, dass ich weit von dem Stolz entfernt bin, den die sozialen Auszeichnungen erwecken, schließlich verweigerte mir die Natur selbst den Verdienst, mit dem sie andere überhäufte, und ich weiß um die niedere Calidad und Kondition, zu der ich gehöre.234
Die Erwähnung seiner afrikanischen Abstammung verdient Aufmerksamkeit. Montes de Oca wählte seine Worte bewusst, denn schließlich ließ er den Text drucken. Er sprach im Anschluss an diese Passage die Bewohner des mexikanischen Imperiums und insbesondere die der Küste an. Vor dem Hintergrund seiner Herkunft und afrikanischen Abstammung konnte er seine Erfolge besonders schillernd erscheinen lassen. Durch den Hinweis auf seine eigene Abstammung wollte Montes de Oca die afroamerikanischen Soldaten wahrscheinlich aber auch in besonderer Weise ansprechen. Seine Zuhörer sollten ihn zum Vorbild nehmen, denn schließlich war er von dem gleichen Stigma wie sie betroffen. Seine Botschaft lautete, dass dieses Stigma überwunden werden konnte. Montes de Oca äußerte sich auf diese Weise nur wenige Monate nachdem Afroamerikaner als Bürger des mexikanischen Imperiums anerkannt worden waren. Die rechtliche Exklusion der Afroamerikaner war mit dem Plan von Iguala und der Unabhängigkeit beendet worden. Dieser Schritt zur Inklusion hatte auch eine symbolische Bedeutung: Er stand für das Ende der Stigmatisierung von Afroamerikanern aufgrund ihrer Abstammung. Außerdem hatte das egalitäre Rebellenprogramm dazu geführt, dass Afroamerikaner ihre rechtliche Benachteiligung nicht länger hinnehmen wollten, denn die afroamerikanischen Soldaten der Costa Grande kannten die egalitären Verlautbarungen der Rebellen gut. Sie gehörten 1810 zu den ersten, die sich den Rebellenheeren anschlossen, und zu ihren militärischen Anführern gehörten Morelos und später Guerrero. Trotzdem zeigt sich an dem Text Montes de Ocas, dass selbst in diesem Fall der Selbstidentifizierung als Afroamerikaner die afrikanische Abstammung nicht positiv bewertet wurde. Sich selbst als Afroamerikaner zu bezeichnen war kaum
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Proclama del Sr. Brigadier Don Isidoro Montesdeoca, comandante general del rumbo de Acapulco, México: 1822. Imprenta de Doña Herculana de Villar y Socios. Zitat: „Y vosotros, habitantes de la Costa del Sur y de todo este Imperio, sabed, que en medio de los honores con que últimamente me han distinguido generosamente mis Gefes, soy de origen africano, estaba reducido á la clase de un simple jornalero, acostumbrado solo á la fraternidad y amor de mis semejantes, sin el menor conocimiento ni aun de las primeras letras. Hago esta humilde confesion, ingenua de mí parte, por acreditar á todos mis conciudadanos que estoy muy distante del orgullo que inspiran las distinciones sociales, respecto á que la misma naturaleza me negó el mérito que prodigó en otros, y conozco la inferior calidad y condicion á que pertenezco.“
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erstrebenswert und konnte allenfalls im Kontext der Milizen positiv aufgeladen werden. Für die Abschaffung der Sklaverei in Mexiko im September 1829 durch Präsident Guerrero sind keinerlei Reaktionen von Afroamerikanern nachgewiesen. Sklaverei spielte zu diesem Zeitpunkt in kaum einer Region Mexikos noch eine tragende wirtschaftliche Rolle und entsprechend gering war die Anzahl der Sklaven im Land.235 Die fehlende Reaktion von Afroamerikanern legt nahe, dass diese Abschaffung auch in ihrer symbolischen Dimension von geringer Bedeutung war. Freie Afroamerikaner hatten kein Gruppenbewusstsein, das die verbliebenen afroamerikanischen Sklaven miteingeschlossen hätte, und hatten kaum Interesse daran, mit Sklaverei in Verbindung gebracht zu werden. Die angeführten Befunde zur Bedeutung afrikanischer Abstammung in einer zentralen Umbruchsphase der Geschichte des spanischen Amerikas zeigen, dass sich das Verständnis afrikanischer Abstammung gewandelt hatte. Die Äußerungen des Clamor Afri americano legen nahe, dass der Wandel u.a. auf wissenschaftliche Diskussionen im Zeitalter der Aufklärung zurückzuführen ist. Vor allem waren der Bürgerkrieg der 1810er-Jahre und die hier formulierten Forderungen nach Abschaffung der Sklaverei und der Differenzierung nach Calidades ausschlaggebend. Aber auch die rechtliche Revolution der Verfassung von Cádiz hatte der Bevölkerung Neuspaniens gezeigt, dass die Differenzierung nach Abstammung nicht unumstößlich war: Die Anerkennung der Indigenen als Staatsbürger ließ auch die Inklusion der Afroamerikaner greifbar erscheinen. Afroamerikaner waren weit davon entfernt, ein Gruppenbewusstsein im Sinne einer ethnischen Gruppe zu entwickeln, aber die rechtliche Benachteiligung aufgrund von Abstammung wurde in Teilen der Gesellschaft nicht mehr als legitim betrachtet und viele Afroamerikaner waren nicht mehr bereit, ihre politische Exklusion in Kauf zu nehmen. Dies hatte sich schon in den Cortes von Cádiz gezeigt und nun 1820 in Yucatán und an der Pazifikküste. Afroamerikaner identifizierten sich auch in dieser Umbruchsphase vor allem im Kontext des Militärwesens als solche. Dies ist kaum überraschend, denn die Milizen hatten Afroamerikanern einen Platz in der korporativen Gesellschaft verschafft. Zudem hatten Milizionäre aufgrund ihrer militärischen Bedeutung ein politisches Druckmittel in der Hand. Letzteres erklärt zumindest den Protest afroamerikanischer Milizionäre in Yucatán und das Auftauchen des Clamor Afri 235
Vgl. Vincent, The Legacy, 2001, S. 196-197; Olveda Legaspi, La abolición, 2013. In den Haciendas bei Córdoba (Veracruz) und wie gesagt auch in Cuautla (Morelos) hatte Sklaverei kaum noch eine wirtschaftliche Bedeutung. Zu Córdoba vgl. Naveda Chávez-Hita, Esclavos negros, 1987, S. 161. In Yucatán protestierten Sklavenbesitzer zwar, aber auch hier war die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei gering: Restall, The Black, 2009, S. 69-73.
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americano. Deshalb waren es die Milizen, die politische Rechte für Afroamerikaner forderten und durchsetzen konnten.
5. Ethnische Kategorien im mexikanischen Nationalstaat Die Eliten des mexikanischen Nationalstaats hatten ein ambivalentes Verhältnis zur indigenen Bevölkerung. Liberale Politiker wollten die Kategorie indio aus dem Vokabular der Mexikaner verbannen. Sie stand für die Separierung von Indigenen und Spaniern und für den rechtlichen Sonderstatus der Indigenen, also für jene Elemente der kolonialzeitlichen Ordnung, die Liberale für die vermeintliche Rückständigkeit der Indigenen verantwortlich machten.236 Zwischen den 1820er- und den frühen 30er-Jahren glaubten Liberale, das Gleichheitspostulat könne die vermeintliche Rückständigkeit der Indigenen überwinden. Privater Landbesitz und Bildung gehörten neben europäischer Immigration zu den Mitteln, von denen sie die Integration und Assimilation der indigenen Bevölkerung erwarteten.237 Mexikanische Liberale wie Mora hantierten in den 1830er- und 40er-Jahren zwar mit dem Begriff raza, und es gibt Hinweise, dass Mora Weiße gegenüber Indigenen als überlegen erachtete. Aber er setzte sich an anderer Stelle ausdrücklich von der Annahme ab, es gebe höhere Rassen. Der Unterschied zwischen Indigenen und Weißen war für ihn in erster Linie ein kultureller.238 Es gehörte zu den Zielen liberaler Eliten, die korporative Verfasstheit der indigenen Gemeinden zu unterminieren, und daher spielte die Kategorie indio in der Gesetzgebung einiger Bundesstaaten im Nationalstaat noch eine Rolle. In Jalisco wurde 1825 ein Gesetz erlassen, das den Landbesitz in indigenen Gemeinden regelte und sich auf die „vormals Indios genannten“ bezog. Es verbot den „indios“ ausdrücklich, ihr Land Großgrundbesitzern zu verkaufen.239 Deshalb fragte der Gemeinderat von San Pedro Lagunillas daraufhin, welche Personen überhaupt als Indigene anzusehen seien.240 Der Senat von Jalisco 236 237 238 239
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Vgl. Hale, Mexican Liberalism, 1968, S. 218, 221-223. Vgl. Heimann, Ursula: Liberalismus, ethnische Vielfalt und Nation, Stuttgart; Hamburg 1998, S. 118, 124-125, 134. Vgl. Hale, Mexican Liberalism, 1968, 223; Heimann, Liberalismus, 1998, S. 122, 131, 134135. Siehe Dekret 2 vom 12. Februar 1825, in: Colección de los decretos y ordenes del honorable Congreso constitucional del Estado libre de Jalisco desde su instalación en 18 de enero de 1825 hasta 30 de setiembre de 1826 que cesó, Guadalajara 1826, S. 6-8. Zitat: „antes llamados indios“. Vgl. González Navarro, Moisés: Instituciones indígenas en México Independiente, in: Alfonso Caso (Hrsg.), Métodos y resultados de la política indigenista en México, México, D.F. 1954, S. 113–169, S. 122-123.
