Besteuerung von Einkommen: Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa [1 ed.] 9783428499533, 9783428099535

Die Autoren gehen davon aus, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein möglichst weitgehend harmonisiertes Steu

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Besteuerung von Einkommen: Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa [1 ed.]
 9783428499533, 9783428099535

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KLAUS TIPKE / NADYA BOZZA (Hrsg.)

Besteuerung von Einkommen

Schriften zum Steuerrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Joachim Lang und Prof. Dr. Jens Peter Meincke

Band 67

Justitia von Giotto (Cappella degli Scrovegni, Padua / Italien)

Besteuerung von Einkommen Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa

Herausgegeben von Klaus Tipke Nadya Bozza

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Besteuerung von Einkommen: Rechtsvergleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa I Hrsg.: Klaus Tipke ; Nadya Bozza. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Steuerrecht; Bd. 67) ISBN 3-428-09953-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 3-428-09953-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Inhaltsverzeichnis Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit

Von Klaus Tipke ..................................................................................

9

Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit Von Francesco Moschetti (Nadya Bozza) ........................................... ..

33

Der steuerrechtliche Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts Von Livio Paladin (Nadya Bozza) ........................................................

71

Der Gleichheitssatz im deutschen Steuerrecht Von DieterBirk ....................................................................................

103

Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer Von Joachim Lang ...............................................................................

123

Die objektive Netto-Besteuerung in Spanien. Ein Vergleich mit dem deutschen Einkommensteuerrecht Von Gloria Alarcon Garcia ...................................... ...........................

153

Die objektive Netto-Besteuerung in Italien Von Gianfranco Gaffuri (Nadya Bozza) ...............................................

171

Das Prinzip der subjektiven Netto-Besteuerung und die Familienbesteuerung in Spanien Von Pedro Manuel Herrera Molina ................................. .. ...................

181

Inhaltsverzeichnis

8

Das Prinzip der subjektiven Netto-Besteuerung und die Familienbesteuerung in Italien Von Enrico De Mita (Nadya Bozza) .....................................................

193

Die Unternehmensbesteuerung in Italien. Rechtliche Gesichtspunkte Von Gaspare Falsitta (Nadya Bozza) ................................................... Die Besteuerung der Einkommen von Unternehmen

213

mDeutschland

Von Heinz-Jargen Pezzer .....................................................................

235

Das Welteinkommensprinzip Von JiJrg M. MiJssner ..........................................................................

253

Das Welteinkommensprinzip Von Pietro Adonnino (Nadya Bozza) ....................................................

271

Überlegungen zu einer europäischen Einkommensteuer Von GilbertoMuraro (Nadya Bozza) ............................. .......................

291

Resümee Von Klaus Tipke ......................................... .........................................

308

AutorenveIZeichnis ................................................................. ..............

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Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit Von Klaus Tipke

L Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union brauchen ein harmonisiertes Steuerrecht Europa als Wirtschafts- und Währungsunion braucht ein möglichst weitgehend harmonisiertes Steuerrecht mit dem Endziel einer Europäischen Steuerrechtsordnung, nonniert in einem Europäischen Steuergesetzbuch. Natürlich liegt dieses Ziel noch in weiter Ferne. Aber es zu erreichen, muß nicht für immer eine Illusion sein. Joachim Lang hat bereits ein Steuergesetzbuch erarbeitet. Der Entwurf dieses im Auftrag des deutschen Finanzministeriums konzipierten Gesetzbuches) ist zwar als Muster und Anregung für die osteuropäischen Staaten gedacht, eignet sich ohne weiteres aber auch als Modell für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Hannonisierung des Steuerrechts in Europa ist auf grundlegende Arbeiten der Steuerrechtswissenschaft angewiesen. Der Europäische Gerichtshof kann dazu nur einen begrenzten Beitrag leisten. Noch haben alle Staaten der Europäischen Union es mit einer Vielzahl von historisch gewachsenen, mehr oder minder schlecht aufeinander abgestimmten Steuern zu tun. Folgt man dem letzten von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1992 herausgegebenen Inventar der Steuern, so gab es am 1.1.1992 in Italien noch 45 Steuern, in Spanien noch 22 Steuern und in Deutschland noch 30 Steuern. Die Zählung ist nicht ganz vergleichbar, da Steuern, die in einem Land als selbständig gelten und in je einem besonderen Gesetz geregelt sind, in einem anderen Land in einem Gesetz zusammengefaßt sind und als eine Steuer gezählt werden. Immerhin, die Zahl der Steut:rn hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen: In Italien gibt es zum Beispiel schon seit 1975 keine Steuer auf Olivenöl (l'assa sull'olio d'oliva) und seit 1990 keine Bananensteuer (l'assa sulle banane) mehr. In Spanien sind u.a. mehrere Steuern auf Vermögensgüter aufgehoben worden. In Deutschland sind mehre-

I Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 49, Bonn 1993.

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re Verkehrsteuern und mehrere Verbrauchsteuern gestrichen worden; seit 1997 wird auch keine Vermögensteuer mehr erhoben. Die Staaten der Europäischen Union haben schon ein weitgehend harmonisiertes Umsatzsteuerrecht, aber sie brauchen auch ein harmonisiertes Einkommensteuerrecht, ein harmonisiertes Unternehmensteuerrecht und ein harmonisiertes Recht der speziellen Verbauchsteuern. Die Staaten der Europäischen Union sollten sich darüber einig werden, ob es eine Vermögensteuer geben sollte oder nicht. Dann brauchen Niederländer ihre Häuser auch nicht mehr im nahen Belgien zu bauen, um die Vermögensteuer zu sparen. Einstweilen stimmen die Steuer-"Systeme" noch wenig überein2. Vor allem müßte zunächst einmal ein unfairer Wettbewerb der nationalen Steuer-"Systeme" der EU-Mitgliedstaaten gestoppt werden. Unfair ist ein solcher Wettbewerb, wenn durch Steuerprivilegien, zumal solchen speziell fiir Ausländer, ausländisches Kapital angelockt und zu Lasten anderer Staaten Arbeitsplätze geschaffen werden. Es sollte insbesondere nicht zulässig sein, daß ein EU-Staat zu seinem Vorteil die Bürger anderer EU-Staaten zu Steuerflucht und Steuerhinterziehung anstiftet und dadurch anderen Mitgliedstaaten Schaden zufügt.

n. Das harmonisierte Steuerrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union muß ein gerechtes Steuerrecht sein Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Rechtsstaaten. Es genügt nicht, daß Rechtsstaaten durch formale Normen fiir Rechtssicherheit sorgen; sie müssen auch ein inhaltlich gerechtes Recht schaffen. Das Steuerrecht von Rechtsstaaten darf keine Zwangsordnung beliebigen Inhalts sein. Rechtsstaaten müssen sich vielmehr durch ein gerechtes Steuerrecht auszeichnen. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hat sich die noch in den Kinderschuhen stekkende Steuerrechtswissenschaft - jedenfalls in Deutschland - ziemlich einseitig nur mit der formalen Rechtsstaatlichkeit befaßt: Insbesondere sind damals der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und der Gesetzesbestimmtheit der Besteuerung herausgearbeitet worden, ferner das Analogieverbot und das Rückwirkungsverbot. Die Phase des formal-rechtsstaatlichen Steuerrechts ist eng mit Namen wie Fernando Sainz de Bujanda in Spanien, Ernst Blumenstein in der Schweiz, Antonio Berliri in Italien und Albert Hensel in Deutschland verbunden. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Steuerrechtswissenschaft in Italien, Spanien und Deutschland sich verstärkt der materialen Rechtsstaatlichkeit zu-

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s. auch Birk, unten S. 108 (,,Die Unterschiedlichkeit der Steuersysteme").

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gewendet, das heißt: der Frage des gerechten Rechts. Sie ist dabei nicht unwesentlich von den Nachkriegsverfassungen ihrer Länder herausgefordert und dirigiert worden. Bevor wir uns einschlägigen Verfassungsbestimmungen über Steuergerechtigkeit zuwenden, ist es - zum besseren Verständnis solcher Bestimmungen angezeigt, allgemein zu thematisieren, was man unter Gerechtigkeit zu verstehen hat. Gerechtigkeit ist immer ein Forschungsgegenstand der allgemeinen Philosophie, aber auch der Rechts- und Staatsphilosophie gewesen. Der besondere Zweig der Philosophie, der sich mit der Gerechtigkeit befaßt, ist die Ethik oder Moralphilosophie. Da man nicht nur von Steuerethik, sondern auch von Besteuerungsmoral und Steuennoral spricht, ist es zweckmäßig, einige tenninologische KlarsteIlungen voranzuschicken: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat die Begriffe ,,Ethi!t' und ,Norar' synonym gebraucht. Heute pflegt man unter Ethik die Theorie der ethischen Prinzipien (Regeln, Nonnen, Maßstäbe) und ihrer Rechtfertigung zu verstehen, wenngleich es auch noch Autoren gibt, die die Ethik als Moralphilosophie bezeichnen, in Parallele zur Moraltheologie. Die Ethik stellt Verhaltensprinzipien (-regeln, -nonnen, -maßstäbe) für den Staat und die Bürger auf und versucht sie zu rechtfertigen, sucht die Rechtfertigung allerdings - abweichend von der Theologie - nicht in göttlicher Offenbarung. Unterscheiden lassen sich danach Staatsethik und Bürgerethik (auch als personale Ethik bezeichnet). Die Staatsethik befaßt sich mit der Theorie der Verhaltensprinzipien, die der Staat und seine Organe gegenüber den Bürgern beachten sollen. Die Grund- oder Bürgerrechte rechtsstaatlicher Verfassungen enthalten positivierte und daher dem pluralistischen Meinungskampf entzogene Staatsethik. Die Bürgerethik ist die Theorie der Verhaltensprinzipien, die die Bürger a) gegenüber dem Staat und b) gegenüber den anderen Bürgern beachten sollen. Die ethischen Verhaltensprinzipien legen fest, welches Verhalten gerecht oder ungerecht, gut oder böse ist. Unter Moral versteht man das Handeln entsprechend ethischer Prinzipien. Vom Rechtsstaat muß man ein Handeln nach ethischen, d.h. nach Gerechtigkeitsprinzipien, verlangen. Auch die Steuerlast muß der Rechtsstaat nach gerechten Prinzipien verteilen. Tut er das, kann man ihm Besteuerungsmoral bescheinigen. Befolgen die Bürger die Normen gerechter Steuergesetze weitgehend, so spricht man von guter Steuermoral, beachten sie sie weithin nicht, von schlechter Steuennoral. Unter einer schlechten Besteuerungsmoral des Staates leidet auch die Steuermoral der Bürger. Für Steuerbeamte ist es eine Zumutung, wenn sie evident ungerechte Steuergesetze durchsetzen müssen. Das Berufsethos der Steuerberater setzt ein gerechtes Steuerrecht voraus. Wer die aufgrund gerechter Gesetze geschuldeten Steuern hinterzieht, handelt steuerunmoralisch. Umstritten ist, ob die Bürger verpflichtet sind, auch eindeutig ungerechten Gesetzen zu gehorchen. Der US-amerikanische Philosoph

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John Rawls meint in seiner Theory of Justice von 1971, die Bürger müßten auch ungerechte Gesetze befolgen, wenn sie ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit nicht überschritten. Bis zu einem gewissen Grade müßten Fehler des Gesetzgebers hingenommen werden. Mindestens unter fast gerechten Verhältnissen hätten die Bürger die Pflicht, auch ungerechten Gesetzen zu gehorchen. 3 Wer verfassungswidrigen Gesetzen nicht gehorcht, sollte deswegen zumindest nicht bestraft werden können. An ein ungerechtes, evident verfassungswidriges Steuerrecht können keine gerechten Strafen geknüpft werden4 • Damit keine Mißverständnisse entstehen: Die materiale Rechtsstaatlichkeit, die sich vor allem in Gerechtigkeit ausdrückt, verdrängt die formale Rechtsstaatlichkeit nicht. Auch gerechtes Recht muß in Gesetzesvorschriften niedergelegt und veröffentlicht werden. Auch gerechtes Recht sollte möglichst bestimmt formuliert werden, keine Lücken enthalten und nicht zurückwirken.

m.Über finanzwissenschaftliehe Vorarbeiten zur Steuergerechtigkeit Obwohl auch die Steuergerechtigkeit ein Teil der Ethik ist, haben sich weder die allgemeinen Philosophen noch die Rechts- und Staatsphilosophen grundlegend und intensiv mit den Fragen der Steuergerechtigkeit beschäftigt. Vor allem bei älteren englischen Philosophen, die sich mit Staat und Politik befaßt haben (z.B. Thomas Hobbes, John Locke, John Stuart Mi/!), finden sich allerdings auch Bemerkungen zur Besteuerung. Die weitgehende Enthaltsamkeit der Philosophen erklärt sich wohl daraus, daß ihnen im Bereich der Steuern die Anschauung und die Kompetenz fehlen. Es überzeugt nicht, wenn die Inkompetenz mit dem Hinweis geleugnet oder verschleiert werden soll, bei den Steuern gehe es um Geld, und Geld als etwas Materielles liege außerhalb der Philosophie, der Ethik zumal. Wer sich so einläßt, befindet sich offensichtlich auf dem Holzwege. Wenn es - wie im Steuerrecht, im Sozialrecht oder im Subventionsrecht - um die Verteilung der Gesamtsteuerlast oder um die Verteilung einer bestimmten Subventionssumme geht, stellt sich die ethische Frage, die Gerechtigkeitsfrage, ganz elementar. Dabei geht es primär um das Aufstellen ethischer Prinzipien oder Gerechtigkeitsprinzipien, nicht um das Rechnen mit Zahlen. Was in konkreten Zahlen endet, setzt ethische Prinzipien als Prämissen voraus. Da es eine von der zu regelnden Sache losgelöste Gerechtigkeit als solche nicht gibt, sondern nur eine auf die jeweilige Sache bezogene Gerechtigkeit 3 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Titel der Originalausgabe: Theory of Justice, 1971), Frankfurt a.M. 1979, S. 386 fI 4 Dazu Salditt, Die Hinterziehung ungerechter Steuern, in: Festschrift filr Klaus Tipke, Köln 1995, S. 475 fI

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(im deutschen Sprachraum als Sachgerechtigkeit bezeichnet, z.B. Strafgerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Subventionsgerechtigkeit), muß der Gerechtigkeitstheoretiker etwas von der Sache verstehen. Danach gibt es nur zwei Möglichkeiten, das Problem der Steuergerechtigkeit zu lösen: Entweder eignen die Philosophen sich auch steuerliche Kompetenz an, oder die Steuerwissenschaftler werden zu Philosophen. Weil sich die Philosophen mit Fragen des gerechten Steuerrechts allenfalls beiläufig befaßt haben und eine Steuerrechtswissenschaft bis zum Ersten Weltkrieg noch nicht existierte, haben Ökonomen (Finanzwissenschaftler) sich der Steuergerechtigkeit angenommen; sie sind dadurch zugleich Steuerphilosophen geworden. In dem Buch von Harold M Groves über angloamerikanische "Tax Philosophers, Two Hundred Years of Thought in Great Britain and the United States"S werden nur Denker behandelt, die von Hause aus Ökonomen waren, so Adam Smith. John Stuart Mill. Henry Simons. Irving Fisher. Nicholas Kaldor. Daß gerade Angelsachsen schon früh auch Probleme der Steuergerechtigkeit erörtert haben, hängt wohl mit ihrer Neigung zusammen, die realen Probleme der Menschen zu lösen, statt ohne Rücksicht darauf ins Blaue hinein zu philosophieren6 . Im Steuerrecht geht es nicht um transzendente Fragen wie: "Warum existiert überhaupt Materie und nicht vielmehr nichts? Warum existieren Tiere und Menschen und welchen Sinn hat das Leben?" Eine Steuergerechtigkeitstheorie kann bei folgenden Realien ansetzen: Auf der Erde leben viele Menschen. Um ein zivilisiertes Zusammenleben zu gewährleisten, haben die Menschen zu ihrem Schutz Staaten und Kommunen gegründet. Diese sind auf Steuern angewiesen. Die Gesamtsteuerlast muß gerecht auf die Schultern der Bürger verteilt werden. Den Ökonomen (Finanzwissenschaftlern) haben wir Juristen dafiir zu danken, daß sie in die Lücke gesprungen sind, die Philosophen und Juristen ihnen eröffnet haben, soweit es um Fragen der Steuergerechtigkeit geht, wenngleich sich verständlicherweise auch bei den Ökonomen verschiedene Denkschulen gebildet haben. Daß die Lösung von Steuergerechtigkeitsfragen indessen eher zum Aufgabenbereich der Juristen (der Rechtsphilosophie) als zu dem der Steuerökonomen gehört, scheint mir offensichtlich zu sein7 • 5 6

The University ofWisconsin Press, 1974.

In dem Buch über ,,Politische Gerechtigkeit" von HiJjJe (1987) fmdet sich über

"steuerpolitische Gerechtigkeit" nichts. - Rechts- und staatsphilosophische Arbeiten mit hochabstrakten Ausführungen leiden darunter, daß sie nicht an den Philosophien der Teilrechtsgebiete (die man nicht über- und durchblickt) bewährt werden. Eine Gesamtrechtsphilosophie muß aber aus den Teilrechtsphilosophien leben und an ihnen erprobt werden. 7 Dazu aus ökonomischer Sicht EIsehen, Steuerliche Gerechtigkeit - Unzulässiger und unzulänglicher Forschungsgegenstand der Steuerwissenschaften?, Steuer und Wirtschaft 1988, S. I tT.

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IV. Allgemeines fiber Steuergerechtigkeit Gerechtigkeit ist zugleich der fundamentalste und der abstrakteste Begriff des Rechts. Als höchst unbestimmter Wertungsbegriff lädt er in besonderem Maße dazu ein, mit leeren Redensarten und rhetorischem Blendwerk ausgeMIt zu werden. Will man in der Suche nach Gerechtigkeit weiterkommen, so muß man erkennen: (1) Gerechtigkeit verlangt nach Gleichbehandlung aller, die sich in der gleichen Situation befinden oder die sich in gleicher Weise verhalten. Die in der Gleichbehandlung sich ausdrückende Gerechtigkeit verlangt folglich Prinzipien (Regeln, MaßsttJbe), die diejenigen erfassen, die gleich situiert sind oder sich gleich verhalten. Gleichheit meint nicht totale Gleichheit oder Identität, sondern relative Gleichheit. Es ist also zu fragen, in bezug auf was muß die Situation von Bürgern oder ihr Verhalten gleich sein? Diese Frage beantwortet das zugrunde liegende Prinzip. Das Prinzip liefert den Vergleichsmaßstab, das tertium comparationis; es sorgt für einen einheitlichen Maßstab, verhindert das Messen mit mehrerlei Maß, verhindert prinzipienlose Willkür. (2) Das Prinzip muß sachgerecht sein. Sonst wird nur formale Gleichheit erreicht. Da es um Gleichheit als Ausfluß von Gerechtigkeit geht, kommt es aber auf materiale, das heißt auf inhaltlich sachgerechte Gleichbehandlung an. Daß unterschieden wird zwischen Strafgerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Subventionsgerechtigkeit, Lohngerechtigkeit, Preisgerechtigkeit, Wehrgerechtigkeit, etc., ist die Folge davon, daß Gerechtigkeit der jeweiligen Sache angemessen sein muß. Es ist also nicht für jeden Sachbereich das gleiche Prinzip sachgerecht. Zu dieser Erkenntnis wird jeder kommen, der nach einer Antwort auf die Frage sucht, nach welchem Prinzip oder Maßstab man die gerechte Strafe, die gerechte Steuerschuld, die gerechte Subvention, den gerechten Lohn, den gerechten Preis, die gerechte Heranziehung zum Wehrdienst bestimmen sollte. - Die Hierarchie des sachgerechten Fundamentalprinzips und der aus ihm abgeleiteten Subprinzipien bilden die Architektonik der Gerechtigkeit.

(3) Um es noch klarer auszudrücken: Wenn Gerechtigkeit nach Gleichbehandlung verlangt, muß das sachgerechte Prinzip grundstJtzlich konsequent auf alle angewendet werden, die sich in der gleichen Situation befinden oder sich gleich verhalten8 .

8 Dazu Singer, Generalization in Ethies. An Essay in the Logie of Ethies, with the Rudiments ofa System ofMoral Philosophy, New York 1971; Wimmer, Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer RationalitätsansprUehe, Frankfurt a.M. 1980.

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V. Was ergibt sich aus unseren rechtsstaatlichen Verfassungen, und halten ihre Prinzipien einer kritischen Überprüfung stand? Die spanische Verfassung von 1978 spricht in der Präambel ausdrücklich von dem Wunsche, "Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit" herzustellen. Sowohl die italienische als auch die spanische und die deutsche Verfassung bekennen sich zur verbindlichen Beachtung des Gleichheitsprinzips (als Ausfluß des Gerechtigkeitsprinzips)9 und des SozialstaatsprinzipsJO. Was im Ergebnis erreicht werden soll, ist also soziale Gerechtigkeit. Was das Steuerrecht betrifft, so gehen die italienische und die spanische Verfassung aber noch einen Schritt weiter. Sie benennen konkretisierend das für das Steuerrecht geltende Gerechtigkeitsprinzip. Wir können auch sagen: den Gerechtigkeitsmaßstab; zugleich damit auch das Prinzip, an dem Gleichheit gemessen werden soll, mit anderen Worten: den Vergleichsmaßstab. Nach Art. 53 der italienischen Verfassung ist ,jedennann verpflichtet, entsprechend seiner LeistungsflUligkeit zur Deckung der öffentlichen Ausgaben beizutragen. Das Steuersystem ist progressiv gestaltet." Art. 31 der spanischen Verfassung schreibt vor: ,,zur Deckung der öffentlichen Ausgaben, tragen alle gemäß ihrer wirtschaftlichen LeistungsflUligkeit und durch ein gerechtes und auf den Grundsätzen der Gleichheit und der Progression beruhendes Steuersystem bei." Beide Verfassungen binden das Steuerrecht also an Gerechtigkeitsmaßstäbe. Von ökonomischen Maßstäben ist keine Rede. Sieht man von der griechischen Verfassung von 1975 ab, so enthält keine Verfassung eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union solche die Steuergerechtigkeit konkretisierenden Vorschriften, auch das deutsche Grundgesetz nicht. Aber auch in Deutschland ist heute allgemein anerkannt, daß das LeistungsflUligkeitsprinzip das tragende Prinzip einer gerechten, gleichmäßigen Besteuerung ist. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt, insbesondere im Bereich der Einkommensteuer, auf das LeistungsflUligkeitsprinzip berufen. Daß es auch noch einige Gegner dieses Prinzips gibt, soll nicht verschwiegen werden. Sie nennen zwar kein anderes, sachgerechtes Prinzip, wollen dem Gesetzgeber aber freie Hand lassen, weil alle Gerechtigkeitsmaßstäbe auf bloß subjektivem Glauben und Meinen beruhten, auf Ideologie zumal, auf Bekenntnissen, nicht auf Erkenntnissen. Jedenfalls gelte das für das Steuerrecht. Wer die Gerechtigkeit in dieser Weise gänzlich relativiert, 9 Art. 3 italienische Verfassung; Art. 14 spanische Verfassung; Art. 3 deutsches Grundgesetz. 10 Art. 2, 3, 38 italienische Verfassung; Art. 1,40, 41, 50 spanische Verfassung; Art. 20 Abs. 1 deutsches Grundgesetz.

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nimmt auch dem Gleichheitssatz jede Wirkung. Da sich speziell mit dem Gleichheitssatz die Referate von Livio Paladin (S. 71 ff.) und Die/er Birk (S. 103 ff.) befassen, lasse ich es bei diesen Bemerkungen zum Gleichheitssatz bewenden 11. Gewiß stellen rechtsstaatliehe Verfassungen keine Denkverbote auf. Sie verbieten es nicht, darüber nachzudenken, ob das Leistungsflihigkeitsprinzip wirklich das beste Gerechtigkeitsprinzip ist. Aber jedes vertiefte Nachdenken bestätigt m.E. nur die "Richtigkeit" des Leistungsflihigkeitsprinzips. Daß auch ethische Prinzipien mit Sachargumenten begründet werden können, ist heute in der Ethiktheorie weithin anerkanntl2 • Für das Steuerrecht kämen außer dem Leistungsflihigkeitsprinzip nur das Kopfsteuerprinzip und das Äquivalenzprinzip in Betracht. Nur, anders als das Leistungsflihigkeitsprinzip, schützen das Kopfsteuerprinzip und das Äquivalenzprinzip nicht einmal das durch die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip geschützte Existenzminimum. Das Leistungsflihigkeitsprinzip ist denn auch in zahlreichen anderen Verfassungen verankert, so in den Verfassungen von Polen, Ungarn, Kroatien, Rußland, Türkei, Brasilien. Das Sozialstaatsprinzip läßt sich nur verwirklichen, wenn die Annen nicht besteuert werden und wenn die Reicheren stärker belastet werden als die Änneren. Die progressive Belastung entspricht dem Sozialstaatsprinzip, wird von ihm allerdings nicht zwingend gefordert, da auch eine mit der Höhe des Einkommens proportional wachsende Steuerlast bereits bewirkt, daß die Steuerlast mit der Höhe des Einkommens wächst, nur eben nicht progressiv. Die spanische Verfassung enthält in Art. 31 alle Stichworte, die man für ein sozial gerechtes Steuerrecht braucht: Gerechtigkeit, Gleichheit, Leistungsfähigkeitsprinzip, Progression. Nur ordnet es sie meines Erachtens nicht richtig, wenn sie zuerst das Leistungsflihigkeitsprinzip nennt, und dann - verbunden durch ein "und" - das Gerechtigkeitsprinzip gleichgeordnet neben das Leistungsflihigkeitsprinzip stellt, und wenn sie weiterhin Gerechtigkeit und Gleichheit durch ein "und" einander nebenordnet. Richtig ist meines Erachtens vielmehr, daß die Gleichbehandlung ein notwendiger Ausfluß der Gerechtigkeit ist und das Leistungsfähigkeitsprinzip der sachgerechte Gerechtigkeits- und Vergleichsmaßstab für die Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht. Die Anordnung der Progression enthält eine mögliche, wenn auch keine zwingende Deutung des Sozialstaatsprinzips.

11 Nachweise von Literatur und Rechtsprechung bei Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 1993, S. 470 t1 und Tipke!Lallg, Steuerrecht, 16. Aufl. 1998, § 4 Rn. 70 ff. 12 Dazu Sillger (Fn. 8)~ Wimmer (Fn. 8).

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VL Grundlegende Bemerkungen zum Leistungsf"ähigkeitsprinzip Das Leistungsfähigkeitsprinzip interessiert sich nicht dafiir, was der Staat für den einzelnen Bürger getan hat (das kann ohnehin kaum bewertet werden), sondern es fragt danach, was der einzelne Bürger finanziell für den Staat tun kann\3. Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt allerdings nicht, daß der Staat oder die Gemeinden den einzelnen leistungsfähigen Bürgern bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit beliebig viel wegnehmen dürften, daß jeder, der etwas hat, beliebig besteuert werden dürfte. Vielmehr sind nach diesem an den Gleichheitssatz angebundenen Prinzip alle, die gleich leistungsfähig sind, gleich hoch zu belasten. Und es sind alle, die verschieden leistungsfähig sind, entsprechend verschieden zu belasten. Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt auch, daß nicht mit Steuern belastet werden darf, wer über sein Existenzminimum hinaus nicht leistungsfähig ist. Das entspricht dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip. Die Realisten behelfen sich mit realen Erkenntnissen wie: "Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren" oder "Man kann einem Nackten kein Hemd ausziehen" ("You can't take a shirt off a naked man"). Über die Belastungsgrenze nach oben läßt sich dem Leistungsfähigkeitsprinzip m.E. nichts entnehmen, wohl aber dem Freiheitsprinzip (s. S. 9 u. f). Das Leistungsfähigkeitsprinzip bezieht sich auf das Steuerrecht in toto. An ihm müssen alle Fiskalzwecksteuern gemessen werden. Die Gesamtbelastung muß gleichmäßiger Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen. Begünstigt durch die Vielzahl der Steuern und die nur mit einzelnen Steuern befaßten Spezialisten ist die folgende Erkenntnis wohl weitgehend verloren gegangen: Jede Steuer, ganz gleich, welchen Namen man ihr bei ihrer Entstehung gegeben hat und wie man das Steuerobjekt benannt hat, kann nur aus dem Einkommen oder aus dem als Vermögen gespeicherten Einkommen gezahlt werden14 • Wenn aber das so ist, dann verlangt die Steuergerechtigkeit eine Antwort auf die Frage: Welchen Anteil ihres Einkommens sollen die Bürger als Steuer abführen? Oder anders ausgedrückt: Nach welchem Prinzip oder Maßstab 13 Zwn Leistungsfiihigkeitsprinzip ausf\l.hrlich Moscheni, La capacitä contributiva, Padova 1993; ders. in diesem Band S. 33 fT.; De Mita, Capacitä contributiva, in Rassegna Tributaria 1987, S. 56 pp.; Birk, Das Leistungsfiihigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Köln 1983; Herrera Molina, Capacidad econ6mica y sistema fisca1, 1998; TipkelLang, Steuerrecht, 16. Aufl. 1998, § 4 Rn. 74 tT.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 1993, S. 469 tT. jeweils mit weiteren Nachweisen von Literatur und Rechtsprechung. 14 Schon Adam Smith hatte beobachtet, "that all taxes come out of income as 1evies either on rent, on wages or profits, or on all sources of indiscriminate1y poIl taxes and conswnption taxes" (Wea1th ofNations, book 5, chapt. 2 pt. 2).

2 Tipkc/Bozza

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sollen die Einkommen der Bürger mit Steuer belastet werden. Dabei kommt es auf die Gesamtsteuerlast an. Verfehlt ist es danach, rur jede der 30, 40 oder 50 real existierenden Steuern nach einer besonderen Steuerquelle zu suchen und die Steuerquelle als Steuerrechtfertigungsgrund auszugeben. Es gibt nur eine Steuerquelle: das Einkommen (das als Vennögen gespeicherte Einkommen eingeschlossen). Das ist die tatsächliche Grundwahrheit, an die eine gerechte Besteuerung anknüpfen muß. Die beliebige Anknüpfung des Steuerrechts an einzelne Einkunftsarten, Vennögensarten, Arten von Leistungen, Arten von Rechtsgeschäften und Urkunden, an einzelne Güterarten läuft nur auf ein Messen mit verschiedenen Maßstäben hinaus. Es muß aber - konsequent - mit einem Maß gemessen werden. Das hat schon Adam Smith getan, der lehrte: " ... the subjects of every state ought to contribute to the support of the govemment as nearly as possible in proportion to their respective abilities, that is in proportion to the revenues"IS. Das Messen an der Leistungsfähigkeit ist ein großer Fortschritt gegenüber folgenden Begründungen: - die Steuer habe ein ehrwürdiges Alter; sie existiere schon seit einigen hundert Jahren ("Alte Steuer, gute Steuer"); - die Steuer bringe einen hohen Ertrag; auf sie könne daher wegen der schlechten Situation des Staatshaushaltes oder der Gemeindehaushalte nicht verzichtet werden; - die Steuer belaste die Bürger nur mäßig oder nur unmerklich; sie verwirkliche den international anerkannten Besteuerungsgrundsatz, daß man "die Gans so rupfen soll, daß sie möglichst wenig schreit" ("most feathers for least squawking"; "il faut plumer la volaille sans trop la faire crier"); - die Steuer sei aus wirtschaftlichen Gründen vorteilhaft; - die Steuer sei von der Mehrheit der Abgeordneten gewollt. Mehrheit scham durchaus nicht immer Gerechtigkeit. Das sind zwar Begründungen, aber keine Rechtfertigungen. Auch tradiertes Recht kann ungerecht sein. Unkritischer Historismus ist jedenfalls im Steuerrecht nicht angebracht. Der Haushalt läßt sich auch mit gerechten Steuern ausgleichen, indem man den Steuersatz oder Tarif erhöht; ungerechte Bemessungsgrundlagen können nicht mit Haushaltsbedürfnissen gerechtfertigt werden. Das Steuerrecht muß allerdings in der Tat Rücksicht nehmen auf seine gleichmäßige Durchfiihrbarkeit der Steuerrechtsvorschriften, sonst steht die Steuergerechtigkeit auf dem Papier. Über die Berufung auf die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit s. unten S. 30. IS Smith, Wealth ofNations, book 5, chapt. 2, pt. 2.

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Die Steuergesetze werden Jahr für Jahr immer wieder geändert. Die Gerechtigkeit ist aber etwas Dauerhaftes. Es kann nicht in jedem Jahr etwas anderes gerecht sein. Aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip kann nicht in jedem Jahr etwas anderes abgeleitet werden. Steuerlich leistungsfähig sein können sowohl BfJrger (natürliche Personen) als auch Unternehmen. Aus der Rechtsform eines Unternehmers läßt sich nicht auf seine Leistungsfähigkeit schliessen. Steuergerechtigkeit meint grundsätzlich individuelle Gerechtigkeit. Dementsprechend kommt es im Rahmen des Praktikablen auf die individuelle Leistungsfähigkeit an, nicht auf die Leistungsfähigkeit einer Berufs- oder Sozialgruppe. Es kommt auf die Leistungsfähigkeit des Steuerschuldners an, nicht auf die des Entrichtungspflichtigen oder des Haftenden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist ein Ist-Prinzip, kein Soll-Prinzip. Es ist kein Prinzip der Vermutungen und Fiktionen. Folglich ist die Leistungsfähigkeit von natürlichen Personen am Ist-Einkommen, nicht am Soll-Einkommen zu messen, die Leistungsfähigkeit von Unternehmen am Ist-Gewinn, nicht am Soll-Gewinn. Wenn Unternehmer, Arbeitnehmer, Vermieter, Bezieher von Kapitaleinkünften oder Rentner gleichermaßen ein Einkommen von 50.000 Mark beziehen, dann werden sie dadurch gleich leistungsfähig. Eine unter-

schiedliche Behandlung der Einkunftsarten ist unter dem Aspekt der Leistungsftihigkeit nicht zultissig. Nur, wenn man übergeordnete Gerechtigkeitsgesichtspunkte einbringt (wie es Art. 31 der spanischen Verfassung wohl zuläßt), könnte man m ..E. auch fragen, ob jemand faul oder fleißig war, könnte man etwa berücksichtigen, in welcher Zeit (Länge der Arbeitszeit) und zu welcher Zeit (Tag- oder Nachtzeit) das Einkommen erarbeitet worden ist und wie hoch das sogenannte Arbeitsleid war. Nur sind solche Faktoren schwer meßbar und ist ihre Berücksichtigung nicht praktikabel.

Ethisch fundieren ließe es sich m.E. auch, wenn Einkünfte aus Finanzvermögen, zumal Spekulationseinkünfte, höher belastet werden als Einkünfte aus selbständiger oder unselbständiger Arbeit. Das höhere Ethos der Arbeit kommt z.B. darin zum Ausdruck, daß Art. 1 der italienischen Verfassung postuliert: "Italien ist eine ... auf die Arbeit gegründete Republik", auch dadurch, daß die spanische (Art. 35) und die portugiesische (Art. 58) eine Pflicht zu arbeiten begründen und das Verbot der Zwangsarbeit nicht als Recht auf Faulheit mißverstehen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist ein wirtschaftliches Prinzip. Es klammert Scheineinkommen (Inflationsgewinne) aus. Die gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird grundsätzlich verletzt, wenn neben allgemeinen Steuern (wie Einkommensteuer, Umsatzsteuer) besondere Steuern auf einzelne Einkünfte, Vermögensteile, Leistungen oder Aufwendungen erhoben werden. 2·

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VII. Über den Rang der Steuergerechtigkeit und über Gerechtigkeitskonkurrenzen In einem Rechtsstaat, der sich als Gerechtigkeitsstaat verstehen muß, hat die Gerechtigkeit, nicht zuletzt auch die Steuergerechtigkeit, einen hohen Rang. (1) Das Leistungsfähigkeitsprinzip gilt nicht absolut und pur. Die am Leistungsfähigkeitsprinzip zu messende Steuergerechtigkeit kann in Konflikt geraten mit den Gerechtigkeitsprinzipien anderer Rechtsgebiete. Zur Lösung des Konflikts kann es nötig sein, das Leistungsfähigkeitsprinzip zu durchbrechen. In Deutschland ist es nicht zulässig, Geldstrafen als Betriebsausgaben oder Berufsausgaben von der Einkommensteuer-Bemessungsgrundlage abzuziehen, auch wenn ein Zusammenhang der Ausgabe mit dem Betrieb oder Beruf besteht. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird also durchbrochen. Der Grund: Das Steuerrecht soll dem Strafrecht nicht in den Rücken fallen: Wenn der Strafrichter eine Geldstrafe von z.B. 50.000 Mark fiir gerecht hält, soll der Straftäter diese Belastung nicht dadurch mildem können, daß er sie von der Einkommensteuer-Bemessungsgrundlage abzieht. Die Strafgerechtigkeit verdrängt die am Leistungsfähigkeitsprinzip gemessene Steuergerechtigkeit. Wird ein Steuerpflichtiger wegen Bestechung bestraft, so kann er in Deutschland auch das Bestechungsgeld nicht abziehen. Die Korruption ist ein unmoralisches Verhalten. Sie verletzt die Regeln fairen Wettbewerbs und untergräbt dadurch die Wirtschaftsethik. Die Bekämpfung solchen Verhaltens auch mit Hilfe des Steuerrechts ist aus ethischen Gründen in Anbetracht der sich ausbreitenden Korruption erforderlich. Sie dient dem Gemeinwohl l6 . Die Durchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips ist gerechtfertigt. Zu Einzelheiten kann auf den Vortrag von Gloria Alarcon und von Gianfranco Gaffuri verwiesen werden. Da Art. 53 der italienischen Verfassung keinerlei Einschränkungen des Leistungsfähigkeitsprinzips vorsieht oder zuläßt, wird es interessant sein, vom Kollegen Gianfranco Gaffuri in seinem Vortrag zu erfahren, wie in Italien Durchbrechungen des Leistungsfähigkeitsprinzips gerechtfertigt werden. (2) Das Geschenkte oder Geerbte ist wirtschaftlich Einkommen. Jedoch macht das Erbschaftsteuergesetz die Höhe der Steuer auch von der verwandtschaftlichen Nähe abhängig. Das gilt fiir Italien und Spanien ebenso wie für Deutschland. Wenn z.B. der Sohn und ein Freund des Erblassers beide die Hälfte erben, ihre Bereicherung und damit ihre Leistungsfähigkeit sich also um den gleichen Wert vermehrt, zahlt doch der Sohn erheblich weniger Erbschaftsteuer als der Freund. Das Familienprinzip rangiert also vor dem Leistungsfähigkeitsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip. Der Vater, so sagt man 16

Dazu TipkelLang, Steuerrecht, 16. Aufl., § 9 Rz. 278.

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sich, hat eben nicht nur fiir sich gesorgt, er hat auch fiir den Sohn vorgesorgt. Das wird respektiert. Bevor der Sohn evtl. dem Sozialstaat, das heißt: der Allgemeinheit der Steuerzahler, zur Last fällt, soll er sich wesentlich aus dem versorgen dürfen, was der Vater ihm hinterlassen hat. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht absolut gilt, sondern auch durch Rechtsprinzipien anderer Rechtsgebiete verdrängt werden kann. Das heißt aber nicht, daß bei einern Konflikt mit ethischen Prinzipien anderer Teile der Rechtsordnung das Leistungsfähigkeitsprinzip stets weichen müßte. Maßgeblich ist, was eine Werteabwägung im Einzelfall ergibt.

vm. Durchbrechungen des Leistungsflihigkeitsprinzips aus wirtschaftspolitischen und anderen politischen Gründen

Ein wesentliches Steuergerechtigkeitsproblem entsteht daraus, daß Steuern nicht nur dazu dienen sollen, die öffentlichen Kassen zu füllen, daß etliche Steuern und zahlreiche in Steuergesetze eingebettete einzelne Vorschriften primär Lenkungszwecken dienen. Für Lenkungssteuern ist das Leistungsfähigkeitsprinzip durchweg nicht sachangemessen. Die Tabaksteuer und die Alkoholsteuer werden denn auch nach dem Wert des Konsums bemessen. Es wäre rur die deutsche Seite eine Bereicherung, wenn sie in der Diskussion erfahren könnte, wie man in Italien und in Spanien in Anbetracht der Art. 53 der italienischen und Art. 31 der spanischen Verfassung mit dem Problem fertig wird. Dadurch, daß man etwas fiir Tabakwaren, fiir Zündhölzer (Italien), rur Alkohol, fiir einen Hund (Italien) oder fiir Plastikbeutel (Italien) ausgibt, demonstriert man doch keine besondere, nicht bereits durch die Umsatzsteuer erfaßte Leistungsfähigkeit. Vor allem in das Einkommensteuerrecht sind zahlreiche Sondervorschriften aufgenommen worden. Sie sorgen dafiir, daß Steuerpflichtige z.B. aus wirtschaftspolitischen, sozialpolitischen, wohnungspolitischen, verkehrspolitischen, umweltpolitischen, kulturpolitischen oder steuertechnischen Gründen eine niedrigere oder in Ausnahmefällen auch höhere Steuer zahlen müssen. Das ist wiederum ein Eingriff in die pure Steuergerechtigkeit, wie sie sich im Leistungsfähigkeitsprinzip verkörpert. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat den Gleichheitssatz bisher - im Anschluß an Gerhard Leibholz17 - durchweg als bloßes Willkürverbot verstanden. Immer dann, wenn irgendein sachlicher Grund fiir die Abweichung vorn

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Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1925 und 2. Aufl. 1959.

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Vergleichsmaßstab "Leistungsfähigkeitsprinzip" angerührt werden kann, wird eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneint oder fiir gerechtfertigt erklärt l8 . Mit Rücksicht auf die Referate von Livio Paladin und Dieter Birk zum Gleichheitssatz beschränke ich mich auf folgende Bemerkungen: Wenn jedes nicht offensichtlich neben der Sache liegende Argument eine Durchbrechung des Gleichheitssatzes rechtfertigt, wird der Gleichheitssatz und damit die Steuergerechtigkeit erheblich entwertet. Stephan Huster hat sich in einer jüngeren Arbeit fiir eine "Güterabwägung" ausgesprochen. Das durch den Gleichheitssatz geschützte Rechtsgut und diejenigen Güter, um derentwillen der Gesetzgeber den Gleichheitsmaßstab des Gleichheitssatzes durchbricht, sollen gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Das erscheint sinnvoll; die Schwierigkeit besteht aber darin, daß offenbar noch kein befriedigender Maßstab fiir die Abwägung gefunden worden ist. Dieter Birk und Joachim Lang verlangen, daß die Durchbrechung des Leistungsflthigkeitsprinzips dem Gemeinwohl dienen müsse, nicht bloß den Interessen Einzelner oder einzelner Gruppen l9 • Man sollte wohl noch weiter gehen und verlangen, die Durchbrechung des Gleichheitssatzes und damit der Steuergerechtigkeit aus lenkungspolitischen Gründen müsse dazu führen, daß die große Mehrheit, wenn infolge der Lenkung nicht alle mehr oder weniger besser dastehen (direkt oder indirekt), besser dastehen muß, als sie ohne die Durchbrechung dagestanden hätten. Solche abstrakten Fonneln müssen allerdings an den realen Konfliktlagen erprobt und bewährt werden. Jedenfalls darf die Steuergerechtigkeit in einem Rechtsstaat nichts Nachrangiges sein. Es darf nicht jeder banale Grund ausreichen, die Gerechtigkeit vom Sockel zu stoßen. In der deutschen Steuerrechtswissenschaft hat sich im übrigen weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß von Steuervergünstigungen nicht diejenigen Steuerzahler den größten Vorteil haben dürfen, die der Vergünstigung am wenigsten bedürfen. Dieser Effekt tritt infolge des progressiven Tarifs aber ein, wenn die Vergünstigung in einer Schmälerung der Bemessungsgrundlage besteht2o .

18 Amtliche SanunlWlg der EntscheidWlgen des BWldesverfasSWlgsgerichts Bände I, 14,52; 13,203; 49,360; 50, 392; 65, 354; 74, 200; 84, 271. 19 Birk, Das Leistungsfllhigkeitsprinzip (Fußn. 11), S. 232 ff.; TipkelLang, Steuerrecht, 16. Auf}. 1998, § 4, Rz. 126. 20 TipkelLang, Steuerrecht, 16. Auf}. 1998, § 20, Rn. 28,43 mit Nachweisen.

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IX. Steuergerechtigkeit und Einkommen (Gewinn) als Bemessungsgrundlage Wenn es darum geht, zu bestimmen, welchen Teil ihres Einkommens die Bürger als Steuer abfUhren sollten, dann müssen die Steuern auf der Bemessungsgrundlage ..Einkommen" (genauer: ..für die Steuerzahlung disponibles Einkommen") basieren. Unter dem Aspekt der Steuergerechtigkeit kommt es nicht auf die Steuerobjekte der einzelnen Steuern an - sie betreffen nur die Tatbestandstechnik - sondern auf die Bemessungsgrundlagen. Es erscheint mir daher angezeigt, etwas über die Einkommensteuer im engeren Sinne hinauszugreifen. Zur Einkommensteuer selbst kann ich mich wegen des Referats von Joachim Lang zur Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer und auch der weiteren Referate zur Einkommensteuer-Bemessungsgrundlage kurz fassen! Das geltende Einkommensteuerrecht von Italien, Spanien und Deutschland knüpft im Grundsatz an das für die Steuerzahlung disponible Einkommen an. Joachim Lang und andere namhafte Steuerwissenschaftler (durchweg Ökonomen) sympathisieren freilich mit dem Konsumeinkommen als Bemessungsgrundlage21 . Ich meine, daß auch das Einkommen, das nicht konsumiert, sondern als Vermögen angelegt wird, leistungsfähig macht, und damit für die Steuerzahlung disponibel ist. Schon Thomas Hobbes allerdings bevorzugte die Belastung des Konsums mit den Worten: ..The equality of imposition consisteth rather in the quality of that which is consumed, than of the riches of the persons that consume the same. For what reason is there, that he which laboureth much, and sparing the fruits of his labour, consumeth little, shall be more charged, than he who liveth idly, getteth little, and spendeth all he gets; seeing that one hath no more protection from the Commonwealth than the other?,,22 Wer, wie wohl zahlreiche Anwesende, viel arbeitet, wenig verbraucht und viel spart, mag durchaus mit Hobbes sympathisieren. Nur wird es wohl nicht gelingen, Faule durch Steuerbelastung (die sie nicht tragen können) an die Arbeit zu bringen. Und das Leistungsfähigkeitsprinzip fragt nicht nach dem Ausmaß des Schutzes durch den Staat. Eine Einschränkung des Leistungsfähigkeitsprinzips wäre aber dann gerechtfertigt, wenn die Konsum-Einkommensteuer dazu fUhren würde, daß alle Bürger danach wirtschaftlich besser dastehen, als bei einem Festhalten an der herkömmlichen Bemessungsgrundlage.

21 Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Autl. 1998, § 4 Rz. 96 ff., llO ff. 22 Hobbes, Leviathan, 3. Ed., London 1887, S. 158.

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Die Erbschaft- und Schenkungsteuer knüpft daran an, daß sich durch das Geerbte oder Geschenkte die Leistungsfähigkeit des Erben oder des Beschenkten erhöht. Bei Schenkungen darf nur der Beschenkte besteuert werden (so zutreffend in Spanien), nicht auch der Schenker, dessen Leistungsfähigkeit abnimmt (so aber in Italien und Deutschland). Da auch die Verm6gensteuer eine aus dem Einkommen aufzubringende Steuer ist, ist es angezeigt zu ergänzen: Eine Verm6gensteuer wird in Italienebenso wie in Großbritannien, Irland, Belgien, Griechenland, Portugal, Österreich und neuerdings auch in Deutschland - nicht erhoben. In Spanien wird ebenso wie in Dänemark und den Niederlanden - eine Vermögensteuer von natürlichen Personen erhoben. Das gespeicherte Einkommen (= Vermögen) ist aber bereits im Jahr seiner Entstehung mit Einkommensteuer belastet worden. Da die Vermögensteuer nicht die Substanz des Vermögens tangieren soll, muß auch die Vermögensteuer aus dem Einkommen bezahlt werden. Warum soll aber jemand deshalb jährlich einen höheren Teil seines Einkommens als Steuer abführen, weil er einen Teil seines Einkommens gespart statt konsumiert hat. Die Vermögensteuer wäre, gestützt auf das Sozialstaatsprinzip, nur zu rechtfertigen, wenn sie große Vermögen erfassen würde, die i.d.R. unmöglich durch Arbeit zustande gekommen sein können. Eine solche Steuer wäre eine soziale Umverteilungssteuer. Bisher war von der Besteuerung der Einkommen der Unternehmen keine Rede. Geht man davon aus, daß es legitim ist, auch Unternehmen zu besteuern, weil auch ihnen zu finanzierende Staats- und Kommunalleistungen zugute kommen, so ist die Frage aufgeworfen, nach welchem Maßstab sie sachgerecht besteuert werden sollten. Auch Unternehmen sind - das ist evident steuerlich leistungsfahig oder belastungsfahig. Ein Unternehmen kann Steuern nur aus dem Gewinn (oder aus dem als Unternehmensvermögen gespeicherten Gewinn) aufbringen. Die Unternehmensteuer sollte daher nach dem Gewinn bemessen werden. An keinem anderen Faktor läßt sich die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens zutreffender messen als am Gewinn. Es reicht aus, wenn alle Unternehmen, ohne Rücksicht auf die Rechtsform, mit einer, nicht mit einer Mehrzahl von Unternehmensteuern belastet werden. Diese Unternehmensteuer würde von den Unternehmen - wie alle anderen Kosten auch - in den Preisen möglichst überwälzt werden. Eine Anrechnung der Unternehmensteuer auf die Einkommensteuer der Unternehmer halte ich nicht fiir zwingend. Allerdings sollte die Einkommensteuer bei den Unternehmern nur erfassen, was von den Unternehmern entnommen oder was an Teilhaber von Kapitalgesellschaften ausgeschüttet wird. Aus Gründen der Gleichbehandlung müßte dann allerdings auch Nichtunternehmern, insbesondere auch Arbeitnehmern, gestattet werden, das wirtschaftlich investierte Einkommen von der Bemessungsgrundlage abzuziehen.

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Wenn man klar zwischen Unternehmensteuer und Besteuerung natürlicher Personen trennt, sind Unternehmensteuern und Personensteuern nicht gleichartig. Die beiden Arten von Steuern können dann unbedenklich mit unterschiedlichen Steuersätzen (Steuertarifen) arbeiten. Die emotionale Reaktion auf niedrige Unternehmensteuern würde abnehmen, wenn man das Unternehmen als eine objektiv gemeinnützige Einrichtung verstehen würde.

X. Steuergerecbtigkeit und internationales Steuerrecbt Ist das Einkommen (für Unternehmer der Gewinn) der optimale Maßstab steuerlicher Leistungsfähigkeit, so ergibt sich die Gesamtleistungsfähigkeit aus dem Welteinkommen. Wenn mehrere Staaten, insbesondere der Wohnsitzstaat und der Quellenstaat, das Welteinkommen ganz oder zum Teil belasten, so ergibt sich eine nachteilige Belastung im Vergleich zu den Steuerpflichtigen, die nur Inlandseinkommen haben, vielleicht sogar eine Belastung über die Leistungsfähigkeit hinaus. Doppel- oder Mehrfachbelastung ist keine gerechte, gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Das Leistungsfähigkeitsprinzip sagt nichts darüber aus, welcher Staat an der Leistungsfähigkeit eines Steuerpflichtigen partizipieren darf. Diese Frage nach der Aufteilungsgerechtigkeit, die eine zwischenstaatliche Gerechtigkeit (internation equity) ist, geht der Prüfung der Leistungsfähigkeit voraus. Das Welteinkommensprinzip kann daher nicht mit dem Leistungsfahigkeitsprinzip begründet werden. Wenn gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit erreicht werden soll, müssen sich die betroffenen Staaten die Bemessungsgrundlage "Einkommen" teilen, damit Doppel- oder Mehrfachbelastungen desselben Einkommens vermieden werden. Die schwierige Frage ist: nach welchem Maßstab? Sieht man die Steuer aller Bürger als Äquivalent für die Gesamtheit der Staatsleistungen zugunsten der Bürger an, so ergibt sich: Ein Staat darf nur von solchen Bürgern eine Steuer verlangen, die einen Nutzen durch Staatsleistungen haben. Die Staatsleistungen zum Nutzen der Bürger müßten danach der sachgerechte Aufteilungs- oder Verteilungsmaßstab sein. Es ist das Prinzip gleichmäßiger Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, das eine Aufteilung des belastbaren Welteinkommens verlangt. Aber der Aufteilungsmaßstab ist nicht das Leistungsfahigkeitsprinzip, sondern die Gewährung des Staatsnutzens. Das allerdings ist ein schwer bestimmbarer Maßstab. Auch wenn man von der Nutzenäquivalenz (nicht von der Kostenäquivalenz) ausgeht, ist immer noch zu fragen: an welchen Nutzen ist gedacht?

- An den Gesamtnutzen, den der Staat gewährt, insbesondere durch die

Schaffung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, durch die Sicherung der Eigentums- und Wirtschaftsordnung, durch das Bemühen um in-

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nere und äußere Sicherheit für seine Bürger, durch den Bau von Straßen, Krankenhäusern, etc., durch die Gewährung von Umweltschutz zum Nutzen aller Einzelnen usw.? - Oder nur an den Nutzen, der in dem Kausalbeitrag des Staates zur Erzielung von Einkommen besteht?23 Eigentlich müßte es auf den Gesamtnutzen ankommen; praktikabler ist aber die Anknüpfung an den Kausalbeitrag zur Einkommensproduktion. Im allgemeinen wird es wohl so sein, daß der Wohnsitzstaat den größeren Gesamtnutzen schafft, während der vorn Quellenstaat geschaffene Nutzen sich weitgehend im Kausalbeitrag zur Produktion von Einkommen erschöpft. Wenn A in seinem Wohnsitzstaat kein Einkommen erzielt, im Nachbarstaat aber ein Einkommen von DM 200.000, stellt der Wohnsitzstaat wahrscheinlich den größeren Gesamtnutzen bereit; einen Kausalbeitrag zur Einkommensentstehung hat aber nur der Nachbarstaat oder dessen Wirtschaft geliefert. Hier mag man dem Wohnsitzstaat auch einen Steueranteil auf das Welteinkommen von A zusprechen wollen. Praktikabler ist es allerdings, nur nach dem Kausalbeitrag für die Einkommensentstehung zu fragen. Das bedeutet: Das Welteinkommen wäre in Inlands- und Auslandseinkommen aufzuteilen. Dementsprechend ergäbe sich eine inländische und eine ausländische Leistungsfllhigkeit. Die Aufteilungs- oder Verteilungsgerechtigkeit läßt auch dem Steuerpflichtigen Gerechtigkeit widerfahren. Das objektive Nettoprinzip muß auch auf das Inlandseinkommen von Steuerausländern, soweit es praktikabel ist, Anwendung finden. Das subjektive Nettoprinzip darf nicht in mehreren Staaten in der Weise realisiert werden, daß es zu Doppel- oder Mehrfachbelastung kommt. Hat ein Bürger in seinem Wohnsitzstaat kein Einkommen, im Nachbarstaat aber ein Einkommen von z.B. 200.000 Mark, so ist es ungerecht, das subjektive Nettoprinzip nirgends zu realisieren, mit anderen Worten: auch indisponibles Einkommen zu belasten24 . Entsprechend dieser Grundauffassung müssen die einzelnen in praxi angewendeten Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung darauf untersucht werden, ob sie zu Aufteilungsgerechtigkeit fiihren 2S . Auf Abkommen zur Vermeidung der Doppelbelastung ließe sich verzichten, wenn es gelänge, das Welteinkommen unmittelbar sachgerecht zwischen den beteiligten Staaten 23 Vogel, Festschrift filr Franz Klein, Köln 1994, s. 376, spricht von dem Äquivalent filr den Staatsbeitrag ,,zur Erzeugung des Einkommens"; s. aber auch a.a.O. S. 373, wo vom Äquivalent "filr die Gesamtheit der staatlichen Leistungen" die Rede ist. 24 Ausfilhrlich über die EG-vertragliche Diskrirninierungsproblematik und beschränkte Einkommensteuerpflicht Arndt, StuW 1990, 364 ff.; Morgenthaler, IStR 1993, 258 tT.; SchiJn, IStR 1995, 119 ff; Sass, FR 1998, I ff.; Ladicke, IStR 1999, 193 ff.; s. auch Birk in diesem Band S. 103 ff. 2S ZU dieser Problematik ausfilhrlich Vogel (Fn. 23), S. 361 ff.

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aufzuteilen. Das würde aber eine weltweite Einigung über den sachgerechten Maßstab voraussetzen26 . Sie ist nicht einmal im Bereich der Europäischen Union in Sicht. XL Gerechte Besteuerung verlangt gleichmäßige Anwendung des Rechts Ein gerechtes, dem Gleichheitssatz verpflichtetes Steuerrecht verlangt aber nicht nur gerechtes materiales Recht, sondern auch die gleichmäßige Anwendung dieses Rechts durch die Behörden. Läßt das formelle Recht die gleichmäßige Anwendung des materiellen Rechts nicht zu, so schlägt die Verfassungswidrigkeit auf das materielle Recht durch. Nur gleichmäßig anwendbares materielles Recht genügt dem Gleichheitssatz; der Gleichheitssatz verlangt gleichmäßige Belastuni7 • Diese Aufgabe ist besonders im Einkommensteuerrecht schwer zu erfüllen. In deutschen Blättern kann man oft genug lesen, daß die Steuergesetze in den südeuropäischen Ländern wie Griechenland, Italien, Spanien aber auch in Frankreich nur allzu lasch durchgesetzt werden. Mag das nun übertrieben sein oder nicht: Auch das deutsche Einkommensteuergesetz wird alles andere als perfekt durchgefUhrt. Die Gründe sind zum Teil im Personalmangel zu suchen, zum Teil auch in den Verfahrensgesetzen. Besteuert werden nur solche Bürger, die von den Finanzbehörden erfaßt sind; es sind aber nicht alle Steuerpflichtigen erfaßt, zumal nicht alle Ausländer. Die effizienteste Durchsetzungsmethode wird an den Arbeitnehmern vollzogen. Die Lohnsteuer wird an der Quelle von den Arbeitgebern einbehalten. Aber die Steuer auf Kapitaleinkünfte wird nur zum Teil an der Quelle einbehalten. Die Banken brauchen nur in Strafsachen bei der Sachaufklärung mitzuwirken. Die Altersrenten aus der Sozialversicherung werden gar nicht kontrolliert. Kleinere und kleine Landwirte sind nicht verpflichtet, Bücher zu führen; die für sie zugelassene Gewinnermittlung fUhrt dazu, daß der Gewinn nur zum Teil erfaßt wird. Unternehmen unterliegen grundsätzlich einer im Betrieb abgehaltenen "Außenprüfung". Jedoch werden nur Großbetriebe zeitlich lükkenlos überprüft. Ob bei Mittel- und Kleinbetrieben eine Außenprüfung stattfindet, entscheidet die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen. Das Ermessen wird in der Regel nicht nach dem Kontrollbedarf ausgeübt, sondern nach der Höhe der erwarteten Nachzahlung von Steuern. So kann es vorkommen, daß Kleinbetriebe nur in Abständen von ca. 30 oder gar 50 Jahren geprüft werden. 16 Wie schwierig eine sachgerechte Verteilung ist - theoretisch und praktisch zeigt eindrücklich die umfangreiche Arbeit von Nancy H. Kau/man, Fairness and the Taxation ofInternational Income, in: Law and Policy in International Business, Vol. 29 Nr. 2/1998, S. 145 ff. 27 So ausdrücklich das deutsche Bundesverfassungsgericht, Amtliche Sammlung der Entscheidungen dieses Gerichts Band 84, S. 239,268-273.

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Vennieter von Immobilien werden kaum kontrolliert. Das Kontrollmitteilungswesen ist in Deutschland nur dürftig ausgebaut. Viele Steuererklärungen werden von den überlasteten Finanzbehörden unkontrolliert akzeptiert. Die deutsche Steuerfahndung ist zwar eine sehr wirksame Institution, sie wird aber nur in gravierenden Fällen der Steuerhinterziehung eingesetzt. Die Pflicht, wahrheitsgemäße Steuererklärungen abzugeben, ist nicht nur eine Pflicht gegenüber dem Staat, sondern auch eine Pflicht gegenüber den anderen Steuerpflichtigen und Mitbürgern. Der Staat ist der Fonnalberechtigte der Steuer, der Treuhänder der Gesamtheit der Steuerpflichtigen. Daher ist es die Aufgabe der den Staat repräsentierenden Finanzbehörden, dafiir zu sorgen, daß jeder Steuerpflichtige seine Gegenseitigkeitspflicht erfiillt und keine Gelegenheit hat, sich als Trittbrettfahrer zum Nachteil der anderen Steuerpflichtigen zu gerieren. Die ehrlichen Steuerzahler können erwarten, daß auch alle anderen Steuerpflichtigen ihre Steuerpflicht erfiillen und dazu gezwungen werden, wenn sie es nicht freiwillig tun. Je mehr Steuerpflichtige den Eindruck gewinnen, daß andere auch nicht ehrlich sind, desto mehr werden sie sich auch selbst vor Steuerzahlung drücken. In Rußland scheint die Kontrolle zur Zeit so ineffizient zu sein, daß man wohl schon von einem Kollaps der Steuennoral sprechen kann. Von Rechtsstaatlichkeit und Steuergerechtigkeit kann schon wegen der gänzlich mangelhaften Durchsetzung der Gesetze keine Rede sein28 • Allerdings, wenn die materiellen Gesetze ungerecht sind, fuhrt die perfekte Durchsetzung solcher Gesetze auch nicht zu Steuergerechtigkeit, sondern zu perfekter Steuerungerechtigkeit.

xn. Über die Schwierigkeit, gerechte Steuergesetze zu implementieren Steuergesetze werden in Demokratien von den Parlamenten beschlossen. Die Parlamente eines Rechtsstaates sind aufgrund der Verfassung verpflichtet, gerechte, den Gleichheitssatz beachtende Steuern zu beschließen. Art. 38 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes schreibt dazu vor: "Die Abgeordneten ... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Dem Sinne nach ergibt sich das Gleiche aus Art. 67 der italienischen Verfassung und aus Art. 66, 67 der spanischen Verfassung. 28 Näher dazu Tipke, Gleichmäßigkeit der Steuerrechtsanwendung. Ein Postulat im Interesse der Solidargemeinschaft der Steuerzahler, in: Vage/gesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, Köln 1992, S. 95 ff; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, Köln 1999; Birk in diesem Band S. 103 ff.; s. auch Moschetti in diesem Band S. 33 ff.

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Nur, in der Realität sind die Parlamentarier von ihren Wählern und ihren Parteien abhängig, jedenfalls, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Die Wähler und Steuerzahler aber pflegen die Dinge ganz einfach zu sehen: Eine Steuer ist um so gerechter, je niedriger sie für den Steuerpflichtigen ist. Steuern, die andere bezahlen müssen, sind gerecht. Steuerreformmaßnahmen sind gerecht, soweit sie für den Steuerpflichtigen zu niedrigeren Steuern führen; sie sind ungerecht, soweit sie zu höheren Steuern führen. Auch die Medien fragen bei Steuerreformen oft nicht mehr als: Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer? Aber wenn Steuerprivilegien beseitigt werden, ist es nur gerecht, daß die bisher Privilegierten künftig mehr zahlen müssen. Die Interessen vieler Wählergruppen werden nicht nur von Parteien, sondern auch von speziellen Interessenverbänden vertreten. Allein aus Interessen erwächst aber meist keine Steuergerechtigkeit. Ebenso wie im Fußball haben viele Laien eine Meinung, aber keine Ahnung. Sie verfolgen allein das, was sie für ihr Interesse oder ihren Vorteil halten. Wer wollte es Politikern unter solchen Umständen verargen, daß sie mehr auf die Wählerstimmung, als auf Gerechtigkeitspostulate achten. Daher ist zur Durchsetzung der rechtsstaatlichen Komponente der Demokratie ein Verfassungsgericht nötig. Italien, Spanien und Deutschland verfügen glücklicherweise über eine solche Einrichtung. Das deutsche Verfassungsgericht allerdings hat sich in Steuersachen lange Zeit zurückgehalten, einen übertriebenen judicial self-restraint gepflegt. Das kann auch damit zusammenhängen, daß nicht alle Verfassungsrechtier zugleich Steuerphilosophen und Steuersachverständige sind. Inzwischen ist das Gericht aber zu einem judicial activism übergegangen. Diese Wende ist einerseits durch einen Zuwachs an Kompetenz, andererseits aber auch durch die Erkenntnis ausgelöst worden, daß die Gerechtigkeitsidee ohne kräftige Eingriffe des Verfassungsgerichts immer mehr aus dem Steuerrecht verschwindet29 . Auch Verfassungsgerichte sind allerdings auf Wissenschaftler angewiesen, die aus der Steuerrechtswissenschaft eine Gerechtigkeitswissenschaft machen30•

29 Dazu Vogel, Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, Deutsche Steuetjuristische Gesellschaft Band 12 (1989), S. 123 ff.; ders., JZ 1996, S. 166 ff.; Lang, Zur Rechtsreform des Steuerrechts, in: Festschrift ftJ.r Kriele, 1997 (unter IV); Steichen, Manuel de droit fiscal, Tome I, Luxembourg 1996, S. 100: ,,L 'Inegalite devant la creation des normes fiscales: le marchandage electoral". 30 Einschlägige Literatur mit weiteren Nachweisen: Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, Köln 1981; ders., Die Steuerrechtsordnung, Band 1-3, Köln 1993; Steichen, La justice dans l'impöt, These, Luxembourg 1994; ders. (Fn. 29), S. 92 ff; Vogel (Fn. 29), JZ 1993, 1121.

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XIII. Freiheit, Gleichheit, Solidarität - Prinzipien im Konflikt "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ("Liberte, Egalite, Fratemite") war die Lösung der französischen Revolution. Statt von Brüderlichkeit sprechen die Verfassungen der Gegenwart von Solidarität oder vom Sozialstaat. Die spanische Verfassung erwähnt in der Präambel den Wunsch des spanischen Volkes, einen Zustand der "Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit" herzustellen; Freiheit ist danach kein Gerechtigkeitselement, sondern ein der Gerechtigkeit nebengeordnetes Prinzip. Nebengeordnete Prinzipien, Prinzipien gleichen Ranges, können jedenfalls miteinander in Konflikt geraten, so auch die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Sozialstaatlichkeit. Zu widersprechen ist mit Birk (unten S. 103, 107) dem Versuch, an die Stelle gleichmäßiger Besteuerung entsprechend der Leistungsflthigkeit eine "Garantie gleicher Eigentumsfreiheit" zu setzen. Sowohl die italienische31 als auch die spanische32 und die deutsche33 Verfassung bekennen sich zum Freiheitsprinzip. Die italienische Verfassung deklariert in Art. 41 Abs. 1, 2 und Art. 42 Abs.2: ,,Die privatwirtschaftliehe Initiative ist frei. Sie darf nicht im Gegensatz zum Gemeinwohl oder in einer Weise ausgeübt werden, die der Sicherheit, der Freiheit und der Würde der Menschen schadet." ,,Das Privateigentum wird anerkannt und gewährleistet. "

In Art. 38 und 33 der spanischen Verfassung heißt es: ,,Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt. Die öffentliche Gewalt gewährleistet und schützt ihre Ausübung... " ,,Das Recht auf Privateigentwn wird anerkannt. "

Aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 der deutschen Verfassung werden die gleichen Regeln abgeleitet. Die Leistungsflthigkeit darf nicht völlig abgeschöpft werden. In Italien, Spanien und Deutschland ist anerkannt, daß die Besteuerung nicht konfiszierend wirken darf. Art. 31 Abs. 1 der spanischen Verfassung untersagt die Konfiskation durch Besteuerung ausdrücklich. Eine Konfiskation würde die Marktwirtschaft, das freie Unternehmertum, das Privateigentum aushöhlen, nach und nach beseitigen.

31 32

33

Art. 13, 16,41 italienische Verfassung. Art. 17-20,38 spanische Verfassung. Art. 2, ll, 13, 14 deutsche Verfassung.

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Es ist allerdings zu fragen, ob der Besteuerung nicht engere Grenzen gezogen sind als sie die Konfiskation darstellt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat das in einem Beschluß zur Verfassungsmäßigkeit der Vermögensteuer vom 22.6.1995 (Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Band 93, S. 121 ff.)34 bejaht. In den Gründen dieser Entscheidung wird ausgeführt, daß die Gesamtsteuerlast nicht mehr als 50% des Bruttoeinkommens betragen dürfe. Das wird aus dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 der Verfassung abgeleitet, in dem es heißt: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Abgesehen davon, daß Art. 14 der deutschen Verfassung wohl gar nicht die Besteuerung betrifft und die Auslegung ("zugleich" = zu gleichen Anteilen) anfechtbar ist: die Grenzen der Besteuerung sollten unter europäischer Perspektive festgelegt werden. In Art. 42 der italienischen Verfassung heißt es: "Das Privateigentum wird anerkannt und gewährleistet durch das Gesetz, welches die Art und Weise seines Erwerbs, seines Gebrauchs und seiner Grenzen bestimmt, um seine soziale Funktion zu sichern und es allen zugänglich zu machen." Und Art. 33 der spanischen Verfassung formuliert: "Das Recht auf Privateigentum und das Erbrecht werden anerkannt. Die soziale Funktion dieser Rechte begrenzt ihren Inhalt in Übereinstimmung mit den Gesetzen." - Nach meiner Information werden diese Verfassungsartikel nicht als Vorschrift angesehen, die auch die Besteuerung betreffen. Abgesehen davon kann man aus ihnen keine 500/0Grenze der Steuerbelastung des Einkommens ableiten. Die von der italienischen und spanischen Verfassung angeordnete Progression besteht in praxi bekanntlich darin, daß der Eingangssteuersatz weit unter 50% liegt, der höchste Steuersatz (Durchschnitssteuersatz) kann aber auch über 50% liegen. Das spanische Ley impuesto sobre Patrimonio schreibt vor, daß die Einkommenund Vermögensteuerbelastung 70% des zu versteuernden Einkommens nicht übersteigen darf. Art. 14 B des niederländischen Wet Vermogensbelasting sieht eine Höchstgrenze von 68% des belastbaren Nettoeinkommens vor. Berücksichtigt man auch alle anderen Steuern, so ergibt sich natürlich eine erheblich höhere Gesamtbelastung. Es ist offensichtlich, daß soziale Steuergerechtigkeit und Bürgerfreiheit (vor allem Wirtschaftsfreiheit und Freiheit, Eigentum anzuschaffen und zu halten) in Konflikt geraten können. Die soziale Steuergerechtigkeit muß ihre Grenze m.E. dort finden, wo sie von der Förderung des Gemeinwohls umschlägt in Gemeinschädlichkeit. Gemeinschädlich wirkt eine Besteuerung, wenn sie verursacht, daß alle Bürger danach wirtschaftlich schlechter stehen als sie bei einer maßvollen Besteuerung stehen würden. Ob dieser Effekt eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel: Nachlassen der Motivation, 34

Dazu auch Birk, unten S. 103 tT..

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Einkommen oder Gewinn zu erzielen. Ausweichen in Steuerumgehung (Steuerhinterziehung, Steuerflucht). Eine feste Höchstgrenze der Gesamtsteuerlast läßt sich daher schwer bestimmen, und ob diese Grenze erreicht ist, läßt sich schwer berechnen, zumal auch die überwälzten indirekten Steuern zu berücksichtigen sind35 • Welche Folgen Unterdrückung und Gleichmacherei haben können, hat der Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaften des ehemaligen Ostblocks bewiesen.

35

Für die 50'lIo-Grenze tritt auch Moschetti ein (s. unten S. 33, 68 f.).

Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit* Von Francesco Moschetti

L Steuerhannonisierung in Europa auf der Grundlage allgemein gültiger Gerechtigkeitskriterien Zu Recht stellt Klaus Tipke fest, daß das Steuerrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur hannonisiert. sondern zudem auch gerecht sein muß. Gerechtigkeit ist ein unabdingbares Grundbedürfnis des Menschen, so daß ein ungerechtes Steuerrechtssystem zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Problem soll hier jedoch nicht auf der rein theoretischen Ebene des Wunschdenkens untersucht werden, sondern unter Bezugnahme auf die konkreten Erfahrungen mit der italienischen Rechtsordnung. Bekanntlich hat sich der italienische Verfassungsgeber ausdrücklich mit der Steuergerechtigkeit beschäftigt und in der Verfassung vorgesehen, daß "alle auf der Grundlage ihrer Leistungsfahigkeit zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen müssen" (Art. 53 Abs. 1 Verfassung) und daß "das Steuerrechtssystem an den Kriterien der Progressivität orientiert werden muß" (Art. 53 Abs. 2 Verfassung)!. Demnach bildet also das Leistungsfähigkeitsprinzip das Fundamentalkriterium gerechter Besteuerung: Es ist Voraussetzung, Maßstab und äußerste Grenze der Besteuerung. An dieser Stelle soll nunmehr untersucht werden. ob dieses Kriterium gerechter Besteuerung, dieser Verfassungswert. mit der ihm von der Rechtsprechung und Literatur beigemessenen Bedeutung für eine europäische Steuerhannonisierung tauglich ist.

• ÜbersetzWlg Wld KommentiefWlg: Rechtsanwältin Nadya Bozza, wiss. Mitarbeiterin, Köln. ! Anmerkung Bozza: Im Gegensatz zur deutschen RechtsordnWlg ist in der italienischen das LeistWlgsfähigkeitsprinzip also in Art. 53 Abs. I der italienischen VerfasSWlg (Costituzione) verankert: "Tutti sono tenuti a concorrere alle spese pubbliche in ragione della loro capaeita contributiva." Dies bedeutet übersetzt: ,,Alle müssen auf der Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit zu den Gesamteinnalunen des Staates beitragen". Art. 53 Abs. 2 der VerfasSWlg lautet hingegen: ,JI sistema tributario e informato ai criteri di progressivita." Dies lautet übersetzt: ,,Das Abgabensystem ist an den Kriterien der Progressivität zu orientieren." 3 Tipke I Bozza

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TI. Art. 53 der italienischen Verfassung als Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung - Leistungsfihigkeit als "subjektive Eignung zum Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates", als Voraussetzung der Verpflichtung zur Solidarität und als Schranke für den gesetzgeberischen Gestaltungsfreiraum, die über das bloße Formalkriterium der Rationalität und Kohärenz hinausgeht Für ein korrektes Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips nach Art. 53 der italienischen Verfassung (Verf.) ist folgendes zu beachten: a) "Leistungsfähigkeit" bezieht sich auf die Person, die "zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen muß" und nicht rein objektiv auf einen Gegenstand; b) "Leistungsfähigkeit" meint die konkrete Leistungsftihigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen und nicht eine durchschnittliche Leistungsfähigkeit; c) "Leistungsfiihigkeit" ist die Voraussetzung fiir die Verpflichtung zu "politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Solidarittit' nach Art. 2 Verf.; d) Art. 53 Verf. steht in Wechselwirkung zu den anderen Verfassungswerten; e) das Leistungsfähigkeitsprinzip wurde in die Verfassung eingefügt, um den Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers zu beschrtinken. Meines Erachtens kann deshalb die steuerliche Leistungsfähigkeit als persönliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit2 definiert werden, die im Lichte der Verfassungswerte geeignet erscheint, die solidarische Verpflichtung zum Beitrag zu den staatlichen Gesamteinnahrnen zu erfüllenJ • Der Begriffsbe2 Anmerkung Bozza: Mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ist die effektive wirtschaftliche ,,Fähigkeit" des Steuerpflichtigen zur Entrichtung der Abgabe gemeint. Sie leitet sich aus Merkmalen ab, die konkret auf wirtschaftlichen Wohlstand hinweisen. 3 Anmerkung Bozza: Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist zwar wesentlicher Bestandteil der steuerlichen Leistungsfähigkeit, aber mit ihr nicht identisch: Nicht jeder Ausdruck von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bedeutet zugleich auch steuerliche Leistungsfähigkeit. Dies folgt aus dem Grundgedanken, daß steuerliche Leistungsfllhigkeit die Verftlgbarkeit von wirtschaftlichen Mitteln zum ,,Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" bedeutet, während wirtschaftliche Leistungsfähigkeit die Verfügbarkeit von wirtschaftlichen Mitteln schlechthin meint. Detjenige, der lediglich über Mittel zur Bestreitung seiner Existenz oder der Existenz seiner Familie disponiert, weist zwar wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf, nicht aber Leistungsfähigkeit i.S.d. Art. 53 Abs. I der italienischen Verfassung. Außer aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bestimmt sich die steuerliche Leistungsfähigkeit auch aus Wertungen: Nicht die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die über dem Existenzminimum liegt, stellt Leistungsfähigkeit i.S.d. Verfassung dar, sondern nur der Teil davon, der vom Gesetzgeber als geeignet bewertet wird, ,,zu den Gesamteinnahmen des Staates beizutragen". Diese Wertungsmöglichkeiten sind an die Leitideen der Verfassung gebunden, z.B. die Garantie und Pflicht der Solidarität gemäß Art. 2, den Schutz der Arbeit nach Art. 1,4, 35-37, den Schutz der Vermögensbildung gemäß Art. 47 und den

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stimmung des italienischen Verfassungsgerichts kann damit nicht gefolgt werden: Hiernach bedeutet Leistungsfähigkeit gemäß Art. 53 Verf. "die Fähigkeit des Subjekts zur Erfiillung der Steuerschuld, wobei sich diese Fähigkeit aus dem wirtschaftlichen Tatbestand ableitet, an den die Steuer anknüpft und der ein Indikator für ,Vermögenswerte' ist; dabei liegt die Auswahl dieser Indikatoren im Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers und kann verfassungsrechtlich lediglich auf Willkür oder Irrationalität überprüft werden,,4. Diese Definition des Verfassungsgerichts nimmt zwar zunächst Bezug auf die "subjektive Fähigkeit", reduziert die Bedeutung dieser Fähigkeit jedoch auf das Vorliegen jedes beliebigen Indikators von Vermögenswerten und entwertet sich letztlich sogar vollständig, indem sie nur das Verbot der Willkür als Beschränkung des Gesetzgebers sieht. Auf diese Weise geht das Erfordernis der konkreten Leistungsfähigkeit des Subjekts verloren, so daß im Ergebnis auch die Beschränkung des Gesetzgebers entfällt, obwohl dies einer der Hauptgründe rur die Einfiihrung des Leistungsfähigkeitsprinzips in die Verfassung war. Seinem falschen Verständnis entsprechend geht das italienische Verfassungsgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung sogar so weit, das Erfordernis der "Fähigkeit des Subjekts" ganz zu vernachlässigen und die Leistungsfähigkeit als eine "objektive Fähigkeit" zu erachten. Auf diese Weise ist Art. 53 bereits dann genügend Rechnung getragen, wenn" Wirtschaftsgüter als objektive Indikatoren für Vermögenswerte" besteuert werdenS, und zwar unabhängig von der konkreten Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen6 . Das Leistungsfähigkeitsprinzip, das den Schutz des Steuerpflichtigen und die Steuerfreiheit seines Existenzminimums gewährleisten sollte, mutiert nunmehr im Wege der Auslegung zum exakten Gegenteil seiner ursprünglichen Ratio und seiner ursprünglichen Bedeutung. Die konkrete Fähigkeit des Steuersubjekts wird damit durch die objektive Fähigkeit des erfaßten Wirtschaftsguts verdrängt. Unter diesen Bedingungen ist es unverständlich, wie das Verfassungsgericht von der Steuerpflicht immer noch als der Pflicht "zur Solidarität" nach Art. 2 Verf. sprechen kann7• Denn schließlich ist die Solidarität auf die Person und nicht auf die steuerlich erfaßten Wirtschaftsgüter zu beziehen, so daß insofern auch die Fähigkeit der Subjekte, die diese Pflicht zur Solidarität erfiillen sollen, berücksichtigt werden muß. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist letztlich durch Probleme des öffentlichen Haushalts verursacht. Schutz von Ehe und Familie nach Art. 29-31. Deshalb kann bei gleich hohem Einkonunen aufgrund deT unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Bewertung der gleich hohen Wirtschaftskraft eine unterschiedliche Leistungsfilhigkeit gegeben sein. 4 Vgl. z.B. Verfassungsgericht (Corte costituzionale), Urt. v. 7.7.1986, Nr. 178; Urt. v. 3.12.1987, NT. 465; Urt. v. 19.11.1987, NT. 400; Urt. v. 4.5.1995, Nr. 143. 5 Verfassungsgericht, Urt. v. 4.5.1995, NT. 143. 6 Verfassungsgericht, Urt. v. 31.3.1988, NT. 373; Urt. v. 20.7.1994, Nr. 315. 7 Vgl. u.a. Verfassungsgericht, Urt. v. 18.2.1992, NT. 52.

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Diese Probleme dürfen jedoch die wissenschaftliche Beleuchtung des Leistungsfähigkeitsprinzips nicht schon von Beginn an aufhalten. Dies wird auch durch das jüngste Urteil vom 9.122.4.1997, Nr. 111, bestätigt, das (wenn auch nur flüchtig) wieder von der Leistungsfähigkeit als der "Fähigkeit der Person zur Entrichtung der Steuer" spricht (s. Abschn. 6 des Urteils). Das Gericht stellt als Folge dessen auch fest, daß "die Struktur des Steuerrechtssystems an der Progressivität zu orientieren ist, und daß die Steuerfreiheit des Existenzminimums gewährt sein muß" (Abschn. 8 des Urteils). Beschäftigen wir uns nun aber mit der Frage, wie die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit im einzelnen ausgestaltet sein muß, damit sie auch tatsächlich die "subjektive Fähigkeit" und die effektive wirtschaftliche Leistungsflihigkeit des Steuerpflichtigen berücksichtigt und ihrer Ratio der Beschränkung des gesetzgeberischen Gestaltungsfreiraums Rechnung trägt. Die praktischen Auswirkungen des Leistungsfähigkeitsprinzips spiegeln sich sowohl im Steuergesamtsystem als auch innerhalb der einzelnen Steuern wieder.

m. Das Leistungsflhigkeitsprinzip im italienischen "Steuerrechtssystem" Wenden wir uns zunächst der Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips im italienischen Steuersystem zu. Dabei spreche ich ganz bewußt von "Steuersystem" und nicht von "Abgabensystem", weil das Leistungsfähigkeitsprinzip nach Art. 53 Abs. 1 Verf. nicht auf Gebühren im abgabenrechtlichen Sinne anwendbar ist. An dieser Stelle ist es leider nicht möglich, diese Auffassung näher zu begründen, die im übrigen auch vom Verfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertreten wirdB• Es sei nur angemerkt, daß der Ausschluß der Gebühren vom Anwendungsbereich des Art. 53 Verf. nicht zu einer Rechtsschutzlücke fUhrt. Denn die Gebühren sind in ihrer Bemessung schon implizit durch ihre auf einen Leistungsaustausch angelegte Ratio beschränkt (in den Fällen, in denen eine Abgabe "Gebühr" genannt wird, sie jedoch inhaltlich eine solidarische Ratio aufweist, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Steuer, so daß Art. 53 Verf. gleichwohl anwendbar ist). Außerdem ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auch bei der Bemessung der Gebühren nicht unbegrenzt, denn auch für Gebühren gelten: a) das Prinzip der Rationalität und der Kohärenz; b) die übrigen Verfassungswerte, insbesondere Art. 3 Abs. 2 Verf. 9 . Wenn also ein Gebührensystem die Inanspruchnahme wesentlicher 8 Verfassungsgericht, Urt. v. 2.4.1964, Nr. 30; Urt. v. 17.4.1969, Nr. 85; Urt. v. 27.7. 1972, Nr. 149; Urt. v. 28.11.1973, Nr. 167; Urt. v. 20.4.1977, Nr. 62. 9 Nach Art. 3 Abs. I Verf. ,,haben alle Bürger die gleiche gesellschaftliche Würde Wld sind gleich vor dem Gesetz ohne DifTerenziertmg nach Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion. politischer MeinWlg, persönlichen Wld gesellschaftlichen Umstanden." Art. 3 Abs. 2 bestimmt, daß "die Republik die Aufgabe hat, sämtliche Hindernisse wirt-

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Dienstleistungen (z.B. Schulbildung, Berufsausbildung, medizinische Versorgung) behindern würde, würde es der "Aufgabe der Republik" zuwiderlaufen, "Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die der Freiheit und der Gleichheit der Bürger effektiv entgegenstehen und die damit die volle Entwicklung des Menschen hindern" (Art. 3 Abs. 2 Verf.).

1. Ltickenhafte Besteuerung der Indikatoren steuerlicher Leistungsjahigkeit Geht man davon aus, daß die wichtigste, wenn auch nicht einzige Voraussetzung der steuerrechtlichen Leistungsfähigkeit die Verfügbarkeit des Steuerpflichtigen über wirtschaftliche Mittel ist, dann ist es in erster Linie notwendig, daß die Indikatoren dieser wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ohne ,,Lükken" erfaßt werden. Nach einer heute allgemein vertretenen Auffassung bestehen die Indikatoren der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Gesamteinkommen, Gesamtvermögen und Gesamtverbrauch 1o• Die Besteuerung des "Einkommens" ist Thema des Beitrags von Joachim Lang. Soweit es die Besteuerung des Vermögens betrifft, ist in Italien mit Wirkung ab dem 1.1.1993 die "Kommunale Steuer auf Immobilien,,1J eingeführt worden. Dabei handelt es sich der Art nach um eine Steuer auf das Vermögen. Sie hat Real- und nicht Personalcharakter und erfaßt alle Grundstücke mit einem Steuersatz zwischen 4 und 7 Promillel2 • Das Verfassungsgericht wurde bereits mehrfach wegen verschiedener Zweifel an der Verfassungsmässigkeit dieser Steuer angerufen 13, es hat jedoch bisher alle Klagen abgewiesen und damit bestätigt, daß das Vermögen allgemein gesehen zu Recht als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit erachtet wird.

schaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die der Freiheit und der Gleichheit der Bürger effektiv entgegenstehen und die damit die volle Entwicklung des Menschen und die effektive Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation des Staates hindern." 10 s. hierzu Verfassungsgericht, Urt. v. 9./22.4.1997, Nr. lll, Abschn. 6. 11 Anmerkung Bozza: Mit ,,Kommunale Steuer auf Immobilien" wurde der italienische Begriff ,Jmposta comunale sugli immobilt' - abgekürzt ,Jd' - übersetzt. Sie beträgt je nach Gemeinde 4-6 Promille (in besonderen AusnahmeflnIen auch 7 Promille) des ,,Katasterwertes" (valore catastale) der Immobilie. Der italienische Kataster (catasto) besteht aus der Auflistung und Beschreibung der inländischen Gnmdstücke und deren jeweiligen Eigentümer. Insbesondere ordnet der Kataster jedem Gnmdstück einen durchschnittlichen Ertragswert (reddito ordinario medio) zu. Es handelt sich dabei um einen Ertrag, der unter nonnalen Bedingungen aus den Gnmdstücken gleicher Art und Güte erzielt werden kann (Sollertrag). 12 Vgl. Gesetzesdekret (decreto legislativo) vom 30.12.1992, Nr. 504. IJ s. zuletzt Verfassungsgericht, Urt. v. 9.122.4.1997, Nr. 111.