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antwortete, es gebe praktisch keine „reinen“ Indigenen und daher sei die „öffentliche Meinung“ ausschlaggebend.241 Eine Abstammung von Afroamerikanern sollte allerdings ausgeschlossen werden.242 Auch hier wird deutlich, dass ein Konzept des indio als Abstammungskategorie existierte, denn es war von „reinen“ Indigenen die Rede. Gleichzeitig zeigt die Hervorhebung der Reputation erneut, dass die Kategorie des indio eng an die indigene Gemeinde als Institution der spanischen Kolonialherrschaft gebunden war. Obwohl die Indigenen von den politischen Eliten als Problem für die Nation betrachtet wurden, behielten sie einen besonderen Platz in der Vorstellung von einer mexikanischen Nation. Sie wurden als Ureinwohner Amerikas und als Nachfahren der prähispanischen Zivilisationen wahrgenommen, was sich in der Darstellung der Indigenen seitens der Eliten zeigte. Auch nahmen die Indigenen einen zentralen Platz in den politischen Programmen liberaler Politiker ein. In dem erwähnten Pamphlet El indio constitucional von 1820 wurden bereits vor der Unabhängigkeit die Errungenschaften der Verfassung von Cádiz gelobt und als Befreiungsschlag für die Indigenen dargestellt.243 In einem späteren Pamphlet von 1829, einige Wochen bevor Vicente Guerrero das Amt des Präsidenten übernahm, wurden die Indigenen sogar zu den legitimen Machthabern Mexikos erklärt. Der anonyme Autor forderte im Februar, dass Regierungsposten fortan nur noch mit Indigenen besetzt werden sollten. Die Schrift trug den Titel Los indios quieren ser libres y lo seran con justicia, stammte aus der liberalen Druckerpresse von Alejandro Valdés und fand in der Region um Mexiko-Stadt recht weite Verbreitung.244 Der Autor bezeichnete sich selbst als indio und beanspruchte für die indios zu sprechen. Die Unabhängigkeit sah er als eine „Rückeroberung dieses Bodens durch seine legitimen Besitzer“. Die indigene Bevölkerung habe aus „Liebe zu ihrem Boden“ für die Unabhängigkeit gekämpft. Die Rückgabe ihrer „Landes“ sah er als das zentrale Interesse aller indios des Kontinents an.245 Er kritisierte u.a., dass in den indigenen Gemeinden einige alte indios auf Kosten der übrigen Gemeinde gelebt und 241 242 243 244
245
Zit. nach ebenda, S. 123. Zitat: „puros“, „estimación pública“. Vgl. ebenda, S. 122-123. Auch für die 1850er und 1860er Jahre weist derselbe Autor Sonderregelungen für die indigene Bevölkerung nach. Vgl. Kap. 2.3.2. E. A. D.: Los Indios quieren ser libres y lo seran en justicia, Imprenta del ciudadano Alejandro Valdés: [México] 1829. Das Pamphlet wird vom britischen Außenminister Henry George Ward erwähnt (Ward, Henry George: México, London 1829, Bd. 2, S. 555). Es wurde z.B. auch in Tlalnepantla (Estado de México) gefunden: „Tlalnepantla. El Ayuntamiento remite un ejemplar del impreso titulado ‘Los Indios quieren ser libres y lo seran en justicia’ que por considerarlo subversivo lo denuncia“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 15, exp. 2. E. A. D.: Los Indios quieren ser libres [...], 1829. Zitate: „reconquista de este suelo por sus lejítimos dueños“; „amor a su suelo“; „tierra“.
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mit härtestem Despotismus geherrscht hätten, stellte also die indigenen Gemeinden während der spanischen Kolonialherrschaft in düsteren Bildern dar. Gleichzeitig beklagte er, dass die indios nun kaum von den neuen Gesetzen profitierten. An der Revolution vom Dezember 1828 – also am Kampf für die Präsidentschaft Vicente Guerreros – hätten die indios teilgenommen. In Vicente Guerrero sah der Autor einen Freund und Vater der Indigenen und einen Sohn von Nezahualcoyoltzin, womit er eine Kontinuität zwischen Guerrero und den prähispanischen Mexica konstruierte. Er schrieb: „Zu unserem Glück ist der erste Mensch dieses Kontinents Indio, und alle, die uns in Zukunft regieren, werden Indios sein, weil es gerecht ist.“246 Die Verherrlichung des prähispanischen Erbes und seine Verwendung zur Legitimierung aktueller politischer Projekte gingen hier mit dem Argument einher, dass die Indigenen nach wie vor unter dem spanischen Erbe litten. Die spanischen Institutionen hatten in diesem Verständnis zu der beklagenswerten Situation der Indigenen geführt. Gleichzeitig wurden die Indigenen zu den legitimen Besitzern des mexikanischen Territoriums erklärt. Sie erhielten so einen besonderen Platz in der Vorstellung von der mexikanischen Nation. Aufschlussreich ist die Reaktion des gemäßigt liberalen Carlos María de Bustamante. Er behauptete in einem Artikel in der Zeitung Voz de la Patria, Guerrero sei der Autor des Pamphlets. Laut Vincent argumentierte Bustamante, das Ziel des Pamphlets sei nicht eine Verbesserung der Situation der Indigenen. De facto richtete es sich gemäß Bustamante vor allem an die castas, die diesen Appell als „reason to pass for Indians“, so Vincents Übersetzung, ergreifen würden. Als Beweis führte Bustamante an, dass es vor allem in Städten verteilt worden sei.247 Bustamante kritisierte den Missbrauch der Kategorie der Indigenen, da der anonyme Autor seine politischen Forderungen damit legitimierte. Bustamante schrieb der Kategorie der Indigenen also eine besondere Legitimationskraft zu. Auch konservative pro-spanische Kräfte räumten der indigenen Bevölkerung einen Platz in ihren politischen Programmen ein. So sah eine prospanische Verschwörung um dem Priester Joaquín Arenas im Jahr 1827, neben der Unterordnung Mexikos unter Spanien, die Wiederherstellung der Privilegien der indigenen Bevölkerung vor.248 Als Mexiko im Sommer 1829 mit einem spanischen Rückeroberungsversuch an der Küste von Veracruz zu kämpfen hatte, zeigte sich dies erneut. Nachrichten über die politische Positionierung der Indigenen beunruhigten die Regierung des Estado de México. Man hatte erfahren, dass die indigene Bevölkerung in einigen Regionen möglicherweise gemein246 247 248
Ebenda. Zitat: „Indio es por dicha nuestra el primer hombre de este continente, indios serán, porque es justo, en adelante, todos cuantos nos gobiernen“. Vgl. Vincent, The Legacy, 2001, S. 163. Vgl. González Navarro, Instituciones indígenas, 1954,S. 147
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same Sache mit den Spaniern machen würde.249 Der mexikanische Innen- und Außenminister Bocanegra richtete sich Ende August in einem vertraulichen Brief an den Gouverneur des Estado de México, denn der mexikanische Präsident hatte erfahren, dass die Indigenen und Bauern in einigen Gemeinden des Bundesstaats (u.a. Zimapán und Jacala) dazu aufgewiegelt würden, sich nicht an der Abwehr der spanischen Invasion zu beteiligen. Hierbei werde u.a. angeführt, dass die Indigenen durch die Unabhängigkeit de facto keine Vorteile erlangt hätten. Konkret werde argumentiert, dass sie nun zum Militärdienst herangezogen würden, von dem sie vorher ausgenommen waren. Der Minister schätzte die Lage in der Tat als bedrohlich ein und forderte den Gouverneur auf, die Indigenen soweit wie möglich vom Dienst in der milicia cívica zu befreien, um nicht ihren Unmut hervorzurufen. Er schrieb, die Spanier hätten gewusst, dass die Leute bei Zimapán „dem König treu“ seien.250 Es waren auch bereits verschwörerische Treffen zwischen Spaniern und Indigenen beobachtet worden. Bei Zimapán würden sich drei Personen, darunter ein indio, regelmäßig besuchen und sie seien sich einig. Im Vorfeld hatte die indigene Bevölkerung schon zahlreiche Eingaben gemacht, in denen Indigene um die Freistellung vom Militärdienst baten.251 Die tatsächlichen oder vermeintlichen Nachteile der Unabhängigkeit für die indigene Bevölkerung waren also ein wichtiges politisches Thema, das konservative Kräfte für sich zu nutzen wussten. Während Liberale die Unabhängigkeit als Errungenschaft für die Indigenen darstellten, beanspruchten konservative Kräfte, die ihnen entstandenen Nachteile zu beheben. Unterschiedliche politische Kräfte bezogen sich in ihren Argumenten auf die Lebenssituation der Indigenen und erkannten somit indirekt an, wie sehr das Wohl der Indigenen von Bedeutung für die Gesellschaft war. Während des Bürgerkriegs hatte der Kommandant José Garrote wie erwähnt an der Costa Chica angeblich versucht, die Indigenen dazu zu bewegen, die Krönung eines indigenen Königs zu fordern.252 Später tauchten ähnliche Vorstellungen auf. So betrieben in Ecatzingo (Estado de México) zwei Priester 1836 eine Verschwörung zur Errichtung einer indigenen Monarchie der Nachkommen Moctezumas. Der König sollte, falls er ein Indigener war, eine Weiße heiraten und, falls er ein Weißer war, eine „reine Indigene“.253 Auch diese 249
250 251 252
253
„El E.S. S[ecreta]rio de Relaciones participa q[ue] en en los Pueblos de Jacala y Cimpapan se trata de seducir a los indígenas con el obgeto de q[ue] no se muevan contra la expedicion [...]“ (1829), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 18, exp. 5. Ebenda, f. 2. Zitat: „fieles al Rey“. Ebenda, fs. 2, 4, 25. [Teposcolula, Oaxaca. Oficios y varios papeles que se refieren a una carta que se recibió de un cura de un Huazolotitlan [...]. ] (1811), AGN, Operaciones de Guerra, vol. 104, exp. 8, hier: f. 108. Vgl. auch Kap. 3.3. Vgl. ebenda, S. 147. Zitat: „pura india“.
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Befunde belegen, dass die indigene Bevölkerung als wichtiger Bestandteil der mexikanischen Bevölkerung gesehen wurde. All diese Befunde sprechen dafür, dass die Wahrnehmung der Indigenen weiter von kolonialen Institutionen geprägt war. Das zeigt sich auch am Umgang mit den Indigenen seitens der Kirche. In ländlichen Regionen wurde Indigenen weiterhin ein Sonderstatus zugeschrieben, wie die Praxis der Kategorisierung in Pfarrregistern nahelegt. Die mexikanische Regierung verbot am 27. September 1822 die Verwendung der alten Abstammungskategorien in der Verwaltungsdokumentation und in kirchlichen Dokumenten.254 In einigen Pfarreien waren diese Kategorien bereits mit der Unabhängigkeit abgeschafft worden. Der Pfarrer von Yautepec (im heutigen Morelos) hatte beispielsweise unmittelbar nach der Unabhängigkeit reagiert: Am 1. November 1821 trug er in die Taufbücher ein, dass „gemäß unserem aktuellen Regierungssystem“ alle Individuen ohne Angabe der calidad registriert werden sollten.255 Die Erzdiözese México, zu der weite Teile Zentralmexikos zählten, setzte Ende 1822 gegenüber der Zentralregierung die Erlaubnis durch, die Abstammungskategorien im Fall von Eheschließungen aufrechtzuerhalten, da es für Indigene besondere Regelungen gab. In manchen Pfarreien der Erzdiözese wurde noch in den 1830erJahren streng zwischen vermeintlich reinen indios und der übrigen Bevölkerung unterschieden. Das äußerte sich darin, dass Indigene im Sinne der kolonialzeitlichen Praxis weniger für spirituelle Dienstleistungen zahlten als andere.256 Die Wahrnehmung der Indigenen als Neubekehrte und Minderjährige blieb also relevant. Auch in Michoacán lassen sich die calidades in Pfarrregistern noch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit nachweisen. Während die meisten Kategorien mit der Zeit verschwanden, überlebte die Unterscheidung zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung bis in die 1850er-Jahre.257 Im Gegensatz zu den Bezeichnungen indio oder indígena verschwanden Kategorien afrikanischer Abstammung mit der Unabhängigkeit weitgehend aus dem Verwaltungsschriftgut Mexikos, worauf bereits andere Historiker hinwiesen.258 Das Verschwinden dieser Kategorien aus den Quellen, ist u.a. damit zu erklären, dass es kaum noch Kriterien zur Identifizierung afrikanischer Abstammung gab. 254
255 256 257 258
Vgl. González Navarro, Moisés: ‘Mestizaje’ in Mexico during the National Period, in: Magnus Mörner (Hrsg.), Race and Class in Latin America, New York; London 1970, S. 145–169, S. 146; O’Hara, A Flock, 2010, S. 196. Yautepec. Bautizos, Yautepec, Mor., AGN, Microfilm, LRO. 2092, 36783, vol. 28-32, hier: vol. 31, f. 80. Zitat: „segun el sistema actual de govierno que nos rige“. Vgl. O’Hara, A Flock, 2010, S. 196, 198. Vgl. Ochoa Serrano, Afrodescendientes, 1997, S. 82; Ochoa Serrano, Los africanos, 1997, S. 172. Vgl. Hernández Cuevas, The Africanization, 2010, S. 101; zum Fortbestehen und der Bedeutungen von Kategorien wie indio und indígena siehe auch: Heimann, Liberalismus, 1998.
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Schon im späten 18. Jahrhundert wurden immer weniger Menschen als mulatos klassifiziert, da die Abstammung als Kriterium sozialer Distinktion an Bedeutung verloren hatte.259 Vor allem waren Afroamerikaner aber institutionell viel weniger getrennt von der spanischen Bevölkerung als Indigene. Gemeinden, deren Bewohner mehrheitlich als Afroamerikaner galten, kamen im kolonialen Mexiko schon aufgrund der spanischen Siedlungspolitik relativ selten vor. Menschen afrikanischer Abstammung, die zusammen mit Indigenen in gemischten Gemeinden lebten, wurden oft nicht als Afroamerikaner wahrgenommen. Die Gemeinde Yautepec (Morelos) scheint dafür ein Beispiel gewesen zu sein.260 Gerade in Städten scheinen die calidades im frühen 19. Jahrhundert stark an Bedeutung verloren zu haben. Dafür sprechen einige Zensusdaten der Stadt Córdoba. Die nach der Unabhängigkeit in Mexiko durchgeführten Zensus enthielten spätestens ab 1822 für gewöhnlich keine Abstammungskategorien mehr,261 wenngleich zeitgenössische wissenschaftliche Beschreibungen einzelner Regionen die Kategorien weiter verwendeten.262 In den durchgeführten Zensus wurden normalerweise nur das Alter, Familienstand, Familiengröße wie auch der ausgeübte Beruf der Personen erfasst.263 Der unter Porfirio Díaz 1890 erstellte Zensus von Teilen Oaxacas, der ausdrücklich nach „razas“ unterscheidet, galt in der Forschung bisher als eine beachtenswerte Ausnahme.264 In der Stadt Córdoba begann man jedoch während der zentralistischen Republik wieder, den erfassten Personen in den Zensusakten derartige Kategorien zuzuweisen. Offenbar auf Veranlassung des Stadtrats enthielten die Zensuslisten ab 1840 wieder eine Spalte, die an die koloniale Praxis der Registrierung der calidad anknüpfte. Die Bedeutung dieser Spalte war nun jedoch, fast 20 Jahre nach der Unabhängigkeit, eine andere als zur Kolonialzeit. Die Ratsherren Córdobas, die für die Erhebung in der Stadt zuständig waren, und die in den übrigen Ortschaften und Haciendas für den Zensus Verantwortlichen über259 260 261 262
263
264
Vgl. Kap. 1.2 Vgl. Kap. 2.2.2. Siehe z.B. den Zensus von Oaxaca von 1837: „Departamento de Oaxaca“ (1837), AHEM, Gobernación, Gobernación, vol. 38, exp. 21. Ochoa Serrano nennt ein Werk über den Bundesstaat Oaxaca aus den 1820er Jahren und eines über den Distrikt Acapulco aus den 1830er Jahren. Vgl. Ochoa Serrano, Los africanos, 1997, S. 173-174, 177-178. Siehe die Zensus der Gemeinden Miacatlán und Mazatepec (im heutigen Bundesstaat Morelos) der Jahre 1823, 1831, 1838, 1843, 1844: Archivo Municipal de Mazatepec, Gobernación, caja 115 (padrones). In Córdoba wurden in keinem der Zensus der Jahre 1829, 1830, 1834, 1836-1839 Abstammungskategorien verwendet: Archivo Municipal de Córdoba (AMC), vols. 84, 92, 94, 96, 100. Vgl. Correa/Velásquez, Indios, 2007. Siehe dazu die Zensusakten von 1890 für Jamiltepec und Tehuantepec: AGEO, Censos y Padrones, legs. 1-4; auch für die Jahre 1911-1918 lässt sich die Verwendung ethnischer Kategorien in Zensus nachweisen: Ebenda, leg. 5.
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schrieben diese Spalte jeweils nach ihrem eigenen Verständnis mit ganz unterschiedlichen Begriffen wie „clases“, „calidades“ „castas“, oder auch „origen“, „colores“ und „Mejicanos“.265 In der entsprechenden Spalte konnten Kategorien wie mestizo, mulato, moreno, negro, indio, indígena und natural auftreten, jedoch wurden vor allem die Kategorien blanco und megicano verwendet. Auch weitere Kategorien, die Nationszugehörigkeit anzeigten wie español, italiano oder extrangero, fanden Verwendung. 1840 wurden über 90 % der Bevölkerung als Weiße (blancos) oder Mexikaner (megicanos) kategorisiert, und 1843 fiel mit ca. 70 % ebenfalls der größte Teil der Stadtbevölkerung unter diese Kategorien. In keinem der Zensus der jeweiligen Stadtteile tauchten dabei beide Kategorien auf, d.h. die verschiedenen für die Erfassung zuständigen Personen betrachteten die Norm also entweder als Weiße oder als Mexikaner. 1840 wie 1843 wurden nur 2 % der Bevölkerung als Afroamerikaner registriert und 2 % bzw. 15 % als Indigene. Die Kategorie der Mestizen spielte mit 4 % bzw. 10 % ebenfalls eine eher geringe Rolle.266 Der große Anteil an Weißen bzw. Mexikanern spricht dafür, dass die Zuschreibung der verschiedenen Kategorien äußerst unscharf war, da die institutionellen Grenzen der korporativen Ordnung jetzt weniger sichtbar waren. Leider ist kein spätkolonialer Zensus der Stadt bekannt, so dass kein Vergleich möglich ist. Der Anteil der Weißen bzw. der Mexikaner war für eine Stadt, die von Haciendas umgeben war, recht hoch. Vermutlich hatte gerade der städtische Kontext dazu geführt, dass die Grenzen zwischen den calidades nicht mehr sichtbar waren. Möglicherweise spiegelte sich hier auch eine normative Vorstellung von der mexikanischen Nation wieder, denn Liberale wie José Luis Mora hofften schließlich, dass die Indigenen durch europäische Einwanderung innerhalb eines Jahrhunderts in der Bevölkerung aufgehen und somit verschwinden würden.267 Die in der späten Kolonialzeit festgestellte Tendenz, nach der der sozioökonomische Status auch über die calidad entschied, scheint sich hier fortgesetzt zu haben. Die Zuordnung des Ehrentitels Don in Córdoba spricht hierfür. In einigen Stadtteilen wurden Personen mit dem Titel Don oder Doña registriert und im Ganzen lässt sich feststellen, dass ein Zusammenhang zwischen der Kategorie Mexikaner bzw. Weißer (blanco) einerseits und den genannten Titeln bestand. Personen, die diese Titel führten, galten fast immer als Weiße bzw. Mexikaner. Im Stadtviertel Nr. 6 wurden 1840 insgesamt 66 von 278 registrierten Personen, also nur 24 % der Bevölkerung, als Don oder Doña erfasst, darunter auch viele Kinder. Unter diesen 66 Personen befanden sich lediglich zwei Afroamerikaner und zwei Mestizen; alle anderen Träger dieser Titel wurden als 265 266 267
Archivo Municipal de Córdoba (AMC), [Padrones de Córdoba], vols. 102, 104. Siehe Anhang. Vgl. Hale, Mexican Liberalism, 1968, S. 223.