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Weitere Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit sind die unentgeltlichen Vermögenszuwächse (durch Erbschaft, Schenkung), die zu Recht wegen ihres Sondercharakters und zur Berücksichtigung familiärer Bedürfnisse nicht ins eigentliche Einkommen einfließen. Ein koordiniertes System, das aus wenigen allgemeinen Steuern besteht (z.B. auf das Einkommen, das Vermögen, den Konsum, auf Erbschaften und Schenkungen) könnte demnach dazu beitragen, daß alle "auf der Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen". Allerdings reicht es nicht aus, daß die Steuern die wesentlichen Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit erfassen (Einkommen, Vermögen, Gesamtkonsum, unentgeltliche Vermögenszuwächse). Denn diese Indikatoren müssen auch jeder für sich innerhalb der einzelnen Steuer vollständig und erschöpfend erfaßt werden. So ergeben sich z.B. gegen Art. 53 Verf. verstoßende Besteuerungslücken, wenn der Einkommensbegriff zu eng gefaßt ist, so daß der Besteuerung Einkommen entgeht, das durchaus Leistungsfähigkeit indiziert. Als Beispiel sei daran erinnert, daß noch bis vor kurzem in Italien die capitaJ gains aus Beteiligungen an börsennotierten Gesellschaften nicht besteuert wurden, wenn der Anteil, aus dem der capitaJ gain stammte, nicht 2 % des Gesellschaftskapitals im Jahr überstieg l4 • Diese Besteuerungslücke wurde im Rahmen der Neuregelung der Einkünfte aus Kapitalvermögen mit dem Gesetzesdekret (decreto JegisJativo/ s vom 21.11.1997, Nr. 461 mit Wirkung ab dem 1.7.1998 geschlossen. Derartige Lücken in der Erfassung steuerlicher Leistungsfähigkeit können aber auch durch Steuervergünstigungen verursacht werden, die nicht durch 14 Vgl. Art. 7 Decreto legge vom 9.9.1992, Nr. 372, umgewandelt in Gesetz vom 5.11.1992, Nr. 429. (Anmerkung Bozza: Der Decreto legge, kurz D.L., ist eine provisorische Vorschrift, die die Regierung als Kollektivorgan auf eigene Veranlasswtg mit Gesetzeswirkung erlaßt. Eines parlamentarischen Ermächtigungsgesetzes bedarf es insofern nicht. Deshalb entfalten diese Vorschriften auch erst dann definitive Wirkung, wenn sie durch das Parlament in ein Gesetz konvertiert werden: Der Decreto legge muß noch am Tag seines Erlasses den beiden Kammern des Parlaments vorgelegt werden, damit innerhalb der ersten ft1nf Tage schon eine zwingende Lesung stattfmdet. hmerhalb von 60 Tagen muß der Decreto legge in ein Gesetz konvertiert sein, da er anderenfalls wirkungslos wird. Voraussetzung des Decreto legge ist die Notwendigkeit und die Dringlichkeit der Regelung. Außerdem darf die Regelungsmaterie nicht ausschließlich dem Parlament vorbehalten sein, z.B. Verabschiedung des Staatshaushalts). U Anmerkung Bozza: Der Decreto legislativo, kurz d.lgsl. (hier mit "Gesetzesdekret" übersetzt) ist nicht mit dem Decreto legge (vgl. Fn. 14) zu verwechseln: Er wird von der Regierung auf der Grundlage eines parlamentarischen Ermächtigungsgesetzes erlassen und hat die Wirkung eines formellen Gesetzes. Adressat eines solchen Ermächtigungsgesetzes kann - im Gegensatz zu den Ermächtigungsgesetzen der deutschen Rechtsordnung - nur die Regierung als kollektives Organ sein. Eine Übertragung der Aufgabe auf einzelne Minister ist in Italien unzulässig. Ublicherweise wird die Regierung zum Erlaß eines ,,decreto legislativo" ermächtigt, wenn die zu regelnde Materie sehr komplex ist.

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effektiv mangelnde Leistungsfähigkeit gerechtfertigt sind. Weitere Lücken entstehen, wenn die Methoden zur Ennittlung der Bemessungsgrundlage zu Ergebnissen führen, die weit unter der Realität liegen (man denke in diesem Zusammenhang nur an das auf den Katasterwerten l6 basierende Verfahren zur Ermittlung der Einkünfte kleinerer Landwirtschaftsbetriebe). Insofern spricht man auch oft von einer "Erosion" der Bemessungsgrundlage. In Wirklichkeit aber handelt es sich um steuerliche Leistungsfähigkeit, die nicht "zu den Gesamteinnahmen des Staates beiträgt", demnach also um "Lücken" des Steuersystems.

2. Die die allgemeinen Steuern ersetzenden Spezialsteuern (z.B. Besteuerung einzelner Verm(jgensgegenstande statt allgemeine Besteuerung des Gesamtverm(jgens) Neben der lückenhaften Erfassung steuerrechtlicher Leistungsfähigkeit besteht ein weiteres Problem in den sogenannten "besonderen" Steuern, die lediglich bestimmte Einkunftsarten, Vermögensgegenstände und Konsumverhalten erfassen. Dabei treten sie an die Stelle nicht bestehender allgemeiner Steuern oder aber führen zu einer doppelten Erfassung desselben Indikators steuerlicher Leistungsfähigkeit. In Italien fand dieses Problem vorerst ihren Höhepunkt mit dem Erlaß der "dringenden Maßnahmen zur Sanierung des Staatshaushalts" im Jahre 1992 (das Jahr, in dem die öffentliche Verschuldung so hoch wie noch nie war). In Ermangelung einer allgemeinen Steuer auf das bewegliche und unbewegliche Vermögen in jenem Jahr erfaßte der Gesetzgeber mit mehreren speziellen Steuern einzelne Vermögensgegenstände, z.B. Grundstücke, Luxus-Kraftfahrzeuge, Segelschiffe und Motoryachten, Bankguthaben, sowie auch das Netto-Vermögen der gewerblichen Unternehmen 17 • Zur Besteuerung der Bankguthaben wurden Kreditinstitute angewiesen, im Wege des Quellenabzugs von sämtlichen Spar- und Girokontoguthaben zum 9.7.1992 die "besondere" Vermögensteuer aufBankguthaben i.H.v. 6 Promill abzuführen. Die Kontoinhaber wunderten sich dabei, weshalb gerade ihnen und gerade zu diesem Zeitpunkt die besondere "Aufmerksamkeit" des Steuergesetzgebers zuteil wurde. Zu Recht wurde kritisiert l8 , daß die "Reichen", die ihre Konten überzogen hatten, nicht von der Steuer betroffen wurden, während Anmerkung Bozza: Zwn italienischen Kataster vgl. Fn. 11. Vgl. Decreto legge vom 11.7.1992, NT. 333, der zum Gesetz vom 8.8.1992, NT. 359 konvertiert wurde; Decreto legge vom 19.9.1992, NT. 384, der zum Gesetz vom 14.11.1992, NT. 438 konvertiert wurde; Decreto legge vom 30.9.1992, NT. 394, der 16

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zum Gesetz vom 26.11.1992, NT. 461 konvertiert wurde. 18 Falsitta, Lo scippo deI Govemo Amato salvato dalla Consulta, in: Per un fisco "civile", Mailand 1996, S. 3.

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Arbeiter und Angestellte, die über Giro-Konten ihre Löhne und Gehälter beziehen. die Steuer letztlich auch für die ,.Reichen" mitzutragen hätten - eine offensichtlich umgekehrte Solidarität! Das Verfassungsgericht\9 hat diese Steuer gleichwohl als verfassungsmäßig bestätigt. Es begründet seine Entscheidung auf der Grundlage des zuvor schon dargestellten Prinzips der "objektiven Leistungsfähigkeit" und beruft sich darauf, daß diese Steuer ohnehin nur außerordentlicher Natur ist, daß sie in ein Geflecht allgemeiner Maßnahmen zur Verringerung des Staatsciefizits eingebunden ist und daß schließlich ihr Steuersatz nur minimal belastend wirkt. In Wirklichkeit bestand aber keinerlei Verbindung zwischen den Bankguthaben zum 9.7.1992 und dem Gesamtbetrag des Vennögens als Indikator wirtschaftlicher Gesamtleistungsfähigkeit. Diejenigen. die über Vennögen verfügen, tragen auf diese Weise zu den "Gesamteinnahmen des Staates" aufgrund eines Kriteriums bei, das vom Einzelfall abhängt20, so daß das Leistungsfähigkeitsprinzip verletzt ist. Zusammenfassend ist also festzustellen, daß, sobald besondere Steuern an die Stelle der allgemeinen treten (z.B. die Besteuerung eines einzigen Vennögensgegenstandes statt des Vennögens insgesamt), die Besteuerung vom Zufall abhängt und nicht mehr an der Leistungsfähigkeit orientiert ist.

3. "Doppelte" Steuern Bei den besonderen Steuern ergibt sich jedoch nicht nur ein Problem im Hinblick darauf, daß diese im Gegensatz zu den allgemeinen Steuern nur punktuell wirken. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, daß die besonderen Steuern teilweise Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit erfassen, die schon Gegenstand einer allgemeinen Steuer sind, so daß diese doppelt belastet sind. Ein klassisches Beispiel hierfür bietet die "Lokale Einkommensteuer" (Imposta loeale sui redditi, kun: Ilori\, die die "Einkünfte aus Landwirtschaft, aus Kapitalvennögen, aus Unternehmen und sonstige Einkünfte" zum Gegenstand hae2. Darüber hinaus ist auch an die Besteuerung einzelnen Kon\9

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VerfasSWlgsgericht, Urt. v. 4.5.1995, Nr. 143. Falsitta (Fn. 18), S. 6. Anmerkung Bozza: Die ,,Lokale Ertragsteuer" (Imposta locale sui redditi) bela-

stet als Realsteuer den Steuerschuldner losgelöst von seinen persönlichen Verhältnissen und knüpft lediglich an bestimmte Einkommensquellen an. Sie wurde mit Wirkung ab dem 1.1.1998 abgeschaffi und durch die Imposta regionale sulte attivita produttive (s. Fn. 40) ersetzt. 22 Art. Il5 fT. Testo unico delle imposte direne (Decreto dei Presidente delta Repubblica vom 22.12.1986, Nr. 917). Diese Steuer wurde mit EinfUhrung der ,,Regionalen Steuer auf produktive Tätigkeiten" (Imposta regionale sulte attivitcl produttive, kurz: Irap) mit Wirkung zwn 1.l.1998 abgeschaffi (vgl. Art.36, decreto legislativo vom 15.12.1997, Nr. 446).

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sumverhaltens (durch Steuern auf Herstellung oder Verbrauch)23 zu denken, die neben der allgemeinen Verbrauchsbesteuerung (Umsatzsteuer) erfolgt. Auch hier besteht die Gefahr, daß der "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" von rein zufälligen Begebenheiten abhängt, die mit den Gewohnheiten des Steuerpflichtigen verbunden sind. Deshalb ist meines Erachtens eine besondere Steuer, die an Sachverhaltsmerkmale anknüpft, die schon von einer allgemeinen Steuer erfaßt sind, nur dann rechtmäßig, wenn der erfaßte Steuergegenstand eine besondere und zusätzliche Leistungsfähigkeit indiziert. So hat z.B. das Verfassungsgeriche4 festgestellt, daß Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus gewerblichen Unternehmen bei gleicher Höhe eine größere Leistungsfähigkeit indizieren als Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit, da Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus gewerblichen Unternehmen im Gegensatz zu den Einkünften aus selbständiger Tätigkeit eine VermögensKomponente aufweisen. Deshalb hat das Verfassungsgericht die "Lokale Ertragsteuer" (llorl 5 insoweit für verfassungswidrig erklärt, als sie (bis zum Erlaß des Urteils) die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erfaßte und als verfassungsgemäß bestätigt, soweit sie zu einer zusätzlichen Belastung der Einkünfte aus Landwirtschaft, Kapitalvermögen und gewerblichen Unternehmen fiihrt26.

23 Dieser Bereich ist jetzt geregelt im Decreto legislativo v. 26.10.1995, Nr. 504 ("Testo unico delle disposizioni legislative concementi le imposte sulla produzione e sul consumo" = Gesetzbuch der Vorschriften über die Steuern auf Herstellung und Konswn). 24 Verfassungsgericht, Urt. v. 26.3.1980, Nr. 42. 25 Anmerkung Bozza: S. Fn. 21, 22. 26 Anmerkung Bozza: Zur Begründung filhrt das Gericht im einzelnen aus, daß es keinen sachlichen Grund gibt, mit Blick auf die Ilor-Ptlicht zwischen Einkünften aus nichtselbständiger und selbständiger Tätigkeit - beides Einkünfte aus ,,Arbeit" - zu differenzieren (Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit waren und sind nicht ilorptlichtig). Dies umso mehr als die Ilor als eine Steuer geschaffen wurde, die von ihrer Ratio her Einkünfte erfassen sollte, die aus "Vermögen" und nicht aus persönlicher Arbeit stammen. Das Verfassungsgericht hat außerdem betont, daß die qualitative Differenzierung zwischen Einkunftsarten nicht schon dann zulässig ist, wenn die entsprechenden Produktionsquellen unterschiedlich sind, sondern erst dann, wenn zudem bei gleicher Einkunftshöhe eine unterschiedliche Leistungstlihigkeit vorliegt. Dieses Argwnent beruht auf dem italienischen Verständnis des Leistungstlihigkeitsprinzips. Hiernach ist steuerliche Leistungstlihigkeit die wirtschaftliche Verftlgbarkeit über finanzielle oder vermögenswerte Mittel, die im Lichte der Verfassungswerte geeignet erscheint, Steuern abzufilhren. Bei gleich hohem Einkommen kann demnach aufgrund der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Bewertung der gleich hohen Zahlungskraft eine unterschiedliche Leistungstlihigkeit gegeben sein. Im Falle der Ilor ist das Verfassungsgericht der Auffassung, daß bei gleich hoher Bemessungsgrundlage die Einkünfte aus selbständiger und unselbständiger Tätigkeit eine gleich hohe Leistungstlihigkeit indizieren, so daß die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit nicht zusätzlich mit Ilor belastet werden dürfen, denn beide genießen als Einkünfte aus ,,Arbeit" den besonderen Schutz der italienischen Verfassung nach Art. I und 35.

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4. Das Steuersystem als Erfordernis nicht nur der Gerechtigkeit. sondern auch der Demokratie An dieser Stelle ist zu erwähnen, daß man nur dann von einem Steuer"system" sprechen kann, wenn nur wenige Steuern bestehen und sie auf einem organischen und kohärenten Konzept beruhen. Nach einer Studie des Finanzministeriums von 1993 gab es in Italien damals etwa hundert Steuern, wobei der staatliche Steuerertrag im wesentlichen aus wenigen Hauptsteuern stammte (85 % des Steuerertrages stammte aus sieben Steuern und 95 % des Steuertrages aus 15 Steuern). Diese enorme Anzahl an Steuern, die dem Erfordernis nach organischer und rationaler Ausgestaltung der Steuern widerspricht, ist damit noch nicht einmal mit Blick auf das Steueraufkommen notwendig. Ohne "System" hängt die Besteuerung nicht von der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ab, sondern vom reinen Zufal1 27 . Das Fehlen eines Systems führt darüber hinaus zu Rechtsunsicherheit (die auch schon durch die Kompliziertheit der einzelnen Steuern gefOrdert wird). Hieraus resultiert letztlich ein Mangel an Demokratie: Der Bürger, der nicht genau seine Rechte kennt, ist nicht frei in seiner Entscheidung und damit der öffentlichen Verwaltung ausgesetzt: Er ist damit mehr Untertan als Souverän. IV. Das Leistungsfihigkeitsprinzip innerhalb der einzelnen Steuern - Das Leistungsfihigkeitsprinzip als Voraussetzung, Maßstab und äußerste Grenze der Besteuerung Beispiele für Steuern, die gegen das Leistungsfihigkeitsprinzip verstoßen Innerhalb jeder einzelnen Steuer fungiert das Leistungsfähigkeitsprinzip als Voraussetzung, Maßstab und äußerste Grenze der Besteuerung: Nur wenn Leistungsfähigkeit vorhanden ist, ist die Verpflichtung zum "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" rechtmäßig; die Steuerpflicht muß je nach Ausmaß der Leistungsfähigkeit variieren; schließlich darf die Leistungsfähigkeit auf keinen Fall völlig abgeschöpft werden (anderenfalls läge eine Enteignung ohne Entschädigung vor)28.

27 Es ist noch zu erwähnen, daß die "Systematik" der Steuern ein Gebot der Verfassung ist. Denn Art. 53 Abs. 2 Verf. schreibt vor, daß das Abgabensystem an den Kriterien der Progressivität zu orientieren ist: Damit legt diese Vorschrift dem Gesetzgeber zugleich auch auf, die Abgaben (demnach auch die Steuern) in ein System einzufUgen. 28 Zu dieser Thematik s. z.B. zuletzt Falsitta, Manuale di diritto tributario, parte generale, 2. Aufl., Mailand 1997, S. 143; s.a. Russo, Manuale di diritto tributario, 2. Aufl., Mailand 1996, S. 54-57.

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Heute stellt sich sicher nicht mehr das Problem der Steuer auf Ledige (die unter dem faschistischen Regime erhoben wurde), gleichwohl mangelt es nicht an Beispielen aus jüngster Zeit, in denen der Gesetzgeber die Steuer an schlecht ausgesuchte Merkmale anknüpft, die keineswegs Leistungsfähigkeit indizieren. Dabei wurde das Anknüpfungsmerkmal ,,Ledige(r )" durch das des "Unternehmers" und "Selbständigen" ersetzt: Sowohl der Unternehmer als auch der Selbständige scheinen dem Gesetzgeber nicht besonders sympathisch zu sein. So entstanden direkte Steuern, die im wesentlichen Unternehmer, Selbständige und Kapitalgesellschaften treffen: Diese Steuern knüpfen letztlich nur an deren bloße Existenz an und weisen keinerlei Bezug zu deren Einkommen oder Vermögen auf. So wurden mit dieser Logik Steuern geschaffen, die "die Ausübung gewerblicher, künstlerischer und freiberuflicher Tätigkeit"29, den bloßen Besitz einer Umsatzsteueridentifikationsnumme?>, das jährliche "Eingetragen-bleiben" im Unternehmensregister l ,32 erfassen. Die Steuer auf die Unternehmensregister wurde vom Europäischen Gerichtshof mit Urteil vom 20.4.1993 aufgehoben (weil das Gericht erkannt hat, daß in dieser Konstellation lediglich eine Gebühr erhoben werden darf). Gleichwohl wurde diese Steuer später "in neuem Gewand", unter neuer Bezeichnung wieder er29 Die Imposta comunale per I'esercizio di imprese arti e professioni, kw'z: Iciap (= ,,Kommunale Steuer auf die Ausübung gewerblicher, künstlerischer und freiberuflicher Tätigkeit" wurde mit Decreto Legge vom 2.3.1989, Nr. 66 eingeftlhrt, der zum

Gesetz vom 24..4.1989, Nr. 144 konvertiert wurde. Diese Steuer wurde im wesentlichen auf der Gnmdlage nur der Laden- und Geschaftslokalfläche bemessen, auf der die Tätigkeit ausgeübt wurde. Das Verfassungsgericht hat diese Steuer mit Urteil v. 11.3.1991, Nr. 103 insoweit verfassungswidrig erldllrt, als sie in Art. 1 des Decreto Legge vom 2.3.1989, Nr. 66 nicht vorsah, daß der Steuerpflichtige den Gegenbeweis seiner tatsächlichen Wirtschaftskraft erbringen kann. Die Iciap wurde mit Einftlhrung der ,,Regionalen Steuer auf produktive Tätigkeiten" (Imposta regionale sulle attivitil produttive, kw'z: Irap) mit Wirkung zum 1.1.1998 abgeschaffi (vgl. Art.36, Decreto legislativo vom 15.12.1997, Nr. 446). 30 Vgl. Art. 36 des Decreto Legge v. 2.3.1989, Nr. 69, der zum Gesetz v. 27.4.1989, Nr. 154 konvertiert wurde. Auch diese Abgabe, die die Zuweisung und die Inhaberschaft einer Umsatzsteueridentiflkationsnummer zum Gegenstand hatte, wurde mit Einftlhrung der ,,Regionalen Steuer auf produktive Tätigkeiten" (Imposta regionale sulle attivitä produnive, kw'z: Irap) mit Wirkung zum 1.1.1998 abgeschaffi (vgl. Art. 36, Decreto legislativo vom 15.12.1997, Nr. 446). 31 Vgl. Art. 3 Abs. 18 und 19 des Decreto Legge v. 19.12.1984, Nr. 853, der zum Gesetz v. 19.2.1985, Nr. 17 konvertiert wurde, sowie dessen darauffolgende Änderungen. 32 Anmerkung Bozza: Das Unternehmensregister (registro delle imprese) ist ein offentliches Register, das von speziell hierft1r eingerichteten Ämtern bei den Handelskammern unter der Aufsicht der Gerichte gefilhrt wird. Eintragungspflicht besteht alle Einzelunternehmen und Unternehmen in Gesellschaftsform, die eine industrielle oder händlerische Tätigkeit oder eine vermittelnde Tätigkeit im Transport- oder Bankwesen ausüben. Die Eintragung umfaßt insbesondere Unternehmensgegenstand, Sitz, Vertretungsmacht und -umfang der Prokuristen.

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lassen. Und so wird auf die Kapitalgesellschaften die jährliche "Gebühr" für die "Nurnerierung und Abstempelung von Büchern und Registern" erhoben, die in Wirklichkeit keine Gebühr, sondern eine Steuer darstellt, da sie unabhängig von staatlichen Dienstleistungen erhoben wird und je nach Größe des Gesellschaftskapitals unterschiedlich bemessen wird33 • Die soeben aufgeführten Beispiele betreffen Steuern, die an Merkmale anknüpfen, die nicht unbedingt Leistungsfähigkeit indizieren (z.B. die juristische Form einer Person). Daneben gibt es aber auch Steuern, die Sachverhalte erfassen, die geradezu ausdrücklich jeglicher Leistungsfähigkeit entbehren: Als Beispiel diene die "Stempelsteuer" (imposta di bollol4 , die an die bloße Verwendung einer Urkunde anknüpft und damit mit proportionalem Steuersatz z.B. auch eine Wechselschuld erfaßes. Auf verfassungsrechtlicher Ebene verdient die Registersteuer6 ähnliche Kritik. Diese Steuer, die jede rechtserhebliche Erklärung und Handlung mit "Vermögenskomponente" erfaßt, wird mit proportionalem Steuersatz u.a. auch erhoben auf "Schuldanerkenntniserklärungen,m, richterliche Verurteilungen zur Zahlung einer Geldstrafe38, Mietverträge über Wohnraurn39 • Damit knüpfen auch heute noch Steuern an Merkmale an, die in keiner Weise Leistungsfähigkeit indizieren (oder sogar 33 Falsitta, La Tassa sulla vidimazione e l'imposta in maschera, in: Per un fisco "civile" (Fn. 18), S. 61. 34 Anmerkung Bozza: Die Stempelsteuer wurde durch Präsidialdekret (Decreto dei Presidente della Repubblica) Nr. 642 vom 26.10.1972 eingeftlhrt. Streng genommen bedeutet imposta di bollo "Steuer auf Marken". Steuergegenstand sind bestimmte rechtserhebliche Handlungen, bspw. notariell beurkundete Erklärungen, Privatvertrlge, Bescheinigungen und Kopien durch die Verwaltung auf Antrag einer Privatperson, Wechsel etc. Wird die Steuer nicht entrichtet, ist die rechtserhebliche Handlung juristisch unwirksam. fu der Regel wird die Steuer entrichtet, indem auf das betreffende Dokument Marken im Wert der Steuerschuld geklebt oder bestimmte Stempler eingesetzt oder bereits mit Marken bedrucktes Papier verwendet werden. 3S s. Art. 6 der Anlage zum Präsidialdekret (Decreto dei Presidente della Repubblica) vom 26.10.1972, Nr. 642, der die Stempelsteuer betriffi. 36 Anmerkung Bozza: Die Registersteuer (imposta di registro) ist im Präsidialdekret vom 26.4.1986, Nr. 131 geregelt. Sie erfaßt alle Erklärungen und Handlungen des Steuerpflichtigen, die Rechtswirkung entfalten. hn wesentlichen sind damit in erster Linie schriftliche ,,Erklärungen" jeglicher Natur (rechtsgeschäftlich, verwaltungsrechtlich, gerichtlich), aber auch bestimmte mündliche Verträge Gegenstand dieser Steuer. Die Steuerschuld berechnet sich zum Teil auf der Grundlage. eines gesetzlich festgelegten Fixbetrages und damit als eine Gebühr ftIr die Eintragung in ein Register, die öffentliche Bekanntgabe juristischer Willenserklärungen und Handlungen etc. Zum Teil aber wird sie auch als ,,reguläre" Steuer proportional auf den Wert der registrierten oder beurkundeten Erklärung bemessen. 37 Art. 9 der Anlage zum Präsidialdekret (Decreto dei Presidente della Repubblica) vom 26.4.1986, Nr. 131, der die Registersteuer regelt. 38 Art. 8 lit. b der Anlage (Fn. 37). 39 Art. 5 Abs. 1 der Anlage (Fn. 37).

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auf mangelnde Leistungsfähigkeit hindeuten). Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang auch die am l. Januar 1998 in Kraft getretene "Regionale Steuer auf produktive Tätigkeiten" (lmposta regionale sulle attivita produttive, kurz: IraptO, der wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden. J. Die neue "Regionale Steuer aufproduktive Ttitigkeiten" (Imposta regionale sulle attivita produttive)

Voraussetzung der "Regionalen Steuer auf produktive Tätigkeiten" (Imposta regionale sulle attivita produttive) ist die "nachhaltige Ausübung einer selbständig organisierten Tätigkeit, die auf die Herstellung von Wirtschaftsgütern oder den Handel mit diesen oder auf die Erbringung von Dienstleistungen" gerichtet ist41 . Damit wird die Neigung des Steuergesetzgebers bestätigt, das Steuersubjekt auf der Grundlage seiner subjektiven Eigenschaft oder der von ihm ausgeübten Tätigkeit zu bestimmen und dabei die von diesem erwirtschafteten Ergebnisse völlig unbeachtet zu lassen. Mit der lrap findet diese Neigung sogar einen neuen Höhepunkt. Bemessungsgrundlage der lrap ist der "Wert der Netto-Produktion, der sich aus der in der Region ausgeübten Tätigkeit ergibt,,42, also eine Bezugsgröße, 40 Anmerkung Bozza: Die lrap ist eine regionale Steuer und ähnelt in gewisser Weise der deutschen Gewerbesteuer. Sie erfaßt rechtsfonnneutral mit Ausnahme von Investment- und Pensionsfonds insbesondere jede gewerbliche und selbständige Betätigung im lnland (z.T. wird sie von dieser Steuer fmgiert). Steuersubjekt sind gemäß Art. 3 des Gesetzesdekrets (decreto legislativo) Nr. 446 vom 15.12.1997 insbesondere: GesellschaftenlKörperschaften, die der lrpeg (der italienischen Körperschaftsteuer) unterliegen; KG, OHG und Gesellschaften, die dieser gemäß Art. 5 Abs. 3 TUlR. gleichgestellt sind und natürliche Personen, die eine Tätigkeit i.S.d. Art. 51 TUlR (= gewerbliche Tätigkeit) ausüben; natürliche Personen und Gesellschaften bürgerlichen Rechts (und diesen gesetzlich gleichgestellte Gesellschaften), die Berufe i.S.d. Art. 49 Abs. I TU/R (= selbständige Tätigkeit) ausüben; Landwirte. Die Bemessungsgrundlage der lrap setzt sich aus dem Ergebnis der Geschäftstätigkeit zzgl. der Personal- und Finanzierungskosten zusammen. Auch andere Aufwendungen sind teilweise zur Bemessungsgrundlage hinzuzurechnen. Damit handelt es sich wo eine Wertschöpfungssteuer. Der Steuersatz betragt 4,25 %, jedoch gibt es auch branchenabhängige höhere Steuersätze. Den Regionen wird dabei nach Art. 16 Abs. 3 decreto legislativo Nr. 446/1997 die Möglichkeit eingeräwot, ab 200 I den Steuersatz wo einen Prozentpunkt zu erhöhen. Diese Erhöhung kann auch nur auf bestimmte Tätigkeiten oder Steuerpflichtige erstreckt werden. Der Ertrag der lrap steht den Regionen zu. 41 Art. 2 des Gesetzesdekrets (Decreto legislativo) vom 15.12.1997, Nr. 446. Diese Regelung sieht auch vor, daß die "Tätigkeit von Gesellschaften und Körperschaften. inklusive Organe und Verwaltung des Staates" auf jeden Fall Tätigkeit im Sinne dieser Steuer ist. 42 Art. 4 des Gesetzesdekrets (Decreto legislativo) vom 15.12.1997, Nr. 446.

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die vom Einkommen losgelöst ist. An dieser Stelle sei erwähnt (ohne weitere Einzelheiten zu vertiefen), daß dieser Produktionswert a) bei nicht gewerblich tätigen Körperschaften (inklusive der öffentlichen Verwaltung des Staates, der Gemeinden, der Provinzen etc.) aus den Gehältern des angestellten Personals besteht43 ; b) bei gewerblichen Unternehmen, gewerblichen Gesellschaften und gewerblichen Körperschaften aus der Differenz zwischen dem Wert und den Aufwendungen der Produktion nach Maßgabe der Handelsbilanz (Art. 2425 lit. a und b Codice civile), jedoch ohne Abzug der Personal- und Finanzierungskosten besteht44; c) bei den Freiberuflern aus den erwirtschafteten Honoraren abzüglich der Betriebsausgaben mit Ausnahme der Personal- und Finanzierungskosten zusammengesetzt ist4s . Letztlich handelt es sich für nicht gewerblich tätige Körperschaften um eine Steuer auf Personalausgaben, für die gewerblichen Körperschaften, Gesellschaften und Unternehmen sowie für die Freiberufler stellt sie sich hingegen als Steuer dar, die wegen der Abzugsverbote annähernd zu einer Besteuerung der Brutto-Einkünfte führt. Nach Auffassung des wichtigsten Befürworters dieser Steuer beruht die Irap auf einem neuen Verständnis der Leistungsfähigkeit, die nicht mehr (oder nicht nur) durch das Einkommen, den Konsum und das Vermögen indiziert werde, sondern durch die ,,Beherrschung" von Produktionsfaktoren46 : Die Koordinierung von Produktionsfaktoren, die ,,Kombination von Menschen, Kapital, Maschinen, Material, technischem Wissen und unternehmerischen Fähigkeiten" (unter Unterstützung des Staates und der gesamten Gesellschaft) indiziere schon aus sich selbst heraus Leistungsfähigkeit. Diese Leistungsfähigkeit bestehe real und eigenständig, unabhängig von der Höhe des Einkommens und sei streng von der persönlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen als Eigentümer, Einkünftebezieher oder Verbraucher zu unterscheiden47 • Diese Auffassung führt im Ergebnis dazu, daß es für die Besteuerung nach Maßgabe steuerlicher Leistungsfähigkeit schon ausreichen würde, daß die Tätigkeit wirtschaftlich erheblich ist. Die Tätigkeit müßte also nicht Art. 10 des Gesetzesdekrets (Fn. 42). Art. 5 des Gesetzesdekrets (Fn. 42). 45 Art. 8 des Gesetzesdekrets (Fn. 42). 046 Gallo, La tassazione dei redditi d'impresa: i difetti e le proposte di modifica, in: Rassegna tributaria 1997, S. 132. S. auch den Ministerialbericht ,,Proposte per la realizzazione del federalismo fiscale", Finanzministeriwn. März 1996, der von der Kommission Wlter dem Vorsitz Prof. Ga110s erarbeitet wurde. 47 So Gallo, Ratio e struttura de11'!rap, in: Rassegna tributaria 1998, S. 632, mit Verweis auf Studenski, Toward a Theory ofBusiness Taxation, in: JournalofPolitica1 43

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Economy, 1949.

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unbedingt auch eine Vennögensmehrung des Steuerpflichtigen bewirken, da es bereits genügen würde, daß die Besteuerung an Sachverhaltsmerkmale anknüpft, die als Produktionsfaktoren ein wirtschaftliches Potential darstellen48 • Die Tragpfeiler dieser Ansicht können somit wie folgt zusammengefaßt werden: a) das Leistungsfähigkeitsprinzip erfordert lediglich die Erfassung von Sachverhaltsmerkmalen, die ein wirtschaftliches Potential darstellen; b) diese Sachverhaltsmerkmale bestehen schon in der bloßen produktiven Organisation oder einer bloßen Tätigkeit, und zwar unabhängig von den daraus resultierenden Ergebnissen; c) Leistungsfähigkeit ist nicht (oder nicht unbedingt) eine Eigenschaft einer Person, da Leistungsfähigkeit auch etwas ,,Realem" zugerechnet werden kann: nämlich dem business und nicht nur dem businessman. Letztlich würde jedes wirtschaftlich erhebliche Sachverhaltsmerkmal, also auch die bloße produktive Organisation, Leistungsfähigkeit indizieren und dabei sowohl vom wirtschaftlichen Ergebnis (es reicht das Potential) als auch von der Person völlig losgelöst sein (s. "ersten" Tragpfeiler der dargestellten Ansicht: Leistungsfähigkeit als wirtschaftliches Potential). Diese Ansicht weist allerdings einen "genetischen" Mangel auf: Sie geht das Problem der leistungsfähigkeit mehr aus dem Blickwinkel der Ökonomie (so insbesondere P. Studenski) und weniger aus dem Blickwinkel der italienischen Verfassung an. Dabei statuiert die Verfassung jedoch Garantien und Werte, die nicht einfach oberflächlich ausgehebelt werden können. Das Verständnis der leistungsfähigkeit als einer objektiven, realen Leistungsfähigkeit, die von der Person unabhängig ist, ist im Lichte des Art. 53 Verf. wie folgt zu beurteilen: a) Dieses Verständnis verstößt gegen die verfassungsrechtliche Entwicklung, angefangen beim Statuto Albertino von 1848 (in dem von der Steuerzahlung nach Maßgabe des "Habens" die Rede ist) bis hin zur Verfassung der Republik (in die erstmals das Leistungsfähigkeitsprinzip eingefiihrt wurde): "Fähigkeit" und "Tätigkeit" oder "Fähigkeit" und "produktive Organisation" zu verwechseln, ist wie "Fähigkeit" und "Haben", "Subjekt" und ,,0bjekt" zu verwechseln und dabei hundert Jahre geschichtlicher und rechtlicher Evolution zu ignorieren. b) Das Verständnis der Leistungsfähigkeit als einer objektiven leistungsfähigkeit mißachtet die Verbindung zwischen "alle" und "ihrer Leistungsfähigkeit,,49: Hieraus ergibt sich nämlich, daß Leistungsfähigkeit die Eigenschaft einer Person ("alle") sein muß, die zum ,,Beitrag zu den Gesarnteinnahmen des Staates" verpflichtet ist.

Gallo (Fn. 47), S. 633. Anmerkung Bozza: An dieser Stelle wird auf den Text des Art. 53 Abs. 1 Verf. (s. Fn. 1) Bezug genommen. 48

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c) Das angesprochene Verständnis verkennt den auch mehrfach vom Verfassungsgericht bestätigten solidarischen Charakter der Steuerpflicht: Die Pflicht zur Solidarität ist nicht etwas Realem, Wirtschaftsgütern, isoliert gesehenen Organisationen oder der abstrakten Beherrschung von Produktionsfaktoren auferlegt, sondern den Personen; denn es handelt sich dabei um mehr als um eine "politische, wirtschaftliche und soziale" Pflicht, nämlich um eine moralische PflichtSo . Wenden wir uns nun dem "zweiten" Tragpfeiler der hier beleuchteten Ansicht zu (Leistungsfähigkeit als bloße produktive Organisation oder Tätigkeit unabhängig von den daraus resultierenden Ergebnissen). Auch dieser hält einer verfassungsrechtlichen Untersuchung nicht stand. In Art. 53 Verf. kann man die Verbindung zwischen "Leistungsfähigkeit" und "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" nicht übersehen: Leistungsfähigkeit ist Voraussetzung, Maßstab und Rechtfertigungsgrund ftlr den "Beitrag". Zwischen Leistungsfähigkeit und "Beitrag" besteht ein wechselseitiges Verhältnis: Besteht Leistungsfähigkeit, besteht die Pflicht zum "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates"; umgekehrt besteht die Pflicht zum "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates", wenn Leistungsfähigkeit besteht. Die "Gesamteinnahmen des Staates" sind dabei eine reale und konkrete und nicht bloß potentielle oder mögliche Wirtschaftsgröße. Deshalb muß auch die Wirtschaftskraft, die zu diesem "Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" herangezogen wird, real und konkret, sicher und aktuell sein. Anderenfalls ergäbe sich eine Inkohärenz zwischen dem Zweck (Gesamteiimahmen des Staates) und seinem Rechtfertigungsgrund (die Leistungsfähigkeit). Alle Verfassungsrechtler sehen in der Kohärenz gesetzgeberischer Entscheidungen einen VerfassungswertSI. Die Kohärenz des Rechts muß um so stärker sein, wenn die Verfassung selbst Ursache und Wirkung ausdrücklich verbindet. Und so kann unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz dem Steuerpflichtigen nicht eine reale Zahlungspflicht aufgrund einer virtuellen Leistungsfähigkeit auferlegt werden. Das verfassungsrechtliche Gebot muß dahingehend ausgelegt werden, daß es logisch-kohärent ist und nicht zu einem Gegensatz zwischen Wirkung und causa fiihrt. Ebensowenig darf verkannt werden, daß auch zwischen dem verfassungsrechtlichen Verständnis der Leistungsfähigkeit und dem Gesamtbild der Verfassungswerte Kohärenz bestehen muß. Das Prinzip, daß "alle" auf der so Art. 2 Verf. bestimmt, daß die Republik "die Erftlllung der unabdingbaren Pflichten der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Solidarität fordert." Zu diesen Pflichten gehört auch die Steuerpflicht aus Art. 53 Verf. Löst die Eigenschaft ,,Person" die Verpflichtung zur Solidarität im allgemeinen Interesse aus, dann muß umgekehrt auch die Solidarität an eine Person und nicht an das ,,Haben" (Stotuta Albertino) oder an die produktiven Organisationen im objektiven Sinne gebunden sein. SI Auch die hier untersuchte Ansicht (Gollo, Ratio e struttura delrIrap (Fn. 47), S. 636) beruft sich mehrfach auf das Erfordernis der Kohärenz.

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Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit "zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen" müssen, bedeutet eine Umsetzung der Achtung der menschlichen Würde im SteuerrechtS2 • Und diese muß als das, was sie ist, als eine spezifische Eigenschaft einer Person gesehen werden, und nicht als das, was sie nach Belieben des Gesetzgebers sein könnte. Auf die realen Ergebnisse der Tätigkeit des Steuerpflichtigen und nicht 'auf die Tätigkeit als solche abzustellen, bedeutet die Achtung des Werts eines Menschen, der zur Steuerpflicht herangezogen wird. Im übrigen ist nur SO gewährleistet, daß die Steuer keine enteignenden Wirkungen entfaltet und damit nicht zur wirtschaftlichen Erdrosselung fUhrt. Die Irap-Pflicht kann allerdings auch dann bestehen, wenn der produktive Betrieb einen Verlust erwirtschaftet, da die Irap von den NettoEinkünften losgelöst erhoben wird: Dies fUhrt zu einer Erhöhung des Verlustes und zu einer Verdrängung der schwächeren Unternehmen vom Markt. Dies kann zwar einer politischen Entscheidung entsprechen (über die hier nicht diskutiert werden soll), steht jedoch im krassen Widerspruch zur Wertung des Art. 53 Verf. Denn die Ratio des Art. 53 Verf. zielt nicht darauf ab, die schwächeren Unternehmen vom Markt zu verdrängen, sondern vielmehr darauf, die Unternehmen (und im allgemeinen "alle" Steuerpflichtigen) in ihrer Pflicht zur Solidarität in Anspruch zu nehmen, sofern ihre Einnahmen höher sind als ihre individuellen Aufwendungen. So erfordert die Solidarität, daß die steuerlich belastete Wirtschaftskraft erhalten bleibt. Zerstört eine Steuer hingegen die von ihr erfaßte Wirtschaftskraft (weil sie auch in Ermangelung eines Netto-Jahresgewinns erhoben wird), dann zerstört sie auch die Quelle der Pflicht zur Solidarität. Es ist deshalb ein (logischer und rechtlicher) Widerspruch, diejenigen zur Steuer heranzuziehen, die einen Verlust erwirtschaftet haben und deshalb vielmehr selbst die Solidarität anderer beanspruchen können solltens3 • Das Verständnis der Steuer als "ethnische Auslese"S4 der Unternehmen und als Mittel zur Beseitigung deIjenigen, die sich in Schwierigkeiten befinden, gehört mehr zum ,,fiskalischen Sadismus" als zu den Werten der Verfassung. Weiterhin bedeutet die steuerliche Erfassung der Tätigkeit als solcher unabhängig von ihrem Ergebnis eine Beeinträchtigung der Freiheit zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit. 52 Die Förderung der "vollen EntwicldWlg des Menschen" ist Aufgabe der Republik gemäß Art. 3 Abs. 2 Verf. (s. Fn. 9). Die EntwicldWlg Wld damit auch der einfache Schutz des Menschen sind primäre Aufgaben der Republik, auch wenn Maßstabe zur gerechten Besteuerung bestehen (z.B. Art. 53 Verf.). 53 Man kann auch sagen, daß ein Widerspruch zum VerstAndnis der Leistungsftlhigkeit als einer "SelbstbestimmWlgsmacht" besteht: Das verschuldete und von den Banken verfolgte Unternehmen kann eine höhere lrap-Schuld treffen als ein florierendes Unternehmen. Diese Steuer kann deshalb umgekehrt proportional zur SelbstbestimmWlgsmacht sein. 54 Dieser Ausdruck stammt von Falsina, Aspetti e problemi dell'Irap, in: Rivista di diritto tributario 1997 I, S. 504.

4 Tipke/Bozza

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Im Falle der Jrap wird außerdem bei gleichem Ergebnis (Einkommen, Vermögen, Verbrauch) die selbständige Tätigkeit von einer zweiten Steuer erfaßt, die die nichtselbständige Tätigkeit hingegen verschont (wobei eine Verschärfung dieser Kluft dadurch herbeigefiihrt werden kann, daß die selbständige Tätigkeit zu einem Verlust gefiihrt hat). Diese Steuer wirkt sich somit auf manche Tätigkeiten :R>rdernd aus und auf andere hingegen unterdrückend. Dies allein führt noch nicht unbedingt zur Verfassungswidrigkeit der Steuer. Hierfiir muß vielmehr hinzukommen, daß sie nicht nur keine Grundlage in der Verfassung findet, sondern auch im Widerspruch zu den Verfassungswerten steht. Festzustellen ist indes, daß die Verfassung der Italienischen Republik der "Arbeit" besonderen Schutz gewährt: Dabei wird jedoch keineswegs der nichtselbständigen Arbeit der Vorzug gegenüber der selbständigen gegeben. Auf diese Weise wird auch dem politischen Einsatz der Steuern der Weg geebnet und zwar über diskutable Theorien über ein neues Verständnis der Leistungsfllhigkeit hinaus (so kommt es, daß solche Personengruppen mit ihrer wirtschaftlichen Betätigung der Besteuerung unterworfen werden, die nicht durch die Regierungsmehrheit vertreten sind, während diejenigen, die die Mehrheit der Regierung unterstützen, von der Besteuerung verschont werden). Hieraus folgt eine offensichtliche Verletzung des Hauptziels des Art. 53 Verf. (Einklang der Steuergesetze mit dem Prinzip der Steuergerechtigkeit zwecks Verhinderung des politischen Einsatzes der Steuern). Damit hält auch der zweite Stützpfeiler, der zur Rechtfertigung der Jrap angefiihrt wird, einer Überprüfung im Lichte des Art. 53 Verf. und der Verfassungswerte nicht stand. Die mangelnde Berücksichtigung des Ergebnisses einer wirtschaftlichen Betätigung führt dazu, daß Ursache und Wirkung in Art. 53 Verf. inkohärent sind. Auch wird damit verkannt, daß im Mittelpunkt der Verfassung die Person steht, die zumindest den Anspruch stellt, als das erachtet zu werden, was sie ist (und nicht als das, was sie sein könnte). Im übrigen wird dadurch das herkömmliche Verständnis der Solidarität ins Gegenteil verkehrt, da es den Schutz und eben nicht die Belastung der wirtschaftlichen Lage des einkommenslosen Steuerpflichtigen erfordert. An dieser Stelle wird auch deutlich, daß die Verbindung der Leistungsfllhigkeit mit dem Einkommen oder mit Einkommensindikatoren (z.B. Konsum und Vermögen als Folge der Erzielung von Einkommen) nicht nur eine bloße Folge der Erfahrungen mit Steuersysternen in der Vergangenheit ist. Vielmehr entspricht sie der kohärenten Anwendung der Verfassungswertungen: Knüpft man die Steuer nicht an das Einkommen oder "konkrete Merkmale für Einkommen"ss an, dann mutiert die ss So das VerfassWlgsgericht, das im Urt. v. 11.3.1991, Nr. 123, in ErmangelWlg dieser VerbindWlg die früher geltende Iciap (Anmerkung Bozza: s. Fn. 30) ftlr verfassWlgswidrig erklärt hat.