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Weiße notiert. Weiße bildeten nach diesem Zensus jedoch lediglich 30 % der Bevölkerung des Stadtviertels, Mestizen hingegen 54 %. Für den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und ethnischer Zuschreibung sprechen außerdem die Fälle zweier Männer, die samt ihrer Familien in den beiden Zensus unterschiedlich klassifiziert wurden. Bernardo Sánchez war, wie auch zwei seiner Söhne, Silberschmied (platero)268 und lebte im Stadtteil 6 im Häuserblock Nr. 84. Es handelte sich um einen prestigereichen Häuserblock, denn 1840 trug hier fast die Hälfte der registrierten Personen, nämlich 26 von 55, den Titel Don bzw. Doña. Das 51-jährige Familienoberhaupt wurde 1840 so wie die übrigen Mitglieder und selbst die Kleinkinder der neunköpfigen Familie mit dem Titel Don und als blanco notiert. Lediglich die zehnte Person des Haushalts, das laut Zensus ebenfalls weiße Kindermädchen, trug den Titel nicht. Im Zensus von 1843, der keine Don-Titel mehr enthält, erscheint Bernardo Sánchez jedoch als mulato.269 Die Einträge für den Rest der Familie sind nicht eindeutig, jedoch legt die sonstige Registrierungspraxis für das 6. Stadtviertel nahe, dass die Kategorie des Familienoberhaupts in der Regel auf die übrigen Familienmitglieder übertragen wurde.270 Sein Wohnort und sein angesehener Handwerksberufs erklären, weshalb Sánchez 1840 als Don und blanco kategorisiert wurde. Sein hohes soziales Ansehen hatte ihm hierzu verholfen. Auch José María Pulido, der im Häuserblock Nr. 86 lebte, wurde 1843 als mulato erfasst, obwohl man ihn 1840 als mestizo registriert hatte. Seine Ehefrau war dagegen schon 1840 und 1843 erneut als mulata notiert worden. Auch die im Haus lebende María Lauteria Pulido wurde 1840 als mestiza und 1843 als mulata erfasst. Sie war scheinbar eine Tochter des Paares oder zumindest Tochter von José María. Von Beruf war José María Pulido ebenso wie seine beiden 1840 genannten Söhne operario, also einfache Arbeiter.271 Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der operario José María Pulido als mestizo kategorisiert wurde, der Silberschmied Bernardo Sánchez jedoch als blanco und mit dem Titel Don, obwohl im Zensus von 1843 beide als mulatos galten. Sozialer Status und die 268 269 270
271
Familie Nr. 11 im Häuserblock (manzana) Nr. 84 im Zensus des 6. Stadtviertels von 1840, AMC, vol. 102. Familie Nr. 28 im Häuserblock Nr. 84 im Zensus des 6. Stadtviertels von 1843, AMC, vol. 104. Im Fall Bernardo Sánchez‘ sind die Einträge für den Rest der Familie „yd.“, jedoch auch über diese Familie hinaus steht in den folgenden Zeilen immer „yd.“ bis bei einer anderen Familie erneut „Mulato“ eingetragen wurde. Dies spricht dafür, dass einige der vor dem erneuten Eintrag „Mulato“ genannten Personen nicht als Afroamerikaner galten, sondern hier bei der Registrierung ein Fehler unterlaufen ist. Familie Nr. 24 im Häuserblock Nr. 86 im Zensus des 6. Stadtviertels von 1840, AMC, vol. 102; Familie Nr. 36 im Häuserblock Nr. 85 im Zensus des 6. Stadtviertels von 1843, AMC, vol. 104.
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Zuweisung ethnischer Kategorien bedingten sich in ähnlicher Weise wie in der Zuschreibung der calidad während der Kolonialzeit. In den um Córdoba liegenden Gemeinden und Haciendas wurden häufiger als in der Stadt Kategorien verwendet, die Menschen als Afroamerikaner oder Indigene bezeichneten. Menschen außerhalb von Städten wurden mit höherer Wahrscheinlichkeit als von der Norm des Weißen oder des Mexikaners abweichend wahrgenommen. Ein Vergleich der beiden Zensus von 1840 und 1843 zeigt, dass auch jenseits der Stadtgrenzen kaum Einigkeit über die Zuschreibung der Kategorien bestand. Beispielsweise wurden 1840 in den Haciendas Francisco de Paula, Santa Margarita und Toxpan 18 % der Bevölkerung als Afroamerikaner und 28 % als Indigene kategorisiert, wohingegen 1843 lediglich 3 % als negro und alle anderen als Mexikaner eingeordnet wurden.272 In den Ortschaften Cerro de Palma und Rincón de Monteros wurden im ersten Zensus 68 % der Bevölkerung als Indigene registriert und der Rest als Mexikaner, doch 1843 lag der Anteil der Indigenen nur noch bei 18 %.273 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kategorie der Indigenen vor allem in bestimmten Kontexten fortbestand. Die Indigenen spielten für die Legitimation des mexikanischen Nationalstaats eine Rolle, wurden von den Eliten zur Legitimierung ihrer politischen Programme verwendet und wurden auch von verschiedenen Seiten als wichtiger Bestandteil der Gesellschaft anerkannt. Die Indigenen galten als Problem für den Fortschritt der Nation und man schrieb ihnen im kirchlichen Kontext nach wie vor einen Sonderstatus zu, aber sie waren gleichzeitig ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. Afroamerikaner nahmen hingegen im Programm mexikanischer Politiker keinen prominenten Platz ein. Neben ihrem geringeren demographischen Gewicht war ein Grund, dass sie im Gegensatz zu den Indigenen nicht als Produkt der spanischen Kolonialherrschaft angesehen wurden. Ihnen wurde entsprechend kein Sonderstatus und wahrscheinlich sogar eine geringere kulturelle Alterität zugeschrieben. Im Denken mexikanischer Liberaler waren sie in dieser Hinsicht ein geringeres Problem für das Fortschreiten der Nation. Zudem waren sie, da es nur wenige afroamerikanische Gemeinden gab, institutionell kaum fassbar. In den Städten Mexikos hatte die calidad stark an Bedeutung eingebüßt. Die Zensus der der Stadt Córdoba der 1840er-Jahre zeigen, dass das Verständnis der ethnischen Kategorien noch diffuser war als in der späten Kolonialzeit. Die 272
273
1840 waren es 43 Afroamerikaner und 63 Indigene unter insgesamt 238 Personen. Im Zensus von 1843 wurden in diesen Haciendas 290 Personen erfasst, jedoch lediglich 88 erwachsene Männer mit Beruf und ethnischer Kategorie registriert, davon 3 als „negro“. AMC, vols. 102, 104. 1840 wurden von 368 Personen 251 als Indigene registriert, 1843 von 344 Personen nur noch 63 als Indigene. AMC, ebenda.
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Wahrnehmung der für die Registrierung zuständigen Personen klaffte weit auseinander. Als Weiße oder Mexikaner wurden in der Stadt Córdoba keinesfalls nur die Mitglieder einer kleinen Elite begriffen, sondern die Kategorien bezogen sich auf weite Teile der Bevölkerung. Ehre und Prestige waren, wie der Zensus nahelegt, nach wie vor an spanische oder europäische Abstammung geknüpft. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen europäischer Abstammung und weißer Hautfarbe einerseits und sozialem Prestige andererseits schwer zu fassen. Erlangten Menschen afrikanischer oder indigener Abstammung nur selten hohes Prestige? Oder galten Menschen mit hohem sozialen Ansehen nur selten als Indigene oder Afroamerikaner? Der laut Zensus geringe Anteil afroamerikanischer Bevölkerung in der Stadt spricht eher für letztere Interpretation.
Fazit Die kategorielle Unterscheidung zwischen Indigenen und Afroamerikanern hat ihre Wurzeln in der rechtlichen Differenzierung und der korporativen Organisation der frühneuzeitlichen Gesellschaften des spanischen Amerikas. Die Gründe für die unterschiedlichen rechtlichen Status, die Indigene und Afroamerikaner innehatten, sind nicht in einer Form frühneuzeitlichen rassistischen Denkens zu suchen, sondern vor allem in natur- und völkerrechtlichen Erwägungen bezüglich der Legitimierung spanischer Herrschaft in Amerika. Die einheimische Bevölkerung Amerikas bildete das Fundament der spanischen Herrschaft in Amerika und daher wurden die Indigenen seitens der Krone zu Untertanen und Vasallen des Königs erklärt und ihre Versklavung verboten wurde. Die Inbesitznahme der spanischen Gebiete beruhte auf einem päpstlichen Evangelisierungsauftrag. Der konnte seine legitimierende Funktion für die spanische Krone nur erfüllen, wenn die Indigenen als Menschen und somit als zum Christentum bekehrbar betrachtet wurden und die Krone sie in ihre Obhut nahm. Die Krone hatte zudem ein Interesse daran, die indigene Bevölkerung vor dem Zugriff der spanischen Kolonisten zu schützen. Die nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven spielten für die Legitimation spanischer Herrschaft keine Rolle. Aus Sicht der Krone gab es daher keinen Grund, Afrikaner und Afroamerikaner als Vasallen und Untertanen der spanischen Krone anzuerkennen. Afrikanische Sklaven waren im Verständnis der Krone keine Eingeborenen der Monarchie – wie Spanier und Indigene –, sondern Untertanen fremder Könige. Selbst ihre freien Nachkommen sollten nicht im selben Sinne Untertanen des spanischen Königs sein wie Spanier und Indigene. Afroamerikaner konnten prinzipiell sogar wie Fremde betrachtet werden: Bei den Nachkommen unfreiwillig eingewanderter Sklaven konnte man nicht davon ausgehen, dass sie der spanischen Monarchie emotional verbunden waren. Während die Indigenen, ebenso wie die Spanier, als Eingeborene – naturales – der spanischen Monarchie galten, konnten Afroamerikaner nicht als naturales betrachtet werden. Mit den Kategorien der Indigenen und der Afroamerikaner verbanden sich also nicht nur unterschiedliche rechtliche Status, sondern auch unterschiedliche Zugehörigkeitsstatus innerhalb der Monarchie. Die verschiedenen Status wurden zudem religiös legitimiert, wobei das iberische Konzept der Blutreinheit (limpieza de sangre) eine entscheidende Rolle spielte. Obwohl in der frühneuzeitlichen spanischen Welt Theorien kursierten, die die religiöse Reinheit der Indigenen infrage stellten, hielt die Krone daran fest. Indigene wurden seitens der Krone als Heiden bzw. Neubekehrte im christlichen Glauben angesehen, die des Schutzes des Königs bedurften. Sie galten der Krone als ebenso rein wie die Spanier. Ohne diese Voraussetzung hätte die Krone die Indigenen kaum als naturales der Monarchie betrachten können, denn der christliche Glaube war hierfür eine Voraussetzung.