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Steuer den Solidaritätsgedanken ins Gegenteil (Verletzung der Art. 2 und 53 Verf.) und führt zum Erlöschen der "Quelle"s6, aus der die Steuerpflicht entstammt. Auch würde die Steuer eine progressive Enteignung ohne Entschädigung bewirken (Verletzung des Art. 42 Abs. 3 Verf.) und letztlich im Widerspruch zu ihrer eigenen Natur und Zielsetzung stehen, nämlich den ,,Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" zeitlich konstant zu ennöglichen (Verletzung der Art. 3 und 53 Verf.). Deshalb ist Klaus Tipke zuzustimmen, wenn er feststellt, daß "ein Unternehmen Steuern nur zahlen kann, soweit es einen Gewinn erzielt oder mit Gewinnen Rücklagen gebildet hat und daß die auf dem Unternehmen lastenden Steuern deshalb nur auf der Grundlage des Gewinns bemessen werden dürfen, da kein anderer Indikator besser auf die Leistungsfähigkeit des Unternehmens schließen läßt." Schließlich knüpft auch die deutsche Gewerbesteuer (die nach einigen Literaturstimmen Vorbild der lrap ist) an das Einkommen an und berücksichtigt damit den Steuerpflichtigen als Subjekt. Auch gewährt sie beachtliche Steuerfreibeträge. Die lrap verstößt demnach nicht nur gegen die italienische Verfassung, sondern auch gegen Kriterien der Steuergerechtigkeit, die in Deutschland erarbeitet (und umgesetzt) wurden, um dem allgemein gültigen Leistungsfähigkeitsprinzip Rechnung zu tragen. Es fmden sich jedoch auch noch weitere Urteile des Verfassungsgerichts, die im wesentlichen auf dem gleichen Gedanken beruhen: fusofern ist das Urt. v. 27.7.1982, Nr. 143 zu nennen, das. sich mit den Aufwendungen und Ausgaben befaßt, die mit der Erzielung von Einkommen zusammenhängen. Das Verfassungsgericht hat hierbei festgestellt, daß diese Aufwendungen das Einkommen negativ beeinflussen und daß vom Einkommen die Mittel abgeleitet werden müssen, die zu den "Gesamteinnahmen des Staates beitragen." fu anderen Urteilen sieht das Verfassungsgericht Leistungsflihigkeit im Einkommen, das über dem Existenzminimum liegt. Z.B. hat das Verfassungsgericht im Urt. v. 10.7.1968, Nr. 97 festgestellt, daß die Leistungsflihigkeit keineswegs in der Erzielung eines jedweden Einkommens zu sehen ist. Die Besteuerung sei vielmehr nur dann zulässig, wenn wirtschaftliche Mittel vorhanden sind, mit denen die Steuer getragen werden kann. Der gleiche Gedanke liegt dem Urteil vom 17.4.1985, Nr. 104 zugrunde (dieses Urteil beschäftigt sich mit Gehältern filr Angestellte). Weiterhin gibt es Urteile, in denen das Verfassungsgericht Steuern filr verfassungswidrig erklärt hat, die nicht an das Einkommen anknüpfen: So z.B. die Renten, die filr Verletzungen in der Wehrpflichtzeit gewahrt werden (vgl. Verfassungsgericht, Urt. v. 11.7.1989, Nr. 387), Abfmdungen der Arbeitnehmer zum Ende des Arbeitsverhältnisses (vgl. zuletzt Verfassungsgericht, Urt. v. 30.5.1991, Nr. 231 und Urt. v. 2.11.1990, Nr. 513). hn Urteil vom 7.7.1986, Nr. 178, das den gleichen Themenkreis betriffi und das in der späteren Rechtsprechung immer wieder zitiert wird, hat das Verfassungsgericht festgestellt, daß die Leistungsflihigkeit die subjektive Fähigkeit zur Steuerzahlung darstellt und in Verbindung mit den anderen Verfassungsprinzipien, die dem Schutz der Person dienen, zu beachten ist. Hieraus folge, daß der Gesetzgeber die Steuerlast nur so bemessen darf, daß hierdurch lediglich effektive Leistungsflihigkeit erfaßt wird. 56 Dieser Thematik (Schutz der "Quelle" der Steuerpflicht) widmet sich insbesondere Gaffuri, ,,L'attitudine alla contribuzione", Mailand 1969, S. 63 ff. 4'

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Damit bestätigt sich, daß das Bedürfnis nach einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Entscheidungen des Steuergesetzgebers weiterhin besteht und daß ferner ein europäischer Vergleich über die Anwendung der allgemein gültigen Gerechtigkeitskriterien unbedingt notwendig ist.

2. Die Person als wesentlicher Bezugspunkt des Leistungs!ähigkeilsprinzips Wie bereits im Zusammenhang mit der lrap dargelegt, muß die Steuer der pers(Jnlichen Situation des Steuerpflichtigen Rechnung tragen. ,,Leistungsfähigkeit" ist eine Eigenschaft der Person und nicht des steuerlich erfaßten Gegenstandes. Und sie ist die Eignung, der Verpflichtung zur Solidarität nachzukommen. Folglich muß der "Wohlhabende" für den "Nicht-Wohlhabenden" mitzahlen, so daß der "Nicht-Wohlhabende" dank des "Beitrags" des "Wohlhabenden" entlastet ist.

Hieraus ergibt sich auch die Steuerfreiheit des Existenzminimums. Die Steuerfreiheit des Existenzminimums gehört zu den traditionellen Auswirkungen der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (s.a. das bereits zitierte Urteil des Verfassungsgerichts von 1997, Nr. lIl, Abschnitt 8 und die Urteile in Fn. 55). Sie muß bei der Besteuerung aller Indikatoren steuerlicher Leistungsfähigkeit (Einkommen, Vermögen, Verbrauch, Vermögenszuwächse) beachtet werden. Trägt die Besteuerung der Person und ihrer Leistungsfähigkeit Rechnung, muß sie auch die Aufwendungen berücksichtigen, die für ein freies und menschenwürdiges Leben des Steuerpflichtigen und seiner Familie notwendig sinds1 . Dabei sind auch die Verfassungsnormen erheblich, die die volle Entwicklung der Person fördern s8 und die Familie begünstigenS9 • All diese Gesichtspunkte fallen in den Themenkreis der Beiträge von Enrico De Mila und Pedro Herrera Molina, so daß sie an dieser Stelle nicht behandelt werden sol~1 Insofern erlangt Art. 36 Verf. Geltwlg: ,,Der Arbeiter hat das Recht auf einen Lohn, der im Verhaltnis zur Qualität und Quantität seiner Arbeit steht und auf jeden Fall ausreicht, wn die freie und menschenwürdige Existenz seiner selbst und seiner Familie zu sichern." Soweit Art. 36 Verf. die freie und menschenwürdige Existenz der Person und der Familie schützt, begründet er meines Erachtens ein allgemeines Prinzip, das nicht nur vom Arbeitgeber beachtet werden muß, sondern auch vom Staat. Denn dieser darf dem Einzelnen nicht das nehmen, was ihm der Arbeitgeber geben muß. ~ Art. 3 Abs. 2 Verf., s. Fn. 9. 19 Vgl. Art. 29 Abs. I Verf., wonach "die Republik die Rechte der Familie als einer natürlichen, auf der Ehe basierenden Gesellschaft anerkennt". S. auch Art. 31 Abs. I Verf., wonach "die Republik mit wirtschaftlichen Maßnahmen und anderen Vorkehrungen die Bildung der Familie und die Erftlllung familiarer Aufgaben mit besonderem Augenmerk auf Großfamilien tbrdert".

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len. Es sei nur hervorgehoben, daß die politische Motivation des Gesetzgebers bei der Umsetzung der Personalität der Steuer (z.B. Steuerfreiheit des Existenzminimums, Abzugsfähigkeit notwendiger Aufwendungen, Schutz der Familie) nicht zur Inexistenz der Schranken und damit zum absoluten gesetzgeberischen Gestaltungsfreiraum führen kann. Denn es handelt sich dabei um Gesichtspunkte, die den Kern der Leistungsfähigkeit, ihren primären Zweck betreffen. 3. Das Verhdltnis zwischen dem Leistungs!dhigkeitsprinzip und den anderen Rechtsprinzipien - Der Einsatz von Lenkungssteuem Innerhalb des Themenkreises der Umsetzung des Leistungsfähigkeitsprinzips in den einzelnen Steuern problematisiert Klaus Tipke auch das Verhältnis des Leistungsfähigkeitsprinzips zu den Prinzipien anderer Rechtszweige, also das Verhältnis von Leistungsfähigkeit und außerfiskalischem (wirtschaftlichpolitischen oder sozialen) Einsatz der Steuer. Ich selbst empfinde es als problematisch zuzulassen, daß ein Verfassungsprinzip (das ausdrücklich in Art. 53 Verf. verankert ist) wegen anderer (wenn auch allgemeiner) Prinzipien und wegen politischer und wirtschaftlicher Bedürfnisse nicht zur Anwendung kommt. Wenn eine Vergünstigung oder eine zusätzliche Steuerbelastung dem Leistungsfähigkeitsprinzip widerspricht, ist sie ganz einfach verfassungswidrig und muß vom Verfassungsgericht fiir nichtig erklärt werden. Allerdings muß zugestanden werden, daß steuerliche Leistungsfähigkeit nicht mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit60 identisch ist. Die steuerliche leistungsfähigkeit ist das Ergebnis einer Wertung, die nach den allgemeinen Regeln der systematischen Auslegung auch im Lichte der anderen Verfassungsnormen erfolgen muß. Das Verständnis der Leistungsfähigkeit darf nicht isoliert werden von den Verfassungsgrundsätzen gleichen Rangs: Z.B. erlegt die Verfassung der Republik die wichtige Aufgabe auf, "die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die der Freiheit und der Gleichheit der Bürger effektiv entgegenstehen und die damit die volle Entwicklung des Menschen hindern" (Art. 3 Abs. 2 Verf.); auch fordert sie die Erfüllung der "unabdingbaren Verpflichtung zu politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität" (Art. 2 Verf.) und tbrdert "die Entwicklung der Kultur und der wissenschaftlichen und technischen Forschung" (Art. 9 Verf.); sie begünstigt die Familie und die "Erfüllung der ihr zukommenden Aufgaben mit besonderem Augenmerk fiir die Großfamilie" (Art. 31 Verf.); schließlich begründet die Verfassung das Recht des Arbeiters, sich selbst und seiner Familie eine ,,freie und menschenwürdige Existenz" zu sichern (Art. 36 Verf.) und fbrdert die ,,Bildung von pri-

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Anmerkung Boua: s. Fn. 2,3.

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vaten Ersparnissen zum Erwerb von Wohnungseigenturn" (Art. 47 Abs. 2 Verf.). All diese (und auch andere) sind verfassungsgesetzgeberische Wertungen, die das Verständnis der Leistungsfähigkeit beeinflussen. Denn sie können dazu fiihren, daß gleich hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steuerlich unterschiedlich behandelt wird, wenn sie im Lichte des Verfassungssystems eine unterschiedliche steuerliche Leistungsfähigkeit aufweist (so im übrigen auch das Verfassungsgericht, Urt. v. 26.3.1980, Nr. 426 \ zur unterschiedlichen Behandlung von Einkunftsarten, und Urt. v. 15.7.1976, Nr. 17962 zur Besteuerung des Einkommens der Familie). Es kommt dann aber aufgrund außerfiskalischer Zwecksetzungen nicht zu einer Nicht-Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Vielmehr lassen sich die außerfiskalischen Ziele durchaus im Einklang und unter Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips umsetzen, da das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern auch die verfassungsrechtlichen Wertungen berücksichtigt. Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses stellen z.B. folgende Vergünstigungen eine Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzip und nicht eine Ausnahme davon dar: die Begünstigung der wirtschaftlich schwachen Gebiete, des Erwerbs von Wohnungseigenturn, der Vermögensübertragungen innerhalb der Familie, der Förderung von Arbeit, Kultur oder wissenschaftlicher Forschung. Umgekehrt sind folgende lenkende Zusatzbesteuerungen ebenfalls eine Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips: zusätzliche Besteuerung der mißbilligten Erträge, mißbilligten Aufwendungen, des Gebrauchs umwelt- oder gesundheitsschädlicher Produkte etc. 4. Die Verbindung zwischen" alle" und" ihrer" Leistungsfahigkeit Der Steuerhaftungsschuldner und die Gesamtschuldner Innerhalb der einzelnen Steuern bestimmt Art. 53 Verf. weiterhin, daß "alle" auf der Grundlage "ihrer" Leistungsfähigkeit zu den Gesamteinnahmen des Staates beizutragen haben. Dies impliziert zwei Gebote: a) alle diejenigen, die die von der jeweiligen Steuer erfaßte Leistungsfähigkeit aufweisen, sind der Steuer auch tatsächlich zu unterwerfen; b) alle müssen zu den Gesamteinnahmen des Staates auf der Grundlage ihrer eigenen Leistungsfähigkeit beitragen und nicht schon auf der Grundlage fremder Leistungsfähigkeit. Diese Anmerkung Bozza: s. Abschn. 3.C. Anmerkung Bozza: Diesem Urteil liegt die Frage zugrunde, ob die 1973 eingeft1hrte Kwnulienmg der Ehegatteneinkünfte verfassWlgsmäßig ist. Diese Kwnulienmg der Einkünfte bewirkt, daß die Einkünfte der Ehefrau denen des Ehemannes (dem alleinigen Steuersubjekt) hinzugerechnet wurden. hn Ergebnis hat das italienische VerfasSWlgsgericht diese RegelWlg für verf8SSWlgswidrig erklärt. Zur Begr1lndWlg stützt es sich u.a. auf den Gleichheitssatz Wld das LeistungsOOtigkeitsprinzip. 6\

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Grundsätze wurden im Urteil des Verfassungsgerichts vom 15.7.1976, Nr. 179 umgesetzt. Das Verfassungsgericht hat darin die Kumulierung der Ehegatteneinkünfte63 für verfassungswidrig erklärt, weil sie die Ehefrau als Steuersubjekt ausschloß und ihre Einkünfte dem Ehemann zurechnete. Die Verbindung zwischen "alle" und "ihrer" Leistungsflihigkeit führt auch zu ernsthaften Zweifeln an der Venassungsmäßigkeit der steuerrechtlichen Regelungen, wonach der Steuerpflichtige A für die Leistungsflihigkeit des Steuerpflichtigen B Steuern entrichten muß und B lediglich in Regreß nehmen kann. Es handelt sich klassischerweise um die Fälle des Steuerentrichtungspflichtigen und des Steuerhaftenden, die beide aufgrund eines ,,fremden Sachverhaltes" zur Steuerzahlung verpflichtet sind64 . Um auszuschließen, daß das Leistungsflihigkeitsprinzip nicht verletzt ist, reicht meines Erachtens die Einräumung des Rechts (oder sogar der Pflicht) zum Regreß nicht aus. Die Vorzahlung der Steuer mit eigenen Mitteln auf der Grundlage der Leistungsflihigkeit eines anderen ist schon für sich ein "Beitrag zu den Gesarnteinnahmen des Staates", der nicht an der "eigenen" Leistungsflihigkeit bemessen ist. Die subjektive Ausdehnung der Steuerpflicht ist deshalb nur dann statthaft, wenn das für eine fremde Leistungsflihigkeit in Anspruch genommene Steuersubjekt auch schon im Voraus über die finanziellen Mittel des anderen verfügen kann. Dies gilt z.B. für den Steuerentrichtungspflichtigen, der die Steuer auf die Beträge einbehalten kann, die er schuldet65 . Dies kann auch für den Notar gelten, der sich die Registersteuer66 von den Vertragsparteien im Voraus entrichten lassen kann67 • Problematischer erscheint mir dies jedoch bei gewissen Stellvertretern, die neben dem Vertretenen gesarntschuldnerisch für die Schuld des Vertretenen einzustehen haben, z.B. bei der Umsatzsteuer (lva) der Vertreter des Steuersubjekts, das im Außengebiet ansässig ist68 • Ebenfalls erscheint mir 63 Diese RegelWlg war in Art. BI Wld 139 des ursprünglichen Einheitstextes der direkten Steuern enthalten, der mit Präsidialdekret vom 29.1.1958, Nr. 645 erlassen wurde. 64 Hierauf bezieht sich Art. 64 des Präsidialdekrets v. 26.10.1973, Nr. 600, der zur Deftnition des Steuerentrichtungspflichtigen folgendes ausftlhrt: "Wer kraft Gesetzes zur Entrichtung der Steuer ftIr einen anderen wegen eines diesem zuzurechnenden Sachverhaltes verpflichtet ist, muß von diesem Regreß nehmen, soweit das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt." (Art. 64 Abs. 1). Danach wird der Steuerhaftende implizit wie folgt deftniert: "Wer kraft Gesetzes gemeinsam mit anderen zur Entrichtung der Steuer wegen eines Sachverhaltes verpflichtet ist, der ausschließlich den anderen zuzurechnen ist, hat Anspruch aufRegreß." (Art. 64 Abs. 3). 6~ Art. 23 ff. des Präsidialdekrets v. 29.9.1973, Nr. 600. 66 Anmerkung Bozza: vgl. Fn 36. 67 Art. 57 des Präsidialdekrets v. 26.4.1986, Nr. BI (der den Einheitstext der Registersteuer eingeftlhrt hat). 68 Vgl. Art. 17 Abs. 2 des Präsidialdekrets v. 26.10.1972, Nr. 633 (Umsatzsteuerdekret), wonach der inländische Stellvertreter gesamtschuldnerisch mit dem im Aussengebiet ansässigen Vertretenen nach dem Umsatzsteuerdekret haftet.

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die Verfassungsmäßigkeit der gesamtschuldnerischen Haftung für die Schulden des Ehegatten im Falle der gemeinsamen Einkommensteuererklärung zweifelhaft69• In beiden Fällen kann die Steuerschuld des Hauptschuldners erst nach Jahren entstehen, wenn möglicherweise der Vertreter des ausländischen Steuerpflichtigen oder der Ehegatte seine Stellung nicht mehr innehat und die Steuerschuld auch nicht mehr mit finanziellen Mitteln des Hauptschuldners begleichen kann. Diesem Problem wurde allerdings bei der Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung im Falle der Betriebsübertragung Rechnung getragen. Art. 14 des Gesetzesdekrets (decreto JegisJativo) vom 18.12.1997, Nr. 472 bestimmt, daß der Erwerber gesamtschuldnerisch mit dem Übertragenden für die Entrichtung der Steuer und für die Bußgeldschulden des Übertragenden, die in den zwei Jahren vor und in dem Jahr der Betriebsübertragung entstanden sind, haftet; diese Haftung ist jedoch dahingehend beschränkt, daß dies nur für solche Schulden gilt, die der Finanzverwaltung zur Zeit der Betriebsübertragung bereits bekannt sind70• Der Erwerber ist somit in der Lage, die auf ihn zukommenden Kosten zu ermitteln und dabei auch die etwaigen Steuerschulden des Übertragenden zu berücksichtigen. Eine weitere "Steuerschuld für fremde Sachverhalte" besteht in den gesetzlich vorgesehenen Fällen der "besonderen Privilegierung" bestimmter Wirtschaftsgüter bei der Haftung für Steuerschulden. Dieses "besondere Privileg" haftet den Wirtschaftsgütern auch dann noch an, wenn sie längst an Dritte veräußert wurden; folglich kann der Erwerber dieses Wirtschaftsguts sogar enteignet werden, um die Steuerschuld des Veräußerers zu erfiillen. Als Beispiel sei die Steuer auf die Wertsteigerung von Immobilien (lmposta suJl'incremento di vaJore degli immobili, kurz Invim)'1 genannt72 : Die Steuer Art. 17 Abs. 5 des Gesetzes v. 13.4.1977, Nr. 114. Die Verfassungsmäßigkeit wurde vom Verfassungsgericht sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes als auch des Leistungstlihigkeitsprinzips bestätigt (Beschl. Nr. 31611987). Das Verfassungsgericht hat insoweit festgestellt, daß keine Ungleichbehandlung besteht, da es der freien Entscheidung der Ehegatten überlassen ist, .eine gemeinschaftliche Steuererklärung einzureichen oder nicht (mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen). Art. 53 Verf. sei nicht verletzt, weil die ,,Besteuerung nach der Leistungsfilhigkeit es nicht ausschließt, daß gewisse Steuerschulden nicht nur den Hauptschuldner, sondern daneben gesamtschuldnerisch auch ein weiteres Steuersubjekt treffen, das dem von der Steuer erfaßten Sachverhalt nicht völlig fremd ist". 70 Art. 14 Abs. 3 des Gesetzesdekrets v. 1997, Nr. 472 bestimmt, daß die Finanzämter auf Antrag des Berechtigten eine Bescheinigung erteilen müssen, aus der die noch streitigen und die bereits unstreitig festgesetzten, aber noch nicht erfüllten Schulden hervorgehen. Diese Bescheinigung entfaltet, soweit sie negativ ausß1llt, schuldbefreiende Wirkung ftIr den Erwerber. Dies gilt auch ftIr den Fall, daß die Bescheinigung nicht innerhalb von 40 Tagen seit AntragsteIlung ausgestellt wird. 7\ Anmerkung Bozza: Diese Steuer ist in jedem Falle der entgeltlichen und unentgeltlichen Ü'berfragung eines Grundstücks, einschließlich Erbschaft, zu entrichten. Steuerschuldner ist im Falle der entgeltlichen Übertragung der Verkäufer, bei unent69

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wird vom Veräußerer geschuldet, aber wenn dieser nicht zahlt, wird das Grundstück gepfllndet und versteigert, obwohl es mittlerweile im Eigentum des Erwerbers steht. Letztlich erfüllt dann der Erwerber, der nicht Steuerschuldner der Invim ist, die Steuerschuld des Veräußerers, wobei sein Regreßrecht nur einen äußerst geringen Wert hat: Wenn schon das Finanzamt die Steuerschuld nicht beim Hauptschuldner eintreiben konnte, wird auch der Grundstückserwerber nicht mehr Erfolg haben und das Regreßrecht leerlaufen. Das Verfassungsgericht hat insofern jedoch in seinen Beschlüssen vom 23.12.1987, Nr. 587 und vom 27.11.1993, Nr. 255 eine Verletzung des Art. 53 Verf. abgelehnt. Es hat sich dabei auf den Standpunkt gestellt, daß es sich um eine Form der Absicherung einer Schuld handelt, die es auch im Bürgerlichen Gesetzbuch gibt. Allerdings ist dem entgegenzuhalten, daß die Verpflichtungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs freiwilliger Natur sind, die zudem nicht mit schweren Geldbußen belegt werden können und auf die insbesondere nicht das verfassungsrechtliche Prinzip der Zahlung nach der eigenen Leistungsfilhigkeit anwendbar ist. Das Problem der Zahlung für einen fremden Tatbestand stellt sich auch im Falle der gesamtschuldnerischen Haftung, wenn einer der Gesamtschuldner für die vollständige Schuld in Anspruch genommen wird, obwohl er nur anteilsmäßig die von der Steuer erfaßte Leistungsfilhigkeit aufweist. Man denke insoweit an den Miterben, der gesamtschuldnerisch für die gesamte Erbschaftsteuer'3 aufkommen muß, die von allen Miterben und Vermächtnisnehmern gemeinsam geschuldet wird (unabhängig vom Rückgriffsrecht)74. Eben-

geltlicher Übertragung hingegen der Erwerber. Bemessungsgrundlage ist die Differenz zwischen dem Ankaufs- und dem Verkaufswert. n Art. 28 des Präsidialdekrets vom 26. 10.1972, Nr. 643 (betriffi die Steuer auf die Wertsteigerung von hnmobilien, Invim). Diese Steuer wurde wegen der Neueinftlhrung der Kommunalen Steuer auf Grundstücke (Imposta eomunale sugli immobili, kurz lei) mit Wirkung ab dem 1.1.1993 aufgehoben, ist aber dennoch bis zum 1.1.2003 ft1r die bis zum 1.1.1993 erfolgten Wertsteigerungen anwendbar. 73 Anmerkung Bozza: Nach dem Testo Unieo (Einheitstext) vom 31.10.1990, Nr. 346, flillt die Erbschaftsteuer auf den gesamten Nachlaß als solchen an und wird von allen Erben gesamtschuldnerisch geschuldet. 74 Art. 36 des Gesetzesdekrets (deereto legislativo) v. 31.1 0.1990, Nr. 346 (Einheitstext der Erbschaftsteuer), wonach "die Erben gesamtschuldnerisch zur Entrichtung der insgesamt von ihnen und den Vermächtnisnehmem geschuldeten Steuer verpflichtet sind". Zur Verfassungswidrigkeit dieser Regelung insoweit als der Erbe sich nicht gegen das Risiko schützen kann, die Steuer auch auf den Erbanteil der anderen Miterben zu tragen, vgl. auch Russo (Fn. 28), S. 188, und Falsitta, Manuale (Fn. 28), S. 160, Fn. 24. Das Verfassungsgericht hingegen hat diese Regelung mit Urt. v. 20.3.1985, Nr. 68 als verfassungsmaßig bestätigt. Dieses Urteil ist auf allgemeine Kritik gestoßen. denn als Steuergegenstand wurde das vererbte Vermögen in seiner Gesamtheit erachtet und nicht der auf den einzelnen Erben übergegangene Vermögensanteil (ähnlich der Beschluß der Verfassungsgerichts v. 11.2.1988, Nr. 170).

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so ist der Gesellschafter zu nennen, der nur 1 % der Gesellschaftskapitalerhöhung unterzeichnet hat, von dem aber aufgrund der gesamtschuldnerischen Bindung die Entrichtung der Registersteuer7S gefordert werden kann, die auf die gesamte Kapitalerhöhung entfällt (unabhängig von dem Regreßanspruch gegen die anderen Gesellschafter). Das Regreßrecht ist indes oftmals völlig theoretischer Natur76 und schließt jedenfalls nicht aus, daß der Steuerschuldner, der die Steuerschuld mit eigenen Mitteln begleicht, zumindest zwischenzeitlich zu den Gesamteinnahmen des Staates auf der Grundlage der Leistungsßihigkeit eines anderen beiträgt. Deshalb ist die Zahlung der Steuer filr einen fremden Tatbestand verfassungswidrig, denn sie ist bloß mit der Einräumung eines Regreßrechts verbunden, das oftmals gegenüber den anderen Gesamtschuldnern nicht realisiert werden kann77 •

5. Das Erfordernis der " Effektivitlit " - Die Problematik der gesetzlichen Steuerschlitzung, der Steuerfestsetzung auf der Grundlage der vom Finanzministerium statistisch erarbeiteten " Schlitzungskoeffizienten ", " Parameter " und" Sektorvergleiche" Ein weiterer wichtiger Aspekt des Leistungsßihigkeitsprinzips innerhalb der einzelnen Steuern ist das Erfordernis der ,,Effektivität". "Alle" haben die Pflicht, aber auch das Recht, zu den Gesamteinnahmen des Staates "auf der Grundlage ihrer Leistungsßihigkeit" beizutragen, die effektiv im konkreten Einzelfall besteht, und nicht bloß vermutet, erhofft, erträumt, bloß theoretisch, möglich oder fiktiv ist. Dieses Erfordernis wird vom Verständnis der Leistungsßihigkeit impliziert und leitet sich aus dem Verhältnis zwischen Fähigkeit und "Gesamteinnahmen des Staates" ab (die die Konkretheit und Effektivität der Mittel erfordern). Das Erfordernis der "Effektivität" leitet sich auch aus der Verbindung zwischen "alle" und "ihrer" eigenen Leistungsßihigkeit ab (also keiner auf der Grundlage von Sektor-Durchschnittswerten bloß vermuteten Leistungsßihigkeit). Ebenso leitet es sich aus der Ratio des Art. 53 Verf.

75 Gemäß Art. 57 Abs. I des Prasidialdekrets v. 26.4.1986, Nr. 131 ist die Verpflichtung zur Entrichtung der Registersteuer allen vertragsschließenden Parteien gesamtschuldnerisch auferlegt. Zur Verfassungsmäßigkeit der gesamtschuldnerischen Haftung von Veraußerer und Erwerber ft1r die Registersteuer vgl. Verfassungsgericht, Urt. v. 25.7.1984, Nr. 226. 76 Vgl. in diesem Sinne auch Russo (Fn. 28), S. 176, wonach "die Einraumung eines Regreßanspruchs nicht ausreicht, weil dessen Realisierung nicht gewiß ist". 77 Das Verfassungsgericht wertet hingegen das Regreßrecht in seiner Bedeutung auf, um die Verfassungswidrigkeit der Nonn auszuschließen, s. Z.B. das bereits zitierte Urt. v. 20.3.1985, Nr. 68.

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ab, die u.a. auch rechtsgarantierender Natur ist. Schließlich leitet es sich ebenfalls aus den Verfassungsprinzien ab, die den Bestand der PrivatwirtschaffS sichern wollen und dabei ausschließen, daß die Steuer einer Enteignung ohne Entschädigung gleichkommt oder sich als konkretes Hindernis für die freie Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit erweist79 • Diese Feststellungen, die sich offensichtlich aus dem Wortlaut, der Logik und dem System der Verfassung ergeben, in der Art. 53 verankert ist, sind indes nicht ebenso offensichtlich für den Steuergesetzgeber, insbesondere in den letzten Jahren. Sie sind von Bedeutung für: a) die gesetzlichen Steuervermutungstatbeständeso; b) die Beweisverbote (und in der Regel auch die Änderungen der Bemessungsgrundlage), die auf Verstöße des Steuerpflichtigen folgen (sogenannte "uneigentliche" Bußgelder)sl; c) die Befugnis der Finanzämter, die Bruttoerträge von "KJeinunternehmen"s2 und die Bruttoeinnahmen der kleinen Künstler und Freiberufle~3, die nicht für eine ordentliche Buchfilhrung optiert haben, schätzungsweise zu ermitteln; wobei die Schätzung auf der Grundlage sogenannter "Schätzungskoeffizienten für Einnahmen und Erträge"S4 bzw. sogenannter Einnahmen 78 Zur Notwendigkeit des Einklangs zwischen Steuererhebung und Bestand der Privatwirtschaft vgl. Gaffuri, (Fn. 56), S. 94 tT. 79 Zum Erfordernis der ,,EtTektivität" vgl. zuletzt Tosi, requisito di etTettivitä, in: Moschetti (Hrsg.), La capacitA contributiva, in: Trattato di diritto tributario, hrsg. von Amatucci, Bd. I Rb. I, Padua 1994, S. 321 tT.; Falsina, Manuale (Fn. 28), S. 154 ff. 80 Es gibt viele gesetzliche Vermutungen im Steuerrecht. Als Beispiel sei Art. 42 Abs. 2 des TUIR (Präsidialdekret v. 22.12.1986, Nr. 917) genannt, wonach vorbehaltlich eines Gegenbeweises ftlr gewährte Darlehen Zinsen vermutet werden, wobei ftlr Fälligkeit und Bemessung die schriftliche Vereinbarung maßgeblich ist. Ist schriftlich keine Fälligkeit vereinbart, wird unterstellt, daß die Zinsen, soweit sie bereits angefallen sind, auch schon im jeweiligen Besteuerungszeitraum entrichtet wurden. 81 Vgl. Art. 61 Abs. 3 des Präsidialdekrets von 1973, Nr. 600; s. hierzu Abschn. 4.7. 82 Gemäß Art. 18 des Präsidialdekrets v. 29.9.1973, Nr. 600 sind ,,Kleinunternehmen" (ftlr die eine vereinfachte Buchftlhrung vorgesehen ist) Einzelunternehmen und Personengesellschaften, soweit die Ertrage, die in einem ganzen Jahr erzielt werden, gewisse Grenzen nicht überschreiten. Insofem dürfen die Ertrage von Dienstleistungsunternehmen nicht 360 Millionen Lire überschreiten und die Ertrage von Unternehmen mit anderem Tätigkeitsgegenstand nicht über I Milliarde Lire liegen. 83 Es handelt sich um Künstler und Freiberufler, die im Besteuerungszeitraum Einnahmen von nicht mehr als 360 Millionen Lire erzielt haben (Art. 12 Abs. I des Decreto legge v. 2.3.1989, Nr. 69, der zum Gesetz v. 27.4.1989, Nr. 154 konvertiert wurde. 84 Vgl. Art. 11 und 12 des Decreto legge v. 2.3.1989, Nr. 69, der zum Gesetz v. 27.4.1989, Nr. 154 konvertiert wurde. Die "Schätzungskoefftzienten" basieren ftlr jede Kategorie wirtschaftlicher Tätigkeit auf den jeweiligen Einnahmen und den Kosten ftlr

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Francesco Moschetti (Nadya Bozza) und Erträge indizierender "Parameter',8S erfolgt, die vom Finanzministerium unter Zugrundelegung von statistischen Daten erarbeitet und durch Präsidialdekret im Gesetzblatt (Gazzetta Ufficiale) veröffentlicht werden;

d) die Befugnis der Finanzämter zur schätzungsweisen Bestimmung der Erträge und Einnahmen aller Unternehmen und selbständig Tätigen (auch wenn sie der ordentlichen Buchfiihrungspflicht unterliegen) auf der Grundlage sogenannter "Sektorvergleiche", die ebenfalls vom Finanzministerium anband der Auswertung probeweise ausgewählter Steuererklärungen erarbeitet werden86;

verwendetes Material, Verbrauch, Umlaufvennögen und andere Ausgaben (vgl. z.B. Präsidialdekret v. 23.12.1992, der die SchätzungskoefflZienten nach Art. 11 und 12 des Decreto legge v. 2.3.1989, Nr. 69 festlegt). Art. 11 und 12 des zitierten Decreto legge wurden mit Wirkung ab 1995 abgeschaffi (Art. 3 Abs. 179 des Gesetzes v. 28.12.1995, Nr.549). 85 Für die Jahre 1995, 1996 und 1997 ist gesetzlich vorgesehen, daß die Ertrage und Einnahmen von ,,ldeinen" Unternehmen, Künstlern und Freiberuflern vennutungsweise auf der Grundlage von ,,Maßstäben" bestinunt werden können, die vom Finanzministerium anband der Eigenschaften und Bedingungen der jeweiligen Tätigkeit festgelegt sind. Zu diesem Zweck wurden nach Tätigkeitsbereichen sortiert die Steuererklärungen von probeweise ausgewahlten Steuerpflichtigen ausgewertet. Aus ihnen wurden sodann die ,,Parameter" gewonnen, die die besonderen Eigenschaften der jeweils ausgeübten Tätigkeit berücksichtigen. Auch die ,,Parameter" sind durch Präsidialdekret festgelegt und im Gesetzblatt veröffentlicht (vgl. Art. 3 Abs. 181-189 des Gesetzes v. 28.12.1995, Nr. 549; Art. 3 Abs. 125 und 126 des Gesetzes v. 23.12.1996, Nr. 662; Art. 6 des Präsidialdekrets v. 29.1.1996). Die Steuerfestsetzung auf der Grundlage von ,,Parametern" kann auch gegenüber Steuerpflichtigen erfolgen, die der ordentlichen Buchführungspflicht unterliegen (inklusive der Körperschaftsteuersubjekte); dies setzt voraus, daß die Buchftlhrung Anlaß zu Zweifeln gibt (Art. 3 Abs. 181, lit. b des Gesetzes v. 29.12.1995, Nr. 549). Die Unregelmäßigkeiten, die solche Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Buchftlhrung begründen, sind im Präsidialdekret v. 16.9.1996, Nr. 570 festgelegt. 86 Art. 62-bis des Decreto legge v. 30.8.1993, der zum Gesetz v. 29.10.1993, Nr. 427 konvertiert wurde (mit späteren Modifikationen), bestinunt, daß das Finanzministerium zu den verschiedenen Wirtschaftsseletoren entsprechende "Seletorvergleiche" erarbeitet. Hierdurch werden die Anhaltspunkte bestinunt, die die ausgeübte Tätigkeit charakterisieren, wobei besonderes Augenmerk auf den Erwerb von Wirtschaftsgütern und Dienstleistungen, die praktischen Durchschnittspreise, den Verbrauch von Rohmaterial und anderen Materialien, das investierte Kapital, den Einsatz von Arbeitskraft, das zur Ausübung der Tätigkeit eingesetzte Umlaufvennögen und andere ft1r die Tätigkeit erhebliche Elemente gelegt wird. Art. 62-sexies desselben Dekrets bestinunt, daß die Erträge eines Unternehmens (inklusive der Körperschaftsteuersubjekte) und die Einnahmen selbständig Tätiger schon dann ,,korrigiert" werden können, wenn bloß ein "schweres Mißverhältnis" zwischen erklärten Erträgen und Einnahmen und denen, die sich aus den Eigenschaften und Bedingungen der Tätigkeit, also aus den "Sektorvergleichen" nach Art. 62-bis ableiten lassen, besteht. Dies gilt auch, wenn die Unternehmen und selbständig Tätigen der ordentlichen Buchftlhrungspflicht unterliegen und die Buchführung fonnell ordnungsgemäß ist und deshalb keinen Anlaß zu Zweifeln an deren inhaltlichen Richtigkeit gibt. Es ist offensichtlich, daß demnach die Gefahr be-

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e) die per Dekret des Finanzministeriums (sogenannten ,,redditometro", ,,Einkommensmesser") geregelte Vermutung von Einkommen bei Vorliegen bestimmter Indikatoren der Leistungsfähigkeit natürlicher Personen (z.B. Besitz von Kraftfahrzeugen, Schiffen, Haupt- und Nebenwohnung, Versicherungen, familiäre Mitarbeiter, etc.)87; f) die Bestimmung von Erträgen und Einnahmen aufgrund von Durch-

schnittswerten88 ;

g) die Brutto- statt der Netto-Besteuerung. Den zuletzt genannten Aspekt (die Netto-Besteuerung) ist den Beitragen von Gloria Alarcon Garcia und von Gianfranco Ga.IJuri vorbehalten, so daß hierauf nicht näher eingegangen wird. Vielmehr sei zunächst die Problematik der gesetzlichen Vermutungen untersucht. Das Verfassungsgericht hat eine Rechtsprechungslinie eingenommen, wonach: a) die gesetzlichen Vermutungen nicht schon per se rechtswidrig sind, da sie aus Gliinden des öffentlichen Interesses erforderlich sind (die Vereinfachung des Steuerschuldverhältnisses, die Beschleunigung der Steuererhebung, die Vermeidung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen, etc.); b) die gesetzlichen Vermutungen aber dann rechtswidrig sind, wenn sie nicht von konkreten Anhaltspunkten gestützt sind, die aufgrund der Werte der allgemeinen Erfahrung gerechtfertigt sind ("id quodplerumque accidi(') (Urt. v. 26.6.1965, Nr. 50; Urt. v. 3.7.1967, Nr. 77; Urt. v. 12.7.1967, Nr. 109; Urt. v. 18.7.1968, Nr. 99; Urt. v. 19.10.1988, Nr.982). Das Verfassungsgericht hat auch mehrfach festgestellt, daß eine gerechte Abwägung zwischen Kollektiv- und Individualinteresse, die beide durch Art. steht, daß Erträge und Einnahmen nur noch aufgrund der "Sektorvergleiche" des Finanzministeriwns und nicht mehr auf der Grundlage der konkreten Lage des Unternehmens bestimmt werden. Die "Sektorvergleiche" sind bereits sehr weit ausgereift, jedoch sind sie selbst zum 31.12.1998 immer noch nicht gänzlich abgeschlossen. 87 Vgl. Art. 38 Abs. 4 des Präsidialdekrets von 1973, Nr. 600, der zuletzt mit Ministerialdekret v. 10.9.1992 wngesetzt wurde. 88 Die zuvor genannten ,,Korrektur"-Möglichkeiten (d.h. die Korrektur von Unternehmenserträgen und Einnahmen selbständig Tätiger auf der Grundlage von "Schätzungs-Koefftzienten", ,,Parametern" und "Sektor-Vergleichen" und die Korrektur des Einkommens der natürlichen Person auf der Gnmdlage des ,,Einkommensmessers") ftlhren zu einer Bestimmung des Einkommens auf der Gnmdlage von Durchschnittswerten und Statistiken, die von der Finanzverwaltung erarbeitet wurden, und nicht auf der Gnmdlage der konkreten Situation des jeweiligen Steuerpflichtigen. Eine vergleichbare Lage (der Bestimmung eines hypothetischen, durchschnittlichen Einkommens) ergibt sich, wenn das Finanzamt (auf der Grundlage der einfachen Schätzung nach Art. 39 Abs. I lit. d des Präsidialdekrets v. 29.9.1973, Nr. 600) die Erträge z.B. aus Verkauf aufgrund bestimmter Durchschnittswerte korrigiert oder Zinsen auf kaufmännische Darlehen unterstellt und damit in die Vertragsfreiheit und die Preisgestaltungsfreiheit des Unternehmers eingreift.

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53 Verf. geschützt sind, auf jeden Fall die Zulässigkeit des Gegenbeweises durch den Steuerpflichtigen erfordert: Eine absolute Vermutung (iuris et de iure), also eine Vermutung, deren Übereinstimmung mit der effektiven Realität nicht überprüfbar ist, ist schon aus sich heraus irrational und steht im Widerspruch zu Art. 53 (vgl., u.a. Urt. v. 28.7.1976, Nr. 200; Urt. v. 26.3.1980, Nr. 42; Urt. v. 11.3.1991, Nr. 103; Urt. v. 8.6.1992, Nr. 256) - aber nicht nur. Jüngst hat das Kassationsgericht89 das Erfordernis der "Effektivität" als Auslegungskriterium verwendet, um den Gegenbeweis zuzulassen, obwohl er nicht ausdrücklich (oder ausreichend bestimmt) vorgesehen war. Unter Bezugnahme auf das zuvor genannte Dekret des Finanzministers, wonach Einkommen vermutungsweise auf der Grundlage bestimmter Leistungsfähigkeits-Indikatoren bestimmt wird (sog. "Einkommensmesser") hat das Kassationsgericht festgestellt, daß der Steuerpflichtige ein Recht auf den vollen Gegenbeweis gegen das nach Ministerialdekret vermutete Einkommen hat, während die Finanzverwaltung das Recht hat, den Beweis zu führen, daß das Einkommen noch höher ist, als nach Ministerialdekret vermutet wird (vgl. Kassationsgericht, Urt. v. 5.5.1995/29.1.1996, Nr. 656). Dank dieser bedeutenden Rechtsprechung der Kassation kann man voller Optimismus sagen, daß der Kampf im Namen des Art. 53 Verf. gewonnen ist: Die gesetzliche Vermutung von Leistungsfähigkeit ist verfassungswidrig, wenn nicht der Gegenbeweis zulässig ist. Es verbleibt jedoch noch ein weiterer Aspekt: Bisweilen ist der Gegenbeweis eine probatio diabolica, eine bloß formale Umsetzung eines Rechts, das in Wahrheit leerläuft. Es stellt sich z.B. die Frage, wie gewerbliche Unternehmen und selbständig Tätige beweisen können, daß ihre effektiven Erträge und Einnahmen geringer sind als auf der Grundlage der "Schätzungskoeffizienten", ,,Parameter" und "Sektorvergleiche", also auf der Grundlage statistischer Erhebungen des Finanzministeriums, vermutet wird. Hierbei stellt sich ein zweifaches Problem: a) die Bestimmung des einem Gegenbeweis zugänglichen Gegenstandes, d.h. der Gründe filr das geringere Einkommen (nicht jeder Grund ist statthaft); b) die Bestimmung der Mittel des Gegenbeweises. Wenn der Gegenbeweis nur zulässig ist, falls das geringere Einkommen auf eine "besondere Marktsituation" zurückgeht oder auf "besondere Tätigkeitsmodalitäten" , "die Ausübung mehrerer Tätigkeiten, auf die verschiedene Pa-

89 Anmerkung Bozza: Das Kassationsgericht ist das oberste italienische Gericht (vom Verfassungsgericht abgesehen). Es ist eine reine Revisionsinstanz und hat seinen Sitz in Rom. Vorliegend ist das Kassationsgericht in seiner dem deutschen Bundesfinanzhof entsprechenden Funktion angesprochen.

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rameter anwendbar sind,,90 oder allgemeiner auf eine objektiv atypische, einzigartige Situation oder Tätigkeit des Steuerpflichtigen, dann ändert sich der Gegenstand der Steuer: Er besteht dann nicht mehr in dem effektiven Einkommen des Einzelnen, sondern in einem unterstellten (statistisch ermittelten) Durchschnittseinkommen der entsprechenden Kategorie, das abstrakt vermutet wird. Auf diese Weise besteht ein Widerspruch zur Verbindung zwischen "alle" und "ihrer" Leistungsfähigkeit in Art. 53 Verf. Der Einzelne geht im Kollektiv unter. Den Fiskus interessiert mehr der Steuerertrag, der durch die jeweilige Wirtschaftsgruppe gesichert werden soll, als die reelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Dieser Grundgedanke steht in krassem Gegensatz zu der Berücksichtigung der Person, die dem Art. 53 Verf. JJlld der gesamten Verfassung als Bezugspunkt zugrunde liegt. Es handelt sich um das Verständnis der Tarpejischen Felsen: Wer nicht stark genug ist (nach Auffassung selbstverständlich des Finanzministeriums), wird eliminiert, scheidet aus dem Spiel aus oder steigt fiskalisch bedingt aus. Auf diese Weise besteht die Gefahr, daß schließlich nur noch solche Unternehmen und Selbständige auf dem Markt verbleiben, die ein mittelhohes Einkommen erzielen, wobei jedoch auch das Prinzip der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung verletzt wird, das die Verfassung allen gewährleistet, auch den weniger effizienten und produktiven Bürgern. Aber damit nicht genug. Selbst wenn der Gegenstand des Beweises die Inexistenz der Erträge und Einkommen betreffen würde, die auf der Grundlage der "Schätzungskoeffizienten", der "Parameter" und der "Sektorvergleiche" vermutet werden, und dabei von der objektiven Außergewöhnlichkeit der konkreten Umstände losgelöst wäre, so stellt sich doch dann immer noch die Frage, mit welchen Mitteln der Gegenbeweis geführt werden soll. Es erscheint zweifelhaft, wie man die eigene Steuerehrlichkeit beweisen kann, wenn die Erträge und Einkünfte niedriger sind wegen einer geringeren fachlichen Tauglichkeit gegenüber dem Durchschnitt und nicht wegen außerordentlicher Umstände. Demnach gelangt man wegen der Unmöglichkeit eines theoretisch zugelassenen Gegenbeweises ebenfalls zu einer Besteuerung, die an dem durchschnittlichen Einkommen der jeweiligen Kategorie und nicht am effektiven Einkommen bemessen ist.