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Fazit
Die Versklavung von Menschen afrikanischer Abstammung wurde mit dem Ham-Mythos und ihrer vermeintlichen Nähe zum Islam begründet. Diese beiden Elemente implizierten per se religiöse Unreinheit. Während Unreinheit bis dahin vor allem in religiösen Kategorien definiert worden war, also insbesondere jüdische oder muslimische Einflüsse meinte, wurde afrikanische Abstammung bald ausdrücklich als Unreinheit gewertet. Weder Krone noch spanische Kolonisten hatten ein Interesse daran, Afrikaner oder Afroamerikaner in der religiösen Ordnung aufzuwerten. Sie waren für die Legitimation spanischer Herrschaft bedeutungslos und afrikanische Sklaven waren während des 17. Jahrhunderts noch wichtige Arbeitskräfte. Die unterschiedlichen Bedeutungen der Kategorien indio sowie mulato und negro schlugen sich auf institutioneller Ebene in der Errichtung von Korporationen nieder. Die Krone betrachtete die Indigenen als eine von den Spaniern zu unterscheidende Klasse von Untertanen. Indigene verfügten daher über eigene Privilegien und gehörten einer gesonderten Rechtssphäre an. Sie sollten abgeschottet von der übrigen Bevölkerung in ihren Gemeinden leben und als repúblicas de indios über eigene Verwaltungsorgane verfügen. Neben dem Privileg der Selbstverwaltung machten der damit verbundene kollektive Landbesitz wie auch die Zuerkennung einer Sondergerichtsbarkeit und der Schutz vor dem Zugriff der Inquisition den Status der Indigenen aus. Die Gemeinderäte der indigenen repúblicas bildeten einen wichtigen Bestandteil der neuspanischen Verwaltung, denn sie waren insbesondere mit der Verwaltung des Gemeindelands und der Einziehung des Tributs betraut, den die Indigenen an die Krone zu entrichten hatten. Gleichzeitig konnte die indigene Bevölkerung durch diese Korporationen gegenüber der spanischen Verwaltung und anderen Akteuren auftreten. Die Amtsträger der repúblicas wurden von der spanischen Verwaltung als Repräsentanten der zugehörigen indigenen Bevölkerung anerkannt. Indigene Gemeinden konnten außerdem in gewissem Maße selbst definieren, wer ihnen angehörte, und entschieden so über den Zugang zu den entsprechenden Privilegien. Wer als indio galt und zur Gemeinde gehörte, manifestierte sich in der Beteiligung einer Person am Gemeindeleben, insbesondere in der Ausübung von Ämtern. Da indios als naturales galten und über eigene Korporationen verfügten, hatte die Kategorie des indio in der neuspanischen Gesellschaft ein besonderes Gewicht und eine hohe Legitimationskraft. Kategorien wie indio, vor allem aber natural, konnten als kollektive Selbstzuschreibungen verwendet wurden. Auch Afroamerikaner waren zu Tributzahlungen an den König verpflichtet, aber mit Kategorien afrikanischer Abstammung wie negro und mulato verband sich kein durch Privilegien definierter Ort in der korporativen Gesellschaft. Afroamerikaner hatten zwar mitunter Zugang zu Korporationen, beispielsweise afroamerikanischen Leinbruderschaften, aber für Afroamerikaner waren keine Selbstverwaltungsorgane vorgesehen. Sie sollten der spanischen Rechtssphäre angehören, nicht aber über die Privilegien der Spanier verfügen. Gemeinden,
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deren Bewohner als Afroamerikaner galten, wurden im 17. und 18. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen analog zu den indigenen Gemeinden als repúblicas anerkannt und ihre Räte waren den indigenen Gemeinderäten oft nicht gleichgestellt. Auch mussten sie sich im Gegenzug meist dazu verpflichten, im Auftrag der Krone entlaufene Sklaven zu jagen oder Militärdienst zu leisten. Viel verbreiteter als diese wenigen afroamerikanischen repúblicas waren im 18. Jahrhundert die afroamerikanischen Milizen. Es handelte sich dabei um von der Krone geschaffene Milizeinheiten, die sich (nahezu) ausschließlich aus Afroamerikanern zusammensetzten. Die Mitgliedschaft war oft mit Privilegien wie der Tributbefreiung und der Unterstellung unter die Militärgerichtsbarkeit verbunden. Die rechtliche Anerkennung afroamerikanischer repúblicas wie auch die Etablierung afroamerikanischer Milizen folgten der Strategie, Afroamerikaner durch militärische Indienstnahme als Vasallen des Königs an die Krone zu binden. Ähnlich wie indigene Räte Verwaltungsaufgaben im Auftrag der Krone ausführten, leisteten die Milizionäre dem König Dienst und konnten somit eine besondere Bindung an die Krone erlangen. Afroamerikanische repúblicas, vor allem aber die afroamerikanischen Milizen, gaben Afroamerikanern so die Möglichkeit, dem niedrigen rechtlichen Status, der mit afrikanischer Abstammung verbunden war, zu entkommen. Afrikanische Abstammung wurde in diesem Kontext des Vasallentums aufgewertet und konnte von Afroamerikanern sogar als Distinktionsmerkmal verwendet werden; denn über die Milizen als Korporationen im Dienst des Königs erhielten Afroamerikaner einen Platz im korporativen Gefüge Neuspaniens. Der Blick auf Afroamerikaner und Indigene führt die Komplexität des Konzepts calidad vor Augen. Die Kategorien der calidad wie indio oder mulato wurden seitens der spanischen Verwaltung im Prinzip als Abstammungskategorien betrachtet, die mit einer rechtlichen Bedeutung aufgeladen wurden. Die Mechanismen der Zuweisung der calidad im Neuspanien des späten 18. Jahrhunderts machen aber deutlich, dass das Konzept de facto vielschichtiger war. Phänotypische Merkmale konnten eine Rolle in der Zuweisung der calidad spielen, da sie als Indizien für die Abstammung einer Person gedeutet wurden. Sie waren nicht nur für die Zuschreibung afrikanischer Abstammung relevant, sondern auch für die Klassifizierung einer Person als indio oder mestizo. Bei Nachforschungen zur calidad wurden vor allem schriftliche Abstammungsbelege verwendet. Auch der Reputation einer Person kam eine große Bedeutung zu, unabhängig davon, ob es um die Kategorie indio oder die Kategorien mulato, pardo oder negro ging. Das Konzept der calidad hatte verschiedene Bedeutungsdimensionen wie Abstammung, Reputation, korporative Zugehörigkeit und Rechtsstatus und war damit ein Konzept sozialer Differenzierung, das nicht nur aus der religiösen Kategorie der limpieza de sangre erwuchs, sondern auch deutliche Parallelen zu Konzepten wie Ehre und Adel aufwies. Insbesondere der Begriff Adel hatte im spanischen Amerika wie auch in Europa ganz ähnliche Bedeutungsdimensionen
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Fazit
wie die calidad und war ähnlich unscharf definiert. Die calidad war also mit einer großen Ambiguität verbunden und die Ambiguitätstoleranz der frühneuzeitlichen spanischen Welt erlaubte das Fortbestehen einer so komplexen Kategorie. Die Kategorien der calidad wiesen zwar Dimensionen auf, die als ethnisch aufgefasst werden können, aber das Konzept ist in erster Linie im Zusammenhang mit den Strategien spanischer Herrschaftslegitimation, der korporativen Gesellschaftsordnung und religiösen Reinheitsvorstellungen zu betrachten. Der unterschiedliche Status von Indigenen und Afroamerikanern, insbesondere die Unterscheidung zwischen naturales und Fremden sowie der verschiedene Grad korporativer Organisation, blieb auch in der mexikanischen Nationalstaatsbildung relevant. Als die Abgeordneten der Cortes von Cádiz zwischen 1810 und 1812 eine Verfassung für die Monarchie erarbeiteten, erkannten sie die Afroamerikaner als Spanier und somit als Angehörige der Nation und des Staates an, nicht aber als Staatsbürger mit politischen Rechten. Hingegen sollten alle erwachsenen Männer, die ihre Ursprünge in Spanien und Amerika hatten, also Indigene, Spanier und deren Nachkommen, Staatsbürger sein. Ein wichtiges Argument für diese äußerst umstrittene Entscheidung war, dass Afroamerikaner lediglich Bewohner der spanischen Monarchie waren, aber, anders als die Indigenen, keine naturales. Analog zum frühneuzeitlichen Verständnis des Vasallentums sollten Afroamerikaner aber im Falle besonderer Verdienste für die Monarchie, also im Falle eines Treuebeweises, als Staatsbürger anerkannt werden. Die Exklusion der Afroamerikaner wurde in der Verfassung derart formuliert, dass sich in ihr das frühneuzeitliche Verständnis von calidad spiegelte: Die Reputation und der soziale Status einer Person sollten laut der Verfassung darüber entscheiden, ob jemand rechtlich als afrikanischstämmig zu behandeln war oder als Staatsbürger gelten sollte. Es war nicht vorgesehen, Abstammungsbelege wie beispielsweise Taufurkunden zu konsultieren, um die Abstammung einer Person zu ermitteln. Diese Formulierung ermöglichte eine flexible Handhabung des Exklusionskriteriums auf lokaler Ebene. Erst mit der Unabhängigkeit wurden Afroamerikaner, wie die übrige freie männliche erwachsene Bevölkerung Neuspaniens, zu Bürgern des Ersten Imperiums. Auch die bundesstaatlichen Verfassungen der Föderalen Republik schlossen freie Afroamerikaner nicht mehr von der Staatsbürgerschaft aus. Der Ausschluss der Afroamerikaner aus der spanischen Staatsbürgerschaft in der Verfassung von 1812 war nicht nur bei einigen amerikanischen Abgeordneten der spanischen Cortes bereits auf Kritik gestoßen, sondern wurde auch in Neuspanien von den Repräsentanten der spanischen Regierung keineswegs begrüßt. Denn die Exklusion der Afroamerikaner bei gleichzeitiger Inklusion der Indigenen barg Probleme. Afroamerikaner befanden sich zwar im Antiguo Régimen am unteren Ende der rechtlichen Hierarchie, aber viele von ihnen hatten de facto einen mittleren oder hohen sozioökonomischen Status. In