90 Es handelt sich dabei \UD solche Bedingungen, die beispielhaft vom Ministerialrundschreiben Nr. 117/96 genannt sind, das die ,,Parameter" nach Art. 3 Abs. 181 ff. des Gesetzes v. 18.12.1995, Nr. 549 betrifft.

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6. Vermutung von Einkommen bei den sogenannten" unU/tigen Gesellschaften"

Aber die gesetzgeberischen "Überraschungen" finden kein Ende: Nicht weniger irrational ist die jüngste gesetzliche Einkommensvennutung bei sogenannten "untätigen Gesellschaften,,91. Dabei wird auf der Grundlage von Betriebsgrundstücken ein Mindesteinkommen vennutet und der Gegenbeweis nur insoweit zugelassen, als geltend gemacht wird, daß objektiv außerordentliche Geschäftsbedingungen bestanden92• Wenn der Gesetzgeber einen Widerspruch zwischen der Fonn einer gewerblichen Gesellschaft und deren Untätigkeit sieht, dann sollte eine Gegenmaßnahme nicht in der Vennutung eines Einkommens (mit beschränkter Gegenbeweismöglichkeit) bestehen, das im konkreten Fall wahrscheinlich gar nicht vorliegt (weil es sich eben um untätige Gesellschaften handelt). Vielmehr sollte die Qualifizierung als gewerbliche Gesellschaft entfallen. Man sollte die untätigen Gesellschaften als einfache Vereinigungen ansehen, nicht aber autoritär die Existenz eines Einkommens bestimmen, das bei einer untätigen Gesellschaft schon von Natur aus nicht vorliegen kann. Hieraus folgt ein weiteres Kettenglied in der rückläufigen Entwicklung, die mit dem objektiven Verständnis der Leistungsfähigkeit verbunden ist, da die Existenz eines Einkommens unterstellt wird, nicht nur obwohl es an jeglicher Tätigkeit mangelt, sondern gerade weil die wirtschaftliche Betätigung fehlt. Nach der Abkehr vom Erfordernis der ,;subjektiven Leistungsfähigkeit" und der Hinwendung zur "objektiven Leistungsfähigkeit" war die rückläufige Entwicklung unaufhaltbar: zunächst die Besteuerung von Erträgen, Einnahmen und Einkommen nach Durchschnittsstatistiken, die mit Dekret eingeführt wurden und die Beweislast umkehren; dann die Einführung der lrap, also der Besteuerung, die unabhängig vom Netto-Einkommen an die bloße produktive Tätigkeit anknüpft; und schließlich die Besteuerung venneintlicher NettoEinkünfte, die sich aus der Nichtexistenz einer wirtschaftlichen Tätigkeit ableiten. Wenn man den Bezug zur Berücksichtigung der Person verliert und das Fiskalinteresse93 über die konkrete Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen überwiegt, dann erscheint sicherlich jede Fonn der Besteuerung verfassungsmäßig. 91

Anmerkung Bozza: Mit "untätigen Gesellschaften" wurde der italienische Begriff

,.focieta non operative" übersetzt. Es handelt sich dabei um Kapitalgesellschaften mit

Sitz in Italien, die weniger als 5 Angestellte haben und deren Ertrage nicht über 800 Mio. Lire (ca. 800.000,- DM) liegt. 92 Art. 3 Abs. 37-45 des Gesetzes v. 23.12.1996, NT. 662. 93 Zum ,,Fiskalinteresse" als oftmals vom Verfassungsgericht verwendeten Kriterium zur Legitimierung von Steuererhebungen trotz mangelnder Leistungsfllhigkeit vgl. Falsitta, Manuale (Fn. 28), S. 156-157.

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7. Die" uneigentlichen" Bußgelder Im Bereich der Beweisfiihrung mangelt es auch nicht an Fällen, in denen der Beweis des Steuerpflichtigen präkludiert ist, weil ein formaler Verstoß gegeben ist. Zum Beispiel bestimmt Art. 61 Abs. 3 des Präsidialdekrets vom 29.9.1973, Nr .. 600, daß "für buchführungspflichtige Steuerpflichtige der Beweis solcher Umstände ausgeschlossen ist, die in der Buchführung nicht erwähnt sind oder die deren Ergebnis widersprechen"94. Ein Verstoß auf der Ebene der Buchführung darf indes nicht zu einer Brutto-Besteuerung fUhren, denn dies bedeutet: a) die Schaffung einer tatsächlich inexistenten Bemessungsgrundlage; b) die Verwendung der Steuer anstelle eines sachlich angebrachteren Bußgeldes; c) die Verwendung der Steuer als uneigentIiche Fonn einer Strafe (man spricht in diesem Fall von einem "uneigentIichen Bußgeld"). Neben einer Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips besteht damit auch eine Verletzung des Prinzips der Logik und Kohärenz (das aus Art. 3 Verf. abgeleitet wird). 8. Das Erfordernis der "AktuaIiUit" Das Problem der retroaktiven Besteuerung

Eine weitere Ausprägung des Erfordernisses der Effektivität besteht in der "Aktualität" der Leistungsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit muß effektiv in dem Moment bestehen, in dem die Steuerpflicht entsteht. Hieraus folgt das Problem der Verfassungsmäßigkeit rückwirkender Gesetze und der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften, die eine im Verhältnis zur Verwirklichung des Steuertatbestandes vorgezogene Steuerzahlung bestimmen. Bezüglich der rückwirkenden Gesetze hat das Verfassungsgericht grundsätzlich festgestellt, daß die Leistungsfähigkeit "aktuell" in dem Moment bestehen muß, in dem das Gesetz die Steuerpflicht begründet. Es hat jedoch hinzugefügt, daß die Aktualität auch vennutet werden kann, wenn dabei auf rationale Anhaltspunkte und allgemeine Erfahrungswerte zurückgegriffen wird, die von Fall zu Fall zu beurteilen sind. Es geht um die Entscheidung, ob es in bezug auf den jeweiligen Einzelfall rational ist, davon auszugehen, daß das Einkommen oder Vennögen der Vergangenheit noch in der Gegenwart besteht (Urt. v. 23.5.1966, Nr. 44; Urt. v. 11.4.1969, Nr. 65; Urt. v. 22.4.1980, Nr. 54; Urt. v. 94 Die Reichweite der Nonn wird durch die ihr folgenden Regehmgen abgeschWächt, denn es wird der Beweis der Ausgaben und Aufwendungen zugelassen, wenn diese sich aus "sicheren und genauen Anhaltspunkten" ergeben (s. Art. 61 Abs. 3). Eine weitere ..uneigentliche" Strafe ist in Art. 52 Abs. 5 des Umsatzsteuer-Dekrets enthalten, wonach ..die Bücher, Register, AufZeichnungen und Unterlagen, deren Vorlage verweigert wird, im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren nicht zugunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden können". 5 Tipke/Bozza

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Francesco Moschetti (Nadya Bozza)

27.7.1982, Nr. 143). Dabei ist der Zeitraum zwischen Inkrafttreten des rückwirkenden Gesetzes und der Verwirklichung des Sachverhaltsmerkmals, an das die Steuer anknüpft, erheblich. Insofern sei an das Urteil des Verfassungsgerichts vom 23.5.1966, Nr. 44 erinnert, das sich mit der Steuer auf die Wertsteigerung von Bauland (lmposta sull';ncremento d; valore delle aree fabbr;cabili) befaßt, die 1963 in Kraft getreten ist und auch auf Wertsteigerungen anwendbar war, die bis zu zehn Jahre vorher realisiert worden waren. Das Verfassungsgericht hat darin festgestellt, daß dabei nicht mehr rational auf der Grundlage allgemeiner Erfahrung vermutet werden könne, daß der zehn Jahre zuvor (1953) realisierte Vermögenswert noch "aktuell" (im Jahre 1963) ist, insbesondere da die Einrichtung der Steuer nicht einmal vorhersehbar war. Mit Urteil vom 20.7.1994, Nr. 315 hat das Verfassungsgericht ein drei Jahre zurückwirkendes Gesetz nicht fiir verfassungswidrig gehalten. Zur Begründung führte es an, daß zum einen der Zeitraum zu kurz ist und zum anderen die Gesetzesänderung vorhersehbar war, da es sich um ein Gesetz handelt, daß den Regelungsbereich der Wertsteigerungen von Immobilien vervollständigen und verschärfen sollte und dabei neue Tatbestände geschaffen hat, die im Wesentlichen auf die gleiche Ratio der bereits bestehenden Regelungen zurückgehen. Im Urteil von 1966 wird also auf die mangelnde Vorhersehbarkeit zurückgegriffen, um die Irrationalität der Vermutung des zeitlichen Fortbestandes der früheren Leistungsfllhigkeit zu begründen. Im Urteil von 1994 wird die Vorhersehbarkeit hingegen als Argument zugunsten der Rationalität der Vermutung angeführt. Als wichtigster Gesichtspunkt ist im Falle rückwirkender Gesetze jedoch festzuhalten, daß man nie die Gewißheit des zeitlichen Fortbestandes eines Vermögensgegenstandes der Vergangenheit haben kann: Die Rationalität oder Irrationalität der entsprechenden Vermutung, die Vorhersehbarkeit oder Nicht-Vorhersehbarkeit der mittlerweile erfolgten Besteuerung gehören zum Gedankengut des Verfassungsgerichts, nicht des einzelnen Steuerpflichtigen; dieser muß sein wirtschaftliches Verhalten den jeweils gültigen Gesetzen anpassen und nicht zukünftigen Gesetzen, die rein hypothetischer Natur und damit eine Art "Nicht-Gesetze" sind. Das vorhersehbare Gesetz ist ein "Nicht-Gesetz", der aufgrund eines vorhersehbaren Gesetzes besteuerte Sachverhalt ist faktisch zunächst "nicht besteuert", so daß es möglich und legitim ist, daß die frühere Leistungsfllhigkeit nicht mehr existiert, wenn das plötzlich ergehende, vorhersehbare, aber gleichwohl zunächst nicht existierende Steuergesetz auf einmal in Kraft tritt95 . Hat man dies einmal festgestellt, dann kehrt das Grundproblem zurück: Es stellt sich wiederum die Frage, ob das Gesetz Leistungsfllhigkeit als existent vermuten kann, obwohl sie im Einzelfall nicht mehr bestehen kann. Auch ergibt sich die Frage, ob man sich Normalitäts-Kriterien unterwerfen muß (die sich aus nicht unzweifelhaften 9~ Vgl. zu diesem Themenkreis auch die Anmerkungen von Fa/sitta, Manuale (Fn. 28), S. 104-105.

Der Grundsatz der Steuergerechtigkeit

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Wertungen "allgemeiner Erfahrung" ergeben. die oft nicht frei vom Einfluß der Politik, des Verfassungsgerichts etc. sind), oder ob nicht eher Kriterien der Rechtssicherheit maßgeblich sein müssen. Meines Erachtens schützt die Verfassung sicherlich das Kollektivinteresse, jedoch geht sie dabei von der Beachtung der Rechte der Person - jeder einzelnen Person - aus. Und dies gilt auch im System des Art. 53 Verf., in dem das Erfordernis des "Beitrags zu den Gesamteinnahmen des Staates" nur innerhalb der Grenzen geschützt wird, in der auch Leistungsfähigkeit besteht. "Alle" und nicht bloß die "Mehrheit" der Steuerpflichtigen haben nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht, auf der Grundlage ihrer effektiven und aktuellen eigenen Leistungsfähigkeit besteuert zu werden. Deshalb gibt es nur folgende Lösungen des Problems: Entweder wird das rückwirkende Gesetz nicht auf Steuerpflichtige angewandt, die beweisen, daß aktuell keine Leistungsfähigkeit mehr besteht, oder aber das rückwirkende Gesetz ist verfassungswidrig. Da das rückwirkende Gesetz in der Regel keine Differenzierungen vornimmt, sondern fiir alle Steuerpflichtigen (als absolute und nicht bloß relative Vennutun~ gleichennaßen gilt, verbleibt nur noch die Schlußfolgerung der Verfassungswidrigkeit. Rückwirkende Gesetze sind damit immer verfassungswidrig, da die ihnen immanente Grundvennutung (des zeitlichen Fortbestandes früherer Vennögenswerte) nicht gewährleistet, daß alle zu den Gesamteinnahmen des Staates auf der Grundlage einer Leistungsfähigkeit beitragen, die zur Zeit des Inkrafttretens des betreffenden Steuergesetzes noch existiert. Die Verfassungswidrigkeit ergibt sich zudem daraus, daß der Steuerpflichtige gezwungen ist, sein Verhalten nicht nur an bereits geltenden Gesetzen, sondern auch an zukünftigen Gesetzen auszurichten, so daß die Position des Bürgers als Untertan verstärkt wird und zu einer regelrechten Rechtsunsicherheit führt. Die Berücksichtigung der Person hat sicher ihren Preis. Dies ist ein Beispiel

dafiir. Allerdings darf nicht vergessen werden, daß die Person der wahre Sou-

verän der Italienischen Republik ist97 •

96 Anmerkung Bozza: Im Falle absoluter Vennutungen ist im Gegensatz zu den relativen Vennutungen der Gegenbeweis des Steuerpflichtigen nicht zulässig. 97 Ähnliche (aber nicht identische) Probleme ergeben sich im Falle der Vorschriften, die eine im Verhältnis zur Verwirklichung des Steuertatbestandes vorgezogene Steuerzahlung bestinunen (z.B. Einkommensteuervorauszahlung, Einkommensteuerabzug an der Quelle, Erbschaftsteuerpflicht des Erben, obwohl er die Erbschaft noch nicht definitiv angenommen hat). Hierbei stellt der Gesetzgeber die Vennutung auf, daß eine noch nicht bestehende (oder gerade entstehende) Leistungstlihigkeit spater vorhanden sein wird. Das Verfassungsgericht hat sich 1967 über verschiedene solcher Steuervorausleistungen ausgesprochen (Urt. v. 3.7.1967, Nr. 77; Urt. v. 12.7.1967, Nr. 103). Es hat dabei seine Entscheidungen auf das Argument der Rationalität der Vermutung gestützt (vgl. hierzu Tos; (Fn. 79), S. 358). Aber auch hier kann eine im Verhältnis zur Verwirklichung des Steuertatbestandes vorgezogene Steuerzahlung im konkreten Einzelfall zu Steuerzahlungen filhren, die nicht durch eine entsprechende Lei-

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V. Verfassungsrechtliche Begrenzung der Steuerlast Zuvor wurde eine Reihe von ernsthaften Problemen dargestellt, die mit der Besteuerung sowohl in fonneller als auch in materieller Hinsicht zusammenhängen und die durch eine korrekte Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips gelöst werden könnten, so daß eine gerechtere und billigenswertere Rechtsordnung entstehen würde. Es besteht jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt, dem in der Steuergerechtigkeit eine gewichtige Bedeutung zukommt: das Übermaß der Steuerlast. Es stellt sich die Frage, ob es verfassungsrechtliche Grenzen fiir die Bemessung der Steuerlast gibt. Meines Erachtens ergeben sie sich aus der Gesamtheit der Verfassungsnonnen, die die Privatwirtschaft und die Vennögensbildung schützen (Art. 41, 42, 47 Yen). Auch leiten sie sich aus dem Verständnis der Solidarität (Art. 2 und 53 Verf.) ab, das voraussetzt. daß die wirtschaftliche Quelle, die zur Befriedigung des Kollektivinteresses beiträgt, in ihrem Bestand nicht geflUlrdet ist. Schließlich ergeben sich die verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuerbelastung aus der verfassungsrechtlich verankerten "Progressivität" (Art. 53 Abs. 2 Verf.), die als programmatische Regelung zu verstehen ist und sich auf das gesamte "Steuersystem" und nicht nur jede einzelne Steuer bezieht (vgl. Verfassungsgericht, Urt. v. 4.5.1995, Nr. 143 und Urt. v. 24.1.1996, Nr. 21). Der Begriff "auf der Grundlage" der Leistungsfähigkeit muß also im Lichte auch der anderen Verfassungsnonnen ausgelegt werden, die nicht nur die Vennögensbildung und die

stlmgsfllhigkeit gerechtfertigt ist (die spätere Steuererstattlmg beseitigt nicht den zuvor begangenen Verstoß). Ohne an dieser Stelle auf nähere Einzelheiten dieser Problematik eingehen zu wollen, scheint es mir, daß zur Venneidung der Verfassungswidrigkeit zwnindest einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden sollten: z.B. die vorsichtige und zurückhaltende Bemessung der Vorausleistlmg (hieran mangelt es heute bei der Einkommensteuervorauszahlung und kann es mangeln beim Einkommensteuerabzug an der Quelle), und auf jeden Fall eine Befreiung von der Vorauszahlungspflicht, wenn die Vorauszahlung im Einzelfall vennutlich die tatsächliche Steuerschuld übersteigt. ht dieses Verständnis rugt sich die Einkommensteuervorauszahlung (Art. 2 Abs. 2 und 3 des Gesetzes v. 23.3.1977, Nr. 97) und auch die umsatzsteuergesetzliche Regelung der Übertragung von Wirtschaftsgtltern auf Exporteure (Art. 8 Abs. 2 des Präsidialdekrets v. 26.10.1972, Nr. 633). Zu diesem Themenkreis, mit besonderem Bezug zur Umsatzsteuer, vgl. Europäischer Gerichtshof, Urt. v. 20.10.1993, C-10/92, Fall Balocchi, in: Bollettino Tributario 1993, S. 1648. Der Europäische Gerichtshof hat darin letztlich festgestellt, daß der Steuerpflichtige von der Vorauszahlungspflicht zu befreien ist, wenn ,,nach seiner Einschätzung" die Vorauszahlung höher ist als die zum Jahresende resultierende Steuerschuld. Der ,,gute Glaube" mUßte dann einem Bußgeld entgegenstehen. Bezüglich der Steuervorauszahlung bei der Erbschaftsteuer s. Gaffuri, L'imposta sulle successioni e donazioni, Padua 1993, S. 92 ff.; ders., Successioni e donazioni, Imposta sulle, in: Digesto delle discipline privatistiche - Sezione commerciale, Bd. 15, Turin 1998, S. 303 ff; Ghinassi, Imposte di registro e di successione, profili soggettivi e profili costituzionali, Mailand 1996, S. 83 ff.

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Privatwirtschaft garantieren98 , sondern damit auch Kollektivinteressen fördern. Deshalb bedeutet die Hinderung der natürlichen Entwicklung der Privatwirtschaft durch das Steuer-Instrumentarium auch eine Schwächung deren solidarischer Wirkungsmöglichkeiten und damit eine Schwächung der Ziele des Kollektivinteresses. Unter dieser Prämisse kann auf das italienische Rechtssystem das übertragen werden, was das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden hat (und auf das auch Klaus Tipke hingewiesen hat)99: Hiernach verletzt ein Steuersystem, das dem Steuerpflichtigen mehr als 50 % seiner Erträge entzieht, die Verfassung. Die Verfassung, die Kollektivinteressen verfolgt und deshalb auch private Ersparnisse, Privateigentum und die Wirtschaftsfreiheit beeinträchtigt, muß nicht nur den Vorrang der Privatwirtschaft gegenüber der Staatswirtschaft sichern, sondern auch die natürliche Entwicklung der freien Initiative und Vermögensbildung gewährleisten (statt diese zu erniedrigen oder zu unterdrücken).

VI. Der Steuer"beitrag" als Beitrag zu den "Gesamteinnahmen des Staates" zur Verwendung im allgemeinen öffentlichen Interesse Eine weitere Beschränkung nicht nur der Steuerlast, sondern der Steuerpflicht im allgemeinen ist in dem Bezug des Art. 53 auf "die Gesamteinnahmen des Staates" zu sehen. Man kann sagen, daß "Gesamteinnahmen des Staates" alle Einnahmen des Staates sind, die er zur Deckung aller staatlich verursachten Ausgaben benötigt. Meines Erachtens sind diese Ausgaben auch materiell zu verstehen, also als Ausgaben im öffentlichen Interesse. Dies ergibt sich aus den Verfassungsmaterialien und der Ähnlichkeit der Solidaritätspflicht nach Art. 53 und der nach Art. 4 Abs. 2 Verf. In beiden Fällen wird die Fähigkeit des Einzelnen in den Dienste jenes öffentlichen Ziels gestellt, das in Art. 4 als "materieller oder geistiger Fortschritt der Gesellschaft" definiert wird. Deshalb besteht keine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, wenn 98 Art. 41, 42, 47 Verf. Das Verfassungsgericht hat sich im Urteil v. 9.4.1997, Nr. III mit der enteignenden und das Leistungsflihigkeitsprinzip verletzenden Wirkung der Steuern, die auf dem Immobiliarvennögen lasten, beschäftigt (zu diesem Themenkreis s.a. Falsina, L'lsi, l'Ici e la capacitA virtuale, in: Rivista di diritto tributario 1997 n S. 350 f). Dabei hat das Verfassungsgericht die Auslegung des Art. 53 an Art. 42 (Schutz des Privateigentwns) und 47 Verf. (Schutz der Vennögensbildung und Förderung des Wohnungseigentwns) ausgerichtet. Zur Verbindung zwischen Art. 53 und den Vorschriften zum Schutze der Privatwirtschaft vgl. Gaffuri (Fn. 56), S. 94 ff. 99 Tipke hat hierauf in seinem Beitrag zu diesem Kongreß hingewiesen, ebenso in: La capacitA contributiva come metro di giustizia tributaria, in: il Fisco 1996, S. 7204 ff., 7211. Zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts s. a. Bozza, Rispetto dei principio di eguaglianza e limite massimo dell'imposizione in recenti pronunce della Corte Costituzionale tedesca relativa alla tassazione patrimoniale, in: Rivista di diritto tributario 1998 I, S. 421 ff.

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Francesco Moschetti (Nadya Bozza)

die Steuennittel nicht fiir "den materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft" eingesetzt werden, sondern im Interesse Einzelner oder bestimmter Personengruppen, die sich in der Gesellschaft behaupten oder aufdrängen. Eine nicht "öffentliche" Verwendung der Staatseinnahmen verletzt Art. 53 nicht weniger als wenn die Leistungsßlhigkeit von der Verpflichtung zur Solidarität ausgenommen wird.

va Art. S3 der italienischen Verfassung als möglicher Bezugspunkt für ein gerechtes europiisches Steuenystem

Aus dieser Darstellung ergibt sich, daß Art. 53 in erfreulicher Synthese eine Gesamtheit von Rechten und Pflichten in sich vereint, die sehr wohl einen Anhaltspunkt fiir die Harmonisierung eines gerechten Steuersystems in Europa bieten können. Im übrigen belebt er Art. 134 der Weimarer Reichsverfassung wieder und kehrt auch in der spanischen Verfassung wieder. Die Erfahrung mit der gegenwärtigen Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts ist ohne Zweifel noch heute enttäuschend. Die solidarische Prägung der Steuerpflicht, die Besteuerung auf der Grundlage der effektiven und eigenen Leistungsßlhigkeit der Person, die Bestimmung der Steuereinnahmen zu Ausgaben im Kollektivinteresse bilden Verfassungswerte. Die Stärke dieser Verfassungswerte bemißt sich nicht anband der Fähigkeit der Richter, diese je nach geschichtlichen und politischen Umständen anzuwenden, sondern vielmehr nach ihrer objektiven Güte und dem Willen der Bürger (und der Wissenschaftler), deren Anwendung zu fordern.

Der steuerrechtliche Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts· Von Livio Paladin

L Gleichheitssatz und Leistungsfihigkeitsprinzip Wer die italienische und die deutsche Verfassung vergleicht, könnte den Eindruck gewinnen, daß der italienische Steuergesetzgeber in seinem Gestaltungsspielraum stärker beschränkt ist als der deutsche und daß deshalb auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in der italienischen Rechtsordnung rigoroser sei als die der deutschen. Im deutschen Grundgesetz von 1949 findet sich keine Vorschrift, die sich spezifisch auf das Verhältnis zwischen Fiskus und Steuerpflichtigem bezieht, so daß das Verfassungsgericht in diesem Bereich lediglich den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz heranziehen kann. In Italien hingegen (wie auch in Spanien)! fUgt sich dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz die spezifische Bestimmung des Art. 53 Abs. 1 hinzu. Hiernach müssen "alle auf der Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen". Aus diesem Prinzip leiten die italienischen Steuerrechtler - wie MoschettP es ausdrückt - "das fundamentale Gerechtigkeitskriterium bei der Schaffung und Aufteilung der Steuern" ab. Mit anderen Worten geht die italienische Literatur davon aus, daß Art. 53 Abs. 1 eine "selbständige Bedeutung neben dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz" hat. Geht man von der Richtigkeit dieser Prämisse aus, sollte daraus eigentlich eine besonders strenge und penetrante Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Steuergesetze durch das italienische Verfassungsgericht folgen. • Übersetzwlg und Kommentienmg: Rechtsanwältin Nadya Bozza, wiss. Mitarbeiterin, Köln. I Art. 31 Abs. I der spanischen Verfassung von 1978 bestimmt, daß "alle auf der Grundlage ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen"; er gebietet außerdem "ein gerechtes Steuersystem, das sich an dem Gleichheitsgrundsatz und der Progressivität orientiert und das auf keinen Fall konfiskatorischer Natur sein darf' (nach der Übersetzung in: Costituzioni straniere contemporanee, I, Mailand, 1994, S. 381). 2 Moschetti, in: MoschettiJLorenzonlSchiavolinffosi, La capacitä contributiva, Padua 1993, S. 6 ff.

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Livio Paladin (Nadya Bozza)

Der Unterschied zwischen der italienischen und der deutschen Rechtsordnung ist faktisch jedoch auf den unterschiedlichen Wortlaut der Verfassung beschränkt. Die verfassungsgerichtliche Einwirkung auf die Steuergesetze ist in Italien in ihrem Ausmaß sicherlich nicht höher als in Deutschland. Das italienische Verfassungsgericht hat Art. 53 Abs. I mehrfach angewandt, auch Aber die gerichtlichen Definitionen der Leiunabhängig von Art. 3 Abs. stungsfähigkeit münden letztlich alle im Gleichheitssatz. Im Urteil Nr. 120 von 19724 wird ausgefiihrt. daß "das Prinzip aus Art. 53 Abs. I ... als Spezifizierung des allgemeinen Gleichheitssatzes auszulegen ist, so daß gleiche Sachverhalte auf gleiche Weise zu besteuern sind und umgekehrt ungleiche Sachverhalte steuerrechtlich auch ungleich zu behandeln sind"s. Ähnliche Überlegungen ergeben sich auch schon aus den GJÜDden des Urteils Nr. ISS von 1963 6 • Sie werden zum Beispiel auch in den Urteilen Nr. 178 aus 19867,

e.

3 Anmerkung Bozza: Art. 3 Abs. 1 der italienischen Verfassung lautet übersetzt wie folgt: ,,Alle Bürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind gleich vor dem Gesetz, ohne Differenzierung nach Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion, politischer Meinung, persönlichen und gesellschaftlichen Umstanden." 4 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 12011972 befaßt sich mit der Frage, ob die Regelung der Registersteuer (Imposta di registro) insofern verfassungsmäßig ist, als sie bestimmt, daß die Parteien eines Zivilstreitverfahrens Gesamtschuldner der Steuer sind. hn Ergebnis hat das Verfassungsgericht dies verneint. In den Entscheidungsgründen ftlhrt das Verfassungsgericht als Prämisse aus, daß das Leistungstlihigkeitsprinzip nach Art. 53 Abs. I der Verfassung als eine besondere Ausfonnung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu verstehen ist: Somit müssen gleiche Sachverhalte gleich besteuert und ungleiche Sachverhalte ungleich besteuert werden. Dabei müsse die Besteuerung an Indikatoren der Leistungstlihigkeit anknüpfen. Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, daß eine Steuer nicht nur den konkret leistungstlihigen Steuerpflichtigen erfasse, sondern darüber hinaus als Gesamtschuldner auch solche Subjekte, die den von der Steuer erfaßten Indikator der Leistungstlihigkeit nicht selbst aufweisen. In diesen Fällen muß die steuerliche Erfassung jedoch durch ein wirtschaftlich-juristisches Verhältnis zwischen den Gesamtschuldnern, das zu einer Vereinheitlichung des Sachverhalts ftlhrt, gerechtfertigt sein. Daraus folgt, daß die Registersteuer insoweit verfassungswidrig ist, als sie bestimmt, daß die Parteien des Zivilstreitverfahrens Gesamtschuldner sind. Denn es ist nicht gewährleistet, daß zwischen den Parteien ein wirtschaftlichjuristisches Verhältnis besteht (bspw. wenn Klagegrund ein Vertrag ist, der nicht zustande gekommen ist). 5 Sowohl das Urteil Nr. 120 von 1972 als auch das Urteil Nr. 200 von 1976 stützen sich allein auf Art. 53 Abs. 1 als Prüfungskriterium und betonen "die Notwendigkeit, daß jede Steuererhebung ihren Rechtfertigungsgrund in Indikatoren haben muß, die auf Vennögenswerte hinweisen". Diese Auffassung beruht - wie La Rosa erkennt (La Rosa, Le agevolazioni tributarie, in: Trattato di diritto tributario, Padua 1994, Bd. I, S. 419) - auf einer "substantiell qualifiZierten Gleichheit". 6 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 155/1963 beschäftigt sich mit der Frage, ob die Zusatzsteuer E.C.A. verfassungsmäßig ist. Diese 1961 mit dem Gesetz Nr. 1346 eingeftlhrte, aber bereits wieder abgeschaffte Zusatzsteuer wurde zusätzlich zu bestimmten, im Gesetz angegebenen Steuern erhoben, Z.B. der Steuer auf Gesellschaften, der Steuer auf das Einkommen aus Grundstücken, aus Gebäuden, beweglichen Vermö-

Der steuerrechtliche Gleichheitssatz

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Nr. 400 aus 19878 und Nr. 73 aus 19969 aufgegriffen (denn das Verfassungsgericht wiederholt, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip aus der Steuergleichheit abzuleiten ist). genswerten. Vereinfachend läßt sich feststellen, daß die Zusatzsteuer ab 1961 zu entrichten war und zwar unabhängig davon, auf welches Jahr die Hauptsteuer entfiel. Entscheidend war lediglich, daß die Hauptsteuer erst 1961 oder später durch Erlaß eines Titels vollstreckbar war. Das Verfassungsgericht hat diese Zusatzsteuer teilweise ftlr verfassungswidrig erklärt. In den EntscheidungsgrUnden hebt es hervor, daß die betroffenen Einkünfte bei gleicher Höhe in gleichem Maße mit der Zusatzsteuer belastet werden müssen, da anderenfalls die Besteuerung nach der Leistungsfllhigkeit nicht mehr gewährleistet ist. Das Leistungsfllhigkeitsprinzip sei dabei eine besondere Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes, da es auf das Gebot der gleichen Besteuerung gleicher Einkünfte hinausläuft. Die Verfassungswidrigkeit der Zusatzsteuer leitet sich aus der Verletzung der Art. 3 und 53 Abs. 1 ab, denn letztlich hänge es vom Zufall ab, welcher Steuerpflichtige erfaßt wird und welcher nicht. Der Steuerpflichtige, ftlr den der Titel ftlr die Hauptsteuer aus den Jahren vor 1961 erst 1961 erlassen wird, ist zusatzsteuerpflichtig, während derjenige, dessen Hauptsteuerpflicht (an die die E.C.A. anknüpft) ftlr die Jahre 1961 und früher schon vor 1961 in einem Titel festgestellt wurde, ftlr die Jahre vor 1961 keine Zusatzsteuer schulden. Diese Ungleichbehandlung beruhe nicht auf einer unterschiedlichen Leistungsfllhigkeit und ließe sich auch anders nicht rechtfertigen, so daß die Regelung insofern verfassungswidrig sei. 7 Anmerkung Bozza: In dem Urteil Nr. 178/1986 geht es um die steuerliche Behandlung von Abfmdungsleistungen des Staates an seine Bedienstete. Der hier angesprochene Teil des Urteils befaßt sich mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Art. 2 und 4 Abs. 1 und 4 des Gesetzes Nr. 48211985. Diese Vorschriften betreffen die Abfmdung, die der öffentlich Bedienstete nach Ausscheiden aus dem Dienst als Teil der Altersversorgung erhält. Die Beiträge hierfilr trägt zum Teil der Bedienstete und zum Teil der Dienstherr. Nach den genannten Nonnen sind diese Abfmdungs-Beiträge nicht von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer abzugsfllhig. Vergleichbare Beiträge der privatwirtschaftlichen Arbeitnehmer hingegen sind abzugsfllhig. Das Verfassungsgericht hat diese Regelung wegen Verletzung des Gleichheitssatzes und des Leistungsfllhigkeitsprinzips ftlr verfassungswidrig erklärt. Es legt das Leistungsfllhigkeitsprinzip als besonderen Gleichheitssatz dahingehend aus, daß gleiche Sachverhalte gleich besteuert und ungleiche Sachverhalte ungleich besteuert werden müssen. Der Gesetzgeber hätte die Abfmdungsbeiträge, die der öffentlich-rechtliche und der privatwirtschaftliche Arbeitnehmer selbst trägt, nicht unterschiedlich behandeln dürfen, da es insofern an sachlichen Differenzierungsgrllnden mangele. 8 Anmerkung Bozza: Die Entscheidung Nr. 40011987 beschäftigt sich mit dem italienischen Einkommensteuergesetz von 1958, das bis 1973 galt. Zu prüfen war die Frage der Verfassungsmäßigkeit der darin enthaltenen Regelung der Abfmdungsbeiträge der Angestellten im öffentlichen Dienst (vgl. Fn. 7). U.a. war zu klären, ob die Versagung der Abzugsfllhigkeit verfassungsmäßig ist. Das Gericht hat dies im Ergebnis verneint. Zu großen Teilen nimmt das Urteil Bezug auf die Entscheidung Nr. 17811986 (s. Fn. 7). Zu den Einzelheiten des Urteils wird verwiesen auf: Consiglio di Stato 1987 11 S. 1647 ff. 9 Anmerkung Bozza: Gegenstand des Urteils Nr. 7311993 ist die Sondersteuer auf Bankguthaben, die mit Wirkung nur ftlr das Jahr 1992 eingefi1hrt wurde. Die Steuer erfaßt alle Guthaben unabhängig davon, woher das Guthaben stammt (z.B. aus Kredit) oder wem es letztlich gehört. Steuerpflichtiger ist ganz fonnell der Konto-Inhaber. Der Steuersatz beträgt 6 Promille des Guthabens.

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Livio Paladin (Nadya Bozza)

Nicht nur zufiUlig hat Antonini im übrigen hervorgehoben, daß in den letzten Jahren in der Verfassungsrechtsprechung eine Verwässerung des Art. 53 Abs. 1 quantitativer und vielleicht auch qualitativer Art stattgefunden hatlO • In den vier Jahrzehnten der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung überwiegen die Begründungen auf der Grundlage der Verbindung von Art. 3 und 53: Innerhalb dieser Verbindung stehen die beiden Grundsätze in starker Wechselwirkung zueinander und sind oftmals gegenseitig austauschbar. Dies wird durch die stattgebenden Entscheidungen bestätigt, die in der Regel an das Leistungsfähigkeitsprinzip anknüpfen: Das Urteil Nr. 179 von 197611 zum BeiDas Verfassungsgericht hat diese Sondersteuer für verfassungsmäßig erklärt. Insbesondere verstoße sie nicht gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 der italienischen Verfassung. Die Fmge nach der steuerrechtlichen Gleichbehandlung stellt sich dabei u.a. unter dem Gesichtspunkt, daß der Gesetzgeber nicht nach der causa des Guthabens differenziert. Das Verfassungsgericht stellt fest, daß insofern auch das Leistungsflihigkeitsprinzip nach Art. 53 angesprochen ist, denn die Steuer könnte damit auch solche Guthaben erfassen, die keinen effektiven Vennögenswert des Konto-Inhabers darstellen (z.B. weil sie jemand anderes zustehen). Im Ergebnis lehnt das Verfassungsgericht eine Verletzung von Art. 3 und 53 jedoch ab, da die Steuer objektiv an Indikatoren der Leistungsflihigkeit anknüpft und es nicht unvernünftig erscheint, den Konto-Inhaber damit zu belasten. Auch sei es dem Gesetzgeber nicht möglich, in dieser Steuer auf die breite Anzahl und Vielfältigkeit der Ursachen des Bankguthabens Rücksicht zu nehmen. 10 Vgl. Antonini, Dovere tributario, interesse fiscale e diritti costituzionali, Mailand 1996, S. 329 ff. Antonini legt aber auch dar, daß das gesamte "verfassungsrechtliche Konflikttum im Steuerrecht in den letzten Jahren extrem gestiegen ist", s. Imposte patrimoniali, stmordinarie ed ordinarie, e concretizzazione deI principio di capacitä contributiva, in: Giurisprudenza costituzionale 1996, S. 190. 11 Anmerkung Bozza: Diesem Urteil vom 15.7.1976 liegt die Frage zugrunde, ob die Kumulierung der Ehegatteneinkünfte (cumulo dei redditi) verfassungsmäßig ist. Gemäß dieser 1973 eingeftlluten Kumulierung wurden die Einkünfte der Ehefrau denen des Ehemannes hinzugerechnet, denn dieser wurde in der Ehe als alleiniges passives Steuersubjekt anerkannt. Im Ergebnis hat das italienische Verfassungsgericht diese Regelung für verfassungswidrig erklärt. Zur Begründung wird angeftlhrt, daß dadurch, daß der Ehemann Steuersubjekt ist und die Ehefrau nicht, eine Ungleichbehandlung zwischen Mann und Frau stattfmdet, obwohl sie nicht als ungleich zu erachten sind, da beide die gleichen Rechte haben und den gleichen staatlichen Schutz genießen. Diese Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Auch stellt das Verfassungsgericht fest, daß die Regelung zu einer Diskriminierung der Familie ftlhrt, da das Gesamteinkommen der Ehegatten, das als ein einziges Einkommen des Ehemannes besteuert wird, wegen der ProgressivitAt der Einkommensteuer stArker belastet ist als im Falle eines bloß unehelichen Zusammenlebens. Desweiteren beleuchtet das Verfassungsgericht die Haushaltsbesteuerung auch unter dem Aspekt des Leistungsflihigkeitsprinzips. Dabei erwägt das Gericht, daß die Leistungsflihigkeit von Ehegatten durchaus höher sein kann als die von zwei ledigen Personen, da u.a. die allgemeinen Ausgaben reduziert sind. Jedoch greift dieser Gedanke nach Auffassung des Verfassungsgerichts nicht durch, weil die höhere Leistungsflihigkeit von Ehegatten im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit der Einzelfälle nicht bewiesen und auch nicht beweisbar ist. Ebensowenig sei es bewiesen und üblich, daß der Ehemann allein die Verfugungsbefugnis über das gemeinsame Einkommen hat. Das Verfassungsgericht geht vielmehr davon aus, daß das

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spiel, das die Kumulierung der Ehegatteneinkünfte (cumulo dei redditi/ 2 in der Einkommensteuer betri1ft, beharrt auf der Gleichheit aller Bürger und auf der juristischen Gleichheit der Ehegatten; das Urteil Nr. 42 von 198013 hingegen, das die Ilor14 insoweit für verfassungswidrig erklärt hat, als sie die selbständig Tätigen erfaßte, wird auf der Grundlage von Art. 3 und 53 begründet. Dabei werden in besonderer Weise die Gründe für die mangelnde Rechtfertigung der gesetzlichen Einteilung herauskristallisiert: Denn diese Einteilung ist darauf gerichtet, "die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit von denen aus unEinkommen der Ehegatten getrennt erzielt und auch getrennt gehalten wird oder aber durch die Eheleute gemeinsam verwaltet wird. 12 Anmerkung Bozza: s. Fn. 5. 13 Anmerkung Bozza: Diese Entscheidung vom 26.3.1980 befaßt sich mit der Ilor. I10r ist die Abkürzung ftI.r ,Jmposta loeale sui redditr'. Es handelt sich dabei um eine lokale Ertragsteuer. Sie ist eine Realsteuer, da sie den Steuerschuldner losgelöst von seinen persönlichen Verhältnissen belastet und lediglich an bestimmte Einkommensquellen anknüpft. Gemäß Artikel 115 Testo unieo delle imposte sui redditi (Gesetz ,,Einheitstext" - der Steuern auf das Einkommen), kurz TU/R, unterliegen der ilor insbesondere Einkünfte aus Kapitalvermögen, aus Gewerbebetrieb und sonstige Einkünfte. 1980 wurden auch noch die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erfaßt. Das Verfassungsgericht mußte entscheiden, ob die I10r insoweit verfassungswidrig ist, als sie die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit erfaßt, während Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit nicht ilor-pflichtig sind. Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht die Erfassung der Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit wegen Verletzung des Gleichheitssatzes und des Leistungsfähigkeitsprinzips ftI.r verfassungswidrig erklärt. Zur Begründung ftlhrt das Gericht aus, daß es keinen sachlichen Grund gibt, mit Blick auf die I1or-Pflicht zwischen Einkünften aus unselbständiger und selbständiger Tätigkeit - beides Einkünfte aus ,,Arbeit" - zu differenzieren. Dies umso mehr als die Ilor als eine Steuer geschaffen wurde, die von ihrer Ratio her Einkünfte erfassen sollte, die aus "Vermögen" und nicht aus persönlicher Arbeit stammen. Das Verfassungsgericht betont außerdem, daß die qualitative Differenzierung zwischen Einkunftsarten nicht schon dann zulässig ist, wenn die entsprechenden Produktionsquellen unterschiedlich sind, sondern erst dann, wenn zudem bei gleicher Einkunftshöhe eine unterschiedliche Leistungsfähigkeit vorliegt. Dieses Argument beruht auf dem italienischen Verständnis des Leistungsfähigkeitsprinzips. Hiernach ist steuerliche Leistungsfähigkeit die wirtschaftliche Verftlgbarkeit über fmanzielle oder vermögenswerte Mittel, die im Lichte der Verfassungswerte geeignet erscheint, Steuern abzufllhren. Bei gleich hohem Einkommen kann demnach aufgrund der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Bewertung der gleich hohen Zahlungskraft eine unterschiedliche Leistungsfähigkeit gegeben sein. Im Falle der Ilor ist das Verfassungsgericht der Auffassung, daß bei gleich hoher Bemessungsgrundlage die Einkünfte aus selbständiger und unselbständiger Tätigkeit eine gleich hohe Leistungsfähigkeit indizieren, so daß die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit nicht zusätzlich mit Ilor belastet werden dürfen, denn beide genießen als Einkünfte aus ,,Arbeit" den besonderen Schutz der italienischen Verfassung nach Art. 1 und 35. Unabhängig von diesem Urteil ist die I10r mit Wirkung ab dem 1.1.1998 durch die ,Jmposta regionale sulle attivita produnive" (Regionale Steuer auf produktive Tätigkeit), abgekürzt ,Jrap", ersetzt worden. 14 Anmerkung Bozza: s. Fn. 7.

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selbständiger Tätigkeit zu trennen, obwohl beide Einkünfte solche aus 'Arbeit' darstellen. Außerdem werden die Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit (Arbeit) zu Unrecht mit denen gleichgesetzt, die sich nicht durch den Einsatz persönlicher Arbeit auszeichnen"ls. In der Regel ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ein sehr weites Verständnis der Steuergleichheit entscheidend: Behauptet das Gericht, wie noch im Urteil Nr. 513 von 1990, daß "unterschiedliche Sachverhalte" eine "unterschiedliche steuerrechtliche Behandlung" erfordern, erschöpft sich das Gleichheitsgebot nicht mehr in dem Verbot willkürlicher Diskriminierungen, sondern es impliziert auch das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit als Besteuerungsmaßstab. Über diese juristischen Überlegungen hinaus ist zu bedenken, daß das Verfassungsgericht seine Entscheidungen fundierter begründen kann, wenn es nicht nur auf Art. 53, sondern auch auf Art. 3 abstellen kann. Beiden Vorschriften erscheint auf den ersten Blick die Notwendigkeit gemeinsam, bezüglich der angegriffenen Vorschriften auf das Vernünftigkeitsprinzip l6 und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückzugreifen. Jedoch darf man sich durch die Verwendung namensgleicher Konzepte im Zusammenhang mit Art. 3 und 53 nicht täuschen lassen. Definitionsgemäß variiert die Bedeutung der "Vernünftigkeit" in den Entscheidungen zum Gleichheitssatz je nach betreffender Norm, insbesondere im Falle von Steuergesetzen, in Bezug auf welche das Verfassungsgericht gewöhnlicherweise ein tertium comparationis sucht (dieser lateinische Ausdruck wird in den Urteilen der letzten Jahre immer wieder verwendet). Im Gegensatz dazu stellt sich die Lage in den Urteilen zur Leistungsfähigkeit völlig anders dar, geht man davon aus, daß Art. 53 Abs. 1 ein "verfassungsrechtliches Fundamentalprinzip steuerlicher Gerechtigkeit" ist, und zwar über die individuelle Vernünftigkeit bzw. Kohärenz des Systems hinaus l7 : Unter einer derartigen Prämisse müßte die Vernünftigkeit der Steuergesetze absolut gewertet werden und nicht mehr im Verhältnis zu anderen Regelungsbereichen, die ähnliche oder doch vergleichbare Sachverhalte betreffen. 15 Das Verfassungsgericht argumentiert diesbezüglich auf der Basis der ,,Kohärenz zwischen den verschiedenen Besteuerungsmöglichkeiten und der Ratio der Steuer" (so auch Marongiu, I fondamenti costituzionali dell' imposizione tributaria, Turin 1991, S. 129; ihm folgend De Mita, Interesse fiscale e tutela dei contribuente, Mailand 1995, S. 45, und Antonini (Fn. 10), S. 336-337); die Gründe dieses Urteils sind jedoch unumstößlich in die Art. 3 Abs. I und Art. 53 Abs. I eingebettet. 16 Anmerkung Bozza: Das "Vernünftigkeitsprinzip" (principio di ragionevolezza) ist ein sehr unbestimmtes prinzip, welches im Zusammenhang mit Gesetzen besagt, daß diese an dem Gleichheitsgrundsatz, der Unparteiigkeit und der Rationalität (vor allem der Zweck-Mittel-Relation) auszurichten sind. Insbesondere sollen hierdurch willkürliche und irrationale Entscheidungen vermieden werden. 17 s. Moschetti (Fn. 2), S. 7-8, und SchiavoIin, in: MoschettiILorenzoniSchiavolinlTosi, La capacitä contributiva, Padua 1993, S. 89-90.

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Das Vetfassungsgericht scheint indes diese Auffassung nicht zu teilen. Die Urteile, in denen darauf hingewiesen wird, daß jede Steuererhebung zu ihrer Rechtfertigung an Indikatoren anknüpfen muß, die konkret auf einen Vermögenswert schließen lassen, laufen schließlich - implizit oder auch explizitl8 auf Überlegungen hinaus, die die Kongruenz und die interne Vernünftigkeit der angegriffenen Normen in ihrem Verhältnis zu der sie umgebenden Rechtsordnung betrifft: Dies führt die Entscheidung über die Vetfassungsmäßigkeit einer Norm zurück zu einer Überprüfung der Gleichheit der Gesetze - wenn auch in weitem Sinne. Nicht nur zuflUlig vertritt Moschettil 9 die Ansicht, daß die Vetfassungsrechtsprechung Art. 53 Abs. 1 in Abweichung von den zuvor dargelegten Bedingungen auslegt. Marongiu 20 fUgt dem hinzu, daß in den meisten in diesem Zusammenhang betroffenen Entscheidungen die Bezugnahme auf die Leistungsfähigkeit "völlig pleonastisch" wirkt. Falsitta21 hingegen erhebt sogar ohne zu zögern den Vorwutf, daß mit einer ganzen Reihe von jüngeren Urteilen, dIe seit 1985 gefällt wurden, das allgemeine Leistungsfähigkeitsprinzip in seiner Bedeutung zerstört worden sei (denn das Vetfassungsgericht argumentiere im wesentlichen auf der Basis einer "objektiven Geeignetheit zur Steuerz.ahlung" und löse dabei die auf Zahlungskraft deutenden Kriterien von den die Steuerpflicht tragenden Steuersubjekten los). Hervorzuheben ist mit Gewißheit die starke Ehrerbietung des Vetfassungsgerichts gegenüber den gesetzgeberischen Entscheidungen (um die von den US-amerikanischen Vetfassungsrechtlern "liebgewonnene" Ausdruckweise zu verwenden), die aus den Entscheidungen über die Vetfassungsmäßigkeit der Steuergesetze nach Art. 53 Abs. 1 hervorgehe 2 . Stärker ist hingegen die Kontrolle der Wahrung der steuerrechtlichen Gleichbehandlung, insbesondere wenn das Vetfassungsgericht über ein entsprechendes tertium comparationis verfUgt, aus dem sich sowohl Gründe ableiten lassen, die zu prüfenden Vorschriften anzugreifen oder zu verteidigen, als auch Gründe, ein etwaiges stattgebendes Urteil mit ergänzender Auflage23 zu untermauern24 . Aber auch in

18 s. Urteil Nr. 400 von 1987, das die steuerrechtliche Behandlung von Abfmdungsleistungen betrim. Anmerkung Bozza: Zu diesem Urteil s. Fn. 8. 19 Moschetti (Fn. 2), S. 8 fT. 20 Marongiu, (Fn. 15), S. 128 (m.w.N.). 21 Falsitta, Per un fisco civile, Mailand 1996, S. 87. 22 Daß das Verfassungsgericht die Gefahr läuft, seine eigene Funktion aufzuheben, indem es sich konstant auf den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers beruft, wird unter anderem aufgezeigt von Lupi, Diritto tributario (parte generale), Mailand 1994, S.57-58. 23 Anmerkung Bozza: Durch den Ausdruck "stattgebendes Urteil mit ergänzender Auflage" wurde der italienische Begriff ,.sentenza di accoglimento additivo" übersetzt.

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diesem Sinne läßt sich sicher nicht behaupten, daß das Verfassungsgericht in diesem Bereich strenge oder besonders rigorose Entscheidungen fällt. In der letzten Zeit wird in den jährlichen Pressekonferenzen der Verfassungsgerichtspräsidenten - von Giovanni Conso bis Mauro Ferri - offen erkannt, daß die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts durch eine "bewußte contenance" mit einem hohen Respekt für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gekennzeichnet ist; außerdem wird erkannt. daß im einzelnen das Steuerrecht den Gegenstand eines traditionellen "self restraint" bildet2s • Im übrigen versäumt das Gericht auch nicht. dies selbst in seinen Urteilen zum Ausdruck zu bringen: Im Urteil Nr. 159 aus 1985 26 wird z.B. dargelegt. daß die Rügen ge-

Es handelt sich dabei um ein Urteil, das eine Nonn ftlr verfassungswidrig erklärt, weil diese inhaltlich nicht ausgereift und noch ergänzungsbedürftig ist. Allerdings bewirkt das Urteil nicht, daß die Nonn nicht mehr anwendbar ist. Vielmehr ergänzt das Verfassungsgericht selbst die Vorschrift um die mangelnden Bestimmungen, so daß die Verfassungswidrigkeit beseitigt ist und das Gesetz modifiziert anwendbar bleibt (z.B. kann das Verfassungsgericht im Falle einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung den Anwendungsbereich der betreffenden Vorschrift erweitern). 24 Zur notwendigen Geeignetheit des tertium comparationis hat sich das Verfassungsgericht mehrfach ausgesprochen: S. bspw. das Urteil Nr. 70 von 1984, das die nur mit Geldstrafe bedrohten Schmugglerei-Verbrechen betrim und das ausschließt, daß das Verfassungsgericht eine Manipulation des Gesetzes dahingehend vornehmen kann, daß das, was ftlr Verbrechen eine Ausnahme ist, zur Regel gemacht wird (Anmerkung Bozza: In der Regel sind Verbrechen in der italienischen Rechtsordnung nicht nur mit Geldstrafe, sondern auch mit Freiheitsstrafe bedroht; der Verfasser bringt zum Ausdruck, daß Ausnahmeregelungen sich nicht als tertium comparationis eignen). Ähnlich verhält es sich mit dem Urteil Nr. 272 aus 1994, das den Ausnahmecharakter der abgeltenden Quellensteuer hervorhebt und es deshalb ablehnt, diese als gültiges tertium comparationis anzunehmen, an dem die Verfassungsmäßigkeit anderer Regelungen gemessen werden könne. 2S La giustizia costituzionale nel 1990, in: Giurisprudenza costituzionale 1991, S. 958; La giustizia costituzionale nel 1995, in: Giurisprudenza costituzionale 1996, S. 554. 26 Anmerkung Bozza: Grundlage der Entscheidung Nr. 159/1985 ist die Verfassungsmäßigkeit der SOCOF unter verschiedenen Aspekten (im einzelnen s. Foro ltaliano 1985 S. 1578). SOCOF ist die Abkürzung ftlr sovraimposta comunafe suf reddito dei fabbricati, was übersetzt ,,kommunale Gebäudezusatzsteuer" bedeutet. Es handelt sich dabei um eine Zusatzsteuer, die die Gemeinden ftlr das Jahr 1983 auf ,,Einkünfte aus Gebäuden" im eigenen Gebiet erheben durften. ,,Einkünfte aus Gebäuden" sind dabei solche, die aus dem Eigentum an einem Gebäude oder Gebäudeteil, dem Nießbrauch oder anderen Realrechten eines Gebäudes oder eines Gebäudeteils herrühren. Der Steuersatz wurde von den Gemeinden festgelegt, durfte aber nur 8, 12, 16 oder 20 % betragen. Der hier angesprochene Teil des Urteils befaßt sich mit der Frage, ob die SOCOF deshalb verfassungswidrig ist, weil sie ausschließlich ,,Einkünfte aus Gebäuden" und nicht auch andere Einkunftsarten erfaßt. Dies könne eine ungerechtfertigte Diskrimi-

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gen die SOCOp7 die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Steuer über die dem Verfassungsgericht gesetzten Grenzen hinaus ausdehnt (das Verfassungsgericht könne lediglich unvernünftige oder willkürliche Gesetze aufheben); im Urteil Nr. 336 von 199228 wiederholt das Verfassungsgericht, daß es nicht zum Kompetenzbereich des Richters gehört, das Ausmaß und die Verhältnismäßigkeit der Steuerlast zu bewerten (vorbehaltlich des - ziemlich schulhaften - Falls der offenkundigen Unvernünftigkeit). In der Entscheidung Nr. 355 aus 199529 beharrt das Gericht weiterhin auf dem Kriterium der "offensichtlichen Willkür und Unvernünftigkeit"30.

nierung der Einkünfte aus Gebäuden darstellen. Auch berücksichtigt das Verfassungsgericht insofern die Überlegung, ob die Vorschriften den Regeln der Vernünftigkeit (s. Fn. 16) widersprechen, da Einkünfte aus Wohnungen, die keine Luxus-Wohnungen sie lediglich ein Freisind, nicht von der Besteuerung ausgenommen sind, sondern betrag i.H.v. 190.000 Lire gewährt wird. Ebenso könnte das Prinzip der Vernünftigkeit deshalb verletzt sein, weil die Zusatzsteuer besser und gleichmäßiger zur I/or (s. Fn. 13) hätte erhoben werden können. Im Ergebnis verwirft das Verfassungsgericht jedoch all diese Überlegungen. Zur Begründung filhrt es an, daß solche Überlegungen zur Angemessenheit der Steuer die Entscheidungskompetenz des Richters überschreiten. Das Gericht dürfe sich in den Gestaltungsfreiraum, der dem Steuergesetzgeber garantiert ist, nur dann einmischen, wenn er willkürliche oder unvernünftige Gesetze erläßt. Davon könne bei der SOCOF aber nicht die Rede sein. 27 Anmerkung Bozza: s. Fn. 26. 28 Anmerkung Bozza: Gegenstand des Urteils Nr. 336/1992 ist die Registersteuer. Die italienische Registersteuer erfaßt alle Erklärungen und Handlungen des Steuerpflichtigen, die Rechtswirkung entfalten. Im wesentlichen sind damit in erster Linie schriftliche ,,Erklärungen" jeglicher Natur (rechtsgeschäftlich, verwaltungsrechtlich, gerichtlich), aber auch bestimmte mündliche Verträge Gegenstand dieser Steuer. Gegenstand des genannten Urteils war insbesondere die Verfassungsmäßigkeit dieser Steuer insoweit, als sie Darlehensverträge erfaßt und dabei auf den Nominalwert des Darlehens (ohne Zinsen) abstellt, statt den effektiven Wert, den ein gewährtes Darlehen hat, zu berücksichtigen (so ist z.B. ein Darlehen, das einem insolventen Darlehensnehmer gewährt wird, der schließlich Konkurs anmeldet, nicht so viel wert, wie ein Darlehen an einen liquiden Darlehensnehmer). Das Verfassungsgericht hat verfassungswidrig erklärt. Zur Begründung filhrt es an, daß diese Regelung nicht sich die Grundlage der Registersteuer ex ante bemessen lassen muß und Umstände, die sich grundsätzlich erst nach der Entstehung der Steuerschuld ergeben, außer Betracht die Leistungsfllhigkeit sei der Vermögenswert, der zu bleiben haben. Maßgeblich dem Darlehensnehmer aufgrund des Vertrages zufließe. Daneben weist das Verfassungsgericht aber auch darauf hin, daß es zudem gar nicht in seiner Kompetenz steht, über das Ausmaß und die Verhältnismäßigkeit einer Steuerlast zu urteilen. Es dürfe die Steuerbelastung nur auf Willkür oder "Unvernünftigkeit" überprüfen.

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Beispiele aus der Rechtsprechung

Andererseits sind viele Problemkreise, die die Steuerrechtler im Lichte des Leistungsfähigkeitsprinzips betrachten, auch geeignet, auf der Grundlage des Gleichheitssatzes geprüft zu werden. Es handelt sich hierbei insbesondere um die ungerechtfertigten Steuervergünstigungen, die nach Schiavolin schon im Widerspruch zu den ersten Worten des Art. 53 Abs. 1 stehen, wonach "alle zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen müssen ... ,,3). In Wirklichkeit werden solche Themenkreise gewöhnlicherweise auf der Grundlage anderer mehr oder weniger spezifischer Verfassungskriterien angegangen. Im Falle der durch die sizilianischen Regionalgesetze gewährten Steuervergünstigungen - mit denen sich seinerzeit La Rosa beschäftigte - tritt sogar Art. 17 der entsprechenden Sonderregelung ins Spiel, der die "besonderen Bedingungen" oder "besonderen Interessen" dieser Region behandelt32 • Bei den verschiedenen Vergünstigungen durch die staatlichen Gesetze geht die Suche nach den unentbehrlichen Rechtfertigungsgrunden nie über die gewöhnlichen Schemata der Gleichbehandlung hinaus: Immer wieder wird - wie auch La Rosa bemerkt - eine "Ausnahme von dem Prinzip der Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung" als tertium comparationis in Ermangelung eines näherliegenden Bezugspunktes herangezogen. Beispielhaft ist in diesem Sinne das Urteil Nr. 289 aus 199433 , in dem

29 Anmerkung Bozza: Der Beschluß Nr. 355/1995 befaßt sich mit dem Gesetz Nr. 438 vom 14.11.1992. Hiermit wurde eine Sondersteuer eingeftlhrt, die ftIr das Jahr 1992 auf alle Krafträder mit mehr als 6 PS erhoben wurde. GeI1lgt wurde die Diskriminierung im Verhältnis zu anderen Motor-Vehikeln (so entfiel Z.B. aufMotoryachten mit entsprechender PS-Zahl keine Zusatzsteuerpflicht). Das Verfassungsgericht hat die Sondersteuer als verfassungsmäßig angesehen. Es weist dabei darauf hin, daß es zum Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers gehört, die Indikatoren der Leistungsfllhigkeit zu bestimmen, an die er die Steuerpflicht knüpft. Auch stehe es nur diesem zu, das Ausmaß der Steuerlast festzulegen. Das Verfassungsgericht dürfe erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber offensichtlich willkürliche oder unvernünftige Steuergesetze erläßt. Dies sei bei der Zusatzsteuer nach dem Gesetz Nr. 438/1992 jedoch nicht der Fall. 30 s. a. Urteil Nr. 14 aus 1995, in dem vertreten wird, daß die Bestimmung der Kriterien, die konkret auf Vermögenswerte hindeuten und an die die Besteuerung anknüpfen kann, in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Billt. 3) Vgl. Schiavolin (Fn. 17), S. 69-70. 32 La Rosa, Eguaglianza tributaria ed esenzioni fiscali, Mailand 1968; ders., I rapporti finanziari tra Stato e Regione siciliana, in: Le regioni 1978 S. 272 fT. 33 Anmerkung Bozza: Dem Urteil Nr. 289/1994 liegt folgende Rechtslage zugrunde: Nach Art. 2 Abs. 6-bis des Gesetzes Nr. 154/1989 wurden Renten, die aufgrund Bei-

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das Verfassungsgericht eine gesetzlich vorgesehene Vergünstigung zugunsten der lebenslänglichen Versorgungsrenten für aus dem Dienst ausgeschiedene Parlamentarier für nichtig erklärt hat. Obwohl sich das Verfassungsgericht als Gericht a quo auf die gewohnte Verbindung der Art. 3 und 53 Abs. I gestützt hat, betont es in seinen Entscheidungsgründen, daß kein vernünftiger Rechtfertigungsgrund dafür besteht, die Versorgungsrente eines Parlamentariers a.D. mit der Rente eines normalen Bürgers, der hierfür Beiträge geleistet hat, gleichzusetzen. Damit stützt sich diese Argumentation auf die in diesem Zusammenhang willkürliche Gleichstellung durch den Gesetzgeber (und damit auch auf die daraus resultierende ungerechte Privilegierung gewisser Personen gegenüber der Masse der italienischen Steuerpflichtigen). Unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, ebenso wie der Leistungsfähigkeit, erklären sich auch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu den absoluten Steuervennutungen34 . Es ist in erster Linie der Gleichheitsgrundsatz, der der Besteuerung fiktiver Sachverhalte entgegensteht; dies erkannte auch der Verfassungsgerichts-Präsident Casavola als er 1992 die Verfassungsjustiz erneuerte35 • Der unabdingbare Gleichheitssatz würde - selbst in Ennangelung eines Leistungsfähigkeitsprinzips - ausreichen, um Steuern abzuwehren, die auf völlig unkontrollierbaren Grundlagen gestützt sind, die sozusagen keinen im voraus absehbaren Anwendungsbereich haben. So lautete jedenfalls die Begründung des Urteils Nr. 103 aus 19ge6 , das die kommunale

tragsleistungen des Rentners erworben werden, sowie auch lebenslängliche Versorgungsrenten für aus dem Dienst ausgeschiedene Parlamentarier steuerlich begünstigt, indem lediglich 60 % der Rente in der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer berücksichtigt werden. Im Ergebnis erklärt das Verfassungsgericht diese Regelung wegen Verletzung der Art. 3 (Gleichheitssatz) und 53 I (Leistungsfllhigkeitsprinzip) für verfassungswidrig. In den Entscheidungsgründen geht das Verfassungsgericht jedoch kawn auf das Leistungsfllhigkeitsprinzip ein, sondern begründet vielmehr ausfilhrlich, daß es sich bei den beiden Rententypen nicht wn gleiche Sachverhalte handelt (z.B. wegen ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen und Modalitäten). Folglich liege eine Gleichbehandlung von Ungleichem vor. Zu weiteren Einzelheiten s. Giustizia civile 1994, S. 2400. 34 Anmerkung Bozza: Es handelt sich dabei wn Steuerschätzungen, die nicht durch den Gegenbeweis des Steuerpflichtigen entkräftet werden können. 35 Vgl. La giustizia costituzionale ne11992, in: Giurisprudenza costituzionale 1993, S. 655; aber s.a. De Mita (Fn. 15), S. 201 (,,Nur der Gegenbeweis kann sicherstellen, daß die Erhebung der Steuer auf keinen Fall von der sie verfassungsrechtlich rechtfertigenden Voraussetzung gelöst wird"). 36 Anmerkung Bozza: In seinem Urteil Nr. 103/1991 mußte sich das italienische Verfassungsgericht mit der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der ,,kommunalen Steuer auf unternehmerische, künstlerische und freiberufliche Tätigkeit" (/mposta comunale per I'esercizio di imprese, arti e professioni, kurz lciap) beschäftigen. 6 TIpke/Bozza

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Steuer auf die Ausübung von unternehmerischer, freiberuflicher und künstlerischer Tätigkeie7 teilweise für verfassungswidrig erklärte: Obgleich das Verfassungsgericht seine Entscheidung maßgeblich auf Art. 53 stützt, betont es die Notwendigkeit, daß "die steuerrechtlichen Vennutungen ... auf irgendeine Weise an konkrete Anhaltspunkte für Einkommen anknüpfen müssen, auch wenn diese nicht einfach feststellbar sind". Und die Willkürlichkeit, die sich im gegenteiligen Fall ergeben würde, läßt sich mit der eines Verstosses gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vergleichen. Im übrigen wird dies eindeutig durch das Urteil Nr. 431 von 198738 bestätigt. Hierin stützt sich das Verfassungsgericht nur auf Art. 3, um die Regelung für verfassungswidrig zu erklären, wonach für selbständig Tätige zur Bekämpfung der SteuerhinterzieDie Bestimmung der iciap-pflichtigen Gewerbe, Künste und freien Berufe richtet sich nach dem italienischen Umsatzsteuergesetz (Iva). Grundlage ft1r die Bemessung der Iciap ist die Fläche der zur Ausübung der Tätigkeit genutzten Räwnlichkeiten und die Art der ausgeübten Tätigkeit (d.h. die pro Quadratmeter entfallende Steuer variiert je nach Tätigkeit). Wird eine von dieser Steuer erfaßte Tätigkeit nicht in einer Räwnlichkeit ausgeübt, so wird eine minimale Grundfläche in Höhe von 25 qm gesetzlich fmgiert. Das Verfassungsgericht hat die Iciap teilweise ft1r verfassungswidrig erklärt: Es sei mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip auf jeden Fall unvereinbar, diese Steuer auf der Grundlage der Quadratmeter eines Geschäftslokals zu erheben, ohne dem Steuerpflichtigen zumindest die Möglichkeit einzuräwnen, den Gegenbeweis seiner tatsächlichen Wirtschaftskraft zu erbringen. Denn Anhaltspunkte, die auf Vermögenswerte (Leistungsfähigkeit) schließen lassen, dürfen nur insoweit als Grundlage einer Steuer herangezogen werden, als sie irgendwie mit der tatsächlichen Leistungsfähigkeit verbunden bleiben. So könne der Gesetzgeber die Steuerpflicht grundsätzlich zwar an die Geschäftslokalfläche knüpfen, jedoch müsse gewährt sein, daß die Steuer auch tatsächliche und nicht nur fiktive Leistungsfähigkeit erfaßt. Die Grundlage der Steuer dürfe nicht willkürlich gewählt erscheinen. Damit war der Teil der Iciap unwirksam, der es dem Steuerpflichtigen nicht gestattete, den Gegenbeweis seiner tatsächlichen Wirtschaftskraft zu erbringen. Unabhängig von diesem Urteil wurde diese Steuer vollständig mit Wirkung ab dem 1.1.1998 abgeschaffi und durch die Imposta regionale sulle attivita produttive (= ,,Regionale Steuer aufProduktionstätigkeiten", eine lokale Wertschöpfungssteuer) ersetzt. 37 Anmerkung Bozza: s. Fn. 36. 38 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr.4311l987 betriffi keine Steuer im technischen Sinne, sondern die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. Zu prüfen hatte das Verfassungsgericht insbesondere Art. 31 Abs. 10 des Gesetzes Nr. 87 vom 11.3.1983. Hiernach bemißt sich die Höhe der Beiträge grundsätzlich nach festgelegten Beitragssätzen, die auf das steuerbare Einkommen des Steuerpflichtigen anzuwenden sind. Für selbständig Tätige besteht jedoch die Sonderregelung, daß ihr jährlicher Beitrag mindestens 648.000 Lire betragen muß - unabhängig vom Einkommen. Das Verfassungsgericht erklärt diese Regelung insoweit ft1r verfassungswidrig, als sie keinen Gegenbeweis des Steuerpflichtigen zuläßt und der Steuerpflichtige somit nicht einwenden kann, sein Einkommen liege unter dieser Bemessungsgrenze. Das Verfassungsgericht betont, daß auf diese Weise die Beitragspflicht in besagter Höhe selbst dann besteht, wenn der Beitragspflichtige überhaupt kein Einkommen erzielt hat. Damit ennögliche die Beitragsregelung verfassungswidrigerweise die Erfassung fiktiven Einkommens.

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hung ein Steuenninimum in Höhe von mindestens 648.000 Lire unterstellt wurde, und zwar unabhängig vom effektiven Einkommen. Der Gegenbeweis war dabei unzulässig. Die Begründung der Verfassungswidrigkeit dieser Regelung, insbesondere des Ausschlusses des Gegenbeweises, beruht auf der Steuergleichheit im Sinne eines Maßstabs, der keineswegs geringwertiger als die Leistungsfllhigkeit ist. Eine derartige Schlußfolgerung erscheint sogar unabdingbar, wenn das Verfassungsgericht angerufen wird, um Regelungen aus dem Bereich des Steuerprozeßrechts zu überprüfen und fiir verfassungswidrig zu erklären, die ohne sachlichen Grund diskriminierende Wirkung entfalten. Unabhängig davon, ob zu Recht oder Unrecht, mißt das Verfassungsgericht die Steuerverfahrensgesetze nicht so wie die materiellen Gesetze am Prinzip der Leistungsfähigkeie9 . Allerdings werden die entsprechenden Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit immer auf der Grundlage der Art. 3 und 24 der Verfassung gelöst, also auf der Grundlage der Rechtsweggarantie40, sowie des allgemeinen Gleichheitssatzes. Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes ist die Beurteilung der Steuerverfahrensgesetze jedoch sehr viel strenger als im Falle der materiellen Steuergesetze. An dieser Stelle sei lediglich auf das Urteil Nr. 5 aus 1983 41 hingewiesen42 , durch das die Ungleichbehandlung zwischen demjenigen, der wegen einer allgemeinen Straftat angeklagt ist und demjenigen, 39 F1lr die Annahme, daß "das Leistungsfähigkeitsprinzip nur materiellrechtliche Steuervorschriften und nicht auch prozessuale Normen betrim", s. bspw. den Beschluß Nr. 108 aus 1990. 40 Anmerkung Bozza: Art. 24 (soweit hier betroffen) lautet wörtlich übersetzt: ,,(1) Allen steht der Rechtsweg offen, um die eigenen Rechte und rechtmäßigen Interessen zu schützen. (2) Die Verteidigung ist ein unantastbares Recht in jedem Verfahrensstadium und in jeder Instanz. (3) ... " 41 Anmerkung Bozza: Dem Urteil Nr. 511993 liegt folgende Rechtslage zugrunde: Art. 50 Abs. I des Präsidialdekrets Nr. 633/1973 stellte die Hinterziehung der Umsatzsteuer in Höhe von mindestens 100.000.000 Lire pro Kalendeljahr unter Strafe. Art. 56 des Präsidialdekrets Nr. 60011973 sah vor, daß diese Steuerstraftat jedoch erst nach bestandskräftiger Feststellung der hinterzogenen Umsatzsteuer geahndet werden konnte. Dabei war der Strafrichter an die Feststellungen der Finanzbehörden oder -gerichte gebunden. Solch eine Bindungswirkung bestand sonst filr keine andere Straftat. Das Verfassungsgericht hat diese Regelung wegen Verletzung des Gleichheitssatzes nach Art. 3 der italienischen Verfassung filr verfassungswidrig erklärt: Unterschiedliche Straftat-Arten seien kein sachlicher Differenzierungsgrund. Dabei stellt das Verfassungsgericht als Vergleichsmaßstab aber nicht nur auf allgemeine Straftaten, sondern auch auf andere Steuerstraftaten ab, filr die keine Bindungswirkung bestand. Auch stehe diese Regelung nicht im Einklang mit dem Vernünftigkeitsprinzip (hierzu s. Fn. 16). 42 Das Urteil Nr. 5 wurde von Corso befilrwortet, s. Definitiva illegittimitA della pregiudiziale tributaria "sostanziale", in: Giurisprudenza costituzionale 1993, S. 22 ff.

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der wegen einer Steuerstraftat angeklagt ist, fiir verfassungswidrig erklärt wurde. Dabei bestand die Ungleichbehandlung darin, daß bei den Steuerstraftaten die bestandskräftig festgestellte Steuer fiir den Strafrichter bindend war, während er bei anderen Straftaten völlig ungebunden war (und so ist das Urteil auch nur auf der Grundlage des Art. 3 und nicht auch auf dem nicht angesprochenen Art. 2443 begründet). In diesem Zusammenhang ist auch das Urteil Nr. 56 aus 1995 44 zu nennen, das das Verwaltungsverfahren als Sachurteilsvoraussetzung der Klage auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuern aufgehoben hat. Auch ist das Urteil Nr. 318 aus 1995 45 zu nennen, durch das das VerfasAnmerkung Bozza: s. Fn. 40. Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 56/1995 betriffi die durch decreto legislativo Nr. 853/1984 eingeftlhrte "tassa annuale di concessione govemativa per I 'iscrizione nel registro delle imprese" (= ,jährlicher Beitrag auf die staatliche Bewilligung der Eintragung in das Unternehmensregister"). Dieser Beitrag knüpft an die Eintragung der Gesellschaften in das Unternehmensregister an und ist nicht nur im Jahr der Eintragung, sondern jedes Jahr zu entrichten. Die Höhe des Beitrags variiert je nach Gesellschaftsart. Das Urteil befaßt sich mit der Regelung dieses Beitrags insoweit, als ftIr die Klage auf Erstattung zuviel gezahlter Beiträge ein vorgeschaltetes und fristgebundenes Verwaltungsverfahren unentbehrliche Sachurteilsvoraussetzung ist (Art. 11, 12 des Prasidialdekrets Nr. 641/1972; dieser Dekret enthält Verfahrensrecht zu Beiträgen auf staatlichen Bewilligungsakten und berücksichtigt bereits den Beitrag auf die Unternehmensregistereintragung, obwohl er noch gesetzlich wngesetzt werden mußte). Anzumerken ist, daß in Italien das Vorverfahren bzw. Einspruchsverfahren nicht generell Klagevoraussetzung ist (in der Regel steht der Gerichtsweg urunittelbar offen). Das Verfassungsgericht erkennt, daß der Beitrag als solcher gegen EG-Recht verstößt, dies sich jedoch insofern nicht auswirkt, als auch die Rückerstattung EG-rechtswidriger Abgaben von einem verwaltungsrechtlichen Vorverfahren abhängig gemacht werden darf. Im Ergebnis erklärt das Verfassungsgericht das Erfordernis des Verwaltungsverfahrens wegen Verletzung der Art. 3 (Gleichheitssatz) und 24 (Rechtsweggarantie, vgl. Fn. 40) ftIr verfassungswidrig. Es verweist auf seine gefestigte Rechtsprechung, daß das Erfordernis eines verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung ftIr ein Klageverfahren nur dann rechtmäßig ist, wenn es durch Bedürfuisse der Allgemeinheit oder durch höherrangige Gerechtigkeitsinteressen gerechtfertigt ist, wobei der Gesetzgeber immer gehalten ist, unter mehreren möglichen Maßnahmen die mildeste zu wählen. Bezüglich des Erfordernisses des Vorverfahrens nach Art. 12 Präsidialdekret Nr. 641/1972 stellt das Verfassungsgericht fest, daß es keinen sachlichen Grund daftlr gibt, hierdurch die Rechte aus Art. 24 einzuschränken. Denn bei der Forderung auf Rückerstattung des zu Unrecht gezahlten Beitra,gs handele es sich nicht wn eine steuertechnisch schwierige Frage, die der erneuten Überprüfung der Finanzverwaltung bedarf. In diesem Zusammenhang verweist das Verfassungsgericht auch auf seine Entscheidungen, in denen er entsprechende Vorschriften ftIr die Stempel- und die Vergnügungssteuer bereits ftIr verfassungswidrig erklärt hat. 45 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 318/1995 betriffi die Aussetzung der Vollziehung der Gebühren des vom Staat unabhängigen Wasserwerkes (in Apulien). Insbesondere liegt ihm folgende Rechtslage zugrunde: Nach Art. 1 des Gesetzes Nr. 3233/1928 erfolgt die Vollziehung der Wasserwerk-Gebühren entsprechend der Vorschriften, die ftIr den Vollzug der direkten Steuern gelten (Präsidialdekret Nr. 602/1973). Der Vollzug der direkten Steuern beginnt mit Eintragung der Steuerschuld in ein entsprechendes Register (sog. ruolo esanoriale), wodurch deren Vollziehbarkeit 43

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sungsgericht die Regelung für verfassungswidrig erklärt hat, wonach die Finanzverwaltung für die Entscheidung über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zuständig ist und diese nicht von einem Richter überprüft werden kann46• Das insoweit einzige wesentliche Gegenbeispiel zu dieser Rechtsprechung scheint meines Erachtens das Urteil Nr. 63 aus 198247 zu sein. In diebegründet wird. Eine richterliche Überprüfung der (vorläufigen) Vollziehbarkeit war noch zur Zeit der Urteilsfällung 1995 allgemein WlZUlässig (diese wurde erst danach eingefilhrt). Allerdings wird ,,zwn Ausgleich" die Steuerschuld bei Klageerhebung automatisch vorläufig um feste Prozentsätze reduziert, wobei der Steuerpflichtige von Instanz zu Instanz einen immer größeren Anteil der streitigen Steuerschuld vorläufig erftlllen muß. Das Wasserwerk bedient sich mithin, obwohl es nicht staatlich ist, der Vollzugsmechanismen staatlicher Abgaben. Daraus folgt, daß die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung der entsprechenden Gebühren gerichtlich nicht überprüfbar ist. Allerdings gilt fUr diese nicht die graduelle vorläufige Steuerzahlung wie im Falle der direkten Steuern, da sich der Verweis des Art. I Gesetz Nr. 3233/1928 hierauf nicht bezieht. Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht die mangelnde gerichtliche Überprüfbarkeit der Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung der WasserwerkGebühren fUr verfassungswidrig erklärt. Zwar erfordere die Garantie des Rechtsschutzes des Bürgers nach Art. 24 (s. Fn. 40) und Art. 113 (Garantie des Rechtsschutzes gegen Verwaltungsakte) der Verfassung die Überprüfung der vorläufigen Vollstreckbarkeit nicht, da der Bürger auch durch die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben ausreichend geschützt sei. Jedoch seien im vorliegenden Fall gleichwohl die Art. 3, 24 und 113 verletzt. Dies ergebe sich aus der Ungleichbehandlung zwischen Wasserwerk und anderen vergleichbaren nicht staatlichen Werken (z.B. Strom- und Gaswerke), fUr die die richterliche Überprüfung der Aussetzung der Vollziehung nicht präkludiert ist. Diese Einschränkung der Rechtsweggarantie ist auch nicht durch höherrangige Interessen der Allgemeinheit, z.B. der Sicherung des staatlichen Steuerertrags, gerechtfertigt, da es sich bei den Gebühren des privaten Wasserwerkes nicht um ,,Abgaben" im technischen Sinne handele. Die Diskriminierung der Vollziehung der Gebühren werde zudem noch dadurch verstärkt, daß selbst im Vergleich zu der mit ihr gleichgesetzten Vollziehung der direkten Steuern Unterschiede bestehen, da diese bei Klageerhebung automatisch vorläufig reduziert werden. 46 s. auch die Urteile Nr. 560/1989, Nr. 404/1991 und Nr. 415/1996. Zum Urteil Nr. 318/1995 s. die Anmerkung von La Rosa, Vecchi problemi e nuove soluzioni in tema di sospensione dei ruolo esattoriale, in: Giurisprudenza costituzionale 1995, S. 3736 tT. 47 Anmerkung Bozza: Im Urteil Nr. 63/1982 beschäftigt sich das Verfassungsgericht mit der Frage, ob Art. 39 Abs. I des Prasidialdekrets Nr. 602 vom 29.9.1973 verfassungswidrig ist. Hiernach steht die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung direkter Steuern ausschließlich der Finanzverwaltung zu und ist gerichtlich nicht überprüfbar (vgl. dazu Fn. 45). Es ist anzumerken, daß gleichwohl die Rechtsmitteleinlegung des Steuerpflichtigen nicht unberücksichtigt bleibt, da der Steuerpflichtige mit Rechtsmitteleinlegung nur einen Anteil der Steuerschuld vorläufig erftlllen muß. Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Norm bestätigt. Insbesondere sei nicht Art. 24 der Verfassung (Rechtsweggarantie, s. Fn. 40) verletzt. Denn Art. 24 garantiere die Eröffuung des Rechtsweges vor dem Richter, nicht aber die einzelnen Modalitäten des Rechtsschutzes, so daß das Verfahrensrecht durchaus unterschiedliche Verfahrenswege festlegen kann, um unterschiedlichen Sachverhalten Rechnung zu tragen. Das Verfassungsgericht stellt in diesem Zusammenhang fest, daß die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht notwendigerweise zu dem Bedürfuis

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sem Urteil hat das Verfassungsgericht die Vorschrift fiir verfassungsmäßig erklärt, nach der die Entscheidungskompetenz fiir die Aussetzung der Vollziehung einer Steuerschuld nur der Finanzbehörde zusteht und richterlich nicht überprüfbar ist. Das Verfassungsgericht vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen sich nicht gegen den Verwaltungsakt, sondern gegen die Tatbestandsmerkmale der Steuerschuld richte, und daß deshalb die Finanzrechtsprechung keine Rechtsprechung sei, die zu "aufhebenden Entscheidungen" filhre. Diese Sichtweise erscheint mir heute jedoch höchst formalistisch und ist sehr wahrscheinlich durch ein unterschwelliges Mißtrauen gegen die Finanzgerichte motiviert48 . In der italienischen Rechtsordnung zieht das Verfassungsgericht den Gleichheitssatz desweiteren auch als Prüfungsmaßstab fiir die Verfassungsmäßigkeit von rückwirkenden Gesetzen heran. In der deutschen Rechtsordnung beurteilt das Verfassungsgericht die Rechtmäßigkeit solcher Gesetze hingegen auf der Grundlage des Rechtssicherheitsprinzips, das aus Art. 28 Grundgesetz, also dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird. Aber auch die deutsche Verfassungsrechtsprechung greift bisweilen auf den Gleichheitssatz zurück, um - wie Tipke 49 es ausdrückt - "ein Steuerrecht zu fördern, das nicht nach richterlichem Rechtsschutz i.S.d. Art. 24 gehört. Denn würde überhaupt kein vorläufiger Rechtsschutz gewährt, wäre dadurch nicht die Rechtsweggarantie des Steuerpflichtigen verletzt, da ihm in der Sache selbst (z.B. Streit über Steuerschuld) der Rechtsschutz nicht verwehrt sei und ihm die zu Unrecht geleistete Steuer verzinst erstattet werden müsse. Das Verfassungsgericht hebt hervor, daß effektiver Rechtsschutz nach Art. 24 nicht zwangsweise die zeitliche Vorziehung der richterlichen Entscheidung bedeutet, sondern lediglich die effektive Umsetzung eines rechtlichen Begehrens, das richterlich bestätigt wurde. Das Verfassungsgericht widmet sich auch der Überlegung, daß die Finanzrechtsprechung eine Rechtsprechung ist, die Verwaltungsakte aufhebt, und die infolge dessen möglicherweise als ,,minus" auch die Befugnis zur Aufschiebung der Wirkungen des VAs umfassen müsse. Das Gericht verwirft diesen Gedanken jedoch: Die Steuerschuld sei eine Schuld ex lege und entstehe nicht erst durch Erlaß eines VAs. Der VA stelle lediglich ein Vollstreckungserfordernis dar. Somit richte sich das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen nur formell gegen den VA, während es materiell gegen Merkmale des Steuertatbestandes, also gegen die Steuerschuld als solche gerichtet sei. Damit sei die Finanzrechtsprechung eine Rechtsprechung, die das Bestehen oder Nichtbestehen eines Steuerverhältnisses bestätigt, und die nicht ein Steuerverhältnis in dem hier verstandenen Sinne aufhebt. Da das Finanzgericht folglich lediglich die Rechtmaßigkeit eines Steuerverhältnisses prüfe, also die Wirksamkeit des VAs nur mittelbar untersuche, leite sich hieraus auch nicht die richterliche Befugnis zur Aussetzung der Vollziehung ab. 48 Vgl. die kritische Anmerkung zum Urteil Nr. 63/1982 von Proto P;san;, In tema di significato costituzionale della tutela cautelare e di potere di sospensione dei giudici tributari, in: Foro Italiano 1982 I, S. 1216 ff. 49 Vgl. Tipke, La retroattivita nel diritto tributario, in: Trattato di diritto tributario, Padua 1994, Bd. I, S. 439; s. auch Tos;, in: MoschettilLorenzonlSchiavolinffosi, La capacitA contributiva, Padua 1993, S. 134 ff. (Tos; erinnert daran, daß das Urteil Nr. 5411980 die Beurteilung des rückwirkenden Steuergesetzes auf der Grundlage des Art.

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zu 'Verhaltensstrategien' aufmuntert, sondern das Vertrauen des Steuerpflichtigen schützt". In der italienischen Rechtsordnung fUhrt jedoch das Erfordernis, daß die Vorlagebeschlüsse der Finanzgerichte und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts auf bestimmte Artikel der Verfassung als Prüfungsmaßstab Bezug nehmen müssen, dazu, daß diese sich meistens auf Art. 3 Abs. 1 stützen. Hiermit wird im wesentlichen die Ungleichbehandlung begründet, die sich aus der sachlich nicht gerechtfertigten Abweichung vom allgemeinen Verbot rückwirkender Gesetze ergibt (dies wird ganz besonders in den Fällen der stark rückwirkenden Gesetze deutlich, durch die das Kriterium "tempus regit actum" umgangen oder bereits abgeschlossene Sachverhalte geändert werden sollen). Wenngleich sachlich rückwirkende Steuergesetze neben dem Gleichheitssatz auch unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips50 untersucht werden können, ändert dies nichts daran, daß letztlich die verfassungsgerichtliche Prüfung in der Sache stets auf die gleichen Überlegungen hinausläuft: Das Verfassungsgericht stützt sich immer wieder auf das Prinzip der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, um auf diese Weise nach einem sachlichen Grund zur Rechtfertigung des rückwirkenden Gesetzes zu suchen. Insofern hat die unterschiedliche Wahl der zur Prüfung herangezogenen Verfassungsnorm keine relevanten Auswirkungen. Weiterhin könnte sich Art. 3 sogar zu einem allgegenwärtigen Grundsatz entwickeln, wenn alle Prinzipien, die von ihm (wenn auch z.T. nur im Ansatz) umfaßt oder aus ihm abgeleitet werden, vom Verfassungsgericht voll ausgeschöpft würden. Man denke z.B. nur an die vom Verfassungsgericht (und den vorlegenden Vorinstanzen) mehrfach vorgebrachte Überlegung, daß Art. 3 Abs. 1 das Prinzip der Vernünftigkeit51 der Gesetze beinhaltet, da dieses sich aus dem Gleichheitssatz ableitet. Wenn diese Erwägungen richtig wären, dann würde der Gleichheitssatz auch vollständig das Leistungsfähigkeitsprinzip erfassen und hätte einen noch viel weiteren Anwendungsbereich. Tatsächlich ist es jedoch so, daß der Unterschied zwischen "Unvernünftigkeit" und "Ungleichbehandlung" eher verbaler als sachlicher Natur ist. Dies umso mehr, wenn man dem Gleichheitssatz eine zweifache Bedeutung beimißt: nämlich zum einen das Verbot der willkürlichen Gleichbehandlung ungleicher Sach-

53 Abs. I der VerfassWlg (Anmerkung Bozza: des LeistWlgsfllhigkeitsprinzips) als ,,logische Vorprüfimg" sieht). 50 Z.B. stützt sich das VerfassWlgsgericht in Urteil Nr. 44/1966 fonnell auf Art. 53 Abs. 1 (Anmerkung Bozza: das LeistWlgsfllhigkeitsprinzip), wn die Steuer auf die WertsteigefWlg von Bauland insofern filr verfasSWlgswidrig zu erldllren, als sie auch GrWldstücksveräußefWlgen vor Inkrafttreten des Gesetzes erfaßt. 51 Anmerkung Bozza: s. Fn. 16.