Fazit
277
einigen Regionen spielten sie als royalistische Milizionäre in den Auseinandersetzungen mit den Rebellen eine wichtige Rolle. In Regionen mit einem großen afroamerikanischen Bevölkerungsanteil wurde daher häufig eine von den spanischen Cortes erlassene Ausnahmeregelung für afroamerikanische Gemeinden angewendet, womit ihnen die Gründung von Gemeinderäten zugestanden wurde. Auf diese Weise übten Afroamerikaner auf lokaler Ebene politische Rechte aus, die im Prinzip nur für Staatsbürger vorgesehen waren, und ihre Gemeinden erhielten mit den Räten jene Institutionen, in denen sich Staatsbürgerschaft auf lokaler Ebene manifestierte. In diesen Prozessen schlug sich die Bedeutung der Milizen als afroamerikanische Korporationen nieder. Gerade afroamerikanische Milizen konnten aufgrund ihrer militärischen Funktion die Zuerkennung von konstitutionellen Räten für ihre Gemeinden durchsetzen. Als Milizionäre konnten sie gegenüber der spanischen Verwaltung in Veracruz und an der Pazifikküste die Zuerkennung politischer Rechte erreichen. Das Exklusionskriterium der afrikanischen Abstammung blieb in einigen Regionen und Städten äußerst umkämpft, so beispielsweise in Yautepec (Cuernavaca) wie auch in Guanajuato. Es wurde verwendet, um Kandidaten oder ihre Wählerschaft zu diskreditieren, doch bestand häufig keine Einigkeit darüber, wer überhaupt als Afroamerikaner anzusehen war. Viele Menschen afrikanischer Abstammung galten um 1800 längst als mestizos, Spanier oder indios und liefen überhaupt nur geringe Gefahr, deshalb von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen zu werden. Die spanische Verwaltung hatte wenig Interesse daran, die Exklusion der Afroamerikaner durchzusetzen, sondern betonte oft die Bedeutung der sozialen Reputation. Im Ganzen überließ sie die Entscheidung darüber, wer in Wahlen partizipieren konnte, den an der Wahl beteiligten Personen. Dabei konnte sie sich auf die Verfassung stützen, die den lokalen Akteuren hohe Entscheidungskompetenzen zubilligte. Vielerorts gelang es Afroamerikanern vermutlich, an den Wahlen teilzunehmen und auch Ämter zu besetzen, wie beispielsweise 1820 in Acapulco, ohne dass es darüber zu offenen Konflikten kam. Die Unterscheidung zwischen Indigenen und Afroamerikanern war nicht in allen Regionen gleichermaßen unscharf. An der Costa Chica bildeten Indigene und Afroamerikaner zwei deutlich voneinander getrennte Gruppen. Die Autoritäten erwarteten bei der Umsetzung der spanischen Verfassung schwerwiegende Konflikte, falls Afroamerikaner einem indigenen Gemeinderat unterstellt würden. In dieser Region waren wegen der starken afroamerikanischen Milizen die institutionellen Grenzen zwischen den indigenen Gemeindeteilen und den afroamerikanischen stärker ausgeprägt und sichtbarer als in anderen Teilen Neuspaniens. Diese Tatsache und die anonyme Drohung des Pamphlets Clamor Afri americano aus den royalistischen Truppen führten zur Anwendung der Ausnahmeregelung, die Afroamerikanern die Errichtung eigener Räte erlaubte.
278
Fazit
Mit der Unabhängigkeit und der Aufnahme der Afroamerikaner in die Gruppe der mexikanischen Staatsbürger verschwanden Konflikte um afrikanische Abstammung aus den Archiven. Da die Abstammung als Ausschlusskriterium keine rechtliche Relevanz mehr hatte, wurde sie in Wahlkonflikten, zumindest in den Interaktionen mit mexikanischen Verwaltungsakteuren, nicht mehr angeführt. Mit der Verfassung von Cádiz und erst recht mit der Unabhängigkeit kamen wahrscheinlich viele Afroamerikaner in die Situation, politische Rechte auszuüben. Denn Siedlungen, deren Bewohner als Afroamerikaner galten, wie sie beispielsweise oft auf Haciendas entstanden waren, wurde die Errichtung eigener Räte ab der Unabhängigkeit nicht länger verwehrt. Im Antiguo Régimen waren derartige Siedlungen aufgrund ihrer fehlenden korporativen Verfasstheit nicht als wirkliche Gemeinden angesehen worden. Nun wurden auch sie zu pueblos, solange sie die Kriterien, insbesondere eine Mindestbevölkerungszahl, erfüllten. Die indigene Bevölkerung reagierte auf die Errichtung des konstitutionellen Systems sehr unterschiedlich, da die Folgen für die indigenen Gemeinden je nach den lokalen und regionalen Bedingungen divers waren. Die Verfassung von Cádiz förderte die munizipale Selbstverwaltung, denn sie erkannte allen konstitutionellen Gemeinderäten denselben Status zu. Jene indigenen Gemeinden, die einen konstitutionellen Gemeinderat errichten durften, wurden als Korporationen gestärkt. Verglichen mit den repúblicas de indios hatten die neuen Räte erweiterte Kompetenzen. Die Gemeinden durften ihre Angelegenheiten in hohem Maße selbst regeln und waren nun von übergeordneten Städten unabhängig. In der Phase der Föderalen Republik zwischen 1824 und 1835 wurden die politischen Repräsentationsmöglichkeiten der Gemeinden allerdings eingeschränkt. Mit Ausnahme von Oaxaca reduzierten die Bundesstaaten die Anzahl der Gemeinderäte drastisch. Die Föderale Republik bildete daher auf legislativer Ebene einen Einschnitt in der Tradition der pueblos. In Gemeinden mit großen Anteilen indigener und nicht-indigener Bevölkerung führte die Einführung der Staatsbürgerschaft bis in die späten 1820erJahre oft zu Auseinandersetzungen zwischen Akteuren beider Gruppen. In diesen Konflikten traten weiterhin Konzepte und Ordnungsvorstellungen auf, die aus der korporativen Ordnung stammten. Sahen sich Bewohner einer Gemeinde aus den konstitutionellen Räten ausgeschlossen, präsentierten sie sich häufig kollektiv als naturales, und verwiesen auf den común de naturales, also den indigenen Gemeindeteil, für den sie Repräsentation forderten. In einigen Fällen versuchten sie gar, einen eigenen indigenen Rat neben dem konstitutionellen Rat zu errichten. Die Akteure argumentierten in diesen Konflikten mit der Verfassung und den liberalen Gesetzen, sahen aber keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Konzepte wie den común und die república zu verwenden. Kategorien zur kollektiven Selbstidentifizierung als Indigene wurden in Konflikten um politische Partizipation also weiterhin strategisch eingesetzt und die
Fazit
279
Vorstellung von zwei verschiedenen Gemeindeteilen bestimmte weiterhin diese Konflikte. Indigene Akteure interpretierten die Einführung der liberalen Staatsbürgerschaft häufig vor dem Hintergrund ihrer Verfasstheit als Gemeinden. Da die Verfassung von Cádiz die Räte von Städten und indigenen Gemeinden zu prinzipiell ebenbürtigen Organen machte, hatte die rechtliche Gleichheit der Staatsbürger aus der Sicht indigener Akteure eine korporative Dimension. Sie implizierte nicht nur die Gleichstellung von Indigenen und Spaniern, sondern auch von vormals indigenen Gemeinderäten (repúblicas) und den alten Stadträten der Spanier (ayuntamientos). Falls eine Gemeinde nicht über einen eigenen Rat verfügte, was insbesondere in der Phase der Föderalen Republik häufig der Fall sein konnte, waren die Gemeinden oft darum bemüht, in den übergeordneten Räten repräsentiert zu sein. Wie an Beispielen aus dem Estado de México gezeigt wurde, schlug sich die korporative Verfasstheit der Gemeinden im Verhältnis zwischen Gemeinden und konstitutionellen Räten nieder. Die Bewohner indigener Gemeinden begriffen ihre Gemeinden als Korporationen, die über gewählte Vertreter im übergeordneten Rat repräsentiert oder über Mittelsmänner an den Rat gebunden sein sollten. Dies war häufig auch im Interesse der Gemeinderäte, deren Verwaltungsarbeit dadurch erleichtert wurde. Die Garantie bürgerlicher Rechte wurde seitens indigener Akteure ebenso mit der Kategorie des Staatsbürgers assoziiert wie die politischen Rechte. Da beispielsweise das Verbot der Peitschenstrafe eine Neuerung der spanischen Cortes war, wurde dieses eng mit der Kategorie des Bürgers verbunden. Staatsbürgerschaft implizierte somit in indigenen Gemeinden den Schutz des Individuums vor der Willkür der lokalen Autoritäten. Aufgrund dieser Schutzfunktion wurden die staatsbürgerlichen Rechte bisweilen auch als eine Gegenleistung für Steuerzahlung gedeutet, scheinbar in Analogie zum Verhältnis von kolonialzeitlichem indio-Tribut und den entsprechenden Privilegien. Beriefen sich Indigene auf bürgerliche Rechte, fanden Kategorien wie natural oder común de naturales oder gar indio kaum Verwendung, denn es ging in diesen Fällen nicht um kollektive Interessen. Indigene verwendeten nicht nur die Gesetze des liberalen Systems, sondern sie eigneten sich auch gängige Argumentationsmuster an, mit denen die Eliten das konstitutionelle System und die Unabhängigkeit legitimierten. Da die Unabhängigkeit von den Eliten oft als Befreiungsschlag dargestellt wurde, konnten indigene Akteure die Erfüllung der mit der Unabhängigkeit assoziierten Versprechen einfordern. Sie griffen auch das Argument der Eliten auf, nach dem die Indigenen sich erst noch zu Staatsbürgern entwickeln mussten. Wenn sie versuchten, materielle Unterstützung vom Staat einzufordern, argumentierten sie, dies sei eine Voraussetzung, um überhaupt Staatsbürger sein zu können. In der Legitimationskrise der spanischen Monarchie von 1808 reagierten Indigene und Afroamerikaner auf die politischen Ereignisse in der Monarchie. In