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verhalte und zum anderen das der willkürlichen Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte52 . Schließlich ist noch daran zu denken, daß Art. 3 auch einen zweiten Absatz53 enthält. Dieser beinhaltet das Gebot der sachlichen Gleichheit und legt der Republik die Aufgabe auf, "alle Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen", die der Freiheit und Gleichheit der Bürger "effektiv" entgegenstehen. Es ist offensichtlich, daß letztendlich die Problematik des Existenzminimums, die gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Leistungsfllhigkeit behandelt wird, sich auch dazu eignen würde, im Lichte des Art. 3 Abs. 2 untersucht zu werden. Dies wird durch das Urteil Nr. 97 aus 196854 bestätigt, das sich auf das ,,Fundamentalprinzip der sachlichen Gleich52 s. u.a. das Urteil Nr. 495/1993. Ein weiterer Fall, der die Verletzung des Vernünftigkeitsprinzips als solches zwn Gegenstand hat, kOnnte dem Urteil des Verfassungsgerichts Nr. 233/1993 gesehen werden (mit Anmerkung von Zanon, Valore deI titolo della legge per la determinazione dell'intentio legilatoris e controllo di razionalim, in: Giurisprudenza costituzionale 1993, S. 2946 tT.). 53 Anmerkung Bozza: Art. 3 Abs. 2 der italienischen Verfassung lautet übersetzt: ,,Die Republik hat die Aufgabe, sämtliche Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die der Freiheit und der Gleichheit der Bürger effektiv entgegenstehen und die damit die volle Entwicklung des Menschen und die effektive Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation des Staates hindern." 54 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 97/1968 betriffi verschiedene Normen der "ergänZenden progressiven Steuer auf das Gesamteinkommen" (Imposta complementare progressiva sul reddito complessivo). Diese Steuer war Bestandteil des Testo unico delle leggi sulle imposte dirette von 1958 (= "Gesetzbuch der direkten Steuern", eingeft1hrt durch Präsidialdekret Nr. 645 vom 29.1.1958) und wurde neben der "Steuer auf das Einkommen aus Grundstücken und das landwirtschaftliche Einkommen" (Imposta sul reddito dei terreni ed agrario) und der "Steuer auf das Einkommen aus Gebäuden" (Imposto sul reddito dei fabbricati) erhoben, die ebenfalls im Testo unico kodifiziert waren. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ist Art. 130 des Testo unico, der bestimmt, daß Einkünfte, die ZUZüglich der gesetzlich vorgesehenen Freibeträge nach Art. 138 im Jahr nicht mehr als 960.000 Lire betragen, von der Steuer befreit sind. Nach Art. 139 Abs. 2 darf die Steuerschuld nie hOher als die Differenz zwischen dem Gesamteinkommen und dem Betrag i.H.v. 960.000 Lire sein, damit dem Steuerpflichtigen jedenfalls ein verfilgbares Einkommen von 960.000 Lire verbleibt. Das Verfassungsgericht hat diese Regelung im Ergebnis als verfassungsmäßig bestAtigt. Insbesondere sei nicht Art. 53 Abs. 1 der Verfassung (Leistungsfähigkeitsprinzip) verletzt. Zwar müssen nach Art. 53 Abs. I "alle zu den Gesamteinnahmen des Staates beitragen" (Wortlaut der Verfassung), so daß insofern die Steuerbefreiung geringer Einkommen verfassungswidrig erscheinen kOnnte. Die Pflicht zwn ,,Beitrag zu den Gesamteinnahmen des Staates" besteht allerdings nur auf der Grundlage der leistungsfähigkeit. Dies bedeutet, daß sie entfltllt, wenn der Steuerpflichtige keine Leistungsfähigkeit aufweist. Das Verfassungsgericht verweist auf seine gefestigte Rechtsprechung, daß die Leistungsfähigkeit die Voraussetzung einer rechtmäßigen Steuer ist und nur dann zwn Maßstab ftlr die Bemessung des Ausmasses der Besteuerung wird, wenn überhaupt Leistungsfähigkeit vorhanden ist. Damit sei die Steuerbefreiung des Einkommens, das 960.000 Lire nicht überschreitet, mangels entsprechender Leistungs-

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heit" stützt, "an dem sich der Gesetzgeber auch beim Erlaß von Steuergesetzen orientieren muß". Mit dieser Überlegung bestätigte das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Steuerbefreiungen zugunsten Steuerpflichtiger, die lediglich über ein Minimaleinkommen verfiigen. Und selbst Moschetti, der sich so sehr fiir die Erheblichkeit des Art. 53 Abs. 1 der Verfassung stark macht, bestätigt dies, indem er feststellt, daß Art. 255 , 3 Abs. 2 und 3656 zur Lösung derartiger Problemstellungen beitragen57 • Es ist allerdings klarzustellen, daß sich das Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung (fast) nie des sachlichen Gleichheitssatzes bedient hat, um Gesetze fiir verfassungswidrig zu erklären, die gegen diese Verfassungswerte verstoßen58 • Es hat den sachlichen flIhigkeit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ood sogar geboten. Das Verfassoogsgericht zeigt an. daß die Regeloog des Art. 130 darüber hinaus auch durch das Foodamentalprinzip der sachlichen Gleichheit nach Art. 3 Abs. 2 der Verfassoog (s. Fn. 53) gerechtfertigt ood geboten ist. Denn der Staat kann ood muß die sachliche Gleichheit aller Bürger auch durch Steuergesetze t()rdern: Dies geschehe bspw. durch den progressiven Steuersatz, der zu einer starkeren Belastung der Höherverdienenden führt, ood durch die Steuerbefreioog sehr niedriger Einkommen, damit den Geringverdienenden nicht die Wlentbehrlichen Mittel zur Befriedigoog grlIDdlegender Bedttrfnisse genommen werden. Aus diesen Überlegoogen folge auch. daß die Steuerbefreioog nicht allen Steuerpflichtigen ood nicht als Abzug einer festen Größe zu gewähren ist. Wesentlich ist nach der Verfassung allein, daß in keinem Fall dem Steuerpflichtigen weniger als 960.000 Lire seines Einkommens verbleiben dürfen, daß ihm also sein Einkommen in Höhe des Existenzminimums erhalten bleibt. Schließlich hat sich das Verfassoogsgericht auch mit Art. 138 befaßt. Diese Nonn bestimmt, daß jedem Steuerpflichtigen ooabhängig von seinem Einkommen eine 'Steuerbetragsermäßigoog i.H.v. 240.000 Lire zuzüglich einer weiteren i.H.v. 50.000 Lire ft1r jedes von ihm ooterhaltene Familenmitglied gewährt wird. Die verfassungsrechtlichen Zweifel ergeben sich daraus, daß diese Ennäßigoogen derart gering sind, daß ihnen letztlich nur noch symbolischer Wert zukommt. hn Ergebnis wurde allerdings auch diese Nonn als verfassungsmäßig bestätigt. Denn nach Auffassung des Verfassungsgerichts handele es sich um eine Steuerbegünstigoog, die ooabhängig vom Existenzminimum gewährt wird, da sie allen Steuerpflichtigen gewährt wird, ood zwar nach Bestimmoog des steuerbaren Einkommens. Das insoweit erhebliche Gleichheitsgebot sei gewahrt. Hinsichtlich der Höhe dieser Steuerbegtlnstigoog stellt das Verfassungsgericht fest, daß deren Bestimmoog in den Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers fllllt, in den es nicht eingreifen darf 55 Anmerkung Bozza: Art. 2 der Verfassoog lautet: ,,Die Republik anerkennt ood garantiert die ooantastbaren Rechte des Menschen, sowohl für den einzelnen als auch ft1r gesellschaftliche Vereinigoogen, wo der Mensch seine Persönlichkeit auslebt. Sie fordert die Erftllloog der Pflichten zur politischen, wirtschaft'ichen ood gesellschaftlichen Solidarität." 56 Anmerkung Bozza: Art. 36 der Verfassung lautet übersetzt wie folgt: ,,Der Arbeiter hat das Recht auf eine Entlohnoog, die im Verhältnis zur Quantität ood Qualität seiner Arbeit steht ood die auf jeden Fall ausreichen muß, ihm ood seiner Familie eine freie ood würdige Existenz zu sichern." 57 Vgl. Moschett; (Fn. 2), S. 36. 58 Zumindest nach der Auslegoog von Espos;to, Considerazioni sulla morte dei "solve et repete", in: Giurisprudenza costituzionale 1961, S. 144 bildet hierzu eventu-

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Gleichheitssatz nur zur Anwendung gebracht, um die Abweichungen vom Grundsatz der formellen Gleichbehandlung zu verteidigen, die von dem Erfordernis geleitet waren, die wirtschaftlich und sozial schwächeren Steuerpflichtigen zu schützen. Solche Überlegungen sind jedoch nur zur Rechtfertigung von Lenkungssteuern geeignet, bei denen der Fiskalzweck ein Sekundärzweck ist59; zur Untermauerung einer bereits begründeten Entscheidung der Verfassungsmäßigkeit einer Fiskalzwecknorm sind sie weniger in Betracht zu ziehen.

m. Kritik an der Rechtsprechung Kommen wir nun aber zum Ausgangspunkt zurück: Obwohl in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sehr häufig auf den Gleichheitssatz zurückgegriffen wird, kann man nicht sagen, daß dies dazu beigetragen hat, die unzähligen Verzerrungen des italienischen Steuerrechts systematisch und grundlegend zu beseitigen. Man denke zum Beispiel nur an die rückwirkenden Gesetze. Falsitta hat hervorgehoben, daß das italienische Verfassungsgericht viel weniger streng als das deutsche ist60• Denn das italienische Gericht beschränke sich darauf, lediglich solche Gesetze fiir verfassungswidrig zu erklären, die zeitlich zu weit zurückliegen (wie z.B. im Falle des Urteils Nr. 44 aus 196661 zur Steuer auf die Wertsteigerung von Bauland), während es Gesetze, eil eine teilweise Ausnahme das Urteil Nr. 2111961, das Art. 6 Abs. 2 der Anlage E des Gesetzes Nr. 2248 vom 20.3.1865 ftlr verfassWlgswidrig erldärt hat. 59 Vgl. Lejeune Varcarel, L'eguaglianza, in: Trattato di diritto tributario, Padua 1994, Bd. I, S. 396. 60 Anmerkung Bozza: Nach der RechtsprechWlg des italienischen VerfassWlgsgerichts ist ein rüclcwirkendes Gesetz verfassWlgswidrig, wenn es ,,zeitlich zu weit zurückwirkt". Dabei gibt es keine genau festgelegte zeitliche Grenze; jedenfalls ist eine RückwirkWlg von 10 Jahren zu viel. Hintergrund dieser VoraussetzWlg ist die Überlegwtg, daß die Steuer immer an LeistWlgsfilhigkeit anknüpfen muß Wld daß nur in den Fällen, in denen der erfaßte Sachverhalt noch nicht zu weit zurtlcldiegt, eine VermutWlg daftlr spricht, daß die LeistWlgsfilhigkeit des Steuerpflichtigen noch vorhanden ist. Deshalb wird im Rahmen der UntersuchWlg des Ausmasses der zeitlichen RückwirkWlg immer auch geprüft, ob zu vermuten ist, daß der Indikator der LeistWlgsfilhigkeit, an den das Gesetz anknüpft, noch gegeben ist. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, ob das Gesetz vorhersehbar war. Denn wenn das Gesetz vorhersehbar war, spricht nach Ansicht des VerfassWlgsgerichts einiges daftlr, daß der Steuerpflichtige mit der früheren LeistWlgsfilhigkeit eine Art ,,Rücldage" (im Wltechnischen Sinne) gebildet hat, um die Steuerschuld zu begleichen, so daß die LeistWlgsfilhigkeit bei Inkrafttreten des Gesetzes noch vorhanden ist. Allerdings scheint nach AUtTasSWlg des VerfasSWlgsgerichts fast alles vorhersehbar zu sein. Die "Großzügigkeit", mit der das VerfasSWlgSgericht rückwirkende Gesetze behandelt, wird dadurch belegt, daß es kaum ein Urteil gibt, das ein rückwirkendes Gesetz ftlr verfassWlgswidrig erldärt hat. 61 Anmerkung Bozza: Das Urteil Nr. 44/1966 betrim die Steuer auf die WertsteigeTWlg von Bauland (eingefiUut mit Gesetz Nr. 246/1963), die mit Verkauf eines solchen

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deren Rückwirkung lediglich einen kurzen Zeitraum betrifft. generell bestätigt (zum Beispiel im Urteil Nr. 315 aus 199462 ). Zudem hat Falsitta das Verfassungsgericht mit scharfen Worten beschuldigt, die Vorhersehbarkeit rückwirkender Steueränderungen durch den Steuerpflichtigen zu überdehnen. Dies habe zur Folge, daß Leistungsfähigkeit, über die der Steuerpflichtige effektiv im Vertrauen auf das Fortbestehen der Rechtslage disponieren konnte und disponiert hat, nachträglich steuerlich erfaßt werden könne63 . Die Unzulänglichkeit der verfassungsgerichtlichen Abhilfe findet ihre Ursache in viel allgemeineren und tiefergreifenden Gründen, die das Verfassungsgericht bisweilen sogar selbst angesprochen oder betont hat. In allererster Linie ist insoweit der beklagenswerte Zustand des italienischen Steuerrechts hervorzuheben, das in seiner Gesamterscheinung nicht einheitlich, sondern bruchstückhaft ist. Die Kasuistik der Gesetze nährt das Bedürfnis nach einer wahren "steuerlichen Kodifikation"; denn sie steht schon von Natur aus der Formulierung und Beachtung allgemeingültiger Prinzipien und Kriterien entgegen und wurde von De Mita bereits kurz nach Inkrafttreten des "Testo unico sulle imposte dirette,,64 beklagt65. Auch bringt die Gesetzeskasuistik den höchst unsystematischen Charakter der italienischen Steuerrechtsordnung zum Grundstücks entsteht. U.a. bestimmte Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes, daß die Gemeinden festlegen dürfen, in Bezug auf welchen Zeitpunkt vor Inkrafttreten des Gesetzes die Wertsteigerung bemessen wird und ab welchem Zeitpunkt VerAußerungen in der Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes nachträglich erfaßt werden. Dabei durften die Gemeinden bis zu zehn Jahre zurückgreifen. Diese rückwirkende Regelung hat das Verfassungsgericht wegen Verletzung des Leistungsfllhigkeitsprinzips nach Art. 53 Abs. I ftlr verfassungswidrig erklärt: Eine zeitliche Rückwirkung von zehn Jahren reiche zu weit in die Vergangenheit zurück. Sie knüpfe an längst abgeschlossene Sachverhalte an, ohne daß eine Vermutung daftlr gegeben sei, daß der Indikator der Leistungsfllhigkeit von damals (Erzielung eines VerkaufserIöses) noch heute bestehe. Dies umso mehr, als die Veräußerung bei einer Rückwirkung von zehn Jahren so weit zurückliege, daß der Steuerpflichtige die Steuer nicht vorhersehen und somit nicht den Erlös gezielt zu Besteuerungszwecken aufbewahren konnte und mußte. 62 Anmerkung Bozza: Gegenstand des Urteils Nr. 315/1994 ist Art. II Abs. 9 des Gesetzes Nr. 413 vom 30.12.1991, das zur Erweiterung der "sonstigen Einkünfte" des Einkommensteuergesetzes führte. Dabei sollten die neu erfaßten Vorgänge besteuert werden, soweit sie nach dem 31.12.1988 stattgefunden haben. Diese Rückwirkung von drei Jahren hat das Verfassungsgericht als verfassungsmäßig gebilligt. Zur Begründung stellt es im wesentlichen darauf ab, daß eine Verbindung zur Leistungsfllhigkeit noch besteht, insbesondere weil die Regelungen vorhersehbar waren. 63 Falsitta (Fn. 21), S. 69. 64 Anmerkung Bozza: Es handelt sich dabei um den sog. ,,Einheitstext der direkten Steuern" oder ,,Einheitstext der Steuern auf das Einkommen", der mit Gesetzesdekret (decreto legislativo) Nr. 917 vom 22.12.1986 mit Wirkung zum 1.1.1988 eingeführt wurde. Er enthAlt das Einkommen- und das Körperschaftsteuergesetz. Bis vor kurzem enthielt er auch die Vorschriften der Ilor (s. Fn. 13), die mit Wirkung zum 1.1.1998 abgeschaffi wurde. 65 Vgl. De Mita (Fn. 10), S. XVI, 25 ff., 141.

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Ausdruck, was auch schon mehrfach sogar vom Verfassungsgericht erkannt wurde. So findet sich in der jüngeren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mehrfach die Auffassung wieder, daß diese Rechtsordnung auf einer Art "Prinzip der Plurisystematik" basiert und daß es schwer sei, hieraus ein "allgemeingültiges Modell" abzuleiten, innerhalb dessen der Gleichheitssatz angewendet werden könnte; auch stellt das Verfassungsgericht fest, daß es oft unmöglich ist, bei den unterschiedlichen Sachverhalten "Grundsätze und Normen anderer Rechtsbereiche zum Quervergleich heranzuziehen, da diese durch andere Regeln gekennzeichnet seien,,66. Bei dieser Sachlage hat Giorgio Betti nicht ganz Unrecht, wenn er bemerkt, daß "ein und dieselbe Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit bei der Anwendung auf verschiedene Gesetze nicht immer ausreicht, um die Rationalität eines Gesetzes vollumfllnglich zu untersuchen,,67. Mit anderen Worten, die schwersten Probleme des italienischen Steuerrechts können nur dann richtig angegangen werden, wenn das ganze System vereinheitlicht wird68 . Das Verfassungsgericht ist jedoch nicht in der Lage hierzu beizutragen, da zum einen das System schon in der Wurzel mangelhaft ist und zum anderen das Gericht in seiner Entscheidung an den Klageantrag gebunden ist, so daß es gezwungen ist, nur innerhalb dieser Grenzen Recht zu sprechen (mit Ausnahme der Fragen, die es "von Amts wegen" sich selbst vOrlegt69, sowie der Annex-Verfassungswidrigkeitserklärungen, die Normen betreffen, die nicht vorgelegt wurden, mit den vorgelegten jedoch engstens zusammenhängen). Die gesetzgeberische Kasuistik fUhrt letztlich zu Urteilen, die an Einzelfälle gebunden und nicht verallgemeinerungsfähig sind. Wie schon Elia festgestellt hat, ergibt sich hieraus "die Gefahr, daß die steuerrechtliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in ihrer Gültigkeit von den jeweils aktuell bestehenden Gesetzen abhängt, die oft einer sehr starken Wandlung unterliegen". Bisweilen sieht das Verfassungsgericht im Steuerrecht deshalb ein "Recht zweiten Grades", das zwar die ihm zugrundeliegenden Grundwerte nicht willkürlich mißachten oder verwenden darf; es könne aber von ihnen abweichen und sie abwandeln, soweit dies durch gewichtige Gründe gerechtfertigt ist, die sich durchaus auch aus den Besonderheiten der jeweiligen steuerrechtlichen Materie ergeben können7o . Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, daß es durchaus auch Entscheidungen gibt, in denen 66 s. Urteil Nr. 12111985, Beschluß Nr. 392 aus 1993 und die Urteile Nr. 14 und 430 aus 1995. Vgl. außerdem Antonini (Fn. 10), S. 337 f. 67 Berti, Vorwort in: De Mita, (Fn. 15), S. XI. 68 Antonini, (Fn. 10), S. 197. 69 Anmerkung Bozza: Dieses Vorlagerecht leitet das Verfassungsgericht aus Art. 23 des Gesetzes 87/1953 (Verfassungsgerichtsgesetz) ab. 70 Vgl. De Mita (Fn. 15), S. 124 ff.; s. im übrigen auch ftI.r Deutschland Osterloh, n diritto tributario e il diritto privato, in: Trattato di diritto tributario, Padua 1994, Bd. I, S. 119. Auf die ,,Einzigartigkeit" und die ,,Besonderheit" der italienischen Rechtsordnung geht hingegen Fantozzi ein, in: Diritto tributario, Turin 1991, S. 8 ff.

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das Verfassungsgericht Überlegungen anstrengt, die für verschiedene Steuern gleichennaßen gelten: Zu nennen ist z.B. das Urteil Nr. 200 aus 198771 , das bestimmte Einzelfragen zu den Besteuerungsmodalitäten von Gesellschaften betriffi; hierin beruft sich das Verfassungsgericht auf die "Kohärenz innerhalb der verschiedenen Regelungsbereiche des Steuerrechts". Auch das Urteil Nr. 364 aus 198772 , das das steuerrechtliche Erkenntnisverfahren betriffi, bietet ein gutes Beispiel hierfür; denn es rügt die mangelnde Koordinierung bestimmter gesetzgeberischer Bestimmungen bei den direkten und indirekten Steuern. Schließlich ist auch auf das Urteil Nr. 473 aus 199573 hinzuweisen, das fordert, daß der Wert eines Grundstücks innerhalb verschiedener, sich gleichwohl ähnelnder Steuern immer der gleiche sein muß. Diesen Entscheidungen stehen indes viel eklatantere Urteile gegenüber, in denen das Verfassungsgericht die Eigenschaften einzelner Steuern so weitgehend als solche gewürdigt hat'4, daß es letztlich die betreffenden Steuern in ihrer Einzigartigkeit als verfassungsmäßig bestätigt hat. Das Verfassungsgericht hat sich dabei auch mehrfach des Kriteriums der Zeitweiligkeit der zur Entscheidung vorgelegten Gesetze bedient, um deren Verfassungsmäßigkeit zu begründen. So hat es seit den 50er Jahren verschiedene regionale Gesetze bestätigt, die sich auf den Abschluß landwirtschaftlicher Verträge in den jeweiligen Regionen bezogen; Hintergrund der Entscheidung war dabei die zeitliche Begrenzung dieser Ausnahme-Gesetze, die lediglich der Bewältigung vorübergehender Krisen dienen sollten. Ebenso hat das Verfassungsgericht in den 60er Jahren die Ausweitung des Anwendungsbereichs bestimmter kollektiver Arbeitsverträge ergo omnes nicht für verfassungswidrig erklärt, obwohl dies nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprach. Das Verfassungsgericht begründete dies damit, daß es sich lediglich um eine vorübergehende, provisorische Ausnahmeregelung handelt, wenn sie auch für sich allein genommen ungeeignet ist, das verfassungsrechtliche System durch ein anderes gesetzlich willkürlich geschaffenes System zu ersetzen. Und solche Beispiele könnten beliebig fortgeAnmerkung Bozza: Zu näheren Einzelheiten s. Giustizia civile 1987, S. 2759. Anmerkung Bozza: Im einzelnen s. Consiglio di Stato 1987 n S. 1637. 73 Anmerkung Bozza: Im Urteil Nr. 473/1995 geht es - stark vereinfachend - um die Frage, ob der Wert eines veräußerten Grundstücks, so wie er rur die Registersteuer konkret festgestellt wurde, auch rur die lnvim gilt, obwohl bei der lnvim der Wert höher angesetzt wurde. Die mittlerweile abgeschaffie (und durch die lei ersetzte, vgl. Fn. 78) lnvim bezeichnete eine Grundwertzuwachssteuer, die u.a. im Falle der entgeltlichen und unentgeltlichen Übertragung eines Grundstücks zu entrichten war. Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht die vorgelegte Frage mit Blick auf den Gleichheitssatz und das Leistungsßlhigkeitsprinzip bejaht, zumal beide Steuern an die Veräußerung eines Grundstücks anknüpften. 74 Neben den im Text zitierten Fällen sind auch die Entscheidungen von großer Bedeutung, die aufgrund rein politischer Erfordernisse die Abzugsflihigkeit gewisser Steuern ausschließen; s. hierzu insbesondere das Urteil Nr. 574/1988 (mit kritischer Anmerkung von De Mita (Fn. 15), S. 823). 71

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führt werden75 • Allerdings hat sich diese verfassungsgerichtliche Argumentationsweise in den jüngeren Entscheidungen zu den zeitlich von vornherein nur begrenzt anwendbaren Steuern noch weiter verschlimmert: Diese Urteile ähneln in der Sache einem Gespräch unter Gehörlosen, denn das Verfassungsgericht setzt den Überlegungen des vorlegenden Gerichts keine gleichwertigen Gegenargumente entgegen; vielmehr übergeht oder ignoriert es sie und begründet seine Entscheidung mit eigenen Argumenten, die sich nicht mit der Vorlage auseinandersetzen. Beispielhaft sind insofern die die Vorlagen zurückweisenden Urteile von 1995 und 1996, die die Besteuerung von Bankguthaben zum 9. Juli 1992 mit einem Steuersatz i.H.v. 6 Promille betrafen. Soweit die vorlegenden Richter u.a. die Abstraktheit und Willkür des Gesetzes rügten, hat sich das Verfassungsgericht auf die Feststellung beschränkt, daß die erfaßten Guthaben "nonnalerweise zur Verfügung des Kontoinhabers stehen" und sich leicht durch den Fiskus (oder den Steuerentrichtungspflichtigen) feststellen lassen. Das Verfassungsgericht hat dabei weiterhin hervorgehoben, daß die verfassungsrechtlich zu prüfende Steuer eine "durch Ausnahmeumstände bedingte Sondersteuer" ist, deren Steuersatz im übrigen sehr gemäßigt ist. Wie schon Falsitta76 ironisch angemerkt hat, kann man somit nach der Auffassung der Verfassungsrichter zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die zeitliche Beschränkung von Gesetzen Verfassungsverstöße legitimiert (,,semel in anno licet insanire") und daß außerdem ein bescheidener Steuerertrag einen Rechtfertigungsgrund darstellt. Dabei sollte doch gerade auch der geringe Steuerertrag das Gericht ermutigen, eine der Vorlage stattgebende lehrreiche Entscheidung zu flUlen, da ohnehin kein großes Loch im Staatshaushalt entstehen würde. Ähnliche Überlegungen gelten auch im Hinblick auf das Urteil Nr. 21 aus 199677 , das die Verfassungsmäßigkeit der 1992 eingeführten Sondergrund75

s. insbesondere die Urteile Nr. 6/1958 und Nr. 10611962. Weitere Nachweise bei

Angiolini, Emergenza che trovi, Costituzione che vuoi?, in: Giurisprudenza costituzio-

nale 1989, S. 2126 ff. 76 Falsitta (Fn. 21), S. 5. 77 Anmerkung Bozza: hn Urteil Nr. 2111996 mußte sich das Verfasslingsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der 1992 eingefllhrten Sondergrundsteuer beschäftigen. Dabei handelt es sich um eine Sondersteuer, die nur ft1r ein Jahr erhoben wurde und die an den Wert von inländischen Grundstücken anknüpft. Maßgeblich zur Bemessung des Grundstück-Wertes war dabei der Katasterwert (vgl. Fn. 78).U.a. mußte das Gericht prüfen, ob die Steuer deshalb verfassungswidrig ist, weil sie nur Grundstücke, nicht aber auch bewegliches Vermögen erfaßt. Das Verfassungsgericht hat diese Frage verneint: Unter dem Aspekt einer etwaigen ungerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen beweglichem und unbeweglichen Vermögen wiederholt das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung, daß die Bestimmung der steuerlich zu erfassenden Indikatoren der Leistungsfllhigkeit allein in den Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers ßUlt. Das Gericht selbst dürfe nur in Fällen willkürlicher und unvernünftiger Gesetze eingreifen. hn übrigen habe der Gesetzgeber nicht allein Grundstücke mit einer zusätzlichen Steu-

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steuer zum Gegenstand hat (diese Steuer wurde für nur ein einziges Jahr erhoben und danach durch die kommunale Grundsteuer, Imposta comunale sugli immobili78 , ersetzt). Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, daß diese Sondersteuer gegen den steuerrechtlichen Gleichheitssatz verstößt, da sie, wenn auch nur vorübergehend, lediglich das unbewegliche Vermögen belastet. Das Verfassungsgericht ist dem mit dem Argument entgegengetreten, daß sich die Rechtfertigung gerade auch aus der zeitlichen Befristung des Gesetzes ergibt. Wie auch Antonini79 festgestellt hat, kann solch eine Überlegung aber nur zur Vemeinung einer enteignenden Wirkung dieser Maßnahme fUhren. Gewiß trägt sie aber nicht dazu bei, die allgemeine Rationalität des Systems oder die Wahrung der Progressivität der gesamten Steuerbelastung nach Art. 53 Abs. 280 der Verfassung herzustellen81 • Und das Urteil geht noch weiter: Auf die Auffassung des vorlegenden Gerichts, daß die Steuer auch wegen der Versagung des Abzuges der Aufwendungen für das Grundstück verfaSsungswidrig ist, hat das Verfassungsgericht im Urteil Nr. 21 trocken entgegnet, daß der Gesetzgeber einer "sehr ernsten wirtschaftlichen Situation" entgegentreten und er belastet, sondern auch Kapitalvennögen in Fonn von Bankguthaben. Denn neben der Sondergrundsteuer als weitere Maßnahme zur Sanierung der ernsten Haushaltslage habe er auch die Steuer auf Bankguthaben eingefilhrt, die ihrerseits bereits als verfassungsmäßig bestätigt worden ist (s.o.). Das Verfassungsgericht mußte sich weiterhin mit dem Argument des Vorlagebeschlusses auseinandersetzen, daß die Steuer gegen die verfassungsrechtlich garantierte Progressivität verstoße. Es hat diesen Vorwurf letztlich jedoch zurückgewiesen, indem es sich auf seine gefestigte Rechtsprechwig berief, daß sich das Postulat der Progressivität auf die Steuerrechtsordnung in ihrer Gesamtheit und nicht bloß auf einzelne Gesetze bezieht (vgl. Fn. 81). Schließlich befaßte sich das Verfassungsgericht auch mit der Frage, ob das Leistungsflihigkeitsprinzip verletzt sei, da die Sondergrundsteuer nicht den Abzug von Aufwendungen ftI.r das Grundstück zuläßt. Im Ergebnis wird dies vemeint. Dabei filhrte das Gericht auch an, daß die Steuer auf dem staatlichen Bedürfnis nach einem höheren Steueraufkommen basiert und daß deshalb ein besonderes Opfer der Steuerpflichtigen zulässig ist. 78 Die kommunale Steuer auf Immobilien (Imposta eomunale sugli immobili, kurz: ,Je""') beträgt - je nach Gemeinde - 4-6 Promille des ,,Katasterwertes" (valore eatastale) der Immobilie (in Ausnahmefällen auch 7 Promille des Katasterwertes). Der italienische Kataster (eatasto) besteht aus der Auflistung und Beschreibung der inländischen Grundstücke und deren jeweiligen Eigentümer. Insbesondere ordnet der Kataster jedem Grundstück einen durchschnittlichen Ertragswert (reddito ordinario medio) zu. Es handelt sich dabei um einen Ertrag, der unter nonnalen Bedingungen aus den Grundstücken gleicher Art und Güte erzielt werden kann (Sollertrag). 79 Antonini (Fn. 10), S. 192 (m. w.N.). 80 Anmerkung Bozza: Art. 53 Abs. 2 der Verfassung lautet übersetzt: ,,Das Steuerrechtssystem orientiert sich an der Progressivität." 81 Im Urteil Nr. 21/1996 entgegnet das Verfassungsgericht der Rüge, daß Art. 53 Abs. 2 verletzt sei, mit dem Hinweis auf seine gefestigte Rechtsprechung, daß sich das Postulat der Progressivität auf die Steuerrechtsordnung in ihrer Gesamtheit und nicht bloß auf einzelne Gesetze bezieht. Dies filhrt jedoch dazu, daß diese Regelung der Verfassung letztlich nie auf einzelne Gesetze angewendet wird.

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dabei "Sonderopfer" in Kauf nehmen mußte. Als ob dieser Appell an das bürgerliche Verständnis der Steuerpflichtigen dazu ausreicht, ein Minimum an Gleichbehandlung zu gewährleisten82. In die Reihe der hier angesprochenen Urteile gesellt sich auch das Urteil Nr. 251 aus 199683 . In diesem Urteil hat das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Sonder-Invim84 filr das Jahr 1991 bestätigt, soweit sie die Steuerpflicht entgegen der Grundregelung zeitlich vorverlegt85. In den Entscheidungsgründen wird der "außerordentliche Charakter" dieser Steuer hervorgehoben. Schon dadurch sei der Vergleich mit den "normalen", "ordentlichen" Steuern zweifelhaft. Zudem hat das Verfassungsgericht darauf hingewiesen, daß es sich letztlich bloß um eine "chronologische Vorverlegung" der Steuerpflicht handelt. Allerdings hat es auf diese Weise die Rüge übergangen, die an der Frist der Steuer Anstoß nahm. Damit münden die Überlegungen des Verfassungsgerichts in Grundsätzen, die ungeeignet sind, auch nur irgendwie zur Lösung des Problems beizutragen86. 82 Insofern erinnert das Urteil Nr. 21 daran, daß auch Bankguthaben mit einem Steuersatz von 6 Promille zusätzlich belastet werden. Damit will das Verfassungsgericht der Überlegung entgegengetreten, daß der Gesetzgeber von 1992 lediglich das unbewegliche und nicht auch das bewegliche Vennögen habe belasten wollen. Jedoch ist dieses Argument insofern offensichtlich nicht überzeugend, als die Steuer auf das Bankguthaben noch angreifbarer und spezieller als die Sondergrundsteuer erscheint. 83 Anmerkung Bozza: Gegenstand des Urteils Nr. 25111996 ist der Gesetzesdekret (decreto legislativo) Nr. 299/1991, soweit mit ihm eine "Sonder-Invim" ftIr Gesellschaften eingeführt wird. Grundsätzlich entsteht die (,,reguläre") lnvim-Ptlicht bei jeder Übertragung eines Grundstücks. Daneben amt die lnvim unabhangig von einer Eigentumsübertragung dann an, wenn eine Gesellschaft Eigentümer eines Grundstücks ist: In diesem Fall ist die lnvim alle zehn Jahre nach Erwerb des Grundstücks amig. Die "Sonder-Invim" von 1991 bestimmt, daß ftIr die von der Gesellschaft zum 31.10.1991 besessenen Immobilien die lnvim sofort zu entrichten ist - und zwar unabhängig davon, ob das Jahrzehnt schon verstrichen ist oder nicht. Außerdem bestimmt die Sonder-Invim, daß die Wertsteigerung des Grundstücks unter Bezugnahme auf die neuen, am 31.1 0.1991 noch nicht in Kraft getretenen Katasterwerte zu bestimmen ist, die laut Ministerialverordnung erst ab dem 1.1.1992 gelten sollen. Das Verfassungsgericht hat diese Steuer im Ergebnis als verfassungsmäßig bestatigt. Zur Begründung weist es auf den außerordentlichen Charakter dieser Steuer hin. Aus diesem folge, daß für die Sonder-Invim nicht ohne weiteres die Vorschriften gelten, die auf die regulären Steuern anwendbar sind. hn übrigen ftlhre die Sonder-Invim lediglich zu einer zeitlichen Vorverlagerung einer Steuerpflicht, die ohnehin entstanden wäre (und die sich dann auch nicht mehr auf der Grundlage der laut Ministerialverordnung am 31.10.1991 geltenden Katasterwerte bemessen hätte). 84 Anmerkung Bozza: Zur lnvim vgl. Fn. 73 und 83. 85 Anmerkung Bozza: s. Fn. 83. 86 Überzeugender ist hingegen die Begründung des Urteils Nr. 157/1996, in der das Verfassungsgericht sich darauf beruft, daß Zinsen in jeweils ganzen Halbjahresabschnitten reifen. Dieses Prinzip sei sowohl auf Steuererstattungsbeträge als auch auf Steuerschulden anwendbar.

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Letztlich beharrt das Verfassungsgericht auf seiner Überzeugung, daß eine in ihrer zeitlichen Wirkung beschränkte Sondersteuer schon per Definition das Steuerrechtssystem und all seine Bestandteile nicht stören kann. Dies kommt auch schon in den Urteilen Nr. 159/198587 und Nr. 13111988 zum Ausdruck. Ebenso ist das Gericht konsequent der Auffassung, daß der Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers bei nur vorübergehend geltenden Vorschriften sehr viel größer ist. Derartige Gedankengänge können allerdings nur dann überzeugen, wenn gesetzliche Sondermaßnahmen tatsächlich einzigartig und außergewöhnlich sind und nicht schon fast gewohnheitsmäßig eingesetzt und damit zu einer Art "uneigentlichen Regel" werden.

IV. Scblußbetracbtungen Gewiß ist es aber auch nicht richtig, diese Rechtsprechung übermäßig zu verspotten. Denn die enorme öffentliche Verschuldung Italiens und die daraus folgende Finanzkrise stellen eine harte Realität dar, die das Verfassungsgericht nicht unbeachtet lassen konnte; dies ergibt sich meistens implizit, bisweilen aber auch ausdrücklich aus seinen EntscheidungsgrüDden. Unter Bezugnahme auf das Urteil Nr. 192 aus 199288 ist De Mita sogar der Auffassung, daß das Verfassungsgericht auch selbst die Schwächung des Verfassungsrechts in Anbetracht politischer Wertungen erkannt hat89 • Wobei dies jedoch im Urteil nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt, denn dort ist lediglich davon die Rede, daß bestimmte Gnade-Maßnahmen im Steuerrecht "das Interesse an der regulären Steuerzahlung" mindern können, wenn es durch eine Entlastung der Strafgerichte ausgeglichen wird. Gleichwohl gibt es durchaus auch Entscheidungen, in denen das Verfassungsgericht den öffentlichen Haushalt und dessen desolaten Zustand offen angesprochen hat. Beispielhaft sei nur das Urteil Nr. 574/1988 zur SOCOpOO genannt, in dem sich das Verfassungsgericht unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien von der "wirtschaftlichen Situation des Landes" leiten läßt, die schon damals sehr ernst war und den Bürgern Son-

Anmerkung Bozza: s. Fn. 26. Anmerkung Bozza: Stark vereinfachend geht es im Urteil Nr. 19211992 wn die gesetzliche Regelung, wonach der Steuerentrichtungspflichtige, der seiner Pflicht zur Entrichtung der Steuer ft1r einen Dritten nicht nachgekommen ist, eine Strafverfolgung venneiden kann, wenn er die Zahlung innerhalb einer bestimmten Frist nachholt. Damit sollten die Staatseinnahmen verbessert und die Strafgerichte entlastet werden. Im einzelnen s. Giurisprudenza Italiana 1992, Spalte 1832. 89 De Mita (Fn. 15), S. 4. 90 Anmerkung Bozza: vgl. Fn. 26. 87

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deropfer abverlangte (diese Argumentation wiederholt sich im Urteil Nr. 211199691 zur lnvim). Gleichwohl ist klar, daß das Verfassungsgericht bei solchen Entscheidungen Art. 81 Abs.4 der Verfassun~ Rechnung tragen muß. Das Gericht sah sich bereits mehrfach dem schweren Vorwurf ausgesetzt, mit seinen Entscheidungen den Staatshaushalt durch zusätzliche Ausgaben belastet zu haben, ohne daß für eine entsprechende Deckung gesorgt war. Entsprechendes gilt, wenn die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu einer Minderung der Staatseinnahrnen filhren, indem sie durch Abschaffung oder Änderung einer Steuer zu einer Kürzung des Steuerertrages führen, auf dessen Bestand der Staat vertraut hat. So ist es kein Zufall, daß Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Seminars im November 1991 93 das Verhältnis der stattgebenden Urteile mit ergänzender Auflage94 zu dem verfassungsrechtlichen Verbot der Belastung des Staatshaushaltes ohne Angabe der sie deckenden Mittel war. Auf dieser Tagung fand sich auch die u.a. von Zagrebelsk/5 vertretene Ansicht wieder, daß auch solche Urteile den Staatshaushalt belasten, die zu einer Minderung der Staatseinnahrnen fUhren. Von allgemeinerer Art war dagegen die Überlegung, daß es ein "generelles Prinzip des Gleichgewichts der Staatsfinanzen" gibt, das das Verfassungsgericht als Bestandteil des Rechts und nicht bloß der Politik bei der Abwägung von Verfassungswerten berücksichtigen muß 96 • Im übrigen scheint auch schon zuvor das Urteil Nr. 43111987, so wie es von Schiavolin97 verstanden wird, die Auffassung anzudeuten, daß es zum Schutze von verfassungsrechtlich relevanten Prinzipien gestattet sei, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen unter dem Gesichtspunkt des steuerrechtlichen Gleichheitssatzes und des Leistungsfllhigkeitsprinzips großzügiger zu beurteilen. Und diese Argumentationsweise könnte auch auf Art. 81 übertragen werden, soweit es sich mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 1 der Verfassung noch vereinbaren läßt (anderenfalls müßte man feststellen: fiat iustitia, Anmerkung Bozza: s. Fn. 77. Anmerkung Bozza: Art. 81 der Verfassung betriffi den Staatshaushalt und das Haushaltsgesetz. Abs. 4 bestimmt in diesem Zusammenhang: ,,Jedes andere Gesetz, das zu neuen oder höheren Staatsausgaben ftlhrt, muß die 91

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Mittel angeben, mit denen diese getragen werden." 93 s. den Tagungsband ,,Le sentenze della Corte costituzionale e I'art. 81, ultimo comma, della Costituzione", Mailand 1993. 94 Anmerkung Bozza: s. Fn. 23. 9S Zagrebelsky, Problemi in ordine ai costi delle sentenze costituzionali, in: Le sentenze (Fn. 93), S. 99. Zu den geringeren Steuereinnahmen fllgen sich im übrigen durch Steuererstattungen verursachte höhere Ausgaben hinzu, so Antonini (Fn. 10), S. 338, Fn. 41. 96 s. insbesondere Romboli, in: Le sentenze (Fn. 93), S. 185 ff. 97 Schiavolin, n ,,New Deal" della Corte costituzionale, in: Rassegna tributaria 1988 II, S. 507.

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pereat mundus). Allerdings ist auch klar, daß man dem Verfassungsgericht

nicht die gesamte Verantwortung dafilr aufbürden kann, daß das italienische Steuerrecht so wenig kohärent und rational ist. Denn wie bereits dargelegt, muß bedacht werden, daß die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zur Verfolgung dieses Zwecks nicht geeignet sind, auch wenn sie nach und nach über die Bestimmungen der Verfassung und des Verfassungsgerichtsgesetzes hinaus in ihrer Typologie erweitert wurden. Insbesondere kann eine sich der Lage anpassende Auslegung nur in solchen Fällen erfolgen. in denen das angegriffene Gesetz - wenn auch eventuell forciert - irgendwie mit der Verfassung in Einklang gebracht werden kann98 • Die stattgebenden Urteile mit ergänzender Auflage99 dagegen können schon per Definition nur bei Bestehen eines auf den Fall anwendbaren und genau festgelegten tert;um comparat;on;s (oder eines anderen sicheren gesetzlichen Bezugspunktes) ergehen. Wenn sich hingegen verschiedene Lösungen als gleichermaßen geeignet erweisen. sieht sich das Verfassungsgericht fast immer gezwungen. die Angelegenheit als unzulässig zurückzuweisen. da es anderenfalls eine politische Entscheidung treffen müßte. Dies zeigt z.B. warum das Verfassungsgericht sich weigert. über die Gewährung, den Umfang und die Voraussetzungen von Steuervergünstigungen zu entscheiden100• Ebenso knüpfen "stattgebende Entscheidungen mit Maßgabe für die Zukunft" 101 , die auch die ,,Fernwirkungen" eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes betreffen. an strenge und schwer erfiillbare Voraussetzungen. Deshalb ergehen heutzutage solche Entscheidungen so gut wie nicht mehr. Dabei hat diese Art von Urteilen noch für großes Aufsehen gesorgt, als damit - wenn auch nur mit Wirkung für die Zukunft - die Öffentlichkeit der finanzgerichtlichen Verfahren statuiert wurde102. Schiieß-

98 Beispielhaft und unabhängig von seinem konkreten Inhalt s. das Urteil Nr. 120/1992 (mit Anmerkung Spangher, Giudizio penale e doveri dell'amministrazione fmanziaria, in: Giurisprudenza costituzionale 1992, S. 1035 ff). Weiterhin s.a. Urteil Nr. 103/1991, das im Ergebnis stattgegeben hat (s. hierzu aber Tabet, Quale addizionale Iciap, in: Giurisprudenza costituzionale 1991, S. 1125 ff. 99 Anmerkung Bozza: s. Fn. 23. 100 Vgl. Urteil Nr. 494/1991. Allgemeiner s.a. Urteile Nr. 85/1985, Nr. 167/1991, Nr, 353/1995; noch "ehrerbietender" und "unterwürfiger" sind die Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit von Nonnen, die Steuer- und Strafrecht zugleich betreffen (z.B. Urteil Nr. 97/1994). 101 Anmerkung Bozza: Durch den Ausdruck "stattgebende Entscheidungen mit Maßgabe fiIr die Zukunft" wurde der italienische Begriff ,,decisioni di accoglimento pro futuro" übersetzt. Es handelt sich wn eine Entscheidung, die auch auf solche Auslegungen des Gesetzes Bezug nimmt, die so noch nicht vorgenommen oder gerügt WUTden, sondern sich erst noch im Laufe der Zeit ergeben können. 102 Vgl. Urteil Nr. 50/1989, das den Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen beim Finanzgericht aufgestellt hat und zwar ,,mit Wirkung ab dem Tag nach Verkündung" des Urteils. Die Wirksamkeit vergangener Verhandlungen sollte dadurch ausdrücklich nicht berührt werden.