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Fazit
ihren Treuebekundungen gegenüber der vizeköniglichen Regierung evozierten indigene Gemeinden das paternalistische Verhältnis zwischen Krone und Indigenen. Ihrer Treue gegenüber Ferdinand VII. gaben sie Ausdruck, indem sie ihre Dankbarkeit für die Christianisierung durch die Spanier betonten. Diese Haltung stand nicht im Widerspruch zu der Vorstellung von der Zugehörigkeit zu einer spanischen oder amerikanischen Nation, auf die sie sich gleichzeitig beriefen. Indigene Akteure artikulierten damit Zugehörigkeitsvorstellungen, die nah am kreolischen Patriotismus waren. Afroamerikanische Milizen konnten als Korporationen und Vasallen des Königs durch Spenden ihre Treue zum König bekunden. Die amerikanischen Autonomiebestrebungen in der Krise von 1808 konnten für Afroamerikaner aber gerade attraktiv sein, weil sie sich, als in Amerika Geborene, dem Autonomie-Projekt neuspanischer Kreolen anschließen konnten. In Acapulco, wo große Teile der spanischen Bevölkerung EuropaSpanier waren, wollten Afroamerikaner die Chance wahrnehmen, im Zuge der Krise die lokalen Machtverhältnisse umzustürzen und sich als Amerikaner – nicht als Afroamerikaner – gegen die Europa-Spanier aufzulehnen. Im Bürgerkrieg der 1810er-Jahre wurde die Unterscheidung nach calidades von verschiedenen Akteuren infrage gestellt. Die Rebellen propagierten die Abschaffung der calidades, die Einheit der amerikanischen Nation und die Errichtung einer egalitären Gesellschaft, in der Abstammung keine Rolle mehr spielen sollte. Die Repräsentanten der neuspanischen Regierung näherten sich in ihren Verlautbarungen mitunter dem egalitaristischen Tenor der Rebellen an, wenn sie zu Indigenen und Afroamerikanern sprachen. Im Angesicht des Bürgerkriegs konnten Royalisten die spanische Nation sogar schon vor der Proklamation der Verfassung von Cádiz zu einem Gleichheitsversprechen umdeuten, das die Überwindung der calidades implizierte, um die Bevölkerung für die royalistische Seite zu gewinnen. Rebellenführer wie auch Royalisten glaubten, dass die Überwindung der rechtlichen Differenzierung nach calidades ein wichtiges Anliegen weiter Teile der Bevölkerung war. In welchem Maße Indigene oder Afroamerikaner durch dieses Versprechen von den Rebellenheeren angezogen wurden, ist trotzdem fraglich. Für Indigene lässt sich, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, keine überproportionale Beteiligung nachweisen. Ihre Verfasstheit als indigene Gemeinden war jedoch ausschlaggebend für die Form ihrer Beteiligung an den Auseinandersetzungen. Afroamerikaner hegten in einigen Regionen zwar eine besondere Abneigung gegen Europa-Spanier oder Weiße, doch ist fraglich, dass dieser Befund verallgemeinert werden kann. Nur Sklaven schlossen sich den Rebellen besonders häufig an. Die afroamerikanischen Milizen unterstützten in einigen Regionen größtenteils die Rebellen, in anderen Teilen blieben sie loyal zu den Royalisten. Milizzugehörigkeit konnte aber die Positionierung von Afroamerikanern beeinflussen; sie konnte ein Grund sein, den Royalisten treu zu bleiben. Die Rebellenführer versuchten sogar, afroamerikanische Milizionäre anzuwerben, indem sie ihre militärischen Grade aufrechterhielten oder ihnen neue zuerkannten. Die
Fazit
281
afroamerikanischen Milizen der Pazifikküste blieben auch nach der Unabhängigkeit bestehen und nahmen an Auseinandersetzungen um die Ausweisung der Spanier teil. Ihre politische Positionierung war auch hier nicht eindeutig, denn sie waren in den 1820er-Jahren nicht nur an anti-spanischen, sondern auch an pro-spanischen Kampagnen beteiligt. Die Krise der Monarchie, der Bürgerkrieg und die Errichtung eines liberalen politischen Systems führten dazu, dass Teile der afroamerikanischen Bevölkerung nicht länger rechtliche Benachteiligung aufgrund ihrer Abstammung akzeptieren wollten. Afroamerikaner begannen, sich gegen ihre rechtliche Exklusion durch die Verfassung von Cádiz aufzulehnen. Protagonisten im Protest gegen die Exklusion durch die Verfassung von Cádiz waren die afroamerikanischen Milizen. 1820 regte sich, sowohl unter den Milizen der Pazifikküste als auch unter denen Yucatáns, Widerstand gegen die Verfassung. Der Protest wurde seitens der Milizen artikuliert, denn die Milizionäre konnten aufzeigen, dass ihre politische Exklusion im Widerspruch zu ihren militärischen Verdiensten und ihrem Dienst im Auftrag des Königs stand. Das belegt aber nicht die Existenz eines ethnischen Gruppenbewusstseins unter Afroamerikanern, denn die Milizionäre scheinen vor allem für ihre eigenen Interessen gekämpft zu haben. Die Zuerkennung der mexikanischen Staatsbürgerschaft mit der Unabhängigkeit war für Afroamerikaner von großer symbolischer Bedeutung. Sie signalisierte, dass die mit afrikanischer Abstammung verbundene rechtliche Benachteiligung und soziale Geringschätzung überwunden werden sollte. Im Gegensatz zu den Afroamerikanern waren Indigene in der Vorstellung der spanischen Krone wie auch der neuspanischen und mexikanischen Eliten ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. In den Programmen der politischen Eliten in der nationalstaatlichen Phase spielten die Indigenen nicht nur wegen ihres demographischen Gewichts eine wichtige Rolle, sondern auch weil sich Kategorien zur Bezeichnung der Indigenen mit einer besonderen Legitimität verbanden. Selbst wenn Indigene als rückständig und als Relikt der spanischen Kolonialherrschaft galten, wurden Kategorien wie indios und naturales mit der Vorstellung verbunden, dass sie die Ureinwohner des Territoriums waren. Die Indigenen erfüllten somit eine wichtige Rolle in den Narrativen zur Legitimation des mexikanischen Nationalstaats. Nach dem Ende der rechtlichen Unterscheidung nach Indigenen, Spaniern und Afroamerikanern mit der Unabhängigkeit blieb die Kategorie der Indigenen für die Wahrnehmung der Gesellschaft gerade durch ihre indigenen Gemeinden relevant. Aus Sicht liberaler Politiker galt es weiterhin, die korporative Verfasstheit indigener Gemeinden zu überwinden. Indigene nahmen daher einen zentralen Platz im politischen Programm von Liberalen ein, spielten aber auch in prospanischen politischen Projekten, die die Wiederherstellung indigener Privilegien anvisierten, eine Rolle. Priester unterschieden zudem in einigen ländlichen Pfarreien weiterhin zwischen Indigenen und der übrigen Bevölkerung. Afro-
282
Fazit
amerikaner verschwanden nicht nur aus der Wahrnehmung, weil Akteure sich selbst nicht als Afroamerikaner identifizierten, sondern auch weil die Kategorie der Afroamerikaner weniger institutionell definiert war. In Städten verloren die verschiedenen Abstammungskategorien in der nationalstaatlichen Phase an Bedeutung, wie die Zensus der Stadt Córdoba aus den 1840er-Jahren nahelegen. Das Fehlen institutioneller Grenzen entlang von calidades führte dazu, dass calidad als soziale Kategorie noch diffuser geworden war als im Antiguo Régimen. Hiermit setzte sich eine Entwicklung fort, die bereits im 18. Jahrhundert begonnen hatte, als immer weniger Menschen afrikanischer Abstammung registriert wurden. Hohes soziales Ansehen wurde nun weiterhin mit spanischer oder europäischer Abstammung assoziiert, aber gleichzeitig waren jene Kategorien, in denen Personen eines hohen sozioökonomischen Status registriert wurden, nicht mehr für die Elite reserviert. Der überwiegende Teil der Bevölkerung wurde zusammen mit der lokalen Elite in derselben Kategorie erfasst, nämlich als Weiße oder Mexikaner. Nach den Befunden dieser Arbeit würde es zu kurz greifen, die rechtliche Ordnung Neuspaniens als eine Hierarchie von ethnischen Kategorien aufzufassen. Vielmehr muss die rechtliche Ordnung aus Perspektive der unterschiedlichen Korporationen begriffen werden. Diese Feststellung ist nicht nur für das Verständnis des Antiguo Régimen, sondern auch für die Phase der Nationalstaatsbildung zentral. Die indigene Bevölkerung war im Antiguo Régimen über korporativ verfasste indigene Gemeinden repräsentiert, wobei dies für die sogenannten indios laboríos in geringerem Maße gilt. Die indigene Bevölkerung wurde seitens der spanischen Verwaltung in erster Linie durch ihre repúblicas gesehen. Die starke korporative Prägung erklärt zum Teil, warum die Selbstbezeichnung als naturales im frühen 19. Jahrhundert weiterhin als Legitimationsstrategie von indigenen Akteuren eingesetzt wurde. Denn Indigene verwendeten sie vor allem, wenn sie sich in kollektiver Form im Kontext der Gemeinden repräsentierten. Die Kategorie der Indigenen war durch ihren festen Platz in der korporativen Ordnung mit großer Legitimationskraft ausgestattet. Diese These bestätigt sich im vergleichenden Blick auf Afroamerikaner. Nur afroamerikanische Milizionäre identifizierten sich im Antiguo Régimen als Afroamerikaner und die Einforderung politischer Rechte für Afroamerikaner im Jahr 1820 wurde auch von den Milizen artikuliert. Die Milizzugehörigkeit hatte Afroamerikanern einen Platz in der korporativen Gesellschaft verschafft, während sich mit Katgegorien afrikanischer Abstammung ansonsten kein durch Privilegien definierter Platz im korporativen Gefüge verband. Afrikanische Abstammung allein hatte keinerlei Legitimationskraft. Aus Sicht der Korporationen lässt sich das Verhalten von Indigenen und Afroamerikanern in vielen Fällen gut erklären. Die Verfasstheit der Indigenen in repúblicas prägte die lokalen Konflikte um politische Partizipation, den Umgang mit dem Status als Staatsbürger und das Verhalten der Indigenen im Bürger-
Fazit
283
krieg. Afroamerikaner konnten vor allem als Milizionäre die spanische Staatsbürgerschaft für ihre Gemeinden durchsetzen, die Milizzugehörigkeit war in gewissem Maße ausschlaggebend für die Positionierung von Afroamerikanern im Bürgerkrieg der 1810er-Jahre und ihre Milizen blieben bis in die 1820erJahre wichtige Akteure. Die Wahrnehmung von Indigenen und Afroamerikanern seitens politischer Eliten war weitgehend von den kolonialzeitlichen Bedeutungsdimensionen dieser Kategorien bestimmt. Hier manifestierte sich die Betrachtung der Indigenen als Eingeborene Amerikas und der Monarchie. Die Indigenen wurden in der Verfassung von Cádiz als Staatsbürger anerkannt und die Rebellenführer wie auch liberale Intellektuelle der 1820er-Jahre bezogen sich auf die Indigenen, um ihre politischen Programme zu rechtfertigen. Die Bedeutung der Indigenen in den politischen Legitimationsstrategien der Eliten bildet eine Kontinuität zum Antiguo Régimen, unter dem Indigene als naturales der Monarchie anerkannt waren. Zugleich handelte es sich um eine Fortsetzung des kreolischen Patriotismus: Die indigene Bevölkerung konnte von liberalen Intellektuellen als Nachkommen der prähispanischen Zivilisationen betrachtet werden und daher einen Platz in den Legitimationsnarrativen des Nationalstaats einnehmen. Im Gegensatz zu Afroamerikanern blieben Indigene zudem aufgrund ihrer Verfasstheit in indigenen Gemeinden institutionell wahrnehmbar und damit zentral für die Vorstellung von der mexikanischen Gesellschaft. Die vorliegende Studie wirft einige offene Fragen auf. Für jene Regionen, in denen die institutionellen Grenzen zwischen Indigenen und Afroamerikanern gering ausgeprägt waren, muss genauer untersucht werden, in welchen Kontexten die calidad bedeutsam war. Hierdurch würde die Forschung ein klareres Verständnis davon erlangen, wie wichtig die korporativen Institutionen für das Konzept calidad waren, und insbesondere, worin die Bedeutung der calidad jenseits der Korporationen lag. Für die Kolonialzeit ist darüber hinaus noch nicht genau geklärt, wie sich das Konzept der calidad im Laufe der Jahrhunderte wandelte, insbesondere, welche Kriterien zu welchem Zeitpunkt an Bedeutung verloren oder gewannen, denn in der bisherigen Forschung stand, nicht zuletzt wegen der Quellenlage, das 18. Jahrhundert im Vordergrund. Eine solche Betrachtung müsste auch europäische Entwicklungen im Umgang mit Abstammung miteinschließen, um so die Entwicklung des Konzepts calidad in einem weiteren Kontext verstehen zu können. Zudem sollte die Geschichtswissenschaft die indigenen Gemeinden im Verlauf des 19. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zum Nationalstaat weiterverfolgen, und zwar sowohl aus Perspektive der Gemeindebewohner als auch aus Sicht der staatlichen Akteure und der politischen Eliten. Insbesondere die Frage nach der Bedeutung der Staatsbürgerschaft für diese Gemeinden ist zu beachten. Nur so ist zu verstehen, warum indigene Gemeinden seit den 1990er-Jahren kollektive
284
Fazit
Sonderrechte erhalten konnten, und warum indigene Akteure sich weiterhin auf ihre Gemeinden berufen. Die afroamerikanischen Gemeinden oder auch die afroamerikanischen Milizen im 19. Jahrhundert genauer zu untersuchen, erscheint angesichts der Befunde dieser Arbeit schwierig. Die Überlieferungssituation lässt ein solches Unterfangen zumindest für Mexiko kaum zu. Aus diesem Grund ist auch die Fortführung der vergleichenden Perspektive auf Indigene und Afroamerikaner kaum möglich. Für andere Regionen wie beispielsweise Neu-Granada wäre es hingegen durchaus lohnenswert, der Bedeutung der afroamerikanischen Milizen jenseits der Unabhängigkeit nachzugehen.
Anhang Ethnische Kategorisierung in der Stadt Córdoba im Zensus von 1840 Stadtviertel
Bevölkerungsgröße
Weiße
Mexikaner
Indigene
Mestizen
Andere
Unklar
0
Afroamerikaner 17
1
439
422
0
0
0
0
2
231
224
0
6
0
0
1
0
3
306
0
298
2
2
0
4
0
4
473
0
461
2
10
0
0
0
5
735
0
706
7
4
0
18
0
6
278
83
0
7
38
150
0
0
7
159
131
0
4
24
0
0
0
8
726
0
699*
19
0
0
6
2
9
314
298
0
7
8
0
1
0
10
133
125
0
6
2
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Gesamt
3794
1284
2164
77
88
150
30
2
Anteil an d. Bevölkerung
100%
34%
57%
2%
2%
4%
1%
0%
Zu der Kategorie Andere wurden hier 17 Spanier und 11 Personen anderer Nationalitäten gezählt wie auch zwei Personen, die im Zensus als „Ydiota“ kategorisiert wurden. Die Afroamerikaner setzten sich aus 48 mulato/as, 24 negro/as und 5 moreno/as zusammen. Die Indigenen wurde als indígena, indio oder natural registriert. * Im Stadtviertel 8 wurden 699 Personen ohne ethnische Kategorie klassifiziert; scheinbar wurden hier nur solche Personen explizit mit ethnischer Kategorie klassifiziert, die als Abweichungen von der Norm wahrgenommen wurden. Der Übersichtlichkeit halber wurden diese 699 Personen hier zu den Mexikanern gezählt gefasst.1 1
Archivo Municipal de Córdoba (AMC), vol. 102.
286
Anhang
Ethnische Kategorisierung in der Stadt Córdoba im Zensus von 1843 Weiße
Mexikaner
1
Bevölkerungsgröße 401
Indigene
Mestizen
Andere
Unklar
386
Afroamerikaner 5
0
5
0
5
0
2
232
0
117
1
102
8
4
0
3
287
0
238
6
36
0
7
0
4
289
0
259
0
30
0
0
0
5
707
0
534
18
71
66
18
0
6
394
0
357
16
6
0
0
15
7
169
0
147
1
15
0
1
5
8
-
-
-
-
-
-
-
-
9
372
143
0
17
86
125
1
0
10
232
22
0
10
101
99
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
3083
165
2038
74
452
298
36
20
100%
5%
66%
2%
15%
10%
1%
1%
Stadtviertel
GESAMT Anteil an d. Bevölkerung.
Für das Stadtviertel 8 liegt kein Zensus des Jahres 1843 vor. Die Afroamerikaner setzten sich aus 36 mulato/as, 31 negro/as und 7 moreno/as zusammen. In Stadtviertel 5 wurden 48 Mestizen und 18 castizos registriert, die hier als Mestizen zusammengefasst werden. Unter der Kategorie Andere befinden sich 8 Spanier, 16 Personen die als „Ausländer“ („Estranjero“) kategorisiert wurden, 3 Personen die als „Esp[añol] Meg[icano]“ erfasst wurden und 9 Personen weiterer Nationalitäten. Unter ‚unklar‘ ist die Anzahl der Personen genannt, die aufgrund missverständlicher Einträge keiner Kategorie zugeordnet werden konnten.2
2
AMC, vol. 104.
287
Literatur- und Quellenverzeichnis Archive AGEO AGN AHEM AHJO AHJP AMC AMM BN INAH
Archivo General del Estado de Oaxaca, Oaxaca Archivo General de la Nación, México, D.F. Archivo Histórico del Estado de México, Toluca Archivo Histórico Judicial de Oaxaca, Oaxaca Archivo Histórico Judicial de Puebla, INAH, Puebla Archivo Municipal de Córdoba, Córdoba (Veracruz) Archivo Municipal de Mazatepec, Mazatepec (Morelos) Biblioteca Nacional, México, D.F. Instituto Nacional de Antropología e Historia, México, D.F.
Gedruckte Quellen Gaceta del Gobierno de México Bustamante, Carlos María de: Cuadro histórico de la revolución mejicana, comenzada en 15 de setiembre de 1810 por el ciudadano Miguel Hidalgo y Costilla, cura del pueblo de Dolores, en el obispado de Michoacán, Méjico 1854. Cacicazgo de Almoloya, in: Guillermo S. Fernández de Recas (Hrsg.), Cacicazgos y nobiliario indígena de la Nueva España, México 1961, S. 253–268. Constitución Federal de los Estados Unidos Mexicanos, sancionada por el Congreso General Constituyente, el 4 de octubre de 1824, Imprenta del Supremo Gobierno de los Estados Unidos Mexicanos en Palacio, México [ohne Jahr]. Constitución política del Estado libre de Oajaca, México 1825. Constitución política del Estado libre de Veracruz sancionada por su congreso constituyente en 3 de Junio de 1825, Jalapa 1825. Colección de los decretos y ordenes del honorable Congreso constitucional del Estado libre de Jalisco desde su instalación en 18 de enero de 1825 hasta 30 de setiembre de 1826 que cesó, Guadalajara 1826. Constitución política del Estado de México sancionada por su congreso constituyente en 14 de febrero de 1827, México 1827. Constitución política de la Monarquía Española, in: Cortes Generales (Hrsg.), Colección de decretos y ordenes de las Cortes de Cádiz, Madrid 1987, S. 392–459. Constitución del estado de Yucatán (1825), in: Sebastian Dorsch (Hrsg.), Documentos constitucionales de México, 1814–1849, Berlin, New York 2013, S. 317–340. Colección de decretos y ordenes de las Cortes de Cádiz, Madrid 1987. Plan de la independencia de Mexico proclamada y jurada en el pueblo de Iguala en los días 1 y 2 de marzo de 1821 por el Serenísimo Sr. D. Agustin de Iturbide, Generalísimo Almirante, y Presidente de la Regencia Gobernadora interina del Imperio, México: 1822. Imprenta de D. Alejandro Valdés. [AGN]
288
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