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lieh sind noch die Urteile mit richtungsweisender Auflage anzusprechen. die eine Regelung fiir verfassungswidrig erklären und dem Gesetzgeber richtungsweisend anzeigen, was bei deren Korrektur zu beachten ist, wobei dem Gesetzgeber jedoch die Entscheidung darüber verbleibt, wie er die Weisungen des Verfassungsgerichts im einzelnen umsetzt. Diese Urteile mit richtungsweisender Auflage laufen Gefahr, als eine grida manzoniana l03 zu enden oder den Richtern bei der zukünftigen Rechtsanwendung einen zu großen Entscheidungsspielraum zu belassen, bis daß der Gesetzgeber die Nonn endlich revidiert. Und es ist im übrigen auch offensichtlich, daß diese Art von Urteil bei steuerrechtlichen Vorschriften ungeeignet ist, da diese zum Schutz des Steuerpflichtigen (und weniger des Fiskus) in ganz besonderem Maße der Beachtung der Verfassung und der Rechtssicherheit Rechnung tragen müssen. Um dem Verfassungsgericht die Möglichkeit einzuräumen, angemessene Entscheidungen zu flUlen, die sich nicht allzu belastend auf den Staatshaushalt auswirken, könnten - de jure condendo - neue Verfahren zur unmittelbaren Anrufung des Verfassungsgerichts lO4 geschaffen werden. Vorbild könnten insofern z.B. die sein, die der von Senator Debenedetti kürzlich vorgelegte Entwurf zur Verfassungsänderung fiir die Fälle der Verletzung der Pflicht zur Deckung des Staatshaushaltes vorsieht JOs . Solche Refonnen dürften aber nicht improvisiert werden. Sie müßten mit Blick auf ihre Auswirkung auf die Bedeutung des Verfassungsgerichts sorgfältig abgewogen werden. Mit anderen Worten ist also zu pIiifen, ob die Sache die Mühe wert ist: Es ist zu bedenken, daß die Erweiterung des Kreises derjenigen, die zur unmittelbaren Anrufung des Gerichts befugt sind, dazu fUhren würde, daß auch parlamentarische Minderheiten das Verfassungsgericht anrufen könnten, was wiederum eine höhere Politisierung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen verursachen würde. In Anbetracht dessen ist zu überlegen, ob dadurch das Verfassungsgericht letztlich nicht seine Bedeutung einbüßt, denn es würde zu einem aktiven Bestandteil des politischen Wettbewerbs. Fest steht jedoch, daß das Verfassungsgericht

rur

103 Anmerkung Bozza: Grida manzoniana ist die Bezeiclmung Edikte/Vorschriften, die die spanische Regienmg in der von ihr besetzten Lombardei zu Zeiten Manzonis (italienischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts) erlassen hat. Sie zeiclmen sich dadurch aus, daß ihnen in der Regel keine Folge geleistet wurde. 104 Anmerkung Bozza: Bislang sind zur unmittelbaren Anrufung des Verfassungsden Staat) und die Regionen befugt. Augerichts nur die Regienmg (in Vertretung ßerdem können Richter im Wege einer konkreten Normenkontrolle das Verfassungsgericht aruufen. Andere Verfahrensformen sind nicht vorgesehen, insbesondere gibt es keine Verfahrensart, die der von jedermann einlegbaren deutschen Verfassungsbeschwerde entspricht. 105 Es handelt sich um den decreto di legge Nr. 1983/Senato, der dem Präsidenten am 22.1.1997 mitgeteilt wurde. Andere aktuelle Gesetzesanderungsinitiativen richten sich hingegen nicht auf Art. 81 der Verfassung, sondern auf eine unmittelbare Änderung des ersten Teils von Art. 134 (Anmerkung Bozza: s. Fn. 106).

rur

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- unabhängig von der Refonn des Art. 134 106 - weder heute noch in Zukunft in der Lage sein wird, systematische Änderungen dahingehend vorzunehmen, daß das Steuerrecht gerechter und die Steuerlast erträglicher wird. ,,Heiße Problemkreise", die nicht mit richterlicher Weisheit und richterlichen Befugnissen gelöst werden können, sind auch: die ernsthafte Bekämpfung der dem Grundsatz der Steuergleichheit widersprechenden Steuerhinterziehung; die Aufwertung des Steuerpflichtigen - so wie Bertolissi l07 es ausdrückt - vorn "Untertan" zum "Bürger"; die erhebliche Verletzung des Gesetzesvorbehalts und des Rechtssicherheitsprinzips durch die Flut an Verwaltungsverordnungen, die durch die Undurchsichtigkeit der Gesetze verursacht wirdlOS. Man gelangt mithin abschließend zur Erkenntnis, daß sich das ineffiziente italienische Regierungssystem als völlig unzulänglich erweist; dies zeigt sich dadurch, daß die Regierung unfähig ist. Regelungen mit Blick auf die Zukunft zu treffen und sich statt dessen bloß darauf beschränkt, Maßnahmen zur Befriedigung akuter gegenwärtiger Bedürfnisse zu ergreifen. Allerdings handelt es sich dabei um Defizite, die mit Sicherheit auch in vielen anderen Ländern bestehen, und die derart schwer zu bewältigen sind, daß sie an dieser Stelle nur angerissen werden konnten, ohne dabei auch eine Lösung bieten zu können.

106 Anmerkung Bozza: Art. 134 der Verfassung lautet übersetzt wie folgt: ,,Das Verfassungsgericht ist zustandig ftIr die Entscheidung: - über Streitfragen, die die Verfassungsmaßigkeit von staatlichen und regionalen Gesetzen und Maßnahmen mit GesetzeswirIrung betreffen; - über Meinungsverschiedenheiten, die die Verteilung der Kompetenz innerhalb des Staates, zwischen Staat und Regionen und zwischen den Regionen untereinander betreffen; - über Anschuldigungen gegen den Präsidenten der Republik in seiner verfassungsrechtlich bestimmten Funktion." 107 Bertolissi, ,,Rivolta fiscale", federalismo, riforme istituzionali, Padua 1997, S.159. lOS s. hierzu beispielhaft De Mita (Fn. 15), S. 175 ff., und Falsina (Fn. 21),

S.xn.

Der Gleichheitssatz im deutschen Steuerrecht Von Dieter Birk

LEinführung

Über den Gleichheitssatz im Steuerrecht ist in Deutschland viel geschrieben und viel diskutiert worden. Hat man noch zu Albert Hensels Zeiten vor allem über das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsßlhigkeit nachgedacht!, so tritt uns heute der Gleichheitsatz mit verschiedenen Gesichtern entgegen. Wir sprechen nicht nur von Besteuerungsgleichheit als Postulat zur Herstellung steuerlicher Lastengerechtigkeit, sondern auch vom Verbot der Diskriminierung, dem Gebot der Harmonisierung, der Systemgerechtigkeit, der Folgerichtigkeit, der Rechtsanwendungsgleichheit, der Verfahrensgleichheit, um nur einige Ausprägungen zu nennen. Man hat nicht den Eindruck, daß die fortschreitende wissenschaftliche Diskussion die Steuerpolitik merklich beeinflußt hat oder daß das Steuersystem dadurch insgesamt gerechter geworden ist. Das Thema ,,Der Gleichheitssatz im Steuerrecht" bezieht sich nicht nur auf das Einkommensteuerrecht, sondern hat die gesamte Steuerrechtsordnung im Blick. Ich kann in "er mir zur Verfiigung stehenden Zeit nur einige Aspekte betrachten und möchte mich dem Thema in fünf Schritten nähern, wobei ich zunächst etwas zum Gleichheitssatz als Steuergerechtigkeitspostulat sagen und dann auf den Zustand unserer Steuerrechtsordnung eingehen will. Der Weg führt dabei gewissermaßen "von oben nach unten", der Blick soll also von der Gesamtrechtsordnung schrittweise zu den Einzelsteuern bis hin zur steuerlichen Rechtsanwendung wandern. ß. Der Gleichheitssatz als Maßstab steuerlicher Lastengleichheit

Die Herstellung steuerlicher Lastengleichheit ist eine Aufgabe, der sich Gesetzgeber und Verwaltung gleichermaßen zu stellen haben. Der Gesetzgeber ist I Hense/, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers. Besteuerung nach der Leistungsfllhigkeit - Gleichheit vor dem Gesetz, Vierteljahresschrift ft1r Steuer- und Finanzrecht 1930, S. 441 ff.

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DieterBirk

verpflichtet, Gesetze zu schaffen, die den verfassungsrechtlichen Grundsätzen über die gerechte Lastenverteilung entsprechen, die Verwaltung steht in der Verantwortung, für einen gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze zu sorgen. Ein gleichheitswidriges Gesetz verfehlt das Gleichbehandlungsgebot bereits auf der elementaren normativen Ebene, während mangelhafter und selektiver Steuervollzug eines gleichheitskonformen Gesetzes dessen Regelungsinhalt entwerten und zu Belastungsunterschieden führen kann, die vom Gesetz nicht gedeckt sind.

1. Das Leistungsjdhigkeitsprinzip als Konkretisierung des Gleichheitssatzes Art. 3 Abs. 1 GG enthält nicht nur das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz (sog. Rechtsanwendungsgleichheit), sondern fordert vom Gesetzgeber auch die Verwirklichung der Gleichheit der steuerlichen Lastenverteilung (sog. Rechtssetzungsgleichheit). Rechtssetzungsgleichheit bedarf eines Maßstabs, wonach der Steuergesetzgeber die steuerlichen Lasten zu verteilen hat. Dabei entspricht es alten, vom Verfassungsgeber übernommenen Gerechtigkeitsvorstellungen, daß Steuern entsprechend den individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen zu verteilen sind2 • Das Gleichmaß der steuerlichen Belastung ist nur gewahrt, wenn die Steuertatbestände nach der unterschiedlichen Leistungsßlhigkeit differenzieren. Gleiche Besteuerung heißt unterschiedliche Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsjdhigkeit. Anders ausgedrückt: Steuerpflichtige mit gleicher Leistungsßlhigkeit haben auch die gleiche Steuerlast zu tragen (horizontale Steuergleichheit), Steuerpflichtige mit unterschiedlicher Leistungsßlhigkeit müssen unterschiedlich besteuert werden (vertikale Steuergleichheit). 2. Die beschrdnkte Wirkkraft des Gleichheitssatzes

Obwohl das Bundesverfassungsgericht wiederholt das Postulat aufgestellt hat, daß sich die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsßlhigkeit auszurichten habe3, entfaltet der Gleichheitssatz im Steuerrecht nur beschränkte Wirkkraft. Dies hat vor allem drei Gründe: Der erste Grund liegt in der Vielfalt der Lebensverhältnisse, die wiederum durch eine Vielzahl unterschiedlicher Steuern erfaßt werden. Der Gesetzgeber tut sich schwer, die Belastungsentscheidungen allein nach der wirtschaftlichen 2 Birk, Das Leistungsfllhigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernonnen, 1983, S. 46 ff.

3

BVerfUE 82, 60, 86; 61, 319, 343.

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Leistungsfähigkeit auszurichten und andere Gründe auszublenden. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die Diskussion wo die Abschaffung der steuerlichen Privilegierung der Nachtarbeitszuschläge. § 3b EStG nimmt solche Zuschläge systemwidrig von der sachlichen Steuerpflicht aus. Obwohl seit langem in der Steuerrechtswissenschaft anerkannt ist4, daß es dafür keine tragOOrige Rechtfertigung gibt, hat sich der Gesetzgeber aus sozialen Gründen zu einer Abschaffung dieser Vorschrift bisher nicht durchringen könnens. Der zweite Grund liegt in der zunehmenden Instrwnentalisierung der Steuer für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Zwecke. Steuern sind sehr komplexe Regelungsinstrumente des Staates, sie dienen bei weitem nicht nur der Deckung staatlichen Finanzbedarfs, sondern übernehmen vielflUtige Regulierungsfunktionen. Wer mit Steuern Wirtschaftslenkung betreiben, Verhaltensanreize geben oder Vermeidungsverhalten hervorrufen will, kann sich nicht am Grundsatz der Herstellung steuerlicher Lastengleichheit orientieren, da diese Ziele regelmäßig nur mit steuerlichen Privilegierungen oder Benachteiligungen zu erreichen sind. Eine hohe Besteuerung privaten Energieverbrauchs mag zwar insgesamt den Energieverbrauch eindämmen, trifft jedoch den weniger Leistungsfähigen ungleich stärker als den Leistungsfähigen und mag sogar nicht disponible Teile des einzelnen belasten. Eine hohe Mineralölsteuer kann das Autofahren zum Privileg weniger Reicher machen. Steuerliche Sonderabschreibungen für private Investitionen in den Schiffsbau oder in den Wohnungsbau nehmen gerade leistungsfähige Steuerpflichtige in Anspruch, wo hierdurch ihre Steuerlast zu mindern und sogar noch steuerfrei Vermögen zu bilden. Der Grundsatz steuerlicher Lastengleichheit muß also häufig zurücktreten, wenn Steuern zur Erreichung ökologischer und wirtschaftspolitischer Ziele eingesetzt werden. Der dritte Grund ist schließlich im Gleichheitssatz selbst angelegt. Der Gleichheitssatz ist für vielerlei politische Zielvorstellungen und zweckorientierte Differenzierungen offen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner früheren Rechtsprechung den allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne des Willkürverbots gedeutet6 , später hat es seine Aussage etwas verengt. Nach der sog. neuen Formel ist der Gleichheitssatz verletzt, "wenn eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten,,7. Über die Unterschiede beider

Moritz in HernnannlHeuerlRaupach, EStG, § 3b Arun. 5,6. Im Zuge der Steuerrefonn ist nun die Abschaffung geplant, s. Bericht der Regierungskommission zur Steuerrefonn, NJW 1997, Beilage zu Heft 13, S. 7. 6 BVerfGE 4, 144, 155; 27, 364, 371 f.; 78, 104, 121. 7 BVerfGE 55, 72, 88; 60, 123, 133 f.; 74, 9,24. 4

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Sichtweisen ist viel geschrieben worden8 • Zutreffend dürfte sein, daß die neue Rechtsprechung zumindest den Versuch unternimmt, die Kontrolldichte zu erhöhen9 , daß sich dies aber auf das Steuerrecht bislang nicht ausgewirkt hat. Denn auch wenn man nun davon ausgeht, daß der rechtfertigende Grund für eine steuerliche Ungleichbehandlung in einem angemessenen Verhtiltnis zur Ungleichbehandlung stehen muß lO, so eröffnet dies nach wie vor für den Gesetzgeber ein weites Feld zulässiger steuerlicher Privilegierungen und Benachteiligungen. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend auch in seiner neueren Rechtsprechung die Offenheit des Gleichheitssatzes im Steuerrecht betont: ,,Führt ein Steuergesetz zu einer steuerlichen Verschonung, die einer gleichmäßigen Belastung der jeweiligen Steuergegenstände innerhalb einer Steuerart widerspricht, so kann eine solche Steuerentlastung dennoch vor dem Gleichheitssatz gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber dadurch das wirtschaftliche oder sonstige Verhalten des Steuerpflichtigen aus Gründen des Gemeinwohls fördern oder lenken will"ll. Kurzum kann man zusammenfassen: Das Bundesverfassungsgericht gewährt dem Gesetzgeber im Rahmen der Gleichheitssatzprüfung einen weiten Gestaltungsspielraum. 3. Die gleichheitsrechtliche Umdeutung der Freiheitsrechte

Die beschränkte Wirkkraft des Gleichheitssatzes dürfte auch ein Grund gewesen sein, warum das Bundesverfassungsgericht in der jüngsten Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Vermögensteuerl2, aber auch schon im Grundfreibetragsbeschluß\3 einen neuen Weg beschritten hat: Das Bundesverfassungsgericht leitet nunmehr aus den Freiheitsrechten ab, daß die Gesamtbelastung durch eine Besteuerung des Vermögenserwerbs, des Vermögensbestandes und der Vermögensverwendung vom Gesetzgeber so aufeinander abzustimmen ist, "daß das Belastungsgleichmaß gewahrt und eine übermäßige Last vermieden wird,,14. Der Gleichheitssatz wird als "Garantie gleicher Eigentumsfreiheit" interpretiertl5 . Aus der Eigentumsbindung in Art. 14 Abs. 2 GG werden Begrenzungen der steuerlichen Belastungshöhe entnommen l6. Der 8 9

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Dazu Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn 19 m.w.N. Heun (Fn. 8), Art. 3 Rn. 19. Heun (Fn. 8), Art. 3 Rn. 19.

IS

BVerfGE 93, 121, 147 m. weiteren Rechtsprechungsnachweisen. BVerfGE 93, 121, 134 f1 BVerfGE 87, 152, 169 ff. BVerfGE 93, 121, 135. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, § 88 Rz.

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BVerfGE 93, 121, 138.

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106.

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Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Bereich der vertikalen Steuergleichheit wird so erheblich eingeengt. Ich halte diesen Weg, den Gleichheitssatz freiheitsrechtlich umzuformulieren, für nicht überzeugend. Denn die Frage der gleichen Lastenverteilung betrifft das Lastentragungsverhältnis der Bürger untereinander, während die Frage der eigentumsschonenden Besteuerung die Zumutbarkeit der Besteuerung im Einzelfall im Blick hat. Die Ebene der Belastungsrelationen der Steuerbürger untereinander ist von der Ebene der freiheitsrechtlich zulässigen Belastungsintensität zu trennen. Wie hoch die zulässige finanzielle Gesamtbelastung der einzelnen Bürger in einem Staat sein darf, können die Freiheitsrechte nicht vorgeben. Dies hängt vom jeweiligen staatlichen Bedarf ab, dessen Bestimmung Sache des Parlaments ist. Das Maß der individuellen Vermögensbeeinträchtigung ist jedoch von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig. Die Frage der eigentumsrechtlichen Zulässigkeit einer Steuemorm kann erst entschieden werden, wenn die Auswirkungen des steuerlichen Zugriffs auf die Güterzuordnung im Einzelfall untersucht werden. In einem demokratisch verfaßten Staat muß über die die Gesamtheit der Steuerbfirger treffende Höhe der Steuerbelastung von den demokratisch legitimierten Organen entschieden werden. Sie ist fundamental von wirtschaftlichen wie politischen Rahmenbedingungen abhängig, die ständigen Veränderungen unterworfen sindl7 • In Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen, hoher Arbeitslosigkeit oder gar im Verteidigungsfalle wird ein höherer Staatsbedarf auftreten, als in Zeiten staatlicher Normallage. Die Bestimmung des Staatsbedarfs und damit der steuerlichen Gesamtbelastung ist Sache des Parlaments, welches die staatlichen Bedürfnisse mit den Konsum- und Vermögensinteressen der Bürger abzuwägen hat. Das Eigentumsrecht schützt im Einzelfall vor eigentumszerstörender Besteuerung, es vermag aber nicht den Staatsbedarf zu limitieren. Demgenüber setzt die Anwendung des Gleichheitssatzes bei der Verteilung, nicht bei der Begrenzung staatlicher Lasten an. Die Freiheitsrechte vermögen wie die Diskussion um die Vermögensteuer anschaulich zeigt - nicht zu entscheiden, was der gerechte Beitrag des einzelnen im Verhtiltnis zu den anderen ist. Eher liegt die Vermutung nahe, daß die Herstellung gleicher Belastungsrelationen durch die freiheitsrechtliche Eliminierung oder Begrenzung bestimmter steuerlicher Zugriffsarten empfindlich gestört wird. "Das Kriterium der Leistungsfähigkeit" - so hat es B(JckenflJrde in seinem Sondervotum zur Vermögensteuerentscheidung des BVerfG formuliert - "wird durch die Gewährleistung eines spezifischen Eigentumsschutzes für konsolidiertes Vermögen außer Kurs gesetzt; der ungleiche Eigentumsschutz schlägt sich als Privi-

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SondervotumBlk'kenflJrde, BVerfUE 93,121,157.

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legierung der (Groß-)Vennögenden nieder'.J8. Dazu kommt ein weiteres: Der Wegfall der Vennögensteuer fiihrt per se nicht zu einer Venninderung des staatlichen Finanzbedarfs, sondern nur dazu, daß die Vennögensteuerpflichtigen entlastet werden und die Deckungslücken durch anderweitige Belastungen aufgefangen werden müssen. Ob diese Verschiebung der Belastungsrelationen gerecht - gleichheitskonfonn - ist, ergibt sich aus der Eigentumsgarantie nicht. Insgesamt bleibt also der Gleichheitssatz - trotz seiner Offenheit - die zentrale Nonn steuerlicher Lastengerechtigkeit. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mag durch freiheitsrechtliche Grundwertungen eingeschränkt werden, die Freiheitsrechte vennögen aber nicht einen Maßstab für die Frage gerechter steuerlicher Belastung zu liefern.

m. Besteuerungsgleichheit in Europa Die Verwirklichung steuerlicher Lastengleichheit ist nur innerhalb gleicher steuerrechtlicher Rahmenbedingungen möglich. Gleichheit kann nur innerhalb einer einheitlichen Rechtsordnung geschaffen werden. Auf steuerlichem Gebiet existiert eine solche einheitliche Rechtsordnung innerhalb der EU nicht. Steuerliche Lastengleichheit der UnionsbÜfger oder Unternehmen innerhalb der EU kann es also beim derzeitigen Stand der europäischen Integration nicht geben l9 •

1. Die Unterschiedlichkeit der Steuersysteme Die Unterschiede in den Steuersystemen der Mitgliedstaaten innerhalb der EU sind erheblich. Es weichen nicht nur die Bemessungsgrundlagen der direkten Steuern voneinander ab, es werden auch unterschiedliche Steuern erhoben, vor allem aber zeigen die Steuersätze gravierende Schwankungsbreiten. Dazu kommt, daß das Verhältnis von den direkten Steuern zu den indirekten Steuern in den einzelnen Mitgliedsländern sehr stark differiert. Während z.B. das Verhältnis von direkten Steuern (einschließlich Sozialversicherungsbeiträgen) zu den indirekten Steuern in Großbritannien 54,3 zu 45,7 beträgt, beläuft es sich in Deutschland auf 70,1 zu 29,9 (in Italien 71,6 zu 28,4)20. Gleiche steuerliche Leistungsfähigkeit löst also für den UnionsbÜfger unterschiedlich

Sondervotwn ßlickenforde, BVerfUE 93, 121, 162. ßirk, in: Lehner (Hrsg.), Steuerrecht im Europäischen Binnenmarkt, 1996, S. 63 ff. 20 Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage, siehe BI-Drucks. 13/5932. 18 19

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steuerliche Belastungen aus, je nachdem welchem Staat die Besteuerungshoheit zukommt. 2. Steuerliche Diskriminierung

Zwar hat der EuGH nun eine Reihe von Urteilen erlassen, die steuerliche Hemmnisse für die Verwirklichung der europarechtlichen Grundfreiheiten beseitigt haben21 , der gleichheitsrechtliche Fortschritt dieser Rechtsprechung muß aber, wie ich an anderer Stelle näher erläutert habe22, als mager bezeichnet werden. Die Gleichstellung, die durch Beseitung von Diskriminierungen in unterschiedlichen Steuerrechtsordnungen der Mitgliedsländer erreicht wird, ist in Wahrheit nur eine scheinbare. Sie beseitigt nur die Ungleichbehandlung innerhalb eines nationalen Rechtsrahmens und zwingt den nationalen Gesetzgeber zur Gleichbehandlung gebietsfremder Steuerpflichtiger innerhalb des nationalen "Kästchens" auf der Unionslandkarte23 • Sie scham: aber keine Besteuerungsgleichheit innerhalb der Europäischen Union. Die gravierenden Unterschiede in der steuerlichen Belastung und Behandlung der UnionsbÜfger in den verschiedenen Mitgliedsländern werden davon nicht berührt24 . 3. Harmonisierung

Nur eine Annäherung der unterschiedlichen Steuersysteme würde die Belastungsunterschiede in den Steuerrechtsordnungen der Mitgliedstaaten abbauen und damit die erheblichen Ungleichheiten bei der steuerlichen Behandlung der UnionsbÜfger verringern. Im Bereich der direkten Steuern fehlt es bereits an ernst zu nehmenden Ansätzen. Nur in den Bereichen, in denen die Unterschiede in der Unternehmensbesteuerung erhebliche internationale Wettbewerbsverzerrungen zur Folge haben, wie etwa bei Unternehmensumstrukturierungen über die Grenze hinweg (Fusion) oder bei der Doppelbesteuerung von Gewinnen, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft ausschüttet, gibt es Richtlinien zur Rechtsangleichung. Das materielle Steuerrecht, die Ermittlung der Bemessungsgrundlagen und die Ausgestaltung des Tarifs werden aber davon nicht berührt. 21 EuGH, Urt. v. 14. 2. 1995, Rs. C-279/93, IStR 1995, 126 (Schumacker); EuGH, Urt. v. 27. 6. 1996, Rs. C-107/94 (Asscher). 22 Birk (Fn. 19), S. 63 (76 1). 23 Birk, (Fn. 19), S. 77. 24 Comelius A. de Kam U.8., Who pays the taxes? The distribution of etTective tax burdens in four EU countries, EC Tax Review 1996, S. 175.

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Allerdings ist bei den indirekten Steuern ein Fortschritt durch Angleichung der Bemessungsgrundlagen erreicht worden. Insbesondere die Umsatzsteuersysteme sind erheblich angeglichen worden. die Zahl der besonderen Verbrauchsteuern ist verringert worden, die unterschiedlichen Strukturen wurden weitgehend beseitigt. Jedoch gehen in diesem Bereich die Steuersätze noch erheblich auseinander.

Iv. Der Gleicbbeitssatz im nationalen Gesamtsteuersystem Eine am Leistungsfähigkeitsprinzip orientierte Besteuerung muß die gleichmäßige Verteilung der Gesamtsteuerlast im Blick haben. Idealiter sollten zwei Personen mit der gleichen Leistungsfähigkeit auch eine gleich hohe Steuerlast tragen (horizontale Steuergerechtigkeit). In der Realität ist die Steuerlast natürlich höchst unterschiedlich, je nachdem wie hoch die Konsumquote ausfällt, was konsumiert. investiert oder in welcher Höhe und in welcher Form Vermögensanlage betrieben wird. Im nationalen Gesamtsteuersystem hat der Gleichheitssatz keinen individualschützenden Charakter. Wer könnte schon rügen. er sei durch seine Gesamtsteuerlast im Vergleich zu anderen gleich leistungsfähigen Mitbürgern benachteiligt? Im Gesamtsteuersystem hat der Gesetzgeber eine Vielzahl von Differenzierungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten. die die Überprüfung gleicher Belastungsrelationen am Maßstab individueller Leistungsfähigkeit nicht möglich erscheinen lassen. Der Gleichheitssatz im Gesamtsteuersystem kann für den Gesetzgeber nur dirigierende und zielkoordinierende Funktion haben. Er verpflichtet ihn zur Systemkonsequenz, zu einer gerechten Verteilung der Gesamtsteuerlast, zu einer bestimmten Gewichtung der Steuerarten bei der Frage der steuerlichen Gesamtbelastung und schließlich zu einer Abstimmung des Steuersystems mit dem System sozialer Transferleistungen.

1. Systemgerechte Ausgestaltung der Steuerrechtsordnung Als Fundamentalprinzip gleicher und gerechter Besteuerung ist das Leistungsfähigkeitsprinzip allgemein anerkannt. Vor diesem Prinzip müssen sich dem Grunde nach alle Steuern rechtfertigen lassen. Die einzelnen Steuern müssen also an "Leistungsfähigkeitsindikatoren" anknüpfen. Die Rechtswissenschaft unterscheidet heute drei Gruppen von Leistungsfähigkeitsindikatoren: das Einkommen und den Konsum als dynamische Stromgrößen und das VermCJgen als statische Bezugsgröße25 • Diese drei Gruppen vermögen aber dem 2S

Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Aufl., 1998, § 4 Rz. 95 ff.

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Leistungsfähigkeitsprinzip nicht gleichmäßig Rechnung zu tragen. Mit den heute verfiigbaren gesetzgebungstechnischen Mitteln kann die Leistungfähigkeit im Bereich des Einkommens erheblich besser gemessen werden als in den Bereichen des Konsums und des Vermögens. Trotzdem geht die Tendenz aufgrund der Vollzugsdefizite und Durchsetzungsschwierigkeiten dahin, die indirekten Steuern auf den Konsum zu erhöhen, statt die direkten Steuern und ihre Erfassung zu vereinfachen. Dazu kommt, daß einer Besteuerung des Vermögens eigentumsrechtliche Schranken entgegenstehen, die das Bundesverfassungsgericht im Vermögensteuerbeschluß jüngst aufgestellt hae6. Auf ein weiteres Problem möchte ich hinweisen, auf das erst jüngst auch Voß aufmerksam gemacht hat und das unter dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Lastenverteilung überhaupt noch nicht diskutiert wurde: Die Relationen zwischen dem Steueraufkommen aus Körperschaftsteuer, veranlagter Einkommensteuer und Lohnsteuer weisen so erhebliche Differenzen auf, daß sich die Frage stellt, ob die Aufbringungslast des Steueraufkommens gerecht unter den Einkommensbeziehern verteilt ist. Während der Anteil der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer am Gesamtsteuereinkommen zurückging, ist der Anteil der Lohnsteuer stetig angewachsen27 . Der Finanzbericht 1997 weist für 1997 eine Lohnsteuerschätzung in Höhe von 261,9 Mrd auf. Demgegenüber soll sich die veranlagte Einkommensteuer auf DM 17,9 Mrd, die Körperschaftsteuer auf DM 32,9 Mrd. DM belaufen28 • Die Gründe, warum der Staat von den Arbeitnehmern so viel, von den Unternehmern und Freiberuflern so wenig an Steuern erhält, müßten genauer untersucht werden. 2. Das VerhtJ!tnis von direkten zu indirekten Steuern

Hinzu kommt, daß indirekte Steuern Steuerpflichtige mit niedrigem Einkommen (das sind in der Mehrzahl die Arbeitnehmer) verhältnismäßig höher belasten als Bezieher hoher Einkommen. Steuern auf den Konsum sind heute in Deutschland und anderen europäischen Ländern als indirekte Steuern konzipiert. Zwar sind seit längerer Zeit auch direkte Konsumsteuern (Ausgabensteuern) in der wissenschaftlichen Diskussion, die Vorschläge aus der Wissenschaft haben sich aber in der Steuerpolitik nicht durchsetzen können. Die indirekte Steuer belastet den Steuerträger "in der Anonymität des Marktes,,29 und kann damit nicht an seine individuelle Leistungsfähigkeit anknüpfen. Nur in engen Grenzen kann der wirtschaftlich schwache Steuerträger selbst für eine 26 27

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BVerfGE 93, 121, 134 ff. Voß, ZRP 1997, 147 m.w.N. Finanzbericht 1997, S. II I. Kirchhof(Fn. 15), § 88 Rz. 120.

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leistungsfähigkeitsgerechte Steuer sorgen, indem er Konsumverzicht leistet. Beim existenznotwendigen Konsum ist das nicht möglich, beim "Normalkonsum" bedeutet es eine empfindliche Einschränkung der Lebensqualität. Daraus folgt gleichheitsrechtlich das Gebot der steuerlichen Verschonung existenznotwendigen Konsums, der maßvollen Besteuerung des "Normalkonsums" und das Verbot, den indirekten Steuern im Verhältnis zu den direkten (gleichheitsrechtlich justierbaren) Steuern ein Übergewicht einzuräumen.

3. Die Abstimmung von Geben- und Nehmensystem Aus dem Sozialstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, Bedürftige zu unterstützen und ihnen in wirtschaftlichen Notlagen finanzielle Hilfen zu gewähren. Darüber hinaus rechtfertigt das Sozialstaatsprinzip auch finanzielle Förderungsmaßnahmen, die an gesetzlich näher definierte Bedarfslagen anknüpfen, welche nicht durch eine finanzielle Notlage gekennzeichnet sind. Tritt aber der Staat sowohl als Geber als auch als Nehmer auf, so gebietet der Gleichheitssatz schon in seiner Ausprägung als Willkürverbot, daß beide Systeme aufeinander abzustimmen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus gefolgert, daß der Gesetzgeber den Steuerpflichtigen bei der Einkommensteuer insoweit verschonen muß, als es sich um einen Betrag handelt, der im Falle der Bedürftigkeit durch Sozialleistungen abgedeckt würde. Kein Steuerpflichtiger dürfe infolge der Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen werden, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken30 . Diese Rechtsprechung hat dazu geführt, daß der Gesetzgeber im Einkommensteuerrecht den Grundfreibetrag erheblich erhöht hat (derzeit liegt er gern. § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG bei 12.095,- DM). Damit wurden aber auch neue gleichheitsrechtliche Verwerfungen ausgelöst. Da sich nämlich der Grundfreibetrag ebenso wie das Sozialhilferecht am wirtschaftlichen Existenzminimum orientiert, im Einkommen aber steuerfreie Teile enthalten sein können (z.B. private Veräußerungsgewinne oder steuerfreie Rentenzuflüsse), kann die Einkommensteuerlast gegen Null tendieren, obwohl das wirtschaftliche Existenzminimum bei weitem überschritten wird. Dies zeigt, daß eine ausschließlich auf die steuerliche FreisteIlung des Existenzminimums beschränkte Abstimmung des Gebens- und Nehmenssystems31 gleichheitsrechtlich unbefriedigend ist.

BVertUE 87, 153, Leitsätze 2 Wld 3. Dazu Lehner, Einkommensteuerrecht Wld Sozialhilferecht, 1993, insbes. S. 175 ff. 30

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V. Der Gleichheitssatz als Maßstab der Einzelsteuem

Das an den Gesetzgeber gerichtete Gebot gleichmäßiger Besteuerung bindet diesen in erster Linie bei der Ausgestaltung der Einzelsteuern. Er hat grundsätzlich an taugliche Indikatoren der Leistungsfähigkeit anzuknüpfen. die Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit des. Steuerzugriffs zu sichern und die Belastung so zu wählen, daß auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit Rücksicht genommen wird. Das klingt in der Theorie gut, aber wie sieht die Realität aus? 1. Steuern auf das Einkommen

Da die Einkommensteuer in besonderem Maße Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen nehmen kann, hat der Gesetzgeber in diesem Bereich verstärkt auf eine systemgerechte Besteuerung zu achten. Dabei ist es in erster Linie seine Aufgabe, die Bemessungsgrundlage an der objektiven und subjektiven Leistungsfähigkeit des einzelnen auszurichten. also das zur Steuerzahlung verfiigbare Einkommen zutreffend auszuweisen. Er muß Regelungen schaffen, die eine klare Trennung zwischen beruflichem und privaten Bereich ermöglichen. Wo beide Bereiche nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Ermittlungsaufwand trennbar sind, muß er im Sinne der Sicherung gleichmäßiger Besteuerung typisierende Regelungen treffen. Diese Grundaussagen sind unbestritten. insbesondere ist die Ermittlung der steuerlichen Leistungsfähigkeit in zwei Stufen, der objektiven und der subjektiven Leistungsfähigkeit, heute durch die Rechtsprechung des BVerfG anerkanne2• Dennoch gibt es im Detail schon bei der Bestimmung der objektiven Leistungsfähigkeit viele Unklarheiten. Der Gleichheitssatz erfordert zunächst, daß die objektive Leistungsfähigkeit lückenlos erfaßt wird. Das bedeutet, daß alle sachlichen Steuerbefreiungen zu streichen wären, es sei denn, ihre Beibehaltung wäre durch einen besonderen verfassungsrechtlich f6rderungSWÜfdigen Gestaltungszweck gerechtfertigt33. Auch Lenkungsnormen, die die zutreffende Erfassung der Leistungsfähigkeit verfillschen, sollten so weit wie möglich beseitigt werden. Je mehr Manipulationsmöglichkeiten an der Bemessungsgrundlage der Gesetzgeber eröffnet, desto mehr wird der Steuerpflichtige durch geschickte Gestaltungen diese Möglichkeiten nutzen. Und desto mehr geht auch die Einsicht in die Notwendigkeit verloren, daß jeder seinen gerechten steuerlichen "Beitrag" für das Gemeinwesen zu leisten hat.

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BVerfGE 82, 60, 85. Dazu Birk (Fn. 2), S. 236 f1

8 TIpke I Dozza

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Die objektive Leistungsfähigkeit muß umfassend ennittelt werden. Insbesondere ist eine steuerfreie private Vermögensbildung, die das gegenwärtige System in erheblichem Umfang ermöglicht, nicht gerechtfertigt. Ich gebe Radler recht, wenn er sagt: ,,Der Verzicht auf eine Kapitalgewinnbesteuerung im weiten Bereich der privaten Einkünfte macht den in der Vergangenheit und auch heute noch hochgelobten Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit eher zum Wunschdenken als zur Realität,,34. Auf die Frage, ob das Leistungsfähigkeitsprinzip mehr fiir eine getrennte Ennittlung der objektiven Leistungsfähigkeit innerhalb einzelner Einkunftsarten spricht (Schedulensystem) oder ob nur der synthetische Einkommensbegriff zutreffend die objektive Leistungsfähigkeit wiederspiegelt, kann ich hier nicht eingehen. Die Antwort ist keineswegs einfach, da beide Modelle aus gleichheitsrechtlicher Sicht zu Verwerfungen führen können. Entscheidender scheint mir zu sein, daß der Gesetzgeber im geltenden Recht völlig unsystematisch beide Systeme mischt und, angefangen bei der Erfassung der Einnahmen, über die Berücksichtigung der Ausgaben bis hin zur Anwendung des Steuersatzes die einzelnen Einkunftsarten unterschiedlichen Regelungen unterwirft. Erst kürzlich ist ein Beitrag des Tübinger Finanzwissenschaftlers Wagner in einer steuerrechtlichen Zeitschrift erschienen, in dem die Regelhaftigkeit des Einkommensteuerrechts schon bei der Einkünfteennittlung bestritten wird3s . Wagner meint, daß die verschiedenen Methoden der Einkünfteennittlung zu erheblichen steuerlichen Privilegierungen führen können und führt als Beispiel die Pensionsrückstellungen an, die nur bestimmte Unternehmen bilden dürfen36 . Da erscheint es mir folgerichtiger, sich grundsätzlich die Frage zu stellen, inwieweit eine getrennte Besteuerung der Ergebnisse einzelner Einkunftsarten dem Leistungsfähigkeitsprinzip näher komme? Ist es gerecht, daß wir leistungsfähigen Steuerpflichtigen die Möglichkeit eröffnen, durch (häufig künstliche) Schaffung von Verlusten in anderen Einkunftsarten, ihre Bemessungsgrundlage zu mindern? Meines Erachtens ist diese Frage aus gleichheitsrechtlicher Sicht bisher nicht ausreichend diskutiert worden. Das zu versteuernde Einkommen soll Ausdruck der subjektiven Leistungs!ahigkeit sein, es soll also nur der Teil fiir steuerliche Zwecke erfaßt werden, über den der Steuerpflichtige disponieren kann. Soweit das Einkommen benötigt wird, um den existenznotwendigen Lebensbedarf des Steuerpflichtigen und der gegenüber ihm unterhaltsberechtigten Personen zu sichern, darf es nicht der Einkommensteuer unterworfen werden38 . Bei der Berücksichtigung

34

3S 36 37 38

Radler, DStR 1996, 1473. Wagner, DStR 1997, 517. Wagner, DStR 1997,518 f So Mdler, Capital Heft 4/97, 33. s. Kirchhof, Gutachten F zum 57. DIr 1988, S. 40; Birk, StuW 1989,217.

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unvermeidbarer subjektiver Leistungsfähigkeitsminderungen sind in den letzten Jahren Fortschritte erzielt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen anerkannt, daß unvermeidbare Sonderbelastungen durch Unterhaltslasten, insbesondere für Kinder, die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen mindern. und daß der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, wenn er solche Verpflichtungen unberucksichtigt läße9 . Es hat aber zugleich dem Gesetzgeber die Wahl gelassen, die Leistungsfähigkeitsminderung durch steuerliche Freibeträge oder durch eine in der Höhe vergleichbare Sozialleistung (Steuervergütung) zu berucksichtigen40 • Diese Wahlmöglichkeit des Gesetzgebers, subjektive Leistungsfähigkeitsminderungen des Steuerpflichtigen durch Abzüge von der Bemessungsgrundlage oder durch Transferleistungen zu berücksichtigen, ist in der Steuerrechtswissenschaft zu Recht kritisiert worden41 , sie führt in der Tat dazu, daß dem Bürger staatlicherseits etwas zugewandt wird, was diesem von vornherein nicht zusteht42 . Es ist ein Unterschied, ob der Staat von seinem Bürger verlangt, aus unversteuertem Einkommen seine Kinder zu unterhalten, oder ob er die steuerliche Entlastung selbst errechnet und den entsprechenden Betrag an die EItern auszahlt43 • Die Berücksichtigung subjektiver Leistungsfähigkeitsminderungen durch direkte Transferleistungen schwächt die Selbstverantwortlichkeit der Bürger und begünstigt das Anspruchscienken44 • Aus dem Gleichheitssatz allein lassen sich keine Aussagen zum Verlauf des Steuertarifs ableiten. Immerhin zeigt die Erfahrung, daß hohe Steuersätze gerade bei leistungsfähigen Steuerpflichtigen Signalwirkungen auslösen, sich durch legale GestaltUng oder durch illegales Verhalten der Besteuerung zu entziehen4s . Hohe Steuersätze üben einen wirtschaftlichen Druck aus, verlustbringende Tätigkeiten zu entfalten, Einkunftsquellen zu verlagern. unwirtschaftliche Investitionsentscheidungen zu treffen oder abzugsfähige, aber nicht notwendige Ausgaben zu leisten. Mit der Steuerprogression steigt progressiv auch der Steuerwiderstand. Das, was der Staat erreichen will, nämlich eine gerechte Verteilung der Steuerlast, wird dadurch zunehmend verfehlt. Aus gleichheitsrechtlicher Sicht ist es deshalb vorzugswürdig, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und die Steuersätze zu senken. BVerfGE 89, 346, 352 f.; 82, 60, 86 f. BVerfGE 82, 60, Leitsatz 2 Wld S. 92. 41 Wendt, Familienbesteuerung Wld Grundgesetz, in: Festschrift ft1r Klaus Tipke, Köln 1995, S. 47 ff. 42 Wendt (Fn. 41), S. 59. 43 Dazu Wld insbes. zu den weitergehenden Plänen der BaFöG-Refonn Birkllnhester, StuW 1996,227,235. 44 So zwn Konzept eines BOrgergeldsystems Uelner, in: Festschrift ft1r Wolfgang Ritter, Köln 1997, S. 603,616. 4S Radler, DStR 1996, 1473. 19 40



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2. Steuern auf das VennlJgen Grundsätzlich ist auch das Vermögen ein tauglicher Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit. Der Gleichheitssatz verbietet nicht, auf das Vermögen als solches zuzugreifen46 • Die Vermögensteuer ist aus gleichheitsrechtlicher Sicht nicht auf bloße (Soll-)Erträge beschränkt. Meines Erachtens ist die Auffassung Hallers bisher nicht widerlegt worden, wonach das Vermögen ein Bedürfnisbefriedigungspotential eigener Art verschafft und so Leistungsfähigkeit indiziert47 • Aber selbst wenn man dem nicht folgt. wird man zumindest einräumen müssen, daß steuerfrei gebildetes Privatvermögen aus gleichheitsrechtlicher Sicht der Besteuerung unterworfen werden muß. Diese Überlegung würde dazu fUhren, die Einkommensteuer entsprechend zu ergänzen. Rtidler hat jüngst den Vorschlag einer Pauschalsteuer auf Kapitalgewinne im Privatvermögen unterbreitet, der - wenn auch im einzelnen verbesserungsbedürftig - diskutiert werden sollte48 . Wählt der Gesetzgeber jedoch das Vermögen als Ganzes als Anknüpfungsmerkmal der Steuerbelastung, so zwingt der Gleichheitssatz aufgrund .der Durchsetzungsschwäche der gesetzlichen Regelungen zur Zurückhaltung. Eine Steuer, die nicht in der Lage ist. das Vermögen als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit zuverlässig zu erfassen, steht mit dem Gleichheitssatz nicht in Einklang.

3. Steuern auf die Verwendung von Einkommen und VennlJgen Als Indikatoren steuerlicher Leistungsfllhigkeit kommen auch Formen der Einkommensverwendung in Betracht, da sich hieraus ergibt, daß der Steuerpflichtige über wirtschaftliche Mittel verfügt. Die Steuerwürdigkeit der Einkommensverwendung als Eigentumsgebrauch wird auch aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) gefolgert49 • Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen sind vor allem die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchssteuer sowie die besonderen Verbrauchssteuern und die Aufwandsteuern. Da die Verbrauchssteuern als indirekte Steuern ausgestaltet sind, gesetzlicher Steuerschuldner und wirtschaftli